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FÜR NICHTS!? - deviantart

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STAR TREK<br />

STARFLEET ACADEMY<br />

BEGINNINGS<br />

Roman<br />

Star Trek©<br />

Starfleet Academy<br />

Ω<br />

2008<br />

STARFURY PRODUCTIONS<br />

Dritte Auflage (Ohne Illustrationen)<br />

Korrekturgelesen von Martin Kirf<br />

www.st-legend.de.vu


My independence is calling my name<br />

A doubtful voice divides my faith<br />

My independence only hesitates<br />

An unsure choice I can't embrace<br />

You're gonna have to carve me,<br />

Carve me from stone<br />

Right to the bone<br />

Or I'll end up alone<br />

Playing the role<br />

Of someone in control<br />

My independence is turning the page<br />

Tomorrow comes we start to fade<br />

My independence only complicates<br />

It's not enough to meet half way


Vorwort des Autors, Danksagung, und sortierte Abschweifungen<br />

Na sieh mal einer an - wir sind alle da. Wir haben es wieder einmal<br />

geschafft und sind nun alle in diese Geschichte involviert und dadurch<br />

miteinander verbunden. Ich, der sie mit großem Frus...- Spaß<br />

niedergeschrieben habe, Sie – jemand der sie hoffentlich mit ähnlich<br />

großem Eifer lesen wird, und ein ganzer Haufen fiktiver Charaktere,<br />

denen ich - obwohl ich sie so fürchterlich gern habe - immer ganz<br />

schreckliche Dinge anzutun pflege. Aber zunächst - ja, da müssen wir<br />

jetzt durch - folgt die Danksagung inklusive schonungsloser<br />

Selbstverherrlichung. Viele Leser sind von Danksagungen bestenfalls<br />

irritiert, schlimmstenfalls angeödet. Und dennoch wollen die meisten<br />

Leser jene Danksagungen nicht missen, weil sie fürchten, sie könnten<br />

dadurch etwas versäumen, oder der Autor sei dann irgendwie beleidigt.<br />

Betrachten sie das hier also als Freibrief. Wenn sie die Danksagung<br />

überspringen wollen, dann tun sie das ohne Schuldgefühle, oder der<br />

Sorge, ich würde bereits mit einem Scharfschützengewehr auf ihren<br />

Schädel zielen. Dem ist nicht so. Ich ziele auf ihre Brust. Sie sehen, für<br />

die Leute, die folgend erwähnt werden, wird dies sicher das Highlight<br />

des Tages. Des Monats. Des Jahres. Ach, was rede ich? - das wird das<br />

Highlight ihres Lebens! Ein großer Dank (und große Schuld, nehme ich<br />

an) für diese Arbeit geht also an die gleich im Anschluss folgenden.<br />

Beginnings hat eine lange Entstehungsgeschichte, mit der ich sie nicht<br />

langweilen will, außer in Internetforen. Und wenn es sie dort nervt,<br />

können sie ja gehen. Ich würde auch mitkommen und sie auf dem Weg<br />

weiterbequatschen. Der Roman war jedenfalls lange in Produktion,<br />

begann zunächst als Kurzgeschichte, kumulierte zur ausufernden und<br />

zeitraubenden Katastrophe und erfuhr verschiedene Namensänderungen -<br />

von Surrender über Overkill, war alles dabei (und meiner Stimmung<br />

diesem Roman gegenüber angemessen), bis schließlich Beginnings das<br />

Rennen machte. Was ironisch ist, da dies meine letzte Geschichte<br />

werden soll... wird... könnte. Öhm. Zumindest ist es meine erste<br />

Geschichte seit einigen Jahren, die in sich abgeschlossen ist. Am Ende


steht also auch tatsächlich einmal "Ende" und nicht "Fortsetzung folgt...<br />

vielleicht." Ein gutes Gefühl! Und es ist mit knapp 430 Seiten meine<br />

längste Geschichte - obwohl im Vergleich zu meinen üblichen<br />

Explosionsberichten gar nicht so viel passiert. (Vergessen Sie das! Das<br />

habe ich nie gesagt. Es passiert sogar eine ganze Menge und diese ganze<br />

Menge sollten sie keinesfalls verpassen!) Im Grunde ist es "nur" eine<br />

nette kleine... große... Geschichte über eine Gruppe junger Leute, die<br />

ihren Platz im Leben zu finden versuchen. Im Gegensatz zur<br />

Thrillerreihe „Cast Away“ schaltete ich dieses mal ein paar Gänge<br />

zurück, um den Fokus mehr auf die Charaktere und dem amüsant<br />

bissigem Humor zu legen. Wenn Sie nur halb so viel Spaß beim Lesen<br />

haben, wie ich beim Schreiben hatte, dann können wir jedenfalls alle<br />

zufrieden sein.<br />

Das letzte Mal dankte ich besonders den Leuten, die mich während der<br />

Schreibarbeiten trotz Hürden unterstützten, und das ist dieses mal nicht<br />

anders. Zu diesen Leuten zählen meine Familie, meine Freunde und<br />

einige der FF-Kollegen, allen voran Martin Kirf, der mir erlaubte, sein<br />

alter Ego von einer witzigen Seite zu betrachten - und der das auch mit<br />

viel Humor nahm. Ein besonderes Hallo richte ich an meine Schwester<br />

Sabrina, die nun allen ihren Freunden sagen kann "Siehst du? Ich sagte<br />

doch, ich sei mit ihm verwandt." Ein Gruß und Dank auch an Steffan -<br />

obwohl ich, seit er mir sagte, Yoko sei genau wie ich, einige schlaflose<br />

Nächte habe. Abschließend ist dieser Roman all jenen gewidmet, die zur<br />

Schule gehen, zur Schule gehen wollen, oder je zur Schule gegangen<br />

sind - denn bei ihnen handelt es sich um die wahre nächste Generation.


Harbinger<br />

Sie hätten das Kind niemals mitnehmen dürfen. Professor Block,<br />

seines Zeichens bolianischer Historiker, Dienststelle Vulkan, wusste<br />

ganz genau, dass sie das Mädchen hätten Zuhause lassen sollen. Ein<br />

Kind in einer uralten Tempelruine – das konnte doch nur Probleme<br />

heraufbeschwören! Er hatte dies die ganze Zeit über gepredigt, hatte die<br />

Leiter der hiesigen Expedition geradezu angefleht. Doch die beiden<br />

Sternenflottenoffiziere waren Stur bei ihrem Vorhaben geblieben, ihre<br />

Tochter bei diesem Ausflug mitzunehmen. Es sei ihr sechster Geburtstag<br />

und sie hätte es sich so sehr gewünscht, ihre Eltern wenigstens einmal<br />

bei der Arbeit zu begleiten, hatten sie gesagt. Und offenbar wog der<br />

Wunsch einer sechsjährigen schwerer als jegliche Vernunft – und ganz<br />

speziell schwerer, als die akademische Meinung eines<br />

expeditionserfahrenen Wissenschaftlers. Vor allem der Vater hatte sich<br />

in diesem Punkt als erschreckend verbohrt und uneinsichtig erwiesen,<br />

und hatte versucht, Block mit so hohlen Sprüchen der Sorte „Machen Sie<br />

sich keine Gedanken“, oder „Wird schon schief gehen.“, zu beruhigen.<br />

Was natürlich nicht geklappt hatte.<br />

Nun, im Innern des steinernen Tempels von Vishnu, zuckte Block<br />

unweigerlich zusammen, als er von seinem piependen Tricorder<br />

aufblickte und bemerkte, wie das kleine Mädchen den Arm zu einer<br />

Höhlenmalerei an der Wand ausstreckte.<br />

„Nicht anfassen!“, kreischte er.<br />

Das Mädchen fuhr zusammen. Engelsgleich, mit einem blonden<br />

Haarschopf und einer mindestens genauso unbändigen Persönlichkeit<br />

wie seine furchtbaren Eltern, hob sie sofort die Hände, als würde sie sich<br />

ergeben wollen, biss sich auf die Unterlippe, und sah den Professor aus<br />

großen, unschuldigen Augen an.<br />

Block seufzte und seine massige Gestalt sackte ein. Das Mädchen<br />

hatte ihm einen fürchterlichen Schrecken eingejagt. Er zog zitternd ein<br />

fleckiges Seidentuch aus seiner Hosentasche und tupfte den perlenden


Schweiß von seiner blauen Stirn, während er verzweifelt versuchte,<br />

seinen Puls wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ihm wäre fast das<br />

Herz stehen geblieben. Eine Frechheit! Eine unfassbare Frechheit! Ich<br />

bin Akademiker und kein Kindermädchen!, dachte er aufgebracht. Doch<br />

genau dazu war er nun verdonnert worden.<br />

„Sie passen wie ein Falke auf sie auf!“, hatte der Expeditionsleiter<br />

gesagt, bevor er mit seiner Frau in die unteren Katakomben gegangen<br />

war. „Wie ein Falke, verstanden?!“<br />

Block gefiel das überhaupt nicht. Er fühlte sich schrecklich<br />

zurückgesetzt. Schließlich war er verdammt noch mal Wissenschaftler!<br />

Und was das anging, war er auch kein Touristenführer, nicht einmal für<br />

Leute mit einem so hohen Status wie er den Eltern des kleinen Mädchens<br />

zugesprochen wurde. Er war Professor für vulkanische Archäologie, der<br />

hin und wieder dafür bezahlt wurde, dass er Interessierte Leute auf<br />

Expeditionen in die Berge von Seleya führte, weil er den örtlichen<br />

Dialekt fließend sprach und die Berge nach Jahren der intensiven<br />

Forschung kannte, wie kein anderer. Er hatte das schon öfter getan:<br />

Vermessungstrupps, Studenten, und archäologische Untersuchungen, wie<br />

diese hier. Aber nie, nie, war jemand so töricht gewesen, ein Kind<br />

mitzunehmen!<br />

Es war für ihn unverständlich. Absolut unverständlich! Die alten<br />

Tempelanlagen konnten gefährlich sein. Es gab hier Höhlen, die sich<br />

über einen Bereich von mehreren hundert Kilometern erstreckten. Viele<br />

davon waren einsturzgefährdet. Die Erde in dieser Gegend rumpelte<br />

häufig, die vulkanische Aktivität in diesem Teil des Planten war<br />

unvorhersehbar. Es gab ein Dutzend Dinge, die schief gehen konnten.<br />

Dies war einfach kein Ort für Kinder und er war nicht der richtige Mann,<br />

um auf Kinder aufzupassen. Tatsächlich hatte er mit Kindern überhaupt<br />

nichts am Hut. Er hatte nie eines gewollt – nicht, dass er eine Partnerin<br />

zur Durchführung eines entsprechenden Unternehmens haben würde –<br />

und er wollte auch ganz sicher keine fremden Kinder. Er mochte sie<br />

einfach nicht. Er hatte sie schon nicht gemocht, als er selbst noch ein<br />

Kind gewesen war, und die Abneigung hatte sich bis heute nicht<br />

geändert. Man konnte sich mit ihnen nicht über Archäologie unterhalten,<br />

und schon gar nicht über Geologie. Sie waren klein und dumm und<br />

ignorant.


Wenn die beiden Elternteile ihr Gör unbedingt mitnehmen mussten,<br />

dann sollten die sich auch gefälligst darum kümmern! Er würde da nicht<br />

mehr mitspielen. Block steckte das Tuch zurück in die Tasche. Seine<br />

Hände zitterten noch immer. Er deutete dann streng auf das Mädchen. Es<br />

hatte sich seit seinem Geschrei nicht mehr vom Fleck gerührt. Gut so,<br />

dachte er.<br />

„Du bleibst da stehen!“<br />

Das Mädchen sah ihn aus unschuldigen Augen an.<br />

„Du wirst dich nicht rühren.“<br />

Sie sagte nichts.<br />

„Und vor allem wirst du nichts berühren.“<br />

Sie sagte immer noch nichts.<br />

„Hast du das verstanden?“<br />

Nichts.<br />

Block wertete das kurzerhand als ein >Ja


aufpassen, dass er sie nicht aß. Vielleicht irrte sie sich ja auch und der<br />

dicke Mann tat so etwas auch gar nicht. Das Mädchen wusste zwar nicht,<br />

wovon sich Bolianer sonst ernährten, aber dieser dicke Bolianer aß<br />

sicherlich immer eine ganze Menge. Er war sogar noch dicker als Onkel<br />

Roach.<br />

Aber im Gegensatz zu Onkel Roach war der Bolianer gemein. Shan<br />

hatte sogar ein oder zweimal den Drang verspürt, ihm die Zunge<br />

rauszustrecken. Aber Mommy hatte zu ihr gesagt, sie müsse artig sein.<br />

Wenn kleine Mädchen nicht artig waren, bekämen sie statt eines<br />

Kuchens nur Gagh zum Geburtstag. Shan wusste zwar nicht genau, was<br />

Gagh war, aber dass sie lieber Kuchen essen wollte, das wusste sie.<br />

In der Höhle war es still und unheimlich. Aber Shan hatte keine Angst.<br />

Dafür war sie auch viel zu aufgewühlt! Das einzige Licht waren<br />

Sonnenstrahlen, die von der löchrigen Höhlendecke eindrangen.<br />

Außerdem hatte Daddy überall Lampen aufgestellt, die blau leuchteten.<br />

Daddy dachte einfach an alles. In den Lichtstrahlen tanzte feiner Staub.<br />

Sie versuchte sich auf die Strahlen zu konzentrieren und die Staubkörner<br />

zu zählen, aber ihr wurde ein bisschen übel dabei, daher lies sie es<br />

bleiben. Außerdem gab es interessanteres zu entdecken! Zum Beispiel<br />

die zahlreichen Malereien mit denen die Wände geschmückt waren.<br />

Shan balancierte vorsichtig über den mit Steinen übersäten Boden auf<br />

eine der Wandmalereien zu, um sie zu berühren. Sie blieb davor stehen<br />

und sah nach links und dann nach rechts, nur um sicher zu gehen. Der<br />

dicke Mann war noch nicht wieder da. Was hatte sie also zu verlieren?<br />

Sie würde schließlich nichts kaputt machen. Also hob sie die Hand und<br />

fuhr mit den Fingern über feine Rillen. Das Gestein war kalt und rau.<br />

Shan kicherte. Jetzt hatte sie der dicke Mann doch nicht davon abhalten<br />

können, die Malereien zu berühren. Sie drehte sich um und sah durch<br />

den Tempel. Überall ragten große Säulen an die Decke. Und da waren<br />

noch mehr Höhlenmalereien. Dort... und da drüben auch... einfach<br />

überall! Das Mädchen begann gut gelaunt hin und herzulaufen. Und<br />

dann blieb sie plötzlich stehen. Ihre Augen weiteren sich und ihr Mund<br />

formte ein O. Sie hatte ein Funkeln gesehen. Nur aus den Augenwinkeln,<br />

aber sie hatte es gesehen. Es wäre ihr beinahe entgangen, weil sie schon<br />

wieder zur anderen Seite der Höhle laufen wollte, um die dortigen<br />

Wandmalereien zu begutachten.


Sie sah sich um, aber das Funkeln war verschwunden. Wo war es nur<br />

hergekommen? Nach ein paar Sekunden zuckte Shan mit den Schultern.<br />

War vielleicht nur Einbildung. Nein, halt! Da drüben funkelte schon<br />

wieder was. Jetzt sah das Mädchen auch genau, wo es funkelte, da sie<br />

direkt in die Richtung geschaut hatte.<br />

Tief, sehr tief in einer kleinen Felsspalte – sie war bestimmt...<br />

Tausende von Kilometern lang - sah Shan einen Kristall. Er begann von<br />

innen heraus zu funkeln und zu glühen, wie ein Stern. Shans Interesse<br />

war geweckt. Mehr noch! Der Kristall zog sie in einen merkwürdigen<br />

Bann. Sie konnte nicht wegsehen. Es gab nichts mehr, außer dem<br />

Kristall. Shan prüfte die breite der Spalte. Der dicke Mann würde da<br />

nicht durchpassen. Nicht einmal Daddy, oder Mommy würden da<br />

durchpassen. Aber für sie war der Platz ausreichend. Sie war also die<br />

einzige, die dort hineinkonnte. Tausende von Kilometern oder nicht – sie<br />

würde sich den Kristall holen! Er rief nach ihr, ganz deutlich! Shan<br />

duckte sich. Sie begann in die Dunkelheit einzudringen, während der<br />

Kristall aufglühte...<br />

In den darunter liegenden Katakomben blickte Matthew Bartez abrupt<br />

von seinem Tricorder auf. Mit gespitzten Ohren reagierte er auf das<br />

Geräusch zu seiner Linken über ihm, und sofort schrillten alle<br />

Alarmglocken hinter seiner Stirn. Er trat an eine Stelle unter der Decke,<br />

an der das Sonnenlicht durch mehrere Lücken im Fels durchsickerte und<br />

schaute, wo die Bewegung hergekommen war.<br />

Matthew Bartez war Sternenflottenoffizier im Rang eines Captains –<br />

die Medien hatten ihm so einfallsreiche Namen wie „Held“ „Abenteurer“<br />

und „Ikone“ verliehen, wobei sie häufig seinen Status als ehemaligen<br />

Raumschiffkommandanten zitierten. Und das, obwohl er sein altes<br />

Kommando, sein geliebtes Schiff, die USS Starfury aufgegeben hatte,<br />

nachdem es ihm im Pferdekopfnebel gelungen war, den Quadranten vor<br />

einer Invasion der schlangenartigen Grez’An zu bewahren. Er hatte das<br />

Schiff aufgegeben, um eine Familie zu gründen. Das lag nun bereits<br />

sieben Jahre zurück und war der Beginn eines Abenteuers gewesen, das<br />

sein Leben von Grund auf verändern sollte – auch wenn sich sein Leben


in letzter Zeit bei weitem nicht mehr so ereignisreich gestaltet hatte, wie<br />

früher.<br />

Nichtsdestotrotz hatte Matt Bartez immer noch das schneidige<br />

Auftreten eines Mannes der Tat. Das Alter konnte seinen kantigen<br />

Zügen, dem forschen Blick seiner blauen Augen, und seinem<br />

jungenhaftem Aussehen nichts anhaben. Mit leichtem drei-Tage-Bart<br />

und dichtem, schwer zu bändigen Haar, das an den Schläfen mit bislang<br />

kaum sichtbaren Silberstreifen durchzogen war, und mit dem Schwert an<br />

seinem zur Uniform passenden Gürtel, hätte er es jederzeit mit Helden<br />

wie James Kirk oder Mackenzie Calhoun aufnehmen können.<br />

Und genau in diesem Moment wurde ein Held gebraucht! Da waren<br />

Schritte...<br />

Leise Schritte, die sich mit nichterkennbaren Geräuschen vermischten.<br />

Sie schallten durch die kalten Katakomben des Tempels. Matt<br />

deaktivierte seinen summenden Tricorder, und sofort wurde es leise in<br />

der Kammer. Übrig blieb nur dieses gespenstische Rascheln, das jedem<br />

dunklen und unbewohntem Ort anhaftete. Verstohlen bewegte sich Matt<br />

die harte Felswand zum Gang entlang und zog so leise wie möglich sein<br />

Schwert. Die Schritte wurden lauter, immer lauter. Da kam etwas näher!<br />

Oder jemand! Nur wer? Söldner? Diebe? Möglicherweise Schatzjäger?<br />

In dieser gefährlichen Gegend der vulkanischen Berge war alles möglich.<br />

Und Matt hatte sich im Laufe seiner Karriere zwar Freunde, aber auch<br />

Feinde gemacht. Vielleicht hatte einer dieser Feinde den heutigen Tag<br />

zur Begleichung alter Rechnungen gewählt.<br />

Matt blieb an einer dunklen Wegbiegung stehen und wartete ab. Jeder<br />

Muskel in seinem Körper war angespannt und er spürte, wie das<br />

Adrenalin durch seine Adern schoss – oh, wie sehr hatte er das vermisst!<br />

Der Unbekannte näherte sich.<br />

Matt wartete. Lauschte auf die Schritte. Es war jetzt ganz nahe. Er<br />

wartete... wartete... noch ein bisschen näher... Dann stürzte er einen<br />

Kampfschrei von sich gebend um die Ecke, mit hocherhobenem<br />

Schwert...<br />

...und erschreckte seine Frau.<br />

„He!“, machte sie, und nahm reflexartig eine Abwehrposition ein. Matt<br />

seufzte und lies die Klinge sinken. Er entspannte sich und steckte das<br />

Schwert wieder zurück an den Gürtel – dort, wo es hingehörte. Dort, wo


es einfach nicht mehr gebraucht wurde. Genau wie ich. Es tat weh, es<br />

sich einzugestehen, aber die Tage der Abenteuer und Heldentaten, waren<br />

vorbei. Nach den verheerenden Verlusten durch das Dominion, den<br />

Grez’An, und den Borg, war niemandem im Quadranten mehr nach<br />

Streit und Ärger zumute. Ironischerweise war es genau diese neue Ära,<br />

die er miterarbeitet und erst mitermöglicht hatte, in der solche<br />

Friedensstifter wie ein Matt Bartez keinen Platz mehr fanden. Diese<br />

erschütternde Erkenntnis machte ihm mehr zu schaffen, als er bereit war,<br />

sich einzugestehen. Die Aussicht, dass es keine neuen Welten mehr zu<br />

beschützen, keine Unterdrückten mehr zu befreien gab, war vernichtend.<br />

Seine Frau Kelly lies geräuschvoll den angehaltenen Atem<br />

entweichen. Kelly war so schön, so wunderschön, wie eh und je.<br />

Dunkelhaarig, mittelgroß, schlank und mit beachtlich glanzvollen<br />

Augen, die auf Matt noch immer, die beispiellose Sogkraft eines<br />

Schwarzen Lochs ausübten, wie am ersten Tage ihrer Begegnung. Sie<br />

lächelte erleichtert, und dieses Lächeln war alles, was Matt brauchte, um<br />

sich wieder gut zu fühlen. Egal wie niedergeschlagen er auch sein<br />

mochte, sobald Kelly lächelte, ging die Sonne auf – selbst im dunkelsten<br />

Teil des Universums.<br />

„Da ist wohl einer übermütig, was?“, sagte sie sanft.<br />

„Eher unterfordert. Hast du etwas gefunden?“<br />

„Ja.“, bestätigte Kelly und wurde sofort ernst. „Hab ich. Deine<br />

Vermutung war korrekt, Matt, sie könnten hier gewesen sein. Die Alten.<br />

Und ich glaube sie haben uns endlich eine Spur hinterlassen.“<br />

„Eine Spur?“ Er konnte es kaum glauben. „Eine Spur zur...“<br />

„Ganz recht.“, nickte Kelly. „Zur größten uns bekannten Macht in<br />

dieser Galaxie.“<br />

Sie betraten Kammer drei, in der Kelly die ganze Zeit über gearbeitet<br />

hatte. Matt sah im matten Schein seiner Handlampe alte, größtenteils<br />

zerfallene Statuen ihm unbekannter, vulkanischer Gottheiten. Seit<br />

Tausenden von Jahren glaubte niemand mehr an sie.<br />

Kelly deutete auf eine kleine Nische in der rechten Wand. „Dort.“ Sie<br />

hatte mit einer Bürste versucht die antiken Gravuren zu enthüllen – alte,


nur auf diesen Wänden existierende Aufzeichnungen über eine Legende,<br />

der Matt nun schon seit Jahren hinterher jagte.<br />

Seit die Träume angefangen hatten.<br />

„Ich entdeckte die gleichen Zeichnungen, die wir auch schon auf<br />

Andoria bemerkten.“, erklärte Kelly. Ihre Stimme hatte hier einen<br />

gruseligen Hall. „Sie müssen Tausende, vielleicht Millionen von Jahren<br />

alt sein. Ich kann’s leider nicht genau bestimmten, aufgrund<br />

geringfügiger Kelbonitablagerungen im Gestein spuckt der Tricorder nur<br />

widersprüchliche Werte aus.“<br />

Matt hörte ihr kaum zu. Mit schlafwandlerischer Sicherheit trat er nahe<br />

an die Zeichen heran, strich ehrfürchtig mit dem Finger darüber, als<br />

könne er dadurch zusätzliche Informationen aus ihnen gewinnen.<br />

Informationen, die nur ihm bestimmt waren. In seinen Augen flackerte<br />

etwas. Ein merkwürdiger Luftzug ging durch die Kammer.<br />

Kelly fröstelte. „Wir sind auf der richtigen Spur, nicht wahr?“<br />

„Sie waren hier, Kelly.“, nickte Matt. „Hier auf Vulkan. Ich kann es<br />

regelrecht spüren. Genau wie auf den anderen Welten.“<br />

Er trat ein paar Schritte von der Nische zurück. Wieder ging der<br />

Luftzug. Matts Blickwinkel des Raumes veränderte sich im Lichtzug der<br />

brennenden Handlampe, als würde er plötzlich Tausende von Jahren<br />

zurück in die Vergangenheit befördert. Die kleine Nische erstrahlte mit<br />

einem Mal in ihrer alten Pracht, die Schriftzeichen waren wie neu,<br />

goldene, glitzernde Malereien. Er sah mehrere miteinander verbundene<br />

Punkte, einer oben drei rechts, drei links. Einer in der Mitte.<br />

... und dann stand er wieder in der dunklen, alten Kammer, mit den<br />

kaum lesbaren Schriftzeichen. Er blinzelte. Das alles, die ganze... Vision,<br />

wie er sie aus Ermangelung eines besseren Wortes bezeichnen musste,<br />

hatte vielleicht zwei Sekunden gedauert. Allerhöchstens. Die Erinnerung<br />

verblasste so schnell, dass er sich nach wenigen Augenblicken nicht<br />

einmal mehr sicher war, ob er überhaupt etwas derartiges wie eine<br />

Vision erlebt hatte. Kelly hatte weder etwas davon gesehen, noch<br />

mitbekommen. Sie bemerkte nur die Veränderung in seinem Gesicht.<br />

„Eine Ahnung?“, fragte sie leise.<br />

„Nein. Nein, das hier... das hier ist mehr.“<br />

„Hast du etwas gesehen?“<br />

„Ich bin mir nicht sicher.“


„Hör mal...“, sagte Kelly besorgt. „Gegen Träume habe ich nichts.<br />

Visionen machen mich aber nervös. Geht’s dir wirklich gut?“<br />

„Ja. Ja, mir fehlt nichts.“ Er sah zu ihrer Ausrüstungstasche. „Hast du<br />

eine Sternenkarte dabei?“<br />

„Im hinteren Fach.“<br />

Matt stieg über ein paar Felsbrocken zur anderen Seite der Kammer,<br />

kniete vor Kellys Tasche nieder und öffnete den Verschluss. Er kramte<br />

den elektronischen Datenblock mit der Sternenkarte hervor und legte ihn<br />

auf den Boden. Dann sah er wieder zur Wand. Mehrere miteinander<br />

verbundene Punkte. Einer oben, drei rechts, drei links, einer in der<br />

Mitte.<br />

Ein Sternbild. Nur welches? Es kam ihm vertraut vor, er hatte es schon<br />

einmal gesehen. Irgendwo... irgendwo im Herzen des<br />

Föderationsraumes. Er suchte nach Andoria. Wo war Andoria? Dort.<br />

Dann Vulkan... Nein... da fand er die Sternenkonstellation auch nicht.<br />

Aber er war nahe. Das wusste er. Er hatte keine Ahnung warum. Er<br />

wusste es einfach. Weiter unten vielleicht? Sein Zeigefinger fuhr die<br />

Karte ein Stück herab, ganz automatisch, nach...<br />

Matt runzelte die Stirn.<br />

Sektor 42-F, auch genannt Rontar Minor. Er suchte die Punkte. Heka<br />

war der erste, ganz oben. Beteigeuze, Alnitak und Na Pali die drei auf<br />

der linken Seite. Bellatrix, Mintaka und Rigel auf der rechten. Alnitam in<br />

der Mitte. Er kramte einen Datenstift aus der Tasche und verband die<br />

Punkte.<br />

„Das Sternbild des Orion.“, murmelte er. „In Rontar Minor.“<br />

Kelly kniete neben ihn. „Okay.“, sagte sie. „Jetzt ist es offiziell. Ich<br />

bin beunruhigt.“<br />

„Ich mache mir selbst ein bisschen Angst.“ Matt schüttelte<br />

nachdenklich den Kopf. „Warum immer Rontar Minor? Alle Hinweise,<br />

die wir finden, führen genau dort hin. Irgendwo in diesen Sektor. Aber<br />

wohin genau?“<br />

„Du hast doch Tobias dorthin geschickt. Hat er etwas gefunden?“<br />

Matt verneinte. „Seit sich die administrativen Einrichtungen der<br />

Föderation komplett aus Rontar Minor zurückgezogen haben, ist der<br />

Sektor im Chaos versunken. Ohne unserer Kontrolle stehen<br />

Schmugglern, Schatzjägern und dem Orionsyndikat Tür und Tor offen.


Als wäre das nicht schon genug, fallen die dortigen Großmächte<br />

übereinander her. Die Handelsabkommen wurden ausgesetzt und ein<br />

Dutzend Völker machen Mobil, um ihren Einflussbereich zu erweitern.<br />

Rontar Minor ist ein einziges Pulverfass. Tobias und den Mitgliedern des<br />

Forschungsaußenpostens sind die Hände gebunden, sie halten sich nur<br />

am Randgebiet auf und trauen sich nicht tiefer in den Sektor hinein.<br />

Keiner tut das. Selbst meiner Organisation fällt es schwer, einen<br />

Überblick über die politische Lage dort zu erhalten. Und das trotz<br />

unserer Mittel. Wie soll ein unabhängiges Forschungsteam da mehr<br />

ausrichten können?“ Er schüttelte frustriert den Kopf. „So kommen wir<br />

nicht weiter. Einfach nicht weiter!“<br />

Kelly wollte gerade etwas erwidern, als sie plötzlich Schritte hörten.<br />

Diesmal lies Matt sein Schwert allerdings stecken, denn das zusätzlich<br />

an sein Ohr dringende Geräusch heftigen Geschnaufes, machte ohne<br />

jeden Zweifel klar, dass sich Professor Block näherte. Matt und Kelly<br />

tauschten einen vielsagenden Blick. Block kam schwitzend und<br />

keuchend, aber dennoch – oder gerade deswegen - sehr miesgelaunt in<br />

den Raum hineingestürmt. „Captain Bartez!“, empörte er sich. „Ich muss<br />

Sie bitten, Ihre Tochter aus den Höhlen zu entfernen. Endgültig!“<br />

„Hat sie etwas angestellt?“<br />

„Ja ... nein ... doch!“ Block fuchtelte mit den Händen herum. „Sie will<br />

fortwährend alles mögliche berühren und ertasten und... und bringt alles<br />

durcheinander. Ich kann so nicht arbeiten!“<br />

„Sie ist eben neugierig.“, erwiderte Matt, der bereits seine Sachen<br />

zusammenpackte. „Wie jeder von uns. Aber na schön. Wir haben<br />

sowieso, was wir wollten.“<br />

Block blinzelte. „Wirklich?“<br />

„Ja.“<br />

„Würden Sie mir auch erklären, was?“<br />

„Nein.“<br />

„Und warum nicht?“<br />

Matt warf sich den Rucksack über die Schulter und hastete Richtung<br />

Ausgang. „Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen uns beeilen.“<br />

„Beeilen? Warum beeilen?“ Block verstand nicht.<br />

Matt hielt auf dem Weg nach draußen kurz neben ihm inne. „Weil Sie<br />

meine Tochter da oben alleine gelassen haben, Sie Trottel!“


Die Spalte war eng und schien endlos zu sein. Shan hatte kaum Platz.<br />

Sie spürte das Gestein – kühl, trocken, fest. Je tiefer sie hineinkrabbelte,<br />

desto tiefer schien die Erde hinabzuführen und desto dunkler wurde es.<br />

Bald war es so finster, dass sie nichts mehr erkennen konnte. Bis auf den<br />

Kristall. Er war jetzt nahe, ganz nahe. Nun kam ein hohltöniger Wind auf<br />

und blies ihr Spinnweben ins Gesicht. Shan reagierte gar nicht darauf.<br />

Sie sah nur den Kristall. Er leuchtete direkt vor ihr und spiegelte sich in<br />

ihren großen Augen - seine glühenden Kräfte hatten sie gefangen.<br />

Endlich war sie am Ende der Spalte angelangt. Shan duckte sich unter<br />

einem überragenden Felsen hinweg, dann konnte sie den Kristall genauer<br />

betrachten. Er zeigte drei aufgemalte Linien und schimmerte hell. Wie<br />

das Nachtlicht, das Daddy ihr ans Bett gestellt hatte. Shan berührte den<br />

Stein zögernd. Er war kühl. Sie hob ihn vorsichtig an die Augen und<br />

blickte in das glühende Innere. Irgendwo hinter ihr rief jemand ihren<br />

Namen. Es war Mommy. Shan hörte kaum hin. In ihren Händen funkelte<br />

der Kristall. Sein Licht war ätherisch und bannend. Es war wunderschön.<br />

Regenbogenlicht... Sternenlicht. Sie wurde magisch davon angezogen.<br />

Es war ihre Entdeckung! Ganz allein ihre. Daddy würde so stolz auf sie<br />

sein. Und plötzlich realisierte Shan, dass er laut nach ihr rief. Im Innern<br />

der Spalte drangen ihre Stimmen nur gedämpft zu ihr.<br />

„Shanny?“<br />

Und dann Mommy. Sie klang noch besorgter: „Shan?“<br />

„Ich bin hier, Mommy.“<br />

„Shan?!“<br />

Sie wollte zurückkrabbeln, aber als sie sich von der Stelle entfernte,<br />

wo der Kristall gelegen hatte, bemerkte sie, wie sein Licht verblasste und<br />

erlosch. Shan hielt ihn wieder zu der Stelle. Erneut strahlte er hell. Weg:<br />

dunkel; zurück, hell. Sie hätte das den ganzen Tag lang machen können,<br />

so fasziniert war sie.<br />

„Shanny, wo bist du?“<br />

„Ich komme, Mommy.“<br />

Shan wich mit dem Kristall in der Hand zurück, und kroch wenig<br />

später rückwärts aus der Spalte.


„Shan!“ Mommy kniete plötzlich neben ihr. Sie griff Shan unter die<br />

Arme und hob sie auf die Beine. „Uff.“, machte sie. „Hey! Wo hast du<br />

bloß gesteckt?“<br />

Shan biss sich auf die Unterlippe und zuckte mit den Schultern. Nun<br />

ging Daddy vor ihr in die Hocke. Er tippte auf den Kristall, den Shan<br />

noch immer in der Hand hielt. Sein Licht war erloschen. „Was ist das?<br />

Shan, wo hast du das her? Ich habe dich angewiesen, nichts anzufassen.“<br />

„Aber es war so wunderschön...“<br />

„Das ist... das ist einfach unerhört!“, schimpfte der dicke Mann. Er<br />

war sehr aufgebracht und zitterte am ganzen Körper. „Mister, und Misses<br />

Bartez! Ich habe Sie beide ausdrücklich gewarnt, dieses Kind mit hierher<br />

zu bringen!“<br />

„Beruhigen Sie sich.“, sagte Daddy und hob Shan an sich. „Ist ja alles<br />

in Ordnung.“<br />

„Alles in Ordnung? Alles in Ordnung?!“ der dicke Mann schüttelte<br />

den Kopf. Er schwitzte wieder sehr stark und suchte in seiner Tasche<br />

nach einem Tuch. „Nicht auszudenken, was ihr hätte passieren können!“<br />

Er lehnte sich mit dem Rücken an einen Steinklotz, der aus der Wand<br />

ragte und tupfte sich die nasse Stirn ab. „Wer weiß, welche Arten von<br />

Fallen die alten Vulkanier an diesem Ort ausgelegt haben, um die Ruinen<br />

zu schützen! Alles, was sie anfasst, könnte schreckliche Dinge auslösen!<br />

Schreckliche Dinge! Wenn man eine Expedition in diesen<br />

Tempelanlagen nicht mit der gleichen Bedachtsamkeit, Vorsicht und<br />

Professionalität ausführt, wie ich es tue-“<br />

Der Klotz, an dem er lehnte, glitt in die Wand hinein und löste eine<br />

Vorrichtung aus.<br />

Block schluckte. „Uh-oh.“<br />

Alle hielten inne. Einen Augenblick lang geschah nichts. Shan starrte<br />

auf den Steinklotz, dann auf das vor Schreck erstarrte Gesicht des dicken<br />

Mannes und auf einmal nahm sie ein fremdartig fernes Geräusch war, ein<br />

Grollen, wie von einem, sich in Bewegung setzenden Raumschiff. Als<br />

erwache etwas aus langem Schlaf, um brüllend, zerfetzend und<br />

zermalmend durch den Tempel zu fahren. Shan wusste nicht, was das zu<br />

bedeuten hatte, aber sie wusste instinktiv, dass es nichts gutes war. Dann<br />

wurde der Lärm stärker, ohrenbetäubend und alles begann zu schwanken


und zu zittern, als würde der Tempel einstürzten, als platzte alles<br />

auseinander, während plötzlich Steine von der Decke stürzten.<br />

Sie hörte Mommy schreien: „Lauft!“<br />

Daddy drückte sie mit einem Arm feste an seine Schulter, fuhr herum<br />

und lief, lief so schnell er konnte, über Gesteinsbrocken hinweg und<br />

zurück auf den Eingang zu. Alles stürzte zusammen. Und noch immer<br />

verstärkte sich der Donner, rollte und hallte durch die alten Gänge und<br />

Kammern. Es war laut, so unvorstellbar laut, aber Shan wollte sich die<br />

Hände nicht auf die Ohren pressen, denn dann hätte sie ihre Entdeckung<br />

loslassen müssen.<br />

Über Daddys Schulter hinweg sah Shan das ganze Geschehen.<br />

Mommy und der dicke Mann waren direkt hinter ihnen und ihnen folgte<br />

eine Gesteinslawine. Überall knallte die Decke herunter. Die ganze Erde<br />

schwankte. Alles schwankte. Plötzlich und ohne Vorwarnung wurden sie<br />

vom Druck heißer Luft umweht. Irgendjemand schrie. Shan konnte nicht<br />

verstehen was, sie konnte gar nichts verstehen. Da war nur das tosende<br />

Donnern in ihren Ohren. Sie spürte die Sorge ihres Vaters, die<br />

unerbittliche Sorge, dass sie es nicht schaffen würden, gleichzeitig spürte<br />

sie aber auch seine eiserne Entschlossenheit, nicht aufzugeben.<br />

Merkwürdigerweise empfand Shan keine Angst. Daddy sprang über eine<br />

umstürzende Säule. Alls bebte, das Mauerwerk brach, die Decke krachte<br />

direkt über ihnen zusammen, stürzte auf sie herab... und plötzlich waren<br />

sie im Freien.<br />

Und zwar alle.<br />

Die Hitze Vulkans schlug ihnen entgegen und hoch oben über ihren<br />

Köpfen, glühte der nahegelegene Mond am dunklen Nachthimmel.<br />

Matt rannte die Treppen hinab, während im Tempel überall große<br />

Stein- und Felsbrocken herunterkrachten und die letzten Säulen barsten.<br />

Kurz darauf brachen die letzten Innenwände, aus dem Eingang quoll eine<br />

gewaltige Staubwolke, die sie alle verschluckte.<br />

Shan hustete.<br />

Daddy drückte sie an sich. Er schnaufte schwer. „Alles ist gut, Schatz.<br />

Alles ist gut.“<br />

Shan glaubte ihm und nickte kaum merkbar. Wenn er sagte, alles sei<br />

gut, dann war es auch so. Der Staub legte sich ein wenig und plötzlich<br />

stand Mommy neben ihnen, erschöpft und mitgenommen, aber


unverletzt. Matt nahm sie in den Arm und drehte dann den Kopf. Vom<br />

Tempel war nicht viel übrig geblieben.<br />

Block sah das im gleichen Augenblick. „Der Tempel!“, stöhnte er.<br />

„Zerstört! Alles zerstört! Seine Schätze, seine Geheimnisse.. für immer<br />

verloren!“<br />

„Nicht ganz, Professor.“ Matt sah seine Tochter an. „Hast du noch<br />

immer den Kristall, Shan?“<br />

„Ja, Daddy.“<br />

Sie hielt ihn hoch. Sie hatte ihn tatsächlich die ganze Zeit über nicht<br />

losgelassen. Mommy lächelte, so wie nur sie lächeln konnte. „Gut<br />

gemacht, Täubchen. Mommy und Daddy sind sehr stolz auf dich.“ Sie<br />

zwinkerte.<br />

Shans Mundwinkel gingen nach oben. Sie betrachtete wieder den<br />

Kristall. Er mochte nicht mehr leuchten... aber dafür strahlten Shans<br />

Augen umso heller. Denn ihr war plötzlich klar, wenn es von diesen<br />

Entdeckungen... diesen Artefakten, wie Daddy sie nannte, noch mehr im<br />

großen, weiten Universum gab...<br />

... dann wollte sie das ganze Universum sehen!


Eishölle - Erster Tag<br />

Shan öffnete benommen die Augen und das erste, was sie sah, war<br />

nichts. Und davon sah sie eine ganze Menge. Es war dunkel, sie konnte<br />

kaum etwas erkennen. Keine der Konsolen glühte. Und es war still, so<br />

merkwürdig still. Sämtliche Maschinen schwiegen. Kein Brummen des<br />

Antriebes, kein Piepen laufender Selbstdiagnosen. Alles war aus. Ein<br />

beißender Gestank drang in ihre Nase, irgendetwas roch verbrand. Was<br />

hatte das nur zu bedeuten?<br />

Shan stöhnte, schloss die Augen wieder und kämpfte gegen den<br />

unbändigen, alles beherrschenden Drang an, einfach weiterzuschlafen.<br />

Ihre Wange fühlte sich aus irgendeinem Grund kalt an – ausnahmslos<br />

alles fühlte sich kalt an - und der gesamte rechte Arm tat ihr schrecklich<br />

weh. Das waren die einzigen Sinneseindrücke, die sich ihr gegenwärtig<br />

darboten: Schmerz und Verwirrung. Alles andere existierte wie durch<br />

einen Schleier.<br />

Die Bewusstlosigkeit – oder vielleicht der Tod – rief sie erneut zu sich,<br />

aber der pochende Schmerz in ihrem Arm behielt ihren trägen Geist<br />

bedauerlicherweise im Hier und Jetzt, zwang sie endgültig aufzuwachen.<br />

Irgendwann, nach Minuten, die wie Jahre waren – oder auch Jahren, die<br />

wie Minuten waren -, zogen sich die letzten Spuren der Bewusstlosigkeit<br />

und ihr größerer, dunklerer Bruder von ihr zurück, als hätte man sie<br />

überprüft und noch nicht für würdig befunden. Vorsichtig öffnete sie<br />

erneut die Augen, sah noch immer nichts, und bewegte probeweise ihre<br />

Gliedmaßen. Auch sie schmerzten, teilweise sogar höllisch, aber sie<br />

ließen sich bewegen. Nichts gebrochen.<br />

Das war das erste, kleine Gefühl der Erleichterung, dass sie an diesem<br />

Tag erlebte. Es sollte ihr nur wenige weitere vergönnt sein. Plötzlich<br />

musste Shan schwer husten, jede Bewegung von einer neuen Stoßwelle<br />

der Agonie begleitet, und dann, als ihr gepeinigter Körper wieder zur<br />

Ruhe kam, versuchte sie endlich herauszufinden, in welcher Lage sie<br />

sich befand. Sie fühlte, dass sie auf der Seite lag – wie lange schon, das<br />

wusste sie nicht -, merkwürdig gekrümmt, das Gesicht gegen Boden und


Rückwand des Steuerraums gepresst, und irgendwas stimmte nicht. Sie<br />

drehte behutsam den Kopf und versuchte über die Schulter zu blicken,<br />

was sie enorme Kraft kostete, und eine neue Welle des Schmerzes hinter<br />

ihrer Stirn explodieren ließ. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an<br />

die Dunkelheit, und Details ihrer Umgebung schälten sich aus der<br />

Finsternis, was sie unendlich beruhigte. Als sie die Augen geöffnet, und<br />

nichts gesehen hatte, hatte sie zunächst befürchtet, blind zu sein.<br />

Stattdessen waren im ganzen Schiff die Lampen aus. Dennoch kam ein<br />

ganz schwaches, dämmriges Licht von irgendwo oben - außerhalb der<br />

breiten Frontscheibe. Und Shan spürte nun, was nicht stimmte. Das<br />

Schiff befand sich in einem Steigungswinkel von etwa vierzig Grad; das<br />

Heck fiel nach unten ab, der Bug deutete zum Himmel. Vielleicht war<br />

das Schiff in der Gletscherspalte, in die es gestürzt war, auf einem<br />

Vorsprung gelandet. Oder ganz unten auf dem Boden aufgeschlagen.<br />

Shan war sich nicht sicher, ihre Erinnerungen an die Minuten vor –<br />

und vor allem nach - dem entsetzlichen Aufprall waren wie in Nebel<br />

gehüllt und kamen nur langsam zurück. Sie versuchte sich aufzurichten.<br />

Natürlich stürzte sie sofort wieder kraftlos zurück. Übelkeit und<br />

Schwindel wechselten sich für Minuten miteinander ab, sodass sie<br />

wieder mit geschlossenen Augen und leise stöhnend stillhielt. Bis auch<br />

das verging, und sie vorsichtig ein drittes Mal die Lider hob. Als sie sich<br />

dieses Mal langsam aufzurichten versuchte, um sich mit dem Rücken an<br />

die Wand zu lehnen, ging es einigermaßen, auch wenn sie die Zähne<br />

zusammenbeißen und einen Schmerzensschrei unterdrücken musste.<br />

Dabei bemerkte sie, dass nicht nur hinter, sondern auch an ihrer Stirn<br />

Schmerz pochte. Sie tastete vorsichtig mit zittrigen Fingern ihres nicht<br />

schmerzenden Armes ihr Gesicht ab und fühlte ihr eigenes Blut,<br />

aufgeschürfte Haut - und einen kleinen, dreieckigen Glassplitter, der ihr<br />

linkes Auge nur um wenige Zentimeter verfehlt hatte und wie eine<br />

Pfeilspitze in ihrer Schläfe steckte.<br />

Shan biss die Zähne erneut zusammen, ergriff ihn mit den Fingern und<br />

zog ihn vorsichtig aus ihrem Fleisch. Es tat sehr weh, viel mehr, als alles,<br />

was sie vorher erlitten hatte, und aus der Wunde sickerte ein kleiner<br />

Strom Blutes über ihr Gesicht. Stöhnend presste sie unter erneuten<br />

Schmerzen die andere Hand auf die Wunde, blieb einige Augenblicke<br />

reglos so sitzen, versuchte die Pein in sich aufzunehmen, sie nicht zu


ekämpfen, und sie auf die Art irgendwie zu einem Teil von ihr und<br />

erträglich zu machen, und blickte dann zur Frontscheibe, über die sich<br />

ein spinnennetzartiges Gewebe zog. Dann blinzelte sie, nicht nur, weil<br />

ihr Blut ins Auge zu tropfen drohte, sondern auch aufgrund des<br />

Anblickes, der sich ihr draußen präsentierte.<br />

Das Schiff war tatsächlich in eine Gletscherspalte gestürzt, und die<br />

Öffnung war nah über ihr. Vielleicht siebzig, achtzig Meter. Höchstens.<br />

Dort oben wütete noch immer der verheerende Schneesturm, der ihr die<br />

törichte Zuversicht, eine ganz passable Pilotin zu sein, auf rabiate Art<br />

und Weise geraubt hatte. Shan hatte tatsächlich angenommen, trotz ihres<br />

zarten Alters von sechzehn Jahren ein Naturtalent hinter den<br />

Steuerkontrollen zu sein, und mit allen möglichen Schwierigkeiten, die<br />

ein Pilot in einer solchen Umgebung haben könnte, problemlos fertig zu<br />

werden. Auch mit etwas heftigeren Turbulenzen. Ein Irrtum, wie sich an<br />

diesem denkwürdigen Tage herausgestellt hatte.<br />

Nun versuchte sie sich daran zu erinnern, was genau passiert war.<br />

Erinnerungsblitze zuckten durch ihren Geist, ähnlich dem, der die<br />

Maschinensektion getroffen und den Antrieb ausgeschaltet hatte, als sie<br />

durch den Sturm geflogen war. Sirenen waren losgegangen, Monitore<br />

hatten zu rollen begannen, oder hatten sich ganz ausgeschaltet. Die<br />

Steuereinheit war durch eine funkensprühenden Explosion zerfetzt<br />

worden, und hatte kleine Metall- und Glassplitter nach ihr geschleudert,<br />

und dann war alles so schnell gegangen, so schrecklich schnell! Das<br />

kleine Schiff war mit brennendem Antrieb sofort abgesackt. Shan hatte<br />

plötzlich inmitten des Schneegestöbers den Boden auf sich zurasen<br />

gesehen, die Spalten im Schnee. Dann war der Aufprall erfolgt und die<br />

Konsole war ihr ins Gesicht geschlagen. Das war das letzte, woran sie<br />

sich erinnerte.<br />

Nun seufzte Shan. Wenigstens schienen die Wände der Gletscherspalte<br />

nicht so glatt wie zunächst gedacht. Im Gegenteil, sie wurden von<br />

Rissen, Spalten und klaffenden Furchen durchzogen. Eine elende<br />

Kletterei, aber es war für die Rettungstrupps zu schaffen. Daraus<br />

schöpfte sie Hoffnung, auch wenn Hilfe sicher noch lange auf sich<br />

warten lassen würde. Aber vorerst war sie wenigstens in Sicherheit. Und<br />

es ging ihr gut, sie war nicht schwer verletzt.<br />

Inzwischen hatten sich ihre Augen völlig an die Dunkelheit gewöhnt.


Sie senkte den Blick und betrachtete die winzige Glasscherbe, die sie<br />

noch immer zwischen Daumen und Finger hielt, und die sich mit ihrem<br />

eigenen Blut hellrot gefärbt hätte, und erschauderte bei dem Gedanken,<br />

wie knapp sie ihr Auge verfehlt hatte. Sie seufzte und warf die Scherbe<br />

zu den unzähligen anderen, die sich über den Boden verteilt hatten.<br />

Ein Luftzug zerrte durch den Steuerraum, frostig und klar. Shan<br />

runzelte die Stirn. Hier drin? Das konnte nur auf einen Hüllenbruch<br />

hindeuten. Sie lehnte sich ächzend auf alle Viere und begab sich, teils<br />

kriechend, teils rutschend, mit wahnsinnig schmerzendem Arm zum<br />

schmalen Verbindungsgang hinab, der zur Achtersektion führte. Dort<br />

wollte sie den Antrieb begutachten. Vielleicht kam sie ja sogar von selbst<br />

hier heraus. Shan öffnete die Tür und blickte in den Korridor hinein. Im<br />

nächsten Moment bedauerte sie diesen Blick bereits, denn dummerweise<br />

blieb nicht viel zu begutachten; Heck und Antrieb des Schiffes waren<br />

verschwunden - an ihrer Stelle klaffte nun ein gewaltiges Loch, das von<br />

scharfkantigen Duraniumsplittern gesäumt war. Dahinter war es<br />

stockfinster, Shan konnte kaum etwas erkennen. Sie kroch etwas näher<br />

an den Rand und reckte den Kopf, sah aber immer noch nichts.<br />

Bis auf-<br />

Shan schnappte nach Luft. Unter ihr war kein Vorsprung, sondern<br />

gähnende Finsternis! Die Gletscherspalte verjüngte sich nach unten hin<br />

und das Schiff hatte sich zwischen den beiden Wänden verkeilt, dreißig,<br />

vierzig, vielleicht auch fünfzig Meter über dem Grund der Felsspalte!<br />

Großer Vogel!<br />

Plötzlich bewies Shan erstaunliche Agilität, als sie den Kopf hurtig<br />

einzog, zurückkroch, und sich im Steuerraum wieder an die Wand<br />

presste. Jetzt steckte sie in Schwierigkeiten! Auf der feindlichen, eisigen<br />

Oberfläche eines entfernten Planeten gestrandet. Tief in einer<br />

Gletscherspalte gefangen. Ohne Antrieb. Ganz allein. Panik drohte sie zu<br />

übermannen, aber Shan zwang sich zur Ruhe, versuchte gleichmäßig zu<br />

atmen, die Kontrolle zu behalten. Sie drehte das Gesicht zu einem der<br />

Seitenfenster und erschrak, bei dem, was sie in der Spiegelung sah; ein<br />

junges Mädchen, mit schulterlangem blondem Haar, einer frischen<br />

Wunde über der linken Augenbraue, und einer anderen, weniger<br />

frischen, weil blutverkrusteten Schnittverletzung an der rechten Schläfe.<br />

Was? Blutverkrustet?


Sie runzelte die Stirn. Wie lange hatte sie nur bewusstlos dagelegen?<br />

Stunden? Tage? Sie hatte keine Ahnung. Die Wunde war ihr bisher gar<br />

nicht aufgefallen und tat auch kein bisschen weh – womit sie eindeutig<br />

eine Ausnahme bildete. Shan fragte sich, ob das ein gutes, oder ein<br />

schlechtes Zeichen war.<br />

Ziehende Schmerzen verspürte sie dafür aber sehr wohl nach wie vor<br />

im kompletten rechten Arm, den sie nur durch das Adrenalin des<br />

Schocks kurzfristig vergessen hatte, der jetzt aber dafür umso<br />

beständiger zurückkehrte. Eine pulsierende Qual, von der Schulter bis<br />

zur Hand hinunter, ja sogar, bis zu den Fingerkuppen. Shan verzog das<br />

Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse und sog die Luft rasselnd<br />

ein. Sie betastete die Oberarmtasche ihrer Jacke und fühlte ihren<br />

Datenrecorder darin. Mit zwei Fingern zog sie das kleine, eckige Gerät<br />

hinaus und stellte mit entsetzen fest, dass es kaputt war. Das<br />

Plastikgehäuse war zerdrückt und in der Mitte gebrochen. Die<br />

Scannereinheit war hinausgesprungen und hing nur noch an zwei dünnen<br />

Drähten.<br />

Shan betätigte probeweise ein paar Knöpfe, aber nichts rührte sich.<br />

Das Display blieb schwarz. Sie musste während des Absturzes<br />

draufgefallen sein. Daher auch die Schmerzen in ihrem Arm. Shan zog<br />

Jacke und Unterhemd am Kragen zur Seite und versuchte in der<br />

Dunkelheit etwas zu erkennen. Es fiel ihr nicht sonderlich schwer eine<br />

Verletzung auszumachen, denn der ganze Arm war grün und blau. Ein<br />

hässlicher Bluterguss breitete sich auf dem Oberarm aus und war für den<br />

schillernden Schmerz hinter ihrer Stirn verantwortlich.<br />

Shan betrachtete wieder den zerborstene Datenrecorder in ihrer<br />

anderen Hand und seufzte. Die Arbeit von Wochen dahin. Es war zum<br />

verzweifeln! Dabei hatte sie alles so sorgfältig geplant! Seit sie erfahren<br />

hatte, dass die langweilige Reise, auf die sie gezwungen war, ihre Eltern<br />

begleiten zu müssen, in die Nähe von Frigoria führen würde, war sie<br />

entschlossen gewesen, der Legende der sagenumwobenen Eisstadt<br />

nachzugehen, die sich irgendwo auf diesem Planeten befinden sollte.<br />

Man wusste so gut wie nichts über sie, nicht einmal ihren echten Namen,<br />

weshalb sie manche einfach Shangri-La nannten. Einst sollte sie das<br />

Machtzentrum einer hochentwickelten Kultur gewesen sein, einer<br />

Kultur, die schließlich von ihren eigenen Göttern ausgelöscht wurde,


weil sie sich ihnen zu entsagen drohten. Die Stadt ging unter, von einem<br />

Eissturm begraben, der ein ganzes Jahrhundert angedauert haben soll.<br />

Seither war sie verschollen. Und Shan hegte die Absicht sie zu finden –<br />

sofern sie überhaupt existierte. Sie sollte wunderschön sein, hieß es in<br />

den vorsichtig geflüsterten Erzählungen. So wunderschön, dass man bei<br />

ihrem Anblick weinen müsse. Und die Zeit würde dort still stehen,<br />

Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart zusammenfließen. Shan<br />

war fasziniert gewesen, und hatte diese Legende, die pure Vorstellung<br />

der Stadt, einfach nicht wieder aus dem Kopf bekommen.<br />

Sie besaß seit frühester Kindheit eine bemerkenswerte Begeisterung<br />

für Orte und Dinge, von denen die meisten Leute nicht einmal etwas<br />

gehört, geschweige denn sie je gesehen, oder gar betreten hatten. Es war<br />

ihr selber unerklärlich, wo genau diese Leidenschaft herrührte, aber sie<br />

war da. Wenn sie mit der Schulklasse Museen, oder alte Ruinen und<br />

Ausgrabungsstädten besuchte, war Shan immer die interessierteste von<br />

allen. Sie konnte fast riechen, oder spüren, wie das einst war, als dort<br />

noch jemand gelebt hatte.<br />

Schon mit sechs Jahren war daher für sie der eiserne Entschluss<br />

gefallen, diese verborgenen Orte und Schätze alle zu besuchen, und zu<br />

fühlen - und in den vergangenen Jahren bemühte sie sich auch, diesen<br />

Wunsch umzusetzen, wenn auch nur mit mäßigem Erfolg. Sie wollte<br />

jederzeit, überall hin und alles tun, um die Türen zum Unbekannten<br />

aufzustoßen. Ganz egal, wo diese Tür sich befinden sollte. Auch wenn<br />

sie sich im ewigen Eis befand.<br />

Shan hatte sich gut auf die Reise nach Frigoria vorbereitet – auch auf<br />

die Kälte -, die Reiseroute ausgerechnet, und das nötige Equipment<br />

zusammengetrommelt. Feldstecher, Winterkleidung, Datenrecorder –<br />

eben alles, was man zur Erforschung einer, den Erzählungen nach,<br />

irgendwo im Eis vergrabenen Stadt benötigte, deren Existenz nicht<br />

einmal bewiesen war. Vielleicht, weil sich bisher niemand die Mühe<br />

gemacht hatte. Der Planet Frigoria lag nämlich ziemlich abgeschieden<br />

und war in seiner jetzigen Form für kaum jemanden interessant – seine<br />

Position war weder von strategischer Bedeutung, noch gab es auf ihm<br />

irgendwelche reichen Mineralvorkommen. Bis auf einige wenige Tiere,<br />

existierte hier kein eigens, intelligentes Leben. Die für Menschen<br />

geradeso atembare Atmosphäre bestand hauptsächlich aus Eisen und


Vorkommen an Magnesium. Trotzdem gab es in der freundlicheren<br />

Region des Planeten einen Raumhafen, der jenseits der Handelsrouten<br />

von Frachterpiloten als Zwischenstopp benutzt werden sollte. Durch die<br />

Kombination aus kalten Temperaturen, mächtigen Oberflächenwinden<br />

und schlechten Sichtverhältnissen, trauten sich aber nur die wenigsten<br />

her, und die, die es taten, hatten für gewöhnlich nur zwielichtige<br />

Geschäfte im Sinn.<br />

Das alles hatte Shan in Erfahrung gebracht und es war überhaupt kein<br />

Problem gewesen. Nur konnte eine sechzehnjährige nicht ohne weiteres<br />

in diese abgelegene Gegend des Quadranten reisen – so überzeugt von<br />

ihren Fähigkeiten sie auch sein mochte. Es gab selbst hier draußen, in<br />

dieser Einöde des Weltalls einige Kontrollstationen, die man nicht<br />

einfach so passieren konnte. Erst recht nicht als minderjährige. Sie hatte<br />

nach Wegen gesucht, sie zu umgehen, aber keine gefunden. Beinahe<br />

hätte sie das Vorhaben abbrechen, oder zumindest auf unbestimmte Zeit<br />

verschieben müssen.<br />

Aber dann es zu dieser Reise gekommen auf die ihre Eltern gingen.<br />

Ihre Mom, die inzwischen im Föderationsrat arbeitete, hatte zu einer<br />

Konferenz auf Draylon II gemusst, auf die sie Dad begleitete, da er als<br />

Gastdozent auf einer dortigen Zweigstelle der Sternenflottenakademie<br />

erwartet wurde. Die Termine waren idealerweise zusammengefallen –<br />

oder zumindest von Moms und Dads Mitarbeitern etwas zurechtgebogen<br />

wurden, damit sie passten -, sodass sie diese Reise gemeinsam<br />

unternehmen konnten. Und da Ferien waren, und sonst niemand zuhause<br />

war, hatte Shan sie begleiten sollen. Das hatte ihr nicht im geringsten<br />

gepasst, und sie hatte gemeckert und ein langes Gesicht gezogen, bis sie<br />

bemerkt hatte, dass die Route sie in die Nähe von Frigoria bringen<br />

würde. Als sie schließlich auf Draylon II angekommen waren, hatte Shan<br />

darum gebeten die östlichen Strände zu besuchen, und mit den dortigen<br />

Kindern ein wenig zu feiern.<br />

Von Frigoria, und ihrer Absicht, heimlich diesen gefährlichen Planeten<br />

zu besuchen – und zwar alleine – hatte sie selbstverständlich nichts<br />

erwähnt. Der Rest war recht einfach gewesen. Sie hatte ihren<br />

unschuldigsten, liebenswertesten Augenaufschlag-Blick aufgesetzt, und<br />

schon nach kurzer Diskussion hatte sie die Strände besuchen dürfen.<br />

Denn ihr harter Dad, der große Held, der im Pferdekopfnebel die


Grez’An besiegt hatte, knickte unter dem Willen seiner Tochter ein, wie<br />

ein Zirkuszelt. Und das nutzte Shan dann und wann schonungslos aus.<br />

Sie fand das zwar moralisch selbst ein wenig bedenklich, aber hey – sie<br />

war trotz allem immer noch ein Kind. Ihre Eltern hatten eingesehen, dass<br />

eine sechszehnjährige nicht unbedingt in einem Hotelzimmer<br />

herumlungern wollte, während es in der Nähe einen Strand zu<br />

besichtigen gab. Schließlich war der Tag des geplanten Aufbruchs<br />

gekommen.<br />

Die Familie war mit ihrem privaten Schiff, der Pax, losgeflogen, und<br />

kaum dass ihre Eltern ihr nach einer langen Rede ihres Vaters, was sie<br />

nicht tun dürfe, den Rücken gekehrt hatten, hatte sich Shan die Pax...<br />

nun ja, man könnte sagen, sie hätte sie ausgeliehen. Im Grunde hatte sie<br />

das Schiff ohne Erlaubnis genommen und war statt zum Strand in den<br />

Weltraum geflogen.<br />

Das tat sie häufiger.<br />

Bisher war das zwar noch nie mit der Absicht geschehen eine<br />

Expedition durchzuführen – das war selbst für Shan neu -, aber den ein<br />

oder anderen unplanmäßigen Ausflug, hatte Shan bereits unternommen.<br />

Meistens, hatten ihre Eltern davon nichts mitbekommen. Sie wollte nun<br />

einmal das Universum mit ihren eigenen Augen sehen, und zur Erfüllung<br />

dieses Zieles nahm sie die typischen und irgendwie unreifen<br />

Verhaltensmuster eines Teenagers gerne in Kauf.<br />

Im Grunde genommen sprach sich ihr Vater auch gar nicht so sehr<br />

dagegen aus, dass sie kleinere Ausflüge mit seinem Schiff unternahm.<br />

Sie konnte schließlich damit umgehen. Zumindest hatte sie das bisher<br />

geglaubt. Jedenfalls war ihrem Vater irgendwann aufgefallen, dass Shan<br />

Interesse an kleineren Ausflügen hatte, und die Pax war zwar ein altes<br />

und nicht besonders schnelles, aber immerhin robustes Schiff. Die Pax<br />

hätte Matt immer in einem Stück nach Hause gebracht, hatte er gesagt,<br />

und dasselbe, würde sie auch für Shan tun. Aber er war nie gewillt sie<br />

alleine losfliegen lassen, verlangte stets, das immer jemand bei ihr war.<br />

Mom, er selbst, oder einer seiner zahlreichen Freunde und ehemaligen<br />

Crewmitglieder. Das war Shan keinesfalls recht. Was sollte das schon<br />

bringen? Auf die Art und Weise behielt und erweiterte sie nie das<br />

bisschen Autonomie, dass sie sich in der Vergangenheit hart erkämpft<br />

hatte.


Jetzt jedoch wäre sie froh gewesen, eine Begleitung bei sich zu haben.<br />

Egal wen. Oder wenigstens jemandem gesagt zu haben, wohin sie fliegen<br />

würde. Aber nein, sie war einfach aufgebrochen, klammheimlich, und<br />

hatte nicht einmal eine Notiz hinterlassen. Warum auch? Der<br />

Ursprüngliche Plan hatte schließlich vorgesehen, dass überhaupt keiner<br />

bemerkte, dass sie Draylon II verlassen hatte. Sie wollte sich jeden Tag<br />

pünktlich bei ihren Eltern melden, vom ach so tollen Strand schwärmen,<br />

dabei ein bisschen schauspielern, und dann, nach fünf Tagen und gegen<br />

Ende der Konferenz, wäre sie wieder wie geplant zurückgewesen. Ihre<br />

Eltern hatten bei all dem Trouble zweifellos dermaßen viel zu tun – wie<br />

üblich -, sodass man Shans kleinen Ausflug vermutlich gar nicht bemerkt<br />

hätte.<br />

Nun, in der Einsamkeit des zerstörten Steuerraums, lies Shan die<br />

Kamera sinken und stieß immer wieder mit dem Hinterkopf an die Wand<br />

an der sie saß, was zwar keinen erkennbaren Sinn ergab, sich aber<br />

irgendwie gut anfühlte. So weit gekommen! Alles für die Katz. Sie hatte<br />

es ohne Zwischenfälle bis nach Frigoria geschafft, Informationen am<br />

Raumhafen eingeholt, war diesem alten Tatterkreis ausgewichten, der<br />

von einem Fluch der über der Stadt liegen und all jene heimsuchen<br />

würde, die sie finden wollten, gebrabbelt hatte, und war in die<br />

vielversprechendste Richtung losgeflogen, dorthin, wo sich alle<br />

Hinweise verdichteten. In die Eishölle. Und dann war einfach dieser<br />

verdammte Schneesturm gekommen und machte ihr alles zunichte. Aber<br />

wer hätte das schon wissen können? Niemand. Aber sie hätte trotzdem<br />

damit rechnen sollen, schalte sie sich. Man sollte eben doch besser auch<br />

das Unerwartete erwarten, das war ihr nun eine Lehre.<br />

Und langsam, während sie so dasaß, durch die gesprungene Scheibe<br />

des Frontfensters zu den Rändern der Gletscherspalte starrte, und die<br />

ganze Tragweite der Situation erfasste, realisierte Shan, in was für einer<br />

misslichen Lage sie sich eigentlich befand. Niemand wusste, wo genau<br />

sie sich befand! Weder ihre Eltern, noch ihre Klassenkameraden, noch<br />

sonst jemand. Selbst wenn es ihren Eltern gelang, Shans Spuren bis nach<br />

Frigoria zurückverfolgen, die Rettungstrupps konnten sie nicht finden.<br />

Der Notrufsender des Shuttles hatte sich im Heck befunden und die<br />

Tatsache, dass es auf dem Grund der tiefsten Gletscherspalte, die Shan<br />

bei ihrer „Notlandung“ hatte finden können lag, half dem Signal, das


ohnehin nicht sehr starken sein würde, ganz gewiss nicht.<br />

Zusätzlich war dieser Bereich des Planeten für seine<br />

elektromagnetischen Störungen bekannt, welche Sensordaten beinahe<br />

vollständig verhinderten, oder zumindest falsche liefern konnten (Was<br />

Shan als Ursache ansah, dafür, dass niemand die Stadt je gefunden<br />

hatte). Und wenn die Rettungsmannschaften das Gebiet überflogen?<br />

Auch dann würden sie das Schiff nicht finden. Ob es nun dreißig, oder<br />

dreihundert Meter tief unter der Oberfläche liegen mochte - es war auf<br />

jeden Fall zu tief, um von einem Schiff aus beim bloßen Überflug<br />

entdeckt zu werden. Oder von einem vorbeikommenden Fahrzeug. Aber<br />

es würde ohnehin keins vorbeikommen. Der Raumhafen befand sich<br />

kilometerweit weg.<br />

Nein, dachte Shan. Niemand würde sie finden. Die Bergungstrupps<br />

würden tagelang suchen und irgendwann einfach aufgeben. Und dann<br />

traf die Erkenntnis Shan wie ein Schlag: Sie war mutterseelenallein hier<br />

unten. Knapp hundert Meter tief in einer eiskalten Gletscherspalte,<br />

mitten im Nirgendwo über das ein Schneesturm hinwegbrüllte,<br />

meilenweit entfernt vom nächsten Raumhafen. Und sie begriff mit einem<br />

Frösteln, dass, wenn sie nicht rein zufällig gefunden wurde, dies hier ihr<br />

Grab werden würde.<br />

Natürlich wurde sie nicht zufällig gefunden. Diese Vorstellung war<br />

völlig illusorisch. Das Glas ihres Chronometers am Handgelenk war<br />

zertrümmert; Shan wusste nicht, wie lange sie nun schon in der Pax<br />

ausharrte und auf Rettung wartete, aber es war nun dunkler als am<br />

Anfang. Die Lücke im Eis über ihr war nicht mehr so hell. Auch der<br />

Sturm hatte nachgelassen und heulte nicht mehr so laut wie vorher.<br />

Entweder hatte es einen merkwürdigen Wetterumschwung gegeben, oder<br />

die zwei Sonnen standen tief am Horizont. Das würde bedeuten, dass sie<br />

bereits seit einer ganzen Weile hier unten hockte. Es fühlte sich an wie<br />

ein halbe Ewigkeit.<br />

Die Beine dicht an den Körper angezogen und mit den Armen<br />

umschlungen, hatte Shan die vergangenen Stunden – oder Tage? – in<br />

dieser Position verbracht und sich kaum gerührt, um wertvolle


Körperwärme zu speichern. Währenddessen überlegte sie verzweifelt ihr<br />

weiteres Vorgehen. Aber viel gab es da gar nicht zu überlegen - Sie hatte<br />

sich an die törichte Hoffnung geklammert, dass man sie vielleicht ja<br />

doch auch so finden würde, aber im Grunde wusste sie es natürlich<br />

besser. Es würde nicht geschehen, niemals. Außerdem war Shan mitunter<br />

Tagelang fort, niemand würde sie schon nach ein paar Stunden<br />

vermissen, oder in einer lebensbedrohlichen Situation vermuten.<br />

Nein, sie wusste, dass niemand sie retten würde. Sie hatte es nur noch<br />

nicht wahrhaben wollen, aber nun, nach dem Verstreichen einiger Zeit,<br />

wurde die innere Stimme, die ihr beständig einredete, dass alles gut<br />

werden würde, immer leiser, und eine andere, die ihr mitteilte, dass sie<br />

hier nicht mehr lange verharren konnte, und etwas tun musste, gewann<br />

deutlich an Intensität.<br />

Und lange konnte Shan wirklich nicht mehr einfach so dasitzen. Sie<br />

spürte, wie ihr Körper langsam steif wurde – nicht bloß von dem harten<br />

Aufprall, der sie ganz schön durchgeschüttelt hatte, oder weil sie sich so<br />

klein wie möglich gemacht und kaum bewegt hatte, sondern vor allem<br />

auch, so wurde ihr klar, weil ihr kalt war. Die Wärme war durch das<br />

Loch im Heck aus der Pax entwichen und es wurde immer frischer.<br />

Ihr kam der Gedanke die Maschinen anzulassen. Klar, der Antrieb<br />

hatte sich verabschiedet – und mit ihm die Energiereaktoren. Aber<br />

vielleicht verfügte die Pax noch irgendwo über Notstromgeneratoren. Ihr<br />

Vater hatte schließlich ein wenig am Schiff herumgebastelt. Vielleicht<br />

war er auf solche Präzedenzfälle vorbereitet. Dann würde die Heizung<br />

wieder laufen. Es war einen Versuch wert.<br />

Shan richtete sich umständlich auf, und sofort spürte sie ein Ziehen in<br />

den steifen Gelenken, die sie in den vergangenen Stunden in einer<br />

unbequemen Position hatte verweilen lassen, und die sich nun bei ihr<br />

gebührend dafür bedankten. Sie stöhnte, und umschlang sich für einen<br />

Moment selbst, weil sie unwillkürlich fröstelte. Dann zog sie sich zu<br />

einem Schaltpult hoch und aktivierte die Außenscheinwerfer. Einer<br />

funktionierte noch und reflektierte grell von der Eiswand. Irgendwo<br />

musste also noch ein Energiegenerator sein. Sie aktivierte die<br />

Hauptenergie. Die Leitungen machten ein mahlendes Geräusch, dann ein<br />

Knistern und dann wieder Stille. Die Maschinen blieben aus. Alles blieb<br />

aus. Shan versuchte es erneut. Nichts. Alles war tot. Nur der eine


Außenscheinwerfer brannte, und das nicht einmal stark.<br />

„Grozit!“, fluchte sie und schlug frustriert mit der Handkante gegen<br />

die Schalttafel, die Shans Wutausbruch mit einem elektronischen<br />

Sprotzen quittierte, was auf eine unheimlichen Art und Weise ein sehr<br />

menschliches Geräusch war.<br />

„Ja, ja, schon gut.“<br />

Shan brummte und wandte ihren Blick nach einer Weile zum Fenster.<br />

Sie beschloss, sich die Sache dort draußen einmal näher anzusehen. Sie<br />

bemühte sich um einen sicheren Stand, damit ihre Schuhe nicht<br />

wegrutschten, und griff dann nach der Lehne des Pilotensessels, an der<br />

sie hinaufkletterte, um einen besseren Blick durch das Fenster zu<br />

bekommen. Hoch oben sah sie die Spalte. Shan zog einen verdrossenen<br />

Gesichtsausdruck. Sie war nicht begeistert. Hundert Meter Kletterei,<br />

dachte sie. Schöner Schlammassel.<br />

Sie hatte früher Gymnastikstunden genommen, und sogar an der<br />

Nationalmeisterschaft teilgenommen – auch wenn es nur für<br />

zweiundzwanzigsten Platz gereicht hatte. Aber sie hatte Ausdauer und<br />

traute sich daher einiges zu. Aber das da? Es ging verdammt steil rauf!<br />

Shan konnte ihre Fähigkeiten in dieser Situation absolut nicht<br />

einschätzen; sie war nie geklettert und hatte es eigentlich auch nicht<br />

vorgehabt. Und ganz sicher nicht ohne Netz. Was sollte auch schon<br />

aufregend daran sein, irgendwo eine Felswand oder einen Berg<br />

Hochzukraxeln? Solche Leute hatte Shan nie verstanden. Aber eine<br />

andere Option blieb ihr nicht, wenn sie dort hinauf wollte. Zumindest sah<br />

sie sonst keine Möglichkeit gefunden zu werden. Dennoch bereitete ihr<br />

die Vorstellung, an dieser Wand selbstmörderisch hochzuklettern, alles<br />

andere als Vergnügen. Eher Sorge. Große Sorge.<br />

Ein falscher Griff...<br />

Und selbst wenn sie es schaffen würde, hier herauszukommen und sich<br />

nicht den Hals zu brechen, was dann? Sie hatte keinen Scanner mehr,<br />

keine Karte, kein Kommunikationsgerät. Keine Ausrüstung – die lag<br />

zusammen mit dem anderen Teil des Schiffes und ihrem Gepäck auf dem<br />

Grund der Spalte. Sie wusste ja nicht einmal, in welcher Richtung es zu<br />

dem Raumhafen ging. Na immerhin hatte sie einen rot leuchtenden<br />

Parker an, der noch aus einiger Entfernung zu sehen sein würde, und sie<br />

fand vielleicht irgendwo im Schiff noch Ausrüstung.


Shan kletterte wieder von der Frontscheibe weg. Sie setzte sich<br />

vorsichtig auf den Boden, rutschte noch etwas weiter nach links und lies<br />

sich dann zur Rückwand hinabgleiten, ganz vorsichtig, um nicht durch<br />

die weit offene Tür zum Heckbereich zu schliddern und durch das<br />

klaffende Loch in die Tiefe zu stürzten. Ihre Rutschpartie bremste sie mit<br />

den Schuhen ab – dabei knirschten kleine Glasstücke unter ihr. Dann<br />

richtete sie sich auf und kletterte zu der Tür, die zum Lagerschrank des<br />

Cockpits führte. Ohne Energie würde der Öffnungsmechanismus nicht<br />

reagieren. Shan tastete stattdessen in dem Dämmlicht der Gletscherspalte<br />

nach dem Hebel für die manuelle Öffnung und legte ihn um, aber die Tür<br />

öffnete sich nur einen Spaltweit. Mehr nicht. Sie war leicht verbogen.<br />

Beim Aufprall mussten gewaltige Kräfte gewirkt haben, die den<br />

gesamten Raumrahmen zerdrückt hatten. Shan bekam die Tür so nicht<br />

auf.<br />

Also streckte sie kurzerhand ihre Hände durch die Spalte und<br />

versuchte die Türhälften selbst aufzustemmen. Nichts rührte sich. Aber<br />

so schnell gab sich Shan nicht geschlagen. Sie biss die Zähne zusammen<br />

und setzte ihre ganze Kraft ein, alles, was sie mobilisieren konnte. Ihr<br />

Arm protestierte heftig dagegen, indem er einen weißglühenden Schmerz<br />

genüsslich ihre Schulter hinaufbewegen ließ.<br />

Shan ignorierte auch das und drückte weiter, wütend auf die dämliche<br />

Tür, den blöden Arm und den verfluchten Schlammassel, in den sie sich<br />

gebracht hatte! Sie versuchte und versuchte, dachte nicht einmal ans<br />

Aufgeben, und stellte eine beeindruckende Beharrlichkeit zur Schau, die<br />

sie vermutlich selbst verwundert hätte, wenn sie einen Gedanken daran<br />

hätte erübrigen können. Stattdessen drückte, und drückte Shan. Fast eine<br />

Minute lang versuchte sie auf diese Weise die Tür unter größter<br />

Kraftanstrengung aufzuhebeln, ehe sich endlich etwas tat. Mit einem<br />

resignierten Kreischen sprang die Tür schließlich auf und Shan wäre um<br />

ein Haar in den Schrank gefallen. Sie hielt sich gerade so am Türrahmen<br />

fest und keuchte schwer. Wenigstens war ihr bei dieser Aktion warm<br />

geworden - Immerhin etwas. Die Sache schien die Mühe aber kaum wert<br />

gewesen sein. Als sie in den Schrank hineinspäte, bot er sich leer dar.<br />

Kein Proviant, kein Wasser, keine Kletterausrüstung. Keine<br />

Thermodecken, kein Miniheizer, keine Antigravitationsstiefel, kein Zelt<br />

und auch kein Phaser.


Gar nichts.<br />

Shan holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Sie blieb ruhig,<br />

unterdrückte die aufkeimende Verzweiflung. Sie überlegte, was sie<br />

machen konnte, sah wieder zum Fenster und den zerklüfteten Wänden<br />

der Gletscherspalte. Ohne Seil und Steigeisen kam sie nicht nach oben.<br />

Was konnte sie stattdessen nehmen? Unter dem Sitz befand sich eine<br />

Werkzeugkiste mit selbstdichtenden Schaftbolzen und Duraniumnägeln.<br />

Die Schaftbolzen waren überflüssig, aber die Nägel konnte sie vielleicht<br />

durch die Schuhsolen drücken und dann hochklettern. Und was könnte<br />

sie als Seil nehmen? Vielleicht etwas von dem Stoff des Sitzes? Das<br />

könnte gehen.<br />

Sie begann methodisch ihre Kleider und alles, was sie bei sich trug, zu<br />

untersuchen. Manchmal, das wusste sie, erwiesen sich die banalsten<br />

Dinge in bestimmten Situationen als überaus nützlich. Leider war dies<br />

keine von diesen bestimmten Situationen. Und dann sah sie in der<br />

Dunkelheit der Kammer etwas aufblitzen, als das Licht in einem ganz<br />

bestimmten Winkel hineinfiel. Eine Klinge. Eine Schwertklinge. Shan<br />

runzelte die Stirn.<br />

Dad’s Schwert, erkannte sie.<br />

Es gehörte zu seiner weißschwarzen Galauniform und hatte es bei<br />

diversen Gelegenheiten und offiziellen Anlässen am Gürtel getragen, zur<br />

Zierde und als Symbol. Früher hatte er damit wohl gekämpft, sogar die<br />

Grez’An besiegt, wenn man den Geschichten glauben konnte. Und dort<br />

sah Shan auch die Galauniform zusammengefaltet liegen.<br />

Natürlich. Dad musste sie mit eingepackt haben, nur für den Fall. Er<br />

hatte früher einmal versucht ihr den Umgang damit beizubringen, aber<br />

sie hatte kein Interesse gezeigt und müde gegähnt. Er war ziemlich<br />

enttäuscht gewesen. Aber was sollte man mit einem Schwert auch schon<br />

großartiges anstellen? Eine unpräzise und unsaubere Waffe, wirklich<br />

höchstens zur Zierde an einer Uniform geeignet und da sie nicht<br />

vorhatte, irgendwann in ihrem Leben eine Uniform zu tragen, sah Shan<br />

absolut keine Verwendung dafür. Sollte sie sich einmal verteidigen<br />

müssen, würde sie - wenn überhaupt - den Phaser vorziehen. Der machte<br />

wenigstens nicht solch fiese Wunden. Aber im Moment konnte ihr das<br />

Schwert vielleicht mehr nützen. Als Kletterwerkzeug. Möglicherweise<br />

konnte sie das Ding in den Schnee rammen und zum Klettern benutzen.


Ja, das könnte gehen.<br />

Sie griff in den Schrank und zog die Waffe hinaus. Es war gar nicht so<br />

schwer wie befürchtet, lag sogar recht gut in der Hand. Na ja. Komisches<br />

Ding. Das war also das einzige, was sie hatte. Ein Schwert und eine<br />

Galauniform, die ihr nicht passen würde. Keine Ausrüstung und eine<br />

riesige Wand zu erklettern. Schlimmer konnte es kaum noch kommen.<br />

Wenigstens, so dachte Shan, befindet sich das Shuttle in einer stabilen<br />

Position.<br />

In dem Moment hörte sie das Ächzen. Und in der nächsten Sekunde<br />

splitterte ein Teil des Felsens, der bisher das Gewicht des Schiffes<br />

getragen hatte, aus der Wand, und die Pax fiel.<br />

Das Schiff sackte mit einem Schlag fünfzig Zentimeter ab. Es jagte<br />

Shan einen fürchterlichen Schrecken ein! Der Boden unter ihr kippte zur<br />

Seite, sie verlor das Gleichgewicht und prallte gegen die Seitenwand.<br />

Dann verkeilte sich das Schiff wieder in der Spalte; die Landekufen an<br />

der einen, das Dach an der anderen Wand.<br />

Und dieses Knirschen!<br />

Dieses fürchterliche Knirschen! Es drang ihr durch Mark und Bein.<br />

Shan spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen und kalter Schweiß brach ihr<br />

aus. Sie wagte es kaum, von der absurden Angst erfüllt, dass selbst diese<br />

Bewegung zuviel sein konnte, den Kopf zu heben. Und sie wusste<br />

plötzlich: es konnte sehr wohl schlimmer kommen!<br />

Es war schlimmer gekommen! Das Shuttle lag jetzt zwar wieder in der<br />

Waagerechten, aber dafür schief. Es hatte aufgehört zu zittern, aber jede<br />

noch so kleine Bewegung von Shan ließ den Rumpf erneut dröhnen und<br />

ächzen, und Shan konnte regelrecht hören, wie die Felsen, die das Schiff<br />

jetzt trugen, unter seinem gewaltigen Gewicht zu kapitulieren begannen.<br />

Irgendwo hörte sie Schnee rieseln, dann ein Ächzen, dann ein Knacken,<br />

dann wieder das Rieseln.<br />

Warum war die Pax abgesackt? Warum jetzt auf einmal, warum<br />

ausgerechnet in diesem Moment? Es konnte nur daran liegen, dass sich<br />

Shan bewegt hatte. Sie war herumgelaufen. Das musste zuviel gewesen<br />

sein. Sofort verfluchte sie sich dafür. Warum war sie nicht einfach sitzen


geblieben? Einen Moment lang wollte sich Shan einfach nur wieder an<br />

die Wand lehnen und die Knie anziehen.<br />

Ja.<br />

Ja, das war eine gute Idee! Sogar eine ganz hervorragende Idee! Je<br />

mehr sie darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien sie ihr. Wenn sie<br />

sich nicht mehr bewegte, dann würde das Shuttle sich auch nicht mehr<br />

bewegen und zur Ruhe kommen. Dann würde ihr nichts geschehen.<br />

Außerdem war es hier im Schiff immer noch viel sicherer als an einer<br />

Eiswand zu klettern. Selbst wenn das Shuttle wieder absackte, nach<br />

unten hin wurde der Spalt enger. Das Schiff passte gar nicht hindurch,<br />

der Sturz würde also gebremst werden. Es war vermutlich besser wenn<br />

sie einfach blieb, wo sie war. Ja genau. Rettung würde kommen. Sie<br />

musste nur durchhalten. Ihre Eltern würden sie schon finden. Ganz<br />

bestimmt sogar. Es würde alles gut werden, wenn sie sich jetzt nur ruhig<br />

verhielt. Andererseits...<br />

Shan seufzte. Irgendwie wusste sie, dass sie sich gerade nur etwas<br />

vormachte. Und die Wand – na ja. Sie konnte es ja mal versuchen, oder?<br />

Die Möglichkeit wieder ins Schiff zu gehen, würde ihr schließlich nicht<br />

genommen werden.<br />

„Also gut.“, murmelte sie und richtete sich vorsichtig wieder auf. „So<br />

habe ich mir das zwar nicht vorgestellt, aber na schön.“<br />

Sie hatte das Schwert vor Schreck fallen gelassen. Es war scheppernd<br />

neben sie gerutscht, als ob es im Anbetracht der Notlage ein Bedürfnis<br />

nach Gesellschaft verspürt hätte. Shan hob es langsam, ganz langsam,<br />

mit sehr vorsichtigen Bewegungen vom Boden auf und steckte das<br />

Schwert langsam an ihren Gürtel. Dann kam sie auf die Beine und<br />

versuchte anschließend mit kleinen, schlurfenden Schritten zur Tür zu<br />

gelangen. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie neben dem<br />

Seitenfenster Schnee herabrieselte.<br />

Das Dach ächzte.<br />

Shan war angespannt, ihre Beine fühlten sich auf einmal an, wie<br />

Gummi. Mit dem Mut der Verzweiflung trat sie vorsichtig durch die Tür<br />

und ging den kurzen Gang entlang, auf das gähnende Loch im Heck zu.<br />

Ein kalter, zerrender Wind schlug ihr entgegen und ließ sie frösteln. Von<br />

hier aus kam sie nicht einfach an die Wand heran. Sie musste springen.<br />

Aber sie konnte es schaffen. Es war nicht unmöglich. Das versuchte sie


sich zumindest einzureden. Auf diese Weise schützte sie sich vor der<br />

absoluten Verzweiflung.<br />

Sie atmete tief ein. Auch wenn ihre Überlebenschance gering war, sie<br />

hatte immerhin eine Chance. Eine Chance. Darauf konzentrierte sie sich.<br />

Ihre vor Kälte und vor Angst zitternde Hand tastete nach einer<br />

Metallstrebe und Shan lehnte sich ganz vorsichtig nach draußen. Sie sah<br />

hinab in den Abgrund und sofort überkam sie Schwindel und gewaltige<br />

Zweifel. Sie zog sich schnell wieder in das Schiffsinnere zurück. Nein!<br />

Nein, nein. Shan hatte es sich anders überlegt. Da würde sie nicht<br />

rausgehen!<br />

Niemals.<br />

Unter gar keinen Umständen. Sie drehte sich auf dem Absatz zurück,<br />

um ins Schiff zu gehen, dorthin, wo sie hergekommen war. Zurück an<br />

die Wand, an die sie gehörte!<br />

Dann ertönte das fürchterliche Knacken und Knallen und Shan<br />

reagierte ganz instinktiv in dem sie herumwirbelte und mit einem<br />

gewaltigen Satz einfach nach draußen sprang. Sie tat es, ohne überhaupt<br />

bewusst diese Entscheidung getroffen zu haben, geschweige denn damit<br />

einverstanden zu sein.<br />

Als das Schiff zu stürzen begann, sprang sie mit ausgebreiteten Armen<br />

nach der Wand zu ihrer Linken und klammerte sich fest. Shan prallte<br />

unsanft gegen das Eis, schnitt sich Wange und Hände auf. Unter ihr<br />

stürzte das Schiff in die Tiefe, unheimlich lautlos.<br />

Es wurde kleiner ... kleiner ... kleiner ... verschwand in der Dunkelheit,<br />

und dann, nach einigen endlos erscheinenden Sekunden der Stille,<br />

erfolgte ein markerschütterndes Krachen und Splittern vom Grund der<br />

Gletscherspalte. Starr vor Schrecken hing Shan fast eine Minute lang<br />

reglos im Eis und zitterte fürchterlich, ehe sie sich traute nach unten zu<br />

sehen.<br />

Selbst in dem schummrig trüben Licht, das nicht viel erkennen ließ,<br />

war der Anblick furchtbar. Das Schiff war tief gefallen, bis die Spalte<br />

erneut zu eng geworden war, den Sturz gebremst und die Pax durch die<br />

Wucht des Aufpralls wie eine Konservendose zerdrückt hatte. Die Reste<br />

des geborstenen Schiffes waren dann auf dem Grund aufgeschlagen und<br />

zersplittert. Hätte Shan auch nur einen einzigen Moment länger<br />

gewartet...


Es hätte ihren sicheren Tod bedeutet. Sie blinzelte, als ihr diese<br />

erschütternde Erkenntnis bewusst wurde. Das Schiff hatte kontinuierlich<br />

seinen Halt verloren, als die Felsen unter dem enormen Gewicht Stück<br />

für Stück nachgegeben hatten, und sie hatte da drin gehockt, gejammert<br />

und das alles lieber verdrängt, als sich der Situation zu stellen. Sie war<br />

drauf und dran gewesen, sich etwas einzureden, und das wäre ihr<br />

Untergang gewesen. Diese Erkenntnis sollte sie für alle Ewigkeiten<br />

wachrütteln und sie fasste einen Entschluss, der für den Rest ihres<br />

Lebens ihr Credo werden sollte: Heul nicht rum. Beklag dich nicht.<br />

Wenn du zögerst, verlierst du wertvolle Zeit. Du musst es ja doch<br />

machen, also mach es gleich und mach es richtig!<br />

Nun stieg Rauch von den Trümmern auf. Shan verspürte ein Gefühl<br />

tiefer Trauer und Verzweiflung. Das Schiff hatte ihr eine ganze Menge<br />

bedeutet, mehr, als ihr bis zu diesem Moment bewusst war. Die Pax hatte<br />

nicht ihr gehört - nicht im herkömmlichen Sinne -, aber irgendwie ... sie<br />

hatte genau in diesem Schiff das Licht der Welt erblickt, und mit ihr das<br />

Universum gesehen. Zumindest einen kleinen Teil davon. Ihre ganze<br />

Autonomie war stets in der Benutzung dieses Schiffes begründet<br />

gewesen. Nun war das Schiff fort, auf dem Grund einer Gletscherspalte<br />

zerschellt, und es war ihre Schuld.<br />

Dad bringt mich um, wenn er das sieht, dachte Shan bitter und verzog<br />

das Gesicht, als sie sich die Standpauke vorstellte, die sie zweifellos zu<br />

erwarten hatte, würde sie jemals wieder hier hinauskommen. Das würde<br />

nicht schön werden. Andererseits, hätte sie nun einfach alles dafür<br />

gegeben, ihren zweifellos wütenden Eltern zu begegnen, anstatt hier im<br />

Eis zu hängen. Ja... ja genau. Das war es, den einen Hoffnungsfunken,<br />

den se brauchte! Deswegen durfte Shan jetzt nicht aufgeben. Sie musste<br />

sich ihre Standpauke abholen! Und sie würde sich ihre Standpauke<br />

abholen. Sie würde sich nicht aus der Verantwortung ziehen und sterben.<br />

Sie hatte mist gebaut, und dafür würde sie geradestehen.<br />

Shan starrte noch einige Sekunden lang auf das bis zur<br />

Unkenntlichkeit zertrümmerte Etwas herab, das vor wenigen Minuten<br />

noch das Schiff ihres Vaters gewesen war, und dann machte sie sich an<br />

den langen, beschwerlichen Weg nach oben. Schon bald sank ihre<br />

Zuversicht wieder. Shan war schon das ein oder andere Mal in einer<br />

verzweifelten Lage gewesen, aber niemals in einer wie dieser hier. Sie


hing mit blutigen Händen und einem höllisch schmerzenden rechten Arm<br />

in hundert Metern Höhe an einer Eiswand, die sich beinahe senkrecht<br />

ungefähr weitere hundert Meter über ihr erhob, und selbst wenn sie das<br />

Unmögliche schaffte, und irgendwie dort hinaufkam, dann lag etwas<br />

noch unmöglicheres vor ihr – nämlich verletzt und mit nichts anderes als<br />

einer Jacke und Hose bekleidet, ohne Karte, ohne Proviant und Scanner,<br />

einen Weg durch die ewige Eiswüste von Frigoria zu finden. Und<br />

dennoch – sie gab nicht auf. Heul nicht rum. Beklag dich nicht. Ihr neues<br />

Credo. Daran dachte sie nun. Außerdem wollte sie ihre Standpauke. Sie<br />

hatte eine verdient und sie würde auch eine bekommen, verdammt noch<br />

mal!<br />

Shan brauchte mehr als drei Stunden für die knapp hundert Meter und<br />

sie schaffte es auch nur, weil sich die Wand als zerklüfteter erwies, als<br />

zunächst angenommen. Ihre Hände hatten schon nach Minuten<br />

unerträglich zu schmerzen begonnen – überhaupt schien es keine Stelle<br />

an ihrem Körper mehr zu geben, die nicht brannte, pochte, stach, oder<br />

auf eine andere vorstellbare (und auch unvorstellbare) Art und Weise<br />

weh tat -, und die Kälte und der heulende Wind taten ihr bestes, um ihre<br />

Muskeln hart wie Holz werden zu lassen, und jedes bisschen Kraft aus<br />

ihr herauszuprügeln. Das Klettern an der Wand aus Eis erwies sich im<br />

Grunde als überraschend einfach und hätte ihr in jeder anderen Situation<br />

vielleicht sogar Spaß gemacht. Das einzige, was ihr wirklich Probleme<br />

beim Klettern bereitete, war ihr Schuhwerk – mit den glatten Sohlen<br />

rutschte sie ständig ab. In diesen Momenten war sie gezwungen, ihr<br />

gesamtes Körpergewicht auf ihre Hände zu verlagern, was unheimlich<br />

weh tat.<br />

Was hätte sie nun alles für Kletterschuhe gegeben. Sie schwor sich,<br />

das Haus nie wieder ohne richtige Stiefel zu verlassen! Wenigstens fand<br />

sie immer wieder einen Vorsprung, eine Spalte oder einen Grat, auf dem<br />

sie sich niederlassen und für einige Minuten ausruhen konnte. Aber die<br />

Etappen zwischen diesen Pausen wurden immer kürzer und die Pausen<br />

immer länger, so dass sie auf dem letzten Viertel des Weges immer nur<br />

vier, fünf Meter weit stieg, ehe sie sich irgendwo verkantete und<br />

versuchte, ihrem Körper die so dringend notwendige Rast zu gönnen,<br />

ohne dabei einzuschlafen, was ihren sicheren Tod bedeutet hätte.<br />

Die letzten zehn Meter legte sie in einem Zustand zwischen Wachsein


und Bewusstlosigkeit zurück, in dem sie zu keinem bewussten Gedanken<br />

mehr fähig war. Ihre blutigen Hände hinterließen eine grausige Spur an<br />

der Wand, aber Schmerz und Kälte waren seltsam irreal geworden. Shan<br />

fühlte sich leicht und irgendwie schwebend, und unter der tödlichen<br />

Kälte, die ihre Hände und die Muskeln zu Eis erstarren ließ, erwachte<br />

etwas, das wie Wärme war, aber verlockender und wohltuender. Sie<br />

wusste, was es war. Die Behauptung, dass Erfrieren im letzten Stadium<br />

ein sehr angenehmer Tod sein sollte, schien zu stimmen. Aber sie wollte<br />

nicht sterben. Nicht hier und nicht so, und auch nicht, bevor sie … etwas<br />

Bestimmtes getan hatte. Sie erinnerte sich nicht mehr genau, was es war.<br />

Im Nebel ihrer Gedanken tauchte ein Gesicht auf. Dann ein dazu<br />

passender Name. Der Name: Dad. War das überhaupt ein Name? Sie<br />

erinnerte sich nicht einmal, was das Wort zu bedeuten hatte. Sie konnte<br />

nicht mehr denken. Selbst ihre Gedanken schienen zu Eis zu erstarren.<br />

Monoton zog sie ihren Körper in die Höhe, streckte den Arm aus, bis<br />

sie irgendwo Halt fand, dann den anderen, immer weiter und weiter, wie<br />

eine Maschine, die nur zu diesem Zweck konstruiert und zu nichts<br />

anderem in der Lage war. Mom, Dad … Sie hatte vergessen, wem diese<br />

Namen gehörten und was sie bedeuteten. Aber sie waren wichtig. Sie<br />

waren der Grund, weswegen Shan noch lebte und weiterkletterte. Und<br />

die Standpauke nicht zu vergessen! Die Standpauke. Was immer das<br />

auch sein sollte, es war ihr ebenfalls wichtig.<br />

Irgendwann nach zehn oder auch hundert Millionen Jahren griffen ihre<br />

tastenden, erstarrten Hände ins Leere, und weitere zehntausend Jahre<br />

danach, zog sie ihren nutzlosen, tonnenschweren Körper über den Rand<br />

der Gletscherspalte, brach zusammen und verlor endgültig das<br />

Bewusstsein.<br />

Eishölle - Zweiter Tag<br />

Sie spürte Kälte und Feuchtigkeit. Etwas raues fuhr ihr übers Gesicht,<br />

wie Schleifpapier. Ein schmatzendes Geräusch. Es war furchtbar weit<br />

weg, als ob es jemand anderem passieren würde und irgendwie<br />

interessierte es sie auch gar nicht mehr. Sie versuchte einen Moment lang


gegen die tödliche Wärme anzukämpfen, die in ihrem Innern zunahm, so<br />

verlockend und einlullend, dass sie keine Kraft mehr besaß, es<br />

zurückzudrängen. Sie spürte, dass es der Tod war. Der Moment ihres<br />

Wiederstandes ging schnell vorbei. Es war in Ordnung. Sie wollte jetzt<br />

zur Wärme. Dann spürte sie noch einmal dieses Raue auf ihrer Wange.<br />

Es zerrte sie zurück in die Realität, wo sie ganz und gar nicht hinwollte.<br />

Die grauen Schleier begann die Schwärze vor ihrem Blick aufzulösen.<br />

Shan hustete. Etwas tropfte ihr auf den Hals. Sie roch etwas komisches.<br />

Süßlich. Sie hörte tiefes Schnauben. Dann spürte sie wieder das raue<br />

Scheuern, es begann an ihrem Hals und wanderte die Wange hoch.<br />

Irgendwie fand Shan die Kraft den Kopf zu heben und die Augen zu<br />

öffnen. Sie wäre nicht erstaunt gewesen, hätte sie in das Gesicht eines<br />

Skeletts im schwarzen Umhang geblickt, das über ihr stand und sich auf<br />

seine Sense stützte. Stattdessen starrte sie in das Gesicht eines Pferdes.<br />

Das große, runde Auge des Tieres starrte mit sanftem Liedschlag auf sie<br />

herab. Es leckte ihre Wange ab und die Berührung fühlte sich beinahe<br />

angenehm an. Shan lächelte. Die grauen Schleier vor ihrem Blick<br />

lichteten sich weiter und-<br />

Es war kein Pferd.<br />

Shan sprang auf. „Bei den Sternen!“<br />

Ihre plötzliche Bewegung ängstigte das merkwürdige Tier. Es<br />

schnaubte erschrocken und trottete sich langsam von ihr weg. Shan<br />

bereute ihre Bewegung sofort, als sich die gesamte Welt um sie zu<br />

drehen begann. Sie ächzte und versuchte sich aufzurichten, was gar nicht<br />

so einfach war, da sie sich kaum bewegen konnte. Ihr ganzer Körper<br />

fühlte sich taub an und das einzige, was sie spürte – wenn sie etwas<br />

spürte -, waren Schmerzen. Ihr rechter Arm schmerzte jetzt unerträglich<br />

und ihr Gesicht fühlte sich an, als hätte jemand versucht, ihr die Haut in<br />

Streifen herunterzuziehen. Noch schlimmer waren die Hände, die<br />

scheinbar in Flammen standen.<br />

Und ihre Beine zitterten. In ihren Ohren dröhnte der Wind und sie<br />

hatte rasende Kopfschmerzen. Aber ihr Sehvermögen kehrte langsam<br />

wieder komplett zurück und Shan sah sich nach dem Tier um, dass sie<br />

geweckt und vermutlich vor dem sicheren Erfrierungstod bewahrt hatte.<br />

Es trottete ein Stückchen die Gletscherspäte entlang und drehte sich dann<br />

noch einmal zu ihr um, um Shan vorwurfsvoll anzusehen. Aber jetzt


konnte sie es richtig sehen: ein kleiner Kopf, dicker Hals, schwerfälliger<br />

Körper, der mit zotteligem, weißem Fell bedeckt war. Es hatte nur ein<br />

Auge, zwei Fangzähne neben dem breiten Maul und große Ohren mit<br />

denen es regelmäßig flatterte.<br />

Shan blinzelte. Verwirrt und benommen suchte sie in ihrem<br />

Gedächtnis nach dem Namen des Tiers, aber sie kannte keinen. Sie<br />

kannte das ganze Tier nicht. Und obwohl es geradezu lachhaft<br />

abscheulich aussah, übte es auf groteske Art und Weise eine gewisse<br />

Faszination auf Shan aus. Vielleicht war sie die erste, die so ein Wesen<br />

je zu Gesicht bekommen hatte. Der Gedanke gefiel ihr.<br />

Shan sah an ihrer Jacke hinunter und bemerkte den schaumigen<br />

Speichel, der ihr vom Hals herunterlief. Das Tier hatte sie besabbert. Sie<br />

berührte den Speichel mit den Fingern - Shan empfand bei solchen<br />

Dingen keinen Ekel. Fühlte sich warm an. Sie starrte wieder das Tier an.<br />

Es bewegte sich gemächlich und vermittelte einen sanftmütigen,<br />

reichlich dummen Eindruck.<br />

Ist wahrscheinlich auch dumm, dachte Shan. Einige Meter von ihr<br />

entfernt blieb das Tier stehen, drehte sich zu ihr um und musterte ihre<br />

neue, jetzt aufrechte Erscheinung. Als Shan sich nicht bewegte, verlor<br />

das Tier wieder das Interesse und trottete weiter. Sie sah dem Wesen ein<br />

paar Sekunden nach und dann verschaffte sie sich einen Überblick über<br />

die Umgebung, um zu einer Einschätzung ihrer Situation zu gelangen.<br />

Dazu drehte sich Shan einmal um die eigene Achse und versuchte ihre<br />

wachsende Verzweiflung zu verbergen. Um sie herum ragte das extrem<br />

verbogene Gebirge der Eishölle in die Höhe und sie sah auf den ersten<br />

Blick, dass die Wetterverhältnisse dort noch ein wenig schlechter waren<br />

als im Bereich der Ebene in der sie abgestürzt war. Hier wie dort<br />

herrschten extrem niedrige Temperaturen. Der Schnee schmolz so gut<br />

wie nie, bildete immer dickere Schichten unter denen sich tückische<br />

Felsspalten verbargen.<br />

Trostlos, dachte Shan. Hier lebt höchstens Santas böser Bruder. In der<br />

Ebene zwischen dem Gebirge, wo sie sich befand, erstreckte sich die<br />

zerklüftete Eiswüste nach allen Seiten, so weit, dass sie in der Ferne in<br />

die grauen, dunklen Berge überzugehen schienen. Nichts als Weiß,<br />

endlos, ewig, schrecklich. Weiß und mörderisch kalt. Zum Glück hatte<br />

der Sturm aufgehört und es schneite im Moment auch nicht. Aber immer


wieder zuckten Blitze aus dem finsteren Himmel herab, die dunklen,<br />

drohenden Wolken hingen tief und wirkten wie Ungeheuer.<br />

Und Shan war mittendrin.<br />

Allein.<br />

Ohne Essen, Wasser, oder einen Notrufsender. In einer dunklen,<br />

schneebedeckten Berglandschaft. Sie wusste nicht, was zu tun war.<br />

Patience Shan Bartez befand sich in Schwierigkeiten. Großen<br />

Schwierigkeiten.<br />

Die Art, die einen umbrachte.<br />

Shan blickte zum dunklen Himmel hoch, aber die beiden Sonnen von<br />

Frigoria blieben hinter der bedrohlichen Wolkendecke verborgen.<br />

Dennoch glaubte sie zu wissen, wo sie ungefähr standen, da es an den<br />

entsprechenden Stellen ein klein wenig Heller hinter den Wolken war.<br />

Aber gingen die beiden Sterne gerade unter oder auf? Und in welche<br />

Richtung standen die Sonnen hier eigentlich? Sie runzelte die Stirn. Shan<br />

war sich nicht sicher und durfte jetzt keine Fehler machen. Nicht noch<br />

mehr als ohnehin schon. Dieser eine Berg dort rechts, der mit den<br />

gezackten Felsen an der Spitze, die so aussahen, als ob er eine Krone<br />

trüge – er kam ihr bekannt vor.<br />

Bei dem Absturz, hatte sie durch den Sturm kaum etwas gesehen, aber<br />

sie war sich ziemlich sicher, dass sie während dem Sinkflug mit der Pax<br />

erschreckend dicht über genau diesem Berg hinweggesaust war. Sie hatte<br />

noch befürchtet, dass sie mit seinen spitzen Felsen kollidieren, oder<br />

zumindest, dass sie die Unterseite der Pax aufschlitzen würden. Dann<br />

war er plötzlich unter ihr verschwunden, während nur wenige<br />

Augenblicke später der Boden auf sie zugesprungen war. Der<br />

Aufprallwinkel stimmte auch ungefähr. Und Shan wusste sehr genau,<br />

dass irgendwo in dem Tal weit hinter dem Berg der Raumhafen lag. Von<br />

dort aus war sie entgegen aller Warnungen gestartet und dann einem<br />

geraden Kurs geflogen.<br />

Der Raumhafen.<br />

Da musste sie hin, entschied sie schließlich. Aber das war ein verflucht<br />

langer Marsch. Sie hatte mit der Pax einige Zeit gebraucht, um von dort


is hierher zu gelangen. Zu Fuß würde es Tage dauern. Wochen. Und es<br />

herrschten nicht gerade angenehme Wanderbedingungen. Der Wind<br />

zerrte bereits heftig an ihrer Gestalt und durch die Kälte spürte sie ihre<br />

Finger und Zehenspitzen fast gar nicht mehr. Shan fragte sich, wie um<br />

alles in der Welt sie die Reise bis dort hin durchhalten sollte, ohne, dass<br />

ihr die ein oder anderen Gliedmaßen einfach abfielen.<br />

Sie sah dem schnaufenden Tier nach, wie es langsam durch den<br />

Schnee davon trottete, und ihre Hand tastete nach dem Knauf des<br />

Schwertes, dass ihr plötzlich viel zu groß schien. Einen Moment lang<br />

überlegte Shan, dass Tier zu töten, lies es aber doch bleiben. So<br />

verzweifelt konnte sie gar nicht sein, um ein unschuldiges Lebewesen<br />

auf grausame Art und Weise aufzuschlitzen, nur, damit sie was zu essen<br />

hatte. Das wäre ihm gegenüber unfair, schließlich hatte das Tier sie vor<br />

dem sicheren Tode bewahrt. Und es war sowieso eine ganz fürchterlich<br />

dumme Idee. Ohne Feuer konnte sie ja ohnehin kein Fleisch braten und<br />

Roh würde sie nichts herunterwürgen können.<br />

Ein kalter Wind schlug ihr entgegen. Shan schauderte, zog den Kopf<br />

zwischen die Schultern und begann die lange Wanderung. Schlurfend<br />

und Steif vor Kälte marschierte sie, das Tier hinter sich lassend, auf die<br />

Berge zu.<br />

Nach einer halben Ewigkeit Fußmarsch war Shan furchtbar hungrig<br />

und erschöpft. Inzwischen bereute sie es, das Tier verschont zu haben. In<br />

ihrer Bauchhöhle rumorte es heftig. Sie bekam von ihrem Magen ständig<br />

zu hören, dass er Nahrung brauchte und nach einer ganzen Weile war er<br />

richtig ausfallend geworden, was dieses Thema anging. Nun knurrte er<br />

unentwegt. Es war der einzige Muskel in ihrem Körper, den sie noch<br />

spürte. Alle anderen waren taub.<br />

Unter ihren Schuhen knirschte beständig der Schnee. Ein starker Wind<br />

war aufgekommen, gegen den sie richtig ankämpfen musste. Auf Shans<br />

Gesicht bildeten sich bereits Eiskristalle und überzogen Mundwinkel und<br />

Augenränder.<br />

Gott ist das kalt, dachte sie, als ihr der eisige Wind einen Schwall<br />

Schnee entgegenpeitschte. Der Schneesturm wütete unglaublich heftig.


Und Shan befand sich mitten drin. Sie stapfte mit den Füßen und<br />

versuchte, das Gefühl in sie zurückzubringen, während sie mit<br />

steifgefrorenen Fingern den Scanner aus ihrer Jackentasche fummelte<br />

und aufklappte. Aber es nützte nichts. Er hatte den Geist aufgegeben und<br />

war nun genauso unnütz, wie der Großteil ihres Körpers. Wütend warf<br />

sie ihn in den Schnee und marschierte weiter.<br />

Shan spürte weder ihre Finger, noch ihre Nase und Ohren. Ihr<br />

verletzter, rechter Arm war mittlerweile völlig taub und hing nutzlos an<br />

ihrem Körper herunter, als würde es sich um einen Fremdkörper handeln.<br />

Es war zum verzweifeln. Sie stand kurz vor dem Erfrieren, hatte keine<br />

Ahnung, was sie tun sollte und Rettung würde wohl keine kommen.<br />

Aber Shan wollte nicht den Mut verlieren. Im Geiste wiederholte sie<br />

immer wieder ihr neues Credo, konzentrierte all ihre Energie auf das<br />

weitermarschieren. Einfach weitermarschieren. Dennoch hatte sie das<br />

Gefühl, keinen Meter weiter zu kommen. Es kam ihr so vor, als stünde<br />

sie auf einem Laufband.<br />

Stunden vergingen. In diesem Land ohne Nacht verlor Shan jedes<br />

Zeitgefühl und da gab es nichts, wonach sie sich hätte richten können –<br />

keine Gebäude, kein Raumhafen, keine Sonnen. Nichts als Schnee und<br />

Eis. Nur die Berge hinderten sie daran, völlig die Orientierung zu<br />

verlieren. Sie kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf den<br />

Berg mit der Krone. Das war ihr Ziel. Den wollte sie erreichen.<br />

Stur stapfte sie weiter und ihre Fußspuren zeichneten sich deutlich<br />

hinter ihr ab, würden aber schon bald zugeweht werden. Als Shan<br />

dorthin zurückblickte, wo sie hergekommen war, kam sie sah sie nichts<br />

als Schnee und grauem Himmel. Sie sah wieder nach vorn. Der Berg mit<br />

der Krone kam ihr in dieser endlosen Kulisse aus weißem Eis und<br />

wolkenbehangenem Himmel klein und unwirklich vor, obwohl er<br />

eigentlich riesig und sehr viel realer hätte sein müssen. Und er kam kein<br />

Stück näher. Kein Stück.


Shan schnaubte und marschierte weiter.<br />

Stunden später marschierte sie noch immer. Sie wusste nicht wie und<br />

warum, aber sie tat es. Es spielte auch gar keine Rolle mehr warum. Ihr<br />

Körper war dazu fähig, also sollte er es tun. Im Grunde war es Shan<br />

inzwischen völlig egal. Sie spürte ihre Beine ja sowieso nicht mehr. Sie<br />

waren nicht mehr länger ein Teil ihres Körpers und deswegen konnten<br />

sie ihretwegen auch tun und lassen, was sie wollten. Von einer<br />

Diskussion mit ihren Gliedmaßen sah Shan ebenfalls ab, da sie zu starke<br />

Antipathien für sie empfand. Weil sie taub waren, weil sie sich von ihr<br />

losgesagt hatten, und weil sie so beträchtlich kurz waren.<br />

Macht nur, dachte Shan pikiert. Wandert ruhig weiter. Es sollte ihr<br />

recht sein. Sie brauchte das nicht, aber wenn ihre Beine sich unbedingt<br />

bewegen wollten – schön. Fein. In Ordnung. Shan gedachte nicht, sie<br />

aufzuhalten.<br />

Blöde Beine!<br />

Die Welt wurde flacher und grauer, verlor fast jede Tiefe. Ein dichter,<br />

weißer Rauch lag in der Luft, man konnte immer schlechter sehen, und<br />

langsam drohte sie schneeblind zu werden. Falls das Wetter anhielt,<br />

würde sie bald nicht einmal mehr erkennen können, wenn eine<br />

Gletscherspalte kam. Dann würde sie vielleicht doch noch mit ihren<br />

Beinen reden und auf der Stelle ausharren müssen, bis sich das Wetter<br />

besserte. Am Rande des Universums.<br />

Der Wind heulte. Shans rote Jacke wurde flach gegen ihren Körper<br />

gedrückt. Das Gehen wurde immer schwerer. Aber sie kämpfte weiter.<br />

Sie wusste nicht, wie lange sie schon durch diese Eishölle latschte -<br />

Millionen, oder Billiarden Jahre, aber sie marschierte.<br />

Der Berg rückte natürlich kein Stück näher. Es kam ihr sogar so vor,<br />

als würde er sich weiter entfernen!?<br />

Er verspottete sie! Ja, ganz bestimmt! Der verdammte Berg verspottete<br />

Shan, indem er vor ihr floh. Das durfte doch einfach nicht wahr sein!


Shan machte ein wütendes Gesicht. Zumindest stellte sie sich das vor,<br />

denn in Wahrheit hatte sie sich schon vor Äonen von Jahren des<br />

Wanderns mit ihrem Gesicht verkracht, da sie auch diesen Teil ihres<br />

Körpers nicht mehr spürte. Wenigstens, so dachte sie, konnte es kaum<br />

schlimmer werden.<br />

In dem Moment wurde es schlimmer. Der Schneesturm, der sie von<br />

hinten überfiel, traf Shan völlig unvorbereitet. Eine eisige dunkle Wand,<br />

von Blitzen durchzuckt und von einem grauenvollen Sturm vorwärts<br />

gepeitscht, prallte gegen sie. Auf einen Schlag sah sie so gut wie gar<br />

nichts mehr. Der soeben noch graue Himmel war plötzlich mit<br />

pechschwarzen Wolken bedeckt und dann verschwand er völlig. Die<br />

Temperatur fiel schlagartig um mehrere gefühlte tausend Grad und<br />

Eisstücke prügelten ihr ins Gesicht.<br />

Und Shan musste kichern. Ein krächzendes Geräusch, das vom<br />

heftigen Wind sofort weggefegt wurde. Sie kicherte, weil ihr nun klar<br />

war, dass sie hier sterben würde.<br />

Eishölle - Dritter Tag<br />

Shan kicherte nicht mehr. Dazu war sie auch gar nicht mehr in der<br />

Lage. Schon der schiere Versuch hätte keinen Sinn gehabt. Ihre<br />

Gesichtsmuskulatur war derart Steif und unbeweglich, dass allein der<br />

Gedanke zu kichern, völlig absurd war.<br />

Während sie weitermarschierte, wirbelte Schnee um, und in ihrem<br />

Kopf herum, der Sturm heulte noch immer und hatte kein bisschen<br />

nachgelassen. Er hatte sich sogar zu einem waschechten Blizzard<br />

gewandelt. Ständig zuckten Blitze, überall Schneegestöber. Shan war<br />

fast völlig blind, hatte keine Ahnung wohin sie ging und ihre Gelenke<br />

bewegten sich so träge und plump, wie die eines altertümlichen<br />

Kampfroboters.<br />

Sie hatte irgendwann fürchterlich zu zittern begonnen, zunächst in<br />

kurzen Schüben und dann fast ununterbrochen, als hätte sie einen<br />

Schüttelkrampf. Nun war ihr Körper ein einziges, wandelndes Zittern.<br />

Sie hatte viel über das Thema Eis gelesen und wusste, was das bedeutete.


Ihre Körpertemperatur war bedrohlich gefallen – sie wunderte sich<br />

ohnehin, dass sie so lange dafür gebraucht hatte – und das Zittern war ein<br />

automatischer, physiologischer Reflex, um den Körper aufzuwärmen.<br />

Dummerweise brachte er nicht viel. Ihr klapperten zwar die Zähne, die<br />

sie gar nicht mehr spürte, und erst recht nicht länger leiden mochte, aber<br />

wärmer wurde ihr dadurch auch nicht. Die Lippen konnte sie ebenfalls<br />

nicht mehr bewegen. Auch die mochte sie inzwischen nicht mehr. Aber<br />

ihr Verstand arbeitete noch, suchte verzweifelt nach irgendeinem<br />

Ausweg aus dieser weißen Hölle... und fand keinen. Vielleicht arbeitete<br />

er doch nicht mehr so richtig. Und Shan überlegte, ob sie ihren Verstand<br />

nicht auch langsam auf die kilometerlangen Liste der Dinge, die sie an<br />

sich hasste, setzen sollte.<br />

Die Zeit verging langsam. Oder gar nicht. Vielleicht verlief sie ja<br />

sogar rückwärts. Shan war sich nicht sicher. Es kam ihr so vor, als ob sie<br />

diese weiße, wirbelnde Masse kleiner, aber enorm schmerzhafter<br />

Eispartikel nun schon seit einer längeren Zeit als der Ewigkeit betrachten<br />

musste. Blitze zuckten, der Wind heulte. Immer das gleiche. Blitze,<br />

heulen. Blitze, heulen. Dazu kam endloses Schneegestöber. Der Sturm<br />

war so dicht und so heftig, dass sie keine zehn Zentimeter weit sah und<br />

sie konnte nicht sagen, wo sie eigentlich war, oder hinmarschierte. Nicht<br />

im geringsten. Die Umgebung kam ihr vor, als existiere das Universum<br />

nur noch in der Größe einer kleinen Schachtel und sie saß mittendrin.<br />

Shan spürte ihren kompletten Körper nicht mehr. Sie spürte nicht<br />

einmal mehr ihre Abneigung zu ihm. Sie spürte gar nichts. Und es war<br />

ihr absolut unbegreiflich, warum ihre Beine dennoch stur<br />

weitermarschierten und nicht einfach durchbrachen. Alles in ihr drängte<br />

danach, sich hinzulegen und endlos zu schlafen. Einfach nur zu schlafen<br />

und nie wieder aufzuwachen. Shans Bewusstsein schwebte gefährlich<br />

zwischen Wachen und Schlafen und eine angenehme Ruhe zerrte an ihr<br />

– Shan hatte sie schon vorher gespürt -, aber noch gab sie sich ihr nicht<br />

hin. Irgendwas in ihr leistete noch immer Widerstand, sagte ihr, dass sie<br />

nicht die Augen schließen, nicht stoppen durfte. Als ihr Geist einen<br />

seltenen, klaren Moment hatte, fragte sie sich, woher sie die Kraft nahm,


fand jedoch keine zufriedenstellende Antwort. Vielleicht war es der<br />

Überlebenswille, obwohl sie das Gefühl hatte, eben diesen schon längst<br />

in den weiten des ewigen Sturmes verloren zu haben.<br />

Und irgendwie wurde ihr in diesem Moment der Klarheit alles egal.<br />

Sie konnte nicht weiter. Ihre Beine schienen das auch endlich zu<br />

begreifen und knickten unvermittelt ein. Shan sank auf die Knie, die<br />

wiederum im Neuschnee versanken. In dieser Position verharrte sie<br />

einige Minuten, ehe sie den Versuch einer weiteren Bewegung<br />

unternahm. Es kostete sie viel Kraft und Konzentration, aber es gelang<br />

ihr schließlich, sich einfach hinzusetzen. Sie zog ihre steifen Beine an,<br />

legte die Stirn auf die Knie ab, die sie mit den Händen umschlang, und<br />

versuchte nicht zu weinen.<br />

Der Wind wurde noch heftiger, kreischte sie jetzt richtig an. Dichter<br />

Schnee wirbelte durch die Luft. Shan blieb sitzen. Sie blieb sitzen und<br />

lies alles über sich ergehen.<br />

Der Blizzard brüllte lauter.<br />

Eishölle - Vierter Tag<br />

Es war nacht. Der Sturm hatte sich gelegt, war zu einer sanften Briese<br />

geworden und schließlich ganz verklungen. Nun war es dunkel in der<br />

Ebene und unheimlich windstill. Nur hin und wieder blitzte es irgendwo<br />

in der Ferne, aber es erklang kein Donner. Auch sonst gab es keine<br />

Geräusche. Shan saß noch immer genau dort, wo sie sich während des<br />

Sturmes niedergelassen hatte und war halb im Schnee versunken.<br />

Genauer gesagt, hatte die neue Schneeschicht sie fast unter sich<br />

begraben. Und Shan rührte sich nicht. Sie vibrierte vielmehr.<br />

Kalt ... so ... kalt.<br />

Eine erschreckende Aura eisiger Kälte umgab sie. Und die Kälte tat<br />

weh. Der Schmerz durchzog ihren bibbernden Körper nun schon seit<br />

geraumer Zeit, war fast zu einem angenehmen Gefühl geworden und<br />

drohte sie allmählich zu lähmen. Im Grunde hatte er das sogar schon<br />

geschafft. Ihr Körper war nur noch ein riesiger, vibrierender Eiskristall,


und sie war sicher, sollte jemand eine Stimmgabel gegen sie schlagen,<br />

würde sie auf der Stelle in tausend kleine Scherben zersplittern.<br />

Aber die Kälte versuchte auch ihren Geist zu lähmen. Und von dem<br />

bestand immerhin noch ein winzig kleiner Teil, der sich noch erfolgreich<br />

wehrte, aber gleichzeitig höllische Schmerzen erlitt. Und trotzdem war<br />

es wahrscheinlich genau das, was sie rettete, denn der Schmerz machte<br />

ihr unbarmherzig klar, was sie erwartete, wenn sie einschlief. Trotzdem<br />

begriff Shan hinterher nicht, wo sie die Energie und die Kraft<br />

hergenommen hatte, derart lange wach zu bleiben, ohne einfach tot<br />

umzufallen. Und wie lange sie hier schon unkontrolliert zitternd und in<br />

sich hineinstöhnend saß und mit der drohenden Bewusstlosigkeit rang,<br />

das wusste sie auch nicht.<br />

Es war die sanfte und doch kraftvolle Berührung des Windes, die sie<br />

schließlich wieder ins Bewusstsein zurückbrachte. Dieses laue Lüftchen<br />

war nicht so kalt wie der Sturm. Er tat nicht weh. Er war sehr<br />

unangenehm und meilenweit davon entfernt, angenehm zu sein, aber er<br />

brachte einen Funken Leben in ihren Körper zurück. Shan versuchte den<br />

Kopf ein Stückchen von den Knien zu heben und schaffte es schließlich<br />

beim achten Anlauf. Sie sah sich aus trüben, eisverkrusteten Augen um.<br />

Die Nacht war klar und der Himmel sternenbehangen. Ein grüner<br />

Mond stand hoch und zauberte einen matten Schein auf die Ebene. Nun<br />

konnte man die zahlreichen und tückischen Gletscherspalten wieder<br />

erkennen. Man sah, wo man hintrat.<br />

Die ideale Zeit, um weiterzumarschieren. Shan fragte sich, ob es ihr<br />

wohl gelingen würde, sich zu bewegen. Aber das einzige, was sie<br />

glaubte, war, dass ihre Arme und Beine einfach durchbrechen mussten,<br />

wenn sie auch nur versuchte, sich innerhalb der nächsten zwei<br />

Jahrzehnte zu rühren. Trotzdem zwang sie sich dazu. Du musst es ja<br />

doch machen, also mach es gleich und mach es richtig, dachte sie. Es<br />

gelang ihr sogar irgendwie, sich hochzustemmen und auf die Füße zu<br />

kommen. Ein qualvoller Ausdruck stand in ihren Augen, obwohl sich in<br />

ihrem Gesicht kein Muskel rührte. Ging auch gar nicht. Dafür war ihr<br />

Gesicht viel zu gelähmt. Einzig ihre Zähne klapperten heftig, und einen<br />

Moment lang drehte sich alles um sie herum.<br />

Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Kälte<br />

kristallisierte alles, selbst den Fluss ihres Geistes. Dennoch spürte sie tief


in sich drin, wie wichtig es war, aufzustehen und sich keinen Illusionen<br />

hinzugeben. Mit aller Gewalt zwang sie sich, die Augen offen zu halten<br />

und sich diesmal richtig umzusehen. Und was sie erblickte, das erfüllte<br />

sie mit einer Mischung aus Staunen, ungläubiger Bewunderung... und<br />

purem Entsetzen!<br />

Sie hatte – unfassbar, aber wahr - die Bergkette während ihres langen<br />

Marsches beinahe erreicht und stand nun kurz vor dem Berg mit der<br />

Krone, aber ... das Ding bestand auf den letzten Milliarden Kilometern<br />

aus einer kerzengeraden Eiswand, ohne Furchen, ohne Rillen, ohne<br />

zufällig eingebaute Griffe für Kletterer. Der Berg war schlicht<br />

unpassierbar! Shan starrte die Eiswand geschlagene fünf Minuten an, ehe<br />

sie in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Das ... war’s?,<br />

fragte sie sich. Das sollte es gewesen sein? Das Ende ihrer qualvollen<br />

Reise? Die Strapazen, der Schmerz, die Taubheit, die Kälte – das alles<br />

für ... für ...<br />

...nichts?<br />

Für Nichts?<br />

<strong>FÜR</strong> <strong>NICHTS</strong>?<br />

Ein unglaublicher Zorn keimte in Shan auf. Die Feuer der Wut<br />

brannten neues Leben in ihren geschundenen Körper und tauten ihre<br />

Gliedmaßen ein Stück weit auf. Schleppend langsam ballten sich ihre<br />

gefrorenen Hände zu Fäusten, selbst die rechte, die sie noch viel weniger<br />

spürte als den Rest ihres Körpers. Ihre Lippen bebten; diesmal nicht vor<br />

Kälte, sondern vor blanker Wut. Vor unfassbarer Wut! Ihre Oberlippe<br />

löste sich schmatzend von der Unterlippe, der Kiefer geriet in Bewegung<br />

und nach mehreren gescheiterten Sprachversuchen krächzte sie mit<br />

schmerzender Kehle: „<strong>FÜR</strong> <strong>NICHTS</strong>!?“<br />

Und dann begann sie wie ein Rohrspatz mit dem Berg zu schimpfen.<br />

Der Schmerz, die Wut, die Enttäuschung ... sie entlud alles, ihren ganzen<br />

Frust, in die krächzenden Geräusche, die ihre trockene Kehle, die steife<br />

Kiefermuskulatur, die spröden Lippen, und das gefrorene Gesicht<br />

zustandebringen vermochten. Sie ballerte restlos alles raus, was ihr zur<br />

Verfügung stand. Das komplette Inventar an Kraftausdrücken und<br />

Flüchen, gesammelt auf den Schulhöfen der Erde und angereichert mit<br />

den Schimpfwörtern von Hunderten von Spezies überall aus der Galaxie.<br />

Alles was sie krakeelte, wurde als Echo von den Bergen reflektierend


zurückgeworfen und hallte durch die Ebene, sodass sie ihre Obszönitäten<br />

selbst noch gut zwei, dreimal hören konnte. Und nach einem ellenlangen<br />

Sturzbach an blumigen Unfreundlichkeiten, der eine halbe Ewigkeit zu<br />

dauern schien, verhallte auch das letzte Echo und es wurde wieder still in<br />

der Ebene. Shan schnaufte schwer. Sie war völlig außer Atem. Dieser<br />

Wutausbruch hatte sie furchtbar viel Kraft gekostet, aber das war es wert<br />

gewesen. Sie fühlte sich unglaublich erleichtert.<br />

„Ha!“, rief sie, zum Berg gewandt. „Das hat dir wohl die Sprache<br />

verschlagen, was?“<br />

Fast als hätte er ihre Worte gehört, drang ein dumpfes Grollen vom<br />

Berghang an sie heran. Shans Augen weiteten sich und ihre Mundwinkel<br />

rutschten gen Boden.<br />

„O Nein.“<br />

Das Grollen und Dröhnen wurde immer lauter. Sie spürte, wie das Eis<br />

unter ihren Füßen zu Vibrieren begann. Und das Vibrieren wurde schnell<br />

zu einem handfesten Beben. Shan stöhnte auf. Das Herz pochte ihr bis<br />

zum Hals empor und schien ihren Brustkorb zu zerreißen. Was ist bloß<br />

mit dir los? schimpfte sie. Hast du deinen Verstand auf Risa gelassen?<br />

Wer viel Lärm macht, bekommt es anschließend mit ziemlich viel Schnee<br />

zu tun!<br />

Und so war es auch.<br />

Sie wirbelte herum und begann zu rennen, aber sie war viel zu<br />

langsam. Ihre Beine erwiesen sich zwar dank des Adrenalins, das<br />

Literweise durch ihre Venen floss, als erstaunlich kooperativ, und<br />

bewegten sich, aber sie versanken in dem Neuschnee, fast bis zur Hüfte.<br />

Shan kam überhaupt nicht voran. Und sie ahnte, dass es ein Wettlauf<br />

war, den sie unmöglich gewinnen konnte.<br />

Sie hatte recht.<br />

Shan war kaum zehn Meter weit gekommen, als sich das Rumpeln zu<br />

einem ungeheurem Dröhnen steigerte. Sie sah im Laufen über die<br />

Schulter und was sie erblickte, lies ihre Muskeln noch stärker arbeiten.<br />

Sie ruderte mit Armen und Beinen, kam aber einfach nicht voran,<br />

versank immer und immer wieder in dem verdammten, pulvrigen<br />

Neuschnee! Sie bekam Panik, ihre Bewegungen wurden fahrig. Eine<br />

staubige, weiße Wand raste in der Dunkelheit auf sie zu und verschlang<br />

alles, was sich ihr in den Weg stellte. Shan blieben nur noch zwanzig


Sekunden.<br />

Vielleicht weniger.<br />

Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben und die Ebene war in<br />

fast völlige Dunkelheit gesenkt, aber sie sah die Lawine dennoch mit<br />

Warpgeschwindigkeit auf sich zubrüllen.<br />

Shan eilte weiter durch den Schnee und blieb plötzlich stehen. Vor ihr<br />

ging es nicht weiter. Sackgasse. Sie stand am Rand einer mehr als sieben<br />

Meter breiten Gletscherspalte, deren Boden sich in pechschwarzer<br />

Finsternis verlor!<br />

O Nein!<br />

Sie spürte die Lawine hinter sich. Der Boden schwankte. Ein Blick<br />

nach hinten verriet ihr, dass die weiße Wand sie fast erreicht hatte.<br />

Hundert Meter... Achtzig.... Sechzig... Shan stürzte auf die Knie, suchte<br />

mit den Händen etwas, von dem sie sich wenigstens einreden konnte,<br />

dass es ein sicherer Halt war, aber da war nichts! Die Gletscherwand<br />

bestand ebenfalls aus Eis. Kein Griff! Kein verdammter Griff! Die<br />

Lawine rumpelte.<br />

Für den Bruchteil einer Sekunde wollte sie aufgeben. Doch dann fiel<br />

ihr plötzlich das Schwert wieder ein. Sie trug es noch immer mit sich<br />

herum. In einer blitzschnellen Bewegung zog sie die Stichwaffe vom<br />

Gürtel, rammte die Klinge mit aller Gewalt in die Wand unter sich, und<br />

lies sich in die Tiefe der schwankenden Spalte fallen. Mit jagendem Herz<br />

und explodierendem Puls, gelang es ihr irgendwie, den Knauf mit der<br />

linken, einigermaßen funktionstüchtigen Hand zu packen und sich in<br />

ihrer Verzweiflung festzuhalten. Im gleichen Moment donnerte die<br />

Lawine über die Gletscherspalte hinweg.<br />

Hinterher wusste sie selbst nicht mehr, wie sie es geschafft hatte. Es<br />

dauerte vielleicht eine Minute, kaum länger, aber für Shan war es, als<br />

verging eine halbe Ewigkeit, während sie sich nur mit der linken Hand<br />

am Schwert festhielt. Der Himmel über ihr war erloschen, verschlungen<br />

von einer brüllenden Decke aus Schnee und Eis, die über ihr<br />

hinwegfegte. Die Wand, an der sie mit dem Schwert hing, wankte und<br />

erzitterte, wie bei einem Erdbeben.<br />

Shan konnte nicht mehr atmen. Die Luft war erfüllt mit pulvrigen<br />

Schneepartikeln, die sie zu ersticken drohten. Ein bestialischer Schmerz<br />

wütete in ihrer Schulter und sie spürte, wie jedes Gefühl und jede Kraft


aus ihren Fingern wich. Allmählich verlor sie den Halt. Eis und Schnee<br />

hämmerten dicht hinter ihrem Rücken in die Spalte hinab. Sie konnte<br />

sich nicht mehr halten. Ihre Finger lösten sich... lösten sich...<br />

Die Lawine war vorbei. Plötzlich war der Nachthimmel wieder über<br />

ihr da und Shan konnte atmen. Das Beben lies nach.... Hörte auf.<br />

Unendlich erleichtert schloss sie die Augen, legte den Kopf in den<br />

Nacken und atmete ein. Sie lachte vor Glück. Dann brach das Schwert<br />

aus der Wand und lies Shan rücklings in die Tiefe stürzen.<br />

Der Sturz brachte sie weder um, noch tat er besonders weh, denn sie<br />

landete im weichen, pulverartigen Schnee, der ihrem Fall den Großteil<br />

der Wucht nahm. Dennoch war Shan nur noch halb bei Bewusstsein, als<br />

sie den frisch entstandenen Schneehügel hinabrollte. Sie überschlug sich<br />

doppelt und dreifach - die Welt drehte sich und wurde dann von einer<br />

merkwürdigen Dunkelheit verschluckt. Es ging abwärts. Der Boden<br />

unter ihr war schlagartig spiegelglatt und musste aus Eis bestehen. Ein<br />

paar Mal prallte sie in der absoluten Schwärze gegen Hindernisse, die sie<br />

nicht sehen konnte. Der verwaschene Lichtfleck, der den Eingang in<br />

diesen Tunnel im Eis darstellte, verblasste nach kurzer Zeit, sodass sie<br />

völlige Finsternis verschlang.<br />

Der Untergrund wurde wieder Eben, ihre Rutschpartie verlangsamte<br />

sich und Shan kam schließlich keuchend zum Stillstand. Irgendetwas<br />

rutschte klirrend neben sie. Das Schwert. Das Geräusch hatte einen<br />

unheimlichen, hohen Wiederhall, der ihr verriet, dass sie sich in einer<br />

großen, unterirdischen Höhle aufhalten musste. Hier war die Luft nicht<br />

so kalt, fast angenehm.<br />

Shan stöhnte laut. Ihr ganzer Körper schmerzte – was auch sonst?<br />

Jedes Glied, jeder Muskel tat weh. Sie bebte am ganzen Leib. Allmählich<br />

fragte sie sich, wie viel sie noch einstecken sollte. Wie viel sie noch<br />

einstecken konnte. Nicht mehr viel, da war sie sich völlig sicher.<br />

Shan blieb eine ganze Weile benommen liegen, ehe sie es wagte sich<br />

aufzusetzen. Ihre Hände waren so steif, dass sie die Finger nicht mehr<br />

gerade bekam, ohne vor Schmerz aufzustöhnen. Selbst das Luftholen tat<br />

ihr in der Kehle weh. Ihr Atem ging langsam und schwer. Irgendwie kam


sie auf alle Viere. Es war noch immer stockdunkel und ihre Augen<br />

gewöhnten sich diesmal auch nicht an die alles verschlingende<br />

Schwärze. Wie eine blinde kroch sie auf dem Boden herum und<br />

versuchte mit den Händen irgendwas zu ertasten, was kein Eis war, und<br />

nicht weh tat.<br />

Irgendwas.<br />

Aber da war nichts. Sie hätte auf der Stelle aufgegeben und wäre tot<br />

umgefallen, wenn ihre Finger nicht plötzlich etwas flauschiges,<br />

merkwürdig weiches ertastet hätten. Sofort waren all ihre Sinne, all ihre<br />

Gedanken auf dieses eine Ding konzentriert. Sie betastete weiter. Es<br />

fühlte sich an, wie...<br />

...wie...<br />

...eine Decke!<br />

Sie roch alt. Modrig. Aber sie war einigermaßen weich und bestimmt<br />

wärmespendend. Shan zerrte daran, aber etwas hielt die Decke fest, oder<br />

lag drauf. Vielleicht ein großer Stein. Verzweiflung und Wut machten<br />

sich in ihr breit. Sie zerrte noch heftiger an der Decke. Wieder nichts. Sie<br />

wollte die Decke haben, verdammt! Und zwar jetzt gleich! Sie hatte sie<br />

gefunden und jetzt würde sie das blöde Ding auch bekommen! Shan riss<br />

ein weiteres Mal an ihr. Irgendwas bewegte sich in der Dunkelheit. Sie<br />

hörte ein Klappern, fast wie von Knochen. Es war ihr egal. Sie zerrte ein<br />

letztes Mal, dann hatte sie die Decke – von was auch immer – befreit.<br />

Oh, eine Decke, dachte sie. Eine wundervolle Decke. Und sie war ihr,<br />

ganz allein ihr. Shan wollte nur noch schlafen. Alles andere war egal.<br />

Die Standpauke, ihre Eltern, ihr Credo – das spielte alles keine Rolle<br />

mehr. Mit einem Bein bereits in der Bewusstlosigkeit, bekam sie kaum<br />

noch mit, wie sie sich die Decke umwarf, einmurmelte und hinlegte. Sie<br />

schlief auf der Stelle ein.<br />

Eishölle - Fünfter Tag<br />

Irgendwas weckte sie. Ein Lebensfunke. Shan war so fürchterlich kalt,<br />

dass es Stunden dauerte, ehe sie realisierte, dass sie sich im Warmen<br />

befand. Es geschah nicht sofort. Sondern Stufenweise. Zunächst tauten


ihre Finger und Zehen auf. Ganz langsam. Dann folgte ihre Lunge. Shan<br />

hatte praktisch schon vergessen, was es hieß, zu atmen, ohne tausend<br />

Nadelstiche im Hals zu spüren. Das Auftauen schmerzte zunächst, aber<br />

das ging vorüber. Sie gab eine Reihe von Seufzern von sich und jetzt erst<br />

begann ihr Gehirn allmählich die Arbeit wieder aufzunehmen und die<br />

Informationen, die auf den Körper einströmten, zu verarbeiten.<br />

Die Kälte... die Kälte war so überwältigend gewesen, dass es für eine<br />

ganze Weile so schien, als könnte sie über nichts anderes nachdenken.<br />

Doch dann begann sie nach und nach die Schmerzen zu spüren und die<br />

Teile ihres Körpers, ihres verkorksten Lebens, zusammenzusetzen.<br />

Shan hatte eine halbe Ewigkeit geschlafen. Und überraschend gut,<br />

wenn man bedachte, dass sie auf purem Eis lag. Ihr Körper war steif und<br />

tat – wie üblich - weh. Jetzt, als sie die Augen aufschlug, fand sie sich in<br />

einer verzauberten Märchenwelt wieder, die so fremdartig war, dass sie<br />

sich im ersten Moment ganz ernsthaft fragte, ob sie wirklich erwacht<br />

war, noch immer träumte, oder sich gar bereits in der Gesellschaft des<br />

Todes befand. Sofern der letzte Punkt zutreffen sollte, war dieser Ort für<br />

die Hölle ungewöhnlich frostig. Ein kalter Luftzug wehte, aber er war<br />

wenigstens nicht bitterkalt.<br />

Es war hell geworden, aber es war ein sonderbares, mildes Licht, das<br />

aus keiner bestimmten Quelle zu kommen schien und es dauerte ein paar<br />

Sekunden, ehe Shan klar wurde, dass es das Eis selbst war, das leuchtete.<br />

Offenbar befand sich die Höhle nicht sehr tief unter dem Boden, sodass<br />

das Licht der Sonnen bis hierher durchdrang. Bizarre Eisgewächse und<br />

Skulpturen hingen von der Decke, oder wuchsen aus dem Boden und<br />

leuchtender Staub rieselte wie in Bernstein von der geschwungenen<br />

Decke. Shan betrachtete den von Schnee und Eis blockierten Eingang,<br />

ohne richtig zu realisieren, was sie da sah und was das bedeutete. Sie<br />

steckte in der Höhle fest. Aber das war nicht wichtig. Nichts war<br />

wichtig. Shan gähnte. Also beschloss sie, einfach weiterzuschlafen. Sie<br />

zog die Decke an sich heran, und drehte sich müde zur anderen Seite.<br />

Eine Mumie starrte sie an.<br />

Shan Schmatzte. Sie schloss die Augen. Schmatzte erneut. Riss die<br />

Augen plötzlich auf, als sie begriff, was sie da gerade gesehen hatte,<br />

kreischte und versuchte hochzukommen. Sie rutschte aus, der<br />

Untergrund war zu glatt. Sie versuchte wieder hochzukommen, rutschte


erneut aus. Die Mumie starrte sie an. Shan schrie, schrie immer<br />

panischer, trat mit den Beinen aus, und legte endlich erfolgreich den<br />

Rückwärtsgang ein - solange, bis sie mit dem Rücken gegen eine Wand<br />

prallte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell. Die Mumie starrte sie<br />

weiter an.<br />

Shan wandte den Blick ab und schluckte Krampfhaft. Sie rutschte mit<br />

dem Rücken an der Wand herunter, spürte Übelkeit und ein<br />

schmerzhaftes Stechen im Magen. Aber es erinnerte sie daran, dass sie<br />

noch lebte. Sie war wach und noch nicht erfroren. Und vielleicht würde<br />

sie das auch nicht. Sie klammerte sich an diesen Gedanken und langsam<br />

wich die Übelkeit aus ihr. Nun sah sie erst, womit sie sich in der Nacht<br />

zugedeckt hatte. Nicht mit einer Decke. Sondern mit einem dicken,<br />

borstigen Umhang. Mit dem Umhang des Toten. Er lag da, auf dem<br />

Boden, grässlich friedlich und still. Halb Skelett, halb Mumie. Das<br />

Gesicht war durch die Temperatur in der Höhle auf groteske Weise<br />

erhalten geblieben, die qualvolle Überraschung in seiner Mine noch<br />

sichtbar, wie zur Warnung, für jeden anderen festgeprägt, der den<br />

Wunsch haben mochte, die Höhle zu betreten, um in ihr Schutz vor den<br />

Elementen zu suchen. Um wen es sich auch immer handeln mochte, er<br />

war bitter erfroren, die Skelettarme um den Oberkörper geschlungen.<br />

Großer Vogel, dachte Shan.<br />

Niemand hatte es verdient so zugrunde zu gehen. Niemand. Trauer<br />

erfasste sie. Und dann bemerkte sie den Riemen. Den Riemen eines<br />

Rucksacks. Die Mumie trug ihn noch immer bei sich. Einen Moment<br />

lang zögerte Shan, wollte dem Toten nicht näherkommen. Wollte ihm<br />

nicht noch seines letzten Hab und Guts entreißen. Andererseits nutzte<br />

ihm der Rucksack nichts mehr, ihr hingegen vermochte er vielleicht das<br />

Leben zu retten. Sie musste nachsehen, ob noch etwas nützliches drin<br />

war! Essen, Wasser, oder etwas anderes, was ihr gegen die Kälte half.<br />

Tu es, sagte sie zu sich selbst. Was soll schon sein? Tu es, zum Teufel<br />

noch mal, was bringt die Vorsicht? Mach es gleich und mach es richtig!<br />

Sie kroch auf allen Vieren hinüber, näher an die Leiche heran.<br />

Irgendwie gelang es ihr den Ekel zu überwinden, die Oberarme der<br />

Mumie zu umschließen und den verwesten Körper aufzusetzen. Die<br />

Mumie war überraschend leicht, fast wie ein Spielzeug. Shan drehte den<br />

Körper und begann am Rucksack zu ziehen. Er löste sich nicht. Sie zerrte


erneut, versuchte die Riemen irgendwie über die Schultern und Arme zu<br />

bekommen, dann war er mit einem kräftigen Ruck, bei dem sich einige<br />

Knochen der Mumie lösten, plötzlich frei. Sie umschlang ihn mit ihren<br />

Armen, als sei er das wertvollste auf der Welt, und kroch wieder ein<br />

Stück von der Mumie weg, um sich den Rucksack genauer zu betrachten.<br />

Der Rucksack war zerfetzt und blutverkrustet. Hauchdünne Fliegen<br />

umschwirrten ihn. Shan öffnete den Verschluss. In dem Moment sprang<br />

ihr ein großes Tier entgegen!<br />

„O Gott!“<br />

Sie warf den Rucksack erschrocken fort. Der Schmetterling flatterte<br />

flink davon. Shan stöhnte auf. Ein Schmetterling, dachte sie. Nur ein<br />

Schmetterling.<br />

„Mistfieh!“<br />

Es lief ihr eiskalt über den Rücken, was sie frösteln ließ. Sie hatte sich<br />

fürchterlich erschreckt. Nun spähte sieh in die Richtung in die der<br />

Schmetterling geflogen war, entdeckte ihn aber nicht mehr wieder. Dann<br />

sah sie wieder in den Rucksack, diesmal vorsichtiger. Sie erblickte jede<br />

menge Schleim auf den alten Nahrungspackungen. Auch eine Flasche<br />

war dabei, mit trübem, braunem Wasser. Außerdem sah sie einen<br />

Haufen, sich windender Maden. In dem Moment meldete sich ihr Magen<br />

mit einem ausfallenden Rumpeln. Sie hatte schrecklichen Hunger. Und<br />

irgendetwas musste sie essen. Wenn sie überleben wollte, musste sie<br />

essen, denn Shan spürte, dass sie kaum noch Kraft hatte.<br />

Sie griff mit der rechten Hand in den Rucksack hinein und füllte sie<br />

mit Maden. Sie brauchte einfach nur hineinzugreifen, das Gewürm war<br />

zahlreich vorhanden. Dann starrte sie auf die schlängelnde und sich<br />

windende Masse auf ihrer Handfläche und überlegte, ob sie das wirklich<br />

tun sollte.<br />

Du musst es ja doch machen, also mach es gleich und mach es richtig.<br />

Shan atmete tief durch, schloss die Augen und stopfte die Maden in<br />

ihren Mund. Sie kaute und schluckte schnell, bevor sie alles wieder<br />

auszuspucken drohte. Es war widerlich und ekelhaft. Alleine von dem<br />

Gedanke, diese trockenen, lebendigen Dinger hinunterzuschlucken,<br />

wurde ihr speiübel. Glücklicherweise musste sie sich trotz allem nicht<br />

übergeben. Sie dachte alleine an den Nährwert und zwang sich, noch<br />

weitere Maden hinunterzuwürgen, bis es einfach nicht mehr ging.


Anschließend zog sie die Flasche aus dem Rucksack und schraubte den<br />

Deckel auf. Sie roch am Inhalt: Alt und breckig. Aber vermutlich<br />

Wasser. Und wenn es sich um Gift handelte, war es ihr auch egal, dann<br />

hatte sie es wenigstens bald hinter sich. Sie schloss erneut die Augen und<br />

trank alles aus, mitsamt den Brocken, von denen sie gar nicht wissen<br />

wollte, worum es sich bei ihnen handelte.<br />

Shan schüttelte sich vor Ekel, bemüht, bloß keinen Gedanken daran zu<br />

verschwenden, was sie da gerade getan hatte, aus Angst, sich dann erst<br />

recht übergeben zu müssen. Also setzte sie schnell die Unersuchung des<br />

Rucksacks fort, um sich abzulenken. Sonst war aber nichts nützliches<br />

drin. Nur noch Staub, mehr Maden und-<br />

Shan runzelte die Stirn. Da drin funkelte etwas. Ein Gegenstand. Im<br />

milden Licht der Höhle konnte Shan nicht richtig erkennen, was es war:<br />

nur irgendein rubingrünes, mit wertvollen Edelsteinen besetztes Ding.<br />

Selbst in dessen jetzigem, verschmutztem Zustand blitzten die Edelsteine<br />

im Licht der Höhle und ließen Shan nicht mehr los. Sie griff fasziniert<br />

hinein, bekam das Ding zu fassen und hob es mit tiefer Ehrfurcht aus<br />

dem Rucksack hinaus. Es raubte ihr den Atem, machte ihr bisheriges<br />

Leiden vergessen, und erzeugte eine Hochstimmung, die sie kaum zu<br />

fassen vermochte.<br />

Der Urgon von Shangri-La!<br />

Das bedeutete, dass es die Stadt wirklich gab! Oder zumindest<br />

gegeben hatte. Alten Legenden zufolge hatten die Shangrilaner wertvolle<br />

Schätze vergraben, bevor ihre Stadt von einem Blizzard erwischt worden<br />

war. Shan hatte von Sturak darüber gehört, er war Wissenschaftler. Er<br />

lehrte an der Sternenflottenakademie. Er wusste alles über diese alten<br />

Geschichten und auch noch eine Menge anderer Dinge. Shan hatte ihm<br />

oft stundenlang gelauscht und war neugierig geworden. Man hatte<br />

angenommen, dass die Stadt vielleicht gar nicht existierte, denn die<br />

einzigen Geschichten, die man über sie hörte, stammten von<br />

zwielichtigen Frachterkommandanten, denen kaum jemand glaubte.<br />

Doch nun hielt Shan den Beweis in der Hand.<br />

Der Urgon<br />

So wunderschön, im Licht der Höhle goldglitzernd – Der Urgon. Der<br />

Urgon der Shangrilaner. Was Shan empfand, war die Erregung einer<br />

überwältigenden Entdeckung. Und sie gehörte nicht dem Toten. Er war


kein Shangrilaner. Es war ein Schatzjäger! Er musste die Stadt gefunden<br />

und den Urgon mitgenommen haben, aber er hatte es nicht<br />

zurückgeschafft. Die Jagd nach dem Urgon war ihm zum Verhängnis<br />

geworden.<br />

Seltsam, dachte Shan. Fünfzehn Zentimeter hoch, Tausende von<br />

Jahren alt, ein Klumpen Gold mit einem Gesicht, das man kaum schön<br />

nennen konnte – seltsam, dass Menschen dafür unfassbare Risiken auf<br />

sich nahmen und ihr Leben riskierten. Sogar dafür töteten. Und trotzdem<br />

hielt sie das Bildwerk in seinem Bann. Jetzt hatte sie den Urgon<br />

gefunden. Das Relikt einer längst vergessenen Zeit, das einzige<br />

Überbleibsel der alten Shangrilaner und der erste Hinweis, dass es sie<br />

wirklich gegeben hatte. Sie hielt den Urgon in ihren Händen, starrte ihn<br />

an. Und sie schien fast zu riechen, oder zu spüren, wie das einst war, als<br />

Shangri-La noch existierte. Es war derart hypnotisierend, dass sie das<br />

Knurren der sich nähernden, fleischgewordenen Gefahr zunächst gar<br />

nicht bemerkte.<br />

Doch dann sah sie es!<br />

Das Wesen stand im Eingang der Höhle und knurrte sie an. Es war<br />

groß, fast drei Meter von der Nasen- bis zur Schwanzspitze. Es war von<br />

dem Krach, den Shan angerichtet hatte, angezogen worden. Und es hatte<br />

zweifellos Hunger! Das gesamte Tier war mit dichtem, zotteligem Pelz<br />

bedeckt. Es bewegte sich auf allen Vieren, mit gewaltigen Krallen. In<br />

den Augen glühte Gier, darüber ragte ein einzelnes, dünnes Horn nach<br />

vorn. Es öffnete den Rachen, und die Kiefer knirschten.<br />

„Scheiße!“<br />

Shans Gedanken schlugen Purzelbäume – und ihr Herz gleich mit. Sie<br />

stand praktisch mit dem Rücken zur Wand, suchte verzweifelt einen<br />

Ausweg.<br />

Das Tier knurrte bedrohlich.<br />

Ein Phaser hätte das Problem in kürzester Zeit erledigt. Auch ein<br />

Messer hätte sich als nützlich erwiesen. Aber gegenwärtig verfügte Shan<br />

nur über ihre aufgerissenen Hände. Und die Entschlossenheit, ihr Leben<br />

nicht im Bauch einer Kreatur auf einem ungastlichen Planeten zu<br />

beenden. Nicht jetzt. Nicht, wo sie den Urgon gefunden hatte. Sie würde<br />

es zurückbringen! Sie musste kämpfen. Sie musste leben. Das Monster<br />

knurrte. Shan knurrte zurück. Zwar bei weitem nicht so lautstark wie die


Monster, aber nicht weniger wild und bedrohlich.<br />

Und in dem Moment beschloss das Monster anzugreifen und sprang<br />

auf sie zu. Lautes Gebrüll erklang. Shan handelte aus einem Reflex, warf<br />

sich verzweifelt nach vorn, auf den Boden. Das Tier sauste über ihr<br />

vorbei, wirkte zornig und verwirrt. Shan spürte die Krallen des Biestes,<br />

die ihr die Schulter aufschlitzte, dann prallte sie dicht unter ihm<br />

bäuchlings aufs Eis, schlitterte durch die Höhle. Und dann sah sie das<br />

Schwert. Dad’s Schwert! Es war mit ihr in die Höhle gerutscht!<br />

Shan streckte im Schlittern den schmerzenden Arm aus und tastete<br />

nach dem Schwert. Sie berührte den Griff kurz, doch im nächsten<br />

Augenblick war sie an der Waffe vorbei.<br />

„Nein!“<br />

Sie prallte gegen eine Eiswand und spürte, wie neuerlicher Schmerz in<br />

der rechten Schulter explodierte. Das waren Schmerzwellen, gegen die<br />

alle vorherigen verblassten. Shan heulte auf. Doch statt vor den<br />

Schmerzen zu kapitulieren, was sie am liebsten getan hätte, machte Shan<br />

genau das Gegenteil. Sie konzentrierte sich darauf und setzte den<br />

grausamen Qualen keinen Widerstand entgegen. Und statt sich davon<br />

schwächen zu lassen, zwang sie sich dazu, daraus Kraft zu gewinnen. Sie<br />

fletschte die Zähne, voller Wut und Angriffslust.<br />

Du musst kämpfen! Mach es gleich und mach es richtig!<br />

Und sie machte es richtig. Shan kam auf die Beine und bereitete sich<br />

auf einen weiteren Angriff vor - der auch unmittelbar erfolgte. Das<br />

Monster war wieder losgestürmt. Es wäre Shans Tod gewesen, hätte sie<br />

sich auch nur einen Moment länger den Schmerzen hingegeben. Das<br />

Wesen funkelte sie wütend aus den roten Augen an und zielte mit dem<br />

Horn auf seine Beute. Shan packte das Horn, kurz bevor es ihr in den<br />

Brustkorb gerammt worden wäre, dann wurde sie über den Boden der<br />

Höhle geschoben, als hätte sie sich an die Kühlerhaube eines Lasters<br />

gehängt. Ihre Schuhe waren wie Skier, rutschten über den Boden.<br />

Jeglicher Versuch gegenzudrücken, war aussichtslos. Die Kreatur brüllte<br />

ihr genau ins Gesicht. Shan blickte über ihre Schulter, entdeckte die<br />

heranrasende Wand. Das Vieh schob sie auf eine dicke Eiswand zu, um<br />

Shan an ihr zu zerschmettern! Und plötzlich, hier draußen, im Schnee,<br />

attackiert von einem grässlichen Monster, kam Shan Wissen zu gute, von<br />

dem sie niemals gedacht hätte, dass es ihr einmal das Leben retten


würde: Ihre Gymnastikstunden!<br />

Sie stieß sich ab, sprang mit gespreizten Beinen in die Höhe, vollführte<br />

eine Drehung, so wie sie es gelernt hatte, landete auf seinem Rücken,<br />

und hielt sich fest. Das Tier versuchte abzubremsen, war aber zu schnell<br />

und knallte mit dem Kopf voran in die Wand, wobei es sein Gesicht an<br />

den scharfkantigen Eisfelsen aufschlitzte. Jetzt war es das Monstrum, das<br />

vor Schmerzen brüllte. Das Wilde Ding bäumte sich auf und heulte<br />

wütend. Blut strömte über seine Schnauze.<br />

Shan hatte sich so klein wie möglich gemacht, und war zwar durch den<br />

Aufprall durchgeschüttelt, aber nicht verletzt worden. Nun hielt sie Arme<br />

und Hände von Rachen des Tieres fern und schloss sie stattdessen um<br />

seinen Hals. Das Ungeheuer sank wieder auf alle Viere und schüttelte<br />

sich heftig, um Shan fortzuschleudern. Ihr Griff lockerte sich, und von<br />

einem Moment zum anderen flog Shan durch die Luft und landete hart<br />

im Schnee. Dicht neben ihr lag das Schwert. Das Monster drehte sich<br />

herum, und stürmte erneut auf sie zu. Brüllte. Und sprang. Shan rollte<br />

zur Seite, umschloss den Griff der Waffe, die sie nie in ihrem Leben<br />

zuvor eingesetzt hatte, und schlug mit aller Kraft zu. Sie schlitzte dem<br />

Wesen den Bauch der Länge nach auf. Die Haut riss und seine Innereien<br />

klatschten auf Shan nieder, worauf es einen lauten, fast menschlich<br />

klingenden Schmerzensschrei ausstieß, der Shan aber keinen Mitleid<br />

entlocken konnte, sondern ihre Rage nur noch förderte, denn jetzt hatte<br />

sie eine Chance!<br />

Das Wesen prallte auf und begriff schockiert, dass der feuchte<br />

Klumpen da auf dem Boden eigentlich in seinen Bauch gehörte. Es<br />

jammerte fürchterlich und nun versuchte es sich wimmernd vor der mit<br />

seinen Eingeweiden besudelten und überaus wütenden Shan zu<br />

entfernen.<br />

Aber es war zu spät. Zu spät um sein Überleben zu sichern und zu<br />

spät, um sich vor dem Gegner zurückzuziehen, der ihm<br />

erstaunlicherweise überlegen zu sein schien. Shan kam von der Seite. Sie<br />

packte das Wesen an der Kehle, lies die Klinge sausen und schlitzte ihm<br />

die Schlagader auf. Das Blut spritzte ihr regelrecht ins Gesicht, aber sie<br />

schien es gar nicht zu bemerken. Sie stieß einen Triumphschrei aus, der<br />

lauter war als alles, was die Kreatur bislang von sich gegeben hatte. Das<br />

riesige Tier machte nur noch einen Schritt, dann stürzte es zu Boden und


ührte sich nicht mehr. Nur noch ein Röcheln seines letzten Atemszugs<br />

war zu hören, bis auch dieses Lebenszeichen erstarb.<br />

Shan stand einfach nur da, starrte mit schäumenden Augen auf das<br />

Blutbad, das sie angerichtet, das Leben, das sie genommen hatte. Ihr<br />

Brustkorb hob und senkte sich schnell. Sie war besudelt mit den<br />

Eingeweiden des Tieres, mit seinem Blut. Und nach dem Schmerzen, die<br />

sie erlitten und den Qualen, die sie ertragen hatte, hatte es ihr gefallen<br />

dem Tier ein Ende zu bereiten.<br />

Ihr rutschte das Schwert aus den vor Kälte steif gewordenen Fingern<br />

und klirrte zu Boden. Dann sackten Shans Beine ein und sie fiel auf die<br />

Knie, als ihr endgültig bewusst wurde, was sie gerade getan hatte. Von<br />

wegen, das Leben sei kompliziert. Es war einfach. Eine simple<br />

Entscheidung. Zu wählen, an wessen Ende des Schwertes man stand.<br />

Und sie realisierte, dass sie den Urgon noch immer fest in ihrer Hand<br />

hielt. Sie hatte das Relikt die ganze Zeit über nicht losgelassen, es mit<br />

ihrem Leben verteidigt. So etwas hatte sie als kleines Kind schon einmal<br />

getan, wie sie sich erinnerte.<br />

Sie starrte auf das Relikt.<br />

Es in den Händen zu halten... zu wissen, was sie alles durchgemacht,<br />

was sie alles überlebt hatte, um es zu akquirieren... war magisch! Sie sah<br />

entschlossen in die Höhle hinein, mit klarem Geist, so klarem Geist, wie<br />

seit Tagen nicht mehr, und sie wusste plötzlich ohne auch nur den<br />

Schatten eines Zweifels, dass sie überleben würde. Dass sie<br />

zurückkehren und nun nach Hause gehen würde. Shan stopfte das Urgon<br />

in den Rucksack, warf ihn sich über die Schulter und hob das Schwert<br />

vom Boden auf. Dann setzte sie sich in Bewegung, tiefer in die Höhle<br />

hinein, ohne noch einmal zurückzublicken. Es war nicht ihr Wunsch<br />

gewesen, Leben zu nehmen. Aber gleichzeitig wusste sie instinktiv, dass<br />

dies nicht das letzte Mal gewesen sei. Und ihr wurde klar, dass sie nie<br />

mehr so sein würde, wie vorher.<br />

Eishölle - Sechster Tag<br />

Es war schwer in dieser unwirklichen Welt aus Eis und erstarrter Kälte


die Zeit zu bestimmen, aber Shan schätzte, dass sie schon mindestens<br />

einen halben Tag durch das Höhlensystem wanderte. Die Intensität des<br />

Lichts schwankte stark. Ein paar Mal bewegte sie sich durch fast<br />

vollkommene Finsternis, aber mehrmals wurde das Eis über ihrem Kopf<br />

auch so dünn, dass sie die Sonne wie einen blassgelben Fleck mit<br />

verwaschenen Rändern darüber erkennen konnte. Zwei oder dreimal<br />

verließ sie das Eislabyrinth auch ganz, ehe sie wieder in einen Tunnel<br />

oder eine Höhle eindrang.<br />

Die märchenhafte Schönheit dieser verborgenen unterirdischen Welt<br />

täuschte auf den ersten blick darüber hinweg, wie schwer das<br />

Vorwärtskommen in ihr manchmal war. Ganze Strecken musste sie<br />

kletternd oder kriechend zurücklegen. Aber es machte Shan nichts mehr<br />

aus. Gar nichts mehr. Sie war durstig und alles tat ihr weh, ihr war sogar<br />

schlecht, aber auch das ignorierte sie. Da war nur noch diese eiserne<br />

Entschlossenheit, die sie voran trieb. Den Willen, nach allem, was sie<br />

durchgemacht hatte, jetzt nicht mehr aufzugeben. Ihr Rucksack mit dem<br />

Urgon baumelte von einer Seite zur anderen. Sie hatte vor einer Weile<br />

ihr Aufnahmegerät hervorgeholt. Der Gedanke lag nahe, einen<br />

Abschiedsbrief zu sprechen, für den Fall, dass sie es nicht schaffen<br />

würde. So etwas wie „Hi, Dad, hi Mom, es tut mir leid.“ Aber das kam<br />

für sie überhaupt nicht in Frage. Es kam einer Kapitulation gleich.<br />

Stattdessen hatte sie Sachen aufgezählt, für die es sich zu leben lohnte.<br />

Die sie sehen wollte. Die sie Essen wollte. Und die Standpauke, die sie<br />

hören wollte. Und dann hatte sie angefangen den Urgon zu beschreiben,<br />

die Höhle, in der sie ihn gefunden hatte, und einige zusätzliche<br />

Gedanken, was er wohl langfristig für die Forschung bedeutete, und wie<br />

man ihn und seinen Fundort als Ausgangsbasis für zukünftige<br />

Expeditionen auf der Suche nach Shangri-La nutzen konnte.<br />

Sie marschierte eine weitere gute Stunde, dann war sie draußen. Die<br />

Kälte der Nacht klatschte ihr so unvermittelt entgegen, dass sie einen<br />

Moment lang schwankte. In der Höhle war es kühl, aber wenigstens<br />

nicht so eisig gewesen, ganz im Gegensatz zu draußen. Sofort begann<br />

Shans Körper wieder zu schmerzen und Taub zu werden. Hier draußen<br />

erwartete sie wieder Schneegestöber.<br />

Inzwischen war es Nacht und alles dunkel. Sie entfernte sich noch<br />

einige Schritte von der Höhle und erkletterte zunächst einen kleinen


Hügel. Dann war sie ganz im Freien und sah sich einer steilen, aber<br />

glücklicherweise keiner besonders hohen Wand entgegen. Wieder mal<br />

befand sie sich am Grund einer Gletscherspalte. Der eigentliche Aufstieg<br />

war aber nicht so schwierig, sobald Shan den Dreh raushatte, wie sie mit<br />

ihren Schuhen an der Wand ansetzen, wie hart sie mit dem Schwert<br />

einschlagen musste, damit sich die Klinge ins Eis bohrte. Die Schuhe<br />

waren noch das hinderlichste. Sie waren zum klettern einfach nicht<br />

geeignet, die Sohlen viel zu glatt. Aber sie hatte auch nicht an die<br />

Möglichkeit gedacht, in irgendwelchen Bergen zu kraxeln. Sie schwor<br />

sich dennoch, das Haus nie wieder ohne festes Schuhwerk, Stiefel, zu<br />

verlassen!<br />

Es ging aber trotzdem wesentlich leichter und schneller voran, als an<br />

der Gletscherwand bei der Pax. Diese hier war wenigstens griffig.<br />

Außerdem hatte sie inzwischen Übung. Nach nur sieben oder acht<br />

Minuten war sie oben und kletterte über den Rand. Dort sah es so aus<br />

wie unten. Dasselbe Mondlicht, der dunkle Himmel, der mit dem Boden<br />

verschmolz. Die gleiche, eintönige Welt. Sie begann den langen,<br />

mühsamen Weg einen sanft ansteigenden Hang hinauf. Hin und wieder<br />

rutschte sie ab, fand aber Halt, in dem sie Hände oder Schuhe tief in den<br />

weichen Neuschnee grub. Auf der Hügelspitze angekommen, blieb sie<br />

einen Moment liegen und riss die Augen auf.<br />

Sie sah sie durch das Schneegestöber: Unter ihr, über die Ebene<br />

verteilt, wie eine deplazierte Weltraumkolonie, lag eine kleine Stadt,<br />

umgeben von Wachtürmen und Schneemobilen, erleuchtet nur durch<br />

zahlreiche, in den Himmel gerichtete Scheinwerfer, während auf den<br />

schmucklosen Landefeldern am Rande alte, heruntergekommene<br />

Frachter darauf warteten beladen zu werden.<br />

Shan atmete jetzt noch schwerer, eher vor Erregung, als vor<br />

Erschöpfung. Sie wandte den Kopf und ihr Mund klappte herab. Weit<br />

hinter ihr ragte der gewaltige Berg mit der Krone auf und ihr wurde erst<br />

jetzt klar, dass sie ihn gar nicht mehr überklettern musste. Sie war unter<br />

ihm hindurch. Sie hatte es geschafft! Sie hatte es geschafft!<br />

Sie begann zu lachen. Sie lag einfach nur da und lachte eine Weile.<br />

Schließlich kam sie auf die Beine und machte sich, den Hang hinunter,<br />

auf den Weg zur Polarstadt. Sie bewegte sich nun schnell durch das Eis.<br />

Verrückt! Es schien jetzt so einfach zu sein! Ihre Augen blieben auf die


Stadt gerichtet. Je näher sie kam, desto größere Ausmaße nahm die Stadt<br />

an. Sie hatte es fast geschafft! Nur noch ein paar Hundert Meter waren<br />

zurückzulegen, dann war sie im Warmen. Wo sie warme Milch und ihre<br />

Standpauke erwarteten. Sie wollte erneut lachen, doch das Lachen wurde<br />

zu einem erschrockenen Aufschrei, als sie strauchelte. Unter ihrem<br />

Schuh gab der Untergrund nach. Für einen kurzen Moment schien die<br />

Welt um sie herum zu wanken.<br />

Dann brach das Eis ein. Sie fiel und landete rücklings auf einer kalten,<br />

harten und glatten Oberfläche. Einen Augenblick lag sie einfach da, rang<br />

keuchend nach Atem und versuchte festzustellen, ob sie sich etwas<br />

gebrochen hatte. Schmerzen schossen ihr durch den Arm und die<br />

Schnittwunden an der Schulter pochte. Alles tat ihr weh. Einfach alles.<br />

Aber schon bald öffnete sie mit gequälter Mine die Augen. Shan blickte<br />

nach oben. Sie sah nur die Lücke im Eis und darüber den grauen Streifen<br />

Himmel.<br />

Sie war gefallen. Nicht tief, aber es ging nicht mehr nach oben. Kein<br />

Ausweg. Nichts zu klettern. Sie versuchte sich wieder in eine sitzende<br />

Position zu stemmen, aber es ging nicht. Ihre Muskeln waren plötzlich<br />

zu schwach, ihre Arme harte Eisblöcke. Sie konnte sich nicht mehr<br />

bewegen. Aber es war ohnehin zu spät, dachte sie. Die Anstrengungen,<br />

die Verletzungen zollten ihren Tribut. Sie war weit gekommen, so weit,<br />

hatte unglaubliche Kräfte mobilisiert, und Dinge vollbracht, von denen<br />

sie niemals angenommen hätte, sie vollbringen zu können, aber nun<br />

verlor sie die Kontrolle über ihren Körper. Sie hatte einfach keine Kraft<br />

mehr, keinen Willen gegen die Erschöpfung anzukämpfen. Sie war<br />

verloren in ihrer ganz eigenen Welt aus Erschöpfung und Schmerz. Sie<br />

konnte nicht einmal mehr ihre Knie anziehen und umschlingen, so heftig<br />

zitterte sie. Ihre Zähne klapperten. Und sie wurde schläfrig.<br />

Eishölle - Sechster Tag<br />

Shan wusste nicht, wie lange sie nun schon so dalag. Minuten?<br />

Stunden? Sie versuchte verzweifelt bei Bewusstsein zu bleiben, aber der<br />

Drang zu schlafen wurde übermächtig, auch wenn sie wusste, dass sie


diesmal nicht mehr aufwachen würde. Mit größter Mühe hielt sie die<br />

Augen geöffnet, starrte auf den Himmel weit hinter dem Loch über ihr.<br />

Wie aus weiter Ferne nahm sie ihre Umgebung war und zu ihrer<br />

Verblüffung sah sie auf einmal Szenen aus ihrem Leben. Ihre ganze<br />

Kindheit. Sie sah den Kindergarten, die Grundschule auf Vulkan, Sortak,<br />

ihren besten Freund, sah die Gymnastikstundenden, sah T’Plona, wie die<br />

ihr heimlich den Umgang mit dem Phaser beigebracht hatte, sah die Pax,<br />

mit der sie von Zuhause Reiß Aus nahm... ihr ganzes Leben lief vor ihr<br />

ab. Genau wie es angeblich passierte, kurz bevor man starb.<br />

Sie sah Firgoria. Den Urgon. Und Lichter. Überall waren Lichter.<br />

Blaue, grüne, suchende Lichter. Dann erst ihren Dad, der viel<br />

substantieller war. Sie versuchte verstehen zu können, was er sagte. Er<br />

wedelte hektisch mit den Armen, winkte jemanden herbei. Kurz darauf<br />

erschien ihre Mutter, dort oben, wie sie von weiteren viel<br />

substantielleren Entitäten begleitet wurde. Sie alle sahen auf sie herab,<br />

schienen nach ihr zu rufen. Sie riefen sie ins Totenreich. Shan antwortete<br />

nicht. Dazu war sie gar nicht mehr in der Lage. Blaues Licht umhüllte sie<br />

und Shan spürte, wie sie emporgehoben wurde, empor zu den Engeln, ins<br />

Reich des Himmels. Es war vorbei.<br />

Shan verdrehte die Augen und brach endgültig zusammen.<br />

Sie hörte die Stimmen nicht nur, sondern fühlte sie sogar. „Sie kommt<br />

wieder zu sich.“<br />

Licht schillerte vor ihren Augen und einige Sekunden später bemerkte<br />

Shan, dass es durch die geschlossenen Augenlieder strahlte, durch Haut<br />

und dunkle Träume von Eis und Schnee. Sie öffnete die Augen und<br />

bereute es sofort, als das Gleißen schmerzhafte Intensität gewann und bis<br />

zum Hinterkopf pochte. Sie wollte – wen auch immer – dazu auffordern,<br />

das Licht auszumachen, brachte aber nur ein schwaches Stöhnen hervor.<br />

Der Schmerz ließ ein wenig nach, als sie blinzelte, um die Schleier vor<br />

ihren Augen zu vertreiben.<br />

Dann erschien ein weiß verschwommener Fleck über ihr und wurde<br />

langsam zum hübschen Gesicht ihrer Mutter. Shan konnte die aufrichtige<br />

Erleichterung, von der ihre Mutter überwältigt wurde, deutlich erkennen.


Sie unterdrückte mit Mühe einen freudigen Schluchzer und berührte<br />

Shan sanft an der Wange. „Oh, Liebling.“<br />

Eine weitere Gestalt tauchte über ihr auf. Shans Blick war noch immer<br />

trübe, wie durch einen weichen, samtigen Schleier, aber sie erkannte<br />

ihren Vater sofort. Er lächelte. „Wie fühlst du dich?“<br />

Schrecklich, dachte Shan. Aber sie... fühlte. Das war immerhin ein<br />

Fortschritt. Sie versuchte etwas zu sagen, war aber nicht in der Lage,<br />

einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen. Stattdessen seufzte<br />

sie. Sie war sehr schwach und hatte keine Ahnung, wie viel Zeit<br />

vergangen war.<br />

„Wir haben dich unmittelbar vor dem Raumhafen gefunden.“, erklärte<br />

ihr Vater. „Du hast lange Geschlafen.“<br />

Shan holte mühsam Luft und versuchte sich auf die Ellenbogen zu<br />

stemmen, aber es gelang ihr nicht. Dann sagte sie mühsam: „Tut ... leid.“<br />

Ihre Mutter lächelte erneut und streichelte ihr sanft durchs Haar. Shan<br />

fühlte sich durch die Berührung gleich ein bisschen besser. Das konnten<br />

wirklich nur Mütter. „Schon okay, Liebling. Wir reden darüber, wenn du<br />

dich besser fühlst.“<br />

„Urgon ... Artefakt.“<br />

Ihre Mutter schüttelte den Kopf und legte einen Zeigefinger an ihre<br />

Lippen. „Es ist alles in Ordnung, Shan.“, sagte sie. „Streng dich nicht<br />

an.“<br />

„Du bist über fünfzig Kilometer durch den Schnee gestapft.“, erklärte<br />

Matt. Sein Blick verriet, wie verblüfft er über ihre Leistung war. Aber<br />

auch wie stolz. „Das ist meine Tochter.“, nickte er mit einem Lächeln.<br />

„Lässt sich einfach nicht unterkriegen, Schnee und Eis zum Trotz. Aber<br />

nun ruh dich aus. Werd erst mal wieder fit.“<br />

Shan seufzte. Sie versucht noch etwas zu sagen. Ihre Lippen bewegten<br />

sich, aber kein Ton kam hervor. Dann versank die Welt wieder in<br />

bedeutungsloser Schwärze und sie schlief ein.<br />

Zuhause


Als Shan sie außerhalb ihres Zimmers reden hörte, setzte sie sich<br />

langsam in ihrem Bett auf. Es war das erste mal seit Tagen, wo sie weder<br />

Benommenheit, noch Schwindel verspürte. Endlich hatte sie nicht mehr<br />

das Gefühl, dass ihr jeden Augenblick der Schädel abfallen könnte. Eine<br />

warme Nachmittagssonne strömte durch ihr Fenster herein. Wärme. Nie<br />

hätte sie gedacht, je wieder dieses Gefühl erleben zu können. Draußen<br />

glitten diverse Shuttles lautlos durch die Häuserschluchten New New<br />

Yorks. Sie war vor einer Woche offiziell aus dem Krankenhaus entlassen<br />

und nach Hause gebracht worden. Seither kümmerte sich Doktor<br />

Gregory Roach, persönlicher Arzt und Freund ihres Vaters, um sie.<br />

Er kam jeden Tag vorbei, manchmal sogar mitten in der Nacht. Dann<br />

tastete er sie mit allen möglichen antiquittierten Geräten ab, steckte ihr<br />

ein sogenanntes Fiberthermometer in den Mund und untersuchte sie auf<br />

Herz und Nieren, bis er schließlich zufrieden äußerte, dass sie auf dem<br />

Weg der Besserung sei. Er war sehr um ihre Gesundheit besorgt, womit<br />

er ihr allmählich auf die Nerven ging.<br />

Aber sie sah ein, dass die Beobachtung unter der sie stand, notwendig<br />

war. Man hatte sie mit schwerer Unterkühlung und Erfrierungen ins<br />

Krankenhaus eingeliefert. Wie durch ein Wunder hatte das kleine<br />

Abenteuer sie keine Finger oder Zehen gekostet. Am dritten Tag war sie<br />

das erste Mal aufgewacht. Am fünften hatte sie schon versucht aus dem<br />

Bett zu schlüpfen, doch dann hatte sich der Boden plötzlich um 180 Grad<br />

gekippt und sie war unsanft aufgeschlagen.<br />

Als sie ihre Beine nun über die Bettkante schob und sich aufrichtete,<br />

blieb der Boden dankenswerterweise dort, wo er hingehörte: in der<br />

Waagerechten. Ihr Stand war zwar noch etwas wackelig, aber immerhin.<br />

Sie hielt sich aufrecht und sie kippte nicht um. Shan tappte einigermaßen<br />

ungeschickt zum Wandschrank hinüber und holte frische Sachen heraus,<br />

um sich anzuziehen.<br />

Sie nahm sich Zeit, untersuchte ihren Körper genau. Sie hatte einen<br />

großen Bluterguss auf der linken Schulter, ebenso am Oberschenkel und<br />

an der Seite. Dazu noch hässliche lila Striemen da, wo das Monster seine<br />

Krallen in ihren Körper geschlagen hatte. Dort und an der Stirn war sie<br />

dermalregeneriert worden. Ihr ganzer Körper war auch jetzt, fast<br />

anderthalb Wochen nach ihrer Rettung, noch steif. Sie auch jetzt noch<br />

einen fürchterlichen Muskelkater, und ihr tat alles ein wenig weh, selbst


das Atmen. Es kostete Mühe Socken und Hose anzuziehen. Aber im<br />

Großen und Ganzen ging es ihr gut. Nein, noch besser eigentlich – sie<br />

fühlte sich fast wie neugeboren.<br />

Da draußen im Eis war sie sicher gewesen, dass sie sterben würde.<br />

Woher sie die Kraft genommen hatte, die ganze Strecke bis zum<br />

Raumhafen zurückzulegen und sich auch noch gegen das Monster zur<br />

Wehr zu setzen, wusste sie nicht. Im Nachhinein war es ihr einfach<br />

unbegreiflich. Nur eines wusste sie: aus dieser Erfahrung hatte sie Werte<br />

mitgenommen, und sie war auf eine Art und Weise verändert worden,<br />

die sie selbst noch gar nicht begriff.<br />

Denn alles erschien ihr plötzlich so anders, so fremd. Ihr Zimmer, die<br />

Bücher auf ihrem Nachtschrank... Als würde sie das alles mit anderen<br />

Augen sehen, als wären das alles Dinge, die einer anderen Person<br />

gehörten. Nicht ihr. Das einzige, was ihr vertraut schien, das einzige, von<br />

dem ein gewisser Reiz ausging, waren das Schwert und der Rucksack.<br />

Beide Gegenstände lagen auf dem Schreibtisch, vor einer Reihe kleiner<br />

Stofftiere, die einen merkwürdigen, surrealen Kontrast zu ihnen bildeten.<br />

Shan hatte darauf bestanden, den Rucksack zu behalten, obwohl er<br />

eigentlich ein Fall für die Müllverwertung war. Aber er gehörte ihr. Ganz<br />

allein ihr und sie wollte ich nicht mehr hergeben. Nun strich sie sanft mit<br />

den Fingerkuppen über das alte Material, ertastete die Wahrheit dieser<br />

neuen Realität. Es fühlte sich rau an. Harsch. Dann griff sie langsam zum<br />

Schwert, und drehte die Klinge so, dass sie ihr eigenes Spiegelbild sehen<br />

konnte. Sie wusste nicht genau, wer sie dort ansah, aber es war nicht das<br />

unvorbereitete, naive Mädchen, dass nach Frigoria geflogen war. Die<br />

war irgendwo in der Eishölle verloren gegangen, und jemand anderes<br />

war an ihre Stelle getreten. Der Blick in den Spiegel rief Erinnerungen<br />

an das ewige Eis wach, an die Kälte des Schnees, die Einsamkeit, das<br />

Geheul des Windes, das bedrohliche Knurren des Monsters, und den<br />

Gestank von Blut. Und eine merkwürdige, ihr unbegreifliche Sehnsucht<br />

kam in ihr auf.<br />

Shan wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Sie seufzte, legte die<br />

Klinge wieder auf den Schreibtisch ab und wandte sich zum<br />

Schuhschrank um, um sich vollständig anzukleiden. Sie besaß ein paar<br />

Ausgehschuhe, Turnschuhe... und da waren sogar Wanderstiefel. In der<br />

Vergangenheit hatte sie die Stiefel kaum anprobiert. Sie waren viel zu


schwer für den Alltag, viel zu protzig, und Shan hatte nie das Bedürfnis<br />

verspürt, sie zu benutzen. Aber jetzt? Nie mehr das Haus ohne festes<br />

Schuhwerk verlassen, dache sie. Stiefel also. Shan streifte sie über, und<br />

trat in den Korridor des eher kleinen und funktionellen Apartments<br />

hinaus, dass sie bewohnten.<br />

Als sie die Treppe hinunterging und sich dem Wohnzimmer näherte,<br />

hörte sie die Stimmen ihrer Eltern hinter der angrenzenden Küchentür.<br />

Sie schienen heftig zu diskutieren, was ungewöhnlich war, da sie<br />

normalerweise weder laut wurden, noch großartig unterschiedlicher<br />

Meinung waren. Shan verlangsamte im Schritt und blieb im Flur stehen,<br />

um zu lauschen. Sie hörte ihren Vater und Wörter wie „erstes Jahr“ und<br />

„riskant“ und... „Akademie.“<br />

Als sie das Wort Akademie hörte, fühlte sie Shan, als würde die Welt<br />

um sie herum taumeln. Jetzt war völlig klar, was passierte. Die wollten<br />

sie auf die Akademie schicken! Auf die Sternenflottenakademie. Es war<br />

nicht das erste Mal, dass sie sich darüber unterhalten hatten, aber jedes<br />

Mal war das Gespräch ähnlich verlaufen: Ihr Vater hatte die Akademie<br />

ins Spiel gebracht, Shan hatte heftigst abgewehrt und schon bald waren<br />

sie im Streit auseinandergegangen.<br />

Er hatte ihren Standpunkt nie verstehen wollen – vielleicht, weil sie es<br />

nie für nötig gehalten hatte, sich völlig zu erklären -, und war daher<br />

immer mal wieder mit dem Vorschlag gekommen, ganz vorsichtig und<br />

Shan hatte ihn dafür jedes mal umso bestrebter Abgeschmettert. Nun,<br />

nach ihrem Reiß-Aus in die Eishölle, würde es nicht so einfach werden.<br />

Denn diesmal hatte sie wirklich Mist gebaut und befand sich somit<br />

automatisch in der schwächeren Verhandlungsposition!<br />

„Sie ist so unkontrollierbar wie der Wind.“, hörte sie ihren Vater<br />

sagen. „Jemand muss ihr Einhalt gebieten, ehe sie sich etwas antut. Es ist<br />

nur zu ihrem besten“<br />

„Aber sie will es nicht, Matt. Das hat sie mehr als deutlich gemacht.<br />

Wir können sie nicht zwingen.“<br />

„So? Warum nicht? Dich hat man doch auch gezwungen, Kelly. Deine<br />

Eltern haben dich gegen deinen Willen dorthin geschickt. Und hat es dir<br />

geschadet?“<br />

Eine Pause. Dann ein schweres Seufzten. „Nein. Nein, es hat mir nicht<br />

geschadet. Aber Shan ist anders. Sie will... sie hat ihre Gründe.”


„Welche, Kelly? Grozit, warum bin ich wieder der einzige, der nichts<br />

weiß? Aufgrund meines Postens als Direktor von...- als Direktor meiner<br />

Organisation, müsste es eigentlich umgekehrt sein...“<br />

„Es ist nicht so einfach, Matt. Sie ... sie ist in einer Schwierigen Phase.<br />

Einer Phase, in der sie verzweifelt versucht ihren Platz im Universum zu<br />

finden. Und der liegt vielleicht nicht unbedingt in unseren Wurzeln,<br />

verstehst du?“<br />

Den Rest des Gesprächs bekam Shan gar nicht mehr richtig mit. Das<br />

hier war ernst. Akademie, dachte sie. Das Wort echote in ihrem Kopf. Sie<br />

wollte dort nicht hin. Sie wollte das Universum sehen. Vier Jahre in eine<br />

Schule gesperrt zu werden... in diese Schule... es war undenkbar! Sie<br />

betätigte den Türöffner und erschreckte ihre Eltern, die sich in der Küche<br />

gegenüberstanden, mit in die Hüfte gestemmten, oder vor der Brust<br />

verschränkten Armen.<br />

„Liebling.“, bemerkte Kelly ihr Eindringen und bemühte sich um ein<br />

Lächeln. „Du bist wieder auf den Beinen.“<br />

Shan ging gar nicht erst darauf ein. „Was geht hier vor?“, fragte sie im<br />

skeptischen Tonfall. „Was habt ihr zu betuscheln?“<br />

Ihre Eltern blickten sich einen Moment lang gegenseitig an, bis sie<br />

scheinbar stumm zu einer Übereinkunft gekommen waren. Dann wandte<br />

sich Matt ihr zu. „Wir... müssen reden, Shan.“<br />

„Nein, niemals!“<br />

Shan saß ihren Eltern im Wohnzimmer gegenüber. Ihre Gesichter<br />

zeugten von vorsichtiger Zurückhaltung, aber Shan hatte das Gefühl, sie<br />

wäre bereits mehr oder weniger überstimmt worden, ehe der Kampf<br />

überhaupt begonnen hatte. Aber sie wusste, dass sie auf ihre Meinung<br />

stur weiter beharren musste. Ihre Mutter hielt sich erstaunlich im<br />

Hintergrund. Diesen Kampf fochte sie hauptsächlich mit ihrem Vater<br />

auf, und diesmal nützte ihr selbst ein lieblicher Augenaufschlag nichts<br />

mehr. „Auf gar keinen Fall!“, bekräftigte sie. „Ich gehe nicht auf die<br />

Akademie! Nicht in einer Millionen Jahre!“<br />

„Shan, hör dir doch erst einmal an, was wir zu-“<br />

„Dad! Nein! Lass es einfach, okay?“


„Aber warum willst du denn nicht begreifen, hm? Seit entstehen der<br />

Sternenflotte war so gut wie jeder Bartez auf der Akademie. Deine<br />

Urgroßmutter Sidney auf der Challenger beispielsweise, und nach ihr<br />

haben sich unzählige Mitglieder dieser Familie-“<br />

„Mom...“, sagte Shan in gequältem Ton.<br />

Bevor sie etwas sagen konnte, ging Matt dazwischen. „Deine Mutter<br />

wird dir jetzt ausnahmsweise mal nicht helfen.“ Und er setzte hinzu:<br />

„Hör doch, der Zeitpunkt ist ideal. Du könntest direkt im<br />

Frischlingsommer anfangen. Das ist in nur ein paar Wochen. Ich<br />

schreibe dich ein und du bist sofort dabei.“<br />

„Muss man da nicht erst einen Test machen?“<br />

Matt tat die Sache mit einer ablehenden Geste ab. „Betrachte das als<br />

erledigt.“<br />

„Dad!“, protestierte sie. „Du... nein! Einfach... Nein! Ich... ich will das<br />

nicht. Ich will nicht bevormundet werden und ich will nicht-“<br />

„Der Test dient dazu herauszufinden, ob jemand eigenständig denken<br />

kann, nichts weiter.“, erklärte Matt schnell. „Ob jemand die nötigen<br />

Fähigkeiten besitzt, den stressigen Akademiealltag überhaupt zu<br />

bewältigen. Und... ich bitte dich! Du hast eine Woche in der Eishölle von<br />

Frigoria überlebt. Ich würde sagen, du hast unter Beweis gestellt,<br />

einigermaßen belastbar zu sein. Test bestanden. Betrachte die Sache<br />

einfach als erledigt.“ Er zauberte einen Datenblock aus der Innentasche<br />

seiner Jacke hervor - Eine Broschüre über die Akademie. „Hier, Shan,<br />

sieh dir das an. Das ist der Hauptcampus hier auf der Erde. In San<br />

Francisco. Ich könnte ein paar Hebel in Bewegung setzen, und zusehen,<br />

dass du genau dorthin kommen könntest. Du müsstes nicht zu einer der<br />

übrigen Akademieeinrichtungen auf einem anderen Planeten, sondern<br />

wärst hier. Also direkt bei deinen Freunden. Bei uns.“<br />

Wieder das gequälte Gesicht. „Mom...“<br />

Und erneut ging Matt streng dazwischen. „Du brauchst deine Mutter<br />

gar nicht so anzugucken, in der Hoffnung, einen Keil zwischen uns zu<br />

treiben. Wir haben die Entscheidung gemeinsam getroffen und jetzt<br />

unterhalten wir beide uns.“<br />

Sie rollte die Augen. „Ich weiß, Dad.“<br />

Er deutete erneut auf das Padd. „Es ist großartig, Shan. Natürlich, der<br />

Unterricht ist herausfordernd und nicht einfach. Du wirst viel büffeln


müssen. Aber du bist clever und hast Talent. Du bist schließlich meine<br />

Tochter.“ Er lächelte. „Du schaffst das.“<br />

Shan war völlig verzweifelt. Sie wusste nicht recht, wie ihre weitere<br />

Strategie aussehen sollte, wie sie sich vor diesem Schicksal bewahren<br />

konnte – an diesem Punkt waren sie noch nie gewesen. Sie stützte die<br />

Ellenbogen auf der Tischplatte ab und vergrub ihr Gesicht in den<br />

Händen. Matt ließ sich davon nicht beirren. Er beugte sich vor und hielt<br />

ihr das Padd regelrecht unter die Nase. „Siehst du das hier? Das große<br />

Gebäude? Der Bartez-Flügel, da befindet sich das Haupt-Auditorium.“<br />

Shan stöhnte auf. „Oh, phantastisch, Dad! Die anderen Schüler werden<br />

mich bestimmt lieben, wenn ein ganzer Flügel nach mir benannt ist...“<br />

„Nicht nach dir.“, verbesserte er fröhlich lächelnd. „Nach mir.“<br />

Sie schnappte: „Verdammt noch mal! Dann leb doch darin!“<br />

„Das habe ich. Da... hieß er aber noch nicht Bartez-Flügel.“, musste er<br />

einräumen. „Sondern... Na ist ja auch egal. Hör zu. Die Zeit an der<br />

Akademie war fantastisch. Es waren gute Jahre. Großartige Jarhe. Ich<br />

habe deine Mom dort kennengelernt. Ich wäre nicht, der, der ich heute<br />

bin, wenn ich mich damals nicht eingeschrieben hätte.“<br />

Shan musste sich beherrschen nicht zu schreien – viel fehlte aber nicht<br />

mehr. „Vielleicht will ich nicht wie du sein!“<br />

Matt lachte nur. „Eine kleine Spritztour mit der Pax, alles geht schief,<br />

Monster, Schwertkämpfe... Du bist doch längst wie ich.“<br />

Sie bedachte ihn mit einen vernichtenden Blick. „Kannst du nicht<br />

einfach akzeptieren wer ich bin?“<br />

„Ich akzeptiere ja, wer du bist.“<br />

„Fein. Dann hör auf Entscheidungen für mich zu treffen!“<br />

„Ich bin dein Vater.“, stellte Matt grimmig fest. „Entscheidungen für<br />

dich zu treffen ist mein Job!“<br />

„Und was ich will zählt nicht?“<br />

„Du bist erst sechzehn, Shan. Du weißt gar nicht, was du willst. Und<br />

du wirst es nicht wissen, bis du fünfundvierzig bist. Und wenn du es<br />

schließlich bekommst, bist du zu alt es zu nutzen.“<br />

Sie sprang so energisch auf, dass ihr Stuhl umkippte. „Ich sage es ein<br />

letztes Mal! Ich will nicht auf die Akademie! Ich will nicht in deine<br />

Fußstapfen! Ich will, dass du mir verdammt noch mal vertraust, meine<br />

eigenen Entscheidungen zu treffen....“


Matts Blick verdüsterte sich und zum ersten Mal schwang Zorn in<br />

seiner Stimme mit, als er sie unterbrach. „Deine ach so genialen<br />

Entscheidungen haben dich in die Eishölle von Frigoria gebracht, wo du<br />

um ein Haar ums Leben gekommen wärst, schon vergessen?“<br />

Shan ließ sich nicht einschüchtern, sie kam gerade erst in Fahrt. „...und<br />

ich will, dass du nicht länger versucht mein Leben zu kontrollieren und<br />

zu planen! Schon mal daran gedacht, dass es einen Grund hat, dass ich<br />

langsam versuche abzuhauen?“<br />

Ihre Augen bohrten sich in seine und für einen Moment schienen sie<br />

ein stummes Duell zu führen. Dann drehte sich Shan auf dem Absatz<br />

herum und stürmte mit geballten Fäusten zur Treppe.<br />

Matt sprang ebenfalls auf. „Shan... Sha’Nyn Bartez! Bleib hier! Wir<br />

sind noch nicht fertig!“<br />

Selbstverständlich machte sie keine Anstalten, auf ihn zu hören,<br />

sondern trampelte stattdessen äußerst Geräuschvoll die Treppe hoch.<br />

„Okay! Fein! Wir fahren später fort.“<br />

Er hörte noch ein „Kann’s kaum erwarten!“ von oben. Dann knallte<br />

ihre Zimmertür.<br />

„Du kannst noch so wütend sein!“, rief er ihr hinterher, als er auf den<br />

Flur hinaustrat und die Treppe hochblickte. „Ich werde nicht zulassen,<br />

dass meine Tochter ihr Leben und ihre Talente in irgendeinem<br />

zweitklassigen Beruf verschwendet, nur weil sie nicht die richtige<br />

Ausbildung genossen hat!“<br />

Kelly stand seufzend auf. Diese Art der Interaktion zwischen Shan und<br />

Matt wurde immer mehr zur Gewohnheit. Wahrscheinlich war das bei<br />

Kindern in dem alter normal, aber sie wusste, dass es noch andere<br />

Gründe gab und hielt es für besser, sich einzuschalten. Matt war müde,<br />

er hatte die letzten Nächte an Shans Bett gewacht ohne zu schlafen, und<br />

wenn er müde war, wurde er strenger als üblich. Sie legte ihren Arm um<br />

seine Schulter.<br />

„Matt-“<br />

Er hörte sie nicht, sah immer noch zur Treppe hoch. Jetzt drang<br />

gedämpfte Musik aus der Anlage in ihrem Zimmer. Irgendein Krach.<br />

Er rief: „Wir sind noch nicht fertig, junge Dame!“<br />

„Matt.“<br />

„Was?“


„Es ist schon spät. Möchtest du eine Tasse Kaffee?“<br />

„Kelly, ich lasse wirklich viel von ihr durchgehen. Sehr viel sogar.<br />

Aber sie hat hier eine Grenze überschritten. Uns sie kann so nicht mit<br />

uns umspringen.“<br />

„Was hast du erwartet?“, fragte Kelly und nahm seinen Arm in die<br />

Hände, um ihn sanft Richtung Küche zu bugsieren. „Sie ist deine<br />

Tochter, Matt. Sie hat deinen Sturkopf.“<br />

Seine Gestalt schien einzusacken. „Und deinen.“<br />

„Wir haben sie Sha’Nyn getauft, Matt! Das Tkon-Wort für Geduld.<br />

Als Warnung, weil dieser Name sie daran erinnern soll, nicht zu<br />

stürmisch zu sein. Wir wussten, worauf wir uns einlassen. Wie<br />

unbeugsam sie werden könnte.“ Kelly schmunzelte. „Es gibt bei ihr nicht<br />

viele Möglichkeiten. Entweder rettet sie irgendwann die Welt... oder<br />

unterwirft sie.“<br />

Was Kelly als Scherz meinte, war für Matt totaler Ernst. „Ich versuche<br />

sie zu ersterem zu bringen. Aber du hast mich ja nicht sonderlich dabei<br />

unterstützt, muss ich sagen.“<br />

„Weil ich sie verstehe.“<br />

„Verstehen? Wobei? Was meinst du?“ Er konnte ihr nicht folgen.<br />

„Matt. Hast du je daran gedacht, wie es für sie sein muss? Als Tochter<br />

einer lebenden Legende?“<br />

Er zögerte. „Nun...“<br />

„Wie tritt man aus dem Schatten eines so großen Mannes, hm? Ganz<br />

sicher nicht, indem man ihm folgt.“<br />

Matt runzelte die Stirn. Er sah wieder Richtung Treppe und fragte sich,<br />

was das nun wieder zu bedeuten hatte.<br />

Shan saß im Schneidersitz auf dem Bett und hielt ein übergroßes<br />

Stofftier - Toby den Targ - mit beiden Armen umschlungen und feste an<br />

sich gedrückt, während noch immer die Musik dröhnte. Sie wollte<br />

schmollen, aber eigentlich war ihr gar nicht danach. Sie empfand nicht<br />

einmal eine besondere Wut, weder auf ihren Dad, noch auf sich selbst.<br />

Nur... grenzenlose Verwirrung.<br />

Sie betrachtete Toby und stellte fest, dass er ihr nichts mehr gab. Noch


vor ein paar Wochen war Toby ihr allerheiligstes. Sie schlief nie ohne<br />

ihn ein. Und nun? Ihr ganzes Zimmer gab ihr nichts mehr. Gut, sie hatte<br />

sich nie besonders oft hier aufgehalten. Sie liebte ihre Autonomie und<br />

empfand sich mit ihren sechzehn auch schon als ganz schön erwachsen.<br />

Dennoch war das Zimmer immer eine sichere Zuflucht gewesen, ein<br />

Hort ihrer Kindheit. Doch jetzt fühlte sich das Zimmer irgendwie...<br />

fremd an. Toby fühlte sich fremd an. Einfach alles fühlte sich fremd an.<br />

Einzig das Schwert auf dem Schreibtisch und der Rucksack übten einen<br />

schwer erklärbaren Reiz auf sie aus - Nicht aufgrund dessen, was sie<br />

waren. Sondern aufgrund dessen, was sie für Shan symbolisierten. Sie<br />

hatte da draußen gelebt, zum ersten Mal richtig und auf sich alleine<br />

gestellt. Und so erschreckend – ja sogar traumatisch – diese Erfahrung<br />

eigentlich war... so hatte es einem Teil von ihr gefallen für sich selbst<br />

verantwortlich zu sein.<br />

Shan zupfte gedankenverloren an Tobys Reißzähnen. Es war schon<br />

eine Weile her, seit sie in ihr Zimmer gestürmt war, doch die Worte ihres<br />

Vaters hallten ihr nach wie vor im Kopf herum. Du bist doch schon wie<br />

ich, hatte er gesagt. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen, aber insgeheim<br />

stimmte das sogar. Shan dachte an das Tier, dass sie in der Höhle<br />

erledigt hatte. Mit Blut und seinen Innereien besudelt, das Schwert in der<br />

Hand haltend und die Zähne gefletscht hatte sie sicher einen<br />

respekteinflößenden Anblick dargeboten. Einen Anblick der einem<br />

Bartez gerecht wurde. So musste auch ihr Vater einst ausgesehen haben,<br />

als er sich durch die Massen der Grez’An geschnetzelt hatte, um das<br />

Universum zu retten. Und so musste ihre Mutter ausgesehen haben, als<br />

sie zur selben Zeit im Weltraum mit der USS Starfury die Schlacht gegen<br />

die Armada des Feindes angeführt hatte. Sie konnte sich noch so sehr<br />

dagegen wehren, sie war und blieb eine Bartez. Und tief in ihrem Herzen<br />

hatte sie das auch immer gewusst. Nur war sie bisher davon<br />

ausgegangen, dass sie genügend Selbstständigkeit besaß und mit allem<br />

fertig wurde. Auf der Oberfläche von Frigoria war ihr jedoch ein<br />

ziemlicher Dämpfer verpasst worden, obwohl die Sache noch einmal gut<br />

ausgegangen war. Denn sie hatte eher mit Glück, als mit Verstand<br />

überlebt. Beim nächsten Mal würde die Geschichte wohl anders enden.<br />

Vielleicht brauchte sie ja doch noch Training... vor allem in Sachen<br />

Raumschiffsteuerung.


Sie war so tief in ihren Gedanken versunken, dass sie gar nicht<br />

mitbekam, wie ihre Mutter eintrat. Erst, als sich Kelly sanft lächelnd<br />

neben sie auf das Bett setzte, bemerkte Shan ihre Gegenwart. Sie hob<br />

blinzelnd den Kopf. „Ich hatte abgeschlossen.“, sagte sie mit wenig<br />

Verärgerung.<br />

„Hab die Sperre umgangen.“<br />

Das verblüffte Shan. Um sicherzustellen, dass sie ihre Ruhe hatte,<br />

wenn sie niemand stören sollte, hatte sie wochenlang an dem Sperr-<br />

Algorithmus geschrieben, doch Kelly war es offenbar mühelos gelungen,<br />

ihn zu überbrücken. „Wie... hast du das geschafft?“<br />

Kelly hob lächelnd die Schultern. „Als ich in deinem Alter war, habe<br />

ich selber eine ganze Menge Türen hinter mir zugeknallt. Ich schätze, ich<br />

weiß einfach, wie diese Sperren funktionieren.“<br />

Ein schweres Seufzen drang aus Shans Kehle und sie drückte Toby<br />

näher an sich, als könne er ihr beistehen. „Du bist hier, weil du mich<br />

überzeugen willst, auf die Sternenflottenakademie zu gehen, nicht<br />

wahr?“<br />

„Nein.“<br />

Shan hob den Kopf und machte keinen Hehl aus ihrer Überraschung,<br />

als sie ihre Mutter anstarrte. „Nicht?“<br />

„Nein. Natürlich bin ich das nicht. Shan, du sollst tun, wonach dir der<br />

Sinn steht. Punkt. Wenn du nicht auf die Akademie willst, dann musst du<br />

auch nicht. Keiner wird dich dazu zwingen.“<br />

„Aber Dad-“<br />

„Ich habe mit deinem Vater geredet.“, erklärte Kelly sanft und nahm<br />

Shans Hand in ihre. „Ich versichere dir, er hat das vorhin nicht so<br />

gemeint. Glaubst du etwa, er würde dich gegen deinen Willen zu etwas<br />

drängen? Ernsthaft? Komm schon. Du bist doch seine Prinzessin. Seine<br />

Göttin. Seine Inspiration. Er würde alles für dich tun, Liebling.“<br />

Nun schnaubte Shan. „Ja, sofern ich in seine Fußstapfen trete!“<br />

„Das ist nicht wahr, und das weißt du auch. Dein Vater mag nicht ohne<br />

Fehler sein...“<br />

„Was du nicht sagst...“, rollte Shan sarkastisch mit den Augen.<br />

Kelly ignorierte den Kommentar. „Aber was immer er tut, oder sagt, er<br />

macht es aus Liebe.“ Sie schmunzelte liebenswürdig. „Selbst wenn es<br />

sich um furchtbaren Unsinn handelt. Er macht es für uns. Für mich... für


dich. Du hast uns beiden einen ziemlichen Schrecken eingejagt, weißt du<br />

das? Dein Vater... er kann es vielleicht nicht so zeigen, aber er macht<br />

sich sorgen. Und ich auch. Wir wollen doch nur dein Bestes.“<br />

„Mein bestes, oder eures?“<br />

Kelly blickte verletzt drein, und Shan bereute ihre Worte sofort.<br />

Warum musste sie aber auch immer gleich sagen, was ihr durch den Sinn<br />

kam? Sie seufzte – das schien sie dieser Tage häufig zu tun. „Ich weiß,<br />

Mom. Und ich weiß, dass er es nicht so meint, aber ich...“ Sie sprach den<br />

Satz nicht zuende. Das musste sie auch gar nicht.<br />

„Liebes.“, sagte Kelly. „Wovor hast du solche Angst?“<br />

„Mom, ich... ich habe... Angst davor, in seine Fußstapfen zu treten. In<br />

die Fußstapfen der Legende. Ich habe Angst darin zu versinken.“<br />

Nun lachte Kelly auf. „Natürlich kannst du nicht in seine Fußstapfen<br />

treten. Aber es hindert dich doch nichts daran eigene machen.“<br />

„Aber das versuche ich ja. Ich... ich versuche nur ich selbst zu sein.“<br />

Sie fuchtelte kurz mit den Armen herum, um ihre Frustration zu<br />

unterstreichen. „Aber ich bin mir noch nicht ganz sicher, wer ich<br />

eigentlich bin. Wie viel davon du bist... wie viel davon Dad ist... und wie<br />

viel ich selbst bin, verstehst du das?“ Sie verzog das Gesicht. „Ergibt das<br />

überhaupt irgendeinen Sinn?“<br />

„Das tut es. Ich verstehe vielleicht besser, als du denkst. Ich war auch<br />

mal jung, und musste ebenso herausfinden, wer ich eigentlich bin. So<br />

ziemlich jeder macht das irgendwann durch. Manche finden die Antwort<br />

recht schnell, und andere...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nun, bei<br />

anderen dauert es eben etwas länger.“ Das half Shan nicht sonderlich.<br />

„Mach dir deswegen keine Sorgen, Liebling.“, entgegnete Kelly daher<br />

lächelnd. „Versuche einfach nur Shan Bartez zu sein und lass die<br />

Geschichte ihr eigenes Urteil fällen. Der Rest ergibt sich irgendwann von<br />

alleine.“<br />

Shan warf ihr einen schiefen Seitenblick zu. „Hat man dir so was auf<br />

der Sternenflottenakademie beigebracht?“<br />

„In gewisser Weise.“ Kelly lächelte. „Zefram Cochrane sagte das<br />

einst.“<br />

Shan runzelte die Stirn. „Dass man Shan Bartez sein soll?“<br />

„Ich hab’s ein bisschen modifiziert.“, gestand Kelly augenzwinkernd.<br />

„Hm.“


„Hast du denn eine Vorstellung, was du stattdessen machen willst,<br />

Liebling?“<br />

Ein Schulterzucken. „Ich bin nicht sicher. College, nehme ich an. Aber<br />

wenn ich ehrlich sein soll, habe ich keine Lust mehr weiterhin in diesen<br />

Klassenzimmern zu verwesen.“<br />

„Deine Noten sind doch gut?“<br />

„Ja, aber der Unterricht ödet mich an. Das Lernen macht mir Spaß,<br />

aber ich will nicht nur dauernd theoretisches Wissen um die Ohren<br />

gepeitscht bekommen. Wenn mir meine Lehrer von diesen oder jenen<br />

Dingen erzählen, Planeten in der Galaxie, oder Phänomenen im<br />

Weltraum, dann will ich dorthin, will ich es mit eigenen Augen sehen, es<br />

fühlen, es... erfahren. Ich habe Lust da rauszufliegen und mir anzusehen,<br />

was das Universum zu bieten hat, anstatt es mir von fremden Leuten<br />

erzählen zu lassen. Es gibt so vieles zu sehen...“ Sie sah nachdenklich zu<br />

ihrem Rucksack und dem Schwert auf dem Schreibtisch. Von dem, was<br />

sie bedeuteten, von der Geschichte, die sie erzählten, über Shan und über<br />

Frigoria, und von der Erinnerung an die Erlebnisse auf der Eiswelt, ging<br />

noch immer eine merkwürdige Anziehungskraft aus, und sie begriff nach<br />

wie vor nicht recht wieso. Aber es war aufregend gewesen. Sie hatte<br />

Dinge gesehen, die vielleicht sonst niemand gesehen hatte. Sie war ins<br />

Staunen geraten, hatte Informationen über bis dahin kaum Bekanntes<br />

gesammelt. Sie hatte den Urgon gefunden, in der Fremde, im<br />

Unerforschten Gebiet. Es prickelte in ihr, wenn sie sich vorstellte, was<br />

noch für wundervolle und einzigartige Erfahrungen da draußen auf sie<br />

warteten.<br />

Shan amtete tief ein, als müsse sie Mut sammeln, ehe sie zu ihrer<br />

Mutter sah, um ihr womöglich törichtes Vorhaben zu formulieren.<br />

„Vielleicht... sollte ich einfach meinem Gefühl folgen und nach dem<br />

aktuellen Schuljahr ein wenig im Quadranten herumreisen, was denkst<br />

du? Mir ein bisschen Erfahrung aneignen. Ein paar Orte ansehen. Nichts<br />

gefährliches, nichts wie Frigoria.“, fügte sie schnell hinzu.<br />

Kelly hob und senkte die Schultern. „Wenn dich das glücklich macht,<br />

klar. Warum nicht?“<br />

„Aber...“ Shan schien verunsichert und rutschte auf dem Bett herum.<br />

„Wird es mich denn glücklich machen?“<br />

„Nun, das kann ich dir nicht sagen, Liebes. Das musst du schon selbst


herausfinden.“<br />

„Hm-mmhn.“<br />

Shan schwieg eine Weile. Während sie mit nach innen gerichtetem<br />

Blick mit ihren Fingern spielte, wartete ihre Mom geduldig. Shan war ihr<br />

dankbar, dass sie die Akademie nicht ins Spiel brachte, obwohl ihr<br />

durchaus bewusst war, dass sich der Hinweis, dass es in der Sternenflotte<br />

darum ging, dort hinauszufliegen, und nachzusehen, was hinter dem<br />

Horizont lag, regelrecht anbot. Aber Kelly drängte nicht, und sie musste<br />

es auch nicht.<br />

Schließlich fragte Shan irgendwann von selbst: „Würde die Akademie<br />

mich nicht zu einem Leben in der Flotte verurteilen? Ein Leben, wo<br />

andere über mich und mein ganze Zukunft bestimmen, wo andere mir<br />

sagen, wo ich hinfliegen darf, und wo nicht?“<br />

Kelly lachte. „So etwas wird nicht geschehen, wenn du es nicht willst.<br />

Vergiss nicht, dass ich vor meiner politischen Karriere auch einst ein<br />

Teil der Flotte war. Sie ist kein Gefängnis, kein Club ohne<br />

Austrittsmöglichkeit. Nach einer gewissen Dienstzeit, ist es möglich,<br />

sein Offizierspatent wieder abzulegen, wenn man möchte. Dann bist du<br />

erneut frei. Und solltest du eine lange Karriere anstreben... Nun, man<br />

kann nicht unbedingt tun und lassen, was man will, aber es gibt einen<br />

gewissen Spielraum. Das sind aber Dinge, die noch in ferner Zukunft<br />

liegen. Bis dahin kannst du auf der Akademie eine ganze Menge<br />

wichtiger Dinge lernen.“<br />

„Toll.“, murrte Shan. „Wieder Klassenzimmer.“<br />

Erneut das charmante Lachen ihrer Mutter. „Keine gewöhnlichen<br />

Klassenzimmer, Liebling. Die Sternenflottenakademie ist mit keiner<br />

anderen Schule zu vergleichen. Sie ist einzigartig. Glaub mir, dort hat<br />

sich noch nie jemand gelangweilt...“<br />

„Es gibt immer ein erstes Mal.“<br />

„Sieh mal... der Frischlingsommer, von dem dein Vater vorhin<br />

gesprochen hat, dauert nur sechs Wochen und ist lediglich die<br />

Vorbereitung auf die Ausbildung. Erst im Anschluss dieser Sechs<br />

Wochen musst du den Eid ablegen und wirst verpflichtet. Es ist<br />

sozusagen die ideale Gelegenheit einfach mal hereinzuschnuppern, und<br />

zu entscheiden, ob die Akademie etwas für dich ist. Und wenn es dir<br />

nicht gefällt...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dann kannst du


problemlos wieder aussteigen. Probier es doch einfach mal. Was sind<br />

schon sechs Wochen auf der Akademie, verglichen mit sechs Tagen im<br />

ewigen Eis.“<br />

Shan zupfte wieder an Tobys Reißzähnen, die inzwischen ganz schön<br />

ausgefranst waren. Sie war so nachdenklich, dass sie gar nicht mitbekam,<br />

was sie tat. Nach einer kurzen Gesprächspause fragte Shan: „Hast du es<br />

je bereut, beigetreten zu sein?“<br />

„Nein.“ Es kam wie aus der Pistole geschossen. Dafür legte sich Kelly<br />

die nachfolgenden Worte genau zurecht. „Du... hast das Glück in einer<br />

Zeit aufzuwachsen, die nicht von Kriegen gezeichnet ist. Die Föderation<br />

erblüht und sieht sich keinen unmittelbaren Bedrohungen entgegen –<br />

nicht einmal mittelbaren. Es... herrscht das Paradies, das wir uns immer<br />

erträumt haben, ein Paradies, in dem du umhertollen kannst. Und dafür<br />

bin ich sehr dankbar. Bei uns ging es damals... weitaus turbulenter zu.<br />

Die Konflikte mit den Cardassianern, den Klingonen, der Dominion-<br />

Krieg, die Borg, die Grez’an... Als Sternenflottenoffiziere waren wir<br />

überall mittendrin, in jedem einzelnen Scharmützel. Ich habe in jener<br />

Zeit viele Freunde verloren, und einige Dinge gesehen, die mich zutiefst<br />

erschüttert haben, und denen sich niemand hätte aussetzen sollen. Und<br />

dennoch. Ich habe in keinem Moment bereut, diese Uniform zu tragen.<br />

Weil ich wusste, dass die Arbeit, die von uns verrichtet wurde, wichtig<br />

war. Weil ich wusste, dass wir für all das, was uns heute<br />

selbstverständlich ist, gekämpft und dieses Paradies somit erst möglich<br />

gemacht haben. Es war eine außergewöhnliche Erfahrung. Und ich<br />

würde sie dir nicht nahe legen, wenn ich etwas davon bereut hätte.“<br />

Nachdenklich legte Shan die Stirn in Falten. „Aber... warum bist du<br />

dann überhaupt ausgestiegen?“<br />

Kelly rückte näher, legte Shan den Arm um die Schulter, und küsste<br />

ihre Tochter auf die Stirn. Dann strich sie ihr sanft mit dem Handrücken<br />

über die Wange und sah ihr voller Liebe tief in die Augen. „Ich habe<br />

etwas noch viel erfüllenderes gefunden.“<br />

Das zauberte erstmals auch Shan ein dünnes Lächeln ins Gesicht. Es<br />

war schon erstaunlich. Ihre Mom wusste immer, wie man sie aufheiterte,<br />

wusste alles über Shan. Ihre Ängste, ihre Sorgen... sie kannte die tiefsten<br />

Tiefen ihrer Seele. Selbst die dunklen. Und sie wusste stets das richtige<br />

zu sagen. Shan bewunderte sie für ihre Intelligenz, ihre Ruhe und was sie


ihr gab. Sie arbeitete von morgens bis abends im Föderationsrat, aber sie<br />

war trotzdem immer für ihre Tochter da, war immer da, wenn Shan sie<br />

gebraucht hatte, und gab ihr eine großartige Ausbildung und vermittelte<br />

ihr den Glauben an sich selbst.<br />

Draußen räusperte sich jemand. „Kann ich reinkommen? Darf ich?“ Es<br />

war Matt.<br />

„Die Tür ist offen.“, rief Kelly. Dann sah sie zu ihrer Tochter. „Er darf<br />

doch reinkommen, oder?“<br />

Shan zuckte mit den Schultern: Mir egal.<br />

Die Tür öffnete sich einen Spalt weit und Matt lugte herein.<br />

„Dad.“, nahm sie seine Anwesenheit zur Kenntnis.<br />

„Shan.“, sagte Matt förmlich, sah sich vorsichtig um – zuerst nach<br />

links, dann nach rechts -, und betrat nun, da er sicher war, nicht von<br />

einem klingonischen Erschießungskommando erwartet zu werden, ganz<br />

in ihr Zimmer. Er stand eine Weile da, hatte die Hände in die<br />

Hosentaschen gestopft, und schien sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu<br />

fühlen. Shan hatte Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass sich ein Mattt<br />

Bartez verunsichert fühlen konnte.<br />

„Ich... uh... ich schätze ich muss mich entschuldigen, Shan.“<br />

Shan schnaubte. So leicht wollte sie es ihm nicht machen.<br />

„Deine Mutter hat mir gestanden, was dich bedrückt.“ Matt schüttelte<br />

betroffen den Kopf. „Ich... war ein Idiot, verstehst du? Ich war ein Idiot,<br />

dass ich nicht erkannt habe, wie sehr du daran zu knabbern hast, wer...<br />

was ich bin. Hätte ich gewusst, dass dies der Grund ist, für deine...<br />

Ausflüge...“<br />

„Das ist es nicht, Dad.“<br />

„Nein?“<br />

Shan seufzte. „Ich war einfach... ach, ich weiß nicht. Was hast du<br />

erwartet? Wir haben früher all diese Reisen zusammen unternommen. Ihr<br />

habt mich immer mitgenommen, mir viele tolle Orte gezeigt. Ich dachte<br />

ich könnte es auch alleine...“ Sie zuckte hilflos mit den Schultern,<br />

unfähig zu sortieren und richtig auszudrücken, was sie fühlte. „Du musst<br />

dich nicht entschuldigen.“<br />

„Wirklich?“<br />

„Wirklich.“ Sie sah beschämt zu Toby, der ihr nichts mehr gab, legte<br />

ihn symbolisch beiseite und blickte ihrem Vater dann in die Augen. Zeit


erwachsen zu werden. Dazu gehörte auch, für das eigene Verhalten<br />

geradezustehe. „Ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss. Es war<br />

dumm von mir, Dad. Diese ganze Expedition, dieser ganze Ausflug.“<br />

Matt durchquerte das Zimmer und kniete sich vor sie hin. Dann nahm<br />

er ihre kleinen Hände in seine Großen warmen. „Shan... Liebling... Ich<br />

will das du weißt, dass ich Stolz auf dich bin. Ich bin ganz sicher nicht<br />

einverstanden damit, dass du uns belogen hast, aber... deine Fähigkeiten<br />

habe ich wohl auch ziemlich unterschätzt. Ich meine ... du hast dich<br />

sieben Tage durch die Eishölle von Frigoria geschlagen. Sieben Tage!<br />

Unter schwersten Bedingungen! Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich<br />

das geschafft hätte.“<br />

„Doch, das hättest du.“ Daran bestand keinen Zweifel.<br />

„Ja, das hätte ich, vermutlich.“, nickte er seufzend. „Es tut mir<br />

wirklich leid, Shanny. Ich habe nicht geahnt, wie sehr dir mein Ruf zu<br />

schaffen macht, und dass wir dir mehr Spielraum hätten lassen müssen.<br />

Ich habe es nie in Betracht gezogen.“<br />

„Schon okay.“, erwiderte Shan.“ Der ganze Ärger war verflogen. „Es<br />

kommt nicht wieder vor.“<br />

Das beruhigte ihren Vater sichtlich. Alles war wieder gut. Er strich mit<br />

dem Daumen über ihre Hände, die in seinen fast völlig verschwanden.<br />

Eine Sache stand noch immer aus. „Du musst nicht auf die Akademie,<br />

wenn du nicht willst.“<br />

„Aber du hättest gern, dass ich dorthin gehe, nicht wahr?“<br />

Matt tauschte einen tiefen Blick mit Kelly, die kaum merklich nickte,<br />

und ihn stumm zu irgendetwas aufzufordern schien. Er sah dann zu<br />

Boden und ließ die Schultern leicht hängen. Als er schließlich sprach,<br />

klang er merkwürdig niedergeschlagen, fast traurig. So hatte Shan ihn<br />

noch nie erlebt. Normalerweise gab es kaum etwas, das ihn erschüttern<br />

konnte.<br />

„Weißt du... Väter wollen es oft nicht wahrhaben, wenn ihre Töchter<br />

fähig sind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es bedeutet, dass wir<br />

zu Zuschauern degradiert werden. Dass wir zunehmend überflüssig<br />

werden. Als du geboren wurdest, hatte ich gehofft lange Zeit ein paar<br />

Innings mit dir Spielen zu können, aber... aber du hast mich schon vor<br />

einer ganzen Weile auf die Bank versetzt. Es ist so schnell passiert, dass<br />

ich es kaum mitbekam.“ Seine Augen fixierten die ihren und mit einer


Kopfbewegung deutete er zum zerschlissenen Rucksack und dem<br />

Schwert auf ihrem Schreibtisch. „Du spürst den Ruf davon, oder? Das<br />

Abenteuer. Die Selbstbestimmung. Du hast Blut geleckt, und jetzt willst<br />

du mehr.“<br />

„Ich...“ begann Shan zögernd, in der Absicht, es abzustreiten. Aber sie<br />

hatte in sich hineingehorcht, vorhin schon, und es dämmerte ihr, dass ihr<br />

Vater ins Schwarze getroffen hatte. Ihm war es nur gelungen, ihre<br />

Empfindungen auszuformulieren, das unterschwellige Bedürfnis zu Tage<br />

zu bringen und zu benennen. Statt also alles abzustreiten, flüsterte sie,<br />

überrascht von der eigenen Erkenntnis: „Ja.“<br />

Matt nickte wissend. „Mir ist klar, dass es dich allmählich hinauszieht.<br />

Hinaus in die Freiheit. Und wenn du schließlich deine Flügel spannst und<br />

davonfliegst, werde ich nicht einmal mehr in der Lage sein, das Spiel<br />

von der Zuschauertribüne aus anzusehen. Ich werde den Verlauf nur<br />

noch aus der Ferne mitbekommen, über Hörensagen und gelegentliche<br />

Anrufe von dir. Mir ist ebenso bewusst, dass ich den Moment nicht<br />

verhindern kann. Hinauszögern vielleicht. Aber nicht verhindern. Es<br />

ist...“ Er nahm einen schweren Atemzug. „...eine der erschütterndsten<br />

Wahrheiten, der man sich als Elternteil stellen muss. Ich möchte aber<br />

wenigstens, dass du so gut wie möglich auf das Unbekannte vorbereitet<br />

bist, ehe du dich dorthin begibst. Einfach, damit du da draußen auch<br />

überlebst. Und glücklich wirst. Auch ohne mich. Du hast Talent, du hast<br />

Leidenschaft. Aber das ist alles unkanalisiert, weil du frustriert, verwirrt<br />

und unvorbereitet bist. Du magst denken, dass du es mit dem Universum<br />

aufnehmen kannst – jeder Teenager tut das. Und ich denke, du kämst<br />

besser klar, als die meisten. Dennoch gibt es da eine Menge Dinge, die<br />

du erst noch lernen musst. Vielleicht nicht von uns. Vielleicht nicht von<br />

der Schule. Aber vielleicht von der Akademie. Wenn du dorthin gehen<br />

würdest... dann wüsste ich wenigstens, dass deine Ausbildung die Beste<br />

des Quadranten ist, und, dass man dich so umfassend wie nur irgend<br />

möglich auf die Gefahren da draußen vorbereitet. Außerdem...“ und<br />

dabei warf er Kelly einen kurzen Blick zu „...hätten deine Mutter und ich<br />

noch vier weitere Jahre das Vergnügen deiner Gegenwart, wenn auch<br />

nicht unmittelbar. Aber San Francisco ist gleich um die Ecke. Du wärst<br />

in der Nähe, hier auf der Erde.“<br />

Shan neigte misstrauisch den Kopf und runzelte die Stirn. „Du willst,


dass ich mich schuldig fühle.“<br />

Er schüttelte den Kopf und es war ernst gemeint. „Ich will dich daran<br />

erinnern, dass du zu mehr in der Lage bist, als durch das Eis zu stapfen<br />

und alte Rucksäcke zu finden. Das ist eine Verschwendung deines<br />

bislang ungenutzten Potentials.“ Er tippte ihr schmunzelnd auf das Kinn.<br />

„Du bist eine Bartez. Und eine Bartez ist zu hohem Berufen.“<br />

„Ach, Dad.“, stöhnte Shan. „Warum kannst du nicht einfach normal<br />

sein?“<br />

„Definiere Normal.“<br />

„Na ja... so wie andere Dads eben.“<br />

„Ich bin doch wie andere Dads ... nur ... mit dem Unterschied, dass ich<br />

die Galaxie gerettet habe.“ Er grinste.<br />

Shan rollte die Augen.<br />

„Weißt du...“, setzte er fort „die Grez’An mögen besiegt sein, aber da<br />

draußen gibt es sicher noch größere Abenteuer zu bezwingen. Abenteuer,<br />

die all das, was ich getan habe in den Schatten zu stellen vermögen.<br />

Denkmäler warten darauf deinen Namen zu tragen, Liebling. Und wenn<br />

du das nicht willst...“, er zuckte mit den Schultern. „dann ist das auch<br />

nicht schlimm. Deine Mutter und ich, wir werden dir immer ein<br />

Denkmal stellen. Denn du bist unser größtes Abenteuer.“<br />

Shan kratzte sich nachdenklich über ihr Kinn, während sie zum<br />

Fenster raus, auf die vorbeiziehenden Shuttles sah. Und aus den Tiefen<br />

ihrer Seele entließ sie einen langen, unsicheren Seufzer, während sie sich<br />

in Anbetracht der Entscheidung, die sie zu fällen drohte, fragte, ob es<br />

nicht doch besser gewesen wäre, auf Frigoria zu erfrieren...<br />

Galak<br />

Es war nicht die beste aller Zeiten, aber es war auch nicht die<br />

schlechteste aller Zeiten. Es war der Anbeginn einer neuen Ära für den<br />

Planeten Orsoria und wenn man Galak Arsamandi, einziger Sohn des<br />

Königs und somit zukünftiges Oberhaupt der Herrscherfamilie fragte,<br />

war der Start nicht besonders Vielversprechend.


Er angelte sich ein hohes Champagnerglas vom Tablett einer<br />

vorbeihuschenden Kellnerin und musterte skeptisch die dichtgedrängte<br />

Menschenmenge, während er ohne besonderen Durst an dem Getränk<br />

nippte. Der Champagner schmeckte ein bisschen nach Flusswasser, fand<br />

Galak. Ihm fehlte eindeutig der gute, spritzige Geschmack, den<br />

orsorianische Getränke auszeichnete, aber die waren den<br />

Föderationsgesandten zu süß. Ihnen war alles zu süß, zu laut, und zu<br />

spaßig, und dementsprechend hatte man das Bankett, das heute ihnen zu<br />

Ehren im Palast stattfand, auch ganz harmlos gestaltet – Obgleich der<br />

verschwenderische Prunk des in festlichen Lichts getauchten<br />

Palastgebäudes, und die überschäumende, irgendwie künstliche<br />

Fröhlichkeit der durcheinanderrennenden, lachenden und annähernd<br />

nackten Mitglieder der Herrscherfamilie, zumindest nach menschlichen<br />

Maßstäben nicht als harmlos bezeichnen konnte - Das Klirren von Glas,<br />

die dezente Musik, die im Raunen der Leute fast unterzugehen schien,<br />

und die vornehme Eleganz prunkvoller Möbel. Dazu die livrierten<br />

Dienerinnen, die nicht nur ihre verschwenderisch ausgestatteten Tabletts<br />

mit der Geschicklichkeit von Artisten jonglierten, ohne auch nur ein<br />

einziges Mal irgendwo anzustoßen, oder gar ihre Last fallen zu lassen...<br />

... es war eine durchaus pompöse Veranstaltung.<br />

Und der Pomp zeigte Wirkung. In der Tat, konnte Galak regelrecht<br />

spüren, wie beeindruckt die Föderationsleute waren, auch wenn sie sich<br />

redlich bemühten, dies nicht zu zeigen. Anscheinend war ihnen während<br />

ihrer – wie auch immer gearteten - Ausbildung jeglicher Sinn für Spaß<br />

und Party abgewöhnt worden. Sie fielen in ihren grau-schwarzen<br />

Uniformen zwischen den Orsorianern auf, wie... na ja, eben wie Leute,<br />

die auf einer Feier als einzige Kleidung trugen und bar jeden Vergnügens<br />

in der Gegend herumstanden. Sie schienen an derartige Feiern auch ganz<br />

und gar nicht gewöhnt zu sein. Für Galak, der fast täglich auf solchen<br />

Veranstaltungen mitwirkte, war das schier unvorstellbar. Warum<br />

arbeiteten diese Leute überhaupt, wenn sie nicht bereit waren, die<br />

Früchte ihrer Ernte zu genießen? Einen Moment lang fragte er sich, ob<br />

diese Kreaturen überhaupt lebten.<br />

Da gab es beispielsweise diesen Glatzkopf, den Anführer, mit dem<br />

schmächtigen Körper. Zumindest wirkte er durch die eintönige Uniform<br />

schmächtig und Galak war sich ziemlich sicher, dass er es darunter auch


war. Er bot keinen Vergleich zu den auf natürliche Weise stets gut<br />

gebauten, und im Vergleich zu den Menschen extrem muskulösen<br />

Orsorianern. Dabei war Glatzkopf eine Berühmtheit bei seinen Leuten,<br />

zumindest, wenn man den Geschichten Glauben schenken durfte, die er<br />

gehört hatte. Unter anderem wurde ihm nachgesagt, eine kybernetische<br />

Spezies – die Borg – besiegt zu haben. Er hatte auch Geschichten über<br />

diese Wesen gehört, sie aber ins reich der Fantasie verbannt. Zumindest<br />

waren sie zweifellos übertrieben. Er konnte sich nicht vorstellen, wie<br />

eine ganze Rasse lediglich Erobern, aber nie feiern wollte. Und selbst<br />

wenn etwas wahres dran sein sollte an, den Erzählungen – hier auf<br />

Orsoria musste man sich glücklicherweise nicht mit solchen Dingen<br />

beschäftigen. Sie waren ein friedliebendes Volk und hatten noch nie<br />

irgendwelche Probleme gehabt. Wenn sich andere Welten untereinander<br />

bekriegen wollten, sollten sie es ruhig tun. Hauptsache man hielt die<br />

Orsorianer da raus.<br />

Außerdem sollte er sich für ein Dutzend diplomatischer Missionen<br />

verantwortlich zeichnen, dieser Glatzkopf, und er genoss allgemein ein<br />

hohes Ansehen in seiner Organisation. Aber wenn der schon das Beste<br />

war, was die Föderierten zu bieten hatten – einen alten, schwächlichen<br />

Mann -, dann war eine Allianz mit ihnen vielleicht doch keine so gute<br />

Idee, fand Galak. Ganz gewiss nicht. Glatzkopfs Körper lies eindeutig<br />

die kräftigen Muskelstränge vermissen, die Galak – die jeden Orsiorianer<br />

– auszeichneten. Alle waren sie schmächtig, diese Föderierten.<br />

Schmächtig und schwach. Der Blinde an der Theke, der kleine mit den<br />

großen Ohren neben den Vorhängen... lediglich der große mit der<br />

Schärpe machte einen ganz vernünftigen Eindruck. Dafür war er<br />

allerdings so ziemlich das hässlichste, was Galak je gesehen hatte. Und<br />

ihre Weibchen waren auch nicht viel besser – Ganz hübsche Dinger<br />

eigentlich, die Galak vielleicht sogar gefallen hätten, hätten sie ein<br />

bisschen... lebendiger gewirkt. Hätten sie sich ein bisschen lebendiger<br />

verhalten. Und hätten sie nicht diese abscheuliche Kleidung getragen...<br />

Großer Vogel, wie er diese Uniformen hasste!<br />

Orsorianer trugen keine Uniformen. Sie trugen überhaupt keine<br />

Kleidung. Ihre primären und sekundären Geschlechtsorgane wurde<br />

einzig und allein von einem natürlichen Lichtlendenschurz verdeckt.<br />

Alles andere galt als obszön und anstößig. Da sie aber ohnehin alle


verschwenderisch ausgestattet waren, gab es auch nicht viele<br />

Überraschungen. Ebenfalls merkwürdig, war, so viele Männer an einem<br />

Ort versammelt zu sehen. Auf Orsoria gab es kaum noch Männer. Sie<br />

waren eine Rarität.<br />

Galaks ... - nun, der Begriff Freund war nicht wirklich zutreffend, kam<br />

der Sache bedauernswerter weise aber am nächsten. Sein Freund Zaron<br />

also, der an einer goldenen Säule neben ihm verweilte und gelegentlich<br />

an einem Glas nippte, schien dasselbe zu denken. „Seht sie euch an, Lord<br />

Arsamandi.“, sagte er mit geringschätzigem Gesichtsausdruck. „So klein.<br />

So Uniform. So… bekleidet. Unbegreiflich, dass der König mit diesen<br />

Personen eine Allianz einzugehen gedenkt.”<br />

„Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen, Freund<br />

Zaron. Wir benötigen eben neue... Weidegründe, nicht wahr?“<br />

„Mit denen, mein Lord?“ Zaron sah einer älteren Menschenfrau in<br />

Uniform nach, die gerade an ihm mit unbeeindruckend schwingenden<br />

Hüften vorbeigeeilt war und schnaubte geringschätzig. „So verzweifelt<br />

können unsere Zeiten gar nicht sein.“<br />

Es sah nicht allzu optimistisch aus, das musste Galak einräumen. Doch<br />

dann entdeckte er doch noch ein interessantes Exemplar. Ebenfalls eine<br />

Frau, wie er annahm, diesmal jung und humanoid. Sie stand wenige<br />

Meter von ihm entfernt, und war scheinbar nicht gewillt, der Party die<br />

sich um sie herum entfaltete, auch nur eines Blickes zu würdigen.<br />

Sie war recht groß, was Galak automatisch attraktiv fand, hatte spitze<br />

Ohren und kurzes, schwarzen Haar, das vorne zu einem Pony geschnitten<br />

war. Irgendwie erinnerte der Schnitt an einen... Pagen. Ihre Gesichtszüge<br />

waren hübsch, aber auch sehr streng, was irgendwie unpassend wirkte.<br />

Diesen Eindruck verstärkte natürlich noch die Uniform, mit der sie ihre<br />

durchaus aufregenden Körperformen verhüllt hatte. Ohne Zweifel eines<br />

der hübscheren Exemplare der Föderierten, wenn auch natürlich längst<br />

nicht so makellos, wie selbst die hässlichste Orsorianerin. Sie schien<br />

weder viel von der Gesellschaft zu halten, noch von den Festlichkeiten.<br />

Stattdessen war sie alleine und tippte nun bemüht auf einem kleinen<br />

Gerät herum, bei dem es sich zweifellos um einen Taschenrechner<br />

handeln musste. Vermutlich war sie eine Mathematikerin. Und da sie auf<br />

einer Party arbeitete, handelte es sich bei ihr auch zweifellos um einen<br />

Freigeist. Alleine das machte sie für Galak interessant, zumindest


interessanter als alle anderen, und er stellte fest, dass sie eine<br />

merkwürdige Anziehungskraft auf ihn ausübte.<br />

Zaron, der sie zur gleichen Zeit wie Galak entdeckt hatte, tauschte mit<br />

ihm einen kurzen, wenig begeisterten, Blick.<br />

„Entschuldigt mich einen Moment.“, bat Galak. „Ich denke, ich werde<br />

mich ihr vorstellen.“<br />

Zaron rümpfte misstrauisch die Nase. „Sie ist alt, mein Lord.“<br />

„Auf alten Schiffen lernt man fliegen, Zaron.“<br />

„Nur, bis sie abstürzen, mein Lord.“<br />

Galak schmunzelte und schob sich eine hartnäckige Strähne seines<br />

langen blauen Haares aus dem Gesicht. Dann schlenderte ohne<br />

besondere Eile zu ihr rüber. Unterwegs nickte er einigen Föderierten und<br />

anderen Mitgliedern des Herrschaftshauses zu, ohne ein Gespräch zu<br />

suchen. Schließlich baute er sich zu seiner vollen Größe von immerhin<br />

beachtlichen ein Meter achtzig vor ihr auf und verkündete mit erhabener<br />

Stimme seine Position – etwas, das Frauen immer beeindruckte: „Ich bin<br />

Galak Arsamandi, Prinz des orsorianischen Könighauses und heiße sie<br />

im Namen meiner Familie auf Orsoria willkommen.“<br />

Die Reaktion war eine, mit der er nicht gerechnet hatte: nämlich gar<br />

keine. Die Frau sah nur kurz von ihrem Gerät auf und bedachte ihn mit<br />

einen solch finsteren Blick, der keinen Zweifel daran lies, dass sie es ihm<br />

schon übel nahm, sich ihr überhaupt genähert zu haben. Ohne auf seine<br />

Worte einzugehen, oder gar etwas zu erwidern, widmete sie sich wieder<br />

dem, was sie tat.<br />

Galak starrte sie einen Moment lang an, als hätte sie den Verstand<br />

verloren. „Ich sagte, ich heiße sie auf Orsoria willkommen.“<br />

Diesmal sah sie nicht einmal mehr von ihrem Gerät auf, als sie brüsk<br />

erwiderte: „Das habe ich verstanden. Sogar beim ersten Mal. Wenn sie<br />

mich nun entschuldigen würden - Ich habe zu tun.“<br />

Offenbar lag ihr überhaupt nichts daran, sich mit ihm zu unterhalten.<br />

Oder sie hoffte, ihn durch ihre Schroffheit abzuwimmeln. Vielleicht war<br />

es auch nur eine verdrehte Art des Werbens? Damit weckte sie Galaks<br />

Ehrgeiz. Er sah kurz über die Schulter. Zaron warf ihm einen leicht<br />

amüsierten Blick zu, als würde er sagen wollen: „Sie liegt ihnen ja schon<br />

regelrecht zu Füßen, mein Lord.“<br />

Das wird schon noch, erwiderte Galak stumm und drehte sich wieder


zu der Frau. „Wie ist ihr Name?“, verlangte er zu wissen.<br />

„Selar.“<br />

Das war alles, was sie sagte.<br />

„Welcher Spezies gehören sie an?“<br />

Er glaubte ein verärgertes Grummeln aus ihrer Bauchhöhle zu<br />

vernehmen. Dennoch sagte sie, auch weiterhin ohne aufzublicken: „Ich<br />

bin eine Vulkanierin.“<br />

„Interessant. Sehr interessant.“ Er neigte den Kopf. „Sie sind nicht<br />

sehr Gesprächig, nicht wahr?“<br />

„Ich bin... logisch.“<br />

„Und diese... Logik ... hält sie davon ab, an einer Party teilzunehmen?“<br />

Sie erschien ihm immer genervter. „Exakt.“<br />

„Sie sind nicht erfreut mich zu sehen, oder?“<br />

„Erfreut sie zu sehen? Warum sollte ich erfreut sein, sie zu sehen?“<br />

Galak blinzelte. „Weil die meisten Leute erfreut über meine<br />

Gegenwart sind.“ Daran gab es keinen Zweifel.<br />

„Ich nicht.“<br />

Genug gespielt, dachte Galak. Zeit für direkte Methoden. „Nun, sie<br />

mögen nicht erfreut über mich sein. Aber ich bin sicher, sie haben sich<br />

gefragt, wie es unter diesem Lichtlendenschurz aussieht. Eine<br />

Demonstration ließe sich bestimmt einrichten.“ Er lächelte gewinend.<br />

Aber wieder war die Reaktion eine andere als er erwartet hätte. Selar<br />

stieß ungehalten den Atem durch die Zähne aus und sah zu ihm auf. Er<br />

hatte den Eindruck, dass sie eine Spitze Bemerkung von sich geben<br />

wollte, überlegte es sich dann aber im letzten Moment doch anders.<br />

„Nein. Danke.“, sagte sie einfach. „Und jetzt lassen sie mich meine<br />

Arbeit fortsetzen. Ich habe es hier mit einer medizinischen Überprüfung<br />

ihres Volkes von höchster Wichtigkeit zu tun und das hat eine<br />

unbestreitbar höhere Priorität, als ihr...“ Sie blickte an ihm herab und hob<br />

geringschätzig eine Braue „...Lichtlendenschurz.“ Damit drehte sich<br />

brüsk um und eilte gemessenen Schrittes davon.<br />

Galak stand da, wie ein begossener Pudel. Er wusste beim besten<br />

Willen nicht, was gerade geschehen war. Noch nie hatte ihm jemand eine<br />

Abfuhr erteilt. Und wenn doch, dann ganz bestimmt nicht so eine. Er<br />

hoffte, dass niemand gesehen, oder gehört hatte, was passiert war, doch<br />

dann hörte er hinter sich jemanden in die Hände klatschen.


„Ist das nicht ein entzückendes Bild?“, erschallte eine kalte, vor<br />

Sarkasmus triefende Stimme hinter ihm.<br />

Vater, dachte er. So viel zum schönen Tag.<br />

„Mein Sohn demonstriert sein Versagen. Welch seltener Anblick. Und<br />

ihr sollt als einer der wenigen noch verbliebenen Männer eine wichtige<br />

Säule der orsorianischen Gesellschaft sein, junger Prinz?“<br />

Mit einem stummen Seufzer, wandte sich Galak um und gab seinem<br />

Vater die Ehre von Prinz zu König, in dem er sich leicht vor ihm<br />

verbeugte und rezitierte: „Gepriesen sei der König, und gepriesen sei das<br />

Haus des Königs, und die Stärke des Königs, auf das seine Männlichkeit<br />

niemals vergehe.“<br />

Der König zeigte sich wenig beeindruckt von dieser Standartfloskel.<br />

Er ragte mit strengem Blick und mit in die Hüften gestemmte Händen<br />

vor ihm auf, und wirkte wie eine Kriegsikone. Er war eindrucksvoll<br />

groß, selbstverständlich enorm muskulös und ehrfurchteinflössend. Seine<br />

Arme und Beine waren so dick wie Baumstämme, die mächtige Brust<br />

zum zerreißen gespannt. Das lange rote Haar wehte in einem<br />

merkwürdigen, offenbar nur für den König gedachten Luftzug. Galak<br />

war überrascht, ihn hier anzutreffen, und das auch noch ohne seine neuen<br />

Verbündeten, den Glatzkopf Pi-kah, oder den Irren Kal-Huhn an seiner<br />

Seite. Eigentlich hatte es geheißen, sein Vater, der König, würde erst<br />

morgen von seinem sechswöchigem Aufenthalt bei den Föderierten<br />

eintreffen. Galak realisierte, dass er die Rückkehrfeier verpasst hatte. Er<br />

hatte es ganz vergessen.<br />

„Vater, ich-“<br />

„Was? Meine Begrüßung? Ihr wurdet nicht vermisst.“ Seine Stimme<br />

war so kalt und schneidend, wie die Klinge eines Schwertes. Er sah kurz<br />

zu der Vulkanierin herüber, die gerade in der Menge verschwand und<br />

grollte. „Verschwendet ihr auf diese Art eure Zeit, Prinz?“<br />

„Ich habe nur-“<br />

„Ich sah sehr deutlich, was ihr getan habt.“<br />

„Aber ich war-“<br />

„Schweigt! Ich gab euch die Anweisung, die Abgesandten der<br />

Föderation zu unterhalten, euch mit ihnen zu befassen und sie hier<br />

willkommen zu heißen. Und das ist alles, was ihr erreicht? Eine kleine<br />

Party? Eine... Abfuhr?“


Galak sah die kalte Verachtung in den Augen seines Vaters, die ihn<br />

davon abhielt, eine unangebrechte Bemerkung zu äußern. Er hätte ihm<br />

gerne so vieles gesagt, aber es war zwecklos, wenn der König in dieser<br />

Verfassung war. Stattdessen fragte er trotzig: „Wozu benötige ich<br />

Charme? Mir liegen alle Frauen dieser Welt zu Füßen. Ich habe die freie<br />

Auswahl.“<br />

Der König musterte ihn von oben bis unten. Dann grollte er: „Nicht<br />

mehr lange. Ihr bekommt die Chance, euch zu beweisen und eurer Welt<br />

einen nützlichen Dienst zu verrichten. Kommt nun. Wir haben viel zu<br />

besprechen.“ Er gab seinen Wachen über die Schulter hinweg ein Signal,<br />

wandte sich um und marschierte davon.<br />

Galak ließ die Schultern hängen. „Ja, Vater.“ Bevor er seinem Vater<br />

folgte, drehte er sich noch einmal um, und hielt nach der störrischen<br />

Vulkanierin Ausschau. Doch er sah sie nicht. Er überlegte kurz, ob er sie<br />

exekutieren lassen sollte, überlegte es sich dann aber doch anders.<br />

Seinem Vater würde das nicht gefallen, schon alleine wegen der<br />

angestrebten Allianz mit der Föderation. Also beschloss Galak einfach,<br />

dass er Vulkanier von nun an hasste.<br />

Sie hatten sich in den zweiten Stock des Botschaftergebäudes<br />

zurückgezogen, während von unten der Lärm der Party zu ihnen drang.<br />

Hier, in der rustikalen, anheimelnden Umgebung des Königgemachs,<br />

waren sie ungestört und konnten endlich über die Ergebnisse der<br />

langwierigen Verhandlungen des Königs mit der Föderation reden, deren<br />

Raumschiffe hoch oben im Orbit über Orsoria kreiste. Doch daran dachte<br />

Galak nicht, als er schockiert zu seinem Vater herumwirbelte. „Ich soll<br />

auf deren Akademie?“, brachte er fassungslos hervor.<br />

„Als Austauschschüler.“, nickte der König streng. „Nachdem ihr eure<br />

Zeit mit – im wahrsten Sinne des Wortes - fruchtlosen Spielereien<br />

vergeudetest habt, sollt ihr euch nun dort bewähren, junger Prinz.“<br />

„Vater….” Galak begann wie ein gefangenes Raubtier durch das<br />

Gemach zu marschieren. Der König hingegen stand ohne Mitgefühl für<br />

seinen Sohn am ovalen Fenster, hatte die Hände hinter dem Rücken<br />

verschränkt und sah gebieterisch auf sein Reich hinaus. Es war später


Abend und der violette Schimmer des orsorianischen Himmels bildete<br />

einen farbenfrohen Kontrast zum kristallweißen Glanz der Gebäude der<br />

Hauptstadt.<br />

„...Ich bin nicht schwach. Ich weiß nicht, was ich tun soll, um euch das<br />

Gegenteil zu beweisen. Aber wenn ihr mich bestrafen wollt, in dem ihr<br />

mich von unserer Welt entfernt, dann tut ihr dem Volke damit keinen<br />

Gefallen. Jeder fruchtbare Mann – und zu dieser Minderheit gehöre ich<br />

ebenfalls, ob es euch gefällt, oder nicht -, wird gebraucht, um den<br />

Fortbestand unserer Welt zu sichern. Ihr könnt auf niemanden<br />

verzichten, auch nicht...“ Er hatte sich in Rage geredet, seufzte nun aber<br />

nach kurzem zögern und vollendete leise: „Auch nicht auf euren Sohn.“<br />

„Nonsens.“ Der König schüttelte kaum merklich den Kopf. „Vielleicht<br />

habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Es ist eine Notwendigkeit,<br />

dass ihr geht.“ Er presste die Lippen zusammen und atmete tief ein, als<br />

müsse er sich für etwas wappnen. Als er wieder Sprach, tat er es sehr<br />

leise, fast traurig. Das wunderte Galak, denn er hatte noch nie eine<br />

derartige Emotion des Königs gesehen. „Unser Volk... junger Prinz, steht<br />

am Rande eines Umbruchs.“, in den Worten schwang das Gewicht ihrer<br />

gesamten Welt mit, die auf den Schultern des Königs ruhte, und für<br />

einen kurzen Moment lang, wirkte der König nicht mehr kräftig und<br />

vital, sondern alt und ausgelaugt. „Die Versäumnisse und Fehler unserer<br />

Vorfahren... die dunklen Seiten der Geschichte Orsorias, verfolgen uns<br />

unerbittlich bis zum heutigen Tag, an dem wir unseren Tribut zollen<br />

müssen. Den industriellen Müll, angehäuft über die Jahrhunderte, mögen<br />

wir beseitigt haben, aber die Folgen sind unumkehrbar und wir können<br />

uns nicht mehr länger vor den Konsequenzen der Wahrheit verstecken:<br />

Unser Volk ist so gut wie unfruchtbar geworden. Als wäre das nicht<br />

verheerend genug, erweist sich das weibliche Genom dem männlichen<br />

als Überlegen. Unsere Frauen gebären fast ausschließlich Töchter.“<br />

Galak schob trotzig das Kinn vor. „Ich bin mit unserer Situation<br />

vertraut, Vater.“<br />

Der König schenkte ihm einen vernichtenden Seitenblick. „Seid ihr<br />

das? Seid ich wirklich darüber informiert, wie es um das orsorianische<br />

Volk steht, junger Prinz? Habt ihr während all der Partys, all der<br />

Festlichkeiten, all dem Vergnügen, dem ihr euch ununterbrochen<br />

hingebt, auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, wie die


Auswirkungen unserer Unfruchtbarkeit aussehen werden?“<br />

„Nun, ich-“<br />

„In weniger als fünf Generationen wird Orsoria ausgestorben sein.“<br />

Diese Information traf Galak wie ein Schock. Es war kein Geheimnis,<br />

dass sie Probleme hatten, aber genaue Zahlen waren nie genannt worden.<br />

Man sprach hinter vorgehaltener Hand immer nur von einem gewissen<br />

Druck, dass eine Problemlösung innerhalb der nächsten Jahrhunderte<br />

gefunden werden müsse, sonst könne es eng werden. So drückten es<br />

selbst die Medien aus. Es war stets der Eindruck erweckt worden, als<br />

hätten sie alle Zeit der Welt. Aber das...? Was hatte der König gerade<br />

gesagt? Weniger als fünf Generationen? Galak öffnete und Schloss<br />

mehrmals den Mund, unfähig seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen.<br />

„Ich... ich wusste nicht...“<br />

„Natürlich wusstet ihr es nicht.“, grollte der König verärgert.<br />

„Niemand weiß es. Wir können es uns nicht leisten, die Bevölkerung zu<br />

beunruhigen.“ Er schnaufte beim Blick aus dem Fenster. „Es ist besser,<br />

sie ihre Partys feiern und ihr Leben genießen zu lassen, anstatt sie in<br />

Angst und Schrecken über unsere Zukunft zu versetzen. Die Aufgabe,<br />

sich zu fürchten, hat die königliche Familie übernommen.“ Er schüttelte<br />

den Kopf. „Auch wenn ich es mir lange nicht eingestehen wollte: Was<br />

wir brauchen, ist Hilfe von Außerhalb.“<br />

Galak verstand allmählich. „Daher die Verhandlungen mit der<br />

Föderation.“, sagte er langsam.<br />

Der König nickte bedächtig. „Ihre Technologie ist weit fortgeschritten.<br />

Viel weitere als unsere. Wir sind ein Volk von Künstlern, und<br />

Genießern. Wir sind keine Wissenschaftler.“ Sein Blick wanderte zu den<br />

blinkenden Sternen am Firmament. „Aber sie sind es. Vielleicht - nur<br />

vielleicht - können sie uns medizinische Hilfe gewähren.“<br />

Deswegen diese Ärztin, dachte Galak.<br />

„Aber die medizinischen Untersuchen werden dauern“, fuhr der König<br />

fort. „Selbst mit der Hilfe der Föderation - zumal sie nicht wissen, ob sie<br />

sich überhaupt einmischen dürfen.“<br />

„Warum sollten sie sich nicht einmischen dürfen, Vater?“<br />

„Ihre oberste Direktive verbietet es, da wir kein raumfahrendes Volk<br />

sind, auch wenn wir uns der nachbarschaftlichen Verhältnisse bewusst<br />

sind, in denen wir in dieser Galaxie leben. Bis sie eine Entscheidung


gefällt haben, könnte es bereits zu spät sein.“<br />

„Und was werden wir jetzt unternehmen?“<br />

Nun wandte sich der König endlich vom Fenster ab und sah Galak<br />

direkt an. „Kontakte Knüpfen. Zu anderen Spezies, zu anderen<br />

Sternenreichen. Unser Genom ist trotz allem stark, stärker als das, der<br />

meisten Nicht-Orsorianer.“<br />

Galak musste an die Vulkanierin denken und ein kalter Schauer lief<br />

ihm den Rücken hinab. „Du würdest zulassen, dass wir uns mit anderen<br />

Spezies paaren, in der Hoffnung, dadurch mehr Jungen zu zeugen? Das...<br />

das wäre eine Verwässerung unserer Kultur!“<br />

„Was bringt einem Kultur... Kunst... Musik... wenn niemand mehr da<br />

ist, der sich daran erinnern und erfreuen kann? Die einzige Alternative<br />

läge in unserem Aussterben.“ Die Worte hingen ein paar Sekunden im<br />

Raum, wie zähnefletschende Feinde. Dann straffte der König seine<br />

Gestalt und seine Augen wurden wieder Ausdruckslos. „Aber so weit ist<br />

es noch nicht. Das bleibt zunächst nur der Notfallplan. Zunächst wollen<br />

wir die Verhandlungen mit den Föderierten beschleunigen. Ihr werdet<br />

unser erster Ölzweig sein, euch auf deren Akademie begeben und sie<br />

davon überzeugen, dass wir es Wert sind, gerettet zu werden.“<br />

Galak hatte wenig Lust dazu, aber er wusste genau, dass ihm keine<br />

große Wahl blieb. Hatte der König einmal gesprochen, gab es keine<br />

Diskussion mehr. Er schob mutig das Kinn vor. „Wie mein Vater<br />

wünscht.“, sagte er, seine Stimme ausdruckslos haltend.<br />

Der König starrte ihm in die Augen. „Beweist mir, dass ihr wirklich<br />

mein Sohn seid und nicht irgendein Trick eurer Mutter.“<br />

Nun hatte Galak schon weitaus größere Mühen, sich zu beherrschen.<br />

Er ballte die Fäuste und seine Nasenflügel zitterten. „Meine Mutter war<br />

eure geehrte Frau, Vater. Sie hat euch nicht betrogen und ich werde euch<br />

sowohl in meinem, als auch in ihrem Namen verbieten ihr Andenken zu<br />

beschmutzen!“<br />

„Ah.“ Der König brachte beinahe so etwas ähnliches wie ein Lächeln<br />

zustande. „Schlussendlich zeigt der junge Prinz doch noch eine Spur von<br />

Feuer. Ihr werdet es brauchen. Ihr werdet es gewiss brauchen...“<br />

Der König wandte sich ab und verließ mit ausladenden Schritten sein<br />

Gemach. Galak blieb noch einen Moment, schüttelte verdrossen den<br />

Kopf und sah ebenfalls durch das Fenster in die Nacht hinaus, während


er sich fragte, ob es überhaupt eine Menschenfrau gab, die es auch nur<br />

ansatzweise mit einem Orsorianer aufnehmen konnte.<br />

Shan<br />

Shan nahm zwei Stufen auf einmal, als sie das Treppenhaus<br />

hinaufstürmte. Sie war sehr aufgeregt, das Herz pochte wild in ihrer<br />

Brust und sie spürte wie haufenweise Adrenalin durch ihren Körper<br />

gepumpt wurde.<br />

Heute war der große Tag. Der Tag des Abschieds, an dem sie zur<br />

Sternenflottenakademie fliegen sollte. Davon war sie alles andere als<br />

begeistert und im Grunde hatte sie es nicht wahrhaben wollen und den<br />

Gedanken, dorthin zu gehen, so lange verdrängt, und gehofft, ihr würde<br />

ein Ausweg aus dieser Situation einfallen, bis es schließlich zu spät war.<br />

Was sie allerdings so in Erregung versetzt hatte, war etwas ganz anderes.<br />

Nämlich das Antriebsgeräusch eines herannahenden Schiffes, eines<br />

Antriebes, den sie unter Tausenden wiedererkennen würde. Sie hatte in<br />

ihrem Zimmer gestanden, als ihre Ohren es wahrgenommen hatten,<br />

gerade, als sie ihre Sachen fertig gepackt und ihren Rucksack mit einer<br />

Grabesmimik im Gesicht, über die Schulter geworfen hatte. Doch dieses<br />

Geräusch, ein beinahe liebliches Surren - das hatte ihre Stimmung<br />

grundlegend geändert!<br />

Sie war auf einmal hellwach gewesen, aufgesprungen, und stürmte nun<br />

zum Dach hoch, wo der Landeplatz lag. Shan trug Zivilkleidung – eine<br />

schwarzblau schimmernde Hose, ein weißes Hemd und eine schwarze<br />

Jacke mit kompliziert rot eingeschnittenen Elementen. Vermutlich das<br />

letzte bequeme – und modische - Outfit, das sie in nächster Zeit tragen<br />

würde. Der alte Rucksack von Frigoria war gereinigt und provisorisch<br />

genäht worden und baumelte nun auf ihrem Rücken. Das Poltern ihrer<br />

schweren Stiefel auf dem Metall hallte durch das Treppenhaus, als sie<br />

endlich oben ankam und auf den Ausgang zulief. Es handelte sich um<br />

eine altertümliche Tür ohne Schiebemechanismus. Man musste sie auf<br />

umständliche Art mit einer Art Hebel öffnen, um hindurchschreiten zu


können, ganz ähnlich wie der, die zu ihrem Zimmer führte. Aber Shan<br />

sah, dass die Tür nur angelehnt war, also sprang sie, ohne langsamer zu<br />

werden, mit der Schulter voran dagegen, unterschätzte dabei aber die<br />

Unnachgiebigkeit der Türangel.<br />

„Uff.“, machte Shan, als sie dagegen knallte. Die Tür sprang<br />

kreischend auf und Shan stolperte ins warme Sonnenlicht eines<br />

fröhlichen Juli-Tages. Ihre Eltern, die sich bereits auf dem Dach des<br />

Hauses, hoch über New New York eingefunden hatten, drehten sich zu<br />

ihr um. Im ersten Moment konnte Shan aufgrund der unterschiedlichen<br />

Lichtverhältnisse nicht viel sehen. Es war grell hier draußen, die<br />

Morgensonne stand flach, aber groß, am Horizont und strahlte ihr ins<br />

Gesicht, während ein angenehmer Sommerwind durch ihr Haar strich.<br />

Und dann, nach mehrmaligen Blinzeln, hatten sich ihre Augen an die<br />

Helligkeit gewöhnt und sie sah...<br />

„Großer Vogel.“<br />

Shan stockte der Atem. Ihr Mund stand weit offen, denn sie sah etwas,<br />

was sie nie in ihrem Leben erwartet hätte. Noch mehr als das: Sie sah<br />

etwas, von dem sie überzeugt gewesen war, dass sie es nie wieder sehen<br />

würde. Und doch stand sie da, mitten auf dem Dach. Die Pax! Die Pax<br />

Pelayo! Das Schiff ihres Vaters. Sie war gerade auf der Landefläche<br />

niedergegangen. Ein Geist, ein längst verloren geglaubter Schatten ihrer<br />

Vergangenheit.<br />

Als ihr Vater stolz-grinsend zu ihr trat, deutete Shan mit ungläubig<br />

ausgestrecktem Finger und großen Augen auf das Schiff. „Das... das ist<br />

die Pax.“<br />

„Yup.“<br />

„Kein Nachbau.“<br />

„Nope.“<br />

„Aber... aber wie ist das möglich? Sie ist am Grund der Eisspalte auf<br />

Frigoria zerschellt. Komplett zerschellt. Ich habe es mit eigenen Augen<br />

gesehen. Ich meine...“ Sie sprach nicht weiter, sondern schüttelte einfach<br />

nur völlig verblüfft den Kopf.<br />

„Dein Onkel.“, erklärte Matt. „Er hat sie wieder hinbekommen.“<br />

„Wie?“, fragte Shan nur. Ihr Onkel war eigentlich gar nicht ihr Onkel.<br />

Zumindest bestand keine Blutsverwandschaft, aber er war der Familie –<br />

und vor allem Shan - so nahe, dass die Bezeichnung „Onkel“ mehr als


angemessen war. Kevin Brady, heutiger Leiter der Designabteilung von<br />

Utopia Planitia im Rang eines Konter-Admirals, war ein alter Freund<br />

ihres Vaters - sein ehemaliger Chefingenieur während der Starfury-<br />

Misson, jenen fünf Jahren, die es vermocht hatten, eine kleine Besatzung<br />

zu einer waschechten Familie zusammenzuschweißen. Brady genoss den<br />

Ruf eines Genies und das entsprach der Wahrheit. Brady war in der Lage<br />

aus einer Dose einen Warpkern zu konstruieren. Gleichzeitig war er aber<br />

auch ein bisschen langsam, und schüchtern und – sozial gesehen -<br />

stellenweise auf dem Niveau eines Kindes – aber auf eine gutherzige Art<br />

und Weise. Shan verstand sich prima mit ihm. Er hatte ihr immer<br />

Spielzeug gebaut. Aber das...?<br />

Matt zuckte mit den Schultern. „Kev ist geübt darin die Dinge zu<br />

flicken, die ein Bartez zerstört. Auch wenn es unmöglich scheint, ihm<br />

gelang es schon immer - den nötigen Ansporn vorausgesetzt - alles<br />

wieder grade zu rücken. Du willst gar nicht wissen, wie oft er die<br />

Starfury flickte, wo andere Ingenieure das Schiff einfach für Schrottreif<br />

erklärt hätten.“<br />

Shan atmete erleichtert auf. „Ich bin so glücklich. Ich weiß, wie sehr<br />

du an ihr hängst. Es tut mir leid, dass ich sie beschädigt habe und bin<br />

froh, dass du sie wiederhast.“<br />

Matt schüttelte verneinend den Kopf. „Du verstehst nicht ganz. Sie ist<br />

nicht länger mir.“ Er warf ihr ein kleines Objekt entgegen, dass ihm<br />

Morgenlicht schimmerte - einen winzigen Datenchip, Fingerbreit und<br />

grün, mit isolinearen Schaltkreisen versehen. Shan fing den Chip<br />

geschickt auf. „Was ist das?“<br />

„Die ID-Karte für die neue Türverriegelung der Pax.“ Er deutete mit<br />

dem Kinn zum Schiff. „Sie gehört dir.“<br />

Shan blinzelte. „Du machst Witze. Ich meine... das kannst du nicht<br />

ernst meinen.“<br />

Er lächelte. „Höre ich mich so an, als würde ich Scherzen, Shan?“<br />

Kelly trat neben Matt. Er legte ihr den Arm um und sie sagte an Shan<br />

gewandt: „Dein Vater und ich wissen, wie sehr du an deiner Autonomie<br />

hängst und die Pax war für dich immer ein Inbegriff dieser Autonomie.<br />

Jetzt, wo du einen neuen Abschnitt deines Lebens startest, hast du in ihr<br />

etwas vertrautes. Etwas, das du kennst und liebst.“ Sie sah zu Matt hoch.<br />

„Richtig?“


„Richtig.“, nickte Matt. „Die Tkon hatten ein Sprichwort: Das<br />

Vermächtnis eines Mannes wird an den Geschenken gemessen, die er<br />

seinen Kindern überlässt. Und da du mein Schwert schon annektiert<br />

hast...“ Er deutete auf das Lederpaket, dass sie sich an den Rücksack<br />

gebunden hatte. Ein Stück der Klinge lugte heraus und blitzte<br />

gelegentlich, wenn sich das Sonnenlicht an ihr brach.<br />

Shan hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Shan Bartez, die sechs<br />

Tage lang in der Eishölle von Frigoria gehungert, gekämpft und<br />

schließlich überlebt hatte, wusste absolut nicht, was sie sagen sollte. Was<br />

sie denken, oder fühlen sollte. Also viel sie ihren Eltern einfach<br />

nacheinander um den Hals. „Oh, Dad… Mom... Danke! Danke! Ich weiß<br />

gar nicht, was ich sagen soll. Das ist so fantastisch! Einfach<br />

unglaublich!“<br />

„Freu dich nicht zu früh, junge Dame.“, tadelte Matt. „Die Pax war alt<br />

und klapprig und ich habe Kevin befohlen, sie in genau diesen rüstigen<br />

Zustand zurückzuversetzen, ohne irgendein Upgrade durchzuführen –<br />

etwas, von dem ich ihn nur schwerlich abhalten konnte. Es gibt keine<br />

Extras mehr. Sie hat nun nur geringe Warpgeschwindigkeit, keinerlei<br />

Waffen und keinen Transporter. Wenn du etwas eingebaut haben willst,<br />

dann musst du das von nun an selbst machen. Du musst dich um sie<br />

kümmern, weißt du. So kannst du das, was du auf der Akademie in den<br />

Technikkursen lernst, gleich in die Praxis umsetzen.“<br />

Shan strahlte und versuchte den Drang zu unterdrücken, wie ein<br />

Springball umherzuhüpfen. Es war einfach unglaublich, richtig cool! Sie<br />

hatte befürchtet, dass ihre Eltern sie persönlich zur Akademie fliegen<br />

würden, aber das...? Die Überraschung war gelungen. Absolut gelungen.<br />

Endlich hatte sie ihr eigenes Schiff. Die Pax. Wie sie so herrlich dastand<br />

und von der Sonne angestrahlt wurde, während hinter ihr die Skyline von<br />

New New York Downtown lag...<br />

Shan wandte das Gesicht wieder ihren Eltern zu. Beide glühten vor<br />

Stolz, so dass sie geblendet worden wäre, wären sie Sonnen gewesen. Ihr<br />

Vater – ein starker Mann und ihre Mutter, genauso stark, aber auf andere<br />

Weise. Wo Matt ungestüm war, bewahrte Kelly Ruhe. Wo Matt fordernd<br />

war, war Kelly überzeugend. Sie ergänzten einander perfekt und hatten<br />

gemeinsam alles erreicht, was man nur erreichen konnte. Und nun sollte<br />

ihre Tochter aufbrechen und in ihre Fußstapfen treten. Ein Gedanke, der


Shan nicht recht behagte, aber sie wollte den Moment nicht verderben,<br />

und als sie ihre Mutter erneut umarmte – Kelly zog Shan mit solcher<br />

Kraft an sich, dass es den Anschein hatte, sie wollte sie zerquetschen -,<br />

stellte sich jeder unliebsame Gedanke artig in den Hintergrund.<br />

„Mom...“, sagte Shan nach einer ganzen Weile, in der Kelly sie noch<br />

immer drückte. „...du ... du musst mich irgendwann loslassen.“<br />

Kelly lachte, obwohl ihre Augen feucht wurden, und sie lies Shan los.<br />

Am liebsten hätte Kelly sie einfach nur festgehalten und nie wieder<br />

losgelassen, aber sie wusste natürlich, wie unsinnig dieser Wunsch war.<br />

Und sie wusste auch, dass Shan nichts von langen Abschieden hielt. Sie<br />

weinte nicht, und sie erzählte nicht die alte Geschichte, wie sie vor<br />

sechzehn Jahren ihr kleines Mädchen zur Welt gebracht hatte, obwohl<br />

Kelly das sehr erfüllend gefunden hätte. Aber sie wusste, dass Shan eine<br />

solche Gefühlsregung eher als peinlich empfunden hätte. Vielleicht war<br />

sie zu jung. Vielleicht war sie emotional einfach gefestigter, als alle<br />

anderen in der Familie. Also hielt sich Kelly zurück und widerstand dem<br />

unbändigen Drang, sie erneut zu umarmen.<br />

„Viel Glück, Shan.“, sagte sie stattdessen.<br />

Kelly glaubte Dankbarkeit in ihren Augen zu erkennen, als Shans<br />

Lächeln in die breite Wuchs. „Danke, Mom.“<br />

Dann kam Kelly ein Gedanke der sie aufhorchen ließ. „Hast du auch<br />

genug frische Sachen dabei? Und warme?“<br />

Shan verdrehte die Augen. „Mom... das ist nun wirklich die geringste<br />

meiner Sorgen.“<br />

Kelly fuchtelte mit einem Finger vor ihrem Gesicht herum. „Wenn du<br />

erwachsen und auf Frigoria bist“, sagte sie nachdrücklich. „kannst du so<br />

rumlaufen, wie du willst, aber auf der Akademie wirst du dich warm<br />

anziehen!“<br />

Shan sparte sich einen Kommentar.<br />

„Hast du verstanden, Shan?“<br />

Der Satz war keine wirkliche Frage, aber eindeutig war nur eine<br />

Antwort darauf akzeptabel; „Ja, Mom.“<br />

Kelly küsste ihr auf die Wange und Shan kam zu dem Schluss, dass es<br />

vielleicht doch gar nicht so verkehrt war, für eine Weile Abstand von<br />

Zuhause zu gewinnen, auch wenn das bedeutete, dass sie auf die<br />

Akademie musste. Ihr Vater räusperte sich unbehaglich. Ihm fiel der


Abschied keineswegs leichter, aber er vermochte es besser zu verbergen.<br />

Zumindest gab er sich große Mühe, aber als er Shan nun ebenfalls an<br />

sich drückte und sie sich einen langen und dennoch viel zu kurzen<br />

Moment später aus der Umarmung wieder lösten, sah sie deutlich, dass<br />

er kämpfte und seine wahren Gefühle mit einem für ihn typischen,<br />

überschwänglichen Grinsen überspielte. Außerdem gab es keinen Grund,<br />

Angst zu haben. Er war schließlich auch mal auf der Akademie gewesen<br />

und wusste, dass man dort auf die Jungs und Mädels aufpassen würde.<br />

Einigermaßen jedenfalls.<br />

„Tja.“, sagte er. „Jetzt ist Gestern Vergangenheit, hm? Jetzt wirst du<br />

erwachsen.“ Er kniete sich vor ihr hin und zupfte an ihrer Jacke herum,<br />

vermutlich, weil er nicht wusste, was er sonst mit seinen Händen<br />

anstellen sollte. „Jetzt... jetzt ist wohl der Moment gekommen, vor dem<br />

sich alle Eltern fürchten. Du verlässt du die Heile Welt der Kinderzeit.“<br />

„So ungefähr.“<br />

Er nickte wiederstrebend. „Aber wenn du mal jemanden brauchst,<br />

dann weißt du, wo wir sind okay?“<br />

„Ich weiß, Dad.“<br />

„Gut.“ Er lächelte. „Schau nur nach vorn, Shan, und nie zurück. Hör<br />

auf dein Herz und folge nur deinen Gefühlen. Und wenn man dir mal die<br />

Zähne zeigt, dann sei ruhig zum Kampf bereit, in Ordnung? Nimm nicht<br />

alles hin.“<br />

„Ja, Dad.“<br />

Es gab nichts mehr zu sagen. Matt nickte, erhob sich und trat ein paar<br />

Schritte zu Kelly zurück. Doch dann schien ihm doch noch etwas sehr<br />

wichtiges einzufallen. „Oh, und ehe ich es vergesse: Kein Alkohol, kein<br />

Kwanzaa, keine neuroimmersiven Traumbücher, kein Knutschen, keine<br />

Tetras, keine rituellen Tieropferungen jeder Art... Großer Vogel, ich gebe<br />

ihr nur Ideen.“<br />

Kelly stieß ihm in die Seite. „Matt...!“<br />

Shan rollte die Augen. Sie rückte ihren Rucksack zurecht und ging zur<br />

Pax, während die Einstiegsluke herunterfuhr. Doch als sie einsteigen<br />

wollte, verspürte sie den ersten Anflug von Unbehagen. Sie schaute<br />

unsicher zurück und sah, dass ihre Eltern winkten. Ihr Vater reckte<br />

zuversichtlich einen Daumen in die Höhe. Sie hoffte, dass sie selbst<br />

seine Zuversicht entwickeln würde. Shan atmete tief ein, und trat durch


die Einstiegsluke.<br />

In der Pax hatte sich nicht viel verändert, mal abgesehen davon, dass<br />

das Schiff intakt war und einige Schaltpulte weniger hatte, als vorher.<br />

Shan legte ihr Gepäck ab und warf den Rucksack auf den Sitz des<br />

Copiloten. Dann setzte sie sich hinter das Steuer und fuhr den Antrieb<br />

hoch. Die Einstiegsluke des Schiffes schloss sich mit einem dumpfen<br />

Schlag. Das war’s also, dachte Shan. Jetzt geht es los.<br />

Zur Akademie.<br />

Einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie stattdessen nicht einfach<br />

nach Risa fliegen sollte, aber sie wusste längst, dass sie das ohnehin<br />

nicht tun würde. Sha’Nyn Bartez stellte sich schwierigen Aufgaben.<br />

Wenn, dann würde die Akademie sie schon rauswerfen müssen.<br />

Nachdem sie eine letzte Systemüberprüfung vorgenommen hatte, hob<br />

sich das Schiff ein paar Meter in die Lüfte. Der Antrieb wirbelte Staub<br />

und Blätter davon. Unter der geschickten Führung der Piloten drehte sich<br />

die Pax um neunzig Grad. Shan aktivierte die Heckkameras und konnte<br />

ihre Eltern ausmachen. Sie standen an derselben Stelle wie zuvor und<br />

winkten noch immer, als wären sie mechanische Puppen, die man<br />

aufgezogen hatte. Shan bezweifelte, dass man sie von dort unten aus<br />

sehen konnten... und ihre Eltern konnten auch nicht sicher sein, ob Shan<br />

den Monitor eingeschaltet hatte und sie sah. Aber für ihre Eltern schien<br />

das irgendwie keine Rolle zu spielen. Wahrscheinlich würden sie dort<br />

stehen bleiben und winken, bis ihnen die Arme abfielen, und auch das<br />

würde für sie keine Rolle spielen. Shan hatte das Gefühl, dass sie noch<br />

winken würden, wenn die Pax schon längst außer Sicht war... und<br />

vielleicht auch noch ein paar Augenblicke länger.<br />

Als könne das Winken noch einen kurzen Moment die unvermeidbare<br />

Tatsache hinausschieben, dass sie nun, nachdem sie sechzehn Jahre ihre<br />

Tochter großgezogen hatten, allein zurückblieben. Shan seufzte kurz und<br />

richtete ihre stumme Aufmerksamkeit dann wieder auf die Kontrollen.<br />

Ein Lächeln wuchs auf ihren Zügen. Jetzt begann der lustige Teil des<br />

Tages. Shan gab vollen Schub und das Schiff donnerte davon.


Als die Pax hinfort jagte, rief Matt ihr hinterher: „Ich kenne übrigens<br />

jeden Sicherheitsbeauftragen an der Akademie!“<br />

Aber natürlich konnte Shan die Warnung – den Appell -, sich zu<br />

benehmen, nicht mehr hören. Und vermutlich hätte seine Tochter ihn<br />

ohnehin ignoriert – eben ganz, wie ein waschechter Bartez. Nun<br />

erwartete sie die Welt der Spät-Jugendlichen - Mit allem, was<br />

dazugehörte: Alkohol... Partys... und Männer. Dieser Gedanke behagte<br />

Matt am wenigsten, denn er wusste genau, was auf der Akademie vor<br />

sich ging. Dort hatte er schließlich Kelly kennen gelernt. Und wenn sie<br />

sich nach dem Unterricht zum Lernen getroffen hatten, hatten sie eine<br />

ganze Reihe von Dingen getan, die allesamt nichts mit dem Studium zu<br />

tun gehabt hatten... Er senkte seufzend die Hand, während Kelly noch<br />

immer dem kleiner werdenden Fleck am Himmel hinterher winkte, und<br />

auch nicht damit aufhörte.<br />

Da ging ihr Baby. Von jetzt auf gleich erwachsen. Zack, Boom! Es<br />

war so schnell gegangen, so unglaublich schnell!<br />

Matt runzelte die Stirn. Shan flog aber auch erstaunlich schnell. Ihre<br />

viel zu hohe Geschwindigkeit war deutlich am Röhren des Antriebes zu<br />

hören. Darüber mussten sie bei Gelegenheit noch ein ernsthaftes<br />

Gespräch führen. Matt sah weiter in den Himmel. Im einen Augenblick<br />

war das Shuttle noch über ihnen geschwebt und im nächsten, nicht mehr<br />

größer als ein Penny. Nach wenigen Sekunden war es ganz<br />

verschwunden. Kelly winkte noch ein paar Sekunden, dann ließ auch sie<br />

den Arm herab.<br />

Matt schüttelte verzweifelt den Kopf. „Sechzehn Jahre, Kelly.“, sagte<br />

er „Sie kann doch unmöglich so schnell groß geworden sein.“<br />

„Wie es aussieht... ist sie es.“<br />

„Aber... es ist erst einen Moment her, wo ich geblinzelt habe... da war<br />

sie noch ein Baby und lag in meinen Armen.“<br />

„Die Zeit vergeht schnell.“<br />

„Ich werde nie wieder blinzeln.“, beschloss Matt.


Sortak<br />

Er saß alleine und zusammengesunken an der Theke, und hielt sich an<br />

einem Glas Synthehol fest, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie er<br />

sich fühlen, oder was er nun machen sollte. In der Bar war es<br />

erschreckend still - was weniger an der frühen Tageszeit und dem damit<br />

einhergehenden Mangel an zahlreichen Besuchern lag, als vielmehr an<br />

der Tatsache, dass es sich um ein vulkanisches Etablissements handelte.<br />

In seinem bisherigen Leben hatte Sortak alle möglichen Bars, Gaststätten<br />

und Tavernen überall in der Föderation besucht. Andorianische.<br />

Menschliche. Selbst ein Chakoom-Selbstbedienungsladen gehörte zu<br />

seinem Geschichten-Reportoir. Kurioserweise hatte er aber nie eine Bar<br />

seiner eigenen Volksleute betreten. Als er heute morgen<br />

gedankenverloren durch das Vulkanierviertel von Sausalito gewandert<br />

war, hatte sich ihm schließlich die einmalige Gelegenheit geboten,<br />

diesen Umstand zu ändern - zumal die Bar, die er entdeckt hatte, im<br />

ganzen vulkanischen Bereich die einzige zu sein schien. Und es hatte nie<br />

einen Tag gegeben, an dem er einen Drink bitter nötiger gehabt hatte, als<br />

an diesem.<br />

In dem Moment, als er eingetreten war, hatte er dann unverzüglich<br />

begriffen, warum er bisher nie einen Fuß in eine vulkanische Bar gesetzt<br />

hatte: weil sie vulkanisch war. Und wie alles vulkanische, zeichnete auch<br />

sie sich durch furchtbar sterile Effizienz aus und eröffnete dem Besucher<br />

so ziemlich gar nichts von der Atmosphäre, die einen überhaupt erst dazu<br />

verleitete, sich in eine Bar zu begeben und nicht etwa in ein Cafe, oder<br />

ein öffentliches Replimat.<br />

Die Bar hießt „Einheimisch“ und bot genau das: eine große Anzahl<br />

Einheimischer. Sortak hatte nicht einen einzigen Nicht-Vulkanier in den<br />

Nischen und an den Tischen ausmachen können. Dementsprechend blieb<br />

die obligatorische Geräuschkulisse von lauten Unterhaltungen, dezenter<br />

Musik, fröhlichem Lachen und Männern und Frauen, die miteinander<br />

flirteten, oder das Glas aufeinander erhoben, völlig aus. Stattdessen<br />

erwartete den geneigten Besucher Nüchternheit und enervierende Ruhe.<br />

Mit anderen Worten: vulkanische Langeweile.


Sortak machte den Anschein sein Glas zu den Lippen heben, verharrte<br />

aber auf halber Strecke in der Bewegung und starrte einfach vor sich hin,<br />

ehe er nach einer ganzen Weile erst realisierte, dass er noch keinen<br />

einzigen Schluck getrunken hatte. Er hielt das Glas einfach nur fest.<br />

Genauso gut hätte er es auch einfach in seiner Hand zerdrücken können.<br />

Das würde zwar nicht besonders gut aussehen, aber auch keine<br />

Verbesserung, oder Verschlechterung seines Gefühlslebens hervorrufen.<br />

Dann begann seine Hand zu zittern und er stellte das Glas lieber wieder<br />

ab, ehe er es noch fallen lies.<br />

Sortak seufzte und warf einen unauffälligen Blick durch die Bar. Es<br />

kam ihm so vor, als wären alle Augen auf ihn gerichtet. Alle starrten ihn<br />

an. Da. Dieser Vulkanier in der Nische. Ein Botschafter, seiner Kleidung<br />

nach zu urteilen. Der Mann bemühte sich – vermutlich aus seltener<br />

Höflichkeit -, Sortak nicht anzustarren, was ihm aber ordentlich<br />

misslang. Und das andere Spitzohr dort drüben. Auch er schaute alle<br />

dreiunddreißig Komma fünf Sekunden von seinem Datenblock auf, um<br />

Sortak einen abschätzenden Blick zuzuwerfen. Ganz ähnlich wie das<br />

ältere Ehepaar am Eingang, das stumm zusammensaß. Auch sie blickten<br />

regelmäßig zu ihm herüber. Sortak kannte keinen von ihnen, aber er<br />

wusste, dass sie ihn alle analysierten.<br />

Er wusste es aus Erfahrung, denn für die meisten Vulkanier war es<br />

ungewöhnlich, einen der ihren zu sehen, wie er in einer Art durch die<br />

Gegend schritt, die man nicht anders als lässig bezeichnen konnte. Und<br />

Lässig war nun wirklich kein Wort, das man mit einem gebürtigen<br />

Vulkanier in Verbindung brachte. Genauso wenig, wie man von einem<br />

Vulkanier beträchtlich emotionale Augen und daraus resultierende<br />

Gesichtszüge, die bei Sortak meistens abweisend oder feindlich – aber<br />

ganz eindeutlich emotional - ausfielen, erwarten würde.<br />

Sortaks Kleidung – eine schwarze Hose aus einem einfachen,<br />

lederartigem Stoff, und ein ebenso schwarzes, wie eng anliegendes T-<br />

Shirt, welches seine beeindruckend ausgebildeten Oberarme und die<br />

dazugehöre Tätowierung auf der rechten Seite entblößte, zählte ebenfalls<br />

nicht zum üblichen Erscheinungsbild eines Vulkaniers. Alleine aufgrund<br />

seines Äußeren, war er sich in jeder Lebenslage der Neugierde, oder<br />

Zurückweisung seiner eigenen Landsleute ausgesetzt und das war auch<br />

heute nicht anders.


Allerdings war dieses Verhalten Sortak schon seit langer Zeit völlig<br />

egal. Er störte sich nicht mehr daran. Im Gegenteil. Er provozierte solche<br />

Reaktionen sogar, in dem er sich möglichst unvulkanisch verhielt, mehr<br />

noch, als es seiner stark ausgeprägten Persönlichkeit ohnehin schon<br />

entsprach. Und genau das, dieses Rebellieren gegen sein eigenes Volk,<br />

war der Grund, warum es ihn heute in diese Bar verschlagen hatte. Oder<br />

eher gesagt: Warum er in seinem noch jungen Leben von gerade mal<br />

dreiundzwanzig Jahren bereits in arge Schwierigkeiten und in die<br />

Strafkolonie von Neuseeland geraten war, aus der man ihn kürzlich<br />

entlassen hatte. Er hatte in der Tat einiges hinter sich.<br />

Aber nun wollte Sortak eine neue Richtung einschlagen. Ein neues<br />

Leben anfangen. Das Ticket in dieses neue Leben, hielt er in der rechten<br />

Hand. Nur war er sich absolut nicht sicher, ob er es auch einlösen sollte.<br />

Es handelte sich um eine unterschriebene Annahmebestätigung zum<br />

Vorbereitungsprogramm der Sternenflottenakademie – auch genannt,<br />

dem Frischlingsommer. Ein sechswöchiger Kurs, bei dem Fähigkeiten<br />

ausgebildet und einem Auswahlkomitee die Ernsthaftigkeit des<br />

Kandidaten demonstriert werden sollte. Bei einem positiven Ergebnis,<br />

konnte der Bewerber die komplette Ausbildung von vier Jahren an der<br />

Akademie beginnen. Die Frage war nur... ob Sortak das überhaupt<br />

wollte. Ob er auf der Akademie richtig war und sich dort zwischen all<br />

den Spielzeugsoldaten überhaupt einfügen konnte.<br />

Sortak legte die Annahmebestätigung säuberlich neben sich und sah<br />

dann auf den Drink vor seiner Nase. Er schüttete ihn in einem Schluck<br />

runter. Dann raunte er: „Noch einen.“<br />

Der Barkeeper war ebenfalls Vulkanier und er mixte die Getränke mit<br />

ruhiger Effizienz. Nun bedachte er Sortak mit gehobener Braue, ohne<br />

seine Arbeit zu unterbrechen. „Das ist... unlogisch.“<br />

„So? Was denn?“<br />

„Sie haben das Getränk in 0,086 Sekunden verzehrt. Dadurch hatten<br />

sie nicht nur keine Zeit, den Geschmack zu kosten, sondern konnten<br />

auch unmöglich den traditionell prickelnden Effekt des Syntehols-“<br />

Sortak straffte seine Schultern und fuhr ihm dazwischen. „Welchen<br />

Teil von >noch einen< hast du nicht verstanden, mein Freund? Das<br />

>nocheinen


weiteren Scotch, dem er ihm nur 9,24 Sekunden später auf die Theke<br />

stellte. Sortak nahm ihn mit einem ironischen hochziehen der rechten<br />

Braue entgegen und hielt dann das Getränk feierlich in die Höhe. „Ah,<br />

Scotch.“, sagte er laut, aber an niemand speziellen gewandt. „Das<br />

offizielle Getränk für Leute, deren Leben total verhunzt ist.“<br />

„Das wusste ich nicht.“, sagte der Barkeeper.<br />

„Das war ein Scherz.“<br />

„Das wusste ich auch nicht.“<br />

Sortak seufzte und senkte das Glas, während der Barkeeper begann,<br />

die anderen Gläser zu reinigen. Er warf ihm nur noch einmal einen Blick<br />

zu, der Sortak irgendwie davon abhielt, den Scotch erneut in einem Zug<br />

runterzuschlucken. Stattdessen nahm er nur einen kleinen Schluck und<br />

sah durch die Fenster nach draußen. Ein paar Hundert Meter entfernt, am<br />

Ende der Straße, befand sich die Shuttlebusstation Sausalito. Das war der<br />

Ort, wo heute ein Schiff der Akademie landen würde, um die neuen<br />

Kadetten aus diesem Viertel einzuladen. Ein paar Bewerber hatten sich<br />

bereits eingefunden. Ihre Familien waren auch da, vermutlich um sie zu<br />

verabschiedeten, ihnen Glück zu wünschen und zu sagen, wie stolz sie<br />

auf ihre Kinder waren.<br />

Sortak beobachtete sie aus der Distanz. Er hatte keine Familie, die ihn<br />

verabschieden würde. Keine geliebten Personen, die gekommen waren,<br />

um ihm Glück zu wünschen. Da war nur sein Vater, der ihm schon vor<br />

Jahren den Rücken gekehrt hatte, was Sortak für einen kurzen Moment<br />

mit leisem Bedauern erfüllte. Aus diesem Bedauern wurde Enttäuschung,<br />

als Sortak sah, wie die jungen Leute lachten, fröhlich ihre Arme um die<br />

Eltern schlangen, oder Fotos von sich machen ließen. Niemand wollte<br />

ein Foto von Sortak machen.<br />

Jetzt werde bloß nicht melodramatisch, schalte er sich.<br />

Er sah wieder auf die Annahmebestätigung. Sternenflotten Akademie.<br />

Er und die Akademie. Das konnte doch eigentlich gar nicht klappen.<br />

Oder? Er war keiner von denen. Er verfügte weder über die nötige<br />

Disziplin, noch über den Willen, sich jemandem unterzuordnen. Es war<br />

eine blöde Idee gewesen, sich dort zu bewerben. Sortak wollte das Papier<br />

gerade in seiner Hand zerknüllen, als jemand neben ihm sagte: „Wenn<br />

man sich für eine von zwei Wegen entscheiden muss, sollte man immer<br />

den Weg wählen, den man noch nicht kennt.“


Sortak drehte den Kopf und starrte verwundert auf die spitzohrige<br />

Gestalt, die plötzlich neben ihm aufgetaucht war. Ein Vulkanier. Ein<br />

älterer Vulkanier, wie es schien. Früher mochte er vielleicht sogar einmal<br />

sehr attraktiv gewesen sein. Heute hingegen verriet sein faltiges Gesicht,<br />

dass er nach einem langen und ereignisreichen Leben in der Galaxis<br />

Grund genug gehabt hätte, die Logik über Bord zu werfen und sich dem<br />

Chaos hinzugeben... doch er hatte sich beharrlich geweigert, es zu tun.<br />

Der Mann war mit einer weiten Robe mit breiten Schultern bekleidet.<br />

Sortak hatte keine Ahnung, wo er hergekommen war. Er hatte ihn nicht<br />

bemerkt, es war, als wäre er einfach erschienen. Und er kam ihm<br />

irgendwie vertraut vor, doch er konnte dem Gesicht keinen Namen<br />

zuordnen, obwohl es ihm auf der Zunge zu liegen schien.<br />

„Wer sind Sie?“, fragte er daher.<br />

Die Gestalt schwieg eine Weile. Als er ein weiteres Mal sprach,<br />

geschah das in einer ruhigen und gleichmäßigen Art, in der ein Hauch<br />

von Ironie mitschwang. „Ich bin in diesem Etablissement ein Gast, genau<br />

wie Sie. Und Sie sind Sortak, vermute ich.“<br />

Sortak runzelte argwöhnisch die Stirn. „Woher wissen Sie das?“<br />

„Ihr Ruf hat sich weit verbreitet, junger Sortak. Es gibt nicht viele<br />

Vulkanier, die angeklagt und zu einer Haftstrafe in einem<br />

Erdengefängnis verurteilt werden.“ Er hielt kurz inne. „Darf ich fragen,<br />

warum Sie hier sind?“<br />

Sortak verzog die Mine und drehte sich wieder nach vorn, von dem<br />

Mann weg. Es lief also erneut auf dieselbe alte Leier hinaus, auf einen<br />

wissensdurstigen, fremden Vulkanier, der irgendwann, irgendwo in den<br />

Nachrichten Sortaks Geschichte aufgeschnappt hatte, sein emotionales<br />

Verhalten nicht nachvollziehen konnte und nun mit logischer Präzision<br />

nähere Informationen erfragen wollte. Sortak starrte angestrengt in sein<br />

Glas und lies die Flüssigkeit im Inneren schwenken. „Um zu überlegen,<br />

wie es jetzt, nach der Entlassung aus meiner Haftstrafe, weiter geht. Was<br />

ich machen kann. Welche Richtung diese Irrfahrt, die sich mein Leben<br />

schimpft, einschlagen soll.“<br />

„Sie sind also Orientierungslos, wenn ich Sie richtig verstanden habe.“<br />

„So könnte man sagen, ja.“<br />

Der Mann neigte den Kopf. „Sie sind Vulkanier. Vulkanier sind nicht<br />

Orientierungslos. Sie geben ihrem Leben eine klare Richtung.“


Sortak lächelte bitter. „Ich bin kein typischer Vulkanier.“ Er nahm<br />

kurzen einen Schluck und wusch sich den Mund mit dem Handrücken<br />

ab. „War ich nie. Werde ich nie sein.“ Er schüttelte den Kopf. „Warum<br />

erzähle ich Ihnen das überhaupt?“<br />

„Vermutlich“, entgegnete der Mann. „Weil ich momentan der einzige<br />

bin, den es interessiert.“<br />

Sortak blickte wieder zu ihm herüber. „Und warum sind Sie so<br />

interessiert an meiner Person?“<br />

„Eine Ahnung.“ Der alte hielt wieder inne. „Ich erkenne gewisse...<br />

Parallelen.“<br />

Sortak lachte auf. „Mit mir? Unmöglich.“<br />

„Sie stehen vor der Entscheidung, auf die Sternenflotten Akademie zu<br />

gehen, wie auch ich einst.“<br />

„Sie sind Offizier der Sternenflotte?“, fragte Sortak.<br />

Der Fremde vollführte erneut eine geringfügige Neigung seines<br />

Kopfes. „War.“, korrigierte er. „Aber diese Zeit... liegt viele Jahre<br />

zurück.“<br />

„Hm.“ Sortak sah wieder auf die Annahmebestätigung in seiner Hand.<br />

„Ich weiß nicht, ob ich da hingehöre. Vielleicht sollte ich mich irgendwo<br />

anders durchschlagen.“<br />

„Vielleicht.“, sagte der Fremde. Er klang neutral, aber in der Art, wie<br />

er mit Sortak sprach, lag eine Spur Gewissheit. Als ob er mehr wüsste,<br />

als Sortak selbst. „Wäre dieser Weg ein befriedigender für Sie?“<br />

Das war die Frage, die Sortak sich schon die ganze Zeit über stellte,<br />

ohne die leiseste Ahnung zu haben, wie die Antwort lautete. „Ich...“ Er<br />

hielt inne. Ja oder nein. Es war eine einfache Frage. Mit einfachen<br />

Antwortmöglichkeiten. Warum war die Beantwortung so schwer? „Ich...<br />

weiß es nicht.“, gab er zu.<br />

„Dann spielt es keine Rolle. Bisher scheinen Sie mit der Methode‚<br />

sich... einfach so durchzuschlagen, nicht besonders gut gefahren zu sein,<br />

wie die Menschen sagen würden. Und wie ich eingangs erwähnte, sollte<br />

man, wenn man vor zwei möglichen Richtungen steht, die wählen, die<br />

man noch nicht kennt.“<br />

„Toller Spruch.“, meinte Sortak sarkastisch. „Haben sie das aus einem<br />

Glückskeks.“ Er drehte sich wieder nach vorn, legte den Kopf in den<br />

Nacken und schüttete den Rest seines Getränks in sich hinein. Der


Scotch prickelte ihm die Speiseröhre hinab. Dann stellte er das leere Glas<br />

kopfüber auf die Theke und als er sich zu dem Fremden umdrehen<br />

wollte...<br />

....war er verschwunden.<br />

Er war einfach nicht mehr in der Bar. Und auch nicht auf der Straße<br />

vor der Bar. Sortak blinzelte verwirrt. Er sah zum Barkeeper, doch der<br />

war mit seinen Gläsern beschäftigt. Sortak blieb noch ein paar Sekunden<br />

verwirrt sitzen und dachte über die Worte des alten Mannes nach.<br />

Schließlich schwang er seinen schweren Seesack über die Schulter und<br />

verließ das Lokal. Die Annahmebestätigung nahm er mit.<br />

Sortak blickte nach rechts und nach links, um den antiken und<br />

berühmtem Straßenbahnen, den sogenannten Cable Cars, zu entgehen,<br />

die sich noch immer durch die Häuserschluchten von San Fransisco<br />

bewegten. Man machte das für die Touristen, die von überall aus dem<br />

Föderationsraum das politische Zentrum der Erde – also San Fransisco –<br />

besuchten.<br />

Außerdem erhielt man noch eine ganz andere Tradition aufrecht: man<br />

rehabilitierte Ex-Sträflinge, um die Touristen zu bestehlen. Auch das galt<br />

als Attraktion, um den Reisenden einen Eindruck zu verschaffen, wie die<br />

Stadt früher war. Das Geld wurde unmittelbar nach dem Diebstahl<br />

wieder zurückgegeben. Meistens jedenfalls.<br />

Sortak wich der letzten Bahn aus und erreichte die andere Straßenseite.<br />

Die Shuttlebusstation lag relativ ruhig, ja regelrecht verlassen, am oberen<br />

Barrier, mit Blick auf das große Strand-Stadtgebiet, mit seinen unzählig<br />

grotesk schönen Häusern und Promenaden. Man hatte einen herrlichen<br />

Blick auf das Meer und die gewaltige Golden Gate Bridge. Verrückt,<br />

dass die Sternenflotte diesen Teil Sausalitos ausgerechnet an die<br />

Vulkanier für ihre Siedlung vergeben hatte, immerhin vermochten sie<br />

diese Schönheit zweifellos am wenigsten zu schätzen. Auf der anderen<br />

Seite des Pazifiks, dort wo die Brücke in das Napa-Valley überlief, lag<br />

ihr Bestimmungsort. Die Akademie. Die Akademie der Sternenflotte.<br />

Sortak schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.<br />

Wenigstens, so dachte er, würde er nicht allein dort hin reisen, was man


von den anderen Rekruten offenbar nicht sagen konnte. Inzwischen<br />

waren die Familienangehörigen verschwunden, die Shuttlebusstation<br />

stand beinahe leer. Zurückgeblieben waren die Jugendlichen von vorhin,<br />

die ebenfalls zur Akademie unterwegs waren.<br />

Auffällig waren nur zwei davon. Eine große, junge Andorianerin, mit<br />

kurzgeschnittenem, weißem Haar, der für die Mitglieder ihres Volkes<br />

typisch dunkelblauen Hautfärbung und den beiden Fühlern an der<br />

Stirnseite ihres Kopfes. Obwohl zwischen Vulkaniern und Andorianern<br />

vor langer Zeit blutige Kämpfe ausgefochten worden waren, wusste<br />

Sortak nicht allzu viel über ihre Sitten und Gebräuche, mal abgesehen<br />

davon, dass sie sich einen Namen als ein Volk von Kriegern gemacht<br />

hatten. Sortak war einfach nie genug an ihnen interessiert gewesen, um<br />

sich näher mit der andorianischen Kultur zu beschäftigen. Nur die<br />

Tatsache, dass sie die einzige Spezies darstellten, die mit einem<br />

Exoskelett Charakteristika der Säugetiere und Insekten verbanden,<br />

faszinierte ihn geringfügig.<br />

Bei der anderen auffälligen Gestalt handelte es sich um einen<br />

rundlichen, schweineartigen Tellariten. Wie alle Mitglieder seines<br />

Volkes war er weitestgehend Humanoid. Seine unteren Gliedmaßen<br />

endeten in gespalteten Hufen. Er hatte kleine Augen mit großen<br />

schwarzen Pupillen, die tief in den Höhlen lagen. Dafür war seine<br />

steckdosenartige Nase um so größer. Seine Haut wies eine pinkbraune<br />

Färbung aus und er war dich behaart mit einer langen blonden Mähne,<br />

buschigen Augenbrauen und einem Bart, der ihm das Aussehen eines<br />

Weihnachtsmannes verlieh. Eines schweineartigen Weihnachtsmannes.<br />

Sortak stellte sich einen Meter entfernt von ihnen dazu, und nickte<br />

zunächst der Andorianerin einen Gruß zu „Hallo.“<br />

Sie erwiderte den Gruß wortlos.<br />

Auch der Tellarit machte sich gar nicht erst die Mühe etwas zu sagen.<br />

Er grunzte nur schroff. Sortak sah auf sein Chronometer. Sie würde<br />

gleich eintreffen. Er legte seinen Feldsack ab, kramte einen kleinen<br />

Handphaser, den man auch Rasierer nannte, aus seiner Tasche hervor<br />

und steckte sich eine Zigarette an. Der Qualm wurde vom frischen<br />

Morgenwind San Franciscos davongetragen. Aus den Augenwinkeln<br />

bemerkte er jedoch, dass die hochgewachsene, zarte Andorianerin ihn<br />

verwundert betrachtete. Er steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel,


um seine rechte Hand frei zu haben und streckte ihr die Hand entgegen.<br />

„Ich bin Sortak.“, sagte er.<br />

Der Blick der Andorianerin wanderte von dem qualmenden Ding in<br />

seinem Gesicht, zu seiner Hand und wieder zurück. Schließlich erwiderte<br />

sie den Gruß mit festem Händedruck. Als sie sprach, geschah das mit<br />

einer wohlmodulierten, fast sanften Stimme, die wirkungsvoll die<br />

Tatsache verbarg, dass die Andorianer zu den tödlichsten Kriegern der<br />

Föderation gehörten.<br />

„Tala Era'Noor sh’Aqbaar.“, sagte sie. Mehr nicht. Sortak ging einfach<br />

davon aus, dass es sich dabei um ihren Namen handelte, und nicht etwa<br />

um eine Beleidigung. Und damit war das Gespräch mit ihr auch schon<br />

beendet. Keine optimale Begrüßung, aber er konnte damit leben.<br />

Insgeheim bereitete er sich darauf vor, die nächsten Minuten dazustehen,<br />

zu Rauchen und unangenehme Blicke zu ertragen, doch dann hörte er,<br />

wie jemand hinter ihm übertrieben auffällig hustete. Sortak runzelte zwar<br />

ansatzweise die Stirn, drehte sich aber nicht um.<br />

Es vergingen ein paar Sekunden, dann erklang das Husten erneut.<br />

Diesmal lauter als zuvor, damit Sortak es auch ja nicht überhörte. Und<br />

als er immer noch nicht reagierte, tippte ihm jemand von hinten ganz<br />

leicht auf die Schulter.<br />

„Ent...- Koff. Koff... - Entschuldigen Sie bitte. Würde es Ihnen etwas<br />

ausmachen, ihr Rauchinstrument zu deaktivieren?“<br />

Sortak nahm einen langen Zug an seiner Zigarette und drehte sich um.<br />

Ganz ... langsam. Er rechnete damit, einem großen, arroganten Kerl in<br />

die Augen zu sehen, mit dem er sich schon bald prügelnd auf dem Boden<br />

wiederfinden würde, und freute sich beinahe schon darauf, einem<br />

Schnösel den Hintern zu versohlen. Doch das Individuum, das er hinter<br />

sich vorfand, schien alles andere als eine Bedrohung darzustellen. Es<br />

handelte sich um einen angemessen zurückhaltenden Vulkanier – und<br />

zwar um den winzigsten Vulkanier, den Sortak je gesehen hatte. Er war<br />

gut und gerne zwei Köpfe kleiner als er, aber einigermaßen normal<br />

gebaut. Das kurzes, dunkle Haar war von geradezu gewaltigen<br />

Geheimratsecken zerfräßt, die im deutlichen Kontrast zu seinen<br />

bemerkenswert jungenhaften Zügen standen. Dieser Bursche war seinem<br />

Äußeren nach zu urteilen kaum älter als Zehn Jahre. Allerhöchstens.<br />

Und er war entweder außerordentlich mutig, oder außerordentlich


naiv, denn als Sortak sich vor ihm aufbaute, legte der Bursche zwar seine<br />

spitzen Ohren ein wenig an, aber das war auch schon der einzige<br />

Indikator von Verunsicherung, den Sortak an ihm ausmachen konnte.<br />

Darüber hinaus lies er sich in keinster Weise einschüchtern. Er schien<br />

völlig von sich und der Richtigkeit seines Wunsches, Sortak möge doch<br />

bitte sein Rauchinstrument deaktivieren, überzeugt zu sein. Als Sortak<br />

ausatmete, blies er ihm einen Schwall Rauch ins Gesicht, woraufhin der<br />

kleine Vulkanier nun einen richtigen, und nicht nur einen vorgetäuschten<br />

Hustenanfall bekam.<br />

„Und warum sollte ich das tun?“, fragte Sortak, während sein<br />

Gegenüber noch damit beschäftigt war, wieder zu Atem zu kommen.<br />

„Weil die sensorischen Systeme ...Koff. Koff... meiner olfaktorischen<br />

Wahrnehmung einen schädlichen Duftstoff identifizieren, der... Koff.<br />

Koff... ungesund ist.“, erklärte der Junge sachlich. „Sowohl für Sie...<br />

Koff. Koff... als auch für ihre Mitwesen.“<br />

Sortak musterte ihn prüfend. Der Bursche hatte Mut, das musste er<br />

dem Kleinen lassen. Oder aber, er begriff nicht, in welcher Gefahr er<br />

schwebte, einen Mann wie Sortak anzusprechen. Vermutlich war er<br />

einfach nur so naiv anzunehmen, alle Lebewesen dieses Universums<br />

seien dicke Freunde. Vermutlich hatte er noch nie in seinem Leben um<br />

selbiges kämpfen müssen. Aber das wollte Sortak ihm nicht zum<br />

Vorwurf machen, denn dort, wohin er – wohin sie alle - unterwegs<br />

waren, war der Vulkanier mit seiner friedlich naiven Einstellung<br />

garantiert richtig aufgehoben.<br />

Sortak überlegte einen Moment, ob er den kleinen Kerl darauf<br />

aufmerksam machen sollte, dass diese Zigaretten schon seit<br />

Jahrhunderten keine schädlichen Elemente mehr enthielten, und lediglich<br />

zu einer ärgerlichen Angewohnheit wurden, sobald man ihnen einmal<br />

verfiel, entschied sich aber dagegen. Er verspürte kein Interesse an einer<br />

langen Debatte und nickte daher. „Hast ja recht, Junge.“ Er lies seine<br />

Zigarette auf den Boden fallen und trat sie mit der Schuhspitze aus.<br />

Das Gesicht seines Gegenübers erhellte sich und er war zweifellos<br />

beträchtlich stolz darauf, die Situation friedlich gemeistert zu haben. „Ich<br />

danke Ihnen vielmals.“, sagte er. „Sehr freundlich von Ihnen.“<br />

„Kannst ruhig du zu mir sagen.“<br />

„Nun... dann danke ich Ihnen, Du.“


Sortak starrte ihn einen Moment lang an. „Nein...“, sagte er dann.<br />

„Duzen. Du kannst mich duzen.“<br />

„Aha. Dann danke ich dir, Du.“<br />

„Soll ich ihn töten?“, flüsterte Tala leise. Der Tellarit stieß unterdessen<br />

ein schweinisch grunzendes Lachen aus. Sortak schloss für einen kurzen<br />

Moment die Augen und rieb sich den Nasenrücken, während er<br />

versuchte ruhig zu bleiben. Er spürte, dass er kurz davor stand, die<br />

Geduld zu verlieren. Doch er kämpfte dagegen an. Er hatte nie die<br />

Konzentration und Selbstdisziplin besessen, die einen Vulkanier<br />

normalerweise auszeichneten - und vermutlich war genau das der Grund,<br />

weshalb er in seinem bisherigen Leben immer nur in Schwierigkeiten<br />

geraten war. Weil er sich von seinen Emotionen leiten ließ – und die<br />

waren leider sehr mächtig und ohne Disziplin (die er nicht hatte) kaum<br />

kontrollierbar. Es lief darauf hinaus, dass Sortak versuchen musste –<br />

wenn er sich tatsächlich diesen Typen anschließen wollte -, etwas<br />

toleranter zu sein. Erst recht, wenn er es mit Leuten zu tun hatte, die ein<br />

wenig schwer von Begriff waren, denn die schienen immerhin in<br />

beträchtlicher Überzahl aufzutreten.<br />

Also griff er kurzentschlossen nach vorn, um die Hand des Vulkaniers<br />

in seine eigene zu legen. Dann übte er sanften Druck aus, führte die<br />

Hand seines Gegenübers wellenartig nach oben und nach unten, und sie<br />

begannen sich die Hände zu schütteln. „Sortak.“, erklärte er mit einem<br />

milden Lächeln, das hoffentlich überzeugend wirkte. „Mein Name... ist<br />

Sortak. Nicht >Du


Materietransporters den Seehandel überflüssig machte?“<br />

„Das ist korrekt.“<br />

„Und was ist an Hamburg dann so besonders?“<br />

„Nun...“ Yoko verfiel plötzlich in eine merkwürdige Starre, während<br />

er ganz offensichtlich über diese Frage nachdachte. Sortak glaubte fast<br />

zu hören, wie im Schädel des Vulkaniers ein paar staubige und seit<br />

langer, langer Zeit unbenutzte Zahnräder zu quietschten begannen.<br />

Leider schien der Mechanismus irgendwo zu hängen. Dann, nach einer<br />

gewissen Zeitspanne, erklärte Yoko, als hätte er plötzlich die letzten<br />

dreißig Sekunden vergessen: „Ich komme aus Hamburg. Warst du schon<br />

einmal in Hamburg? Das ist eine der wichtigsten Metropolen der Erde.<br />

Was sind deine Hobbys?“<br />

Sortak öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder.<br />

Tala schien nicht minder verblüfft zu sein. Sie musterte Yoko, als hätte<br />

er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Der Tellarit hatte seine Stirn noch<br />

mehr gerunzelt, als sonst.<br />

„Weißt du, was meine Hobbys sind?“, fuhr der kleine Vulkanier fort,<br />

den es anscheinend nicht interessierte, ob er eine Antwort auf seine<br />

vorherigen Fragen erhielt. Vielleicht hatte er sie schon wieder vergessen.<br />

„Ich höre sehr gerne Musik und schreibe seit sechs Jahren Bücher.“<br />

„So?“ Das konnte sich Sortak nur schwer vorstellen. „Und welche<br />

Bücher hast du geschrieben?“<br />

„Bisher noch gar keines.“<br />

Sortak starrte ihn an. „Gar ... keines.“, wiederholte er gedehnt.<br />

Yoko nickte.<br />

Eigentlich wollte es Sortak gar nicht wissen. Er war schlicht<br />

uninteressiert daran, dieses Gespräch auch nur für weitere zehn<br />

Sekunden fortzusetzen. Aber dennoch bewegte ihn eine an Wahnsinn<br />

grenzende Neugierde dazu, zu fragen: „Und warum nicht?“<br />

„Ich leide an einer Schreibblockade.“<br />

„Du... leidest also an einer Schreibblockade...“<br />

„Ja.“<br />

„Seit sechs Jahren...“<br />

„Ja.“<br />

„Und hast daher noch nie ein Buch geschrieben...“<br />

„Ja.“


„Sagst aber trotzdem, dein Hobby sei es, Bücher zu schreiben...“<br />

„Ja.“<br />

Sortak wandte dem Vulkanier den Rücken zu. und beschloss, ihn<br />

einfach zu ignorieren. Das war ziemlich brüsk, aber in dieser Situation<br />

das einzig vernünftige, wie er fand.<br />

Yoko lies sich davon aber kein bisschen beeindrucken. Er fragte: „Du<br />

bist ein V’tosh ka’tur, nicht wahr? Ein Vulkanier ohne Logik. Eine<br />

kleine Minderheit in der vulkanischen Bevölkerung, die ihren Gefühlen<br />

freien Lauf la-“<br />

Sortak wandte sich wortlos dem kleinen Vulkanier zu und packte ihn<br />

mit großen Händen an den Schultern. Er drehte ihn herum und gab Yoko<br />

einen kleinen Schubs, woraufhin er zu Tala stolperte.<br />

„Hallo.“, begrüßte er sie. „Ich bin Yoko. Ein paar Fakten zu-“<br />

„Ich warne dich, Vulkanier.“, knurrte Tala bedrohlich. „Ich stamme<br />

aus einer Kriegerfamilie, und Andorianer sind eine leidenschaftlich<br />

gewalttätige Spezies...“<br />

Der Tellarit murmelte etwas in schroffem tellaritisch. Es handelte sich<br />

wahrscheinlich um eine Obszöne Bemerkung und Sortak war froh, dass<br />

er nicht verstand, worum es ging. Tala schickte ihm einen kurzen, aber<br />

vernichtenden Seitenblick und wandte sich dann wieder dem kleinen<br />

Vulkanier zu. „... und diese Gewalt wenden wir am liebsten gegen<br />

Vulkanier an, die uns seit jeher unterdrückt, ausspioniert und bekämpft<br />

haben. Und das ... mögen wir ... gar nicht.“<br />

Yoko legte die spitzen Ohren an. Er verstand die Warnung, drehte sich<br />

sofort um und begrüßte stattdessen den Tellariten.<br />

„Hallo. Mein Name ist Yoko. Und Sie sind?“<br />

Der Tellarit beäugte Yoko von oben bis unten. „Durkin.“<br />

„Oh. Das ist ein sehr merkwürdiger Name für einen... uh... was sind<br />

sie noch gleich?“<br />

Durkin öffnete erstaunt den Mund und schloss ihn dann wieder. Einen<br />

Augenblick lang dachte er, Yoko wolle ihn veräppeln. „Machst du<br />

Witze, Vulkanier?“<br />

„Eigentlich nicht.“<br />

„Ich bin ein Tellarit! Es überrascht mich, dass du nicht von selbst<br />

darauf gekommen bist. Meine Spezies ist doch in der ganzen Galaxis<br />

bekannt!“


Tala murmelte „Ja, als Nervensägen“, aber die beiden hörten sie nicht.<br />

Was vermutlich besser war.<br />

Yokos Blick konzentrierte sich auf Durkin, als sehe er ihn jetzt zum<br />

erstenmal. „Ja, allerdings.“ Er dachte einen Moment nach. „Nun, Durkin<br />

ist ein sehr merkwürdiger Name für jemanden von Tellar.“<br />

Durkin beäugte ihn misstrauisch. „Warst du je auf Tellar?“<br />

„Nun... nein.“<br />

„Was weißt du dann darüber?“<br />

„Tellar.“, sagte Yoko, als würde er einen bestimmten Eintrag in einem<br />

Bibliothekscomputer abrufen, und begann zu plappern. „Laut<br />

vulkanischer Datenbank ein Planet, der innerhalb der Föderation bekannt<br />

ist für sein raues Klima. Die Bewohner beliefern viele private Konzerne<br />

mit wertvollen Industriegütern und sind fleißige Ingenieure, dafür aber<br />

auch in vielen unserer Schriften als schreckhaft, ja geradezu ängstlich<br />

beschrieben.<br />

„Schreckhaft, ja geradezu ängstlich?“, rief Durkin und wurde<br />

schlagartig äußerst bombastisch. „Schreckhaft, ja geradezu ängstlich?!<br />

Das ist ja wohl... das ist ja wohl...-“<br />

„Genau das, was in unserer Datenbank steht.“, sagte Yoko in<br />

unendlicher Geduld.<br />

„Unsinn! Du lügst!“<br />

„Vulkanier lügen nicht.”, sagte Tala mit einem verschlagenen Grinsen.<br />

„Wir sind nicht schreckhaft!“, plusterte sich Durkin auf. „Und erst<br />

recht nicht ängstlich!“<br />

„Durkin.“, sagte Sortak leidenschaftslos, wobei er aber darauf achtete,<br />

die Betonung besonders auf die zweite Silbe zu legen. Er hatte bereits<br />

ein wenig Praxis im Umgang mit Tellariten, was ihm nun zur Hilfe kam.<br />

„Yoko hat da was verwechselt. Was er meint sind keine Tellariten,<br />

sondern Tellurier.“<br />

Durkin starrte ihn verständnislos an.<br />

Sortak erklärte: „Wenn du kein Tellurier bist, dann trifft diese<br />

Beschreibung auch nicht auf dich zu.“ Sortaks Stimme war neutral und<br />

der Tellarit bemerkte den leichten Sarkasmus überhaupt nicht, weil<br />

menschlicher Sarkasmus für Tellariten ein Zeichen des Respekts war.<br />

„Gut.“, sagte Durkin. „Das ist für mich akzeptabel.“ Er schüttelte<br />

pikiert seine Mähne und wurde wieder ruhig. Die Situation war


entspannt.<br />

Yoko verspürte den Drang, sich zu entschuldigen. „Dann habe ich<br />

mich geirrt. Es scheint, als hätten wir es hier mit einem Fauxpas zu tun<br />

gehabt. Das kann passieren.“<br />

„Fopah!“, brüllte Durkin. Er wirbelte herum. „Du wagst es?! Du wagst<br />

es, mich einen Fopah zu nennen? Uns erst als schreckhaft, ja geradezu<br />

ängstlich bezeichnen und mich dann auch noch beleidigen?? Ist dir<br />

eigentlich klar, Vulkanier, dass du mir – meiner ganzen Spezies - mit<br />

diesem Wort den Krieg erklärt hast? Ich werde umgehend meine<br />

Regierung informieren!“<br />

„Was?!“ Yoko war sprachlos. Er schaute sich um. „Könnte bitte<br />

jemand...“<br />

Sortak sah ihn vorwurfsvoll an und hatte fast Mitleid. Er musste sich<br />

bemühen, trotz der ernsten Situation nicht die Augen zu verdrehten. „Es<br />

liegt an diesem Wort, Yoko.“<br />

„An welchem Wort? Was...“ Dann riss er die Augen auf, als er begriff.<br />

Sortak nickte und rief: „Durkin.“<br />

Der Tellarit eilte bereits in Richtung tellaritische Botschaft, dann<br />

wirbelte er auf dem Absatz herum und rief: „Was willst du, Vulkanier?“<br />

„Das Wort. Es entstammt aus der irdischen Sprache und wird F-A-U-<br />

X-P-A-S buchstabiert, nicht F-O-P-A-H. Es hat mit der obszönen<br />

tellaritischen Beleidigung, von der du geglaubt hast, Yoko hätte sie<br />

ausgesprochen, nichts zu tun. Man sagt es oft anstelle von Fehler.“<br />

„Was?“, sagte der verwirrte Tellarit. „Was?!“<br />

Yoko trat vor und nickte eifrig. „Es ist so, wie er sagt, Durkin. Es<br />

handelt sich lediglich um eine irdische Redewendung, die sich auf<br />

Lebewesen bezieht, die einen Irrtum begehen. Es hat nichts mit dem<br />

Wort zu tun, von dem du dachtest, dass ich es ausgesprochen habe – ich<br />

habe nicht einmal daran gedacht.“<br />

„Yoko hier bittet wegen seiner erneuten Tölpelhaftigkeit völlig<br />

zerknirscht in aller Form um Vergebung.“, erklärte Sortak und schlug<br />

dem kleinen Vulkanier leicht gegen den Hinterkopf. „Nicht wahr?“<br />

„Au.“, machte Yoko. „Also so war das ja nun auch wieder n...“<br />

„Sie sei ihm gewährt.“, grunzte Durkin. Er schüttelte erneut seine<br />

Mähne aus und kehrte hoch erhobenen Hauptes zu ihnen zurück, was<br />

Tala zu einem Kopfschütteln veranlasste.


„Ich freue mich, dass die Sache aus der Welt ist.“, sagte Yoko<br />

erleichtert. „Selbst in unserer fortgeschrittenen Zeit kann es bei der<br />

Kommunikation schon mal Zoff geben, wenn...“<br />

„Zoff!“, heulte der Tellarit und wirbelte erneut herum. „Wie kannst du<br />

es wagen....!“<br />

Tala verdrehte entnervt die Augen. Sortak legte seine Hand auf<br />

Durkins rechte Schulter, um ihn mit überraschend eiserner Kraft davon<br />

abzuhalten, wieder in Richtung vulkanische Botschaft zu stiefeln. „Bitte,<br />

Durkin.“, sagte er bemüht diplomatisch. „Wir sind doch alles erwachsene<br />

Wesen.“<br />

„Das.“, murmelte Tala „Wage ich zu bezweifeln.“<br />

Durkin warf ihr aus seinen Schweinsäuglein einen argwöhnischen<br />

Blick zu. „Selbstverständlich bin ich erwachsen.“, brummte er. „Ich bin<br />

schon sieben Jahre alt! Es behagt mir nur nicht, wenn man so respektlos<br />

mit mir spricht!”<br />

„Den Tellariten behagt nichts in dieser Galaxis.“, sagte Tala. „Was in<br />

etwa dem entspricht, wie die Galaxis die Tellariten sieht.“<br />

Aus Durkins Bauchhöhle kam ein Geräusch, dass sich anhörte, wie<br />

Steine, die in einem Wäschetrockner herumgeschleudert wurden –<br />

obwohl keiner der vier nicht-Menschen jemals einen Wäschetrockner<br />

gesehen, oder auch nur davon gehört hatte, sodass ihnen der Vergleich<br />

nicht viel gesagt hätte.<br />

Durkin grollte: „Sollte das etwa eine Beleidigung sein, Andorianerin?“<br />

Tala sah ihn mit böse funkelnden Augen an. „Es sollte keine sein, es<br />

war eine. Du gehst mir auf die Nerven! Deine unaufhörliche Streitlust<br />

kann auch die geistig gesündesten Wesen in den Irrsinn treiben.“<br />

„Tala...“, warnte Sortak.<br />

„Was verstehen denn die Andorianer von geistiger Gesundheit?”,<br />

fauchte Durkin. „Ihr mit eurem Etepetete und eurem Gelispel. Und ihr<br />

bezeichnet euch als Kriegervolk! Ihr würdet nicht einmal die ersten fünf<br />

Minuten eines tellaritischen Erwachsenenritus überleben!“<br />

„Durkin...“, warnte Sortak.<br />

Natürlich wurde er von beiden ignoriert.<br />

Tala zischte Durkin an: „Würdest du bitte in eine andere Richtung<br />

sprechen? Bei deinem Atem rollen sich meine Antennen ein.“<br />

Durkin krempelte wutschnaubend seine Ärmel hoch und stürmte sofort


los, wie übrigens auch Tala, die sich mit rasender Geschwindigkeit<br />

bewegte. Yoko stotterte überrascht etwas. Und in dem Moment, als sich<br />

die beiden Streithähne an den Kragen gehen wollten, traten sie auf die<br />

Bremse, um nicht in Sortak hineinzurennen, der plötzlich zwischen ihnen<br />

aufragte. Er war gut einen Kopf größer, doppelt so stark wie die beiden<br />

zusammen, und wirkte mit seinem breiten Kreuz wie eine Mauer. Er<br />

langte zu den Seiten, um eine Hand auf Durkins und die andere auf Talas<br />

Schulter zu legen.<br />

„Eigentlich sollte es mir ja egal sein, ob ihr beide euch hier<br />

auseinandernehmt, oder nicht. Eigentlich sollte sogar ich derjenige sein,<br />

der euch auseinander nimmt. Ich komme gerade aus einer Strafkolonie<br />

und dort ist solcher Umgang nicht selten. Aber ich versuche ein neues<br />

Leben anzufangen. Eines, in dem Gewalt keine vorherrschende Rolle<br />

spielt. Eines, in dem ich wohl oder übel mit Leuten wie euch<br />

koexistieren muss, auch wenn ich ihnen gerne die Antennen ausreißen<br />

würde. Wenn ich mich beherrschen kann, dann könnt ihr das auch.“<br />

Plötzlich verstärkten seine Hände ihren Druck auf Talas und Durkins<br />

Schultern, dann riss er beide herum, sodass sie sich ansehen mussten.<br />

„Wenn nicht, dann werde ich eure Dickschädel zusammenschlagen.<br />

Habe ich mich klar ausgedrückt?“<br />

„Vulkanier, du verstehst nicht, wie nervig dieser...“, begann Tala.<br />

Gleichzeitig sagte Durkin: „Ich werde nichts akzeptieren, nur weil...“<br />

Sortak schlug ihre Köpfe zusammen. Er tat es verhältnismäßig sanft;<br />

er hätte viel mehr Kraft einsetzen können. Aber das Geräusch, mit dem<br />

die Schädel zusammenprallten, war recht laut, wie er zufrieden<br />

feststellte. Mit dem beeindruckenden Schrei, den beide gleichzeitig<br />

ausstießen, war er gleichermaßen zufrieden. Tala war als erste wieder auf<br />

den Beinen, obwohl kein Zweifel bestand, dass sich für sie die<br />

Umgebung schwindelerregend drehte.<br />

Durkin rieb sich schielend die Nase und grummelte. „Ich möchte<br />

wissen, wie lange alle noch damit fortfahren wollen, Tellariten mit so<br />

wenig Respekt zu behandeln.“<br />

„Irgendwann wird auch dir auffallen, Durkin.“, sagte Sortak seufzend.<br />

„dass es ebenso aus dem Wald herausschallt, wie man hineinruft.“<br />

Durkin stierte ihn finster an, dann flog sein Kopf plötzlich herum.<br />

„Was war das?“, fragte er. Sein Blick war auf Yoko konzentriert, der


etwas gemurmelt hatte. Nun weiteten sich Yokos Augen. Die Tellariten<br />

hatten offenbar ein ebenso gutes Gehör, wie Vulkanier.<br />

„Was hast du da über mich gesagt?“, verlangte Durkin zu wissen.<br />

Yoko zögerte. „Ich sagte, du bist ... ein Esel.“<br />

Zunächst herrschte totenstille. Doch dann schien der Tellarit<br />

tatsächlich zu lächeln. Er machte sie groß und deutete mit seiner<br />

haarigen Pranke auf den kleinen Vulkanier und sagte mit ernstem<br />

Tonfall: „Ich danke dir.“<br />

Yoko blinzelte verblüfft. „Nicht der Rede wert... denk ich.“<br />

Durkin deutete auf ihn und sagte zu den anderen Anwesenden: „Hier<br />

ist endlich mal jemand, der weiß, wie man einem Tellariten mit Respekt<br />

begegnet!“ Er stiefelte zu seiner Tasche zurück und war offensichtlich<br />

stolz auf seinen Abgang.<br />

„Was habe ich denn gesagt?“, fragte Yoko leise an Sortak gewandt.<br />

„Du hast ihm ein Kompliment gemacht.“<br />

„Wirklich?“<br />

„Frag nicht...“<br />

In dem Moment zeigte Tala mit dem Finger in den Himmel und sagte:<br />

„Seht nur!“<br />

Die beiden Vulkanier und der Tellarit drehten sich in die Richtung, in<br />

die sie deutete.<br />

„Wo?“, fragte Durkin. „Ich sehe nichts!“<br />

„Natürlich siehst du nichts.“, zischte Tala. „Weil eure tellaritischen<br />

Augen genauso unterentwickelt sind, wie eure Umgangsformen.“<br />

Durkin wollte etwas bissiges erwidern, doch dann bemerkte auch er,<br />

dass sich ein Schiff näherte. Er hörte das Brüllen des Antriebes, lange<br />

bevor er etwas sah – was, wie er zugeben musste -, bei den Tellariten<br />

meistens der Fall war. Sie waren tatsächlich etwas kurzsichtig. Also kniff<br />

er die Augen zusammen und starrte angestrengt in den Himmel, dorthin,<br />

wo das Geräusch herkam. Doch so weit entfernt war alles unscharf. Da<br />

war nur ein verwaschener Punkt, dessen Umrisse deutlicher wurden, je<br />

näher er kam – zweifellos ein Raumschiff. Und das Schiff näherte sich<br />

schnell! Seine Geschwindigkeit war erschreckend. Im einem Moment<br />

war es noch ein kleiner Punkt am Himmel und im nächsten schwebte es<br />

einige Meter über ihren Köpfen, senkte sich langsam herab und wirbelte<br />

dabei Blätter auf. Aber nicht nur die Geschwindigkeit des Schiffes war


erschreckend, sondern auch... sein Äußeres.<br />

Durkin stierte das Schiff aus seinen Schweinsaugen an. Vor ihm<br />

landete etwas, dass aussah, wie eine misslungene Kreuzung aus einem<br />

Runabout-Shuttle, einem Wohnmobil und einem sehr erstaunten<br />

Goldfisch. Das Ding, das man nur wage als Schiff identifizieren konnte,<br />

schien aus unschönen Komponenten zusammengebaut zu sein, die von<br />

anderen Fahrzeugen abgefallen waren.<br />

„Das soll unsere Transportgelegenheit sein?“, fragte er mit schroffer<br />

Stimme.<br />

„Nein.“, entgegnete Sortak. „Das ist meine Transportgelegenheit.“<br />

Das Schiff landete auf der Straße und Augenblicke später wurde die<br />

Einstiegsluke an der Seite herabgelassen. Sortak setzte sich in Bewegung<br />

und lächelte munter, als Shan in der Tür erschien. Sie trug einen<br />

verschlissenen Rucksack, Stiefel und eine kurze Lederjacke. Ihr blondes<br />

Haar hing ihr zu den Schultern herab und war etwas kürzer als beim<br />

letzten Mal, als sie sich gesehen hatten. Gleichgeblieben war allerdings<br />

das für sie typische Grinsen, als sie mit freudestrahlend leuchtenden<br />

Augen hinab in seine Arme sprang, um ihn zu umarmen. Sortak hatte sie<br />

nicht mehr gesehen, seit man ihn vor fast zwei Jahren ins Gefängnis<br />

eingeliefert hatte.<br />

Eine halbe Ewigkeit, wenn man bedachte, wie sehr sie früher<br />

aneinander gehangen hatten. Sie waren praktisch zusammen<br />

aufgewachsen und ihre Beziehung ging über bloße Freundschaft weit<br />

hinaus. Zwischen ihnen herrschte ein so starkes Band und so viel<br />

Loyalität, dass man sie ebenso gut auch als Geschwister hätte bezeichnen<br />

können, und so ähnlich waren auch ihre Rollen verteilt. Denn als<br />

größerer Bruder war es stets Sortaks Aufgabe gewesen, auf seine kleine<br />

Schwester aufzupassen. Er erinnerte sich daran, wie ihre Eltern, ihn,<br />

immer bevor sie zum Spielen aufbrechen wollten, kurz zur Seite<br />

genommen und gesagt hatten, er müsse dafür sorgen, dass Shan<br />

zurechtkam und dass ihr nichts geschah, weil sie etwas wild war, und<br />

weil er einen positiven, beruhigenden Einfluss auf sie hatte – was zwar<br />

schwer vorstellbar war, aber den Tatsachen entsprach. Er hatte dann<br />

immer genickt und jeden verscheucht, der Shan auch nur schief<br />

angeschaut hatte, selbst, wenn es jemand aus einer viel höheren Klasse<br />

war. Zwar konnte Shan ganz gut auf sich selbst aufpassen, aber Sortak


wusste, dass sogar starke Menschen Kraft aus den Personen in ihrer<br />

Umgebung zogen. Also war er immer für sie da gewesen, um sie zu<br />

schützen, was sich erst durch seinen Zwangsaufenthalt im Gefängnis<br />

geändert hatte, wo ihm das erste Mal für längere Zeit voneinander<br />

getrennt waren. Und da er keinen Besuch hatte empfangen dürfen, war es<br />

ihnen nur möglich gewesen, den Kontakt über regen Brief- und<br />

Videoverkehr aufrecht zu erhalten.<br />

Jetzt zog er sich aus der Umarmung zurück, um Shan aufmerksam<br />

betrachten zu können. „Du bist groß geworden.“, stellte er fest. „Und<br />

dein Haar ist kürzer.“ Aber sie hatte noch immer das gleiche spöttische<br />

Lächeln und die aufmerksamen blauen Augen, mit denen sie die Welt<br />

analysierte - Die aufmerksamsten, neugierigsten Augen, die er je<br />

gesehen hatte. Sie und Sortak waren wie die positive und die negative<br />

Version des gleichen Bildes. Sie: strahlend und offen, er: dunkel und in<br />

sich gekehrt. Ein ungleiches paar. Aber es hatte immer funktioniert, sie<br />

hatten nie miteinander im Streit gelegen.<br />

„Du warst aber auch ganz schön fleißig, wie es aussieht.“,<br />

kommentierte sie seine eindrucksvollen Oberarme.<br />

„Woher hast du gewusst, dass ich mich doch dazu entschließe, die<br />

Herausforderung anzunehmen, und nicht einfach fortgehe?“<br />

„Instinkt.“ Sie tippte gegen ihre Schläfe. „Ich stand schließlich vor<br />

derselben Entscheidung.“<br />

„Kann’s kaum glauben, dass dich deine Eltern doch noch rumgekriegt<br />

haben.“<br />

Shan seufzte. „Erinnere mich nicht...“ Dann deutete sie zur Pax.<br />

„Bereit?“<br />

Sortak hob seinen Seesack auf. „Klar. Kann losgehen.“<br />

Shan nickte über seine Schulter hinweg zu den anderen dreien. „Hey,<br />

was ist mit euch?“, rief sie. „Seid ihr auch auf dem Weg zur Akademie?“<br />

Allgemeines Nicken.<br />

„Wie wär’s, ihr könnt mit uns fliegen. Ich habe kein Problem damit<br />

euch mitzuholen. Oder wollt ihr lieber im Schultransport abgeholt<br />

werden... wie die anderen Kinder?“<br />

Durkin plusterte sich auf. „Waaas? Wie kannst du es wagen?”<br />

Shan hob die Brauen und zeigte sich insgesamt recht wenig<br />

beeindruckt von seiner Empörung. „Willst du jetzt, oder nicht?“


Durkin schaute nach links, dann nach rechts und dann grunzte er laut.<br />

„Selbstverständlich will ich. Ich bin schließlich kein Kind. Ich bin sieben<br />

Jahre alt!“<br />

Er warf den Kopf in den Nacken und stolzierte mit hoch erhobener<br />

Nase in die Pax hinein, wo er sich als erstes ausgiebig über die<br />

Einrichtung beschwerte, die alt, unbequem, hässlich und einem<br />

Tellariten nicht würdig sei. Tala versuchte ihn bestmöglich zu ignorieren<br />

und entschied sich für den Sitzplatz ganz hinten im kleinen Steuerraum.<br />

Es war ein Reflex. Als Andorianerin hatte sie es sich bei der Teilnahme<br />

an einem Austauschprogramm im klingonischen Reich angewöhnt, in<br />

jedem Raum dort zu sitzen, wo sie am weitesten von der Tür entfernt war<br />

– und wenn möglich mit dem rücken zur Wand. Damit verhinderte sie,<br />

dass sich jemand anschleichen und sie von hinten angreifen konnte. Die<br />

Tatsache, dass sie an Bord dieses Schiffes kaum jemand angreifen<br />

würde, spielte dabei keine Rolle. Die Macht der Gewohnheit obsiegte.<br />

Und Vorsicht, war besser als Nachsicht.<br />

Direkt neben ihr, lediglich durch eine klapprige Konsole getrennt,<br />

setzte sich Yoko hin und blickte sich fasziniert um. Irgendwie erweckte<br />

er auf Tala den Anschein bemüht logisch zu sein. So, als sei er im<br />

Grunde gar kein Vulkanier, würde aber dennoch wie einer denken und<br />

handeln wollen - und dabei maßlos übertreiben.<br />

Shan schloss die Tür und rutschte hinter die Pilotenkontrollen, was<br />

Durkin dazu veranlasste, die Schweinsnase zu rümpfen. „Warum steuert<br />

denn die das Schiff?“<br />

Shan wandte sich im Pilotensitz zu ihm um. „Weil es mein Schiff ist<br />

und weil ich es steuern kann. Zumindest... wenn ich nicht gerade<br />

abstürzte.“<br />

„Waaas?“<br />

Sie schenkte ihm keine Beachtung und fuhr die Maschinen wieder<br />

hoch. Der Antrieb stotterte nur und erstarb. Shan seufzte. Sie betätigte<br />

die entsprechenden Kontrollen erneut. Auch diesmal erklang zunächst<br />

nur ein Stottern, doch dann sprangen die Antriebsreaktoren mit einem<br />

lauten Knall an.<br />

Durkins Schädel flog von links, nach rechts. „Wer schießt da? Wer hat<br />

es gewagt...?“<br />

Alle ignorierten ihn. „Warum dauert das denn so lange?“, quengelte


Durkin weiter. „Worauf wartet die denn?“<br />

„Auf den genauen Zeitpunkt, in dem sie den Knopf für den<br />

Schleudersitz drückt, der dich ins All hinaufschießt.“, murmelte Tala.<br />

Shan schüttelte stumm den Kopf. Es gab vielleicht misstrauischere<br />

Völker als die Tellariten, dachte sie, aber auf die Schnelle viel ihr keins<br />

ein. Sortak hatte auf dem Copilotensitz neben ihr platz genommen.<br />

Inzwischen waren alle Angeschnallt. Shan grinste schief. „Festhalten<br />

Jungs und Mädels. Das Baby hat einiges drauf.“<br />

„Waaas?“, brüllte Durkin. „Es ist ein Kind an Bord? Warum wurde ich<br />

nicht darüber in Kenntnis gesetzt?“<br />

Der Rest des Protests des Tellariten ging im Brüllen der<br />

Schiffsmotoren unter, als die Pax in die Wolken schoss.<br />

Starfleet Academy<br />

Die Pax schwirrte unter der Golden Gate Bridge hindurch, beschrieb<br />

eine Kurve und setzte dann sanft auf der offiziellen Landefläche der<br />

Sternenflotten Akademie auf. Selbstverständlich nicht sanft genug für<br />

Durkin, der sich lauthals beschwerte und Shan wissen ließ, dass ein<br />

schielendes Tellaritenkind eine bessere Landung vollbracht hätte. Shan<br />

sagte nichts. Stattdessen mahlte sie sich aus, wie sie die Pax auf Durkins<br />

Kopf landete.<br />

Sie legte veraltete Schalter um und deaktivierte die Maschinen. Mit<br />

einem Gurgeln erstarb der Antrieb. Shan atmete tief ein, als müsse sie<br />

Kraft sammeln, dann warf zögernd sie einen Blick durch die breite<br />

Frontscheibe nach draußen. Ihr Vater hatte ihr sooft von den zahlreichen<br />

Gebäuden, aus denen die Akademie bestand, erzählt, so oft betont, wie<br />

sehr er die Symmetrie der Gebilde und die harmonische Verschmelzung<br />

von Werkstoffen, die sowohl aus dem Weltraum, als auch von der Erde<br />

stammten, als junger Kadett bewundert hätte. Und, so ungern Shan das<br />

auch zugeben wollte, erwiesen sich all seine Schilderungen als<br />

zutreffend.


Es handelte sich um eine ganze Reihe sehr imposanter Gebäude,<br />

majestätisch in den weitläufigen, wunderschön gepflegten Gärten<br />

eingebettet, nahe an der Bucht des geschäftigen Gebietes Presidios, mit<br />

Blick auf die Golden Gate Bridge und das klare, blaue Wasser von San<br />

Francisco. Fast einer architektonischen Poesie gleich, die sich auf den<br />

Zusammenhang zwischen der Erde und den Sternen bezog, ragten die<br />

Gebäude in den wolkenlosen, blauen Himmel empor, eine fabelhafte<br />

Mischung aus Eleganz und Schlichtheit. Sie leuchteten weiß in der<br />

Mittagssonne und wirkten so makellos und neu, als wären sie erst am<br />

Vormittag und nicht bereits vor über zweihundert Jahren erbaut worden.<br />

Der gewaltige Komplex lag unmittelbar neben dem<br />

Sternenflottenkommando und dem Föderationsrat, weshalb nicht nur<br />

unzählige Kadetten, sondern auch berühmte Führungsoffiziere über das<br />

Gelände marschierten.<br />

Shan sah zu Sortak herüber, der sich auf dem Co-Pilotensitz nach vorn<br />

zu den Fenstern gebeugt hatte und ihr nun einen misstrauischen Blick<br />

schenkte. Er wusste auch nicht, was er von der Sache, die nächste Zeit<br />

innerhalb dieser Gebäude zu verbringen, halten sollte. Dann betrachtete<br />

sie ihre anderen drei Mitschüler. Tala hatte einen gewissen Glanz in den<br />

Augen, als sie das Gelände ehrfürchtig betrachtete. Shan wusste nicht<br />

ganz, wie sie das Mädchen einschätzen sollte. Sie war bisher still<br />

geblieben, freue sich aber unverkennbar über die Ankunft an der<br />

Akademie. Und die Tatsache, dass Andorianer von einer Eiswelt kamen,<br />

machte sie für Shan irgendwie unsympathisch.<br />

Durkin hingegen brummte selbstzufrieden und wippte mit seinem<br />

feisten Bauch, während Yoko stumm dasaß und anerkennend nickte.<br />

Alle drei schienen wenigstens zuversichtlich zu sein. Shan hingegen<br />

hatte sich bereits geistig dagegen gewappnet, im Schatten der sicherlich<br />

brillanten Karriere ihres Vaters leben zu müssen. Sie würde einfach ihr<br />

Bestes geben und das würde genügen müssen.<br />

Shan warf sich ihren Rucksack über die Schulter und verließ die Pax<br />

als erste. Eine warme Luft schlug ihr Entgegen, in San Francisco war es<br />

deutlich wärmer als in New New York, was sie überraschte. Sie atmete<br />

tief ein, aber irgendwie kam ihr die Luft nicht stofflich vor. Eher sehr<br />

Salzig - vermutlich vom Pazifik. In der Nähe sah sie viele andere<br />

Shuttles, die gerade landeten; die Schulshuttles, welche neue Rekruten


von überall aus der Föderation herbrachten, aber auch den ein oder<br />

anderen privaten Transporter. Ihre Passagiere betraten den Boden, über<br />

den schon Legenden wie Robert April, Saavik, oder Rachel Garrett<br />

geschritten waren.<br />

Shan fragte sich, ob ihr Vater auch hier gestanden hatte. Dann<br />

entschied sie, dass sie es eigentlich gar nicht wissen wollte.<br />

Finnegan<br />

Die Ankunft der neuen Rekruten des Jahrgangs 2396 glich einer<br />

Invasion. Der strahlend blaue Himmel über der Akademie wurde von<br />

einer nicht enden wollenden Armada an Shuttles und Raumfähren<br />

beherrscht, die in ihrem Kommen und gehen ein regelrechtes Ballett<br />

aufführten, während sie fließend und von der Flugleitzentrale<br />

genauestens koordiniert, unzählige neue exotische Lebensformen aus<br />

allen möglichen Regionen des Föderationsraums auf den Campus<br />

brachten.<br />

Während er sich mit seiner Hand die Augen vor der Sonne abschirmte,<br />

betrachtete Jett Finnegan diese zahlreichen Neuankömmlinge dort unten<br />

auf dem enormen Landeplatz mit einer Mischung aus Bestürzung und<br />

kategorischer Ablehnung.<br />

Eigenen Aussagen zufolge, war Jett ein gutaussehender, trainierter<br />

Vorzeige-Kadett, und zumindest seine optische Erscheinung wurde mit<br />

dem grauweißen Haar, dem irisch-runden Gesicht, und dem dazu<br />

passenden schlanken Körperbau, dieser Beschreibung einigermaßen<br />

gerecht. Seine rot-schwarze Kadettenuniform saß tadellos, und die<br />

Rangabzeichen an seinem Kragen, die ihn als einen Kadetten des dritten<br />

Jahres auswiesen, blinkten frisch gereinigt.<br />

„Na? Hält sich da wieder jemand vom bitterbenötigten Nachhilfekurs<br />

in Multidimensionales Kalkulieren fern?“<br />

Finnegan nahm nur kurz seine Aufmerksamkeit vom Spektakel am<br />

Himmel um über Schulter zu blicken, und zu sehen, wie sich sein guter<br />

Freund Moron näherte. Moron, dessen Haut im tiefsten Blau schimmerte,


das Jett je bei einem Benziten gesehen hatte, trug hinter seinem kleinen<br />

Atemgerät wie üblich das breite Dauerlächeln, das ihm offenbar schon<br />

bei seiner Geburt ins Gesicht getackert worden war. Die beiden waren<br />

seit dem zweiten Jahr praktisch unzertrennlich, obwohl sie<br />

unterschiedlicher nicht hätten sein können. Während Finnegan mit seiner<br />

aufbrausenden Art oft unüberlegt handelte, strahlte Moron eine so ruhige<br />

Aura aus, dass selbst einen Vulkanier eifersüchtig gemacht hätte.<br />

Finnegan lachte, langte herüber und gab Moron einen festen, wenn<br />

auch freundschaftlichen Klaps gegen seinen Oberarm. „Schaff’ du es erst<br />

mal durch den Sommer, mein Freund.“<br />

Lächelnd – immer lächelnd – entgegnete der Benzite: „Das werde ich<br />

schon. Mach dir da mal keine Gedanken.“<br />

Er folgte Finnegans Blick zum Landeplatz herab, wo viele Neulinge in<br />

kleinen Grüppchen, selten auch alleine, herumstanden und völlig<br />

verloren aussahen, während sie darauf warteten, von irgendjemand an<br />

die Hand genommen und eingewiesen zu werden.<br />

„Und?“, fragte Moron interessiert. „Wie sehen die neuen Rekruten<br />

aus?“<br />

„Von Jahr zu Jahr beschränkter.“<br />

„Waren wir je so jung und grün hinter den Ohren, Jett?“, frage Moron<br />

in einem Anfall beträchtlicher Nachdenklichkeit.<br />

Finnegan schüttelte heftig den Kopf. „Nee.“<br />

„Das beruhigt mich ungemein.“<br />

Sie beobachteten, wie immer mehr Shuttles landeten und ihre<br />

Passagiere abluden. Gleich nachdem die Kadetten das Gelände betraten,<br />

verströmten sie überall auf dem Landeplatz, wurden dann von<br />

verschiedenen Seniorstudenten - allesamt Kadetten des dritten, oder<br />

vierten Jahres -, die sich freiwillig gemeldet hatten, um neben ihrem<br />

Studium auch noch den Frischlingsommer vorzubereiten (was zwar kein<br />

Muss war, von der Akademieleitung aber stets mit einem positiven<br />

Vermerk in der Akte gewürdigt wurde), eingesammelt und nach einer<br />

kleinen Einführungsrede einzeln, oder in Gruppen durch die weitläufige<br />

Anlage zum Orientierungscenter gebracht, wo später die eigentliche<br />

Einweisung stattfinden sollte. Manche der Kadetten schienen dabei aber<br />

auch selbst die Übersicht verloren zu haben und nicht so recht zu wissen,<br />

wie es jetzt weitergehen sollte, während sie verzweifelt nach einer


Gruppe suchten, die sie begleiten konnten. Für Finnegan stand außer<br />

Frage, sich je für so einen Unsinn freiwillig zu melden. Die kleine<br />

Belobigung war es ihm nicht wert, sich um die neuen Rekruten zu<br />

kümmern. Es war eine Verschwendung von Material und Möglichkeiten.<br />

Ihn hatte damals, an seinem ersten Tag, niemand an die Hand nehmen<br />

und durch die Anlage begleiten müssen, wie einen senilen Vulkanier.<br />

Stattdessen hatte er die Dinge selbst in die Hand genommen, und war<br />

selbst zum richtigen Ort marschiert, um seine Anwesenheit bestätigen zu<br />

lassen.<br />

Mehr Shuttles kamen an. Finnegan entschied, es sei an der Zeit selbst<br />

aktiv zu werden.<br />

„Komm, Moron. Weisen wir die neuen mal auf unsere Art ein.“<br />

„Ach, Fin.“, seufzte Moron und sein Lächeln verblasste gerinfügig.<br />

„Warum willst du Ärger machen, hm?“<br />

„Weil das die Rekruten wissen lässt, wo genau sie stehen und wo<br />

genau wir stehen. Das ist wichtig. Absolut unerlässlich. Ich habe nämlich<br />

keine Lust, dass uns die Frischlinge in den nächsten Wochen auf der<br />

Nase herumtanzen, weil sie denken, ihnen gehöre die Akademie, nur<br />

weil viele in den Ferien sind.“ Er klopfte Moron auf den Rücken,<br />

vollführte eine ausschweifende Geste und sprach laut und auf eine<br />

Gestelzte Art, die an einen römischer Senator erinnerte, der den Senat<br />

auf höchst lyrische Art und Weise zur Durchführung eines Krieges<br />

überreden wollte. „Wir haben nicht wirklich eine Wahl, Lord Moron! In<br />

diesem Falle wird unser Vorgehen von einer ehrwürdigen Tradition<br />

bestimmt! Wir sind nicht dabei irgendwas zu starten. Vielmehr wurden<br />

wir auserkoren, an diesem wunderschönen Tag-“<br />

Moron schmunzelte. „Wenn ich dich begleite, hältst du dann den<br />

Mund?“<br />

„Selbstverständlich. Aber warum die Beschränkung als Begleitung?<br />

Möchtet ihr euch etwa nicht mit den Jungspunden amüsieren, mein<br />

Lord?“<br />

Morone hob abwehrend die Hände. „Ohh nein Fin. Das ist dein Ding.<br />

Aber ich feuere dich an, wenn es sein muss, weil ich weiß, dass du<br />

immer Publikum brauchst –egal bei was du machst.“<br />

„Für wahr, für wahr. Ihr seid in der Tat ein Offizier und Gentleman, oh<br />

großer Moron.“, verkündete Finnegan feierlich. Dann wandte er sich den


Weg zum Landeplatz hinab zu. Er grinste und rieb sich die Hände. „So<br />

lasset die Spiele beginnen.“<br />

Der Strom an Schiffen ließ allmählich nach. Als Finnegan und Moron<br />

näher kamen, hob gerade ein weiteres Shuttle ab, das Passagiere<br />

hergebracht hatte, und wurde nicht unmittelbar von einem weiteren<br />

ersetzt. Die Kadetten standen dort, ihre Taschen geschultert und sahen<br />

mit gemischten Gefühlen auf die weitläufigen Anlagen des Campus<br />

herüber. Manche quasselten fröhlich, andere waren nervös, und wieder<br />

andere ängstlich. Finnegan entdeckte ein halbes Dutzend von ihnen.<br />

Nein. Ein halbes Dutzend ... und eine ganz spezielle mehr. Keine Frage.<br />

Sie war die richtige. Moron sah sie zur gleichen Zeit wie er.<br />

„Die sieht reif aus.“<br />

„Ihr exzellentes Auge für besonders groteske Gestalten, ist nicht<br />

getrübt, verehrter Moron.“<br />

Die „eine mehr“ stand abseits der restlichen Kadetten, mit denen sie<br />

eingetroffen war. Sie hatten sich zusammengerottet und unterhielten sich<br />

aufgeregt über dies und das, während das von Moron und Fin erwählte<br />

Opfer schon jetzt die typischen Anzeichen einer ewigen Außenseiterin<br />

zur Schau stellte. Niemand kümmerte sich um sie und niemand wollte<br />

etwas mit ihr zu tun haben, was sie gar nicht mitbekommen zu schien.<br />

Sie stand einfach nur da und glotzte auf die Gebäude der Akademie, als<br />

ob sie nicht so recht wusste, um was es sich handelte. Eine Schule, ein<br />

Hauptquartier, eine Shuttlebasis, oder Frühstücksflocken.<br />

Offenbar hatte sie so etwas noch nie zuvor gesehen. Natürlich kannte<br />

Finnegan ihre Spezies. Es gab kaum jemanden, der die Pakleds nicht<br />

kannte – eine vergleichsweise enorm primitive Spezies, mit einfacher<br />

Sprache und noch einfacherer Kultur, aus stämmigen Humanoiden, die<br />

sich gelegentlich als listig und rücksichtslos herausgestellt hatten. Ihre<br />

technologischen Fähigkeiten verdankten sie weniger der eigenen<br />

technologischen Entwicklung, als eher der Tatsache, dass sie auf ihren<br />

Reisen durch das All auch nicht vor Piraterie zurückschreckten.<br />

Um ihre Position im Universum zu verbessern, versuchten sie alles zu<br />

erwerben, was sie stärker, mächtiger und klüger werden lies. In ihrem


verzweifelten Bestreben, trotz fehlender Intelligenz, mit dem Rest des<br />

Quadranten mithalten zu können, schreckten sie auch nicht davor zurück,<br />

auf ihren Schiffen Systemzusammenbrüche zu simulieren und dadurch<br />

hilfsbereite, ahnungslose Opfer anzulocken. Wenn sie dann die<br />

geforderte Hilfe, oder Technologe nicht bekamen, wurden sie zu<br />

ziemlich rabiaten Zeitgenossen. Meistens versuchten sie sich als<br />

Händler, schreckten aber auch in diesem Gewerbe selten vor Diebstahl<br />

zurück. Niemand mochte sie und das Föderationspersonal war inoffiziell<br />

angewiesen, sich von den Pakled fern zu halten.<br />

„Willst du ihre Story wissen?“, fragte Finnegan Moron, während sie<br />

einen blumengeschmückten, gewundenen Weg hinabschritten, der<br />

Finnegan irgendwie an die Lombard-Straße in San Francisco erinnerte,<br />

und sie zu genau dieser Gruppe mit der Pakled führen würde.<br />

Moron blickte ihn verwundert – aber lächelnd - an. „Du kennst ihre<br />

Story?“<br />

„Natürlich.“, bestätigte Finnegan und klopfte mit dem Zeigefinger an<br />

seine Schläfe. „Mein geschultes Auge sieht alles. Es verrät mir, dass<br />

dieses frische Exemplar dort auf einem Schrotthändlerplaneten aufwuchs<br />

– auf Pakled - vermutlich auf einer Farm, irgendwo in den äußeren<br />

Systemen. Sie wurde von jemandem empfohlen, hat das Eintrittsexamen<br />

bestanden – höchstwahrscheinlich geschummelt, erpresst, oder ein<br />

Freund der Familie hat nachgeholfen und bereitwillig weggesehen - und<br />

dann suchten ihre Eltern ihr ganzes Erspartes zusammen, um ihr den<br />

Flug hierher zu bezahlen, um ihrer dicklichen Tochter ein besseres<br />

Leben als das, was sie selbst führen, zu ermöglichen.“<br />

„Du kannst das alles erkennen, nur indem du sie nur ansiehst?“ Der<br />

Blick seines Freundes wanderte skeptisch zwischen Finnegan und der<br />

Pakled hin und her.<br />

„Klar. Schau sie dir doch an. Dieses dümmliche Gesicht. Ich wette die<br />

hat noch nie einen Sternenflottenoffizier gesehen. Vermutlich wird sie<br />

uns anbeten wie Götter.“ Er lächelte. „Und wenn nicht, dann bringen wir<br />

es ihr- Oh nein.“ Das Lächeln erstarrte zu einer Grimasse.<br />

„Was ist?“<br />

Er nickte zum Landeplatz. „Zaylie.“<br />

Moron beobachtete, wie eine der Jahrgangsälteren bei der Gruppe<br />

eintraf. Sie hielt einen Datenblock und gehörte zweifellos zu denjenigen,


die sich als erstes freiwillig gemeldet hatten, um den Frischlingsommer<br />

vorzubereiten. Nun wollte sie offenbar diese spezielle Gruppe begleiten.<br />

Ihr Name war Zaylie Burton und Moron musste nicht lange in seinem<br />

Gedächtnis kramen, um zu wissen, wo er sie einzuordnen hatte.<br />

„Deine Ex?“<br />

„Uh-huh.“<br />

„Sollen wir umkehren?“<br />

Jett schnaubte. „Unsinn.“<br />

Nach einer kurzen Pause fragte Moron: „Warum ist die Beziehung<br />

eigentlich zerbrochen?“<br />

„Ich schätze wir hatten ab einem gewissen Punkt einfach verschiedene<br />

Erwartungen.“, murmelte sein Freund düster.<br />

„Wie das?“<br />

Jett blickte ihn an. „Ich hatte keine...“<br />

„Verdammt.“, murmelte Zaylie, als sie Jett mit seinem ewig dümmlich<br />

grinsenden Anhängsel herannahmen sah. Sie war Jett schon seit<br />

geraumer Zeit nicht mehr begegnet und hatte eigentlich nicht vorgehabt,<br />

diesen Umstand so bald zu ändern. Vor ein paar Monaten hatten sie kurz<br />

was miteinander gehabt, aber die Beziehung war gescheitert, als sie<br />

erkannt hatte, was für ein Idiot er war – die Tatsache, dass er hinterher<br />

überall großkotzig herumerzählt hätte, dass er schlussgemacht hatte, was<br />

nicht der Wahrheit entsprach, war schon Beweis genug - und keiner von<br />

beiden war weiterhin interessiert gewesen die Gegenwart des anderen<br />

noch über ihr letztes Streitgespräch hinaus zu ertragen.<br />

Als sie ihn nun kommen sah, verzog sie das Gesicht in einer Art, wie<br />

sie es immer tat, wenn sie Probleme herannahen spürte, entschied sich<br />

aber einfach weiterzumachen und ihre Pflicht zu erfüllen, in der naiven<br />

Hoffnung Jett würde von selbst verschwinden.<br />

Sie strich sich eine widerspenstige Strähne ihres dunkelblauen Haares<br />

hinter das rechte Ohr und wandte sich den Neulingen zu, um sich vor<br />

ihnen aufzubauen. „Willkommen bei der Sternenflottenakademie.“,<br />

verkündete sie zeremoniell. Die Rekruten stellten ihre Gespräche ein, als<br />

sie Zaylie bemerkten, und nahmen Haltung an. „Ich bin Zaylie Burton,


Kadett des zweiten Jahres und ihre Orientierungshilfe am heutigen Tag.<br />

Ich gratuliere ihnen zum Bestehen der Aufnahmeprüfung, die sie hier<br />

hergerbacht hat. Ihnen allen wurde die Ehre zuteil, am Frischlingsommer<br />

teilzunehmen, der sechs Wochen andauert und sowohl Vorbereitung, als<br />

auch einen abschließenden Eignungstest darstellt, nach dessen Bestehen<br />

das erste Jahr beginnt. Bis dahin werden sie genug Zeit haben, sich mit<br />

dem Campus, den Fächern, den Dozenten und den übrigen Kadetten<br />

vertraut zu machen. Ihnen werden militärische Protokolle, Prozeduren<br />

und diverses Grundmissen vermittelt, damit sie sich anschließend, wenn<br />

das erste Jahr beginnt, für eine der zahlreichen Fachrichtungen<br />

entscheiden können.“ Sie bemerkte aus den Augenwinkeln heraus, wie<br />

Finnegan irgendwo hinter ihr stehen geblieben war, und sie nun<br />

beobachtete, was sie nervös machte.<br />

Mistkerl!<br />

Sie schloss die Augen für einen kurzen Moment und atmete tief ein.<br />

Ruhig, Zaylie. Ruhig.<br />

Als sie die Augen wieder öffnete, versuchte sich nichts anmerken zu<br />

lassen, und Finnegan ganz aus ihren Gedanken zu vertreiben. Stattdessen<br />

konzentrierte sie sich auf die Gruppe vor ihr und setzte ein fröhliches<br />

Lächeln auf. „Aber sie brauchen keine Angst zu haben. Wir gehen alles<br />

schön langsam an. Heute werden ihnen erst einmal Zimmer in den<br />

Baracken zugeteilt, die sie mit einem, oder in Ausnahmefällen, auch mit<br />

zwei anderen Kadetten bewohnen werden. Aber vorher machen wir<br />

einen kleinen Rundgang. Dann bringe ich sie zum Einsweisungscenter,<br />

wo die Formalitäten erledigt werden.“<br />

Sie klatschte fröhlich in die Hände. „Wir beginnen zunächst-“<br />

Das war der Moment, in dem Jett einschritt. Und von da an ging alles<br />

den Bach herunter.<br />

Eines muss man Zaylie lassen, dachte Jett. Das Weib gibt sich Mühe.<br />

Während seine nervige Exfreundin zur Gruppe sprach, beobachtete<br />

Finnegan die Reaktion der neuen und, sonnte sich in der Ehrfurcht, die<br />

sie ihnen entgegenbrachten. Natürlich hatten sie ihn und Moron ebenfalls<br />

bemerkt, und schielten ständig nervös zu ihnen herüber.


Finnegan konnte auch verstehen, warum. Sei beide waren durchaus<br />

beeindruckende Gestalten, erst recht mit den Rangabzeichen am Kragen<br />

ihrer Kadettenuniformen, und der sie als Dienstältere Kadetten auswies,<br />

als Zaylie eine war.<br />

Wir sind wie Götter, dachte er erneut. Es erfüllte ihn mit Befriedigung,<br />

den Respekt in den Augen dieser Küken zu sehen, und auch mit Stolz.<br />

Stolz auf das, was er erreicht hatte und Stolz auf das, wofür diese<br />

Uniform stand.<br />

Nur die Dumpfnase von der Pakled-Farmkolonie reagierte nicht. Sie<br />

war weiterhin damit beschäftigt mit großen Augen und dümmlichem<br />

Blick in der Gegend herumzuschauen. Jetzt starrte sie sogar auf die<br />

wenigen vorbeiziehenden Wolken, als hätte sie nie in ihrem Leben einen<br />

blauen Himmel gesehen. Sie schenkte Zaylie überhaupt keine<br />

Aufmerksamkeit, was ihn fürchterlich ärgerte. Irgendwann konnte er es<br />

einfach nicht mehr ertragen und gerade, als Zaylie die Gruppe abführen<br />

wollte, ging er dazwischen.<br />

„Ich übernehme ab hier, Zaylie.“<br />

Burton versuchte angestrengt ihr Lächeln zu bewahren, als er sich ihr<br />

in den Weg stellte: „Ich glaube, Mr. Finnegan, dass ihr Name nicht auf<br />

der Liste der Freiwilligen zur Betreuung der neuen steht.“<br />

„Stimmt. Aber...“ Er tippte kurz auf seine Rangabzeichen „vergiss<br />

nicht, dass ich im Rang höher stehe, als du, also sei artig und tritt<br />

beiseite.“ Zaylies Kaumuskulatur geriet sichtlich in Bewegung, aber sie<br />

war trotz ihres Zornes schlau genug, sich zu fügen - was Finnegan eine<br />

gewisse Genugtuung verschaffte, die er einen köstlichen Moment lang<br />

genoss.<br />

Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gruppe<br />

Rekruten, verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und begann wie<br />

ein Drill-Sargeant vor ihnen auf- und abzulaufen. „Ich dachte ich hätte<br />

wirklich schon alles gesehen, was man an Frischlingen zur Akademie<br />

schickt. Aber ihr seid mit Abstand der albernste Haufen von allen. Ganz<br />

besonders... du!“ Sein Tonfall änderte sich. „Du, Pakled. Augen nach<br />

vorn!“<br />

Näher dran, konnte Finnegan die Rekrutin, die seine Aufmerksamkeit<br />

von weiter oben bereits erweckt hatte, besser studieren. Es handelte sich<br />

tatsächlich um ein entfernt an eine Frau erinnerndes Wesen, auch, wenn


man zweimal hinsehen musste, um dies zu erkennen, da Pakleds<br />

irgendwie alle gleich aussahen.<br />

Ihre Kleidung war – den Gepflogenheit ihrer Heimatwelt entsprechend<br />

– weit, braun und bestand aus mehreren Schichten eines dick wattierten<br />

Materials – vermutlich auf primitive Art und Weise verarbeitetes<br />

Tierfell. Auf der Brust schillerten kleine Ornamente, die zweifellos keine<br />

richtige Bedeutung hatten. Sie trug Stiefel und schwere Handschuhe,<br />

obwohl es ein recht warmer Sommertag war. Wie es bei allen<br />

Mitgliedern dieser Spezies der Fall war, war auch diese Pakled ziemlich<br />

groß und molliger Natur. Genaugenommen war sie ziemlich fett. Das<br />

Pony ihres ansonsten schulterlangen Haares fiel ihr garstig ins Gesicht,<br />

war zerzaust und wirkte ölig. Ein bräunliches Muster zierte die Stirn<br />

darunter. An den Augen und der Unterlippe, befanden sich vorstehende<br />

Hautfalten, die entfernt an Kimen erinnerten. Durch die tief über den<br />

Augen hängenden, fleischigen Brauen, erweckte sie schon alleine von<br />

ihrer Physiologie her den Eindruck einer Lahmen, begriffsstutzigen<br />

Person. Und genau das schien auch der Fall zu sein, denn allein die<br />

tölpelhafte Art, wie sie sich – vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben<br />

- mit einem völlig unangebrecht knallroten Lippenstift geschminkt hatte,<br />

verriet Finnegan, dass sie tatsächlich aus den hintersten Hinterregionen<br />

des Quadranten stammen musste, und sich noch nie unter Menschen<br />

bewegt hatte, geschweige denn unter Sternenflotten-Angehörigen. Ihr<br />

gesamtes Erscheinungsbild schrie regelrecht nach einem geistig<br />

zurückgebliebenem Müllsammler.<br />

Ein erschütterndes Wesen. Natürlich nicht erschütternd genug, um<br />

einen Kadetten des dritten Jahres zu verwirren. Nein, es war ihre an<br />

Apathie grenzende Teilnahmslosigkeit, die Finnegan aufregte, dieses<br />

öffentliche Zurschaustellung geistig geringer Gehirnkapazität.<br />

Solche Individuen wurden doch nur aus einem Grund zur Akademie<br />

eingeladen: damit die Sternenflotte einige Mitglieder fremder, und am<br />

besten noch verfeindeter Spezies hatte, um sie PR-technisch vorzeigen<br />

zu können. Um zu beweisen, wie kultiviert und offen diese Organisation<br />

doch war. Die Antragprüfer drückten dann oftmals mehrere Augen zu<br />

und im Gegenzug erhöhten sie die Anforderungen an ihre menschlichen<br />

Kollegen, was Finnegan maßlos ärgerte. Ihr wurde es leicht gemacht,<br />

und er musste sich abrackern. Und dieses spezielle Exemplar hier, war


eindeutig von einem technologisch und kulturell rückständigem<br />

Planeten, daran bestand für Finnegan absolut kein Zweifel. Zweifellos<br />

hatte jemand Mitleid mit ihr gehabt, oder man wollte neue<br />

Handelsbeziehungen zu den Pakled aufnehmen, denn er konnte sich<br />

absolut nicht vorstellen, welche Bereicherung eine Pakled – vor allem<br />

diese Pakled - für die Flotte darstellen sollte. Sie war weder besonders<br />

aufmerksam, noch schien sie erwähnenswert gescheit zu sein. Offenbar<br />

hatten sie jetzt die Zulassungsbestimmungen komplett in den Papierkorb<br />

geworfen und nahmen jeden auf. Ein trauriger Tag und eine Schande für<br />

die Flotte.<br />

Finnegan straffte seine Schultern, um noch imponierender zu wirken.<br />

Die Pakled schien das nicht weiter zu bekümmern, was ihn ärgerte. Sie<br />

sah ihn unsicher an, wie eine Schale selbstdichtender Schaftbolzen.<br />

Entweder wollte sie frech sein... oder aber sie hatte tatsächlich keine<br />

Ahnung, wer da vor ihr stand und was von ihr erwartet wurde. Finnegan<br />

tippte auf letzteres. Zeit es ihr beizubringen.<br />

„Wie ist dein Name, du Klops?“<br />

Die Pakled sah ihn aus hilflosen Augen an und wusste offenbar nicht,<br />

wie sie reagieren sollte.<br />

„Dein Name.“, forderte er erneut, als er keine Antwort erhielt.<br />

Die Frau gab ein merkwürdig gurgelndes Geräusch von sich. Sie<br />

zögerte noch einen Moment, sah kurz zu Burton, die ihr aber auch nicht<br />

half, sondern unglücklich am Rande stand, und sagte dann zaghaft: „Ce...<br />

Cera. Cera Regonod.“<br />

Und sie lächelte plötzlich dümmlich, als würde sie eine Belohnung<br />

erwarten, ihren Namen richtig ausgesprochen zu haben. Finnegan verzog<br />

vor unverhohlenem Abscheu das Gesicht. Das Lächeln auf Ceras Gesicht<br />

verschwand, als sie nicht die erhoffte Reaktion erhielt und sie wurde<br />

wieder unsicher.<br />

„Was ist denn das für ein Name?“, fragte Finnegan mit gekräuselter<br />

Nase. Natürlich bekam er auch diesmal keine Antwort und sah deshalb<br />

kurz zu Moron herüber, um sich seine Abneigung bestätigen zu lassen,<br />

aber Moron blickte Klops einfach nur an, als sei er beunruhigt, das etwas<br />

total schief gehen könnte. Als würde er sich nicht mehr besonders wohl<br />

in seiner Haut fühlen. Selbst sein Lächeln war erblasst.<br />

Das konnte Finnegan kaum nachvollziehen. Immerhin waren sie


Kadetten es dritten Jahres! Zugegeben, die Pakled war groß, größer als<br />

er, sogar größer als Moron, hatte gewaltige, speckige Oberarme, und<br />

riesige Pranken, mit denen sie zweifellos eindrucksvoll zuschlagen<br />

konnte, sofern man das aggressive Gemüt für eine solche Tat besaß. Das<br />

hatte die Pakled aber ganz sicher nicht.<br />

Typisch Moron, dachte Finnegan. Kräftiger als die meisten, aber<br />

gleichzeitig machte er sich immer Sorgen um nichts. Finnegan stieß ihm<br />

in die Rippen, worauf Moron blinzelnd aus seiner Starre erwachte. Er<br />

wollte schon zu einer scharfen Erwiderung bezüglich der Pakled<br />

ansetzen, sah dann jedoch, dass Finnegan besänftigend abwinkte. Immer<br />

mit der Ruhe, alter Freund. Lass mich nur noch ein bisschen piesacken,<br />

schien er sagen zu wollen.<br />

„Ich hörte“, sagte Finnegan so laut, dass ihn auch alle anderen<br />

Rekruten in der Nähe verstanden. „wenn ein Pakled ins Wasser springt,<br />

wird er nicht nass. Das Wasser wird fett. Stimmt das?“<br />

Die Pakled reagierte immer noch nicht, sah ihn nur aus treudoofen<br />

Augen an. Andere Studenten, die den Wortwechsel aufgeschnappt<br />

hatten, kamen langsam näher. Cera fühlte sich äußerst unwohl in ihrer<br />

Haut. Sie wusste offenbar immer nicht, was sie machen sollte, sah sich<br />

erneut hilflos zu den anderen um, aber da sie keine Freunde an der<br />

Akademie hatte, und auch sonst niemanden hier kannte, stand ihr<br />

natürlich niemand bei.<br />

Finnegan trat näher an die Pakled heran. „Ich habe Ihnen eine Frage<br />

gestellt, Kadett.“<br />

„Jett, hör doch-“, stöhnte Burton gequält. Er brachte sie augenblicklich<br />

mit einem strengen Blick zum Schweigen. Seine Kontrolle über sie war<br />

nicht mehr großartig, aber noch immer vorhanden und Burton verstand<br />

und respektierte die Kommandostruktur wie jeder andere. Sie grummelte<br />

zwar, sagte aber nichts mehr. Finnegan wandte sich wieder zur Pakled.<br />

„Nun? Habe ich recht? Wird das Wasser fett? Gibt es überhaupt Wasser,<br />

da wo du herkommst?”<br />

Pakled sagte nichts. Sie sah sich nur unsicher und ängstlich um und<br />

scharrte mit den Füßen auf dem Boden.<br />

„Siehst du mich gefälligst an? Du hast deinen vorgesetzten Offizier zu<br />

respektieren, klar? Und in diesem Falle bin das ich.“ Er versetzte ihr<br />

einen kräftigen Stoß gegen die Schulter, woraufhin sie zurücktaumelte.


Und dann hörte er zu seiner Linken eine Stimme. „Gibt’s hier ein<br />

Problem?“<br />

Die Stimme war ihm nicht vertraut, der Tonfall hingegen schon.<br />

Überdies war er sich einigermaßen sicher, dass die Worte ihm galten. Er<br />

blickte drohend langsam über die Schulter. Weitere Neuankömmlinge.<br />

Ein blondes Mädchen in Begleitung zweier Vulkanier – der eine groß,<br />

der andere klein, eines Tellariten und einer Andorianerin, die sich aber<br />

eher im Hintergrund hielten.<br />

Finnegan runzelte die Stirn und warf dem Mädchen einen finsteren<br />

Blick zu, der sie aber nicht im geringsten zu stören schien. „Das hier<br />

geht dich nichts an, Kleines.“, schnappte er. „Mit dir hab ich keinen<br />

Streit. Ich rede mit Rekrut Regonod.“<br />

Er wollte sich wieder der Pakled zuwenden, aber das Mädchen lies<br />

nicht locker „Und ich rede mit dir! Und ich habe gefragt, ob es ein<br />

Problem gibt!“<br />

Sie hatte es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, sich einzumischen.<br />

Das sollte Finnegan nur recht sein. Er wandte sich ihr zu... und stockte<br />

einen Moment.<br />

Ihre Augen. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Sie hatte solch<br />

durchdringende blaue Augen, die ... nach dem besten Wege suchten, ihn<br />

zu töten. Da war er sich sicher. Das brachte ihn einen Moment aus dem<br />

Konzept, aber die Wut half ihm sich wieder zu konzentrieren. „Wie<br />

passend.“, höhnte er. „Jetzt hat der Klops auch noch eine Beschützerin,<br />

was? Fehlt nur noch die Leine. Du weißt wohl nicht, mit wem du gerade<br />

sprichst, Kleines. Überleg dir lieber ganz genau, auf wessen Seite du<br />

dich hier schlägst.“<br />

„Ich stehe ganz sicher nicht auf der Seite eines arroganten Grekker-<br />

Targ. Oh nein...!“ Sie hielt sich die Hand vor den geöffneten Mund und<br />

tat so, als hätte sie etwas sehr schlimmes getan, wobei sie ganz bewusst<br />

eine miserable Schauspielerische Leistung hinlegte. „Tut mir leid. Ich<br />

habe ein Wort mit mehr als einer Silbe benutzt. Wie dumm von mir!<br />

Brauchst du jetzt einen Universalübersetzer...?“<br />

Finnegans Mund öffnete sich und schloss sich wieder, ohne ein Wort<br />

gesagt zu haben. Einen Moment später, hatte er sich wieder gefangen,<br />

und schimpfte: „Ich kann nicht fassen, dass so etwas auf die Akademie<br />

gelassen wird. Jemand muss euch kleinen Scheißer wohl erst noch


Respekt beibringen!“<br />

„Und wer? Du?“ Das schien das Mädchen zu amüsieren. „Ich krieche<br />

sicher nicht zu Kreuze, nur weil du eine Uniform trägst. Und das sollte<br />

auch niemand sonst tun.“, wandte sie sich zur Gruppe. „Respekt verdient<br />

man sich. Den kann man nicht erzwingen, und man wird ihn ganz sicher<br />

nicht erhalten, in dem man andere schikaniert!“<br />

„Respekt, Kleines, ist, was der Rang mit sich bringt! Ein Offizier der<br />

Sternenflotte genießt ihn automatisch! Er muss nicht erst durch einen<br />

Reifen springen, um dein Ansehen zu erlangen. Du gibst ihm Respekt<br />

und bist froh darüber ihn zu geben. Hast du gehört?“<br />

„Nur das Geschwafel eines Idioten.“, entgegnete das Mädchen trotzig.<br />

„Eines Idioten, der Streit sucht.“<br />

Moron trat schnell dazwischen, ehe die Situation zu eskalieren drohte.<br />

Er kannte seinen Freund Jett und wusste seine Körpersprache zu deuten,<br />

die ihm nun unmissverständlich mitteilte, dass er innerlich kochte. „Wir<br />

suchen keinen Streit.“, sagte er schnell zu dem Mädchen. Und zu seinem<br />

Freund: „Komm, Jett. Gehen wir. Lass Zaylie weitermachen.“ Er nahm<br />

Finnegan fest am Arm, doch der wollte die Sache nur wiederwillig auf<br />

sich beruhen lassen. Zunächst lies er sich auch noch murrend wegführen,<br />

bis das Mädchen „Wer hängt jetzt an der Leine?“ sagte.<br />

Zaylie versuchte ein Kichern zu verbergen, was ihr nicht ganz gelang.<br />

Sie lachen zu hören, brachte Finnegans Kragen endgültig zum platzen!<br />

Er riss sich harsch von Moron los und stapfte mit geballten Fäusten<br />

zurück, auf das Mädchen zu. „Und dir fehlt ein Maulkorb!“, fauchte er.<br />

Mittlerweile hatten auch andere Kadetten mitbekommen, dass hier<br />

etwas ungewöhnliches vorging und scharten sich um sie. Die Reaktionen<br />

waren gemischt: manche bewunderten das Mädchen für ihre Nerven,<br />

während andere sie für völlig verrückt hielten, sich derart mit einem<br />

vorgesetzten anzulegen. Das Mädchen achtete nicht weiter drauf, aber<br />

Finnegan machte das enorm zornig. Die Reaktionen sollten nicht<br />

gemischt sein. Es sollte nur eine geben: Wut! Wut darüber, dass jemand<br />

so wenig Respekt vor ihm hatte, so wenig Ahnung vom Konzept der<br />

Sternenflotte. Sie untergrub seine Autorität vor versammelter<br />

Mannschaft und die anderen freuten sich auch noch darüber. Aber dann<br />

musste er ihnen eben in Erinnerung rufen, wer er war – und vor allem:<br />

wer sie waren!


„Vierzig Liegestütze, los!“, befahl er dem Mädchen.<br />

Sie tat nichts dergleichen. Stattdessen stemmte sie die Hände in die<br />

Hüften und musterte ihn geringschätzig.<br />

„Denkst du vielleicht ich mach Witze?“, fragte Finnegan. „Vierzig<br />

Liegestütze!“, wiederholte Finnegan, dessen Wut allmählich den<br />

Siedepunkt erreichte. Moron versuchte ihn erneut vom Landeplatz zu<br />

bringen, fort von dem Mädchen, der Pakled und dem ganzen Auflauf, der<br />

sich inzwischen gebildet hatte. „Fin, beruhige dich.“, flüsterte er. Aber<br />

Finnegan rührte sich keinen Stück, verharrte Stur auf der Stelle und lies<br />

sich nicht wegführen. Er war unbarmherzig. „Lass mich! Ich gehe erst,<br />

wenn ich fertig mit denen bin.“<br />

„Und ich gehe erst, wenn du dich bei ihr entschuldigt hast.“,<br />

entgegnete das Mädchen und deutete vage auf die Pakled. „Was ist<br />

überhaupt dein Problem, hm?“<br />

„Mein Problem? Ich werde dir sagen, was mein Problem ist! Mein<br />

Problem bist du! Du und der ganze unfähige Haufen hier. Mann, mann,<br />

mann! Mir war nicht bekannt, dass die Zulassungsanforderungen derart<br />

weit herabgesetzt wurden“, sagte er wütend. „Früher waren die<br />

Aufnahmebedingungen wenigstens noch hoch, fast unerreichbar hoch.<br />

Doch dann kam der Dominion-Krieg, und die Borg, und auf einmal<br />

fehlte aufgrund heftiger Verluste das Personal, sodass man alles etwas<br />

einfacher gestaltet hat, um einem breiteren Bewerberfeld das Studium zu<br />

ermöglichen. Das erklärt natürlich die Anwesenheit solcher Trottel wie<br />

euch.“<br />

„Wir haben alle das gleiche Recht hier zu studieren, wie du auch.“<br />

Finnegan schnaubte „Nur, weil niemand in der Sternenflotte so klug<br />

war >Nein< zu sagen. Es wäre wohl für alle Beteiligten das Beste, wenn<br />

du dein Schmuckkästchen wieder einpackst und dich von deinem Daddy<br />

zurück nach Hause bringen lässt.“<br />

Die Mine des Mädchens verfinsterte sich schlagartig. Was noch<br />

schlimmer wahr: ihr Blick wurde sogar noch stechender. „Du.“, knurrte<br />

sie bedrohlich. „Sprichst nicht von meinem Dad.“<br />

Finnegan beugte sich vor, näher an sie heran, so nahe, dass sich fast<br />

ihre Nasenspitzen berührten. „Ich rede von wem auch immer ich will und<br />

wann auch immer ich will. Du hast da nichts zu sagen, weil du eine<br />

Mikrobe bist, kleines Mädchen. Die Fehlfunktion im Transporter, die


Verunreinigung im Dilithiumkristall. Und du wirst das tun, was man dir<br />

befiehlt. Keine Fragen, keine Gedanken, nur simple Gehorsamkeit.<br />

Wenn du das nicht magst, dann schnapp dir deine kleinen Stofftiere und<br />

flieg nach Hause, wo du dir an Daddys Schulter die Augen ausheul-“<br />

Das war das letzte, woran sich Finnegan erinnerte, bevor er drei<br />

Stunden später in der Intensivstation erwachte.<br />

Shan trat über den bewusstlosen Finnegan hinweg, und schüttelte mit<br />

schmerzverzerrter Mine ihre rechte Hand. „Niemals Knochen auf<br />

Knochen.“, ermahnte sie sich. „Das sollte ich eigentlich wissen.“<br />

Sortak war sofort an ihrer Seite. Er hatte sich die ganze Zeit bereit<br />

gehalten, aber auf Shans Fähigkeiten vertraut, die Situation zu meistern<br />

- auf die ein oder andere Art. „Alles in Ordnung?“<br />

„Ja, ja.“, brummte Shan ärgerlich. „So ein Idiot!“<br />

In der Ferne sah sie, dass die ersten Offiziere aus dem Hauptgebäude<br />

gerannt kamen und auf den Landeplatz zuhielten. Vermutlich Sanitäter,<br />

oder ein paar Sicherheitsleute, die ein Protokoll aufnehmen wollten. Es<br />

würde noch ein paar Sekunden dauern, bis sie eintrafen, also machte<br />

Shan etwas Platz, damit sich der erschrockene Benzite um seinen am<br />

Boden liegenden Freund kümmern konnte. Zumindest grinste er nicht<br />

mehr. Die anderen Kadetten wandten sich rasch ab, als befürchteten sie<br />

plötzlich, ihre bloße Anwesenheit könne ausreichen, um sie von der<br />

Akademie zu werfen, bevor sie mit ihrem Studium überhaupt angefangen<br />

hatten.<br />

„Netter Schlag.“, sagte Tala anerkennend, als Shan zu ihren Leuten<br />

zurückkehrte.<br />

Yoko hingegen schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Ich bezweifle, dass<br />

es im Ideal der Sternenflotte ist, Fäusten den ersten Kontakt gestalten zu<br />

lassen.“<br />

Shan ignorierte ihn und sah Cera an, die noch immer dastand, und mit<br />

großen Augen auf Finnegan hinabblickte. „Ist... ist er tot?“<br />

„Wenn er nachher mit rasenden Kopfschmerzen aufwacht, wird er es<br />

sich wünschen.“<br />

„Wirst du... wirst du dafür keinen Ärger kriegen tun?“


„Wegen dem?“, Shan schnaubte. Sie ging eher davon aus, dass man ihr<br />

dafür einen Orden anheften würde. „Mach dir mal keine Sorgen.<br />

Vermutlich werden sie mir eher einen Orden anstecken.“, meinte sie<br />

scherzhaft. „Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, mir deswegen Ärger<br />

eingehandelt zu haben.“<br />

„Sie haben sich eine Menge Ärger eingehandelt!“<br />

Shan saß im Büro des Dekans und wurde gerade sowohl von ihm, als<br />

auch der Akademieleiterin in die Mangel genommen. Sie war noch auf<br />

dem Landeplatz vom Sicherheitsdienst aufgeschnappt und direkt hierher<br />

gebracht worden, und bisher hatte das Verhör noch nicht richtig<br />

begonnen.<br />

Commander Reginald Barclay, Dekan der Stundenten, sah von seinem<br />

Computerterminal auf und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Der<br />

Ausdruck auf seinem Gesicht ließ nicht den geringsten Zweifel daran,<br />

wie ernst sich die Lage darbot. Er war ein freundlicher, stets nervöser<br />

Mann, mit schütterem Haar und dünnen, aber zahlreichen Falten. Er bot<br />

Shan gelegentlich ein Glas Wasser an – vermutlich, weil er so nervös<br />

war, dass er selbst etwas zu trinken brauchte. Hin und wieder machte er<br />

ein bisschen Getue wegen des Computerterminals, schien dann zu<br />

denken, dass er Shan gegenüber arg kurz angebunden war, und lächelte<br />

freundlich. Und dann schien er zu glauben, dass er dadurch auch wieder<br />

übertrieben hatte, und blickte mit einem wegen des Terminals<br />

ärgerlichen Ausdruck zur Seite. Mit dieser kurzen Demonstration<br />

vollkommener sozialer Konfusion, offenbarte er sich als ein in höchstem<br />

Maße angenehmer und liebenswerter Mensch.<br />

Die Akademieleiterin hingegen, eine aus den Medien bekannte<br />

Persönlichkeit namens Kathryn Janeway, war eine eher kleine Frau mit<br />

grotesk weißem Haar, einem rundem Gesicht und sehr strengen Augen,<br />

die Shan das von Barclay überreichte Wasserglas sofort wieder<br />

wegnahm.<br />

Sie führten ständig dasselbe Theaterstück vor. Barclay schob Shan das<br />

Wasserglas immer mal wieder während des Gesprächs auf dem<br />

Schreibtisch herüber, und Janeway nahm es dann sofort wieder weg.


Was natürlich der klassischen Verhörmethode entsprach, die dem Zweck<br />

diente, das um Gnade winselnde Opfer an den Rand eines vollständigen<br />

seelischen Zusammenbruchs zu treiben. Dummerweise ging die Taktik<br />

nicht auf. Shan fing weder an um Gnade zu winseln, noch brach sie<br />

zusammen. Genaugenommen saß sie einfach nur störrisch da, auf der<br />

anderen Seite des Schreibtisches, hatte die Arme vor der Brust<br />

verschränkt, die Lippen geschürzt, und rührte sich nicht. Das schien zwar<br />

einerseits den Dekan noch nervöser zu machen, andererseits aber auch<br />

die Verärgerung der Akademieleiterin zu fördern.<br />

Janeway durchbohrte Shan mit stechenden Augen, während ihre<br />

Lippen zu einem finsteren Ausdruck der Missbilligung verzogen waren.<br />

Shan fragte sich, ob sie immer so aussah, oder zu diesem Anlass ein<br />

besonderes Gesicht aufgesetzt hatte. Da Barclay offenbar von der<br />

Vorstellung gelähmt wurde, Shan könne ihm etwas antun, übernahm<br />

Janeway die meiste Zeit das Reden.<br />

„Sie haben ihm den Kiefer zertrümmert.“, stellte sie fest.<br />

Shan sagte nichts.<br />

„Mit einem Schlag.“<br />

Immer noch nichts.<br />

Janeway und Barclay tauschten einen Blick. Shan schwieg beharrlich<br />

weiter.<br />

„Nun?“, hakte Barclay vorsichtig nach. „Haben Sie irgendetwas zu<br />

ihrer Verteidigung zu sagen?“<br />

„Ich habe ihn gewarnt.“<br />

Erneut der Austausch eines Blickes. Er schien darüber zu entscheiden,<br />

wer von den beiden fortfuhr. Die Ehre gebührte ganz allein Janeway, die<br />

prompt begann, um den Schreibtisch herumzuwandern, um Shan zu<br />

verunsichern. Was natürlich nicht auch nicht gelang.<br />

„Mrs Bartez...“, sagte sie, entschied sich aber für eine andere Taktik.<br />

„...Sha’Nyn.“<br />

Shan verzog das Gesicht, als sie die miserable Aussprache ihres<br />

Namens hörte. Die meisten Leute bekamen es nicht auf die Reihe. „Ich<br />

ziehe es vor, >Shan< genannt zu werden.“<br />

„Sha’Nyn.“, sagte Janeway erneut, diesmal frostiger. „Es liegt nicht an<br />

Ihnen, einen Kadetten wegen irgendwas zu warnen, und ihn<br />

anschließend mit einem kräftigen Faustschlag auf die Krankenstation zu


efördern. Es gibt keine Rechtfertigung für solch einen ... Missgriff, und<br />

egal welche Entschuldigung Sie anbieten, sie ist ohne Relevanz.“<br />

„Dieser Hur’qsohn hat angefangen!“, protestierte Shanyn.<br />

Janeway hob streng den Finger. „So etwas will ich nicht hören.“, sage<br />

sie energisch. „Das hier ist kein Schulhof, junge Dame. Das hier ist auch<br />

kein Spielplatz. Das hier ist die Sternenflottenakademie. Vielleicht ist<br />

Ihnen entgangen, dass sich auf dem Gelände kein Spielgerät befindet.<br />

Haben Sie das große Schild gesehen, auf dem >Sternenflottenakademie<<br />

steht? Allerdings haben Sie kein Schild mit der Aufschrift >Zu den<br />

Wippen und Rutschen< gesehen, nicht wahr? Das hätte Ihr erster<br />

Anhaltspunkt sein müssen.“<br />

Das ließ sie er mal im Raum schweben.<br />

„Soll ich jetzt wieder nach Hause fliegen?“, fragte Shan nach einer<br />

langen Stille. Sie war genervt.<br />

Janeway seufzte und tauschte mit Barclay erneut einen Blick aus. Sie<br />

stieß einen weiteren, diesmal längeren Seufzer aus, rollte die Augen,<br />

schüttelte den Kopf und warf frustriert die Arme in die Höhe. Das war<br />

für Barclay das Zeichen, ab hier zu übernehmen. Er spielte nervös mit<br />

seinen Fingern, legte sich die Worte sorgfältig im Geiste zusammen und<br />

faltete dann die Hände.<br />

„Misses Bartez, so schnell lassen wir niemanden gehen. Sehen Sie...<br />

ich glaube, Sie haben nicht so recht verstanden, was wir zu sagen<br />

versuchen. Sie sind hier, um Regeln zu lernen. Unsere Regeln. Regeln,<br />

die sich über Hunderte von Jahren bewährt haben. Regeln, ohne die die<br />

Sternenflotte nicht funktionieren würde.“<br />

„Lustig.“, entgegnete Shan. „Denn nach allem, was ich in der High<br />

School lernte, haben immer genau die Sternenflottenoffiziere den Tag<br />

gerettet, die regelmäßig gegen diese tollen, bewährten Regeln verstießen,<br />

nicht wahr?“<br />

Barclay öffnete den Mund, schloss ihn aber schon Sekunden später<br />

wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Er lehnte sich auf seinem Stuhl<br />

zurück, sah zu Janway auf, die Shan den Rücken gekehrt hatte und an<br />

den Tisch gelehnt war, und zuckte hilflos mit den Schultern. „Da hat Sie<br />

nicht ganz unrecht.“, musste er zugeben.<br />

Das war wiederum der Zeitpunkt, an dem Janeway das Gespräch<br />

weiterführte. Sie wandte sich zu der jungen Frau um, die einigermaßen


selbstgefällig dasaß und nun mit gehobener Augenbraue von einem zum<br />

anderen blickte.<br />

„In manchen Situationen“, erklärte Janeway vorsichtig „Ist es<br />

durchaus nötig, die Regeln… zu biegen, das gebe ich zu.“<br />

„Und wer bestimmt, welche Situationen das sind?“<br />

Janeway ging auf diesen Kommentar gar nicht erst ein. „Aber die<br />

Vorschriften sind dennoch wichtig, sie sind sogar Lebensnotwendig, und<br />

wenn Sie die Grundregeln nicht lernen möchten, Misses Bartez, oder sie<br />

aus irgendeinem Grund nicht gewillt sind auszuführen, dann ist die<br />

Sternenflotte nicht der richtige Ort für Sie.“ Sie machte eine<br />

Bedeutungsschwangere Pause. „Verstanden?“<br />

Shan schwieg.<br />

„Haben Sie dazu auch etwas zu sagen?“<br />

„Ja.“, bestätigte Shan und stand auf, zum Gehen bereit. „Dann bin ich<br />

hier eben nicht richtig. Ich will auch kein Teil einer Organisation sein,<br />

die solche Leute verteidigt. Finnegan hat sich einfach verhalten wie das<br />

letzte Ar-“<br />

„Glücklicherweise.“, fuhr Janeway ihr schnell dazwischen. „sprechen<br />

zwei Dinge zu Ihren Gunsten. Zwei gute Gründe, aus denen wir Sie noch<br />

nicht so einfach gehen lassen wollen. Erstens: die gewichtige Meinung<br />

von Zaylie Burton, einer feinen Kadettin des zweiten Jahres, die<br />

aussagte, dass Kadett Finnegan Sie und Ihre Gruppe provozierte habe,<br />

und - ich zitiere wörtlich - >er deswegen bekam, was er verdiente


prüfenden Blick. „Ich habe zu diversen Gelegenheiten mit Ihrem Vater<br />

Seite an Seite gedient, damals, als wir beide noch aktive Kommandanten<br />

waren.“<br />

Shan rollte die Augen, hielt aber den Mund.<br />

„Er war ein beeindruckender Mann.“<br />

„Das ist er immer noch.“, entgegnete Shan brummend.<br />

Janeway runzelte amüsiert die Stirn. Das erste und kaum<br />

wahrnehmbare Anzeichen dafür, das sie irgendeinen Aspekt dieser<br />

Situation amüsant fand. „Verzeihen Sie, Mrs Bartez. Ich wollte nicht in<br />

der Vergangenheitsform von ihm sprechen.“ Dann hielt sie kurz inne.<br />

„Haben Sie den Eindruck, dass meine Bekanntschaft mit Ihrem Vater<br />

ihnen irgendwelche Begünstigungen einbringen wird?“<br />

Nun blickte Shan überrascht auf. „Ich rechne fast damit.“<br />

„Ist aber nicht der Fall.“, versicherte Janeway. „Nichts desto trotz hilft<br />

mir diese Bekanntschaft, über Sie Urteilen zu können, Misses Bartez,<br />

denn ich erinnere mich noch sehr genau an diesen störrischen jungen<br />

Mann, der damals in mein Büro gestürmt kam, und ohne Wenn und Aber<br />

das Kommando über sein Raumschiff zurückverlangte, obwohl er nur<br />

kurze Zeit vorher öffentlich dem kompletten Föderationsrat den Teufel<br />

an den Hals gewünscht hatte. Er war fähig, keine Frage. Aber auch ein<br />

Dickkopf, Freigeist und eingeschworener Feind jedes Regelbuchs.“ Sie<br />

atmete schwer aus. „Und ich erkenne in Ihnen eine Menge von ihm<br />

wieder.“<br />

Shan murmelte etwas, das Janeway als >Das nehmen sie besser sofort<br />

zurück< zu verstehen glaubte, aber sie war sich nicht sicher und<br />

beschloss, lieber nicht darauf einzugehen. Stattdessen sah sie zu Barclay<br />

und gab ihm ein wortloses Zeichen, dass er nun wieder dran war, als<br />

hätten sie das Stück vorher schon eingeprobt.<br />

Barclay warf einen Blick auf den Computerbildschirm auf seinem<br />

Schreibtisch. „Wir haben hier Ihr psychologisches Profil.“, erklärter er.<br />

„Und im Grunde ahnten wir bereits, dass es im Laufe ihres Aufenthalts<br />

zu gewissen... Reibungspunkten kommen könnte.“ Er verschönte die<br />

Sachlage erheblich. Janeway war weniger zurückhaltend. „Es war für<br />

uns sehr wahrscheinlich, dass Sie Ärger machen, oder zumindest<br />

irgendwo anecken würden.“, erklärte sie.<br />

„Ich habe den Kampf nicht gesucht.“


„Aber Sie sind ihm auch nicht aus dem Weg gegangen.“<br />

„Nein.“<br />

„Hm.“, machte Janeawy und trommelte mit den Fingerspitzen auf die<br />

Schreibtischplatte.<br />

Shan schnaubte. „Es ist einfach, die psychologischen Profile von zwei<br />

Leuten zu betrachten und dann zu behaupten, die Auseinandersetzung sei<br />

unvermeidlich gewesen. Damit sprechen sie Finnegan von der<br />

Verantwortung frei, mich provoziert zu-“<br />

„Sehen Sie sich das Datum des Berichtes an.“, sagte Janeway. Sie<br />

drehte den Computer herum und Shan beugte sich ein wenig vor.<br />

„Der Bericht wurde vor einem Monat verfasst?“<br />

Janeway nickte langsam. „Was Ihnen spontan erscheint, haben wir<br />

schon kommen sehen, als wir Ihre Bewerbung akzeptierten. Wenn man<br />

ein guter Sternenflotten-Offizier werden will, muss man Situationen<br />

voraussehen, bevor sie eintreffen, und sich auf sie vorbereiten. Das ist<br />

neunundneunzig Prozent von dem, was Sie hier lernen... man muss<br />

vorbereitet sein. Wenn Sie durch das Leben gehen und einfach nur auf<br />

das reagieren, was Ihnen widerfährt, wird Sie früher oder später das<br />

Wahrscheinlichkeitsgesetz einholen und Sie werden von etwas<br />

überwältigt werden, mit dem Sie nicht gerechnet haben.“<br />

Shan sagte nichts. Unliebsame Erinnerungen an das ewige Eis kehrten<br />

zurück. Die Worte trafen zu, keine Frage.<br />

Janeway lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Haben Sie jemals von<br />

den >Kalten Gleichungen< gehört?“<br />

Als Shan ansatzweise den Kopf schüttelte, erklärte Janeway: „Das ist<br />

eine sehr berühmte Kurzgeschichte, die in den frühen Tagen der<br />

Raumfahrt spielt. Damals musste jedes einzelne Pfund, das ein<br />

Raumschiff befördert, genau berechnet werden, weil das Schiff nur über<br />

gerade genug Treibstoff verfügte, um einen dorthin zu bringen, wohin<br />

man gebracht werden musste. In dieser Geschichte schlich sich ein<br />

junges Mädchen an Bord eines kleinen, nur mit dem Piloten bemannten<br />

Transportschiffs, weil es ihren Bruder auf einer Kolonie besuchen<br />

wollte. Nachdem der Pilot das Mädchen entdeckt hatte, stellte er fest,<br />

dass ihr zusätzliches, nicht eingeplantes Gewicht den Treibstoff zu<br />

schnell verbrauchte. Die Folge wäre die Bruchlandung des Schiffes und<br />

der Verlust der Fracht gewesen ... einer Fracht, welche die Kolonisten


dringend benötigten. Dem Piloten blieb keine andere Wahl, als das<br />

Mädchen von Bord zu werfen. Es starb. Ende.“<br />

Shan blinzelte.<br />

„Das ist natürlich nur eine Geschichte und niemals passiert, doch es<br />

könnte unter den richtigen Umständen sehr schnell passieren. Ich will<br />

darauf hinaus, Mrs Bartez, dass der Weltraum eine unversöhnliche<br />

Umgebung ist. Er ist kalt. Er ist luftleer. Er ist lebensfeindlich und<br />

nimmt auf Dinge wie Intoleranz und Feindseligkeit keine Rücksicht.<br />

Dem Vakuum des Raums ist Ihre Hautfarbe völlig gleichgültig, oder Ihre<br />

politische Einstellung oder die Kraft in Ihren Armen oder die<br />

Gehirnzellen in Ihren Köpfen. Lediglich zwei Dinge können einen sehr<br />

schnellen und schmerzhaften Tod verhindern. Das erste ist die<br />

Unversehrtheit Ihrer Schiffshülle. Und das zweite sind Sie selbst und<br />

Ihre Kameraden.“<br />

Nun übernahm wieder Barclay. „Die Sternenflotte ist ein Ideal.“,<br />

erklärte er. „Ein Ideal von Erforschung und Kooperation. Das bedeutet,<br />

wir alle arbeiten zusammen. Und wir erreichen gar nichts, in dem wir<br />

Gewalt anwenden - erst recht nicht, wenn wir sie gegen unsere eigenen<br />

Kameraden einsetzen.“<br />

„Vor ein paar Wochen noch, hat mir rohe Gewalt das Leben gerettet.“,<br />

beteuerte Shan.<br />

Janeway schüttelte den Kopf. „Wo auch immer Sie herkamen, was<br />

auch immer Sie waren, bevor Sie die Tore der Akademie betraten, jetzt<br />

sind Sie ein Kadett des ersten Jahres. Die niedrigste Stufe der Leiter. Als<br />

solche, dürfen Sie nicht herumrennen und Vorgesetzten den Kiefer<br />

brechen. Einem höheren Offizier muss gehorcht werden.“<br />

„Finnegan soll über mir stehen?“<br />

„Im Rang, ja.“ Sie machte eine vage Geste. „Ist es möglich, dass Sie<br />

besser sind, als er? Vielleicht. Vielleicht nicht. Aber Sie kommen nie<br />

dazu, das zu beweisen, wenn Sie ihm den Kiefer zertrümmern. Das wird<br />

Sie nicht weiterbringen. Beim Maquis gegebenenfalls, aber nicht bei uns.<br />

Wenn jeder Befehl mit einer Faust kommentiert werden würde, bräche<br />

die komplette Kommandostruktur auf einer Sternenflotteneinrichtung<br />

zusammen und wir wären sofort bei den Klingonen. Wenn Sie jedoch der<br />

Kommandostruktur der Sternenflotte folgen wollen, dann müssen Sie<br />

andere Wege friedlicher Art finden, die Leute dazu zu bringen, Sie


anzuhören, oder sogar das zu tun, was Sie von ihnen verlangen. Ohne<br />

jemanden zu Foltern. Ist das klar?“<br />

„Ja...“<br />

Janeway schürzte die Lippen. „Es wäre auch nicht verkehrt, wenn Sie<br />

an ihre Vorgesetzten das Wort >Sir< adressieren würden, am Ende einer<br />

Aussage.“<br />

Shan runzelte die Stirn. „Warum?“<br />

„Es ist eine soziale Komponente innerhalb der Militärstruktur dieser<br />

Institution. Das >Sirdankebitte


Äußerst intensiv. Er mied daher ihren Blick und räusperte sich.<br />

„Jedenfalls sind wir sehr froh, dieses Missverständnis nun aus dem Weg<br />

geräumt zu haben.“ Er lächelte nervös. „Tja... die Einweisung haben sie<br />

jetzt wohl verpasst, hm. Und damit leider auch die Vorführung der vielen<br />

Spezialisierungen, für die sie sich nach dem Frischlingsommer<br />

entscheiden könnten. Um ehrlich zu sein, wenn man bedenkt, wie Sie<br />

Kadett Finnegan ausgeschaltet haben, glaube ich, würde Ihnen eine<br />

Karriere in der Sicherheitsabteilung am besten stehen, was meinen Sie?<br />

Oder vielleicht bei den Bodentruppen. Sie könnten mit denen-“<br />

„Piloten.“, sagte Shan.<br />

„Piloten?“<br />

„Ich will auf keinen Fall zur Sicherheit.“, sagte Shan feste und mit<br />

Überzeugung. „Da war mein Vater. Ich will zu den Piloten. Das wird mir<br />

am meisten nützen.“<br />

„A-am meisten nützen?“, wiederholte Barclay.<br />

Shan nickte nur.<br />

„Hm-hnm.“, machte Barclay. „Na schön. Wenn sie sich jetzt schon so<br />

sicher sind, könnte ich sie bereits für diverse Schnupperkurse<br />

einschreiben, sofern sie das möchten. Ich werde ein paar Hebel in<br />

Bewegung setzen und sehen, was sich einrichten lässt.“ Er kicherte<br />

nervös. „Sofern Sie niemanden mehr schlagen, in Ordnung?“<br />

„Ja.“ Sie stutzte. „Ist das... nun eine >Sir< Situation?“<br />

Barclay hob und senkte fröhlich die Schultern. „Es schadet nie, sich<br />

abzusichern, nicht wahr?“<br />

„Nun gut. Ja... Sir.“<br />

Barclay klatschte in die Hände und erhob sich, um zu signalisieren,<br />

dass sie fertig waren. „Dann verstehen wir uns.”<br />

„Ja, Sir.“ Auch Shan stand auf.<br />

„Exzellent. Nun dann...“ er legte ihr freundschaftlich eine Hand auf die<br />

Schulter. „Sie haben noch eine Menge Arbeit zu tun.“<br />

„Ja, Sir.“<br />

„Aber weiß, Sie schaffen das.“<br />

„Ja, Sir.“, bestätigte sie. „Genau wie ich.“<br />

„Dann würde ich sagen-“<br />

„Aber wenn Finnegan meinen Vater noch einmal erwähnt, werde ich<br />

ihm das nächste Mal etwas anderes, als nur seinen Kiefer zertrümmern.“


Barclay ließ sich zurück in den Stuhl fallen. „Setzen Sie sich, Kadett.“,<br />

sagte er seufzend. Shan setzte sich. Das Treffen würde länger dauern, als<br />

Barclay erwartet hatte.<br />

„Oh, Hallo. Du musst meine neue Zimmergenossin sein. Es ist mir<br />

eine außerordentliche Freude, dich kennen zu lernen.”<br />

Shan war sich nicht sicher gewesen, was sie erwarten sollte, als sie<br />

nach der Entlassung aus Dekan Barclays Büro beschlossen hatte, das ihr<br />

zugewiesene Quartier aufzusuchen. Auf jeden Fall hatte sie nicht damit<br />

gerechnet, von einem Tiger angesprochen zu werden.<br />

Das Tier lag mit seinem massivem Körper inmitten des Zimmers auf<br />

einem der beiden Betten und betrachtete sie mit einer Mischung aus<br />

wissenschaftlicher Neugierde und unverblümter Freude, während er in<br />

der Luft schnüffelte, um den Geruch der Besucherin aufzunehmen. Sein<br />

zweifellos weiches Fell war orange, mit schwarzen Streifen durchzogen<br />

und bedeckte den ganzen Körper. Er brachte ein merkwürdig echtes,<br />

beinahe menschlichen Lächeln zustande und wedelte aufgeregt mit<br />

seinem Schwanz. Er wirkte genau, wie ein Tiger, einzig mit dem<br />

Unterschied, dass er gerade zu ihr gesprochen hatte.<br />

Shan war in der Tür zur Salzsäule erstarrt und glotzte das Wesen aus<br />

verständnislosen Augen an. „Du ... bist ein Tiger.“, stellte sie fest.<br />

„Ein genetisch aufgewerteter Tiger, ja. Das ist korrekt.“, bestätigte das<br />

Tier. „Das Ergebnis eines illegalen Experimentes, könnte man sagen.“<br />

Shanny starrte ihn noch immer an. „Du... bist ein Tiger.“<br />

Das Tier neigte leicht seinen riesigen Kopf. Ebenfalls eine erstaunlich<br />

menschliche Reaktion. „Aber ja.“ Er kam auf alle viere, Schüttelte sein<br />

Fell aus, wie ein nasser Hund und sprang dann vom Bett herunter. Shan<br />

trat instinktiv einen Schritt in den Gang zurück, als der Tiger sich vor ihr<br />

aufbaute und auf die Hinterbeine stellte. Damit überragte er sie sogar.<br />

„Ich weiß, das könnte etwas verwirrend sein.“, erklärte er. „Mein letzter<br />

Zimmergenosse hat zunächst ganz ähnlich reagiert.“<br />

„Was... ist mit deinem letzten Zimmergenossen passiert?“<br />

„Er wurde gefressen.“<br />

Shan hob die Brauen. Der Tiger lachte – oder versuchte es -, als er ihre


Reaktion bemerkte. Ein merkwürdiges und in vielerlei Hinsicht<br />

beängstigendes Geräusch, dass sich eher wie ein Knurren anhörte. „Nicht<br />

von mir, natürlich. Er wurde auch nicht wirklich gefressen, wenn man es<br />

genau nimmt. Es war eine kleine Holodecksimulation. Eine der vielen<br />

Tests der Akademie. Leider lief etwas schief, die Sicherheitssperren<br />

reagierten nicht und er wurde bei einem Erstkontakt-Szenario getötet.“<br />

Der Tiger zuckte mit den Schultern. Mächtige Muskeln walzten, als er<br />

das tat. „Nun, das gibt uns beiden die Gelegenheit, was? Ich wollte schon<br />

immer mal mit einem Menschen zusammen wohnen.“ Er streckte ihr die<br />

Pfote hin. „Mein Name lautet übrigens Wotan. Und wer bist du?“<br />

Shan starrte ein paar Sekunden auf die ausgestreckte Pfote. Der Tiger<br />

hatte mächtige Pranken. Unschöne Erinnerungen an das Monster von<br />

Frigoria blitzten sekundenschnell vor ihren Augen auf, aber dennoch<br />

blieb ihr Gefahrensinn stumm. Shan machte einen vorsichtigen Versuch,<br />

die Hand ein Stück auszustrecken. „Shan. Shan Bartez.“, sagte sie<br />

gedehnt, während sie noch immer auf Wotans Klauen starrte und sich<br />

dabei alle möglichen Horrorvisionen ausmalte. Beide standen für einen<br />

Moment da, ihre Hände/Pfoten ausgestreckt, aber dennoch voneinander<br />

getrennt. Schließlich reichte Wotan rüber, nahm Shans rechte Hand mit<br />

seiner eigenen rechten und dann hob und schüttelte er sie sehr langsam,<br />

ohne ihr den Arm auszureißen. Genaugenommen war die Berührung<br />

sogar sehr sanft und angenehm.<br />

„Normalerweise.“, amüsierte sich Wotan. „denken alle, ich sei der<br />

Jenige, dem man erklären müsse, wie ein Händedruck funktioniert.<br />

Schön, die Situation einmal in der umgekehrten Variante zu erleben.<br />

Shan, ja? Das ist ein schöner Name. Wo stammt der her?“<br />

„Ist die Abkürzung von Sha’Nyn.“<br />

„Das klingt nicht menschlich“<br />

„Nein. Ist von den Tkon. Du kannst mich aber gerne Shan nennen,<br />

wenn das für dich leichter auszusprechen ist.“<br />

„In Ordnung, Shan.“, nickte Wotan. „Freut mich außerordentlich.“ Er<br />

drehte sich um, senkte seinen schweren Körper auf alle Viere hinab und<br />

sprang zurück auf das Bett, wo er begann mit seiner Schnauze diverse<br />

Dinge in einer kleinen Tasche zu verstauen.<br />

Shan stand noch einige Sekunden in der Tür und schüttelte schließlich<br />

den Kopf, als würde sie dadurch aus einem Traum erwachen. Dann trat


sie ein, damit sich die Tür schließen konnte, und Shan sah sich in ihrem<br />

neuen Zuhause um.<br />

Das zwei-Personen Quartier war eine spartanische Kombination aus<br />

Wohn- und Schlafzimmer. Mit einem stattlichen Tiger im Raum wurde<br />

es ziemlich eng. Abgesehen von einem großen Bild an der Wand, auf<br />

dem – wie könnte es auch anders sein – das ehemalige Schiff ihres<br />

Vaters, die USS Starfury abgebildet war, gab es kein Dekor. Die<br />

Einrichtung bestand lediglich aus den beiden Betten, einer kleinen<br />

Couch, einem Schreibtisch mit Computerterminal, und in der Wand<br />

eingearbeiteten Schränken für die Kleidung und persönlichen Dinge. Ein<br />

kleines Erkerfenster gewährte Tageslicht und zudem noch eine<br />

angenehme Aussicht auf die Akademieanlagen und die entfernten<br />

Gebäude der Metropole dahinter. Durch eine schmale Tür neben der<br />

Couch gelangte man ins Bad.<br />

Shan legte ihren Rucksack auf dem freien Bett ab und begann ihre<br />

Sachen auszupacken. „Tut mir leid, wegen meinem Zögern.“, sagte sie.<br />

„Ich wollte dir gegenüber nicht respektlos erscheinen und dich<br />

anglotzen. Ich... war nur etwas überrumpelt. Mit einem Tiger habe ich<br />

nicht gerechnet, verstehst du? Und vor kurzem machte ich keine guten<br />

Erfahrungen mit Raubtieren.“<br />

„Es besteht keine Notwendigkeit, sich zu entschuldigen, Liebes. Wir<br />

alle haben unsere Fehlerchen und ich mache dir deine überraschte<br />

Reaktion ganz gewiss nicht zum Vorwurf.“<br />

Shan maß ihn mit wissendem Blick. „Lass mich raten.<br />

Psychologiestudent?“<br />

Wotan neigte erstaunt den Kopf zur Seite. „Absolut richtig. Wie hast<br />

du das herausgefunden?“<br />

„Ausschlussverfahren.”<br />

„Nun, es stimmt. Ich habe ein Medizinstudium begonnen, als Internist,<br />

bis wir –meine Ausbilder und ich – begriffen, dass ich zum Halten der<br />

Instrumente einfach nicht das nötige Feingefühl besitze.“ Er hob eine<br />

seiner Pranken, als wollte er Pfötchen geben. „Leider sind meine Zehen<br />

etwas... nun, wie soll ich sagen? Grob. Also bin ich anschließend in die<br />

Psychologie gewechselt. Und für welche Studienrichtung hast du dich<br />

entschieden?“<br />

„Pilotentraining.“


„Aha. Das ist sehr interessant. Ich hörte das Training sei ziemlich<br />

fordernd. Aber die Akademie ist auf jeden Fall sehr gut ausgerüstet.<br />

Unterirdisch befinden sich riesige Hangars mit Flugsimulatioren und<br />

etlichen Schiffen für die Pilotenausbildung. Wird dir sicher gefallen.“<br />

Shan sah ihn schief an. „Wie kommt es eigentlich, dass du sprechen<br />

kannst?“<br />

„In meinem Hals ist ein Vocoder installiert. Ein kleines Wunderwerk<br />

der Biotechnologie, welches man als Gegenstück zu den menschlichen<br />

Stimmbändern bezeichnen könnte. Es ermöglicht mir, mich ganz normal<br />

zu unterhalten. Ziemlich kompliziertes Teil. Sehr ausgeklügelt. Manche<br />

behaupten ich würde zu häufigen Gebrauch davon machen.“ Er schien<br />

sich über seinen eigenen Scherz zu amüsieren.<br />

„Huh.“<br />

„Ja ja, so ist das.“<br />

Als Shan nichts erwiderte, sondern damit beschäftigt war, das Quartier<br />

zu begutachten, legte er ein Ohr an und stellte das andere auf. Ihm lag<br />

ganz offensichtlich noch etwas auf dem Herzen, er war aber unsicher,<br />

wie er seine Neugierde formulieren sollte. Wotan hatte ein bisschen<br />

Angst, zu aufdringlich zu sein. Dann entschied er sich aber dafür. Zu<br />

reden war schließlich die einzige Möglichkeit, an Informationen zu<br />

erhalten. „So… stimmt es, was alle sagen?” Er legte sich wieder in die<br />

Position, in der Shan ihn vorgefunden hatte und grinste sie an. „Hast du<br />

wirklich einen Kadetten des vierten Jahres mit einem einzigen Schlag<br />

außer Gefecht gesetzt?“<br />

Shan seufzte. Sie konnte nicht so recht nachvollziehen, warum jeder<br />

daraus ein solches Trara machte. Es war eine Konfrontation zwischen ihr<br />

und Finnegan gewesen und sonst ging das niemanden was an. Er hatte<br />

sich wie ein Idiot benommen und dafür die Rechnung kassiert. Nichts<br />

weiter.<br />

„Ja, hab ich.“<br />

„Erstaunlich.“<br />

„Scheint sich ja schnell rumzusprechen.“<br />

Wotan flatterte mit den Ohren. „Ich habe es eben von einem Kollegen<br />

aus der Medizin gehört. Er soll in die Notaufnahme eingeliefert worden<br />

sein, mit einem gebrochenen Kiefer. Der Kadett, nicht der Kollege aus<br />

der Medizin, meine ich. Selbst mit gerichtetem Knochen, wird er die


nächsten Tage höchstens aus den Mundwinkeln sprechen. Wirklich<br />

erstaunlich. Wie hast du das mit nur einem Schlag geschafft?“<br />

„Ich habe ihn getroffen.“, sagte sie einfach.<br />

„Hm.“ Wotan betrachtete sie aufmerksam. „Ich hoffe du wirst mir<br />

nicht auch weh tun.“<br />

Jetzt musste Shan lachen. „Eigentlich wollte ich dasselbe zu dir<br />

sagen.“<br />

„Oh, du hast nichts zu befürchten.“, winkte Wotan ab. „Ich habe meine<br />

wilde, animalische Seite vor Jahren abgelegt. Ich werde nicht länger von<br />

meinen Instinkten kontrolliert. Es war kein leichter Weg und ich musste<br />

hart an mir arbeiten und so manchen Rückschlag erleiden, aber<br />

schließlich habe ich es doch hierher geschafft, auf die<br />

Sternenflottenakademie. Als intelligentes, einfühlsames Wesen, und als<br />

überzeugter Pazifist.“<br />

Sie lächelte. „Nicht übel. Für einen Tiger.“<br />

Seine großen Augen leuchteten. „Kein normaler Tiger, wie gesagt.”<br />

„Und wie kam das?“<br />

„Das ist eine ziemlich lange und komplizierte Geschichte. Ich weiß<br />

nur, dass ich durch die Savanne Afrikas streifte, auf der Suche nach<br />

einem Beutetier, und plötzlich das äußerst unangenehme Pieksen eines<br />

Betäubungspfeiles am Hals spürte. Die Welt um mich herum begann sich<br />

zu drehen, zu verschwimmen, alles wurde neblig und ich verlor die<br />

Besinnung. Als ich erwachte, fand ich mich in einem Labor wieder, und<br />

war mir plötzlich meiner Existenz bewusst. Das war eine beträchtlich<br />

schwere und überwältigende Erfahrung, verstehst du? Die nachfolgenden<br />

Monate und Jahre waren nicht leichter. Es war ein erhebliches Training<br />

nötig, um meine animalische Seite unter Kontrolle zu bekommen. Aber<br />

nach einigen Rückschlägen ist es mir schließlich gelungen.“<br />

Shan war fasziniert. „Wow. Das muss... ahm, hart gewesen sein. Von<br />

heute auf morgen, gegen deinen Willen, deiner natürlichen Umgebung<br />

beraubt zu werden, meine ich.“ Wieder dachte sie an Frigoria. „Ein<br />

regelrechter Kulturschock, was?“<br />

Der Tiger seufzte laut. „Das stimmt. Aber das ist die Vergangenheit.<br />

Deswegen nennen sie es Vergangenheit. Weil es... na ja, weil es<br />

vergangen ist. Inzwischen bin ich sehr glücklich, und ich würde nicht<br />

wieder zurück in die Savanne wollen.“ Er betrachtete seine neue


Mitbewohnerin eingehend. „Und du bist also schon jetzt eine<br />

Campusbekannte Kriegerin, was? Kaum zu glauben, du wirkst so jung.“<br />

„Das Eis lässt einen schnell altern.“, meinte Shan. „Aber nein, ich bin<br />

keine Kriegerin. Nur vom Schicksal gezeichnet.“<br />

„Das bedeutet?“<br />

„Das bedeutet, ich komme aus einer Familie mit langer<br />

Sternenflottentradition. Die meisten meiner Leute haben auf Schiffen<br />

gedient. Mein berühmter Vater beispielsweise. Du hast sicher von ihm<br />

gehört – wer hat das nicht -, hat die Grez’An besiegt.“<br />

Sie starrte auf ihre Schuhe und rechnete automatisch mit den üblichen<br />

Reaktionen, die diese Worte hervorriefen. Wie: >ist nicht wahr!< oder<br />

>wow, das ist toll!< oder >kannst du mir ein Autogramm besorgen?


falsch, ihn darauf hinzuweisen. Es wäre gönnerhaft, oder gar<br />

herablassend, auch wenn man es ihr kaum verübeln konnte. Doch neben<br />

seiner Neigung zur Geschwätzigkeit, zeichnete ihn eine große Liebe zur<br />

Philosophie aus. Binnen weniger Minuten schwadronierte er über den<br />

Sinn des Leben, des Universums, und des ganzen Restes, nur um im<br />

Abschluss wieder auf scheinbar völlig unwichtige Themen zu kommen.<br />

Er plauderte über dies und über jenes. Erst als Shan einen überaus langen<br />

und scharfen Gegenstand auspackte, verstummte er. „Ist das... was ich<br />

denke, was es ist?“<br />

„Ich weiß nicht, was du denkst, was das ist.“, sagte Shan.<br />

„Eine Art Schwert?“<br />

„Dann ist es tatsächlich das, was du denkst, was es ist.“<br />

Mit einem metallenen Geräusch zog sie das Schwert aus der Scheide.<br />

Die Klinge blitzte im einströmenden Licht der Mittagssonne. Mit ein<br />

paar schnellen, aber eher ungeübten Bewegungen durchschnitt sie mit<br />

dem Schwert die Luft und steckte es dann wieder grinsend zurück, um es<br />

sicher über ihr Bett zu hängen.<br />

„Beeindruckend.“, sagte Wotan. „Ist das nicht ein Gardeschwert der<br />

Akademie?“<br />

„Ja.“<br />

„Bekommt man das nicht erst bei der Graduierung?“<br />

„Ist richtig.“<br />

„Nun... Was musstest du tun, um es jetzt schon zu erhalten?“<br />

Shan zögerte. Bilder des Gemetzels in der Eishölle schossen ihr durch<br />

den Kopf. Sie konnte das Gebrüll des Raubtieres beinahe hören. Ein<br />

Gebrüll, wie es Wotan vermutlich selbst vor wenigen Jahren noch von<br />

sich gegeben hatte. Sie sah den Tiger nicht an, als sie mit leiser Stimme<br />

sagte: „Ich glaube das willst du nicht wissen.“<br />

„Ah.“, machte Wotan. „Nun gut. Ich schätze ich vertraue in dieser<br />

Angelegenheit auf deine Weisheit.“<br />

„Ist besser so.“, nickte Shan und ging zum Schrank, um den Rest ihrer<br />

wenigen Sachen einzuräumen. Sie stellte fest, dass bereits mehrere<br />

Sternenflotten-Uniformen darin hingen. Sie schienen genau die richtige<br />

Größe zu haben. Shan schüttelte erstaunt den Kopf. Voraussicht... das<br />

konnte man laut sagen! Admiral Janeway hatte nicht nur genau gewusst,<br />

was sie tun würde, bevor sie es tat, sie war sich auch völlig sicher


gewesen, dass Shan, die Akademie trotz allem nicht verlassen würde.<br />

Sogar so sicher, dass sie angeordnet hatte, ihre Uniformen und den Rest<br />

der Ausrüstung in dieses Zimmer zu bringen. Ein Seufzen entfleuchte<br />

Shans Hals. Wie es den Anschein hatte, war ihr Leben bereits<br />

durchgeplant.<br />

Im Nebenraum zog sie sich um und legte die Kadetten-Uniform an.<br />

Damit setzte Shan die Tradition ihrer Familie fort, in der Sternenflotte zu<br />

dienen. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Wusste nicht, was<br />

sie von irgendwas auf dieser Akademie halten sollte. Sie würde einfach<br />

versuchen, ihr bestes zu geben und das würde genügen müssen. Als sie<br />

wieder um die Ecke trat, versuchte Wotan anerkennend mit den Pfoten<br />

zu klatschen, was aber überhaupt nicht funktionierte.<br />

„Sehr schön!“, lobte er dennoch. „Steht dir außerordentlich gut.“<br />

„Danke... denke ich.“<br />

„Aber die Stiefel sind nicht unbedingt nach Kleidervorschrift.“<br />

„Die bleiben an!“<br />

„So?“<br />

„Man sollte das Haus nie ohne festes Schuhwerk verlassen. Auch in<br />

diesem Falle, darfst du auf meine Weisheit vertrauen.“<br />

„Nun, da ich keine Schuhe trage, verlasse ich mich besser auch in<br />

diesem Falle auf deine Weisheit..“<br />

„Und wo ist deine Uniform?“<br />

Wotans Schnurbarthaare vibrierten. „Ich trage keine. Die Sternenflotte<br />

und ich kamen darüber ein, dass es ziemlich lächerlich aussehen würde,<br />

zumal ich auch jeden Stoff zerreiße, sobald ich mich bewege. Bis sie die<br />

geplanten Bioanzüge fertiggestellt haben, die wegen mir in Produktion<br />

gehen, und in ein paar Wochen einsatzbereit sein sollen, werde ich wohl<br />

ohne auskommen müssen.“<br />

Da er von Kopf bis Fuß mit Fell bedeckt war, schien Shan das<br />

vernünftig. Sie wandte sich zur Tür, um sich auf die Suche nach Sortak<br />

zu begeben, als jemand hereinkam. Shan wäre beinahe in die gewaltige<br />

Fleischmasse gerannt, die sich bei näherer Betrachtung als die junge<br />

Pakled-Frau Cera herausstellte.


„Uh.“, machte Shan. Sie sah auf... und auf.. und sah irgendwann in<br />

Ceras unbestimmtes Gesicht. „Hi.“<br />

Cera winkte blöde, obwohl Shan direkt vor ihr stand. „Hallo.“<br />

„Geht’s dir gut?“, fragte Shan.<br />

Cera schien die Frage zunächst nicht gehört, oder versanden zu haben,<br />

doch dann nickte sie plötzlich eifrig. „Besser... besser als... als ... dem<br />

Jungen.“<br />

„Finnegan?“<br />

Eine Pause entstand. Dann nickte Cera. „Ja, ja. Finnegan, ja.“<br />

„Selbst schuld.“, sagte Shan. „Für sein Verhalten gibt es keine<br />

Entschuldigung.“<br />

„Deswegen... deswegen wollte ich mich bei dir bedanken tun.“<br />

Plötzlich wirkte Cera sehr traurig. Sie schob die Unterlippe weit vor.<br />

„Mir hat ... mir hat noch nie einer geholfen getan. Oft ... oft sind alle<br />

gemein zu mir. Selbst hier. Selbst hier, ja.“<br />

Shan berührte die Pakled am Oberarm. Sie waren breit wie Warpkerne.<br />

„Ach, mach dir nichts draus, Cera.. du heißt doch Cera, oder?“<br />

Cera reagierte auch auf diese Frage nicht sofort. Erst nach einer<br />

gewissen Zeitspanne nickte sie, ganz so, als ob es immer eine Weile<br />

dauern würde, ehe Shans Worte ihr Oberstübchen erreichten. „Ja, ja.<br />

Cera mein Name, ja.“<br />

„Okay, Cera. Nimm dir das nicht so zu Herzen. Die Menschen denken<br />

manchmal ganz automatisch. Zahlreiche Vermutungen, zahlreiche<br />

eingebaute Mechanismen... Die Leute, die hier auf die Akademie<br />

kommen, sind nicht perfekt. Sie müssen erst viel von dem, was man uns<br />

aufgezwungen hat, wieder verlernen. Das reicht fast bis in die Zeit<br />

zurück, da unsere Vorfahren – oder zumindest meine Vorfahren – um die<br />

ersten Feuer kauerten und nervös zu den funkelnden Augen im Wald<br />

hinüberschauten. Und einer der grundlegendsten dieser eingebauten<br />

Mechanismen ist, dass die Leute Angst vor dem haben, was sie nicht<br />

kennen, oder zumindest mit Abweisung reagieren. Sie fürchten sich vor<br />

dem Unbekannten, weil sie glauben, es könne ihnen schaden.“<br />

„Hat... hat der Junge auch Angst?“<br />

„Ne, der hat einfach einen an der Waffel.“, erwiderte Shan verärgert.<br />

„Der Punkt ist, dass die Leute herkommen, um dort hinauf...“ sie deutete<br />

zur Decke „...zu gelangen.“


„In... in den zweiten Stock?“, fragte Cera verwundert.<br />

„Nein! Nein, nein. Nicht in den zweiten Stock. In den Weltraum.“<br />

„Ah.“<br />

„Aber wenn man da hin will, darf man keine Angst vor dem<br />

Unbekannten haben, sondern muss bereit sein, es zu umarmen. Sich von<br />

ihm anziehen zu lassen und es zu studieren. Sich von ihm anregen zu<br />

lassen und seine Wunder teilen zu wollen. Aber dieser Übergang ist<br />

bestimmt nicht leicht und wir befinden uns gerade auf einem Grund und<br />

Boden, wo er uns hoffentlich beigebracht werden soll. Wo wir eine... wie<br />

kann man es am besten Ausdrücken? – Wo wir eine neue Denkweise<br />

lernen sollen. Zumindest die von uns, die noch nicht gut erzogen worden<br />

sind. Ist zwar verwunderlich, dass einer im vierten Jahr das noch nicht<br />

geschnallt hat, aber überhebliche Trottel gibt es überall.“<br />

„Du... du bist kein überheblicher Trottel.“, erkannte Cera. „Du hast<br />

auch keine Angst vor mir. Oder... oder Abscheu.“<br />

Shan zuckte mit den Schultern „Warum sollte ich ängstlich sein? Du<br />

wärst kaum auf der Akademie, wenn man dich nicht vorher geprüft hätte.<br />

Also bezweifle ich, dass du eine Verrückte bist. Oder bist du eine?“<br />

Cera überlegte angestrengt. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein.“<br />

„Aber..?“<br />

„Ich bin... ich bin anders... als die anderen.“<br />

„Die lernen noch.“, rief Shanyn ihr ins Gedächtnis zurück. „Schon<br />

vergessen? Wir alle lernen noch. Na ja, so lange du hier bist, haben die<br />

Kadetten ja auch die Gelegenheit, aus erster Hand und allernächster<br />

Nähe zu erfahren, was eine Pakled so alles drauf hat, was?“<br />

„Nun...“<br />

„Also sorg dafür, dass die Trottel ihre Vorurteile überwinden, in dem<br />

sie dich kennen lernen. Damit sie dir mit dem Respekt, der Würde und<br />

der Ehre begegnen, die dir zusteht.“<br />

Wotan, der noch immer auf dem Bett lag und ihnen zugehört hatte,<br />

klatschte die Pfoten aufeinander. Es klang wie ein Kanonenschlag. „Sehr<br />

schön gesagt, Liebes. Einfach nur schön gesagt. Ich stimme dir in jedem<br />

Punkt zu.“<br />

Shan verbeugte sich anerkennend vor ihm. „Vielen Dank, Councellor.“<br />

Dann blickte sie wieder an Cera hoch. „Und wenn sie dich nicht mit<br />

Würde behandeln... dann verklopp sie einfach.“


Cera antwortete nicht darauf. Sie schien die Ironie der Worte nicht<br />

bemerkt zu haben, sondern sah sich misstrauisch im Quartier um, als sei<br />

sie gerade erst hereingekommen. Shan schnitt eine Grimasse. Cera war<br />

schon eine merkwürdige Person. Merkwürdiger als der Tiger. Wenn man<br />

mit ihr Sprach, hatte Shan mitunter den Eindruck, sie mit irgend etwas<br />

zutiefst beleidigt zu haben, und dann merkte sie einen Augenblick später,<br />

dass Ceras plötzliches Schweigen nur darauf zurückzuführen war, dass<br />

sie nicht so recht wusste, was sie als nächstes sagen sollte, oder was von<br />

ihr erwartet wurde, sodass sie einfach den Mund hielt.<br />

„Äh, ja.“, sagte Shan. „Du machst das schon.“<br />

„Danke für... für alles.“<br />

Shan zwinkerte. „Hey – dafür sind Freunde da.“ Sie trat an Cera vorbei<br />

und auf den Korridor hinaus.<br />

Die Pakled strahlte Wotan an. „Sie... sie hat mich >Freund< genannt.“<br />

Shan verließ das Zimmer und ging den Korridor entlang, um Sortak zu<br />

suchen. Dabei kamen ihr eine ganze Reihe orientierungsloser Kadetten<br />

entgegen, die alle freundlich grüßten. Shan nickte dann jedes mal knapp.<br />

Sie fühlte sich seltsam. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich mit der<br />

Tatsache abgefunden hatte, dass sie die nächste Bartez in den heiligen<br />

Hallen der Sternenfottenakademie sein würde. Aber ihre alles andere als<br />

glorreiche Ankunft, hatte sie nachdenklich gemacht. Gehörte sie hier<br />

überhaupt her? Oder musste sie sogar hierher, um Disziplin zu lernen?<br />

Wie konnte ein Freigeist wie sie nur einen Platz auf der Akademie<br />

finden? Sie wusste, dass sie solche Gedanken nicht mehr lange hegen<br />

durfte. Damit würde sie sich verrückt machen. Aber sie kam einfach<br />

nicht gegen den Zweifel an.<br />

„Shan!“<br />

Sie drehte sich um und sah, dass Sortak, der ebenfalls seine Kadetten-<br />

Uniform trug, hinter ihr herlief. Shan umarmte ihn. „Da bist du ja! Ich<br />

habe schon überall nach dir gesucht.“<br />

„Gleichfalls. Wie ist es gelaufen?“<br />

Shan streckte die Hand und wog sie hin und her: So lala.


„Zumindest hat man dich nicht rausgeworfen. Ich hätte auch nicht<br />

gewusst, wie ich deinen Eltern hätte erklären sollen, dass ich nicht genug<br />

aufgepasst habe. Übrigens: Du hast die Begrüßungsansprache und die<br />

Führung durch das Gelände verpasst.“<br />

„War es etwas besonderes?“<br />

„Ehrlich gesagt, hab ich sie auch verpasst. Sturak hielt die Rede. Das<br />

musste ich mir nicht unbedingt antun.“<br />

Shan zog eine traurige Mine. „Ihr solltet die Sache zwischen euch<br />

endlich klären, Sortak. So kann das nicht weitergehen.“<br />

„Erzähl das meinem alten Herren. An ihm ist kein Rankommen.<br />

Verdammte Eltern.“<br />

Shan rollte die Augen. „Wem sagst du das?“ Um das Thema zu<br />

wechseln fragte sie: „Welches Zimmer hast du bekommen? Wo hat man<br />

dich untergebracht?“<br />

„Hier im selben Kadettenheim wie du, zweiter Stock, Zimmer sieben.“<br />

Dann fügte er mit offensichtlicher Abneigung hinzu: „Sie haben mich<br />

mit dem Tellariten zusammengesteckt.“<br />

„Nein! Mit Durkin?“<br />

„Genau mit dem.“<br />

Shan schüttelte den Kopf. „Die Sternenflotte hat ja doch Sinn für<br />

Humor. Ich hatte gehofft, wir würden uns ein Zimmer teilen.“ Sie zuckte<br />

mit den Schultern. „Na ja, ist wohl wirklich besser als ganz<br />

rausgeworfen zu werden, würde ich sagen. Kommst du denn klar?“<br />

„Sicher. Und du? Wie ist dein Zimmergenosse?“<br />

„Pelzig.“<br />

Er runzelte die Stirn. „Kommst du denn klar?“<br />

„Ich werde durchhalten.“<br />

„Na schön. Komm, ich habe ein paar Leute auf meinem Zimmer, die<br />

ich dir vorstellen will.“<br />

„Ist ein Finnegan dabei?“<br />

„Nein.“<br />

„Ein Tiger?“<br />

„Nein.“<br />

„Dann geh voran.“


Sortak führte Sie zu seinem Quartier. Als er die Tür öffnete, fiel Shan<br />

zuerst auf, dass tatsächlich kein Tiger auf dem Bett lag. Irgendwie schien<br />

ihr das vernünftig zu sein, nicht in jedem Quartier genetische<br />

Experimente unterzubringen. Sie hörte auch mehrere Stimmen, die alle<br />

durcheinander sprachen, doch der Lärm verstummte abrupt, als Shan den<br />

Raum betrat. Mehrere der Insassen erkannte sie augenblicklich wieder.<br />

„Du bist noch hier.“, sagte die Andorianerin Tala überrascht.<br />

„Wie ein falscher Fünfziger, tauche ich immer wieder auf.“,<br />

entgegnete Shan mit einem schiefem Grinsen. Sie wollte sich schon<br />

innerlich für diesen durchaus guten Spruch gratulieren, als sie plötzlich<br />

realisierte, dass es der Standartspruch ihres Vaters war. Sofort verfluchte<br />

sie sich dafür. Jetzt benutzte Sie schon seine Sprüche! Das musste die<br />

verdammte Uniform sein!<br />

Tala runzelte die Stirn. „Was ist ein... Fünfziger?“<br />

„Zerbrich dir nicht die Antennen darüber.“, winkte Shan ab. „Sagen<br />

wir einfach, sie haben mir noch eine Chance gegeben.“<br />

„Es kommt mir wahrscheinlicher vor.“, erwiderte Tala. „dass sie die<br />

Tochter der Legende Matt Bartez nicht ausschließen wollten.“<br />

Shan runzelte die Stirn. Das war ein beunruhigender Gedanke. Aber<br />

ein unzutreffender, da war sie sich sicher. „Mein Vater ist einflussreich,<br />

aber nicht so einflussreich. Die Akademie hat strenge Regeln, die kann<br />

selbst er nicht brechen.“ Ein Umstand, der sie sehr glücklich machte.<br />

Vielleicht war die Akademie ja doch nicht so übel, wenn man sie<br />

wenigstens hier nicht bevorzugen würde, dann war das ein recht<br />

angenehmer Ort und er unterschied sich erheblich von den bisherigen<br />

Schulen, die sie besucht hatte.<br />

„>Das Grau< da drüben ist mein zweiter Zimmergenosse.“, sagte<br />

Sortak und deutete auf einen Außerirdischen, den man auch wirklich<br />

nicht treffender, als mit Außerirdisch beschreiben konnte. Auf der<br />

anderen Seite des Zimmer wuselte ein Wesen durch die Gegend, welches<br />

sich durch eine gewisse Hyperaktivität auszeichnete. Es rannte mal<br />

hierhin, dann mal dorthin und wieder zurück, wobei sein Kopf herumflog<br />

und ziemlich jede Kleinigkeit des Zimmers zu sondieren schien. Das<br />

Wesen war am ganzen Körper kahl, grau und etwa 1,20 groß. Seine<br />

geradezu lächerlich dünne Statur wirkte sehr zerbrechlich, ganz im


Gegensatz zu seinem ballonartigen Kopf, der auf Shan einen<br />

überproportional großen Eindruck machte. Zwei große schwarze Augen,<br />

die fast wie Billardkugeln glänzten, gaben seiner Mimik einen<br />

unheimlichen, stechenden Ausdruck. Davon abgesehen diente dem<br />

Fremden ein schmaler, horizontaler Schlitz als Mund. Über eine Nase<br />

verfügte er nicht.<br />

„Es ist ein Briori.“, erklärte Sortak. „Das erste in der Sternenflotte.<br />

Und ein ziemlich geniales Köpfchen.“<br />

„Es?“, echote Shan verblüfft.<br />

„Briori sind Geschlechtslos.“ Sortak zuckte mit den Schultern. „Grau<br />

isst nicht, Grau schläft nicht... Es hat nicht einmal Knochen. Auch keine<br />

Organe. Das Blut seines Körpers wird durch die Kontraktionen der<br />

Muskeln bewegt. Seine Sinne sind um ein vielfaches Schärfer als unsere.<br />

Die Augen sind viel größer und besitzen keine Iris in dem Sinne,<br />

wodurch es die Lichtmenge nicht richt steuern kann. Jedenfalls nicht wie<br />

wir. Die Hör- und Geruchsorgane sind miteinander verbunden, wodurch<br />

es Geräusche nicht nur hört, sondern auch noch riechen kann. Das<br />

gleiche gilt natürlich auch für Gerüche, es kann Gerüche hören.<br />

Verrückt, was? Sein Fachgebiet ist Computertechnik. Hey, Grau. Komm<br />

doch mal her, ich möchte dir jemanden vorstellen.“<br />

Grau, der bislang unentweckt umhergerannt war, blieb plötzlich stehen<br />

und drehte den Kopf zu Shan, als hätte er sie erst jetzt bemerkt. Er wurde<br />

plötzlich zu einem Schemen, als er herübergeflitzt kam, und im nächsten<br />

Augenblick stand er bereits vor ihr. Er bewegte sich mit unglaublicher<br />

Geschwindigkeit!<br />

„Das...“, sagte Sortak, der sich schon daran gewöhnt hatte. „Ist Shan<br />

Bartez. Shan, das ist Grau.“<br />

„Oh, uhm... hi.“, grüßte Shan.<br />

Grau blieb stumm. Shan wurde aus riesigen, liedlosen Augen<br />

angestarrt. Und irgendwas tat sich darin. Eine Art... eine Art Pulsieren.<br />

Shan runzelte die Stirn und beugte sich zu Grau herab, um sein Gesicht<br />

genauer in Augenschein zu nehmen. „Wie geht’s dir?“<br />

Grau beantwortete die Frage, doch er benutzte nicht die Sprache der<br />

Menschen, um sich mitzuteilen. Es war überhaupt keine verbale Sprache.<br />

Es äußerte sich in seiner natürlichen Sprache, ohne Ton, ohne Gestik,<br />

ohne Emotionen. Es begann in rasendem Tempo, als Grau mit Shan


kommunizierte, und zwar in einer Sprache, die aus Bildern und<br />

Sinneseindrücken bestand. Mit atemberaubender Geschwindigkeit nahm<br />

es Shan auf eine virtuelle Reise durch sein Gedächtnis mit. Der<br />

Informationsfluss war für Shans Synapsenaktivität zu schnell. Sie stürzte<br />

rücklings zu Boden, griff sich an die Schläfen und keuchte auf vor<br />

Schmerzen.<br />

Binnen weniger Sekunden raste sie durch Schlachten, die sich im<br />

Delta Quadranten zugetragen hatten, erfuhr, wie die Briori Planet um<br />

Planet erobert hatten, wie sie heuschreckengleich einen Ort nach dem<br />

anderen heimgesucht und die Ressourcen aufgebraucht hatten. Dann<br />

waren sie zu ihren Schiffen zurückgekehrt und zum nächsten<br />

Weidegrund weitergezogen, so lange, bis sie auf die Vadwauur getroffen<br />

waren, eine Spezies, die sich gegen die Briori wehrte – erfolgreich. Shan<br />

erlebte mit, wie die Briori immer mehr ihrer Weltenschiffe an die<br />

Vadwaaur verloren, bis sie beinahe völlig ausgelöscht worden waren.<br />

Das letzte, stark beschädigte Weltenschiff, hatte sich zu einem fernen<br />

Klasse L Planeten, jenseits der Reichweite der Vadwaaur geschleppt und<br />

war abgestürzt. Dank eines Subraumportals, dass sich in dem<br />

Maschinenkern des Weltenschiffes errichten lies, waren die Briori in der<br />

Lage, einen weit entfernten Planeten zu erreichen – die Erde. Sie<br />

entführten über 300 Menschen, um sie als Sklaven zu halten. Ohne<br />

Gnade, ohne Reue. Doch die Sklaven starteten eine Revolte und<br />

vertrieben die letzten Briori in einem verbitterten Kampf. Grau rettete<br />

sich auf die Erde, wo er bis vor wenigen Jahren unter Wasser verbrachte<br />

und sich jetzt erst zeigte. Und dann hörte der telepathische Kontakt auf.<br />

Shan lag schwer atmend am Boden und wusste nicht so genau, wie sie<br />

dorthin gekommen war. Sie versuchte noch immer ihre Eindrücke zu<br />

ordnen. Sie war benommen und desorientiert und der Schleier, der sich<br />

um sie gehüllt hatte, lichtete sich nur langsam. Ein Gesicht tauchte über<br />

ihr auf. Es war Sortak. Er wirkte besorgt und verlegen.<br />

„Tut mir leid, Shan. Das habe ich vergessen zu erwähnen. Grau hat<br />

keine Stimmbänder. Er kommuniziert nur durch Telepathie. Das kann...<br />

einen ganz schön umhauen, wenn man nicht drauf vorbereitet ist. Als<br />

Vulkanier komme ich damit besser zurecht als die meisten.“ Er reichte<br />

ihr einen Arm, um ihr hoch zu helfen. „Tschuldigung.“<br />

„Schon okay. Uff.“


Als Shan sich aufsetzte, hielt sie sich immer noch den schmerzenden<br />

Schädel. Grau war inzwischen wieder dabei, hin und herzurennen.<br />

Sortak erklärte: „Die Sternenflotte lässt gerade einen kleinen Apparat<br />

bauen, mit dem er seine Gedanken verbalisieren und auf gewöhnliche<br />

Art mit uns kommunizieren kann. Ist aber noch nicht fertig.“<br />

„Was du nicht sagst.“<br />

„Tala, Yoko und Durkin hier, kennst du ja schon.“<br />

Durkin machte sich gar nicht erst die Mühe, etwas zu sagen. Er<br />

grunzte nur, als Shan ihm knapp zunickte. Yoko war damit beschäftigt,<br />

sich auf einem Datenblock diverse Notizen zu machen.<br />

„Na schön.“, sagte Sortak. „Und das hier ist Galak Arsamandi, Talas<br />

Zimmergenosse.“<br />

Sortak trat beiseite und Shan machte direkter hinter ihm einen<br />

attraktiven, jungen Mann aus. Das erste, was Shan an ihm auffiel, war,<br />

dass er völlig nackt da stand. Einzig seine Lenden wurden durch eine Art<br />

bunt leuchtender Energieform verhüllt. Eine vielfarbene Wolke, aus<br />

fröhlich tanzenden Lichtkugeln, wie es schien, die höchstens erahnen<br />

ließen, was sich hinter ihnen verbarg. Sie erinnerten Shan an<br />

Glühwürmchen.<br />

Davon abgesehen war er gänzlich unverhüllt. Seinen Körper musste er<br />

aber auch wirklich nicht verstecken, denn beeindruckende Muskelstränge<br />

zeichneten seine Brust, seine Arme aus und sein Waschbrettbauch. Er<br />

war mit abstand der muskulöseste Junge, den Shan je gesehen hatte.<br />

Noch muskulöser als Sortak, aber trotzdem nicht übertrieben. Galak war<br />

aber auch insgesamt eine beeindruckende Gestalt. Seine Augen waren<br />

klein und er besaß zeitweise keine Pupillen. Stattdessen schien eine Art<br />

mystischer Nebel in seinen Augen zu wabern. Er hatte eine kleine Nase<br />

und da sein Kinn markant zulief, konnte man sein Gesicht am ehesten als<br />

ausgeprägt jungenhaft beschreiben. Sein Haar war lang, hellblau und hier<br />

und da mit weißen Rasterketten versehen. Obwohl in dem Quartier<br />

windstille herrschte, schienen die Haare beständig in einem rätselhaften<br />

und nur für Galak bestimmten Luftzug zu wehen, was ihm ein<br />

einigermaßen verwegenes Aussehen verlieh. Aber das faszinierendste<br />

blieben zweifellos die glühende Wolke aus bunten-<br />

„Sollen wir in dein Quartier gehen, oder in meines?“<br />

Shan sah auf. „Verzeihung?“


„Du hast auf mein Gemächt gestarrt.“, erklärte Galak. „Ich nehme an,<br />

du möchtest kopulieren.“<br />

„Was?!“<br />

Tala kicherte.<br />

„Nun, wir könnten natürlich auch gleich hier, sofern dich die<br />

Anwesenheit der anderen nicht-“<br />

„Whow, whow, whow.“ Shan hob rasch beide Hände, um ihn zu<br />

unterbrechen. „Langsam, Casanova. Schön langsam. Ich glaube hier liegt<br />

ein Missverständnis vor. Ein ganz gewaltiges sogar.“<br />

„Aber du hast-“<br />

„... kein Interesse an... was immer du auch denkst.“<br />

Galaks Blick wanderte für einen Moment verständnislos zu den<br />

anderen Personen im Raum, die sich das Lachen kaum verkneifen<br />

konnten, dann fixierte er wieder Shan und plötzlich erheiterten sich seine<br />

Züge. „Ah. Ich verstehe. Das ist eines der menschlichen Balzrituale,<br />

nicht wahr? Wo das Weibchen vorspielt, es sei nicht an einer Kopulation<br />

interessiert, um das Männchen anzuspornen, sie mit beeindruckenden<br />

Gesten und Geschenken zu überhäufen.“<br />

Shan tat so, als würde sie einen Moment darüber nachdenken. Dann<br />

antwortete sie mit einem langgezogenen: „Nnnnnein. Hör zu: du hast da<br />

was in den wirklich, wirklich, wirklich falschen Hals bekommen. Ich<br />

fand nur... diese... diese Lichtpunkte da unten so verwirrend. Nichts<br />

weiter. Ich habe ehrlich nicht das geringste Interesse an dir.“<br />

„Aber an meinen Lichtpunkten?“<br />

„Ja. Nein. Uh.“ Sie rieb sich mit den Fingern den Nasenrücken, und<br />

bemühte sich, die Worte genauer zurechtzulegen. „Ganz klar, nein. Nein<br />

zu dir, nein zu deinen Lichtpunkten, nein zu allem. Einfach... nein.“<br />

„Das meinst du doch nicht ernst, nicht wahr?“<br />

Sie tat so, als müsse sie darüber nachdenken. „Doch... doch, ja, ... ja,<br />

das meine ich ernst.“<br />

„Aber mich zurückzuweisen wäre eine Dummheit! Ich habe alle drei<br />

Dinge, die eine Frau haben will. Ich habe einen fantastischen Körper und<br />

ich bin reich.“<br />

Shan wartete einen Moment ab, ob da noch etwas kam. Dann kniff sie<br />

die Augen zusammen und beugte sich ein Stück zu Galak vor. „Das...<br />

uhm... waren nur zwei Dinge, Superhirn.“


Galak hob belehrend einen Finger. „Nein, >ein fantastischer Körper<<br />

zählt doppelt.“<br />

Shan rollte die Augen.<br />

„Außerdem...“, fuhr Galak fort. „bin ich eine Popularität.“<br />

„In welchem Spiegeluniversum?“<br />

„Wie meinst du das, in welchem Spiegeluniversum? In diesem<br />

Universum natürlich!“<br />

„Hör zu. Das ist wirklich nur ein Missverständnis. Du bist... um...<br />

nicht ganz mein Typ.“<br />

„Nicht ganz dein Typ?“ Galak musterte sie verwirrt. „Ich verstehe<br />

nicht.“<br />

„Du bist ein Schönling. Ein Snob. Um das zu wissen, braucht man<br />

dich nur anzusehen. Somit spielst du nicht in meiner Liga. Du spielst so<br />

was von nicht in meiner Liga, dass, wenn deine Liga explodieren würde,<br />

ich den Knall erst drei Tage später hören könnte. Hat das jetzt jeder<br />

begriffen, oder muss ich noch deutlicher werden?“<br />

„Selbst ich habe das verstanden.“, warf Yoko ein. „Und ich bin nicht<br />

einmal von diesem Planeten.“<br />

„Das ist unerhört!“, schnappte Galak. Er richtete sich zu seiner vollen<br />

– und durchaus beeindruckenden - Größe auf. „Ich bin Galak Arsamandi,<br />

Prinz des orsorianischen Reiches. Niemand würde eine solche Dummheit<br />

begehen und mich zurückweisen.“ Daran bestand kein Zweifel.<br />

Shan seufzte. „Ich muss dich enttäuschen, Galak Arsamandi, Prinz des<br />

orsiorianischen Reiches. Dummheiten zu begehen, ist mein Hobby.<br />

Andernfalls wäre ich nicht hier.“<br />

Doch Galak schnaubte nur empört. Er mochte es offensichtlich ganz<br />

und gar nicht, eine Zurückweisung zu erhalten. Seine Exzellenz musterte<br />

Shan von oben bis unten, und was er sah, schien auf einmal gar nicht<br />

mehr seinen hohen Ansprüchen zu genügen. „Pah!“, machte er. „Du bist<br />

eines Orsorianers auch nicht würdig, Mensch!“ Er wandte Shan<br />

demonstrativ den Rücken zu, verschränkte die Arme vor der Brust und<br />

hob die Nase zum Himmel.<br />

„Galak...“, begann Shan.<br />

„Sprich nicht mit mir!“<br />

„Nimm’s doch nicht so persönlich.“ Aber dieses Mal kam erst gar<br />

keine Reaktion mehr.


„Fein.“, zickte Shan. „Wenn eure Hoheit schmollen will... Ist mir<br />

völlig egal.“ Sie drehte im ebenfalls den Rücken zu und verschränkte die<br />

Hände vor der Brust. So ein Kerl! Aber sie hatte das Gefühl, dass sie sich<br />

über Galaks verwirrende Anwesenheit keine Sorgen machen musste. Bei<br />

seiner Arroganz, würde er wahrscheinlich innerhalb einer Woche wieder<br />

verschwunden sein. Oder sie würde innerhalb einer Woche<br />

verschwunden sein.<br />

Sortaks Blick wanderte zwischen Galak und Shan umher: „Seid ihr<br />

jetzt fertig?“<br />

„Und wie.“, bestätigte Shan.<br />

„Schön. Tala hier hat vorgeschlagen, eine Studiengruppe zu bilden.“,<br />

erklärte ihr Sortak „Bist du dabei?“<br />

Shan kam sich ein bisschen blöd vor. Seit ihrer Ankunft hatte sie es<br />

geschafft, sich auf einen Kampf einzulassen, beinahe von der Akademie<br />

geworfen zu werden und den Prinzen des orsorianischen Reiches zu<br />

beleidigen. In der gleichen Zeit hatte es Sortak geschafft, eine Gruppe zu<br />

organisieren, die sogar zusammen studieren wollte, und er hatte sich<br />

darauf vorbereitet, die wichtigsten Dinge zu klären. Shan konnte sich<br />

glücklich schätzen, ihn zu haben. „Ja, gerne. Was dagegen, wenn ich<br />

auch meinen Zimmerkameraden einlade?“<br />

„Für mich ist das nicht relevant.“, verkündete Durkin.<br />

Tala murmelte spitz: „Eigentlich hat dich auch niemand gefragt.“<br />

Durkin grunzte nur.<br />

Sortak zuckte mit den Schultern. „Nein, kein Problem.“<br />

„Die Pakled von der Landeplattform zu fragen, wäre vielleicht auch<br />

keine schlechte Idee. Ich denke sie könnte ein paar Freunde gut<br />

gebrauchen. Was meinst du?“<br />

„Sicher, warum nicht?“<br />

„Wisst ihr was!“, verkündete Durkin feierlich. „Wir gehen jetzt in die<br />

Mensa und essen! Dabei können wir unsere Kurspläne besprechen.“<br />

Niemand schien begeistert davon, da sich niemand in Bewegung<br />

setzte. Sie sahen ihn alle einen Moment lang an und drehten sich dann<br />

wieder weg.<br />

„Komm.“, sagte Sortak zu Shan. „Ich zeige dir, was du im Rundgang<br />

verpasst hast. Der Flugbereich unterhalb der Akademie wird dich sicher<br />

interessieren.“


„Ja, hab gehört, er soll ziemlich beeindruckend sein.“<br />

„Ach?“<br />

Sie zuckte mit den Schultern. „Man könnte sagen, ein Vöglein hat es<br />

mir gezwitschert.“ Und murmelnd fügte sie hinzu. „Zutreffender wäre<br />

aber wohl: ein Tiger hat es mir zugeknurrt.“<br />

Die Türhälften des Turbolifts glitten beiseite und gerade als Sortak<br />

eintreten wollte... verharrte er plötzlich mitten in der Bewegung. Sein<br />

Vater stand in der Kabine. Eine große Gestalt, mit buschigen Brauen,<br />

dunklen Augen und kantigem Gesicht. Er hatte die Hände hinter dem<br />

Rücken verschränkt und offenbar nicht damit gerechnet, seinem Sohn<br />

über den Weg zu laufen. Ihre Blicke trafen sich. Zunächst starrten sie<br />

sich einfach nur an. Sortak wollte etwas sagen, wollte sein Dasein<br />

erklären. Er war auf Zorn und Schmähungen gefasst, er war bereit, alles<br />

über sich ergehen zu lassen und Fragen, wo er herkam, und was er hier<br />

zu suchen hatte, zu beantworten, obwohl er gewillt war, die Antworten<br />

so vage wie möglich zu halten. Er war bereit für eiskalte, abschätzende<br />

Blicke, schmerzhafte Wutausbrüche, fassungslose Reaktionen, oder eine<br />

Fortsetzung ihres ewig andauernden Streits. Verdammt, er war sogar<br />

darauf gefasst, dass Sturak einen Phaser zog und auf ihn schoss. Es<br />

waren schon merkwürdigere Dinge geschehen. Ein Verbrechen aus<br />

Leidenschaft, so würde man es bezeichnen. Sturak würde ein bisschen<br />

seine Beziehungen spielen lassen und jedes Gericht des Universums<br />

würde ihn wegen vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit<br />

freisprechen. Er würde ungehindert seinen Dienst als Dozent für<br />

Wissenschaften fortsetzen und keineswegs, wie Sortak einst, in einem<br />

Gefängnis landen.<br />

Doch Sortak war überhaupt nicht auf diesen kühlen Blick vorbereitet,<br />

mit dem er begrüßt wurde. In Sturaks Augen war kein Spur einer<br />

Emotion. Das durfte man zwar von einem Vulkanier erwarten, aber<br />

Sturak war ebenso wenig ein traditioneller Vulkanier, wie Sortak. Er<br />

starrte seinen Sohn an, als sei er ein Fremder. Sortak erkannte, dass sein<br />

Vater sich darauf verlegt hatte, einfach abzuwarten, bis er den ersten<br />

Schritt machte. Sturak war ein Dickkopf, was er vermutlich an Sortak


vererbt hatte. Aber so kamen sie nicht weiter. Er würde etwas sagen<br />

müssen, sonst würden sie den Rest des Tages damit verbringen,<br />

herumzustehen und sich anzustarren. Also schob Sortak das Kinn vor:<br />

„Fein. Wir warten auf den nächsten.“<br />

Er trat einen Schritt zurück, damit sich die Tür wieder schließen und<br />

der Lift seinen Weg allein mit Sturak fortsetzen konnte, als er plötzlich<br />

von hinten in die Kabine geschoben wurde. Es war Shan, die drückte.<br />

„Der hier ist gut genug.“, sagte sie.<br />

Sie wusste, dass sie Sortak niemals hätte bewegen können, wenn er es<br />

nicht gewollt hätte. Und obwohl er eigentlich diesen Eindruck erweckte,<br />

kämpfte er nicht ernsthaft gegen sie an. Die Türen zogen sich hinter<br />

ihnen zu. Sie waren gemeinsam eingeschlossen. Die Kabine fuhr los. Als<br />

sich die Tür geschlossen hatte, hatte Shan die Arme weit ausgebreitet<br />

und rief erfreut: „Onkel Sturak!“ Sie fiel ihm um den Hals und umarmte<br />

ihn herzlich. Sturak, plötzlich die netteste und zuvorkommendste Person<br />

des Universums, lächelte ebenfalls und erwiderte die Umarmung. Er rieb<br />

Shans Oberarme mit seinen Händen und musterte sie ausgiebig. „Shan.<br />

Du bist aber groß geworden.“<br />

Sortak rollte verdrossen die Augen. Das war ausgerechnet dieselbe<br />

Reaktion, die auch er Shan bei ihrer Wiedervereinigung heute Morgen<br />

entgegengebracht hatte. Und das passte ihm überhaupt nicht.<br />

„Wie geht es dir?“, fragte Sturak Shan. „Ich habe von deinem Ausflug<br />

ins Eis gehört und empfinde Erleichterung, dich wohlauf<br />

wiederzusehen.“<br />

Shan grinste schief. „Ich bin unverwüstlich.“<br />

„Das liegt in deiner Familie.“<br />

„Ich habe dir auch etwas mitgebracht.“<br />

„So?“<br />

„Ein Artefakt. Von Frigoria.“<br />

„Und was für eines?“<br />

„Halt dich fest: Der heilige Urgon der Shangrilaner!“<br />

„Wirklich?“, fragte Sturak sichtlich beeindruckt. „Du hast die Stadt<br />

also gefunden?“<br />

„Nnnnnein.“, musste Shan eingestehen. „Nicht ganz jedenfalls.<br />

Eigentlich habe ich nur den Urgon gefunden. Aber er ist klasse. Wäre<br />

wirklich toll, wenn du mal ein spitzes Ohr dran hälst, ein paar


Untersuchungen machst und... na ja, was ihr Wissenschaftler eben so<br />

macht. Ich würde gerne ein bisschen mehr über das Ding herausfinden,<br />

als der Tricorder mir verrät. Ich bringe ihn dir später vorbei, ja? Er ist<br />

noch in meiner Tasche.“<br />

„Gewiss. Ich helfe gerne.“<br />

Sortak schnaubte, sagte aber nichts. Sturak schien ihn zum ersten Mal<br />

zu bemerken. Er bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick zur Seite,<br />

richtete den Blick aber sofort wieder nach vorn, als würde er erblinden,<br />

wenn er seinen Sohn eingehender betrachtete. „Sortak.“, sagte er<br />

förmlich. Er schien weder wütend, noch frustriert oder froh oder sonst<br />

etwas zu sein. Er hatte einfach nur Sortaks weitere Anwesenheit zur<br />

Kenntnis genommen. „Vater.“, entgegnete Sortak in einem bemüht<br />

neutralen Tonfall.<br />

Die nächsten Sekunden schwiegen alle. Vater und Sohn, Schulter an<br />

Schulter, hatten den Blick starr geradeaus gerichtet und würdigten sich<br />

keines Blickes. Shan stand daneben und schüttelte mental den Kopf. Die<br />

Kabine schien ewig unterwegs zu sein. Schließlich wurde Shan<br />

ungeduldig, sie stieß Sortak mit dem Ellenbogen in die Seite, da sie<br />

genau wusste, dass er das ganz und gar nicht mochte. Dort war er sogar<br />

ein kleines bisschen kitzelig. Das Ergebnis viel auch entsprechend aus –<br />

er zuckte zusammen und blickte ärgerlich zu ihr herab, woraufhin sie mit<br />

ihren Lippen stumm die Worte „na mach schon!“ formte. Aber Sortak<br />

schüttelte den Kopf. Shan sah ihn eindringlich an. Aber auch darauf<br />

reagierte er nicht, weshalb sie die Taktik änderte, sich auf die Unterlippe<br />

biss und möglichst mitleiderregend dreinschaute: Bitte!<br />

Dem konnte Sortak nicht wiederstehen. Es war ihm noch nie gelungen,<br />

Shan etwas abzuschlagen. Nicht, wenn sie so ein Gesicht zog. Und das<br />

wusste sie ganz genau. Sortak knurrte gepresst. Ihm lag überhaupt nichts<br />

daran, mit seinem alten Herren ein Gespräch anzufangen. Trotzdem<br />

schob er das Kinn vor und räusperte sich. „Was... machen die Gärten,<br />

Vater?“ Es war das beste, das ihm einfiel. Im Grunde rechnete er gar<br />

nicht mit einer Antwort, war darum umso erstaunter, als eine kam: „Ich<br />

bin sicher der Verwalter kümmert sich gut darum.“<br />

„Nicht doch!“, sagte Sortak spöttisch. „Du hast dich nicht persönlich<br />

von seiner Arbeit überzeugt? Wo du doch sonst immer alles prüfen und<br />

kritisieren musst...?“


Sturaks Blick wandte sich gefährlich langsam seinem Sohn zu. Sein<br />

Gesichtsausdruck war sehr ernst und hinter seinen Augen brodelte etwas,<br />

als wollte sich ein Gewitter zusammenbrauen. „Nein.“, sagte er bleiern.<br />

„Seit ich die Asche deiner Mutter dort verstreute, war ich nicht mehr<br />

Zuhause, auf Vulkan. Ich konnte es nicht... ertragen, alleine<br />

zurückzukehren. Und du warst ja... abkömmlich.“<br />

Sortak schloss einen Moment die Augen und verfluchte sich. Warum<br />

hatte er schon wieder den Mund so weit aufreißen müssen?<br />

Andererseits... warum sollte ihn das kümmern? Sturak hatte auch nie ein<br />

Blatt vor den Mund genommen. Sortak erinnerte sich sehr gut an die<br />

ständigen Erinnerungen daran, dass er den Maßstäben seines alten Herrn<br />

doch niemals gerecht werden könne. Ihm fehlten die Disziplin, hieß es,<br />

die Zielstrebigkeit, und vor allem die Intelligenz seines Vaters. Zwar<br />

räumte ihm sein Vater ein, eine gewisse vorandrängende Begabung in<br />

technischen Angelegenheiten zu haben, aber was nützte ihm diese?<br />

Nichts als Schwierigkeiten hatte sie ihm eingebracht. Und nun kochte die<br />

alte Wut wieder von neuem auf. „Glaubst du vielleicht, ihr Tot hätte nur<br />

dich getroffen? Du warst nicht der einzige, der gelitten hat.“<br />

„So?“, fragte Sturak. Er funkelte Sortak an. „Du hattest eine sehr<br />

merkwürdige Art zu... trauern.“<br />

Sortak hielt seinem Blick stand. „Du hattest deine Methoden damit<br />

umzugehen und ich meine.“<br />

„Ist Körperverletzung nun eine Art der Trauer? Soll ich deine<br />

Fehltritte nun auf diese Art interpretieren?“<br />

„Vielleicht hätte ich weniger Fehltritte unternommen, Sturak, wenn ich<br />

einen Vater gehabt hätte, der mir Rückhalt geboten, und sich nicht<br />

zurückgezogen und mich in meiner Trauer allein gelassen hätte.“<br />

„Vielleicht hätte ich dir Rückhalt geboten und mich nicht von dir<br />

abgewandt, Sortak, wenn ich einen Sohn gehabt hätte, der weniger<br />

Fehltritte unternimmt.“<br />

„So siehst du das also, Vater?“<br />

Sturak nickte. „So sehe ich das.“<br />

Der Lift erreichte sein Ziel und die Türen glitten auf. Sturak nickte.<br />

„Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen.“ Er trat auf den Korridor<br />

hinaus und ging die Stufen zum Hangar herab, ohne auf Shan zu warten.<br />

Sie folgte ihm einige Schritte auf den Korridor hinaus, aber er blieb nicht


stehen und verschwand hinter der nächsten Biegung. „Sortak! Sortak,<br />

warte... Sturak!“, sagte Shan gepresst und drehte sich zu dem Vulkanier<br />

um. „Geh ihm nach!“<br />

„Ich wüsste nicht wofür, Shan.“<br />

„Um eure Differenzen zu bereinigen, natürlich.“<br />

„Manche Abgründe sind zu breit, um sie zu überbrücken.“ Die<br />

Lifttüren glitten zu und die Kabine setzte ihren Weg nach oben fort.<br />

Shan blieb alleine im Gang stehen. „Das hätte besser laufen können.“,<br />

murmelte sie.<br />

Persönliches Logbuch,<br />

Sha’Nyn Bartez<br />

Hey, Dad,<br />

ich bin’s, deine aufmüpfige Tochter. Hmm-mm. Merkwürdiges Gefühl,<br />

mit der Luft zu sprechen. In meinem bisherigen Leben habe ich nie die<br />

Notwendigkeit empfunden, ein Logbuch zu führen. Aber uns wurde<br />

geraten, eines anzulegen, und nach den Ereignissen auf Frigoria kommt<br />

mir die Idee gar nicht so schlecht vor. Dort fand ich mich auch isoliert<br />

und allein wieder. Bis auf Mumien und Monster war niemand da, der mir<br />

hätte zuhören, geschweige denn antworten können. Also musste ich mich<br />

mit meiner eigenen Stimme zufrieden geben, was mir immerhin ein<br />

bisschen Trost gespendet hat. Hier ist die Lage ähnlich. Bin zwar nicht<br />

allein, aber größtenteils unter völlig Fremden. Und da es sich bei dir um<br />

denjenigen handelt, der Schuld daran trägt, dass ich mich auf der<br />

Akademie befinde, hielt ich es für angemessen, meine Aufzeichnungen an<br />

dich zu richten. Vielleicht traue ich mich ja sogar irgendwann, sie dir zu<br />

geben, damit dir klar wird, was du mir angetan hast...<br />

Ja, du hast richtig gehört. Ich bin auf der Akademie. Der<br />

Sternenflottenakademie. Wo ich nie – wirklich nie, nie, nie, hinwollte.<br />

Aber die Dinge entwickeln sich ja selten so, wie man denkt. Richtig?<br />

Offizier der Sternenflotte. Brrrr. Mich schüttelt es noch immer bei dem<br />

Gedanken daran. Die Worte klingen auch irgendwie hohl in meinen<br />

Ohren. Irgendwie... unwirklich. Als hätte ich noch gar nicht so richtig<br />

begriffen, wo ich eigentlich bin. Was ich bin. Mal ganz unter uns: mir<br />

fällt nicht ein einziger Grund ein, warum ich mich der Sternenflotte


anschließen sollte. Dafür fallen mir etwa tausend Gründe ein, warum ich<br />

sofort wieder verschwinden sollte. Gut für dich, dass ich eine zähe<br />

Kämpfernatur bin. Oder den Bartez’chen Sturkopf geerbt habe. Okeoke,<br />

wahrscheinlich liegt es nur an letzterem. Jedenfalls, habe ich nicht vor,<br />

so schnell aufzugeben. Und noch bereue ich meine Entscheidung nicht,<br />

auch wenn immer noch überrascht – oder enttäuscht? – bin, wie schnell<br />

ich mich überreden lies. Ein Moment der Schwäche und schon landet<br />

man hier. Werde ich mir merken.<br />

Meine Ankunft auf dem Campus war etwas... ahm... holprig. Du hast<br />

es vermutlich schon gehört – natürlich hast du es schon gehört. Wie<br />

könntest du so etwas auch nicht hören? Es ist schließlich in aller Munde.<br />

Ich muss dich also nicht mit den Details langweilen, die dazu führten,<br />

dass ich einem älteren Kadetten die Möglichkeit bot, sich die<br />

chirurgische Abteilung einmal näher anzusehen. Hat er aber auch<br />

verdient. Ich kann nicht glauben, dass es jemand mit so einer Einstellung<br />

bis ins dritte Jahr geschafft hat. Ihm ist wohl seine eigene Uniform zu<br />

Kopf gestiegen – was genau der Grund ist, dass ich Militäreinrichtungen<br />

verabscheue. Die Uniform mag in manchen das beste herausholen, das<br />

möchte ich nicht bestreiten. Aber ich bin sicher, es gibt genauso viele, in<br />

denen sie das schlimmste weckt. Ich werde nicht zulassen, dass man mit<br />

mir das Gleiche versucht, und ich werde sicher nicht wegsehen, wenn ich<br />

wieder Zeuge einer solchen Ungerechtigkeit werde – ganz gleich, wie die<br />

Konsequenzen aussehen mögen.<br />

Was die anderen Kadetten betrifft, die ich bisher kennen gelernt<br />

habe... Ein zotteliger Tiger, der den Hobbypsychologen mimt, dabei<br />

geschwätziger als der Plapperkäfer von Trall ist, und sich auf allen<br />

Vieren fortbewegen muss, weil er sonst nicht durch die Tür passt, ein<br />

Vulkanier, der... ja, was mit Yoko ist, kann ich überhaupt nicht sagen. Er<br />

scheint die meiste Zeit verwirrt und mit seinen Gedanken in anderen<br />

Sphären. Somit wirkt er auf mich fast noch merkwürdiger als Das Grau,<br />

ein kleiner Briori, der mein Gehirn fast zum explodieren gebracht hätte,<br />

nur weil ich fragte, wie es ihm ginge. Tala und Durkin sind noch<br />

einigermaßen vernünftig, sofern man das von zwei Streithähnen, die<br />

miteinander im Dauerclinch liegen, behaupten kann. Andererseits passt<br />

das auch wieder zu ihren Spezies, die sich nie besonders gut leiden<br />

konnten. Mit der Pakled Cera hat es wiederum eine ganz eigene


Bewandnis. Eine große, etwas begriffsstutzige Bewandnis. Ehrlich<br />

gesagt weiß ich nicht so ganz, wie sie die Akademie schaffen will. Und<br />

Galak? Meine Güte, er ist so... so... so... argggh. Ich bin wirklich froh,<br />

Sortak zu haben. Er ist der einzige, der mich davon abhält, den Verstand<br />

zu verlieren. Keine Ahnung, was ich ohne ihn tun würde. Wir sind alle<br />

ziemlich verschieden. Emotional, physisch, ja sogar biologisch. Und<br />

eines ist völlig klar: Ich weiß nicht, wie meine Zukunft als Kadett<br />

aussieht, aber meine Gegenwart liegt ganz offenbar in einem Zirkus...<br />

Ich habe nie in meinem Leben eine so große Ansammlung<br />

Außerirdischer getroffen. Sie sind über den ganzen Campus verteilt. Und<br />

der ist enorm! Man muss aufpassen, sich nicht zu verlaufen. Ein Großteil<br />

der Anlage erstreckt sich unterirdisch, ständig hallen Durchsagen durch<br />

die weiten und dicht bevölkerten Gänge. Durch die nähe zum<br />

Flottenkommando, läuft man dauernd ranghohen Offizieren über den<br />

Weg. Bin fast sicher, dir irgendwann auch über den Weg zu laufen.<br />

Aber... das kann ruhig später, als früher zu sein. Im Moment genieße ich<br />

es, von Zuhause weg zu sein. Nicht falsch verstehen. Ich bin nur<br />

enthusiastisch, mein Leben nun selbst in die Hand zu nehmen. Nun...<br />

zumindest teilweise. Wenn ich mir die Kurse so ansehe, die<br />

Flugeinrichtungen und Traingssimulatoren... ich habe das Gefühl, den<br />

anderen bereits voraus zu sein. Zumindest das Überlebenstraining wird<br />

bei mir sicher keine Wirkung mehr zeigen.<br />

So, nun bist du auf dem neuesten Stand. Damit will ich diesen Eintrag<br />

auch beenden, denn ich muss gleich zum Frühsport. Mein Stundenplan<br />

ist ziemlich voll. Aber ich werde versuchen von Zeit zu Zeit zuhause<br />

vorbeizusehen. Grüße Mom, von mir. Hab euch lieb.<br />

Shan.<br />

Unterricht<br />

Unterrichtsfach war die Erste Direktive – Theorie und Praxis. Es war<br />

einer der Grundkurse, die alle Kadetten belegen mussten, und er<br />

beinhaltete zahlreiche Fallstudien und Szenarios, die oft zu lebhaften, ja


sogar verbitterten Debatten zwischen den Studenten führten. Die Erste<br />

Direktive war das erste Gesetz von Starfleet. Sie besagte, dass eine<br />

Einmischung in die Angelegenheiten und die Entwicklung anderer<br />

Planeten und Zivilisationen verboten war. Und sie war das Fundament,<br />

auf dem alle anderen Aspekte der Erforschung des Weltraums aufbauten.<br />

Und es war Shans erster Kurs.<br />

Als sie das Auditorium betrat, herrschte ein allgemeines<br />

Stimmengewirr. Die Kadetten unterhielten sich angeregt miteinander.<br />

Shan machte auf ihren Gesichtern alle möglichen Regungen aus, von<br />

äußerster Nervosität bis zu absolutem Selbstvertrauen. Der Hörsaal fiel<br />

nach unten ab, und auf beiden Seiten führten Treppen zum Dozentenpult.<br />

Viele der Plätze weiter oben waren bereits besetzt; die Studenten<br />

befolgten den uralten Brauch, so weit wie möglich von dem Dozenten<br />

entfernt zu sitzen. Dort, so hofften sie, würde er sie nicht sehen können.<br />

Diese Strategie ging nie auf, was die Studenten aber nicht daran hinderte,<br />

es auch weiterhin zu versuchen. Daher musste Shan eine beträchtliche<br />

Strecke zurücklegen, bis er zu einer Reihe gelangte, in der noch ein<br />

Sitzplatz frei war. Und als sie an den Reihen der Studenten vorbeiging,<br />

stellte sie unwillkürlich fest, dass deren Gespräche abrupt verstummten...<br />

...und sofort von einem leisen Flüstern ersetzt wurden. Shan warf<br />

ihnen keinen einzigen Blick zu, wusste jedoch, dass sie über die<br />

Schlägerei sprachen.<br />

„Das ist Faustschlag-Shan.“, hörte sie unter anderem aus dem<br />

Getuschel heraus.<br />

„Hab sie mir größer vorgestellt.“<br />

„Das dachte ich über ihren Vater auch.“<br />

„Schau mal, wie grimmig die schon guckt.“<br />

Schließlich konnte sie der Versuchung nicht mehr widerstehen und sah<br />

zu ihnen hinüber, und, ja, sie warfen ihr in der Tat verstohlene Blicke zu.<br />

Es war eine dieser Situationen, in denen die Leute unbedingt hinsehen,<br />

aber nicht dabei ertappt werden wollen. Daher bemühten sie sich,<br />

feinfühlig vorzugehen, benahmen sich dabei aber höchst auffällig. Sie<br />

ging weiter. Zufällig entdeckte sie Sortak, der in der Mitte der dritten<br />

Reihe von vorn saß. Die anderen, Tala, Yoko, Galak, Wotan, Grau und<br />

Durkin waren auch dort. Als Sortak sie bemerkte, bedeutete er Shan, zu<br />

ihm zu kommen und sich neben ihn zu setzen. Er hatte ihr einen Platz


freigehalten. Shan war sehr froh, dass sie ihn hatte. Wenigstens einer, auf<br />

den sie sich verlassen konnte. Sie nahm neben ihm platz.<br />

„Alle reden über mich.“, flüsterte sie ihm zu.<br />

Sortak zuckte mit den Schultern. „Na und? Lass sie doch denken, was<br />

sie wollen.“<br />

Er schnaubte, wie er es immer tat und schlug Shan liebevoll auf die<br />

Schulter. Sie fühlte sich schon viel besser. Dann hörte sie Galak neben<br />

sich murmeln: „Schätze in der Akademie sind Frauen die sich schlagen,<br />

eher selten. Das ist auch nicht besonders feminin.“<br />

„Ich bin sehr feminin und ich verprügle jeden, der etwas anderes<br />

behauptet!“<br />

Galak wollte etwas erwidern, kam aber nicht mehr dazu. Die Tür auf<br />

der gegenüberliegenden Seite des Hörsaals wurde geöffnet und einer der<br />

Lehrer kam herein. Er war Vulkanier, dunkelhäutig, mit kantigen<br />

Gesichtszügen und strengem Blick. Das war Commander Tuvok, und<br />

sein Ruf war legendär. Tuvok hatte als Sicherheitschef zu Janeways<br />

berühmter Voyager Besatzung gehört, jener Crew, die sieben Jahre lang<br />

im Delta-Quadranten gestrandet war. Auch so lange Zeit nach ihrer<br />

Rückkehr, war die Popularität dieser Besatzung kein bisschen gesunken.<br />

Tuvok ging zum Pult, drehte sich um und betrachtete die Studenten mit<br />

einem so durchdringenden Blick, daß er damit einen Deflektorschild<br />

hätte zusammenbrechen lassen können. Das leise Flüstern war<br />

augenblicklich verstummt. Das einzige Geräusch, das man nun im<br />

Hörsaal vernehmen konnte, war nervöses Schlucken. Shan blieb jedoch<br />

teilnahmslos sitzen. Tief in ihrem Inneren war sie bereits überzeugt, dass<br />

sie es nicht durch die Akademie schaffen würde. Zu viele Faktoren<br />

sprachen dagegen. Das bedeutete nicht, dass sie nicht ihr Bestes geben<br />

würde. Schließlich gab eine Shan Bartez nicht von selbst auf, das hatte<br />

sie auf Frigoria bewiesen. Andererseits würde es sie kaum überraschen,<br />

wenn die Sternenflotte letztlich zum Schluss kam, noch nicht bereit für<br />

die Tochter vom Matthew Bartez zu sein. Und sollte sie wirklich<br />

scheitern, würde sie diesen Umstand einfach akzeptieren, vielleicht sogar<br />

begrüßen.<br />

Commander Tuvok hatte einen elektronischen Datenblock vor sich<br />

liegen, auf dem die Namen der Studenten verzeichnet waren. „In all<br />

meinen Kursen für das erste Semester“, verkündete Tuvok, „richte ich zu


diesem Zeitpunkt die folgenden Worte an meine Studenten: Wenn eine<br />

Reise endet, beginnt automatisch eine neue. Dies trifft auf das Leben im<br />

Allgemeinen und auch auf die Sternenflottenakademie im Speziellen zu.<br />

Die erste Hürde genommen, die Wende geschafft, werden automatisch<br />

die nächsten Herausforderungen auf Sie warten. Dem UMUK-Prinzip<br />

folgend höchstwahrscheinlich Schwieriger als die vorige und<br />

möglicherweise mit einem Scheitern verbunden. Sollten Sie während<br />

Ihres Studiums entmutigt sein, vergessen Sie niemals, den Weg, den Sie<br />

bereits hinter sich gebracht, die Hürden, die Sie bereits erklommen<br />

haben, um hierhin, in die Hallen der Sternenflotte und umgeben von den<br />

Besten der Besten zu gelangen. Vergessen Sie nicht die Freuden, die Sie<br />

gesehen, und auch nicht die Erfahrungen, die Sie gemacht haben.<br />

Erinnern Sie sich an all die guten Dinge. Zweifeln Sie niemals an sich<br />

selbst. Und wenn Sie einmal am Boden liegen – und das werden Sie<br />

zweifellos -, vertrauen Sie auf ihre Kameraden und denken Sie daran,<br />

dass Sie jederzeit wieder auf die Beine kommen und es erneut versuchen<br />

können, weil Sie hier sind, um Fehler zu machen und weil Sie aus diesen<br />

Fehlern lernen werden. Mehr, als wenn Sie bereits beim ersten Mal alles<br />

richtig machen würden. Niemand macht immer alles richtig. Nicht<br />

einmal Vulkanier.“<br />

Diesen Worten waren vereinzelt zögerliches Gelächter anzuhören,<br />

doch Tuvok schenkte dem keine Beachtung, oder zeigte es zumindest<br />

nicht. „Trotzdem geht das Leben immer weiter. Das ist die Lektion, die<br />

Sie hier lernen werden. Und das ist auch der Grund, warum Sie niemals<br />

aufgeben dürfen. Weder die Hoffnung, noch den Glauben an sich selbst<br />

und ganz besonders nicht ihre Träume und Ziele. Wenn Sie also vor<br />

einer Hürde stehen, dann denken Sie an ihre Vergangenheit, denken Sie<br />

daran, was Sie bereits geschafft haben und rufen Sie sich in Erinnerung,<br />

dass, wenn Sie diese Hürde nicht nehmen... es niemand anderer für Sie<br />

tun wird.“<br />

Er gab seinen Worten ein paar Sekunden, um die gewünschte Wirkung<br />

zu entfalten. Die bestand darin, dass die Kadetten schwiegen. Bei<br />

manchen sah er ein Nicken. Aber bei allen hatte er einen Punkt getroffen,<br />

hatte er irgendwas berührt. Bei allen... bis auf Durkin. Der zog die<br />

Brauen zusammen und fragte: „Was in Ghus Namen ist denn... UMUK?“<br />

Er hatte weder aufgezeigt, noch um Erlaubnis gebeten, frei sprechen


zu dürfen. Falls Tuvok verärgert war, zeigte er es nicht. Er wollte gerade<br />

Durkins Frage erläutern, als ein anderer Kadett dazwischen fuhr,<br />

ebenfalls, ohne aufzuzeigen. „Das ist eine irdische Definition, die Tuvok<br />

nutzte.“, erklärte Yoko.<br />

Tuvok sah ihn an. „Kadett, wie ist Ihr Name?“, verlangte er zu wissen.<br />

„Yoko.“<br />

„Kadett Yoko. Zwar ist der Inhalt ihrer knappen Ausführung so weit<br />

korrekt; aber nicht die Art, wie Sie ihn vorgetragen haben. Sie sprechen<br />

ihre Lehrer nicht einfach mit dem Namen an, sondern mit dem Rang,<br />

dem Studienposten, oder – wie beispielsweise in meinem Fall – mit<br />

einem >Mister< vor dem Namen. Ich bin ihr vorgesetzter Offizier. Ihr<br />

Lehrer. Sie werden mich daher als solchen ansprechen.“<br />

Yoko nickte. „In Ordnung... Solchen.“<br />

Im Auditorium erklang erneut Gelächter. Tuvok hob eine Braue. Die<br />

Kadetten hatten offensichtlich nichts dagegen, sich auf Yokos Kosten zu<br />

amüsieren. Tuvok hingegen konnte nur schwer glauben, dass ein<br />

Vulkanier absichtlich derart respektlos war und warf daher einen Blick<br />

auf den elektronischen Datenblock vor sich. Dort gab es tatsächlich<br />

einen Vermerk Kadett Yoko betreffend, der von einem der anderen<br />

Lehrer eingegeben und augenblicklich zu ähnlichen Geräten aller<br />

Kollegen an der Akademie weitergeleitet wurde. Dort hieß es, dass<br />

Kadett Yoko vor einiger Zeit eine Gedankenverschmelzung mit einem<br />

phylosianischen Beamten des öffentlichen Dienstes durchgeführt hatte,<br />

und seither noch immer an den Spätfolgen litt, die nur langsam<br />

abklangen. Tuvok wollte ihm das nicht zum Vorwurf machen. „Das<br />

Akronym UMUK“, sagte er. „geht auf einen vulkanischen Begriff<br />

zurück. Es ist für die meisten Nicht-Vulkanier eine günstige Methode, in<br />

ihrer Sprache das zusammenzufassen, was eigentlich eine Vorstellung<br />

ist, die vulkanische Philosophen seit Jahrhunderten diskutieren.“<br />

„Typisch.“, schnäubte Durkin geringschätzig. „Die Erdlinge müssen<br />

für alles eine griffige Abkürzung finden.“<br />

Tuvok musterte den Tellariten mit leichter Verblüffung, was sich an<br />

einer hochgezogenen Braue zeigte. „Würde dies stimmen, Kadett...“<br />

„Durkin.“<br />

„...Kadett Durkin, hätte sich die erste Direktive der Föderation nie<br />

entwickelt. Gäbe es eine leichtere Lösung für Probleme, als sich einfach


auf die überlegene Technik und Feuerkraft zu verlassen? Doch genau das<br />

verbietet die oberste Direktive streng, worauf ich in diesem Kurs auch zu<br />

sprechen kommen möch-“<br />

Durkin lachte. „Die oberste Direktive hat Ihrer Föderation mehr<br />

Kopfzerbrechen bereitet, als das gesamte romulanische Imperium. Gibt<br />

es denn eine einfache Lösung? Ja. Ich will Ihnen sagen, welche es gibt:<br />

Das Problem ignorieren. Ihm den Rücken zukehren. In dem man sagt,<br />

ich bin nicht in Not, also mische ich mich nicht ein. Das, mein<br />

vulkanischer Gefährte, ist die einfachste Methode mit irgendwas fertig<br />

zu werden. Man geht einfach.“<br />

„Falsch Kadett Durkin.“, sagte Tuvok. „Dies wäre in jedem Falle das<br />

schwierigste, was man tun kann. Es gibt noch eine andere<br />

Erdenphilosophie. Der sogenannte Quäker, beziehungsweise der<br />

Gesellschaft der Freunde. Ein Grundpfeiler des Glaubens ist, dass man,<br />

wenn man Zeuge eines Problems wird, helfen muss, es zu lösen. Wenn<br />

es um Einmischung oder Nichteinmischung geht, haben alle<br />

Philosophien individuelle Anforderungen.“<br />

Durkin nickte leicht. „Da haben Sie recht.“<br />

Shan fand Durkins Einstellung erstaunlich. Obwohl er sich ständig bis<br />

zur Unerträglichkeit aufplusterte, schien er doch ein äußerst interessierter<br />

Charakter zu sein, wenn es um Dinge ging, die zu seinem<br />

Interessensgebiet gehörten, etwa fremde Gesellschaftsformen und deren<br />

Entwicklung. Es war für alle eine Erleichterung – denn bis dato hat es so<br />

ausgesehen, als sei Durkin nichts weiter als ein Hindernis.<br />

„In Zukunft“, ermahnte Tuvok. „werden sie aber darauf warten, dass<br />

ich ihnen freies Sprechen gewähre.“<br />

Durkin und Yoko nickten. Die Kadetten begannen sich in dem Kurs<br />

wohl zu fühlen. Nun dachten sie Tuvok sei der nachsichtigste Mann der<br />

Welt. Und dann sagte er ohne jede weitere Einleitung: „Wenden wir uns<br />

nun dem Fall Eminiar VII zu.“<br />

„Kadett...“ Er warf einen Blick auf den Datenblock und pickte einen<br />

beliebigen Namen heraus. „Kadett Regonod.“<br />

Ausgerechnet Cera, dachte Shan. Sie beugte sich vor, um an Tala, die<br />

neben ihr saß, vorbeisehen zu können, und erblickte genau das, was sie<br />

befürchtet hatte: Cera blieb sitzen und sah Tuvok teilnahmslos an.<br />

„Kadett Regnonod.“, wiederholte Tuvok.


Cera reagierte immer noch nicht. Die Kadetten begannen zu tuscheln.<br />

Shan flüsterte: „Cera. Cera!“<br />

Die Pakled hörte sie beim dritten Mal und drehte den Kopf zu ihr.<br />

Shan gestikulierte, dass sie sich erheben sollte, doch Cera verstand nicht.<br />

Also machte es Shan kurzerhand vor, woraufhin nun auch Cera endlich,<br />

aber nicht ohne ein letztes Zögern aufstand.<br />

Tuvok hob eine Braue. „Ah. Schwestern, vermute ich.“<br />

Im Hörsaal erklang erneut Gelächter.<br />

Shan setzte sich, und Cera blieb glücklicherweise stehen.<br />

„Eminiar VII.“, wiederholte Tuvok.<br />

Cera sagte nichts.<br />

„Kadett Regonod.“, sagte Tuvok geduldig. „Wir warten. Würden Sie<br />

uns bitte etwas über Eminiar VII erzählen? Das war die Pflichtlektüre<br />

vor Beginn dieses Kurses. Haben Sie den Fall nachgelesen, Kadett?“<br />

Cera sah sich hilflos nach Shan um.<br />

„Angenommen, Sie befinden sich in einer Situation“, sagte Tuvok am<br />

Rednerpult. „in der es um Leben und Tod geht, Kadett, und brauchen<br />

einen Sternenflotten-Präzedenzfall, der Ihnen helfen kann, eine<br />

Entscheidung zu treffen, was Sie tun müssen. Glauben Sie, Sie können<br />

das Geschehen dann zum Stillstand bringen, während Sie bei anderen<br />

Personen nach der richtigen Antwort fragen? Der Weltraum ist<br />

unerbittlich, Miss Regonod. Er erlaubt Ihnen keine Verschnaufpause. Sie<br />

müssen augenblicklich wissen, worum es geht, sonst kann es Sie oder<br />

ihrer Mannschaft das Leben kosten. Haben Sie das verstanden?“<br />

Cera nickte heftig. Sie schwitzte und Shan sah, dass ihre Hände<br />

zitterten. Sie hatte Angst im Rampenlicht. Den Blicken aller anderen<br />

ausgesetzt zu sein... So weit war sie einfach noch nicht. Shan verdeckte<br />

ihren Mund mit der Faust und tat so, als hätte sie sich verschluckt, wobei<br />

sie das Wort >Kirk< in einem Husten versteckte. Es war nicht viel, aber<br />

der kleine Anstoß genügte Cera.<br />

„Kirk.“, sagte sie plötzlich. „Er tat... er tat zu dem... zu dem Planeten<br />

fliegen tun. Zu Eminiar. Die Welt... die Welt befand sich im... im Krieg<br />

mit... mit der Nachbarwelt, ja.“<br />

Tuvok nickte anerkennend. „Und was geschah dann?“<br />

Cera sah sich wieder nach Shan um, aber natürlich erlöste Tuvok sie<br />

nicht. „Dann... dann...“, sagte Cera langsam. Sie hatte keine Ahnung und


war furchtbar nervös.<br />

Shan hielt das nicht mehr aus. Ohne groß darüber nachzudenken,<br />

sprang sie auf. „Captain Kirk und seine Mannschaft flogen auf einer<br />

diplomatischen Mission nach Eminiar VII. Eminiar war in einen<br />

computersimulierten Krieg mit der Nachbarwelt Vendikar verstrickt.<br />

Computergenerierte Todesfälle wurden durch den freiwilligen<br />

Selbstmord der Bürger, die zu Verlusten erklärt wurden, in echte<br />

Todesfälle umgewandelt.“<br />

„Ich habe nicht mit Ihnen gesprochen, Miss Bartez.“, sagte Tuvok. Der<br />

Fakt, dass er ihren Namen bereits kannte, ohne auf einen Datenblock zu<br />

sehen, oder bei ihr nachzufragen, behagte Shan nicht sonderlich, aber sie<br />

blieb äußerlich dennoch unbeeindruckt. „Nein, Sir.“, sagte sie. „Aber ich<br />

habe mit Ihnen gesprochen.“<br />

Mehrere Kadetten atmeten hörbar ein. Shans Antwort kam einer<br />

Aufsässigkeit gefährlich nahe, und nach dem Vorfall mit Finnegan,<br />

besaß sie keinen Ermessungsspielraum mehr, was Frechheiten anging.<br />

Aber sie hatte ihre Stimme so neutral, ja sogar so respektvoll gehalten,<br />

wie es ihr nur möglich gewesen war. „Frei nach dem sogenannten<br />

Quäker.“, fügte sie hinzu. „Der Philosophie der Freunde, und des >nicht<br />

Wegsehens


seine Mannschaft getötet wurde, zerstörte Captain Kirk die Computer<br />

von Eminiar VII und beendete damit den Krieg.“<br />

„Und damit hat er das richtige getan, nicht wahr?“<br />

„Ja, Sir.“<br />

„Das ist falsch.“<br />

Der Einwurf überraschte Shan. „Sir...?“<br />

„Überprüfen Sie den Vorfall, Misses Bartez.“, sagte Tuvok. „Eminiar<br />

versuchte die Enterprise zu warnen. Der Planet funkte Code Sieben-<br />

Zehn, was bedeutet, dass eine Kontaktaufnahme untersagt war. Captain<br />

Kirk jedoch handelte eigenmächtig, ignorierte die Warnung und flog<br />

Eminiar VII an – was ein klarer Verstoß gegen die Erste Direktive<br />

darstellt. Dieser Verstoß führte zur theoretischen Vernichtung seines<br />

Schiffes und seiner Mannschaft. Um das zu verhindern, zerstörte er die<br />

gesamte Lebensweise Eminiars... ein noch viel verheerender Bruch der<br />

Ersten Direktive. Hätten Sie auch so gehandelt?“<br />

Nun war es Shan, die sich nach Cera umsah, aber nicht hilfesuchend.<br />

„Ja, Sir.“<br />

Die Kadetten schüttelten vorwurfsvoll den Kopf, doch Tuvok nickte<br />

nur. „Das wäre die falsche Entscheidung gewesen.“<br />

„Die falsche Entscheidung?!“, wiederholte Shan. „Wie kann das die<br />

falsche Entscheidung gewesen sein? Er hatte keine Wahl, er musste in<br />

die Lebensweise Eminiars eingreifen, um seine Leute zu schützen,<br />

andernfalls wäre jeder an Bord der Enterprise in einem sinnlosen,<br />

virtuellen Krieg umgekommen. Kein Mensch kann guten Gewissens so<br />

etwas zulassen. Damit blieb ihm nur diese eine Wahl.“<br />

„Er hatte eine Wahl. Er hätte das System nicht anfliegen dürfen.“<br />

Tuvok richtete kurz einen Blick auf Cera. „Weil es ohne sein Eingreifen<br />

in eine alltägliche und nur von außen grausam erscheinende<br />

Vorgehensweise, keine Probleme gegeben hätte.“ Tuvok schwieg einen<br />

geraumen Augenblick. Dann sagte er: „Wenn Sie noch einmal ohne<br />

Aufforderung das Wort ergreifen, Miss Bartez, wird es sich in Ihren<br />

Noten bemerkbar machen. Setzen Sie sich.“<br />

Shan tat wie geheißen. Sie hatte die Botschaft verstanden.<br />

„Gehen wir das Eminiar VII-Szenario Schritt für Schritt durch.“, sagte<br />

Tuvok. „und stellen wir fest, wo man die mögliche Katastrophe noch<br />

hätte verhindern können. Kadett Kenny. Beginnen wir mit Ihnen...“


Keiner aus der Gruppe hatte es so richtig glauben können. Die<br />

Legende von Das Grau war schnell ins Riesenhafte gewachsen, nachdem<br />

es im Navigations-Grundkurs zum erstenmal den Mund geöffnet hatte.<br />

Die Dozentin war der Ansicht gewesen, Grau wäre eine leichte Beute für<br />

sie. Die anderen Studenten hatten starr vor Aufmerksamkeit auf ihren<br />

Plätzen gesessen und nur mit begrenztem Erfolg versucht, die<br />

Grundbegriffe der Astronavigation zu begreifen. Grau hatte den<br />

Eindruck erweckt, als wäre es ganz woanders. Es hatte in der zweiten<br />

Reihe gesessen, mal hierhin, mal dorthin geschaut, seine Finger geknetet<br />

und in ruckartigen Bewegungen mit dem Kopf gezuckt.<br />

Die Dozentin war sicher, dass Grau ihr nicht die geringste<br />

Aufmerksamkeit schenkte. Sie trug ein langes, kompliziertes Problem<br />

vor, und sämtliche Studenten griffen nach ihren Tricordern, um es in den<br />

Griff zu bekommen. Sie versuchten verzweifelt mitzuhalten, während die<br />

Dozentin eine Variable nach der anderen einwarf. Freie Neutrinos, ein<br />

Quasar, ein unerwartet auftretendes Wurmloch – eben alle möglichen im<br />

Weltall auftretenden Phänomene, die man berücksichtigen musste, wenn<br />

man einen Kurs ausarbeitete. Und während ihre Finger über die<br />

Tastaturen huschten, saß Grau einfach da und knetete weiterhin seine<br />

Finger, während es den Kopf hin und her warf, den Hals reckte und<br />

verdutzt zusah, was denn die anderen da bloß machten.<br />

„... und deshalb“, kam die Dozentin zum Ende, „müssen Sie Ihr Ziel in<br />

genau drei Tagen, neunzehn Stunden und zweiundvierzig Minuten<br />

erreichen. Mit welchem Warp-Faktor - bis auf die dritte Stelle hinter dem<br />

Komma - müssen Sie also fliegen... Grau!“ krähte sie triumphierend.<br />

Und wie aus der Pistole geschossen erwiderte Grau durch seinen neuen<br />

Translator: „Warp. Vier. Komma. Sieben.“<br />

Der Mund der Dozentin klaffte auf. Studenten, die ihre Tricorder<br />

benutzten, benötigten wenigstens weitere zehn Sekunden, um auf die<br />

Antwort zu kommen, die Grau gerade im Kopf errechnet hatte. Das<br />

Briori sah die Dozentin an, als bemerke es sie in diesem Augenblick zum<br />

erstenmal.


„Ich. Bitte. Um. Verzeihung.“ Übersetzte sein Übersetzter mit<br />

leichtem Bedauern. „Sie. Wollten. Dritte. Stelle. Hinter. Komma. Dann.<br />

Warp. Vier. Komma. Sieben. Drei. Sechs. Acht.“<br />

Die Dozentin nickte langsam und überprüfte erstaunt ihre eigene<br />

Berechnung. „Grau... wie in aller Welt haben Sie das nur gemacht?“<br />

Grau neigte den Kopf. Der Stimmprozessor leuchtete. „Was.<br />

Gemacht.“ fragte es durch den Translator und in seinen Augen spiegelte<br />

sich ehrliche Verwirrung.<br />

Die Gerüchte besagten, die Dozentin habe später, überzeugt davon,<br />

dass Grau geschummelt hatte, seine Akten studiert. Man hörte zufällig,<br />

wie sie einem Kollegen sagte: „Seit vor über einem Dutzend Jahren<br />

dieser Androide mit dem goldenen Gesicht hier studiert hat, bin ich von<br />

keinem mehr dermaßen aus der Fassung gebracht worden.“<br />

Seit diesem Vorfall waren zwei Tage verstrichen. Grau schien auch<br />

weiterhin nicht zu begreifen, wie lustig und einzigartig seine Leistung<br />

während dieser Vorlesung gewesen war. Sogar die Mitglieder seiner<br />

Studiengruppe brauchten eine Weile, um dahinter zu kommen, wie<br />

Graus Verstand funktionierte. Es gab zahlreiche Fächer, in denen Grau<br />

bestenfalls durchschnittlich war, obwohl es dem, was man allgemein ein<br />

Genie nannte, wohl noch am nächsten kam. Da es aber aus einer völlig<br />

anderen Welt stammte, hatte es nichts für tiefgehende philosophische<br />

Diskussionen übrig. Sein Volk kannte schlicht keine Moral. Körperlich<br />

war es nicht besonders beeindruckend, und die Kurse, in denen<br />

Selbstverteidigung gelehrt wurde, gerieten für es fast jedes mal zur<br />

Katastrophe. Es hatte Grundlegende Kenntnisse von Politikwesen, mehr<br />

aber auch nicht.<br />

Doch wenn es das Reich der Zahlen betrat, wäre die Behauptung, der<br />

Unterricht fiele Grau leicht, eine Untertreibung gewesen. Es fiel Grau<br />

sogar viel zu leicht. Graus neurotones Gehirn konnte mit einer<br />

Geschwindigkeit, die nicht einmal von den modernsten<br />

Biocomputerkernen erreicht wurde, Kurse festlegen, Berechnungen<br />

durchführen, Diagnosen erstellen und Schiffe steuern. Dabei verfügte es<br />

nicht einmal über menschliche Intuition, die ihm seine Aufgabe


erleichterte. Da ihm die Sache einfach so zufiel, widmete es dem<br />

Unterricht nie die volle Aufmerksamkeit oder Konzentration, sondern<br />

sah aufgeregt mal hierhin, dann wieder dorthin und verbrachte die Zeit<br />

damit, seine Mitschüler zu studieren.<br />

Wenn die Dozenten es in diesem Zustand sahen, hatten sie zuerst stets<br />

den Eindruck, dass es nichts von dem mitbekam, was sie den Schülern zu<br />

vermitteln versuchten. Dass es sogar sehr absichtlich, weil vollkommen<br />

offensichtlich, die Teilnahme am Unterricht verweigerte. Sie begriffen<br />

nicht, dass es genauso aufmerksam war, wie alle anderen Teilnehmer der<br />

Kurse, wenn nicht sogar noch aufmerksamer. Die Qualität und nicht die<br />

Quantität der Aufmerksamkeit stand zur Debatte. Und wenn es um<br />

Qualität ging, konnte niemand Grau das Wasser reichen.<br />

Nun flitzte es in der Bibliothek herum, rannte – wie üblich - mal<br />

hierhin und mal dorthin, während der Rest der Studiengruppe an einem<br />

langen Tisch zusammensaß und den Unterricht der vergangenen Tage<br />

durchging. Wenn es bei der Zusammenarbeit mit Grau eine<br />

Schwierigkeit gab, dann die, dass es nicht so einfach erklären konnte,<br />

wie es tat, was es tat. Zum einen, weil ihm die verbale Kommunikation<br />

noch immer schwer fiel und es sich nicht richtig ausdrücken konnte,<br />

weshalb es lieber wenig, bis gar nichts sagte. Es tat es einfach und hatte<br />

keine große Erfahrung darin, sein Vorgehen zu analysieren. Und zum<br />

anderen, weil es auch viel zu unruhig war und ständig irgendwo in der<br />

Gegend herumflitzte. Der Metabolismus eines Briori arbeitete fast<br />

zweimal so schnell wie der menschliche, was Grau schnellere Reflexe<br />

und eine höhere geistige Gewandtheit gab. Er passte sich rasch<br />

entwickelnden Situationen mit einer übernatürlichen Schnelligkeit an,<br />

die ihn auch sonst auszeichnete. Nach menschlichen Maßstäben erschien<br />

es deswegen hyperaktiv und ruhelos. Nach briori Maßstäben erschienen<br />

die Menschen schwerfällig und geistig träge. Es war, als hätte man eine<br />

Spieluhr zu stark aufgezogen und nun spielte sie in dreifacher<br />

Geschwindigkeit.<br />

Irgendwann war Durkin so genervt von Graus hyperaktivem hin- und<br />

hergerenne gewesen, dass er, als Grau das nächste mal an ihm vorbei


kam, den Briori gepackt, geschüttelt und anschließend wie einen<br />

Waschlappen ausgewrungen hatte. Alle Kadetten waren geschockt<br />

aufgesprungen und hatten geschrieen, dass Durkin ihn umbringen würde,<br />

und hatten sofort versucht die beiden auseinander zu bringen. Aber Grau<br />

hatte die recht arglose Behandlung Durkins nicht viel ausgemacht. Es<br />

besaß keine Knochen, die man hätte brechen können. Es besaß auch<br />

keine inneren Organe, die man hätte zerstören können. Es war so<br />

elastisch, wie Gummi und genauso hatte Grau sich auch biegen lassen.<br />

So hatte Durkin ihn nach einer Weile mit einem frustrierten Geheule<br />

herabgelassen und seither flitzte der Briori wieder durch die Gegend, als<br />

sei nichts passiert -sehr zum Verdruss des Tellariten. Durkin hatte darauf<br />

den Kopf auf die Hand gestemmt und trommelte mit den dicken Fingern<br />

seiner anderen Pranke auf dem Tisch herum, während sich über ihm eine<br />

düstere Gewitterwolke zusammengezogen hatte.<br />

Inzwischen war sein Frust aber wieder etwas verraucht, vermutlich,<br />

weil er zu erschöpft war, um sich weiterhin zu ärgern. Sie alle saßen nun<br />

schon seit geschlagenen vier Stunden über ihre Bücher gebeugt.<br />

Schließlich lehnte Shan sich zurück und deaktivierte den Datenblock.<br />

„Mein Schädel steht kurz vor der Explosion.“<br />

„Das ist unmöglich, Liebes.“, entgegnete Wotan, noch immer seinen<br />

medizinischen Text studierend. „Die biochemischen Reaktion in deiner<br />

Großhirnhälfte sind gar nicht dazu in der Lage eine Kaskadenexplosion<br />

der Synapsen zu...“<br />

Er bemerkte, wie Durkin, Tala und Galak ihn anstarrten. Shan, die sich<br />

längst an Wotans Schrulligkeiten gewöhnt hatte, legte lediglich den Kopf<br />

in den Nacken, presste die schmerzenden Augen zusammen und<br />

massierte ihre Schläfen.<br />

„Andererseits...“, deaktivierte nun auch Wotan seinen Datenblock. „ist<br />

eine Pause vielleicht eine recht gute Idee, um auf neue Gedanken zu<br />

kommen.“<br />

„Also ich für meinen Teil“, bemerkte Yoko „komme sehr gut voran.“<br />

„So?“ Tala schielte auf seinen Datenblock. „Da steht nichts, außer<br />

>Inhalt folgt später


Tala sah ihn verwirrt an. „Den Text optimieren?“, fragte sie. „Dang!<br />

Du musst erst mal einen Text schreiben, ehe du ihn optimieren kannst!<br />

Warum machst du das nicht jetzt?“<br />

„Ich muss erst den Kopf freibekommen.“<br />

Tala wollte zu einem spitzen Kommentar ansetzen, aber Wotan hielt<br />

sie mit einem strengen Blick davon ab. „Sag... nichts.“<br />

„Aber...“<br />

„Bitte. Schluck es einfach runter.“<br />

Die Andorianerin starrte dem Tiger in die Augen. Schließlich murrte<br />

Tala zwar, fügte sich aber „Kay...“ Sie verschränkte die Hände vor der<br />

Brust und schüttelte beleidigt den Kopf. „Kein Wunder, dass deine<br />

Spezies den Krieg verloren hat.“<br />

„Krieg?“ Wotan konnte ihr nicht ganz folgen. „Wir... Tiger haben nie<br />

einen Krieg geführt.”<br />

„Yeah, große Überraschung.“<br />

Shan deutete auf ihren Datenblock. „Warum müssen wir hier diesen<br />

Kram überhaupt lernen? Ich meine... temporale Mechanik? So ein<br />

Blödsinn. Als ob jeder Sternenflottenoffizier früher oder später in seiner<br />

Karriere eine Zeitreise machen würde. Hab ich jedenfalls nicht vor, wenn<br />

ihr mich fragt.“<br />

Yoko überlegte. „Ein Billardspiel, wie mir einige Kadetten heute<br />

morgen vorschlugen, wäre eine gute Idee, um sich abzulenken, was<br />

meint ihr? Um auf andere Gedanken zu kommen. Das erhöht die Reflexe<br />

und reinigt den Geist. Eine solche Aktivität erscheint mir logisch.“ Er<br />

kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Wer von euch möchte uns<br />

begleiten? Wir brauchen noch mindestens einen Mitspieler.“<br />

Tala betrachtete ihn mit gehobenen Brauen. „Damit ihr zwei seid?“<br />

Yoko schien ihren Kommentar überhört zu haben. „Wir könnten sonst<br />

auch etwas essen gehen.“<br />

Durkin schlug mit seiner haarigen Pranke auf den Tisch und bellte:<br />

„Eine hervorragende Idee!“ Er stand auf, drehte sich auf der Stelle um,<br />

und verließ ohne ein weiteres Wort die Bibliothek Richtung Mensa.<br />

Yoko mitzunehmen hatte er dabei ganz vergessen.<br />

Wotan sah dem Tellraiten erstaunt hinterher. „Das war plötzlich.“


„Typisch.“, sagte Tala, die wieder ihren Text durchlas. „Tellariten sind<br />

eine launige Spezies. Leider schwanken ihre Launen nur zwischen<br />

absoluter Hochstimmung und bodenloser Empörung.“<br />

„Sei nett zu ihm.“, sagte Wotan zu ihr.<br />

Tala sah ihn an und hob eine Braue hoch. „Das sollte wohl ein Scherz<br />

sein, nicht wahr?“<br />

„Nein.“<br />

„Dang! Ich werde ganz sicher nicht zu einem Tellariten nett sein.“,<br />

erwiderte Tala und packte ihrerseits ihre Sachen wieder zusammen. „Da<br />

wäre ich auch die erste.“<br />

„Worin liegt eigentlich diese Feindschaft zwischen euren Völkern<br />

begründet?“, wollte Wotan wissen.<br />

„Kann ich dir sagen. Nach unserem Erstkontakt mit denen wollten wir<br />

die Hand der Freundschaft reichen und unsere Delegierten zeigten ihnen<br />

unsere heiligen Schriften von colAndor.... die sie dann nicht<br />

zurückgeben wollten.“<br />

„Ernsthaft?“<br />

Tala schwang ihre Tasche um die Schulter. „Ernsthaft.“<br />

„Nun...“, beteiligte sich Yoko an der Diskussion. „Es ist bekannt, dass<br />

Tellariten nahezu jede Situation nutzen, um Debatten zu erzeugen.<br />

Vielleicht wollten sie nur genau das tun: ein Streitgespräch entfachen,<br />

und die andorianische Delegation verstand ihre Intention falsch.“<br />

„Und das von einem, der einen Tellariten kaum von einem Tellurier<br />

unterscheiden kann.“, murmelte Tala. Sie befand sich bereits auf dem<br />

Weg zur Tür und drehte sich noch einmal um. „Oh, und der wichtigste<br />

Grund, sie zu hassen: sie stinken!“<br />

„Gehst du heute noch weg?“, rief Galak, der ihr Zimmergenosse war,<br />

und sich rein gar nicht für das Thema interessierte, ihr hinterher: „Ich<br />

werde noch bis zwanzig Uhr achtundvierzig Lernen, dann meinen<br />

Schönheitsschlaf halten und die Tür von einundzwanzig Uhr bis<br />

einundzwanzig Uhr dreißig verriegeln. Und ich möchte nicht gestört<br />

werden.“<br />

„Du hast dein Leben aber wirklich bis ins kleinste Detail geplant,<br />

was?“, sagte Shan. „Das ist ziemlich erstaunlich.“<br />

Galak hob beleidigt die Nase. „Für mich ist erstaunlich, dass jemand<br />

sein oder ihr Leben nicht bis ins kleinste Detail plant.“


„Mach dir keine Sorgen“, rief Tala. „Ich werde dich nicht stören. Habe<br />

selbst was vor nachher und es wird spät.“<br />

Shan riet laut: „Der dunkelhaarige Bajoraner, mit dem ich dich gestern<br />

gesehen habe?“<br />

Tala steckte ihren Kopf noch einmal durch die Tür und grinste. „Die<br />

haben nicht nur auf der Nase Riffel, musst du wissen.“<br />

Das entlockte Shan ein unsicheres Lachen. So genau hatte sie es<br />

eigentlich gar nicht wissen wollen. „Seid ihr... ahm... zusammen?“<br />

„Ne, ist nur Sex. Bin gegenwärtig an keiner langfristigen Beziehung<br />

interessiert.“<br />

Galak richtete sich plötzlich steif auf, sagte aber nichts.<br />

„Und ich will ja den Schönheitsschlaf unseres Prinzen nicht stören.“,<br />

fügte Tala hinzu. Und dann war sie in der Tür verschwunden.<br />

Zurück blieben Wotan, Galak, Yoko und der irgendwo in der Gegend<br />

herumwuselnde Grau. Eigentlich war auch Cera noch anwesend,<br />

zumindest körperlich, doch sie saß nicht bei der Studiengruppe. Seit dem<br />

Vorfall in Tuvoks Kurs, saß sie selten bei ihnen und wenn sie es tat, dann<br />

sagte sie kein Wort. Es war nicht so, dass sie nicht mehr interessiert<br />

daran wäre, mit ihnen zusammenzusein, wie Shan zunächst befürchtet<br />

hatte. So war es tatsächlich nicht. Cera lächelte in ihrer typischen<br />

Unsicherheit, sobald sie jemanden von den anderen sah und dann zog sie<br />

sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück. Das war alles, was geschah.<br />

Sie sagte nichts, sie unternahm nichts. Sie war einfach da. Still wie ein<br />

Mauerblümchen und Schüchtern wie eine tarkanianische Wüstenmaus.<br />

Und wann immer Shan sie antraf, war sie über einen Computermonitor<br />

gebeugt und starrte auf verschiedene Texte. Sie las auf dieselbe Art, wie<br />

sie alles andere machte: behäbig und etwas blöde. Tatsächlich war es so,<br />

dass, wenn sie las, sie niemanden sonst zu bemerken schien. Shan hatte<br />

scherzhaft zu Sortak gesagt, dass sie ihre Kleider abstreifen und es wie<br />

die Karnickel treiben könnten, Cera würde es so lange nicht bemerken,<br />

wie sie einen ihrer Texte vor sich hatte.<br />

Nun überlegte Shan, ob sie zu Cera herübergehen und mit ihr reden<br />

sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie war müde und nicht<br />

besonders geduldig heute. Es war vermutlich besser, Cera in diesem<br />

Zustand nicht zu einem Gespräch zu bewegen. Also packte auch sie ihre<br />

Sachen, fing den Blick von Wotan auf und deutete mit einer leichten


Neigung des Kopfes zu Cera herüber. Sie flüsterte: „Bleibst du noch ein<br />

bisschen und passt auf?“<br />

Wotan legte die Stirn kraus, doch dann verstand er. Finnegan sollte<br />

bald aus der Intensivstation entlassen werden und nach Shans<br />

Einschätzung gehört er nicht zu den Menschen, die leicht aufgaben. Ihre<br />

Instinkte sagten ihr, dass es früher oder später Ärger geben könnte, auch<br />

wenn sie das nicht hoffte.<br />

„Aber natürlich.“, sagte Wotan sanft. „Mach dir keine Gedanken, ich<br />

passe schon auf.“<br />

„Okay, gut. Ich habe nämlich auch noch was vor.“<br />

„Und was?“<br />

Shan lächelte. „Eine Verabredung mit der Vergangenheit.“<br />

Sturak betrachtete den Urgon von allen Seiten und schüttelte voller<br />

Erstaunen den Kopf. „Bemerkenswert.“, sagte er nun schon zum dritten<br />

Mal. „Einfach bemerkenswert.“<br />

Für Shan war sein Erstaunen absolut verständlich, da sie den Urgon<br />

selbst ganz beachtlich fand. Und irgendwie war er die Strapazen, die sie<br />

hatte durchmachen müssen, um ihn in die Finger zu bekommen, absolut<br />

wert gewesen. Nun hatte sie endlich Zeit gefunden, den Urgon zu Sturak<br />

ins Labor zu bringen und obwohl der Vulkanier dem Anschein nach<br />

allerhand zu tun hatte, lies er sich genügend Zeit den Urgon sorgfältig<br />

von allen Seiten zu begutachten und machte sich anschließend einige<br />

Notizen in seinen wissenschaftlichen Tricorder.<br />

„Und?“, fragte Shan ungeduldig. „Denkst du, etwas mehr über den<br />

Urgon herausfinden zu können? Wie lange wird es dauern?“<br />

Sturak lachte. „Immer mit der Ruhe, Shan. Wir haben es mit einem<br />

sehr, sehr alten Relikt zu tun. Das müssen wir umsichtig handhaben. Die<br />

Dauer einer wissenschaftlichen Untersuchung lässt sich nie auf einen<br />

festen Zeitraum einschränken. Wir studieren, forschen und testen, bis wir<br />

die Antworten haben, die wir suchen, ganz gleich, wie lange es dauern<br />

mag.“<br />

„Geduld ist nicht unbedingt meine Stärke.“, seufzte Shan.


„Die wirst du noch erlernen.“ Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch<br />

und deutete auf die zahlreichen Kisten, die überall im Labor<br />

herumstanden. Es sah aus, wie bei einem Wohnungsumzug. „Da ich eine<br />

Menge anderer Objekte zur Untersuchung von der vulkanischen<br />

Wissenschaftsakademie geschickt bekommen habe, wird deine Geduld<br />

gleich einer ersten Prüfung unterzogen.“<br />

„Eh.“, machte Shan und wirkte enttäuscht. „Wird also lange dauern,<br />

nicht wahr?“<br />

„So ist es.“, bestätigte Sturak und wog den Urgon erneut in seinen<br />

Händen. „Aber ich widme mich dem diesem kleinen Prachtstück, sobald<br />

ich dafür Zeit habe.“ Er bedeutete Shan ihm zu folgen und ging rüber ins<br />

Hauptlabor. Auch dort standen unzählige Kisten durcheinander auf dem<br />

Boden verteilt und immer mal wieder kamen Lieferanten vorbei, um<br />

neue Behälter hereinzubringen. Andere Wissenschaftler waren nicht<br />

zugegen. Die archäologische Abteilung der Akademie war zum<br />

gegenwärtigen Zeitpunkt stark unterbesetzt, wie Sturak ihr gestanden<br />

hatte.<br />

Über ein breites Panoramafenster konnte man in die Haupthalle<br />

hinabsehen, in der die wirkliche wissenschaftliche Arbeit vollbracht<br />

wurde. Shan entdeckte ein halbes Dutzend Forscher, die zwischen<br />

komplizierten Geräten umhereilten und fragwürdige Experimente<br />

durchführten. Sturak trat an dem Fenster vorbei und sagte mit Blick auf<br />

den Urgon: „Vielleicht ist das hier ein wichtiger wissenschaftlicher<br />

Durchbruch. Ich bin sicher, nicht wenige Wissenschaftler werden sehr<br />

neugierig auf deine Entdeckung sein.“<br />

„Wirklich?“<br />

„Wirklich.“<br />

Er stellte den Urgon in ein Regal hinter ein Sicherheitskraftfeld und<br />

machte eine Notiz für die Kollegen. „Weißt du“, sagte er gedehnt.<br />

„Hinter diesen Relikten steckt oft mehr, als es zunächst den Anschein<br />

hat. Wir können nie genau wissen, welche Wunder sie uns offenbaren<br />

und welche Geheimnisse sie uns verraten werden.“ Seine Stimme bekam<br />

einen merkwürdig unheimlichen Ton und seine Mine wurde erstaunlich<br />

ernst. „Oder welches Unheil und Verderben sie heraufbeschwören<br />

mögen.“


Shan starrte ihn an. Wollte er sie etwa erschrecken? Und dann<br />

klatschte er in die Hände, um einen Themenwechsel zu signalisieren.<br />

„So.“, sagte er. „Ich habe gehört, du terrorisierst Mister Tuvoks Klasse.“<br />

„Meine Meinung zu äußern ist keine terroristische Aktion.“<br />

„Genauso, wie du deine Meinung zu Kadett Finnegan geäußert hast?<br />

Nebenbei bemerkt: Seine Kieferoperation verlief ausgezeichnet – falls<br />

dich das interessiert.“<br />

Shan grinste schief. „Da sind bestimmt auch Stellen an seinem Körper,<br />

die nicht so schnell heilen würden...“<br />

„Ach Shan...“<br />

In dem Moment trat Sortak durch die Tür.<br />

Sturaks Stimme wurde augenblicklich kälter. „Sortak.“, sagte er.<br />

„Vater.“, erwiderte Sortak genauso kühl. „Hi Shan.“<br />

„Hey.“, sie winkte ihm knapp zu, was Sturak veranlasste, sie zu<br />

fragen: „Ist er wegen dir hier?“<br />

Sie zuckte mit den Schultern. „Nein.“<br />

Also fragte Sturak Sortak: „Was machst du hier?“<br />

„Nun... ich hörte, du suchst einen Laborassistenten.“<br />

„Was machst du dann hier?“<br />

„Ich wollte mich freiwillig dazu melden, um... um...“ Sortak zögerte.<br />

Er schien nicht so recht über seinen Schatten springen zu können. Oder<br />

zu wollen. Dann jedoch seufzte er. „Um die Dinge zwischen uns zu<br />

klären. Wir haben einiges zu bereden und das hier ist vielleicht die beste<br />

Möglichkeit etwas Zeit miteinander zu verbringen.“ Er zog die Schultern<br />

hoch. „Hör zu, ich... es tut mir leid, okay? Es tut mir leid, was ich im<br />

Turbolift zu dir sagte. Das war nicht richtig. Und ich möchte mich<br />

entschuldigen.“<br />

Sturak hob eine Braue. Shan befürchtete schon das schlimmste, lies die<br />

angehaltene Luft aber mit einem kaum hörbaren „Puh“ entweichen, als<br />

Sturak sich leicht verneigte. „Ich nehme die Entschuldigung an.“<br />

„Danke, Vater.“<br />

„Deine Dienste als Laborassistent werden jedoch nicht nötig. Ich habe<br />

mich bereits gründlich nach Hilfe umgesehen und bin auf einen<br />

zuverlässigen jungen Mann gestoßen, der mir... ah, da ist er ja.“


Das >ah, da ist er ja< war eine Reaktion auf Galak Arsamandis<br />

eintreffen. Er hatte einige Datenblöcke dabei, vermutlich um<br />

Bestandsaufnahmen zu machen.<br />

„Der?“, wollte Sortak wissen. „Der soll dein Assistent sein?“ Er<br />

konnte es nicht fassen. „Du machst Witze, oder?“<br />

„Nein.“, beantwortete Sturak die Frage. Er war völlig ruhig. „Mister<br />

Arsamandi hat sich als erstes gemeldet, Sortak.“<br />

„Dann melde ihn ab. Du bist der Abteilungsleiter. Du hast jedes Recht<br />

dir einen anderen Helfer zu suchen.“<br />

„Das kann ich nicht, und das will ich nicht.“<br />

„Du ziehst diesen Schnösel deinem eigenen Sohn vor?“<br />

Nun neigte Sturak den Kopf. „Ich wusste nicht, dass ich einen Sohn<br />

habe.“<br />

Das traf Sortak. Das traf ihn mehr, als alles andere. Einen Augenblick<br />

stand er nur da, starrte Sturak an. Shan konnte nicht einmal raten, was in<br />

diesem Moment in ihm vorging. Am ehesten kam es noch einem<br />

Machtkampf zwischen seinen stärksten Emotionen – Hass und<br />

Enttäuschung – nahe. Dann drehte er sich auf dem Absatz herum und<br />

marschierte zur Tür hinaus. Nicht jedoch, ohne Galak den finstersten<br />

aller Blicke entgegenzufeuern. Dann war er hinaus. Sturak war plötzlich<br />

auch mieser Laune – über sich selbst, wie Shan vermutete. Er knurrte<br />

und ging zurück in sein Büro. Shan hörte die Tür zugleiten.<br />

Galak blickte zunächst Sortak, dann Sturak verwirrt hinterher. Er<br />

schien nicht so ganz zu begreifen, was da gerade passiert war. Aber er<br />

konnte sich glücklich schätzen, dass er überhaupt noch lebte. Noch<br />

jedenfalls. Denn so wie Shan Sortak kannte, würde er das nicht auf sich<br />

beruhen lassen.<br />

„Warum machst du das, Galak?“, zischte Shan möglichst leise, damit<br />

Sturak sie nicht hörte.<br />

„Warum mache ich was?“<br />

„Warum bist du hier?“<br />

Er schien verwirrt. „Um Kontakte zu knüpfen.“<br />

„Um dich einzuschleimen.“<br />

„Um... Kontakte zu knüpfen. Nur so kommt man im Leben weiter,<br />

Shan. Das ist der einzige Grund, warum ich auf dieser Akademie bin!“


Sie hob die Hände und verkrampfte die Finger, ganz so, als ob sie<br />

jemand unsichtbaren würgen würde. „Du bist so... so... so...“<br />

„Charmant?“, half er ihr auf die Sprünge. „Anziehend?“<br />

„Unwillkommen!“<br />

„Du wolltest unwiderstehlich sagen, nicht wahr?“<br />

„Arggh!“ Sie verkrampfte noch einmal die Finger, rollte gleichzeitig<br />

die Augen und trat dann kopfschüttelnd an Galak vorbei, hinaus auf den<br />

Korridor. Sie verschwand um die Ecke und Galak murmelte: „Menschen.<br />

Können einfach keine Komplimente machen...“<br />

Mensa<br />

Als Shan am nächsten Tag mit einem Tablett und ihrem Mittagessen<br />

durch die Mensa ging, gehörte sie zu den ganz wenigen, deren Teller<br />

tatsächlich gefüllt waren. In der Tat musste sie feststellen, dass die<br />

Mensa erstaunlich leer war. Üblicherweise musste man sich durch ein<br />

ziemliches Gedränge kämpfen, doch heute fehlte mindestens die Hälfte<br />

der Kadetten, und die Anwesenden waren allesamt recht Blass um die<br />

Nase herum.<br />

Shan führte das auf den Pflichtkurs zurück, an dem sie heute morgen<br />

teilgenommen hatten. >Galaktische Etikette< hieß er und musste von<br />

jedem einzelnen belegt werden. Nicht nur von den Diplomaten, sondern<br />

auch von denen, die sich in der Technik, der Sicherheit und sogar der<br />

Navigation eingeschrieben hatten. Was sich anhörte wie eine pikierte<br />

Veranstaltung mit feinem Essen und netter Gesellschaft, hatte sich für<br />

die meisten Kadetten also totale Katastrophe entpuppt. Man hatte ihnen<br />

frische Rohrmaden von Ferenginar und klingonisches Gagh vorgesetzt –<br />

lebendige Aale, die man am besten schnell verspeiste, ehe sie vom Teller<br />

glitschen konnten. Die Aufgabe der Kadetten war es gewesen, die<br />

dargebotenen Mahlzeiten zu essen, um auf Situationen vorbereitet zu<br />

werden, in denen sie den Anstand bewahren mussten, und ihre Gastgeber<br />

unter keinen Umständen beleidigen durften – selbst, wenn sie dafür<br />

gezwungen waren, etwas zu verzehren, das man nicht anders, als


widerlich und ekelerregend bezeichnen konnte. Niemand war begeistert<br />

gewesen. Die Kadetten hatten das Gewürm auf ihren Tellern mit<br />

äußerster Abscheu betrachtet, und manche hatten sich bereits übergeben,<br />

noch bevor sie überhaupt etwas davon in den Mund genommen hatten.<br />

Es war eine fürchterliche Kotzerei gewesen und nur zwei Kadetten hatte<br />

es nichts ausgemacht.<br />

Shan war eine davon. Sie war zwar weder vom Anblick, noch vom<br />

Geschmack des sich windenden Essens sonderlich begeistert gewesen,<br />

aber im Vergleich zu den Maden, die sie auf Frigoria hatte essen müssen,<br />

hatten sich die Rohrmaden und das Gagh als geradezu als kulinarische<br />

Delikatessen erwiesen. Die anderen Kadetten hatten sie nur fassungslos<br />

angestarrt und nicht begreifen können, wie jemand derart Mühelos ein<br />

solches Zeugs runterschlucken konnte. Da die Welt der Gerüchte ihren<br />

eigenen physikalischen Gesetzen gehorchte, waren recht schnell<br />

allerhand Gerüchte über ihre Nahrungsvorlieben auf dem ganzen<br />

Campus im Umlauf und deswegen war Shan beim Essen neuerdings<br />

nicht gerade eine gerngesehene Kameradin. Wo gestern noch jemand<br />

aufgestanden war und gerufen hatte „Komm her, Shan, setz dich zu<br />

uns.“, lies man sie heute in Ruhe.<br />

Der andere Kadett, der das Zeug problemlos verputzt hatte, war<br />

Durkin gewesen. Er hatte sich die feuchten Lippen mit seiner borstigen<br />

Zunge abgeleckt, sich den Bauch gerieben, und es kaum erwarten<br />

können, endlich etwas anständiges serviert zu bekommen, denn diese Art<br />

Mahlzeiten gehörte auf seiner Heimatwelt zum Alltag. Die Replikatoren<br />

erzeugten seine Nahrung zwar zufriedenstellend, aber der Geschmack<br />

stimmte einfach nicht.<br />

Eine Zeitlang hatte Kadett Cartman abzunehmen versucht. Also hatte<br />

er darauf bestanden, seine Mahlzeiten immer in Durkins Nähe<br />

einzunehmen. Wenn er Durkins Essen betrachtet hatte, war ihm auf der<br />

Stelle der Appetit vergangen und nach drei Tagen wog er bereits sechs<br />

Kilo weniger. Nachdem er jedoch das gewünschte Gewicht erreiht hatte,<br />

zog er es wieder vor, wieder mit Kadetten zu essen, die keine lebenden<br />

Mahlzeiten zu sich nahmen. Also aß Shan normalerweise mit Durkin,<br />

Tala und den anderen aus ihrer Studiengruppe. Sie alle waren zwar von<br />

Durkins Essgewohnheiten nicht gerade begeistert, aber zumindest damit<br />

vertraut


„Hey, Sortak.“ Shan stellte ihr Tablett neben dem ihres Freundes ab.<br />

„wie geht es dir?“, fragte sie, ohne ihn richtig anzusehen. Doch als sie<br />

keine Antwort bekam und ihn schließlich anschaute, blinzelte sie<br />

überrascht. Sortak stützte sein Kinn auf dem linken Arm und starrte in<br />

Gedanken versunken zu den Fenstern hinaus, hinter denen sich die<br />

weitläufigen Gartenanlagen des Campus erstreckten. In der anderen<br />

Hand hielt er eine Gabel mit der er geistesabwesend in seinem Rührei<br />

herumstocherte. Er machte den Eindruck, als sei er mit seinen Gedanken<br />

an einem völlig anderen Ort. Das entsprach überhaupt nicht seinem<br />

Naturell. Für gewöhnlich war Sortak ein sehr aufmerksamer, geradezu<br />

paranoid umsichtiger Geselle.<br />

Shan wiederholte leise seinen Namen, ohne dabei irgendeine Reaktion<br />

auszulösen. Allmählich machte sie sich ein wenig Sorgen. Sortak starrte<br />

noch immer ins Leere. Shan wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht<br />

herum und flüsterte mit größerem Nachdruck: „Sortak!“ Als noch immer<br />

keine Reaktion kam, stieß sie ihm in die Seite. Sortak fuhr leicht<br />

zusammen, und sah sich verwirrt um.<br />

„Was...?“ Er versuchte hektisch, sich etwas aus den Augen zu<br />

wischen, von dem Shan fast überzeugt war, dass es sich um ... um<br />

Feuchtigkeit handelte? Tränen? Sie war sich nicht sicher, ob sie<br />

überhaupt etwas derartiges gesehen hatte, aber wenn, dann sah das<br />

Sortak aber erst recht nicht ähnlich!<br />

„Hey, ist alles in Ordnung mit dir?“<br />

Er räusperte sich und zog wieder die typisch unwirsche Mine, die seine<br />

Person auszeichnete. „Natürlich.“, brummte er. „Wie kommst du darauf,<br />

dass etwas nicht in Ordnung ist?“<br />

„Na ja...“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Chaos in<br />

seinem Teller. „Hast du die Eier bestellt, um sie zu essen, oder um darin<br />

herumzustochern?“<br />

Sortak starrte sie einen Moment lang an, blickte danach auf seinen<br />

Teller herab und seufzte schwer, als würde ihm jetzt erst bewusst, was er<br />

die ganze Zeit über mit der Gabel gemacht hatte. Er legte sie ab und<br />

schob das ganze Tablett von sich weg. Im Grunde verspürte er überhaupt<br />

keinen Appetit. „Ich habe ... nur zu lange gelernt und ... und noch nichts<br />

geschlafen. Ich bin müde. Das ist alles.“<br />

Shan sah ihn misstrauisch an. „Länger gelernt, hm?“


„Ja. Ganz recht.“<br />

„Und warum?“<br />

Jetzt grummelte er verärgert. „Es gibt da ein paar Dinge, die ich nicht<br />

kapiert habe, okay? Einen ... einen... einen Warpsinus, den ich nicht auf<br />

Anhieb verstanden habe, klar? Das ist alles.“<br />

Shan neigte den Kopf. „Du bist ein miserabler Lügner.“ Und dann<br />

setzte sie leiser hinzu: „Wenn es wegen deinem Dad ist-“<br />

„Shan.“, unterbrach Sortak sanft. „Bitte. Lass es einfach.“ Er lächelte<br />

unsicher. Es war nur ein äußerst bemühtes Lächeln. Aber es genügte.<br />

Shan verstand, dass er gegenwärtig nicht darüber reden wollte und<br />

seinen Freiraum brauchte. Das konnte sie gut verstehen. „Oki-doki. Aber<br />

wenn was ist, kannst du immer mit mir reden, das weißt du.“<br />

„Natürlich. Ich weiß deine Sorge zu schätzen. Danke.“<br />

„Wir passen aufeinander auf.“<br />

Er lächelte – diesmal richtig. „Das machen wir.“<br />

Eine Weile aßen sie einfach. Dann fragte Shan ihn stirnrunzelnd.<br />

„Kommst du wirklich mit diesem Warpsinus nicht klar? Du hast mit<br />

keiner Silbe angedeutet, dass du...“<br />

„Ich wollte die anderen nicht aufhalten.“, sagte Sortak schnell. „Jetzt<br />

habe ich es kapiert. Mir ist ein Licht aufgegangen. Wir brauchen keine<br />

Worte mehr zu verlieren, okay?“<br />

„Na gut, Sortak.“, sagte Shan lahm. Sie wollte ihn nicht kränken. „In<br />

Ordnung.“<br />

Shan bekam mit, wie Galak, der ihr gegenüber saß, verächtlich<br />

schnaubte. Er war mit seiner Mahlzeit bereits fertig, saß nun in der für<br />

ihn typisch blasierten Art mit vor der Brust verschränkten Händen da,<br />

und hatte die Unterhaltung zweifellos belauscht. Er hatte Shan die ganze<br />

Zeit über angestarrt und blickte nun, als sie das bemerkte, schnell in eine<br />

andere Richtung. Vorzugsweise nach oben. Shans Besteck klapperte, als<br />

sie Messer und Gabel auf dem Teller ablegte. „Worauf hast du<br />

gestarrt?“, verlangte sie zu wissen.<br />

Galak sah sie wieder an. „Auf nichts.“<br />

„Auf mich.“<br />

„Auf nichts.“<br />

„Uh, Uh. Versuch nicht dich rauszureden, Mr. Persönlichkeit. Du hast<br />

gegafft!“


„Gegafft? Ich?! Pah! Ganz gewiss nicht!” Galak zog die Nase wieder<br />

ein Stückchen höher, um zu signalisieren, wie abwegig ihre Behauptung<br />

war, und, dass eure Prinzschaft nicht wünschte, das Gespräch<br />

fortzusetzen. Dann jedoch überlegte er es sich plötzlich anders und<br />

beugte sich über den Tisch zu ihr vor. „Lass mich dir eine Frage stellen,<br />

Shan Bartez. Hast du deine Uniform etwa absichtlich zwei Nummern zu<br />

eng schneidern lassen, damit dich ja keiner ansieht?“<br />

Shan verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Nein. Ich mag es,<br />

wenn man mich ansieht. Ich mag es nur nicht, wenn du mich ansiehst.“<br />

„Falls du dich damit besser fühlst, Sha’Nyn; du bist nicht mein Typ.“<br />

„Oh, gut. Warum?“<br />

„Warum?”<br />

„Ja, weißt du, ich betreibe Konversation. Also: warum?”<br />

„Du redest zu viel. Du bist überheblich. Du bist stur, sarkastisch,<br />

zickig und körperlich schwach. Dein Hintern ist zu schmal und deine<br />

Brüste zu klein.“<br />

Der ganze Tisch schwieg. Niemand wagte es, etwas zu sagen. Shan<br />

starrte ihn an. Sie öffnete und schloss mehrmals ihren Mund, ohne etwas<br />

zu sagen, und es dauerte eine geschlagene halbe Minute, ehe sie in der<br />

Lage war, ihrer Empörung mit einem gefährlichen Knurren Ausdruck zu<br />

verleihen. Dann zeigte sie auf ganz schön bedrohliche Weise mit dem<br />

Finger auf Galak. „Hey! Willst du auch hören, warum du absolut nicht<br />

mein Typ bist?“<br />

Galak stand auf. „Nein.“ Er drehte sich einfach herum und hatte die<br />

Mensa verlassen, ehe Shan auch nur einziges Wort hinzufügen konnte.<br />

Dabei hatte er nicht einmal eine besondere Eile an den Tag gelegt. Zwei,<br />

drei Sekunden oder so waren alle ganz still. Dann lachte Durkin plötzlich<br />

laut auf, wobei sein feister Bauch auf eine Weise wippte, die ihn wie<br />

einen Weihnachtsmann aussehen lies. „Brüste zu klein! Haha!“<br />

Shans Kiefer mahlte.<br />

„Weißt du, was noch witzig ist?“, fragte Tala Durkin.<br />

„Nein, was?“<br />

Sie schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Nicht feste,<br />

aber es klatschte gehörig. Durkin war sofort auf den Beinen. Sein Stuhl<br />

kippte zu Boden und er wirbelte erbost herum. Aber natürlich hatte Tala<br />

ihre Hand längst wieder weggezogen.


„Wer war das?“, schäumte Durkin und stierte dabei die Kadetten am<br />

Nachbartisch an. „Wer hat es gewagt...?“<br />

Die Kadetten, von denen heute kein einziger in der Verfassung war,<br />

sich mit einem erbosten Tellariten anzulegen, standen alle rasch auf und<br />

setzten sich vorsichtshalber an einen anderen Tisch. Durkin brummte,<br />

richtete seinen Stuhl auf und nahm ebenfalls wieder platz. „Feiglinge.“<br />

„Richtig.“, stellte Tala spöttisch fest. „Die haben alle Angst vor dir.“<br />

Sie schüttelte den Kopf und aß weiter, als ein Schatten auf sie fiel.<br />

„Darf ich mich zu euch setzen?“<br />

Shan und Sortak schauten auf und sahen, dass Yoko mit einem Tablett<br />

vor ihnen stand. Shan rutschte sofort ein Stück und Yoko nahm Platz.<br />

Dann sah er Tala und Durkin auf der anderen Seite der Tischplatte<br />

durchdringend an. „Ist euch schon einmal aufgefallen.“, fragte er. „dass<br />

sich kein Wort auf Orange reimt?“<br />

Tala stöhnte auf und rieb sich die Schläfen. „Wie bist du eigentlich auf<br />

die Akademie gekommen, Yoko?“<br />

„Mit einem Shuttle.“, erklärte er geduldig. „Eine freundliche Gruppe<br />

von Rektruten hat mich mitgenommen.“<br />

Die anderen tauschten bestimmte Blicke. Es war kein verstecktes<br />

Kompliment gewesen. Er hatte das völlig ernst gemeint.<br />

Tala beugte sich über den Tisch und sagte langsam. „Yoko... ich weiß<br />

das. Ich war dabei, erinnerst du dich?“<br />

Yoko blinzelte überrascht. „Dich haben sie auch mitgenommen?“<br />

Einen Moment lang starrte Tala ihn einfach nur an. Dann sagte sie:<br />

„Nein. Nein, vergiss, was ich gesagt habe. Ich bin hergeflogen. Ich habe<br />

meine Flügel ausgebreitet und bin nach San Francisco geschwirrt wie ein<br />

Atlirith.“<br />

„Tatsächlich? Ich wusste gar nicht, dass Andorianer so etwas können.<br />

Beeinduckend.“<br />

Vor allem beeindruckte ihn die Tatsache, dass Tala ihre Flügel ganz<br />

formidabel verstecken konnte. Verwirrt war er nur, als ihre Stirn<br />

plötzlich auf die Tischplatte knallte... und wieder... und wieder... und<br />

wieder. „Ist alle in Ordnung, Tala?“<br />

„Sprich... nicht... mit... mir.“ Bei jedem Wort schlug sie ihre Stirn<br />

wieder auf die Platte. Das ganze Besteck schepperte und klapperte.<br />

„Ich glaube.“, warf Wotan vom Nebentisch ein. „Es interessierte Tala


mehr, warum du dich für eine Karriere in der Sternenflotte entschieden<br />

hast.“<br />

Der Vulkanier sah zu ihm herüber. Normalerweise aß Wotan immer<br />

am Nebentisch, weil er eine ganze Bank für sich alleine beanspruchte<br />

und anderen nicht viel Platz ließ. Um überhaupt einen Tisch zu<br />

bekommen, und nicht auf dem Boden liegen zu müssen, fand er sich<br />

daher meist als erstes in der Mensa ein. Dabei bewegte er sich<br />

üblicherweise auf allen Vieren fort, da er in seiner vollen Größe zu<br />

furchteinflößend auf die meisten Mitschüler wirkte, und leider auch nicht<br />

durch alle Türen passte.<br />

„Es erschien mir ... logisch.“, antwortete Yoko einfach.<br />

„Logisch?“ Shan legte die Stirn in falten. „Die Frage ist doch eher, ob<br />

es einen glücklich macht, hier zu sein, oder nicht?“<br />

„Ganz gewiss.“ Für Yoko bestand da offenbar kein Zweifel. Und er<br />

setzte hinzu: „Wie jemand schlaues einmal sagte: >Glück ist nicht die<br />

Hauptsache, sondern das Nebenprodukt eines sinnvollen Lebens. Zu tun,<br />

was einem entspricht, sich auf andere Wesen beziehen, nicht nur auf sich<br />

selbst, und ständig dazulernen – das sind die Grundbedingungen für ein<br />

glückliches Leben>.“<br />

Wotan kramte in seinen Erinnerungen. „John Mayfield?“<br />

„Rene Barz.“, erklärte Yoko.<br />

„Ah. Nie von gehört.“<br />

„War kein erfolgreicher Autor.“<br />

„Das würde ich annehmen.“<br />

Nun hob Tala ihren Kopf wieder und bedachte Yoko mit einem<br />

verdrossenen Gesichtsausdruck. Anschließend verzog sie die Mine zu<br />

einem Schmerzhaften Ausdruck. „Au.“ Ihre Stirn war dort, wo Tala sie<br />

auf die Platte geschlagen hatte, ganz weiß geworden, aber die blaue<br />

Färbung kehrte bereits langsam wieder zurück. Durkin rieb sich<br />

unterstützend den Hinterkopf. „Mir tut mein Kopf auch weh.“<br />

„Das.“, erklärte Tala. „Ist dein Verstand, der seine eigene Blödheit zu<br />

begreifen versucht.“<br />

Der Tellarit stierte sie an, doch ehe er etwas erwidern konnte, fragte<br />

Yoko Tala: „Und warum bist du auf der Akademie, Tala?“<br />

„Ist das nicht offensichtlich? Um Karriere zu machen, natürlich. Ich<br />

will mein eigenes Kommando. Mehr noch. Ich will die Enterprise!“


„Die Enterprise?“<br />

„Ja. Egal welche. Ich will eines Tages das Flaggschiff kommandieren.<br />

Im Grunde kam ich auf die Akademie, um mit den Besten der Besten zu<br />

arbeiten, aber... Nun ja. Das war der Plan. Seht euch stattdessen an, wen<br />

ich in den letzten Tagen kennen gelernt habe...! Moronen, Idioten,<br />

und...“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Durkin. „Den hier.“<br />

Shan hob stumm die Hand und Tala schlug ein.<br />

„Aber im Ernst. Ich denke meine Zhavey war meine Hauptinspiration.<br />

Ich will ihr nacheifern.“<br />

„Zhavey?“, fragte Yoko verwirrt.<br />

Shan wusste, was das Wort bedeutete. „Mutter“, übersetzte sie.<br />

Wotan nickte. „Deine Zhavey gehört auf jeden Fall zu den Personen,<br />

die ich gerne einmal kennen lernen würde, Tala. Es ergibt sich nicht<br />

jeden Tag, die berühmteste Romantik-Holoroman Autorin der Galaxie zu<br />

treffen. Erm.. nicht, dass ich Romantik Holoromane lesen würde...“<br />

Shan hob überrascht die Brauen. „Das ist deine Mutter, Tala? Die<br />

Autorin von >Verwoben im tholianischen Netz der Liebe


grinste auf eine Art, die Shan rätseln ließ, ob die Andorianerin es ernst<br />

meinte, oder sich einen Scherz erlaubte. Ernster fügte sie hinzu: „Aber<br />

meine Zhavey ist nicht nur eine erfolgreiche Romanautorin, sie war auch<br />

ein recht bekannter und hochangesehener Sternenflottenoffizier vor<br />

ihrem Karrierewechsel. Ein Sternenflottenoffizier, der Maßgebliches für<br />

die Friedensverträge zwischen der Föderation und den Romulanern<br />

beitrug. Nicht ganz so spektakulär, wie das, was dein Vater vollbracht<br />

hat, Shan, aber ich kann dennoch nachvollziehen, in welcher Lage du<br />

dich befindest.“<br />

„Danke, Tala.“ Shan wusste ihr Mitgefühl wirklich zu schätzen.<br />

„Ja ja, die lieben Eltern...“, seufzte Sortak. „Manchmal können sie<br />

schon nerven, oder?“<br />

„Wenn sie nicht stören, sind sie tot – tellaritische Weisheit.“<br />

„Wenigstens“, sagte Shan und schob sich ein Brötchen in den Mund.<br />

„Sind wir hier vor ihnen sicher.“<br />

Und dann rief ein Kadett im vierten Jahr laut: „Kadetten!“<br />

Diesen Tonfall kannten sie mittlerweile ganz genau. Sie sprangen auf<br />

und standen stramm. Shan stand etwas weniger stramm als die anderen,<br />

aber immerhin spielte sie mittlerweile mit. Admiral Janeway betrat die<br />

Mensa und ging zur vorderen Wand. Die Kadetten blieben stehen und<br />

sahen starr geradeaus. Janeway erreichte die Theke und drehte sich zu<br />

ihnen um.<br />

„Rühren!“ sagte sie mit fester Stimme. Die Kadetten nahmen<br />

augenblicklich wieder Platz, blieben reglos sitzen und warteten geduldig<br />

darauf, dass Janeway das Wort an sie richtete.<br />

„Admiral Parker“, sagte sie mit bemüht emotionsloser Mine, „hat<br />

einen Shuttle-Unfall erlitten. Zum Glück gab es keine Todesopfer, doch<br />

der Admiral wird in den nächsten Wochen keinen Unterricht geben<br />

können.“<br />

„Er sollte uns in Kampfstrategie unterrichten“, flüsterte Shan Yoko zu,<br />

weil der mal wieder nicht wusste, worum es ging.<br />

„Daraus wird nun wohl nichts“, erwiderte Tala ebenso leise.<br />

„Ich bitte um Ruhe.“, sagte Janeway streng und bedachte Shan mit<br />

einem vernichtenden Blick. Shan ärgerte sich darüber, dass sie<br />

unterschätzt hatte, wie scharf die Ohren des Admirals noch waren.<br />

Janeway fuhr fort: „Allerdings sieht Admiral Parker keinen Anlass,


Ihnen freizugeben, und ich stimme ihm zu. Daher werden Sie in der Zeit,<br />

in der sein Kurs stattfinden sollte - und auch in Ihrer Freizeit - eine<br />

Prüfungsarbeit über das folgende Thema vorbereiten: Berühmte<br />

Schlachten, bei denen der Faktor Glück eine maßgebliche Rolle spielten.<br />

Sie haben die Aufgabe, zwanzig bedeutende Schlachten in der<br />

Geschichte der Sternenflotte auszuwählen, die in diese Kategorie fallen.<br />

Dann werden Sie ausarbeiten, wie diese Schlachten anders hätten<br />

verlaufen können, wären keine günstigen Umstände eingetreten. Das ist<br />

alles. Sie werden ihre Fragen dann jemandem stellen können, der sich in<br />

diesem Bereich besonders gut auskennt: Captain Matthew Bartez. Er<br />

wird Admiral Parkers Klassen übernehmen.“<br />

Ohne ein weiteres Wort drehte Janeway sich um und verließ die<br />

Mensa. In dem Augenblick, da sie durch die Tür ging, begannen die<br />

Kadetten, sich leise miteinander zu unterhalten und Vorschläge zu<br />

machen, über welche Schlachten sie schreiben konnten.<br />

Nur Shan nicht.<br />

Sie saß da, starrte an den Fleck, an dem eben noch Janeway gestanden<br />

und die Unheilsnachricht verkündet hatte, und verlor jegliche<br />

Gesichtsfarbe. Was aufgrund der Tatsache, dass sie üblicherweise schon<br />

recht blass war, einen gruseligen Effekt hervorrief.<br />

„Das ist das Ende.“, sagte sie monoton.<br />

„Ts, ts, ts.“, schüttelte Wotan tadelnd den Kopf. „Meine Liebe, das ist<br />

nicht die richtige Einstellung. Ich möchte ein wenig mehr Optimismus<br />

von dir hören.“<br />

„Das ist das Ende!“<br />

„Schon besser...“<br />

Sie erhob sich steif und ging Richtung Ausgang.<br />

Durkin stierte ihr hinterher. Er begriff überhaupt nicht, was mit der<br />

Erdenfrau los war. „Kann ich irgendwie helfen?“, fragte er.<br />

„Rede mit Shan.“<br />

Durkin richtete seinen Blick zur Tür, die gerade von Shan garstig<br />

aufgetreten wurde und sah dann wieder zu Wotan. „Kann ich auf andere<br />

Art Helfen?“<br />

„Lass gut sein.“, sagte Sortak. „Ich mach das schon.“<br />

„Vielleicht sollten wir Galak schicken.“, flüsterte Tala frech lächelnd.<br />

„Warum?“, fragte Yoko überrascht.


„Yoko. Muss dir jemand ein Brett über den Schädel ziehen?“<br />

Yoko sah sie verwirrt an. „Hoffentlich nicht. Warum?“<br />

„Dang! Galak, Yoko. Ist dir noch nie aufgefallen, wie er Shan ansieht?<br />

Und wie sie ihn ansieht?“<br />

Yoko runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht ganz...“<br />

„Sie sind verrückt aufeinander. Jeder weiß es. Nur sie selbst offenbar<br />

nicht. Sie sind so sehr damit beschäftigt, sich anzufauchen, dass sie es<br />

überhaupt nicht mitbekommen.“<br />

„Genug davon.“, raunte Sortak säuerlich und deutete mit dem Finger<br />

auf Tala. „Du erzählst Unsinn.“<br />

„Denkst du?“<br />

„Shan hat nicht das Geringste für diesen Schnösel übrig. Er ist ein<br />

Vollidiot.“<br />

Tala zuckte mit den Schultern. „Ich finde ihn ganz süß.“<br />

Sortak erhob sich und fasste sie finster dreinblickend an der Schulter.<br />

„Dann kannst du ja auf deine lange Liste kleiner Stelldicheins setzen.<br />

Aber hör auf so einen Blödsinn über Shan zu erzählen. Galak... ist<br />

bestenfalls ein Objekt für sie. Ein Objekt, an dem sie ihre<br />

Schlagfertigkeit kultivieren kann. Das ist alles. Ich werde nicht zulassen,<br />

dass du Lügen verbreitest. Und sollte Galak auch nur einen falschen<br />

Gedanken hegen, werde ich ihn aus ihm herausprügeln.“<br />

Damit drehte er sich um und verließ ebenfalls die Mensa.<br />

Mueller<br />

Shan hatte das Gefühl, allmählich den Verstand zu verlieren.<br />

Normalerweise hatte sie keine Schwierigkeiten mit dem Einschlafen,<br />

aber in dieser Nacht fand sie einfach keine Ruhe. Genaugenommen war<br />

es sogar eine der unruhigsten Nächte, die sie je erlebt hatte. Vielleicht<br />

war sie ja ab und zu für ein paar Minuten eingeschlafen, aber den<br />

größten Teil der Nacht verbrachte sie damit, sich von Links nach Rechts<br />

zu wälzen, oder sich das Kissen auf die Ohren zu pressen, während sie<br />

versuchte, Wotans ohrenbetäubendes Schnarchen zu ignorieren – was ihr


selbstverständlich nicht gelang. Aber wie hätte man auch das Sägen<br />

eines ausgewachsenen dreihundert Kilo schweren Tigers überhören<br />

können. Es wäre ihr vor einer Weile beinahe gelungen, dieses penetrant<br />

entsetzliche Geräusch auszublenden, aber dann hatte Wotan auch noch<br />

angefangen zu jaulen, zu fiepen, gelegentlich sogar zu knurren und um<br />

sich zu treten.<br />

Er war feste am Träumen und es war zweifellos ein ereignisreicher<br />

Traum, aus dem er sich beharrlich zu erwachen weigerte. Dabei hätte<br />

man meinen müssen, dass ihn sein eigens verursachter Lärm weckte. Es<br />

war Shan völlig unbegreiflich, wie er solch einen Krach veranstalten,<br />

gleichzeitig aber dabei schlafen konnte. Auf eine subtile oder aber<br />

aufdringliche Art und Weise laut zu sein, gehörte ganz offensichtlich zu<br />

Wotans Stärken. Als er am Abend aus der Bibliothek ins Quartier<br />

zurückgekehrt war, hatte er gegessen, getrunken, sich gereinigt, und das<br />

alles, ohne den Mund zu halten. Shan, die versucht hatte, sich mit ein<br />

paar wissenschaftlichen Texten von der Ankunft ihres Vater abzulenken,<br />

hatte ihn mehrere Male aufgefordert, etwas anderes zu tun, als zu reden,<br />

und er hatte sich jedes Mal mit aller gebotenen Höflichkeit einverstanden<br />

erklärt, seine Redseligkeit einzuschränken. Doch in recht kurzer Zeit war<br />

er stets in seine alten Gewohnheiten zurückgefallen, bis er endlich<br />

ermüdet und eingeschlafen war. Und dann hatte das Schnarchen<br />

eingesetzt.<br />

Nun drehte sich Shan auf den Rücken und sah sich in der Dunkelheit<br />

ihres Zimmers um. Draußen, am sternenbehangenen Himmel schien der<br />

Mond und warf einen matten Schein durch das Fenster. Deshalb konnte<br />

sie recht gut erkennen, wie Wotan sich im zerwühlten Laken seines<br />

Bettes befand, merkwürdig verbogen auf dem Rücken lag und alle viere<br />

von sich gestreckt hatte. Aus seinem Mundwinkel lief Speichel. Das<br />

ganze Kopfkissen war besabbert. Gerade trat er wieder um sich, und<br />

knurrte. Gleichzeitig jedoch wedelte er mit dem Schwanz.<br />

„Wotan.“, zischte Shan, in der Hoffnung, er würde aufwachen, oder<br />

zumindest die Schnauze halten. Natürlich wurde diese Hoffnung nicht<br />

erfüllt. Also versuchte sie es ein wenig lauter.<br />

„Wotan!“<br />

Aber auch auf diesen zweiten Versuch bekam sie keine Reaktion.<br />

Selbst, als sie ihm ihr Kissen überwarf, bewegte sich der Tiger nur ein


wenig, wachte aber nicht auf. Shan wälzte sich genervt herum, warf<br />

einen Blick auf das Chronometer und stöhnte leise. Es war erst kurz nach<br />

Drei Uhr und die Nacht fand einfach kein Ende. Sie wusste, dass es<br />

völlig aussichtslos war, noch einmal zu versuchen, die Augen zu<br />

schließen, denn sobald sie das tat und Wotans Krach in den hintersten<br />

Regionen ihres Bewusstseins verbannen zu vermochte, zwangen sich ihr<br />

alle möglichen Gedanken und Ängste auf, die sie erst recht am<br />

Einschlafen hinderten. Mögliche Implikationen, mögliche<br />

Komplikationen und vor allem die Tatsache, dass bald ihr Vater hier<br />

auftauchen würde. Ausgerechnet. Ausgerechnet er! Von allen Lehrern an<br />

der Akademie, von allen Akademien im Quadranten, musste er ja<br />

ausgerechnet hier auftauchen. Bei ihr.<br />

Shan gruselte sich bei der Vorstellung, wie er in den Klassenraum<br />

kommen würde, ihr zuzwinkernd, und bei jeder gestellten Frage als aller<br />

erstes seine Tochter aufrufen würde, ganz gleich, ob sie sich nun<br />

meldete, oder nicht...<br />

Shan wollte lieber nicht weiter darüber nachdenken. Also stieg sie aus<br />

dem Bett und wankte in der Dunkelheit in Richtung Bad. Natürlich nicht,<br />

ohne laut aufzustapfen, als sie an Wotans Bett vorbeikam.<br />

Selbstverständlich wurde er davon nicht wach. Shan hingegen, die mit<br />

schroffer Mine ihren Blick nur auf den Tiger gerichtet hatte, versäumte<br />

es, in der Dunkelheit den Schreibtisch vor sich auftauchen zu sehen,<br />

weshalb sie sich heftig das Knie stieß, stolperte, und scheppernd und<br />

fluchend, auf - oder vielmehr in - Wotans Fressnapf landete. Sie machte<br />

einen höllischen Lärm, und jagte noch die ein oder andere Obszönität<br />

hinterher, aber auch das brachte Wotan nicht um dem Schlaf. Er<br />

schnarchte einfach weiter. Während Shan ihr schmerzendes Knie rieb,<br />

fragte sie sich ernsthaft, ob es überhaupt etwas gab, das ihn je wieder<br />

wecken würde. Vermutlich hätte er auch weitergeschlafen, wenn eine<br />

Lawine über seinem Schädel hinweggefegt wäre.<br />

Sie humpelte ins Bad, fand beim dritten Versuch den Lichtschalter und<br />

spritzte sich über dem Waschbecken ein wenig Wasser ins Gesicht. Als<br />

sie sich ein frisches T-Shirt über den Kopf streifte, bemerkte sie plötzlich<br />

im Spiegel, wie straff sie um den Bauch herum aussah. Das war ihr<br />

bisher nie richtig aufgefallen. Aber seit ihrer Rückkehr aus Frigoria hatte<br />

sich an ihrem Körper einiges verändert. Und nicht nur am Bauch, wie sie


emerkte. Auch ihre Schultern machten auf sie irgendwie den Eindruck<br />

breiter zu sein. Kräftiger. Auch ihre Oberarme. Ihre Beine. Das Klettern<br />

an den Steilwänden, und das Marschieren durch den Schnee, hatte<br />

Spuren hinterlassen, und in den Tagen der Genesung und des höllischen<br />

Muskelkaters, musste ihr Körper für zukünftige Kletterpartien vorgesorgt<br />

und entsprechend Muskelmasse aufgebaut haben. Shan war ein bisschen<br />

erschrocken darüber. Aber angenehm erschrocken, und auch nur, weil es<br />

bisher ihrer Aufmerksamkeit entgangen war. Es war ein schönes Gefühl,<br />

nach all den Anstrengungen in der Eishölle nun das bemerkenswerte<br />

Resultat zu sehen. Sie fühlte sich gut. Genaugenommen fühlte sie sich so<br />

vital und kräftig, wie noch nie zuvor.<br />

Shan spannte probeweise den Bizeps an. Na ja. Verbesserungswürdig.<br />

Was hatte Galak gesagt? Ihr Körper sei schwach? Sie fragte sich, ob sie<br />

in der Eishölle auf weniger Probleme und Schwierigkeiten gestoßen<br />

wäre, wenn sie in der Vergangenheit ihren Körper etwas mehr aufgebaut<br />

und sich dementsprechend besser auf unvorhergesehene Strapazen<br />

vorbereitet hätte. Wenn sie mehr Kraft gehabt hätte. Aber das konnte sie<br />

ja nachholen. In dieser Nacht würde sie ohnehin keine Ruhe mehr<br />

finden, also zog Shan ihren Trainingsanzug an und machte sich auf den<br />

Weg zur Sporthalle.<br />

Da sie nicht damit gerechnet hätte, zu solch später Stunde noch<br />

jemanden in der Sporthalle anzutreffen, reagierte Shan entsprechend<br />

Überrascht, als sie den Eingangsbereich betrat, und es dort ebenso<br />

geschäftig zuging, wie am Tag. Ihr schlugen die zackig gehetzten<br />

Kommandos mehrerer Zero-G-Racquettball-Mannschaftsmitglieder<br />

entgegen, gemischt mit dem obligatorischen Gequietsche von<br />

Sportschuhen, die auf blank poliertem Hallenboden rutschten. In den<br />

entsprechenden Räumen, hinter Plexiglas getrennt, beharkten sich<br />

mehrere Spieler in Schwerelosigkeit, während sie sich in schneller Folge<br />

gegenseitig den Ball abluchsten und dabei eine Ernsthaftigkeit an den<br />

Tag legten, als hinge ihr Leben davon ab.<br />

Daneben wurde Cyber-Tennis und Parrises Squares gespielt und ein<br />

Blick auf die Kontrollmonitore verrieten Shan, dass sogar die


Holokammern besetzt waren. In einer ließ jemand ein Programm zum<br />

Hydrosegeln laufen, in der anderen fand ein Reitturnier oder so etwas auf<br />

sechsbeinigen Tieren statt. Die übrigen Sportarten waren so exotisch,<br />

dass Shan nicht einmal sagen konnte, worum es sich überhaupt handelte.<br />

Offensichtlich war sie nicht die einzige, die in dieser Nacht keinen<br />

Schlaf fand.<br />

Während sich eine verschwitzte, aber glücklich erscheinende Gruppe<br />

auf dem Weg zu den Schallduschen an ihr vorbeischob, blieb Shan etwas<br />

unsicher im Eingangsbereich stehen und folgte dem Schauspiel des Zero-<br />

G-Raquettballturniers. Die Spieler bewegten sich mit solchem Geschick,<br />

und solcher Geschwindigkeit, dass man kaum nachkam, den Punktestand<br />

im Auge zu behalten. Das Spiel war zweifellos sehr spannend und<br />

manche Kadetten, die mit ihrem Training wohl bereits fertig waren,<br />

hatten sich auf den kleinen Bänken an den Außenwänden eingefunden,<br />

und verfolgten den weiteren Verlauf des Spiels.<br />

Doch darauf hatte Shan keine Lust. Ihr stand jetzt mehr der Sinn<br />

danach, etwas für ihre Arme und Kondition zu tun. Einen Moment<br />

überlegte sie, ob sie nicht auf der Bank platz nehmen und solange warten<br />

sollte, bis eine der Holokammern frei werden würde. Dann könnte sie<br />

eine Kletterwand erzeugen und dort etwas üben. Doch dann erspähte sie<br />

hinter einer der offenen Türen einer scheinbar leeren Nebenhalle einige<br />

Sandsäcke. Das entsprach schon eher ihren Vorstellungen, also setzte sie<br />

sich in Bewegung.<br />

Beim Betreten der Halle stellte Shan fest, dass sie doch nicht so leer<br />

war, wie vermutet. Genaugenommen fand Shan ein Schlachtfeld vor und<br />

inmitten dieses Schlachtfeldes kämpfte gnadenlos eine einzelne Frau,<br />

von der Shan sofort mehr als beeindruckt war. Sie war groß, mit breiten<br />

Schultern und der Aura enormer Überlegenheit. Ihr Körper war schlank<br />

und kräftig und die Formen zeichneten sich deutlich unter dem engen<br />

Sportanzug ab. Sie hatte das blonde, lange Haar zu einem strengen Dutt<br />

zusammengebunden. Ihre Augen waren kobaldblau und unglaublich<br />

stechend, sogar noch stechender als Shans. Aber ihr bemerkenswertestes<br />

Merkmal, war etwas völlig unerwartetes. Sie hatte eine Narbe. Sie war


dünn, aber lang und zog sich über die gesamte linke Wange. Allein die<br />

Tatsache, dass sie diese Narbe offen zur Schau trug, statt sie sich durch<br />

eine einfache medizinische Prozedur von zwei, vielleicht drei Minuten<br />

Länge entfernen zu lassen, sprach Bände.<br />

Selbstverständlich wusste Shan sofort um wen es sich handelte. Vor<br />

ihr stand niemand geringeres, als Captain Katerina Mueller, eine in jeder<br />

Hinsicht derart beeindruckende, selbstsichere und unabhängige Frau,<br />

dass selbst Shan, die sich normalerweise nicht für Sternenflottenoffiziere<br />

begeistern konnte, sofort von ihr gefesselt worden war, als sie in der<br />

Grundschule das erste Mal von Mueller gehört hatte. Ihre Trident-<br />

Missionen in Sektor 221-G waren berühmt.<br />

Trident-Missionen... Shan fragte sich, ob Mueller noch immer dieses<br />

alte Schiff der Galaxy-Klasse befehligte, oder ob sie vielleicht sogar zum<br />

Lehrpersonald des Campus gehörte? Diente sie überhaupt noch in der<br />

Sternenflotte? Shan war sich nicht sicher.<br />

Von Mueller einmal abgesehen war die Halle leer und Mueller hatte<br />

deswegen Shans Ankunft zweifellos bemerkt, verschwendete aber keine<br />

Sekunde damit, nach ihr zu sehen. Stattdessen konzentrierte sie sich<br />

völlig auf ihre Gegner. Mueller stand inmitten eines großen Ringes – ein<br />

holographischer Bilderzeuger, der ihr regelmäßig neue Gegner schickte.<br />

In schwere Rüstungen gehüllte Krieger, mit spitzen Zähnen und<br />

buschigen Mähnen – Chalnoth-Schergen -, und die große, blitzende Äxte<br />

schwangen, Äxte, die dazu in der Lage waren, ihren Gegner mit nur<br />

einem Schlag in der Mitte zu spalten. Sobald einer von ihnen<br />

ausgeschaltet wurde, erschien sofort ein neuer, um noch wilder, noch<br />

lauter brüllend, auf Mueller loszugehen. Mueller lies sich davon wenig<br />

beeindrucken, vielleicht war sie sogar noch wilder als ihre Opponenten<br />

selbst. Sie führte ihr eigenes Schwert, lies die Klinge so unfassbar<br />

schnell die Luft zerschneiden, dass sie zu einem Schemen wurde. Und<br />

Mueller war unaufhaltsam!<br />

Sie hatte bereits Level achtunddreißig erreicht, vermutlich trainierte<br />

sie schon seit einer ganzen Weile, doch ihre Aufmerksamkeit hatte<br />

offensichtlich kein bisschen nachgelassen. In ihren Augen loderte nicht<br />

nur das Feuer der Wut, sondern auch die größtmögliche Konzentration.<br />

Shan sah, dass plötzlich einer der Krieger hinter Mueller auftauchte und<br />

die Klinge schwang. Doch Mueller besaß auf einmal Augen im


Hinterkopf, wirbelte herum und erdolchte ihn, ehe der Chalnoth ihr<br />

gefährlich werden konnte. Flackernd löste sich das Hologramm auf und<br />

Mueller bekam einen weiteren Punkt zugeschrieben. Shan konnte sich<br />

nur schwer von dem Schauspiel losreißen. Sie versuchte sich nicht allzu<br />

stark irritieren zu lassen, als sie sich zu einem der Sandsäcke begab. Sie<br />

begann ein bisschen drauf los zu boxen, landete hin und wieder einen<br />

guten Schlag, aber der Kampfeslärm hinter ihr war einfach zu anziehend.<br />

Sie warf immer mal wieder einen Blick über die Schulter, sagte sich<br />

selbst, sie wolle nur mal kurz nachsehen, was Mueller da mache und<br />

starrte dann doch eine ganze Weile gebannt auf das Schauspiel, ohne<br />

dem Sandsack die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Es war nur noch<br />

eine Alibiaktion: hin und wieder mal einen unmotivierten Boxhieb<br />

landen, dann wieder möglichst unauffällig zu Mueller sehen.<br />

Zwei Männer attackierten sie gerade von den Seiten. Mueller bewegte<br />

sich an Ort und Stelle, knallte ihnen ihre Ellenbogen in die Mägen, jagte<br />

das Schwert von links nach rechts und die Angreifer gingen zu Boden.<br />

Es geschah so schnell, dass Shan kaum realisieren konnte, was sie da<br />

gerade gesehen hatte, als auch schon ein dritter Chalnoth auf sie<br />

zustürmte. Mueller tauchte geschickt unter dem Axthieb durch, und lies<br />

ihr Schwert gleiten. Die Klinge bohrte sich durch den Brustkorb des<br />

Chalnoth und noch während sie ihn aufgespießt hatte und er langsam auf<br />

die Knie sank, fragte sie plötzlich mit einem leicht deutschen Akzent:<br />

„Willst du nur da rumstehen, oder machst du endlich mit?“<br />

Shan brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass sie gemeint<br />

war. „Ahm... Verzeihung?“<br />

Der Chalnoth rutschte Mueller von der Klinge, ging zu Boden und<br />

verschwand. Level vierzig erreicht. Der Computer wartete mit der<br />

nächsten Runde ein paar Sekunden, die Mueller nutzte, um den Kopf zu<br />

Shan zu drehen. Ihre kobaltblauen Augen starrten sie so durchdringend<br />

an, dass Shan das Gefühl hatte, von ihrem Blick durchbohrt zu werden.<br />

„Du hast die ganze Zeit herübergestarrt.“, sagte sie. „Vielleicht willst du<br />

dich nützlich machen. Dein Sandsack scheint dich ja nicht gerade zu<br />

fordern.“<br />

„Oh, ich… ich weiß nicht. Ich habe das Spiel nie gespielt.“<br />

„Ist kein Spiel.“, entgegnete Mueller sofort. „Eher Arbeit. Sport. Um<br />

Fit zu bleiben.” Sie klopfte sich deutlich stolz auf ihren straffen


Waschbrettbauch. Ihr Körper bestand nur aus Muskeln. „Also, kommst<br />

du jetzt, oder nicht?“<br />

Shan überlegte kurz, ob sie nicht lieber ablehnen sollte, entschied sich<br />

dann aber dagegen. Was hatte sie schon zu verlieren? Etwas mit Katerina<br />

Mueller zu unternehmen, war auch einfach zu verlockend, obwohl Shan<br />

plötzlich erhebliche Unsicherheit spürte. Und das geschah selten! Sie<br />

wollte vor der Frau nicht dumm da stehen, also musste sie sich<br />

anstrengen. In dem Moment, als Shan sich in Bewegung setzte, hätte sie<br />

schwören können, einen amüsierten Ausdruck über Muellers Mine<br />

huschen zu sehen, doch er verschwand beinahe sofort wieder. Mueller<br />

brachte ihre Schuhspitze unter das Schwert eines Gegners und beförderte<br />

den Griff mit einer schnellen Bewegung ihres Fußes in ihre Hand. Sie<br />

warf Shan das Schwert zu. Die fing es ungeschickt auf und beide Frauen<br />

gingen in Position.<br />

Der Computer startete Level vierzig. Mehrere Opponenten erschienen,<br />

kreisten sie ein. Knurrend und brüllend, kamen sie langsam näher. Shan<br />

testete das Gewicht ihres Schwertes, lies es ein paar Mal durch die Luft<br />

gleiten, um ein Gefühl dafür zu bekommen.<br />

„Du hast bereits Erfahrung damit.“, stellte Mueller fest, ohne sich zu<br />

ihr umzudrehen.<br />

„Ein wenig. Woher wissen Sie das?“<br />

„Die Art und Weise, wie du das Schwert führst. Es testest. Du hast<br />

dich bereits mit einer Klinge verteidigt, nicht wahr? Und getötet.“<br />

„Woher...“<br />

„Man sieht es in deinen Augen.“<br />

„Ich bin nicht stolz darauf.“<br />

Mueller hob und senkte leicht die Schultern. „Wer ein Schwert in die<br />

Hand nimmt, muss bereit sein, Leben zu nehmen. Andernfalls hat er die<br />

falsche Waffe. Und wer mit der falschen Waffe der Gefahr entgegentritt,<br />

wird selbst getötet. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, du, oder der Feind.<br />

War er stark?“<br />

„Wer?“<br />

„Dein Feind.“<br />

„Ja, ziemlich. Ein großes Raubtier.“<br />

„Stärker als du?“, fragte Mueller.<br />

„Das würde ich sagen, ja.“


„Dann sei stolz auf deinen Sieg.“<br />

Ehe Shan etwas erwidern konnte, fuhr das Programm fort und<br />

holographischen Chalnoth griffen an. Shan konnte nicht wissen, dass<br />

Mueller die Sicherheitsvorrichtungen des Programms deaktiviert hatte,<br />

sodass sie wirklich in Gefahr schwebte und selbst von einer<br />

holographischen Schwertklinge ernsthaft verletzt, wenn nicht sogar<br />

getötet werden konnte. Ohne dieses Wissen zeigte Shan wenig Angst,<br />

stürmte vor und zerschnitt ihren ersten Gegner mit einem eher<br />

uneleganten Schwerthieb, bei dem sie auch noch ins Stolpern geriet.<br />

Dadurch gelangte sie in die Reichweite eines anderen Widersachers, der<br />

seine Chance nutzte und die Axt niedersausen lies, so schnell, das Shan<br />

den Schlag nicht mehr abwehren konnte. Das tat Mueller. Ihre Klinge<br />

stoppte die Axt wenige Zentimeter vor Shans Gesicht. Die kräftigen<br />

Muskelreihen ihres Armes spannten sich an, als Mueller nur mit einer<br />

Hand ihr Schwert hochriss, den Gegner dadurch zurückkatapultierte und<br />

ihm mit einem schnellen Schlag den Schädel spaltete. Das Hologramm<br />

verschwand. Andere tauchten auf.<br />

„Sorry.“, entschuldigte sich Mueller. „Der war eigentlich dir.“<br />

„Ich werd’s überleben.“<br />

Und dann ging der Kampf weiter. Es war eine Symphonie aus<br />

schneidenden Klingen, durch die Gegend fliegenden Körperteilen, und<br />

rinnendem Schweiß. Die Melodie war in Muellers Hieben elegant, in<br />

Shans Schlägen plump. Irgendwie schien Mueller einfach keine<br />

Probleme zu haben, sie geriet nicht ein einziges Mal in arge Bedrängnis.<br />

Shan dafür andauernd. Sie war ständig in Bewegung, schlug mal hierhin,<br />

dann wieder dorthin, sprang zwischen den Gegnern herum, und während<br />

sie all das machte, bewegte sich Mueller kaum einen Zentimeter von der<br />

Stelle. Es war, als hätte sie einen größeren Aktionsradius, als könne sie<br />

ihre Arme beliebig dehnen, ihr Schwert an jede gewünschte Stelle<br />

bringen, während Shan laufen musste. Dementsprechend ließen ihre<br />

Kräfte bald nach, sie atmete keuchend, aber ans Aufgeben dachte sie<br />

keinen Moment lang. Die Blöße wollte sie sich nicht geben. Nicht vor<br />

Katarina Mueller. Denn trotz aller Anstrengung, fand Shan allmählich in<br />

das Spiel rein und war schon fast gewillt zu glauben, dass sie ganz gut<br />

klar käme, als Mueller plötzlich feststellte: „Du bist Matt Bartez’<br />

Tochter.“


Shan blieb einfach stehen, sah sie aus großen Augen an. „Was?“ Und<br />

dann knallte ihr ein Gegner in die Seite. Er rammte seine Schulter mit<br />

ganzer Kraft in sie hinein. Shan wurde von den Füßen gerissen und<br />

schlug hart auf dem Ringboden auf. Die Luft wurde ihr aus den Lungen<br />

gepresst. Mueller spießte den Chalnoth einfach auf. Es war eine so<br />

routinierte, fast nebensächliche Bewegung, wie wenn jemand nach dem<br />

Lichtschalter tastete. Der Chalnoth verschwand und Mueller ordnete eine<br />

Programmpause an. Shan keuchte und hustete schwer. Ihr ganzer Körper<br />

schmerzte. Sie stemmte sich schwerfällig auf die Ellenbogen und<br />

versuchte wieder Luft zu schnappen. Als sie nach oben sah, stand<br />

Mueller mit erhobener Braue über ihr. „Alles was ich tun muss um dich<br />

aus dem Konzept zu bringen, ist, deinen Vater zu erwähnen?“<br />

„Das ist nicht wahr.“, hustete Shan. „Ich war nur... ich hab den<br />

Chalnoth nur nicht bemerkt. Das ist alles.“<br />

Mueller neigte wortlos den Kopf.<br />

„Okay, okay.“, gab Shan zu. „Sie haben meinen wunden Punkt<br />

erwischt.“<br />

„Und warum ist dein Vater dein wunder Punkt?“<br />

Shan schnaubte. „Standen Sie schon einmal im Schatten einer<br />

lebenden Legende?“<br />

Mueller neigte erneut den Kopf, diesmal zur anderen Seite, was<br />

entfernt an Wotans Gestik erinnerte. Sie hielt von Shans Kommentar<br />

zweifellos gar nichts. Jeder wusste, von Muellers Abenteuern mit dem<br />

berühmten Mackenzie Calhoun und Elizabeth Shelby.<br />

Shan seufzte. „Tut mir leid. Ich nehm’s zurück.“<br />

Sofern sie Mueller beleidigt hatte, lies es sich die Frau nicht anmerken.<br />

„Unterschätze niemals deinen Wert. Niemals. So etwas machen Frauen<br />

nicht. Nicht einmal die, die im Schatten einer Legende stehen. Das<br />

machen nur Männer.“<br />

Shan runzelte andeutungsweise die Stirn.<br />

„Wir sind weit gekommen in den letzten vierhundert Jahren.“, erklärte<br />

Mueller und ging vor ihr in die Hocke. Ihre Augen hatten etwas<br />

durchdringendes, beschwörendes. Als wenn sie Shan gerade<br />

hypnotisieren wollte. „Kriege, Hungersnöte, Unterdrückungen... das<br />

haben wir alles weit hinter uns gelassen, wofür wir uns auch stolz auf die<br />

Schultern klopfen. Aber an einer Universalkonstante, die du in so gut


wie jeder Rasse, jeder Spezies antriffst, hat sich in all den Jahrzehnten,<br />

oder Jahrtausenden nichts, überhaupt gar nichts geändert – dem<br />

männlichen Ego. Sie wollen ihre Raumschiffe kommandieren, sie wollen<br />

ihre Gegner eliminieren, sie wollen besser sein als alle anderen. Aber vor<br />

allem wollen sie eines: Anerkennung. Die wollen nicht einfach da raus<br />

fliegen, in die unendlichen Weiten, um fremde Welten zu entdecken und<br />

neue Zivilisationen. Sondern um dafür in die Geschichtsbücher<br />

eingetragen zu werden. Um bewundert und angebetet zu werden. Das ist<br />

ihr Antrieb. Das ist ihre Schwäche. Nutze sie aus.“ Sie drückte Shan mit<br />

dem Zeigefinger leicht auf die Brust. „Denn wir sind besser.“<br />

Shan grinste und sah Mueller mit schiefem Blick an. „Haben Sie ein<br />

Problem mit Männern?“<br />

„Ein Problem? Nein, nicht im Geringsten.“, entgegnete Mueller und<br />

sah nachdenklich auf ihre Schwertklinge. „Mit den meisten Männern<br />

komme ich eigentlich sehr gut zurecht. Ich provoziere sie gerne, das ist<br />

alles. Aber ich lasse keinesfalls zu, dass einer zwischen dem<br />

Selbstbewusstsein einer Frau steht.“ Sie richtete den Blick wieder auf<br />

Shan. „Ich kenne deinen Vater, er ist oft genug in den Medien. Er lässt<br />

sich feiern für seinen zugegebenermaßen wohlverdienten Sieg in Rontar<br />

Minor. Im Pferdekopfnebel. Was macht deine Mutter.“<br />

„Meine Mutter?“ Die Frage überraschte Shan.<br />

„Genau, deine Mutter. War sie nicht auch damals in der Schlacht<br />

dabei?“<br />

„Doch, klar. Sie war der erste Offizier meines Dads und hat das Schiff<br />

in der Schlacht geführt, während er auf dem Planeten kämpfte. Warum<br />

fragen sie?“<br />

„Und was macht deine Mutter heute?“<br />

„Sie arbeitet im Föderationsrat.“<br />

„Politik also. Eine anstrengende Arbeit.“, wusste Mueller.<br />

„Ich denke schon.“, erwiderte Shan achselzuckend.<br />

„Und dein Vater? Was macht dein Vater heute?“<br />

„Er... er unterrichtet hin und wieder. Taktik und Strategie.“<br />

„Hin und wieder sagst du? Aha. Er unterrichtet also hin und wieder<br />

eine Klasse, ruht sich ansonsten auf seinem Sieg aus, für den er sich auch<br />

nach wie vor bejubeln lässt, während deine Mutter klammheimlich<br />

weitergegangen ist, ein Kind zur Welt brachte, es – wie ich mal annehme


-, zum großen Teil aufzog, den Haushalt schmeißt und nebenher auch<br />

noch in der Politik arbeitet. Ist das soweit richtig?“<br />

„Nun...“<br />

„Siehst du? Das machen nur Frauen. Wir brauchen keine<br />

Aufmerksamkeit. Wir brauchen keine Gratulanten. Wir tun einfach das,<br />

was wir tun müssen. Ohne zu jammern. Ohne zu meckern. Ohne<br />

Schwächen.“<br />

Shan war beeindruckt. Einfach beeindruckt. Ihr gefiel Muellers Art<br />

außerordentlich gut. Die Frau wusste wer sie war, was sie wollte und lies<br />

sich offenbar von niemandem etwas sagen.<br />

Mueller stand auf und half auch Shan auf die Beine. „Mach dir keine<br />

Gedanken um andere.“, sagte sie. „Oder um deinen Vater. Du bist gut,<br />

ansonsten wärst du gar nicht erst auf der Akademie. Und du kämpfst<br />

ausgezeichnet.“<br />

Shan lächelte schief. „Ja klar. Ich bin fix und fertig.“<br />

„Mag sein, aber du hast nicht aufgegeben. Außerdem trainiere ich<br />

regelmäßig, mein Körper ist es gewohnt, zu dieser Tageszeit<br />

Höchstleistungen zu bringen. Du dagegen treibst zu ungewohnter Stunde<br />

einen ungewohnten Sport. Wenn du nicht fix und fertig wärst, müsste ich<br />

mir ernsthafte Sorgen machen.“<br />

„Wollen Sie mir einreden, ich solle auch stolz darauf sein, dass ich<br />

verliere?“<br />

Mueller sah sie irritiert an. „Du hast doch gar nicht verloren. Wir sind<br />

auf Level fünfundvierzig, keiner ist verletzt, keiner ist angeschlagen. Ein<br />

bisschen Müde vielleicht, das ist auch schon alles. Davon abgesehen bist<br />

du auf dem richtigen Weg es so weit zu bringen, wie ich. Das<br />

Rohmaterial ist vorhanden, aber der Diamant gehört geschliffen. Du<br />

musst noch deutlich trainieren, viel üben. Aber ich erkenne Potential.“<br />

„Wow, danke.“<br />

„Bedank dich nicht für etwas, das selbstverständlich ist. Du musst<br />

selbstsicherer werden, weniger an dir zweifeln. Lass dich nicht ablenken.<br />

Denke nicht an andere. Wenn du kämpfst, bist du alleine. Lass dich<br />

völlig von deinen Instinkten leiten, auf die kalte Konzentration in deinem<br />

Bauch, und blende alles andere aus. Somit erzeugst du einen mentalen<br />

Kreis um dich herum, und du konzentrierst dich einzig und allein auf die<br />

Individuen, die diesen Kreis betreten. Die außerhalb, die ignorierst du.


Die innerhalb, begrüßt du mit deinem Schwert. So einfach ist das. Du<br />

verlierst das Gefühl für Zeit, du verlierst das Gefühl für dich selbst und<br />

du hörst erst auf, wenn die aufhören.“<br />

Mueller hob Shans Schwert vom Boden auf und gab es ihr zurück.<br />

Shan betrachtete die Waffe nachdenklich. „Aber wenn der andere besser<br />

ist...“<br />

Mueller schüttelte den Kopf. „Nein, denk gar nicht an so etwas. Sperr<br />

das aus. Wenn du einen Kampf betrittst, wenn du den mentalen Kreis um<br />

dich errichtet hast, gibt es nur noch eine Möglichkeit: Gewinnen. Das ist<br />

das ganze Geheimnis.“<br />

„Gewinnen?“<br />

„Richtig. Du musst dir des Sieges sicher sein. Dann wirst du auch<br />

siegen.“ Sie legte Shan eine Hand auf die Schulter und sah ihr feste in<br />

die Augen. „Du kannst alles schaffen. Wenn du es nur willst.“<br />

Shan starrte sie an. „Wow. Ich... weiß nicht, was ich sagen soll.“<br />

Mueller stellte sich zur nächsten Runde auf und Shan folgte ihr gut<br />

gelaunt. Sie fühlte sich toll. Mit wenigen, aber kernigen Sätzen, war es<br />

Mueller gelungen, Shan wieder völlig aufzubauen. Und diesmal schlug<br />

sie sich deutlich besser als in den vorherigen Runden. Sie konnte es<br />

natürlich noch immer nicht mit Mueller aufnehmen – absolut nicht -,<br />

aber während die Chalnoth auf sie einstürmten, beobachtete sie die Frau<br />

nun etwas aufmerksamer und erkannte, was es mit ihrer scheinbaren<br />

Bewegungslosigkeit auf sich hatte. Es war eher so, dass sie mithilfe einer<br />

Kombination von Geduld, Übung und Instinkt vorhersehen konnte, wie<br />

die Gegner angreifen würden. Sie wartete einfach, lies den Kampf zu<br />

sich kommen, anstatt vorzustürmen, wie es Shan tat, sondern begab sich<br />

in eine günstige Position und schlug dann blitzschnell zu. Shan versuchte<br />

also ihren Stil zu imitieren. Das gelang ihr zwar bei weitem nicht so<br />

geschickt wie Mueller, aber sie konnte sich schon wesentlich besser zur<br />

Wehr setzen, als noch vorhin, sodass sich die holographischen Gegner<br />

deutlich mehr Mühe geben mussten.<br />

Das schien auch Mueller nicht zu entgehen. „Sehr gut.“, lobte sie,<br />

während sie einem Chalnoth den Kopf vom Hals abtrennte. „Du lernst,<br />

in dem du mich beobachtest. Ausgezeichnet.“<br />

Sie kämpften noch eine Weile weiter und zwischen den Runden gab<br />

Mueller ihr immer kurze Tipps, etwa, wie sie stehen, oder das Schwert


halten sollte. Schon bald war Shan völlig schweißbedeckt, die<br />

Sportkleidung klebte an ihrem Körper. Ihr Herz schlug wild und sie<br />

realisierte, dass sie den Kampf genoss. Sie wollte sogar noch mehr. Mehr<br />

Gegner, mehr physische Herausforderungen. Sie fühlte sich lebendiger,<br />

als je zuvor. Sie hatte eine Holoeinrichtung noch nie für so etwas<br />

verwendet. Nur gelegentlich für Holoromane, Spaziergänge, oder<br />

Gymnastikstunden.<br />

Rücken an Rücken mit Mueller, in einem Ring von Gegnern, mit<br />

grimmigem Gesicht und dem Schwert in der Hand, fühlte sie sich aber<br />

viel wohler. Das Feuer in ihrem Herzen brannte so stark, dass sie auf<br />

gleich zwei Chalnoth los ging. Sie parierte die Axtschläge der beiden<br />

einigermaßen gekonnt, trat dem einen mit dem Schuh in den Magen und<br />

rammte dem anderen die Klinge in die Brust. Die Figur löste sich<br />

flackernd auf. Inzwischen kam der erste wieder auf sie zu, wütender als<br />

zuvor. Er schmetterte seine Axt so heftig nieder, dass er Shan das<br />

Schwert aus der Hand schleuderte. Aber sie dachte nicht daran<br />

aufzugeben. Der Rausch des Kampfes war zu übermächtig. Sie ballte die<br />

Faust, holte aus...<br />

„Computer, Programm Pause.“<br />

Mueller gab den Befehl. Der Chalnoth vor Shan stoppte in der<br />

Bewegung. Shan wirbelte zu Mueller herum. „Warum haben sie das<br />

Programm angehalten?“ Ihr Herz klopfte wahnsinnig, in ihren Augen<br />

stand eine unbändige Wildheit. Mueller ließ sich davon nicht<br />

beeindrucken. „Du stehst falsch.“, sagte sie. „Dein Schlag wird nicht<br />

sitzen.“<br />

„Was?!“ Shan befand sich direkt vor dem Chalnoth, sein Gesicht war<br />

frei. Es war völlig ausgeschlossen, daneben zu schlagen.<br />

Mueller deutete mit einem Kopfnicken auf den Chalnoth. „Sieh genau<br />

hin. Sieh ihm in die Augen. Errate seinen nächsten Zug. Warum steht er<br />

dort. Warum offenbart er dir sein Gesicht?“<br />

Shan drehte den Kopf. Sie sah den Chalnoth an und realisierte jetzt<br />

erst mit was für einem Gegner sie es zu tun hatte. Rund drei Köpfe<br />

größer als sie selbst, das Gesicht war ein einziger Knochen. Und dann<br />

sah sie, dass er in der anderen Hand plötzlich ein Messer hielt. Er musste<br />

es gezogen haben, als sie ihm den Tritt verpasst und sich mit dem<br />

anderen Chalnoth beschäftigt hatte.


„Er hat mir sein Gesicht als Zielscheibe dargeboten.“, erkannte sie.<br />

„Weil er genau wusste, dass ihm der Schlag nichts ausmachen würde.“<br />

Mueller nickte. „Genau. Du wärst einen Moment lang beschäftigt und<br />

abgelenkt. Genug Zeit, um dich abzustechen. Mehr braucht er nicht. Du<br />

schlägst zu, wunderst dich plötzlich, warum dein Gegner überhaupt nicht<br />

wankt und im nächsten Moment spürst du das Messer in deiner Seite. In<br />

der Realität kannst du die Zeit nicht anhalten. Da musst du innerhalb<br />

eines Sekundenbruchteils den Schlag deines Gegners vorhersehen und<br />

deinen eigenen planen. Im wirklichen Leben hättest du verloren, weil du<br />

übermütig wurdest. Kalte Konzentration.“, betonte Mueller. „Davon<br />

musst du dich leiten lassen. Von deinen Instinkten und dem Gefühl in<br />

deinem Bauch. Nicht von Wut. Die kannst du als Antrieb benutzen,<br />

genau wie Schmerz. Aber von diesen Dingen darfst du dich niemals<br />

leiten lassen, nur antreiben, verstanden?“<br />

Shan nickte. Ihre Gestalt sackte ein bisschen ein. Sie kam sich<br />

furchtbar blöde vor. Mit puren Fäusten auf einen Chalnoth loszugehen.<br />

Was hatte sie sich nur dabei gedacht?<br />

Mueller schien ihre Gedanken zu erraten. „Es war keine schlechte<br />

Idee, nur falsch ausgeführt.“ Sie sah sich in der Halle um, um sich zu<br />

versichern, dass sie alleine waren. Dann senkte sie die Stimme. „Es gibt<br />

einen Trick, einen bestimmten Schlag, mit dem du selbst so einen Kerl<br />

überwältigen kannst. Also pass gut auf. Offiziell bringen wir euch den<br />

nicht bei. Offiziell ist er kein Bestandteil des Lehrplans. Aber es ist unser<br />

Job euch nicht nur darauf vorzubereiten, in den Weltraum zu fliegen,<br />

sondern dass ihr auch in einem Stück zurück kommt. Dieser Schlag...<br />

diese Technik... ist nur für die Verteidigung und sollte nur im Notfall<br />

eingesetzt werden. Der wird aber häufiger eintreten, als du denkst. Wenn<br />

es heißt, du, oder dein Gegner, und du bist unbewaffnet, oder in solcher<br />

Bedrängnis, dass du deine Waffe nicht mehr rechtzeitig einsetzen kannst,<br />

dann solltest du dir gewisse.. Schwächen in der Biologie außerirdischer<br />

zu Nutze machen. Nicht jede Technik klappt bei jedem Kontrahenten,<br />

aber diese hier zeigt bei über siebzig Prozent von allen<br />

Föderationsbekannten Lebensformen Wirkung, und zwar die, seinen<br />

Atmungsapparat innerhalb weniger Sekunden auszuschalten. Je nach<br />

Kraft, die du in den Schlag einbringst, kann die Technik auch den Tod<br />

innerhalb weniger Sekunde erwirken.“


Mueller stellte sich neben Shan und zeigte ihr genau, was sie tun<br />

sollte. „... und jetzt, deine Finger auf diese Art biegen. Lass deine Hand<br />

wie einen Speer nach vorne, direkt auf diesen Punkt unterhalb der Brust<br />

schießen, als wäre dein gesamter Arm eine Waffe. Fertig?“<br />

Shan ging in Position, vor den Chalnoth. Sie nickte.<br />

Mueller hob die Stimme. „Computer, Programm fortfahren.“<br />

Auf einmal geriet der Chalnoth wieder in Bewegung, brüllte Shan an.<br />

Die schlug zu. Wie Mueller es ihr gezeigt hatte. Der Schrei blieb dem<br />

Chalnoth in der Kehle hängen. Er wurde zurückgeschleudert, als sei eine<br />

Abrissbirne gegen ihn geprallt. Er schlug auf, brach zusammen und<br />

rührte sich nicht mehr. Das Programm war abgeschlossen, der letzte<br />

Opponent besiegt. Der holographische Ring deaktivierte sich<br />

automatisch. Shan stand eine ganze Weile einfach da, mit großen Augen,<br />

und starrte auf ihre Hand, als sei ihr ein sechster Finger gewachsen.<br />

„Wow.“<br />

„Ja, wow.“, sagte Mueller und trat wieder neben sie. Sie hatte ihre<br />

Sachen zusammengepackt und sich ihre Sporttasche über die Schulter<br />

geworfen.<br />

„Ob ich in der Realität auch so gut klar komme?“<br />

„Kommst du.“, versicherte Mueller. „Die Sicherheitsvorkehrungen<br />

waren deaktiviert. Das hier... war die Realität.“<br />

Shan sah sie nur an.<br />

„Bau deinen Körper auf.“, instruierte Mueller. „Schaff dir ein paar<br />

Muskeln an und trainiere deine Reflexe. Es liegt ein langer Weg vor dir,<br />

aber ich zweifle nicht daran, dass du da draußen klar kommen wirst.<br />

Aber erst musst du mit dir selber klar kommen. Dein Vater, deine<br />

Freunde - wer auch immer. Die spielen dabei keine Rolle. Denn lass dir<br />

eines gesagt sein: Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner – und ganz sicher<br />

kein Mann.“ Dann lächelte sie. „Es war mir eine Freude, dich kennen zu<br />

lernen, Shan Bartez.“<br />

„Mir ebenso, Sir. Mir ebenso.“<br />

Mueller drehte sich um und marschierte Richtung Ausgang. Shan<br />

stand da und sah ihr nach. Ihr Herz pochte noch immer heftig in ihrer<br />

Brust und sie hatte noch lange nicht genug von dem Kampf. Irgendetwas<br />

war in ihr geweckt worden. Von allen Menschen, denen Shan je<br />

begegnet war, so dachte sie, war Katerina Mueller wahrscheinlich die


ungewöhnlichste. Sie war fast traurig, weil sie höchstwahrscheinlich<br />

nicht mehr mit ihr zu tun bekommen würde. Eine solche Frau wäre die<br />

ideale Mentorin und Shan nahm sich vor, sie zu ihrem Vorbild zu<br />

machen. Wenn es jemand verdiente, dann Mueller.<br />

„Kat?“ Mueller blieb vor dem Ausgang stehen und drehte sich noch<br />

einmal um.<br />

„Ja?“<br />

„Warum haben Sie eigentlich damit angefangen? Mit dem Training<br />

hier, meine ich.“<br />

Mueller dachte einen Moment nach. „Um sexuelle Spannungen<br />

abzubauen.“ Sie zwinkerte. Und im nächsten Moment hatte sie die Halle<br />

verlassen. Shan sah ihr grinsend nach. Sie fragte sich, ob sie je eine solch<br />

toughe Frau werden könnte.<br />

Als er um vier Uhr Morgens vom energisch läutenden Türmelder aus<br />

dem Bett geholt worden war, und vor der Tür eine verschwitzte und<br />

nicht minder energisch den Türmelder betätigende Shan Bartez in<br />

Sportklamotten vorgefunden hatte, hätte Dekan Reginald Barclay nicht<br />

überraschter reagieren können. Nun blickte er verdutzt auf die Junge<br />

Frau herab, die, im Gegensatz zu ihm, vor Energie nur so sprühte,<br />

während er noch versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu blinzeln.<br />

„S-sie w-wollen ihre Fächer auf den Studiengang >Sicherheit<<br />

konzentrieren?“, wiederholte er, was sie gerade gesagt hatte.<br />

„Das ist korrekt.“, bestätigte Shan.<br />

„Haben Sie eine Ahnung, wie-“<br />

„Wie spät es ist? Ja, Sir, das weiß ich.“<br />

„Kann das denn nicht-“<br />

„Bis morgen warten? Nein, nein, ich will das jetzt erledigen.“<br />

„Kadett.“, sagte Barclay erschöpft. „Ich bin wirklich-“<br />

„Müde? Ich werde Ihre Zeit nicht lange beanspruchen.“<br />

„Sie sollten wirklich aufhören, meine Sätze zu vervollständigen.“<br />

„Sprechen Sie schneller, Sir.“<br />

Barclays ohnehin schon recht klapprige Gestalt sackte ein wenig<br />

zusammen. Er lies die Schultern hängen und unterdrückte ein Gähnen.


„Es ist nur ein paar Tage her, d-da versicherten sie mir, dass sie ihr<br />

Studium keinesfalls auf den Sicherheitsbereich konzentrieren wollten.“<br />

„Ich habe meine Meinung geändert.“<br />

„D-das sehe ich. W-was ist mit ihrem Pilotentraining? Ich dachte das<br />

würde sie so interessieren.“<br />

„Die Standartausbildung im Navigations- und Steuerbereich wird<br />

genügen, Sir. Ich brauche keine Extraflugstunden, die besorge ich mir<br />

auch so. Das Sicherheitstraining wird meinen Zwecken dienlicher sein.“<br />

„I-ihren Zwecken...?“<br />

„Ja, Sir.“<br />

„Dienlich?“<br />

„Ja, Sir.“ Mehr sagte Shan nicht. Offenbar war sie nicht gewillt, näher<br />

auf diesen Punkt einzugehen. Barclay unterdrückte ein Gähnen. „Ich<br />

habe wirklich e-einige Gefallen für sie einfordern müssen, um ihnen die<br />

Teilnahme in diesen Schnupperkursen zu ermöglichen.“<br />

„Ich weiß, Sir. Dafür bin ich Ihnen auch sehr dankbar. Aber jetzt will<br />

ich etwas anderes. Ich habe mich entschieden, und ich akzeptiere kein<br />

Nein.“<br />

„Hm-mhm.“, machte Barclay. „I-ich sehe, Sie sind entschlossen.“<br />

„Das bin ich, Sir.“<br />

Er rieb sich seufzend die kleinen Augen. „Na schön, ich will mal<br />

sehen, was sich tun lässt, aber ich kann nichts garant-“<br />

„Danke, Sir.“ Shan drehte sich auf dem Absatz herum und joggte den<br />

Korridor hinunter. Barclay trat auf den Korridor hinaus und sah ihr<br />

stirnrunzelnd nach. Binnen weniger Sekunden war sie um die Ecke<br />

verschwunden.<br />

„Gern geschehen.“, rief Barclay ihr nach. Erst, als ihn ein<br />

vorbeimarschierender Kollege von oben bis unten musterte und frech<br />

grinste, realisierte Barclay, dass er nur mit einem Bademantel und<br />

Schlappen bekleidet, im Hauptgang stand. Er wurde bleich und<br />

schauderte. „G-g-gern g-geschehen.“<br />

Selbstverteidigung


Captain Arthur J. Flemming war einer der bekanntesten Experten der<br />

Sternenflotte, was den Nahkampf betraft. Er bewegte sich mit einem<br />

Selbstvertrauen und einer Zuversicht, für die Shan unwillkürlich<br />

Bewunderung empfand. Die Kadetten trugen weit sitzende<br />

Trainingsmonturen. Sie saßen in der Lotus-Position in einem Kreis auf<br />

dem Boden, während Flemming, die Hände locker auf dem Rücken<br />

verschränkt, um den Kreis herum ging.<br />

Er war ein eher unscheinbarer Mann. Mittelgroß, mit glattem braunen<br />

Haar, das durch feine, graue Strähnen durchzogen wurde, und erweckte<br />

insgesamt den Eindruck eines nicht allzu steifen, aber erwartungsgemäß<br />

korrekten Briten. Shan beobachtete ihn aufmerksam und prägte sich jede<br />

seiner Bewegungen ein. Gegenüber von ihr, auf der anderen Seite des<br />

Kreises, saß Galak. Er suchte einen Moment lang den Augenkontakt zu<br />

ihr, aber Shan bemühte sich, ihn keines Blickes zu würdigen. Sie war<br />

schon ablenkend genug, dass sie ihn während dem Lernen die ganze Zeit<br />

anschauen musste.<br />

„Bislang.“, sagte Flemming. „haben wir nur die Grundlagen des<br />

unbewaffneten Nahkampfes trainiert. Heute werden wir einen Schritt<br />

weiter gehen. Sie dürfen nicht zulassen, dass sie von den Phasern<br />

abhängig werden - insbesondere diejenigen von Ihnen nicht, die sich auf<br />

den Sicherheitsdienst spezialisieren wollen. Sie müssen in der Lage sein,<br />

Gegner auch ohne die Hilfe einer Strahlenpistole zu entwaffnen und<br />

auszuschalten. Stimmen wir in dieser Hinsicht überein?“<br />

Überall im Kreis nickende Köpfe.<br />

„Wir haben uns für den Angriff bislang auf die Grundlagen des<br />

Taekwondo konzentriert, da Ihnen bei diesem Kampfsport der Einsatz<br />

der Beine eine größere Reichweite ermöglicht. Und für die Verteidigung<br />

haben wir uns auf Aikido konzentriert, da Sie damit die Körperkraft<br />

Ihres Gegners zu Ihrem Vorteil einsetzen können. Es gibt in der Galaxis<br />

viele verschiedene Lebensformen... und viele von ihnen verfügen über<br />

wesentlich höhere Körperkräfte als ein durchschnittlicher Terraner, oder<br />

gar ein Andorianer.“<br />

Durkin brummte zustimmend. Tala sagte zwar nichts, rümpfte aber<br />

übertrieben die Nase.<br />

„Es gibt auch zahlreiche Waffen“, fuhr Flemming fort, „mit denen Sie


sich vertraut machen müssen. Man kann nie wissen, wann man sich auf<br />

einen Nahkampf einlassen muss. Und es gibt sogar Gelegenheiten, bei<br />

denen ein solcher Nahkampf in der Gesellschaft, die man gerade besucht,<br />

eine rituelle Bedeutung hat und obligatorisch ist. Die Erste Direktive<br />

weist uns an, den örtlichen Gepflogenheiten zu folgen, wann immer dies<br />

möglich ist. Sie werden sich nicht tagtäglich auf Duelle und dergleichen<br />

einlassen müssen, müssen aber stets auf solche Möglichkeiten<br />

vorbereitet sein. Dieser Aspekt der Selbstverteidigungskurse wurde von<br />

Admiral James Tiberius Kirk persönlich eingeführt, als er hier an der<br />

Akademie lehrte. Bei seinen Reisen musste er eine Vielzahl von Waffen<br />

handhaben. Zum Glück lernte der Admiral schnell, und dieser Umstand<br />

hat ihm bei zahlreichen Gelegenheiten das Leben gerettet. Aber er glaubt<br />

daran - wie wir auch -, dass es am besten ist, stets auf alles vorbereitet zu<br />

sein. Und genau das ist unser Job hier, Ladies und Gentleman. Sie<br />

vorzubereiten.“<br />

Flemming ging zu einem Schrank hinüber und holte zwei lange Stäbe<br />

hinaus. Einfache Holzstöcke, aber trotzdem sahen sie irgendwie<br />

gefährlich aus.<br />

„Bei einer Reihe von Waffen, die in der gesamten Galaxis verwendet<br />

werden, handelt es sich um Variationen des antiken terranischen<br />

Kampfgeräts, das man lapidar als Stock bezeichnet. Die Vulkanier haben<br />

zum Beispiel den Lirpa, der am einen Ende wie ein Knüppel geformt ist<br />

und am anderen über eine ziemlich gefährliche Klinge verfügt. Die<br />

Panonianer haben den Syzke, an dessen beiden Enden zerrissene<br />

Stofftücher befestigt sind. Das klingt vielleicht absurd, bis man begreift,<br />

dass man damit einem Gegner kurzzeitig die Sicht nehmen kann. Und<br />

wenn man im Nahkampf seinen Gegner auch nur einen Moment lang aus<br />

den Augen verliert, könnte dies zu einem schnellen Ende des Kampfes<br />

führen... und, im schlimmsten Fall, auch zu dem des Unterlegenen.“<br />

Aus den Augenwinkeln bemerkte Flemming, dass Shan den Eindruck<br />

machte, als wolle sie etwas sagen. „Ja, Mrs Bartez?“<br />

Shan dachte an den Schwert ihres Vaters, die Gardewaffe der<br />

Akademie. Damit hatte sie sich gegen die Tiere in der Höhle gewehrt.<br />

Zuerst hatte Shan ihren Einsatz gefürchtet – besonders, weil man sich<br />

mit der scharfen Klinge geradezu lächerlich einfach ein Bein<br />

abschneiden konnte. Nach ihrer Rettung von der Eiswelt, hatte die Waffe


aber einen merkwürdigen Reiz auf sie ausgeübt. Besonders das bösartige<br />

Zischen, mit dem die Klinge die Luft durchschnitte. Sie wollte eine<br />

entsprechende Bemerkung über das Gardeschwert der Akademie<br />

machen, war aber plötzlich gehemmt. Wenn sie auf ihre Erfahrung mit<br />

der Waffe hinwies und davon erzählte, wie sie mit Blut besudelt in der<br />

Höhle gestanden hatte, würden sie vermutlich sofort alle als Freak<br />

deklarieren.<br />

„Ahm... Nichts, Sir.“, sagte sie. „Hab nur mein Gewicht verlagert.“<br />

„Ich verstehe.“ Flemming richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf<br />

die anderen Studenten. „Wenn Sie die Grundlagen des Kampfs mit dem<br />

Stock verstehen, wird Ihnen das eine wertvolle Hilfe in einer Situation<br />

sein, in der Sie eine ähnliche Waffe benutzen müssen.“<br />

Er nahm einen Stab in beide Hände und hielt ihn waagerecht vor sich<br />

hin. „Sie fassen ihn hier an“, sagte er und deutete auf zwei Punkte in der<br />

Nähe der Stabmitte. „Halten Sie ihn nicht zu fest. Um jetzt ein Ende zu<br />

heben, belassen Sie eine Hand an Ort und Stelle und schieben die andere<br />

nach innen, etwa so...“ Nach fünfzehn Minuten hatte Flemming ihnen die<br />

wichtigsten Grundbegriffe des Kampfes mit einem Stab erklärt.<br />

Dann betrachtete er den Kreis der Studenten. „Kadett Bartez, Sie<br />

werden mein erstes Opfer sein. Hoffentlich haben Sie Ihr Gewicht so oft<br />

verlagert, dass Sie jetzt ganz locker sind...“<br />

Shan erhob sich und trat in den Kreis. Die anderen Kadetten rutschten<br />

zurück, um ihnen mehr Platz zu schaffen. Shan hob den anderen Stock<br />

auf, balancierte ihn zuversichtlich aus, verlagerte ihr Gewicht auf die<br />

Ballen ihrer nackten Füße und trat Flemming gegenüber, wo sie auf das<br />

Startzeichen wartete.<br />

Es gab kein Startzeichen.<br />

Flemming ging sofort in den Angriff über und versuchte es mit einer<br />

Finte. Shan setzte zu einer geringfügigen Bewegung an, um<br />

vorzutäuschen, sie glaube, die Finte sei der richtige Angriff. Als<br />

Flemming dann das andere Ende seines Stabes hob, um den richtigen<br />

Angriff einzuleiten, war Shan darauf vorbereitet und konnte ihm<br />

problemlos mit einem Schritt zur Seite ausweichen. Flemming war zu<br />

zuversichtlich gewesen und verfehlte sie. Er verlor kurzzeitig das<br />

Gleichgewicht, und Shan hob ihren Stab und rammte ihn in Flemmings<br />

Magengrube. Flemming stieß laut die Luft aus und brach keuchend auf


die Knie zusammen.<br />

Der Kampf hatte keine fünf Sekunden gedauert. Genauso lange<br />

dauerte es, bis die Studenten begriffen hatten, was passiert war. Shan<br />

musste grinsen, stellte aber fest, dass ihr niemand irgendeine Art von<br />

Begeisterung entgegenbrachte. Nur Verblüffung, die aber im Drang, ihre<br />

eigene Reputation zu retten, unterging. Automatisch traten die anderen<br />

Kadetten vor, um Flemming zu helfen, und sich artig um sein<br />

Wohlbefinden zu erkundigen, doch der winkte mühsam ab. Shan rollte<br />

die Augen und wollte ihm ebenfalls auf die Beine helfen, aber Tala hielt<br />

sie am Arm zurück. „Was tust du da?“, fragte sie und betrachtete Shan<br />

mit gelinder Überraschung.<br />

„Ahm... ihm helfen?<br />

„Dang! Warum solltest du so etwas tun?“<br />

„Helft ihr Andorianer euch etwa nicht auf?“<br />

„Selbstverständlich nicht.“, sagte sie sachlich. Es wäre ihr zweifellos<br />

niemals in den Sinn gekommen, Flemming auf die Füße zu helfen.<br />

„Wenn ein Kämpfer am Boden liegt, gilt es als Zeichen schlechter<br />

Manieren, ihm die Hand zu reichen. Daraus folgert man doch nur, dass<br />

der Besiegte zu schwach und nicht imstande ist, sich selbst zu helfen.<br />

Das einzig Richtige ist es, völlig reglos dazustehen. Darauf zu warten,<br />

dass der niedergeschlagene Gegner sich zusammenreißt und erklärt, dass<br />

er weitermachen kann, anstatt zu jammern.“<br />

„Vielen Dank, für Ihr Mitgefühl, Miss Era’Noor.“, keuchte Flemming,<br />

der mittlerweile seine Stimme wiedergefunden hatte. „Ihre Mutter war<br />

zuweilen ein wenig... humaner.“ Er kam mühevoll auf die Beine. „Ich<br />

bin in Ordnung, Leute. Vielen Dank.“, fuhr er knirschend fort,<br />

„Anscheinend bin ich seit den guten alten Tagen und Trainingseinheiten<br />

mit meinem Kollegen Borok ein wenig nachlässig geworden - und Sie<br />

haben mir das nicht durchgehen lassen, Kadett Bartez. Gut für Sie. Sie<br />

sind ein Naturtalent.“<br />

Sie grinste. „Danke, Sir.“<br />

Dann bemerkte Flemming, das Galak eine geringschätzige<br />

Handbewegung vollführte.<br />

„Kadett Arsamandi, sind Sie der Ansicht, dass Sie gegen Kadett Bartez<br />

besser bestehen können?“<br />

Galak neigte selbstgefällig den Kopf. „Aber selbstverständlich.“


Shan rümpfte die Nase, sagte aber nichts.<br />

Flemming bedeutete ihm, sich zu erheben, und Galak tat wie geheißen.<br />

Der Ausbilder gab ihm den Stab, setzte sich dann stöhnend zwischen die<br />

Studenten und kümmerte sich um seinen arg schmerzenden Magen.<br />

Galak wog den Stab mit unerschütterlicher Zuversicht in seiner Hand.<br />

Er pfiff leise die 1812-Ouvertüre vor sich hin, dann hielt er inne und<br />

drehte sich zu Shan um. „Du hattest reines Glück.“, sagte er gerade so<br />

laut, dass nur Shan ihn hören konnte. „Nichts weiter. Gegen einen alten,<br />

langsamen Mann magst du vielleicht bestehen. Aber gegen die<br />

Schnelligkeit und Überlegenheit, eines Orsorianers wirst du unterliegen,<br />

kein Zweifel.“<br />

„Bin sicher, Finnegan hat dasselbe gedacht...“<br />

Flemming horchte auf. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. An jenem<br />

ersten Tag des neuen Semesters, als diese ominöse Kadettin von denen<br />

alle gesprochen hatten, einen sehr viel höheren Kadetten nach Strich und<br />

Faden verprügelt hatte, war er nicht anwesend gewesen. Aber man hatte<br />

ihm die Geschichte natürlich aufgetischt. Nach allem, was er gehört<br />

hatte, war sie einer Naturgewalt gleich, über den unglücklichen Finnegan<br />

gekommen. Es hatte offenbar wirklich böses Blut zwischen den beiden<br />

gegeben, und sie schien auch mit einem ihrer Kameraden Probleme zu<br />

haben, doch Flemming hatte nur aus zweiter Hand davon gehört. Das<br />

war vor ein paar Tagen gewesen, er hatte einfach nicht mehr daran<br />

gedacht und auch gar nicht gewusst, um wen es sich genau bei dieser<br />

fragwürdigen Kadettin gehandelt hatte, aber nun bestand gar kein<br />

Zweifel mehr. Es war ein außerordentlich schlechter Zug, nun dieses<br />

Kampfnaturtalent Shan mit Waffen auf die untrainierten und vermutlich<br />

unterlegenen Kadetten loszulassen. Er wollte sie schnell dazu auffordern,<br />

den Ring wieder zu verlassen.<br />

Aber es war zu spät.<br />

Die Waffen prallten aufeinander.


Die anderen Kadetten feuerten die beiden Kämpfer auch noch so laut<br />

und energisch an, dass der noch immer atemlose Flemming sich nicht<br />

verständlich machen konnte. Er versuchte verzweifelt auf die Füße zu<br />

kommen, aber seine Beine gaben unter ihm nach und er plumpste zurück<br />

auf den Po, während Shan und Galak im Ring einen wilden Tanz<br />

aufführten. Der erste Schlagabtausch erfolgte so schnell, dass außer den<br />

beiden Kämpfenden niemand ihn nachvollziehen konnte. In der Luft<br />

hallten die schnellen Schläge von Holz auf Holz und Flemming war sich<br />

beinahe sicher, dass sie sich nun gegenseitig zerfleischen würden.<br />

Shan lies gerade ihren Stab niedersausen. Als Galak parieren wollte,<br />

täuschte Shan geschickt an und stieß von unten zu. Galak parierte erneut<br />

und ließ seine Waffe vom Anprall gegen Shans rechten Oberarm<br />

zucken... aber Shan erwiderte den Anstoß, berührte mit dem unteren<br />

Stabende sein nacktes Bein. Ihre Stöcke lösten sich, beide traten einen<br />

Schritt zurück. Die ersten Stöße waren ausgetauscht ohne Verletzungen.<br />

Flemming atmete erleichtert auf. Die Kadetten krakeelten. Shan und<br />

Galak umkreisten sich langsam.<br />

In den ersten Augenblicken des Gefechtes schätzte Shan in aller Ruhe<br />

ihren Gegner ein. Galak war erstaunlich schnell und seine Schläge<br />

besaßen erwartungsgemäß um einiges mehr Wucht, als ihre. Sicher. Er<br />

war ja auch weitaus muskulöser – immerhin das musste man ihm lassen.<br />

Und die Muskeln dienten offenbar nicht nur der Dekoration. Außerdem<br />

besaß er den Vorteil einer höheren Reichweite, da er immerhin gut zwei<br />

Köpfe größer war als sie. Aber er war mal wieder zu sehr von sich selbst<br />

überzeugt, und lies seine Deckung offen. Andernfalls hätte Shan<br />

vermutlich keine Chance gegen ihn gehabt. So entblößte er aber<br />

immerhin eine Schwachstelle und Shan sah ihre Chance. Kat Mueller<br />

hatte absolut Recht gehabt – alle Männer waren gleich. Galaks Ego war<br />

erwartungsgemäß so groß, dass es zwischen ihm und einem Sieg über sie<br />

stand. Also galt es weiter an jenem Ego zu kitzeln, um ihn aus der<br />

Reserve zu locken, bis er sich einen Fehler zu viel leisten würde.<br />

„Komm schon, Galak.“, spottete sie frech grinsend, während sie sich<br />

weiterhin umkreisten, wie Wölfe auf der Lauer, nur auf die nächstbeste


Schwachstelle des Opponenten wartend. „War das etwa schon alles, was<br />

der große, starke Orsorianer zu bieten hat?“<br />

Galak schnaubte gönnerhaft. „Meine liebe Shan. Ich habe nicht einmal<br />

angefangen.“<br />

„Sieht für mich eher danach aus, als ob der Kampf längst beendet<br />

wäre, mein lieber Mister Arsamandi. Vermutlich hast du doch nicht so<br />

viel drauf, wie du glaubst...“<br />

Und damit köderte sie ihn erfolgreich. Aber anders als erwartet. Galak<br />

warf eingebildet den Kopf zurück, so als wolle er sich imaginäre Haare<br />

aus der Stirn werfen – nur, um im nächsten Moment unvermittelt<br />

anzugreifen. Dabei schien er sich völlig auf seine Größe und Kraft zu<br />

verlassen, um den Kampf für sich zu entscheiden. Er wirbelte den Stab,<br />

verteilte eine Serie schneller Stöße und Shan ließ sich zurücktreiben.<br />

Dann duckte sie sich unter einem besonders heftigen Schlag hinweg, hob<br />

blitzschnell ihren Stab und rammte ihn Galak in den Magen. Der<br />

Orsorianer schwankte leicht und blinzelte verblüfft.<br />

„Sorry.“, sagte Shan gleichmütig. „Das tut mir furchtbar leid...“<br />

„Ich werde es ... überleben.“, erwiderte Galak, keuchend. Auch das<br />

war wieder ein Ablenkungsmanöver. Aber eines, das diesmal wesentlich<br />

besser funktionierte. Er erholte sich tatsächlich viel schneller, als Shan<br />

erwartet hatte. Im einen Moment, hielt er sich noch den Magen und im<br />

nächsten stürmte er wieder vor und Shan konnte den nächsten Hieb nur<br />

mit Mühe und Einsatz ihrer ganzen Kraft abblocken, ohne an Boden zu<br />

verlieren.<br />

Sie standen einen Augenblick lang schwer atmend da, schoben und<br />

drückten, und niemand wollte zurückweichen. Während Shan aber alle<br />

Mühe hatte, ihre Position zu halten, und schon gefährlich mit den Füßen<br />

auf der Matte rutschte, hatte sie den Eindruck, dass Galak nicht einmal<br />

die Hälfte seiner Kraft einsetzte. Er schien sie gar zu schonen und sich<br />

nur dahingehend zu bemühen, dass er sich nicht zurückdrängen lies. Sein<br />

selbstsicheres, geradezu ärgerlich arrogantes Lächeln war ein<br />

untrügliches Zeichen, was aber nur Shans Aggressivität förderte.<br />

„Du hast dir die falsche Frau zum roh werden ausgesucht.“, presste sie<br />

hinter zusammengebissenen Zähnen hervor, und hatte dabei alle Mühe,<br />

diesen Kampf der Willensstärke nicht zu verlieren.<br />

Galak hingegen hatte keinerlei Mühe. Er sagte: „Nur, weil du


wunderschön bist, heißt das noch lange nicht, dass dir jeder alles<br />

durchgehen lässt.“<br />

Shan blinzelte überrascht. „W-was?“<br />

Statt eine Antwort zu geben, drehte sich Galak plötzlich zur Seite,<br />

wodurch Shans Stab abrutschte und sie das Gleichgewicht verlor. Sie<br />

rannte völlig verblüfft und unvorbereitet ins Leere, während Galak<br />

herumwirbelte und versuchte die Gunst des Augenblicks zu nutzen, um<br />

den Kampf zu beenden, in dem er seinen Stab im großen Bogen<br />

hinabsausen lies. Shan blieb der Bruchteil einer Sekunde, um darauf zu<br />

reagieren und es gelang ihr, sich zur Seite zu drehen, und mit ihrem<br />

eigenen Stab einen Teil der Wucht des Schlages abzuleiten. Dennoch<br />

kam sie arg ins Schleudern und konnte sich nur mit einem weiten Hieb<br />

etwas Luft verschaffen.<br />

Wieder umkreisten sie sich.<br />

Die Kadetten johlten und brüllten – doch keiner der beiden<br />

Kontrahenten schenkte ihnen Aufmerksamkeit. Sie waren zu sehr<br />

aufeinander konzentriert, schnaufend und verschwitzt. Shans Herz<br />

hämmerte und sie realisierte, dass es ihr gefiel. Sie wollte mehr. Mehr<br />

Kampf, mehr Herausforderung. Mehr physische Forderung. Sie fühlte sie<br />

lebendiger, als je zuvor.<br />

Beiden stand der Schweiß ins Gesicht und die Konzentration in den<br />

Augen geschrieben. Galak gab sich alle Mühe, keine Anstrengung zu<br />

zeigen, in Wahrheit jedoch hatte er mehr Probleme, als er sich<br />

einzugestehen wagte. Shan dagegen schnaufte unverblümt. Sie war<br />

völlig außer Atem. Er hingegen schien bemerkenswert ruhig, obwohl<br />

auch auf seiner Haut der Schweiß glänzte. Und wie er glänzte.<br />

Genaugenommen hatte er einen bemerkenswerten Körper. So Muskulös,<br />

so...-<br />

Shan blinzelte erneut. Sie durfte sich nicht noch einmal ablenken<br />

lassen, aber es fiel ihr schwer Galaks Körperbau nicht anzustarren. Sie<br />

hatte es nie bemerkt, aber plötzlich, übten die angespannten und feuchten<br />

Muskeln einen merkwürdigen Reiz auf sie aus. Sie versuchte sich zu<br />

konzentrieren und ihm in die Augen zu sehen. Sie fragte: „Hast du eben<br />

etwa gesagt, ich sei hübsch?“<br />

Galak zuckte die Schultern. Seine Stimme klang fest und<br />

unbeansprucht. Tatsächlich hörte es sich so an, wenn er sprach, als ob er


mit ihr in der Kantine saß. „Wenn du nicht gerade abweisend allem und<br />

jedem gegenüber bist, dann ist deine Erscheinung sehr erregend.“<br />

„Ich bin nicht abweisend. Ich bin genervt.“<br />

„Ja. Ja, das kann ich sehen. Welch Schande. Ein so hübsches Gesicht.<br />

Immer mit diesem >stör mich und ich töte dich< Schriftzug auf der Stirn.<br />

Ein Lächeln würde dir um einiges besser stehen. Damit würdest du die<br />

Leute mehr überraschen, als mit deinen Angriffstaktiken.“<br />

„Du vergisst, es ist mir egal was andere denken.“<br />

„Nein, ist es nicht.“<br />

„Doch, ist es. Man muss nicht immer derjenige sein, der sie wollen,<br />

der du bist, verstehst du? Ein eigener Geist stünde dir auch gut. Dann<br />

würdest du deinen Gegnern keine Gelegenheit bieten, an einem Ego zu<br />

kitzeln.“<br />

„So groß ist mein Ego gar nicht.“<br />

Jetzt lachte Shan. „In diesem Raum ist kaum genug Platz für dich und<br />

dein Ego.“<br />

Galak hob eine Braue. „Glücklicherweise bin ich nicht der einzige, mit<br />

einer massiven Persönlichkeit, nicht wahr?“<br />

„Was willst du damit sagen?“<br />

„Ich will damit sagen, dass deine Augen bemerkenswert hübsch sind.“<br />

Shan stutzte. „Meine... Augen? Was willst du dami-“<br />

Und wieder war sie auf ihn hereingefallen. Galak hatte die Taktik<br />

einfach herumgedreht, in dem er Shans einzige Schwachstelle nutzte.<br />

Die Attacke kam ein weiteres Mal völlig überraschend für Shan. In dem<br />

einen Moment stand Galak noch einigermaßen lässig da und im nächsten<br />

wirbelte er mit unglaublicher Geschwindigkeit auf sie zu. Als sein Stab<br />

über Shans Kopf die Luft bogenförmig, einem Schemen gleich<br />

durchtrennte, riss Shan Instinktiv ihre eigene Waffe hoch, was sie<br />

vermutlich vor größeren Verletzungen bewahrte. Der Stoß warf sie<br />

zurück und sie sank mit einem verblüfften Keuchen auf die Knie wieder,<br />

kam aber sofort wieder hoch. Im nächsten Moment stieß Galak das<br />

andere Ende des Stabes gegen ihre Oberschenkel. Bevor Shan begriff,<br />

was ihm da wiederfuhr, zog Galak den Stab quer zurück und benutzte<br />

ihn als Hebel. Er riss Shans Füße vom Boden und sie stürzte mit dem<br />

Rücken so schwer auf die Matte, dass ein richtiger Knall erfolgte.<br />

Schnell wie der Blitz war Galak auf ihr, sodass sie nicht mehr


hochkam. Er warf seinen Stab beiseite und drückte Shans Hände auf die<br />

Matte, damit sie keine Dummheiten anstellen konnte. Nun war sie<br />

wehrlos. Galak lächelte zufrieden. Zwar versuchte sie noch ein paar<br />

Sekunden, gegen ihn anzukämpfen, aber darüber konnte Galak nur müde<br />

lächeln. Er bekam ihre Hände mühelos heruntergedrückt, ohne sich<br />

großartig anstrengen zu müssen. Schließlich gab sie auf.<br />

„Gibst du jetzt auf?“<br />

Shan schnaufte. Aber schließlich, so bemerkte Galak, schien sie<br />

einzusehen, dass er ihr einfach überlegen war. Sie beendete jede<br />

Gegenwehr, sah ihn aus funkelnden Augen an und hauchte kaum hörbar:<br />

„Ich muss dir etwas gestehen, Galak.“<br />

Er senkte ebenfalls die Stimme und beugte sich ein wenig näher zu ihr<br />

herab. „Was denn?“<br />

Shan warf einen kurzen Seitenblick nach rechts, und dann nach links,<br />

zu den begeisterten Kadetten, die inzwischen schon sehr viel leiser<br />

geworden waren.<br />

Sie konnten problemlos hören, was die beiden zu bereden hatten.<br />

„Noch näher.“, flüsterte Shan daher.<br />

Galak kam näher. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. Er konnte<br />

ihren warmen, guten Atem auf seiner Haut spüren. Ihre Lippen waren<br />

jetzt ganz nah.<br />

„Ja, Shan...?“<br />

In dem Moment verpasste sie ihm eine Kopfnuss. Vermutlich tat sie<br />

sich selbst dabei genauso weh, wie ihm, reagierte aber gefasster, da das<br />

Überraschungsmoment eindeutig auf ihrer Seite lag. Sie stieß völlig<br />

unvermittelt zu, sodass Galak überhaupt nicht wusste, wie ihm geschah,<br />

als hinter seiner Stirn auf einmal ein explosionsartiger Schmerz pochte.<br />

Er wusste nur, dass er dadurch Shans Handgelenke locker lies und diese<br />

Unaufmerksamkeit war alles, was sie benötigte. Noch immer Sterne<br />

sehend, spürte Galak, wie sich die Welt um ihn herum auf einmal drehte<br />

und als die roten, blauen und gelben Lichtflecken vor seinen Augen<br />

langsam verblassten, fand er sich auf dem Rücken liegend wieder. Als<br />

nächstes lichtete sich der Schleier der Benommenheit so weit, dass er<br />

Shans Gesicht erkannte. Sie saß nun rittlings auf ihm und drückte<br />

wiederum seine Arme herab. Sie hatten recht erfolgreich die Position<br />

gewechselt.


„Nun...“, stellte er fast. „Das ist eine Position, die ich weitaus mehr<br />

bevorzuge. Leider kann ich es nicht erlauben, dir den Eindruck eines<br />

Sieges zu gewähren.“<br />

Er hob ruckartig seinen Torso, wodurch Shan für einen kurzen<br />

Moment in die Luft katapultiert wurde, während er sie noch immer<br />

festhielt. Noch in der gleichen Bewegung schaffte es Galak irgendwie,<br />

sich zusammenzurollen, seine Beine anzuwinkeln, und die Füße unter<br />

ihren Bauch zu bekommen. Nun war nichts weiter nötig, als sich ein<br />

Stück nach hinten zu rollen.<br />

Genau das tat er, wodurch er die völlig verblüffte Shan über sich<br />

hinwegschleuderte. Sie landete mit einem lauten Knall hinter ihm mit<br />

dem Rücken auf der Matte. Und diesmal blieb sie liegen. Während Galak<br />

geschickt auf die Beine sprang, lag Shan einfach da, Arme und Beine<br />

weit ausgestreckt, während sich ihr Brustkorb zügig hob und senkte.<br />

Die Kadetten jubelten und Pfiffen. Galak reckte ihr eine Hand<br />

entgegen. Zerknirscht und wiederwillig schlug Shan ein und lies sich auf<br />

die Beine helfen. Ihr Selbstvertrauen hatte einen argen Tritt bekommen.<br />

„Du hast gut gekämpft.“, bemerkte Galak.<br />

Shan rechnete ganz automatisch mit einer blöden Bemerkung, oder<br />

zumindest einer Anspielung. „Für eine Frau, eh?“<br />

Galak überlegte einen Moment. „Nein. Du hast gut gekämpft.“<br />

Er zwinkerte ihr zu und so sehr sie sich dafür auch hasste... musste<br />

Shan einfach lächeln, denn sie hatte erschreckend viel Spaß gehabt. So<br />

brutal es auch ausgesehen haben mochte, war der Kampf schon fast zu<br />

einem Spiel geworden. Einem Spiel das beide wesentlich mehr genossen<br />

hatten, als sie sich einzugestehen bereit waren. Flemming sackte<br />

erleichtert zusammen. Shan und Galak grinsten erfreut. Die Kadetten<br />

jubelten...<br />

... und konnten daher nicht hören, wie Sortak in der letzten Reihe saß<br />

und mit den Zähnen knirschte.<br />

Bibliothek


„Sollte ich mir über euch beide Sorgen machen?“<br />

Shan sah in der von ihrem Lehrtext über postnukleare Biosphären auf.<br />

Es war später Nachmittag. Die untergehende Abendsonne fiel in die<br />

Bibliothek ein und tauchte den Raum in ein orange-rötliches Licht. Shan<br />

und Sortak waren im Moment die einzigen, die sich noch hier aufhielten<br />

und den Stoff für die nächsten Tage durchgingen. Bislang war sie in<br />

ihren Text vertieft gewesen. Nun bemerkte Shan, dass Sortak sie mit<br />

durchdringenden Augen anstarrte.<br />

„Pardon?“, fragte sie. „Wir beide?“<br />

„Ihr beide. Du und Galak.“<br />

Sie starrte ihn an, als sei ihm ein zweites Paar spitze Ohren gewachsen.<br />

„Ich ... und Galak?“ Sie blinzelte einmal. „Was ist mit mir und Galak?“<br />

„Nun... für mich sah das heute nach mehr, als einem simplen Kampf<br />

aus. Ich habe mich nur gewundert...“<br />

Shan konnte es kaum glauben. „Oh mein Gott.“, lachte sie . „Ich<br />

meine... oh mein Gott. Galak? Unser Prinz Ego? Sortak! War ich heute<br />

beim Nahkampftraining wirklich so schlecht?“<br />

„Darum geht es nicht. Du warst sogar sehr gut.“<br />

„Ich weiß.“<br />

„Es ist nur...“ Er kniff die Augen zusammen, als wollte er mehr sagen,<br />

lies es aber bleiben. „Ach, vergiss es. Du hast recht. Du und Galak... es<br />

ist absurd. Einfach absurd.“<br />

„Nun... gut. Also werden wir das nicht mehr diskutieren, ja?“<br />

„Nicht ein Wort.”, versicherte Sortak.<br />

„Ganz sicher?“<br />

„Absolut sicher.“<br />

„Gut.“ Shan schüttelte leicht den Kopf und widmete sich wieder ihrem<br />

Text.<br />

„Du liebst ihn, nicht wahr?“<br />

Als Shan diesmal den Kopf hob, starrte Sortak sogar noch<br />

durchdringender. Sie seufzte. „So viel zu, >wir reden nicht mehr<br />

drüber


leiseste Bisschen Sympathie für ihn empfinde.“ Sie spreizte die Finger<br />

der gehobenen Hand und begann nacheinander aufzuzählen. „Er ist<br />

arrogant, er ist überheblich, er ist unfreundlich, er ist herablassend, er...<br />

er...“<br />

„...ist halbnackt?“<br />

Shan grummelte. „Ja, das ist er auch.“<br />

„Gib es zu, er geht dir nicht mehr aus dem Kopf.“<br />

„Wie kannst du das sagen? Wie kommst du nur immer wieder auf so<br />

einen Schwachsinn?”<br />

Er tippte mit dem Finger an seine Schläfe. „Weil wir Seelenverwandt<br />

sind, schon vergessen? Shan. Du bist das unabhängigste und cleverste<br />

Mädchen, das ich kenne. Für gewöhnlich traue ich deiner<br />

Urteilsfähigkeit ohne auch nur eine Sekunde zu zweifeln. Aber... –wie<br />

drücke ich es am Taktvollsten aus? Ah! Dein Verstand neigt dazu, sich<br />

ins nächste Shuttle zu setzen und ganz weit fortzufliegen, sobald es um<br />

Männer geht. Du hast einen fürchterlichen Geschmack und fällst ohne<br />

Unterlass auf die falschen Typen rein.“<br />

„Von welchen Typen redest du?“<br />

„Tonna Obner.“<br />

„Tonna Obner?“, wiederholte Shan.<br />

Sortak nickte. „Tonna Obna.“<br />

„Uhm... Sortak... das war in der Grundschule.“<br />

„Du hast für ihn geschwärmt, das wusste jeder.“<br />

„Und was ist so verkehrt daran?“<br />

„Er hatte nicht einmal einen Kopf...“<br />

Shan zog ein verdrossenes Gesicht. „Das... das ist... das... Sortak! Das<br />

war in der Grundschule. Da habe ich auch noch für Toby den Targ<br />

geschwärmt! Was ich“, behauptete sie. „auch nicht mehr tue! Und dies<br />

hier ist nicht die Grundschule, und Galak ist nicht Obna. Inzwischen bin<br />

ich erwachsen, klar?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie kommst du nur<br />

immer auf so etwas?“<br />

„Ich sehe es an deinen Augen.“<br />

„Was seht ihr nur alle in meinen Augen, was ich nicht sehe?“<br />

Nun begann wiederum Sortak an den Fingern abzuzählen. „Du bist<br />

abgelenkt. Du vergisst Sachen. Deine Laune ist Sprunghaft –<br />

sprunghafter als üblich-“


„Meine Laune ist nicht sprunghaft!“, keifte sie. Kaum waren ihr die<br />

Worte entschlüpft, folgte ein tiefes Seufzen. „Bitte verzeih mir, ich<br />

wollte dich nicht anschnauzen.“<br />

„Siehst du? Emotional Sprunghaft. Gib es doch einfach zu, Galak geht<br />

dir nicht mehr aus dem Kopf! Du zeigst die typischen Muster. Er kommt<br />

daher, groß, muskulös...“<br />

„Halbnackt.“, warf sie ein.<br />

„...halbnackt, richtig, und er wagt es, dir die Stirn zu bieten. Dir zu<br />

Widersprechen, und dir ununterbrochen vor den Kopf zu stoßen. Er sagt<br />

dir ohne Schein seine Meinung und das wagt sonst so gut wie niemand,<br />

weil für gewöhnlich alle um ihr Leben bangen, wenn sie dir<br />

widersprechen. Doch er nicht. Er ist anders. Er ist frech. Und diese<br />

Frechheit ist es, die dich automatisch anzieht.“<br />

„Blödsinn! Tala, Durkin und du - ihr seid mindestens genauso frech.<br />

Drum bin ich trotzdem noch lange nicht, an einer denobulanischen<br />

Quadrobeziehung interessiert.“<br />

„Du kannst es noch so sehr abstreiten, ich weiß, dass mehr dahinter<br />

steckt. Das bereitet mir Sorgen, und ich sehe es als meine Aufgabe dich<br />

davor zu bewahren, einen Fehler zu begehen. Galak ist ein Idiot! Und ich<br />

kann nicht begreifen, wie du-“<br />

„Okay, das reicht.” Shans Stuhl quietschte, als sie sich erhob. „Ich<br />

muss zum Xenokurs. Bin ohnehin schon zu spät.“ Bevor sie ging, lehnte<br />

sie sich über den Tisch zu Sortak herüber. „Hör zu: Da ist nichts!<br />

Ehrlich. Du musst dir das einbilden. Ich bin ganz sicher nicht eine von<br />

den Mädchen, die ihren Verstand über Bord werfen, nur weil ein<br />

muskulöser Prinz um die Ecke kommt und einmal kurz mit seinen<br />

Hüften wackelt. Ich versichere dir, ich bin nicht weniger emotional<br />

Sprunghaft als üblich und auch ganz sicher nicht unkonzentriert,<br />

verstanden? Ich und Galak... pfff... der Gedanke ist absolut Ticketyboo.“<br />

Sie drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand erhobenen<br />

Hauptes um die Ecke.<br />

Sortak streckte den Arm aus, griff Shans Datenblock vom Tisch und<br />

hielt ihn in die Höhe, ohne ein Wort zu verlieren. Ein paar Sekunden<br />

später kam Shan um die Ecke zurückgestapft. Ihr Mund war geöffnet,<br />

bereit etwas zu sagen, aber als sie sah, dass Sortak einfach dasaß, mit


gehobener Braue, als würde er sagen wollen „naaaaa?“, und ihren<br />

Datenblock in die Luft hielt, war ein gurgelnder Laut alles, was ihre<br />

Kehle verließ. Sie wog ihren Kopf anerkennend zur Seite, nahm den<br />

Datenblock an sich und eilte anschließend wieder nach draußen. Sortak<br />

wartete, bis sie die Bibliothek verlassen hatte und schüttelte dann<br />

schnaubend den Kopf.<br />

Und er wusste genau, dass der Gedanke eben nicht Tickety-boo war.<br />

Akademie-Feier<br />

Hätte Shan geahnt, dass sich die Akademiefeier zum katastrophalsten<br />

Desaster in der Geschichte der Sternenflottenakademie entwickeln<br />

würde, wäre sie nicht hingegangen.<br />

Inzwischen waren vier Wochen seit ihrer Ankunft auf dem Campus<br />

vergangen. Die Kadetten hatten genug Zeit gehabt, sich mit der<br />

Umgebung, den Lehrstunden und den Regeln vertraut zu machen, und<br />

sich ein wenig an das Leben auf der Akademie zu gewöhnen. Von<br />

einkehrender Routine konnte zwar keine Rede sein, da sich die<br />

Sternenflotte ständig neue Dinge ausdachte, um die Studenten auf Trab<br />

zu halten, aber nachdem nun die meisten organisatorischen Dinge<br />

abgeschlossen waren und sich auch die Einführungsstunden und<br />

Rundgänge dem Ende neigten, kehrte zumindest ein gewisser Grad an<br />

Normalität in den Akademiealltag ein.<br />

Die Kadetten des ersten Jahres lauschten für gewöhnlich mit großen<br />

Rehkidsaugen und äußerst gebannt ihren Lehrern, während die zweiten<br />

Jahr von allen die größte Klappe besaßen. Die im dritten Jahr waren –<br />

Kadett Finnegan einmal ausgenommnen – schon um einiges reifer, fast<br />

erwachsen, und die im vierten, schienen sich mehr auf ihre ersten<br />

richtigen Sternenflottenkarrieren zu konzentrieren und sonst auf nichts.<br />

An diesem Abend jedoch, waren sie alle Kreuz und Quer in der<br />

ausladenden Haupthalle versammelt, lachend und trinkend, wo sonst nur<br />

Formale Feiern abgehalten wurden. Präsentationen, Verleihungen,<br />

Zeremonien und diese Dinge. Heute jedoch wurde die erfolgreiche


Bewältigung der ersten vier Wochen des Frischlingsommers gefeiert.<br />

Als Shan sich durch das Gedränge kämpfte, hielt sie nach vertrauten<br />

Gesichtern Ausschau. Sie war spät eingetroffen und hatte sich<br />

vorgenommen, nicht allzu lange zu bleiben. Außerdem hatte sie sich auf<br />

dem Weg hierher vorgenommen, sich nicht von der Tradition des Festes<br />

beeindrucken zu lassen. Sie hatte immer wieder vor sich hergesagt, dass<br />

nichts besonderes dabei war, nur eine dumme Sternenflottenfeier, mit<br />

lauter Sternenflottenspielzeugsoldaten. Sie hatte es sich sooft gesagt, bis<br />

die Worte dafür gesorgt hatten, dass sie gar nicht beeindruckt werden<br />

konnte. Dementsprechend konnte sie es auch riskieren, an der Feier<br />

teilzunehmen – wenn auch nur kurz.<br />

Und Auftauchen musste sie, auch wenn sie anfangs gar nicht hingehen<br />

wollte. Alleine ihrem Vater zu Liebe, denn ihre Familie war schließlich<br />

auch sehr traditionsreich und auch, wenn Shan dies absolut egal war, so<br />

konnte sie ihm ihre Abwesenheit nicht antun. Ihr einziger Trost lag<br />

darin, dass ihre Studiengruppe auch hier irgendwo sein musste und dass<br />

sie den Abend mit einem von ihnen verbringen konnte. Doch dazu<br />

musste sie sie erst einmal finden. Einen Moment lang dachte sie schon,<br />

Cera entdeckt zu haben, aber wie sich herausstellte, handelte es sich<br />

doch nur um einen Hurrrl, der von hinten immerhin gewisse<br />

Ähnlichkeiten mit der Pakled aufwies.<br />

Shan murrte. Wo war Cera nur? Sie hatte die Pakled in letzter Zeit<br />

kaum gesehen, und wenn doch, dann war sie noch immer nur über ein<br />

Computerterminal gebeugt und las. Sie las hier, sie las dort, sie las<br />

überall. Sie las stumm, bewegte aber ihre Lippen. Das war scheinbar<br />

alles, was sie tat. Shan ging davon aus, dass sie einfach eine Menge<br />

lernen musste, um im Unterricht mitzuhalten. Tala und Durkin<br />

verpassten sich weiterhin böse Spitzen, während Wotan und Grau sich<br />

normal verhielten. So normal, sich ein geschwätziger Tiger und ein<br />

hyperaktiver Briori eben verhalten konnten. Mit Sortak hatte Shan in den<br />

vergangenen drei Tagen nicht viel gesprochen. Jedes mal, wenn sie ihn<br />

ansah, starrte er sie mit diesen durchdringenden, tadelnden Augen an,<br />

und Shan hatte diesem Blick irgendwann nicht mehr standgehalten,<br />

sodass sie beschlossen hatte, ihm ein paar Tage aus dem Weg zu gehen,<br />

bis ihn die Erkenntnis überfiel, dass er sich bezüglich sie und Galak<br />

geirrt hatte.


Galak.<br />

Pfff.<br />

Lächerlich!<br />

Andererseits...<br />

....es mochte Einbildung sein, aber es kam Shan so vor, als ob sie ihm<br />

fast dreimal sooft über den Weg laufen würde, wie den anderen<br />

Kadetten. Selbst häufiger, als sie Sortak über dem Weg lief. Und den<br />

kannte sie immerhin seit frühester Kindheit. Vielleicht lag es aber auch<br />

nur daran, dass Sortak sie derart verwirrt und gekränkt hatte, dass sie<br />

Galak plötzlich jedes Mal bewusst registrierte, was bei den anderen nicht<br />

der Fall war. Es war im Grunde das gleiche Phänomen das auftrat, wenn<br />

man von jetzt auf Gleich einer Randgruppe angehörte. Als Hundebesitzer<br />

sah man überall Hunde, wo man früher keine wahrgenommen hatte, als<br />

Schwangere rollten einem ständig andere Menschen über den Weg, die<br />

ein Kind erwarteten. Die Psyche spielte einem Streiche. Vielleicht, so<br />

dachte sie, – und diesen Gedankengang vollführte sie nur wiederwillig –<br />

fiel Galak ihr aber auch nur deshalb besonders auf, weil sie jedes Mal,<br />

wenn sie zusammen waren, auf eine Reaktion von ihm hoffte. Dass er<br />

irgendetwas besonderes zu ihr sagte, oder eine Bewegung machte. Ein<br />

flüchtiges Lächeln, oder Zwinkern.<br />

Stattdessen behandelte er sie wie sonst auch. Wie alle anderen. Er trug<br />

seine Nase zum Himmel, akzeptierte ihre Präsenz, und machte dann mit<br />

seiner Arbeit weiter. Das war alles. Es ärgerte Shan, dass er nichts zu ihr<br />

sagte. Und es ärgerte sie, dass es sie ärgerte, dass er nichts sagte.<br />

Eigentlich sollte es ihr völlig egal sein. Mochte er doch zum Teufel<br />

gehen, der Herr Prinz. Shan würde das ganz sicher nicht kümmern.<br />

Schließlich hatte sie, seit ihrem Wechsel in die Sicherheitsabteilung,<br />

ohnehin genug zu tun. Genug, um nicht an Galak zu denken.<br />

Zumindest versuchte sie sich das einzureden, als plötzlich das Gesicht<br />

ihres Vaters vor ihr auftauchte. Shan war derart in Gedanken versunken,<br />

dass sie ihn gar nicht bemerkt hatte. Shan erschrak. Sie verlor das<br />

Gleichgewicht, stürzte gegen ihren Vater...<br />

... und durch ihn hindurch. Es handelte sich lediglich um ein<br />

Hologramm, eine Projektion aus Licht und Photonen und daher war dort<br />

rein gar nichts, was ihr auch nur ansatzweise einen Halt hätte geben<br />

können. Shan geriet ins Straucheln, schaffte es aber irgendwie, sich auf


dne Beinen zu halten und der Schmach eines Sturzes zu entgehen. Sie<br />

atmete tief durch und ignorierte das sporadische Lachen der wenigen<br />

Kadetten, die sie beobachtet hatten.<br />

Das Hologramm ihres Vaters flackerte einen Moment und<br />

verschwand. Ein paar Minuten später, tauchte es wieder für ein paar<br />

Sekunden auf, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden. Shan sah<br />

sich nun aufmerksamer in der Halle um und entdeckte diese<br />

Hologramme überall verteilt, jedes stellte eine andere<br />

Sternenflottenlegende dar und alle aktivierten sich von Zeit zu Zeit für<br />

einige Sekunden. Sie identifizierte solch Berühmtheiten wie Christopher<br />

Pike, Jean Luc Picard, Sadie Hawkins (nach der sogar ein Tanz benannt<br />

war) und Alister Connelly. Alles Helden der letzten paar Jahrhunderte.<br />

Männer und Frauen, die ihr Leben gaben, oder zumindest riskierten –<br />

nicht nur, um die Galakie zu erforschen, sondern auch, um sie ein gutes<br />

Stück sicherer zu machen. Zumindest, wenn man den Geschichtsbüchern<br />

glauben konnte – und die Begeisterung teilte, die dort zu entfachen<br />

versucht wurde. Und ausgerechnet ihr Vater war einer dieser Legenden.<br />

Ausgerechnet er.<br />

Shan seufzte und verpasste dem deutlich sichtbaren Holoprojektor im<br />

Boden einen halbherzigen Tritt, woraufhin das Holobild ihres Vaters ein<br />

für alle Mal erlosch.<br />

„Uh.“<br />

Sie zog eine Grimasse, überprüfte, ob sie jemand beobachtet hatte und<br />

entfernte sich dann schnell, aber unauffällig von dem defekten Projektor.<br />

Die Halle füllte sich von Minute zu Minute mit noch mehr Studenten und<br />

Lehrern. Ein paar von ihnen kannte sie vom ersten Tag auf der<br />

Landeplattform wieder, als sie nervös, ängstlich und eingeschüchtert<br />

ganz frisch auf dem Akademiegelände eingetroffen waren. Jetzt war von<br />

dieser anfänglichen Scheu nichts mehr zu merken. Nach nur vier<br />

Wochen, hatte sie ihre Ängste abgelegt und eine neue, erstaunliche<br />

Selbstsicherheit erlangt. Es liegt an der Uniform, dachte Shan. An dem<br />

Gemeinschaftsgefühl. Sie machte aus normalen Menschen Herdentrottel.<br />

In der Gruppe fühlten sich alle wohl und groß und stark. Sie empfanden<br />

sich als etwas besonderes. Die meisten waren wohl vernünftig genug, mit<br />

diesem Gefühl normal umzugehen, aber bei Idioten wie Finnegan weckte<br />

die Uniform das schlimmste. Passend dazu, erinnerte sich Shan an ein


Zitat des Humoristen Mark Twain. „Kleider machen Leute; Nackte<br />

Menschen haben wenig, oder gar keinen Einfluss auf die Gesellschaft.“<br />

Eine alte Weisheit. Alt, aber zutreffend, vor allem hier in der Flotte.<br />

Hier in der Flotte.<br />

Wie furchtbar sich das anhörte. Hier. In der Flotte. Von der sie selbst<br />

nun auch ein Teil war. Furchtbar! Aus einer Familie mit einer Geschichte<br />

zu kommen, war eine Sache. Teil dieser Geschichte zu werden,<br />

gemeinsam mit galaxieweiten Legenden, aber eine ganz andere. Sie hatte<br />

sich ihr ganzes junges Leben lang dagegen gesträubt und dann war es<br />

ihrem Vater doch noch gelungen, sie auf der Akademie unterzubringen.<br />

Umgeben von holographischen Helden und Kadetten, denen bedenklich<br />

viel Selbstvertrauen eingeflößt wurde. Das war aber noch nicht das<br />

Schlimmste! Das Schlimmste war, dass die Akademie im Grunde gar<br />

nicht so übel war. Jedenfalls nicht so schlimm, wie sie sich immer<br />

vorgestellt hatte. Oder eingeredet, so wie sie es auch mit dieser Party<br />

getan hatte. Denn letztendlich war es doch eine recht nette Party.<br />

So sehr sie sich auch dagegen sträubte und sich zu wehren versuchte –<br />

langsam gewöhnte sie sich an das Campusleben. Sie hätte es niemals im<br />

Leben laut ausgesprochen, - nicht einmal unter dem Einsatz<br />

schrecklicher Folter -, aber sie mochte einen Großteil der Lehrer und der<br />

Stoff, den man hier den Kadetten vermittelte, war ganz sicher nützlich.<br />

Zumindest war er interessant. Es war den Leuten nützlich gewesen, die<br />

hier Karriere gemacht und Geschichte geschrieben hatten. Und sie fragte<br />

sich: in dreißig, vierzig, oder fünfzig Jahren, würde dann vielleicht ein<br />

holographisches Bild von ihr, Shan Bartez, die Kadetten erschrecken und<br />

zum Stolpern bringen? Der Gedanke weckte zwielichtige Gefühle in ihr.<br />

Einerseits fand sie ihn amüsant, andererseits aber auch wieder<br />

erschreckend. Sie fürchtete, einer Art Gehirnwäsche zu unterliegen, die<br />

von ihrem Vater in Auftrag gegeben und bislang von ihren Lehrern<br />

ausgeführt worden war.<br />

Shan schüttelte sich, als hätte sie etwas besonders widerliches berührt.<br />

Letztendlich wusste sie nur eines: Sie würde einfach ihren Weg gehen -<br />

wo immer der auch hinführen mochte. Aber… konnte kaum verkehrt<br />

sein, hier auf der Akademie erst mal ein paar grundlegende Dinge zu<br />

lernen. Bestmögliche Vorbereitung war entscheidend. Wenn sie eines in<br />

der Eishölle von Frigoria gelernt hatte - dann das. Irgendwann würde


sich dann schon zeigen, ob ihre Zukunft in dieser Spielzeugorganisation<br />

lag. Ob man sich an sie Erinnern, oder sie einfach vergessen würde. Oder<br />

schlimmeres. Aber eines wusste sie genau: Sie würde nie wieder<br />

irgendwo auf einem fernen Planeten stranden...!<br />

„Na sieh mal einer an, wen wir hier haben, Tala. Bist du also doch<br />

noch aufgekreuzt, Liebes. Sehr schön.”<br />

Es war Wotan, der auf einmal neben ihr auftauchte. Er sah zu ihr auf,<br />

und streckte Shan dann das linke Ohr hin, damit sie ihn kraulte. Tala<br />

befand sich ebenfalls in seiner Begleitung. Von Galak fehlte jede Spur.<br />

Im Grunde war Shan sogar froh darüber. Es ärgerte sie nur schon wieder,<br />

dass sie sich überhaupt gefragte hatte, wo er denn jetzt wieder steckte...<br />

Tala zupfte an Shans Abendgarderobe – eine Ausgehuniform, die fast<br />

alle Kadetten trugen. „Hast dich schick gemacht, Faustschlag. Sieht toll<br />

aus.“<br />

„Danke... Frosty.“, erwiderte Shan mit einem Murren. „Ich bin in<br />

Abendgarderobe, Ich habe Gel in den Haaren, ich habe kaum geschlafen<br />

und ich bin in der Stimmung zu töten.“<br />

Tala zuckte fröhlich mit den Schultern. „Kurz gesagt, du bist in<br />

Partystimmung. Dann probier das hier mal. Das wird dich erst recht zum<br />

Glühen bringen.“<br />

Tala hielten zwei Drinks in der einen und ein kleines Käsehäppchen in<br />

der anderen Hand. Sie warf sich den Happen gekonnt in den Mund, um<br />

die Hand frei zu haben und reichte Shan damit eines der beiden Gläser.<br />

In dem Moment, wo Shan das Getränk hielt, veränderte sich<br />

augenblicklich die Farbe der Flüssigkeit von einem dunkelblauen, zu<br />

einem hellroten Ton.<br />

„Erstaunlich.“<br />

„Eine Kaskadenreaktion.“, erklärte Tala. „Man muss das Glas<br />

berühren, um eine Veränderung der Farbe zu bewirken.“ Sie zwinkerte.<br />

„Wie bei Männern.“<br />

„Was bedeutet rot?“<br />

„Genervt.“<br />

„Stimmt. Deins war grün. Was bedeutet das?"<br />

„Sexuell erregt.“<br />

„Aha? Kann ich fragen, wer diesmal der oder die Glückliche ist?“<br />

Tala grinste. „Fragen kannst du.“


Darüber hinaus machte sie keine Anstalten, ihr eine Antwort zu geben.<br />

Das konnte Shan akzeptieren. Sie roch vorsichtig an dem Gesöff. Bei<br />

dem Geruch, der sich ihr darbot, rollte sich ihre Nase beinahe nach<br />

innen. Süß. Enorm süß! „Eww. Das riecht ja scheußlich!“<br />

„Ist harmlos.“, versicherte Tala. „Probier ruhig.“<br />

„Alkohol?“<br />

„Syntheol. Alkohol ist auf solchen Partys verboten.“<br />

Shan seufzte. „Zu schade.“ Sie wappnete sich und schütte das Gesöff<br />

in einem Zug ihre Kehle hinunter. Einen Moment geschah gar nichts.<br />

Dann, ungefähr nach einer Sekunde oder so, passierte immer noch<br />

nichts. Dann jedoch hatte Shan plötzlich das Gefühl, als würde ihr<br />

jemand mit einem Barren in Gold gepresstes Latinum, das Hirn aus dem<br />

Kopf dreschen. Das Getränk bestand aus purem Zucker! Es war so süß,<br />

dass es ihr die Zehen aufrollte. Shan taumelte überrascht und bekam<br />

einen heftigen Hustenanfall. Tala lachte gut gelaunt und klopfte ihr ein<br />

paar Mal auf den Rücken, bis es vorbei war.<br />

Shan rang nach Atem. „Großer Vogel...!“<br />

„Ja, der andorianische Gredlahr ist bekannt dafür, einem die Socken<br />

auszuziehen.“<br />

„Bwah. Wo hast du dieses Zeug bloß her?“<br />

„Von der Bar dort drüben.“, entgegnete Tala und deutete auf einen<br />

Bereich nahe eines Ausgangs. Shan folgte ihrem Blick. An der Bar hielt<br />

sich kaum jemand auf, was nicht verwunderlich war, wenn sie nur solche<br />

Getränke servierten. Eigentlich saß dort nur ein einziger Kadett, ein<br />

Kasvagorianer, zusammengesunken und hielt sich an seinem Glas fest.<br />

Er wirkte ziemlich bedrückt und schien die Party hinter ihm auch gar<br />

nicht zu bemerken.<br />

„Was ist denn mit dem?“<br />

„Ach, Kasvagorianer rühmen sich für die Fähigkeit, Humanoide<br />

Spezies, die sich rein äußerlich nicht unterscheiden, durch pures<br />

Ansehen zu identifizieren. Du weißt schon. Menschen von Beta-Zoiden,<br />

Beta-Zoiden von El-Aurianern... Blah, Blah, Yada Yada. Das übliche<br />

Gewäsch eben.“<br />

„Ist doch nützlich, so eine Fähigkeit.“<br />

„Ja, wenn man sie denn auch wirklich besitzt. Konnte nur noch<br />

niemand beweisen. Normalerweise sind Kasvagorianer nicht sehr


gesprächig. Eher... prügeln sie sich. Aber was will jemand auch von<br />

einem erwarten, der Zehn Jahre in einem andorianischen<br />

Sklavenlaborcamp war?“<br />

„Ist nicht wahr?“<br />

Tala zuckte mit den Schultern. „Ist zumindest das, was mir zu Ohren<br />

kam.“<br />

Shan machte große Augen. Sie bekam mit, wie der Kasvagorianer mit<br />

dem Barkeeper stritt: „Eine Horta von einem Excalbianer zu<br />

unterscheiden ist leicht. Aber einen Excalbianer von einem Athariten –<br />

das benötigt das kasvagorianische Auge!“<br />

„Quatsch.“, entgegnete der Barkeeper. „Die kann man nicht durchs<br />

Ansehen unterscheiden. Dafür braucht man einen Tricorder.“<br />

„Kann’s machen!“<br />

„Kannst du nicht!“<br />

„Kann’s machen!“<br />

„Kannst du nicht!“<br />

Und so ging das Gespräch weiter. Shan verlor das Interesse und lies<br />

den Blick weiter schweifen. Schließlich erweckte das üppige Buffet<br />

gegenüber der Bar ihre Aufmerksamkeit. Man hatte eine ansehnliche<br />

Auswahl an Nahrungsmitteln und Getränken aus der gesamten<br />

Föderation für die Party aufgetischt und Durkin hatte es sich offenbar zur<br />

Aufgabe gemacht, von allem etwas zu naschen. Selbstverständlich<br />

entsprach keines der dargebotenen Gerichte seinem tellaritischen<br />

Geschmack, und er zögerte auch nicht, dies lautstark jedem mitzuteilen,<br />

der sich in seiner Nähe befand, auch wenn die fragliche Person das gar<br />

nicht wissen wollte.<br />

Tala begann neben Shan ein wenig zum Takt der Musik zu tanzen, was<br />

Shan verwunderte. „Wie kannst du dazu tanzen?“<br />

„Wie kannst du dazu stillstehen? Kein Fan von Warpdrive?“<br />

Shan verzog das Gesicht. „Doch, früher mal. Ein ziemlich großer<br />

sogar. Die hatten tolle Lieder, Judith D’Agostas Stimme ist fantastisch.<br />

Aber seit die vierarmige Bassspielerin auch noch mitsingt, haben ihre<br />

Songs deutlich an Pepp verloren, wie du gerade hören kannst.“<br />

„Sooo schlecht finde ich sie gar nicht.“<br />

„Ich bitte dich! Ihr Gesang hört sich so an, als würde man ein<br />

sterbendes Schwein mit voller Wucht und immer und immer wieder


gegen eine Tonne schlagen.“<br />

„Das...“, musste Tala einräumen. „Könnte hinhauen, ja.“<br />

„Da steckt keine kreative Energie mehr dahinter. Zumindest wurden<br />

die Liedtitel und Texte von Song zu Song bescheuerter. Ich meine<br />

>Cycle RaceBlond ValkyrieShenandoah under<br />

Water


viel besseres!“ Er nahm eine leere Obstschüssel vom Tisch, stellte sie auf<br />

den Boden ab, und goss den Inhalt seiner Flasche hinein. „Trink!“,<br />

forderte er Wotan fröhlich auf. „Na los, Freund. Trink!“<br />

Der Tiger schnüffelte zunächst nur. Dann sah er zu Shan, zu Tala, zu<br />

Durkin und dann wieder zur Schüssel. Er streckte vorsichtig die Zunge<br />

aus, bis er die Flüssigkeit mit berührte... und blinzelte. „Hm.“, machte er<br />

und begann gierig zu trinken. „Hm. Schmeckt... schmeckt gut.“, sagte er<br />

zwischen zwei Zügen. „Richtig gut. Hmmmm. Was ist das?“<br />

„Vattras.“, verkündete Durkin feierlich. „Wird gewonnen aus dem<br />

Speichel der tellaritischen Nacktschnecke.“<br />

Wotan spuckte alles aus. Er schüttelte sich am ganzen Körper, wobei<br />

sich sein Fell sträubte. Seine Zunge hing aus dem Mund, als sei es ihm<br />

zu widerlich, sie einzurollen.<br />

„Hah!“, machte Durkin. „Ich wusste doch, dass er für die Härten des<br />

Lebens zu schwächlich ist. Es ist eine Schande, dass ihr nicht alle wie<br />

wir Tellariten gebaut seid. Wisst ihr, was ihr dann wärt?“<br />

„Nervensägen?“, fragte Tala.<br />

„Stärker!“<br />

„Oje. Dann würde man auch länger leben, was?“<br />

Durkin richtete seinen Blick auf Tala. „Wir Tellariten gehören zu den<br />

robustesten Rassen der Galaxie! Weißt du, was es braucht, uns<br />

umzubringen?“<br />

„Einen Blick in den Spiegel?“<br />

„Nein.“, sagte Durkin gefährlich. „Mehr Mumm, als du aufweisen<br />

kannst.“<br />

„Ich kann mehr aufweisen.“<br />

Durkin plusterte sich herausfordernd auf. „Achjaaaaa?“<br />

Wotan sah, noch immer mit herabhängender Zunge, zu Shan auf, doch<br />

die nahm die Streiterei der beiden überhaupt nicht wahr. Ihr Blick war<br />

auf das andere Ende des Saals gerichtet, wo sie in der Menge Cera<br />

entdeckt hatte. Die Pakled stand einfach da, mit hängenden Schultern<br />

und niedergeschlagener Mine, abseits der anderen. Sie zupfte an ihrer<br />

Ausgehuniform und machte durch und durch einen deplazierten und<br />

verlassenen Eindruck. Was der Wahrheit entsprach. Niemand kam zu ihr<br />

herüber, um mit ihr zu reden, und sie schien sich auch nicht zu trauen,<br />

auf jemanden zuzugehen und in ein Gespräch zu verwickeln. Sie stand


noch einen Moment da und verließ dann die Halle durch ein Tür nach<br />

draußen.<br />

Wotan, der von alledem nichts mitbekam, setzte sich nun hin und<br />

schüttelte den Kopf. „Ist euch beiden eigentlich bewusst“, fragte er an<br />

Tala und Durkin gerichtet. Beide waren sich so nahe, dass sich ihre<br />

Nasenspitzen fast berührten. „dass man mit der Energie, die ihr für eure<br />

Sticheleien aufwendet, ein Schiff fast bis nach Nydaris bringen könnte?“<br />

Durkin stierte ihn an. „Fast?“<br />

Wotan richtete seinen Blick auf Tala. „Er hat wohl keine Antenne für<br />

Sarkasmus, was?“<br />

„Er hat für nichts ne Antenne.“<br />

Durkin plusterte sich auf. „Waaas? Ich habe eine riiiiesige Ant-“<br />

„Hey, ihr beiden.“, fuhr Shan schnell dazwischen. „Ahm... wenn ihr<br />

herausfinden wollt, wer von euch am meisten Alkohol verträgt... da<br />

hinten ist eine Bar. Warum testet ihr es nicht aus?“<br />

Durkin schlug mit der Faust auf den Tisch. Teller und Gläser<br />

klapperten. „Eine hervorragende Idee! Auf zur Bar!“ Er drehte sich auf<br />

dem Huf herum und stolzierte los.<br />

„Na der wird sein blaues Wunder erleben.“, murmelte Tala und folgte<br />

ihm. Wotan tauschte mit Shan einen Blick. „Ich gehe besser mal mit den<br />

beiden mit.“, sagte er. „Ehe sie sich noch etwas antun. Was ist mit dir?<br />

Kommst du auch?<br />

„Ahm... nein. Geht ruhig schon einmal vor, ich komme nach. Aber<br />

vorher schaue ich lieber mal nach Cera.“<br />

Sie fand die Pakled draußen in der überraschend kühlen und ruhigen<br />

Nachtluft, auf einer Bank inmitten der Gärten sitzend, nur wenige Meter<br />

von dem Saal entfernt. Es war nur ein kleiner Teil der weitläufigen<br />

Grünanlage, aber nicht minder paradiesisch wie die anderen Gärten, die,<br />

wie Shan gehört hatte, von einem Mann namens Boothby gepflegt<br />

wurden. Und das machte er verdammt gut!<br />

Der Legende nach, hatte es Boothby und seinen Garten schon lange<br />

vor dem Akademiekomplex gegeben und sie hatten später die einzelnen<br />

Gebäude einfach um beide – also Boothby und seinen Garten - herum


errichtet. In dieser Nacht gab es nicht die geringste Spur auf diesen<br />

ominösen Boothby. Überhaupt hatte Shan ihn noch nie gesehen.<br />

Vielleicht war er auch nur ein Mythos. Die einzige Person weit und breit<br />

war Cera. Sie saß zusammengesunken auf der Bank und starrte traurig<br />

auf ihre Stiefelspitzen.<br />

„Hey, Cera.“<br />

Als sie bemerkte, dass sich Shan näherte, winkte sie zaghaft und<br />

erwiderte sanft: „Hal... Hallo, Shan.“<br />

„Was machst du hier draußen so alleine?“<br />

Sie hob und senkte langsam die massiven Schultern. „Nur ... Nur<br />

sitzen. Nur sitzen.”<br />

„In letzter Zeit hast du dich ziemlich rar gemacht. Ich war schon<br />

besorgt.“<br />

Nun sah Cera sie mit einem Ausdruck aufrichtigen Erstaunens an.<br />

„Ehrlich? Du warst... du warst besorgt?“<br />

„Natürlich.“, sagte Shan. Sie nahm ebenfalls auf der Parkbank platz.<br />

„Weißt du da drin wartet eine Party auf dich.“<br />

Nun sackte Ceras Gestalt ein wenig ein. „Ich mag... ich mag keine<br />

Partys.“<br />

„So? Und warum nicht?“<br />

Wieder das Schulterzucken.<br />

Shan winkte ab. „Ach, mach dir nichts draus.“, sagte sie. „Ich kann mit<br />

dir mitfühlen. Kein vernünftiger Mensch, der noch ein bisschen Grips<br />

hat, geht gerne auf diese antiquierten Balzrituale.“<br />

„Ich würde... ich würde schon gerne dort hin gehen, aber keiner mag<br />

mich begleiten tun.“ Es klang fast herzerreißend.<br />

„Ach, was redest du da?“, erwiderte Shan. „Hast du wirklich Interesse<br />

daran, dich aufzutakeln, nur damit ein arroganter Idiot dich abfüllen und<br />

ausnutzen kann, während du nicht nur seinen anödenden Anekdoten,<br />

sondern auch noch einer Band lauschen musst, die im Bestfall<br />

langweilt?“<br />

Erneut zog Cera die Schultern hoch. „Weiß ... nicht.“<br />

„Cera. Die wahre Liebe findest du bestimmt nicht auf einer Feier. Die<br />

wartet irgendwo da draußen. Im normalen Leben.“<br />

„Nicht auf ... nicht auf mich.“<br />

Shan starrte sie einen Moment an und schüttelte dann seufzend den


Kopf. „Du bist wirklich der klassische‚ >das Glas ist halbleer’-Typ


Cera nickte schwerfällig.<br />

Nun, eigentlich war das gar nicht so ungewöhnlich, dachte Shan.<br />

Viele antike Kulturen hatten genauso begonnen, unter anderem die<br />

Ägypter. Aber dass es so etwas in ihrem fortgeschrittenen Jahrhundert<br />

noch gab, war ihr nie in den Sinn gekommen.<br />

„Ich habe... ich habe mir die Lerntexte besorgt, ja. Ja. Und ich mache<br />

Fortschritte. Aber es gibt noch viel zu lernen. Viel zu lernen.“<br />

„Kann ich mir gut vorstellen.“, sagte Shan verwundert. „Ich... das...<br />

das ist wirklich beeindruckend, Cera. Du bringst dir das alles selber<br />

bei?“<br />

Die Pakled nickte.<br />

„Es muss dir sehr wichtig sein, hier auf der Akademie zu studieren.“<br />

„Meinen... meinen Eltern ist es wichtig sein.“, erklärte Cera. „Weißt<br />

du... weißt du... mein Volk ist sehr arm. Sehr rückständig. Und nicht sehr<br />

klug. Es gibt nicht viele... nicht viele Perspektiven. Viele von uns werden<br />

böse Menschen. Böse Menschen. Weil sie stehlen wollen. Technologie<br />

und... und andere Dinge, die für unser Volk... für unser Volk wichtig<br />

sind tun. Aber sie werden auch böse ihrem eigenem Volk gegenüber,<br />

immer... immer wenn sie Waffen finden. Ständig gibt es irgendwo auf<br />

meinem Planeten kämpfe, irgendwo Krieg. Sie kämpfen um die Macht<br />

auf Pakled. Meine Eltern wussten, dass es nicht besser würde sein. Nur<br />

schlimmer würde sein. Sie lebten bereits in Knechtschaft auf. Mir<br />

wollten sie eine bessere Zukunft ermöglichen. Besser als kämpfe und<br />

Krieg. Daher... daher sparten sie, um mich auf die Akademie zu<br />

bringen.“ Sie lies die Schultern hängen. „Aber ich... aber ich tu viele der<br />

Dinge hier nicht verstehen tun. Alles ist schwer. Wenn ich versage, dann<br />

ist alles, wofür meine Eltern gekämpft haben tun, umsonst sein.“<br />

„Ach Cera. Warum hast du denn nichts gesagt?“<br />

„Ich wollte... ich wollte niemandem zur Last fallen tun.“<br />

„Ich bitte dich! Du fällst niemandem zur Last. Und ich beweise dir das<br />

auch. Komm, wir lernen jetzt.“<br />

Ceras Augen weiteten sich. „Du... du willst mir helfen tun? Ehrlich?“<br />

„Natürlich.“<br />

„Aber was... aber was ist mit der Party sein?“<br />

Shan winkte ab. „Freunde sind wichtiger als hirnlos auf der Tanzfläche<br />

zu stehen. Na los. Zeig mal her.“


Die beiden Mädchen steckten ihre Nasen in die Datenblöcke und<br />

bemerkten daher nicht, wie sie aus dem Schatten heraus beobachtet<br />

wurden.<br />

Man konnte eigentlich nicht sagen, dass Durkin auf einem Barhocker<br />

saß – er hatte sich mehr oder weniger über ihm ergossen. Er lehnte ein<br />

paar Plätze neben dem zusammengesunkenen Kasvagorianer an der<br />

Theke und hielt die Flasche noch in der Hand.<br />

Wotan zog sie aus seinen kraftlosen Pranken und musterte sie<br />

überrascht. „Er hat nur...“ Er schätzte den restlichen Inhalt mit<br />

Expertenblick ab. „...etwa anderthalb Gläser Punch getrunken. Tellariten<br />

können aber wirklich nicht viel vertragen.“<br />

„Hat etwa ernsthaft jemand daran gezweifelt?“, meinte Tala<br />

selbstgefällig. „Die Widerstandskraft der Tellariten war schon immer<br />

lächerlich gering. Alles, was an ihnen beachtlich ist, ist ihr Mundwerk.“<br />

„Hm.“, machte Wotan. Er stupste Durkin probeweise mit der Schnauze<br />

an, woraufhin der Tellarite rülpste. Dabei verließen kleine<br />

Blubberblässchen seinen Mund, die er voller Verzückung betrachtete, als<br />

hätte er nie in seinem Leben etwas tolleres gesehen.<br />

„Schööön.“<br />

Er war zweifellos völlig besoffen. Er saß da, nur noch halb bei<br />

Bewusstsein und wirkte mit sich und der Welt – und besonders mit den<br />

Blubberblasen – äußerst zufrieden. Was sich vermutlich ändern würde,<br />

sobald sein Rausch vergangen war, und ihn brummende Kopfschmerzen<br />

aufsuchten.<br />

„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Wotan und sah zu Tala hoch.<br />

Sie angelte sich von einer vorbeihuschenden Kellnerin ein weiteres<br />

Käsestück und zuckte mit den Schultern. „Was wohl? Wir genießen die<br />

herrliche Stille. Jetzt, wo der Tellarite endlich mal die Klappe hält, ist<br />

das die einzig vernünftige Vorgehensweise.“<br />

„War des edwa gejen misch grischded?“, lallte Durkin. Er deutete mit<br />

einer pelzigen Pranke auf eine der drei Talas vor ihm. „Isch habs gnau<br />

gehöat! Willst duuuu edwa sagn, dass isch net still sein kann? Un ob isch<br />

still sein kann! Isch kann de Mund halden! Isch verfüje über ewensoviel


Selbstkontroll, wie jeder annere! Aber isch kann et net ausstehä, wenn<br />

jemand...“<br />

Tala bewegte sich so schnell, dass Durkin gar nicht wusste, wie ihm<br />

geschah. Angesichts der fortwährend nachgiebigen Ausstrahlung der<br />

Andorianer kam es völlig unerwartet. Die Ausstrahlung diente jedoch<br />

auch dazu, die Wildheit der Andorianer zu vernebeln, wenn sie gereizt<br />

waren. Durkin wusste nur eins: Plötzlich knallte etwas von der Seite<br />

gegen seinen Schädel und hinter seinen Augen explodierten Sterne. Dann<br />

lag er mit dem Gesicht auf dem Boden und wusste nicht genau, wie er<br />

dorthin gekommen war. Das war das letzte, was ihn bewegte, bevor er<br />

die Besinnung verlor.<br />

Niemand half ihm auf. Wotan, der die Szene mit staunendem Blick<br />

maß, sagte: „Das war ein bisschen drastisch... aber eigentlich nicht<br />

unverdient.“<br />

Alle anderen schienen es nicht einmal bemerkt zu haben. Die Kadetten<br />

tanzten fröhlich weiter zur Musik, während der Kasvagorianer an der<br />

Theke ihnen sowieso keine Beachtung schenkte und weiter mit dem<br />

Barkeeper stritt.<br />

„Kann’s machen!“<br />

„Kannst du nicht!“<br />

„Kann’s machen!“<br />

„Kannst du nicht!“<br />

Tala warf sich geschickt das Käsestück in den Mund, kaute genüsslich<br />

und grinste Wotan zu. „Ah. Diese herrliche Stille.“ Sie zwinkerte. Der<br />

Abend wurde vielleicht doch noch angenehm.<br />

Der Abend war schrecklich. Sortak seufzte mit Verdruss. Er hatte<br />

anfangs die Absicht gehabt, mit finsterer Mine in einer Ecke zu stehen,<br />

und allen klar zu machen, dass er sich absolut nicht wohl fühlte und von<br />

niemandem gestört werden wollte. Doch der äußerst leudselige Yoko<br />

schien sich vorgenommen zu haben, ihn aus seinem Kokon zu holen. Er<br />

plapperte über dies und über jenes, ohne wirklich etwas zu sagen. Es<br />

war, als würde er einfach nur irgendetwas sagen wollen.<br />

Sortak schenkte ihm keine große Beachtung. Sein Blick ruhte


stattdessen auf Galak, der zusammen mit einigen Leuten – vor allem bei<br />

einigen Frauen aus dem vierten Jahrgang - stand und herzhaft lachte.<br />

Worüber lachte der Kerl nur? Vermutlich machte er schmutzige<br />

Bemerkungen über Shan. Natürlich gab es dafür keinen Beweis. Aber<br />

den brauchte Sortak auch nicht. Alleine der Gedanke genügte. Und er<br />

machte ihn wahnsinnig. Eigentlich war Sortak ja nur aufgekreuzt, um<br />

Shan und die anderen zu suchen. Doch dann war ihm Galak aufgefallen,<br />

wie er sich an ein Mädchen nach dem anderen ranmachte. Also war<br />

Sortak ihm bis zur Galerie hinauf gefolgt und sah sich das Schauspiel<br />

nun schon eine ganze Weile aus der Entfernung an. Da Vulkanier über<br />

ein überdurchschnittliches Gehör verfügten, musste er nicht einmal<br />

besonders nahe ran, um Galak zu belauschen. Stattdessen konnte er von<br />

dem Orsorianer unbemerkt in der Entfernung stehen, an seinem<br />

Punchglas nippen, und seinen Blick unauffällig schweifen lassen. Von<br />

hier oben aus hatte man einen hervorragenden Ausblick auf den ganzen<br />

Saal. Nur hin und wieder sah er zu Galak herüber – der Blick kalt, wach<br />

und taxierend.<br />

Natürlich war Galak, allein aufgrund der Tatsache, dass er so gut wie<br />

nackt war, ein Augenfang und Thema des Abends. Egal wo er<br />

aufkreuzte, ihm gehörte sämtliche Aufmerksamkeit. Und diese<br />

Aufmerksamkeit machte er sich zu nutze. Um wertvolle Kontakte bei<br />

Vorgesetzten zu schließen und natürlich, um bei der Damenwelt zu<br />

punkten. Sein ganzes Verhalten entsprach genau dem Bild, das Sortak<br />

von reichen Leuten hatte, und er fragte sich insgeheim, ob das Klischee<br />

der feinen Gesellschaft nun daher kam, dass diese Leute wirklich so<br />

waren – oder ob sie sich so benahmen, weil sie versuchten, möglichst<br />

genau dem Bild zu entsprechen, das sich Leute wie Sortak über sie<br />

machte. Was auch immer zutreffen mochte, in jedem Falle konnte Sortak<br />

diese Leute nicht leiden. Sie stellten sich zumeist selbst auf ein hohes<br />

Podest, naiv wie sie waren, und wagten es, über andere zu richten, und<br />

sich urteile zu fällen, ohne auch nur die kleinste Ahnung zu haben, was<br />

in der Welt vor sich ging. Sortak wusste, was in der Welt vor sich ging.<br />

Er wusste wie hart das Leben sein konnte und wie undankbar. Ihm war<br />

nie etwas geschenkt worden. Alles, was er erreicht hatte, hatte er sich<br />

hart erarbeiten müssen.<br />

Ganz im Gegensatz zu den reichen, denen zumeist alles einfach in den


Schoß viel. Er mochte sie einfach nicht. Er mochte Galak nicht. Und<br />

heute, an diesem Abend, herrschte seine Abneigung aus irgendeinem<br />

Grund sogar noch sehr viel schlimmer als üblich. Sortak konnte es sich<br />

kaum erklären, aber die Wut, die tief in seinem Innern loderte, wurde<br />

durch irgendetwas angeheizt. Eine Wut über sehr viele Dinge in seinem<br />

Leben, die schief gelaufen waren, und die fokussierte sich nun – ohne,<br />

dass er das so richtig begriff, ganz allein auf Galak. Und als der<br />

Orsorianer erneut einen Witz machte und die ganze Gruppe um ihn<br />

herum in fröhliches Gelächter ausbrach, konnte Sortak einfach nicht<br />

mehr innehalten. Er stellte sein Champagnerglas auf dem Tablett einer<br />

vorbeihuschenden Bardame ab, raunte Yoko ein „entschuldige mich“<br />

entgegen und setzte sich mit finsterer Mine in Bewegung. Richtung<br />

Sortak.<br />

Ganz...<br />

...langsam.<br />

„...woraufhin er sagte >der Clown kann bleiben, aber der Ferengi in<br />

dem Gorillakostüm soll verschwinden.


würde und ein zukünftiger Machtinhaber, der sicher irgendwann große<br />

Macht und großen Einfluss sein eigen nennen konnte.<br />

Und jeder wollte ein Stück von diesem Kuchen haben.<br />

Schließlich war Galak nicht der einzige, der Beziehungen knüpfen<br />

wollte. Die Kadetten – zumindest die der oberen Jahrgänge – waren nicht<br />

dumm. Sie wussten, dass Bekanntschaften von Heute sich in der Welt<br />

von Morgen bezahlt machen konnten. Und Galak spielte die Rolle, die<br />

sie von ihm erwarteten, mit Bravour, spielte wie ein Virtuoser, wie ein...<br />

geübter. Und das war er auch! Aufgrund seiner Erfahrungen wusste er,<br />

dass es innerhalb aller Lebensformen eine fundamentale Wahrheit gab:<br />

Jeder mochte es, sich gegenüber anderen überlegen zu fühlen. Dadurch<br />

fühlten sie sich wohl. Dadurch fühlten sie sich sicher. Und das beste von<br />

allen: Dadurch wurden sie schlampig und eröffneten Situationen, die<br />

Galak nutzen konnte. Für sich. Für sein Volk. Für seinen Vater. Es war<br />

nichts was er gerne tat, aber musste Kontakte knüpfen, die seinem Volk<br />

helfen konnten und die redseligen, beeinflussbaren Menschen mochten<br />

ihm irgendwann helfen können.<br />

„Das war ein großartiger Witz, Galak!“, applaudierte ein<br />

Neuankömmling und als Galak den Kopf wandte, sah er wie Kadett<br />

Gleason Benteen mit schneidigem Lächeln und Begleitung die illustre<br />

Runde um Galak erreichte. Galak mochte Gleason nicht. Er war<br />

unterkühlt, zielfixiert und aalglatt. Ein Kartenspieler und ein guter noch<br />

dazu. Aber Galak durchschaute sein Blatt seines Pokerfaces mühelos –<br />

vielleicht, weil er selbst ein herausragender Spieler war. Aber Gleason<br />

kam aus einer einflussreichen Sternenflottenfamilie. Vor allem seine<br />

Mutter, eine Admiralin, war hochangesehen.<br />

„Danke, Gleason!“, erwiderte Galak fröhlich, auf perfekte Art und<br />

Weise Gleasons Enthusiasmus imitierend. „Es ist schön dich zu sehen,<br />

mein Freund.“<br />

„Und dich auch, Galak.“ Er deutete auf die beiden Damen, die ihn<br />

begleiteten. Die zu seiner rechten war ebenfalls menschlich, eine große,<br />

kräftig gebaute Frau, deren aufreizende Kurven unter der Uniform<br />

deutlich hervorstachen. Die andere gehörte einer Spezies an, die Galak<br />

nicht identifizieren konnte, aber das graue Haar, die Wülste in ihrem<br />

Gesicht und der viel zu zierliche, regelrecht dürre Körperbau, machten<br />

sie unattraktiv und dadurch für Galak uninteressant. „Das sind Shaya


Dale und Krasna.“, stellte Benteen sie vor. „Und das meine Lieben, ist<br />

Galak Arsamandi, Prinz des mächtigen, orsorianischen Reiches.“<br />

„Des ehemals mächtigen orsorianischen Reiches, fürchte ich.“,<br />

entgegnete Galak, und gab Shaya einen perfekten Handkuss, was sie<br />

erröten lies. Krasna schenkte er nur eine höfliche Verbeugung. Zu seiner<br />

Verwunderung schien sie gebildeter sein, als es ihr äußeres vermuten<br />

lies. „Ich bin mit der Situation deiner Spezies vertraut, Galak.“, sagte sie.<br />

„Soweit ich mich entsinne, ersucht die orsorianische Botschaft seit<br />

Monaten Hilfe von allen verfügbaren medizinischen Forschungsstätten<br />

des Quadranten.“<br />

„Das stimmt.“, erwiderte Galak einigermaßen verblüfft. „Wir haben<br />

ein kleines...“ Er drehte den Kopf zu Shaya und schmunzelte. „...<br />

Populationsproblem. Es gibt zu wenige Frauen auf meiner Welt.“<br />

„Zu wenig Gebährfähige?“, fragte Krasna.<br />

Galak gefiel das Wort nicht. Noch immer Shaya anlächelnd korrigierte<br />

er: „Zu wenig Fähige.“<br />

„Ach tatsächlich? Und die orsorionischen Männer sind im Gegensatz<br />

viel... leistungsfähig, ja?“, fragte Shaya und tippte ihm verspielt gegen<br />

die Brust.<br />

„So leistungsfähig wie der Warpkern eines Raumschiffes.“, bestätigte<br />

Galak charmant. „Es gäbe noch andere Vergleiche mit einem Warpkern,<br />

aber ich will es bei diesem einen belassen.“<br />

Shaya biss sich auf die Unterlippe. Kein Zweifel: sie wollte ihn. Galak<br />

kannte sie erst seit einigen Momenten, hatte sie aber schon genau da, wo<br />

er sie am liebsten hatte. Er wollte sie gerade dazu einladen, ihn auf sein<br />

Quartier zu begleiten, als sich erneut Krasna meldete. Offenbar sie nichts<br />

von dem zu bemerken, was zwischen Galak und Krasna vor sich ging.<br />

Vermutlich, weil sie keine Ahnung von diesen Dingen hatte, denn wie so<br />

viele der Sternenflottenstreber, kannte sie offenbar nur Diskussionen,<br />

Diskussionen und nochmals Diskussionen. „Und waren ihre<br />

Bemühungen dieses... Problem zu lösen, inzwischen von Erfolg<br />

gekrönt?“<br />

Galak seufzte. „Nun, wir müssen das nicht hier und heute erörtern,<br />

während der Feier einer Institution, die so große Stücke auf ihre<br />

sogenannte oberste Direktive hält.“<br />

„Bitte, Galak, sag, was du sagen willst.“, drängte ihn Gleason Benteen.


„Nun gut. Es erscheint mir, dass die oberste Direktive korrumpiert<br />

wird. Das Reglement wird befolgt, aber der Geist verletzt.“ Er bemerkte,<br />

dass einige andere Kadetten auf ihn aufmerksam geworden waren und<br />

sich nun, durch seine Worte neugierig zeigten. Superb. Je größer das<br />

Publikum, desto besser. „Fakt ist, die oberste Direktive wurde speziell<br />

kreiert, damit fortschrittliche Spezies keinen Schaden in weniger<br />

hochentwickelten Kulturen verursachen. Leider begegnen wir zu vielen<br />

Situationen in denen diese Direktive als Grund ausgelegt wird, diesen<br />

Spezies nicht zu helfen. Die Sternenflotte steht daneben, beobachtet, wie<br />

sie stolpern und macht lediglich Notizen, während sie von versteckten<br />

Anlagen aus beobachten. Denkt meine Freunde. Stellt euch<br />

beispielsweise ein Kind vor.“ Und seine Stimme begann verletzt zu<br />

klingen. „Ein kleiner Junge, der an einer Krankheit stirbt, während das<br />

Heilmittel in den Händen derer liegt, die lediglich und unbemerkt von<br />

oben auf ihn herabsehen. Aber helfen sie? Produzieren sie Medikamente,<br />

die diesen Jungen retten würden? Nein... nein, meine Freunde, das tun<br />

sie nicht. Sie sehen nur zu und vermerken den Todeszeitpunkt vielleicht<br />

in ihrem Logbuch. Und wer weiß, ob dieser kleine Junge nicht vielleicht<br />

zu einem der größten Denker, Philosophen, oder Führer seiner Spezies<br />

gewachsen wäre? Zu einem Mann, der sein Volk in ein goldenes<br />

Zeitalter hätte führen können... all diese Möglichkeiten... einfach<br />

abgeschnitten in seiner Jugend. Wem hätte es schon weh getan... diesem<br />

Kind zu helfen? Und welch überragenden Gewinn, das hätte bringen<br />

können! Wer von euch kann einem solchen Szenario beiwohnen... und<br />

daran glauben, dass es irgendeinem größeren Ziel nutzt?“<br />

Es herrschte ein paar Sekunden lang ein bedrücktes Schweigen in der<br />

kleinen Gruppe, die Galak umgab, während der Rest weiterfeierte.<br />

Schließlich sagte Krasna: „Eine sehr gute Beobachtung, Galak. In ihrem<br />

Kern mag sogar ein überdenkenswerter Punkt sein. Nichtsdestotrotz....<br />

Intervention beinhaltet Missbrauch. Es war ein Mensch, der sagte, dass<br />

Macht auch Korruption hervorruft... und absolute Macht korrumpiert<br />

absolut. Für all die Szenarien die du dir ausdenken kannst, bin ich sicher,<br />

ganz leicht wichtige Gegenargumente bringen zu können, die für die<br />

Einhaltung der obersten Direktive sprechen.“<br />

Nun wusste Galak, warum er die junge Frau nicht leiden konnte.<br />

„Was Krasna meint“, ergänzte Gleason. „ist, dass es zwei Seiten der


Münze gibt. Der kleine Junge hätte ebenso gut ein Kriegsverbrecher<br />

werden können. Ist es daher nicht sogar besser auf der Seite der Vorsicht<br />

zu bleiben?“<br />

„Vor zweihundert Jahren vielleicht.“, entgegnete Galak. „Das<br />

versichere ich euch. Aber was nützt einem Erfahrung, wenn man sie<br />

nicht nutzt? Es gibt Leute da draußen, die Hilfe benötigen. Mein Volk<br />

beispielsweise. Dennoch wird diese Hilfe verwehrt, weil die<br />

Sternenflotte... die Föderation... zu vorsichtig ist. Zu ängstlich. Weil sie<br />

sich hinter ihrer Direktive verstecken. Warum? Ist es nicht sogar eine<br />

solche... Einmischung seitens der Vulkanier gewesen, welche die<br />

Menschheit erst reifen lies? Ich fordere nicht, die oberste Direktive<br />

aufzugeben. Aber vielleicht ist es an der Zeit, sie einer Reform zu<br />

unterziehen und die Intentionen der Sternenflotte zu überden-“<br />

„Du Heuchler.“ Die Stimme kam völlig unerwartet und die Worte<br />

waren in einem rauen, harten Tonfall verpackt. Als sich alle in Hörweite<br />

drehten, sahen sie einen Vulkanier in zerknitterter Galauniform, von dem<br />

eine deutliche Fahne ausging und der Galak anstarrte. „Du bist wirklich<br />

ein Fall für sich, Arsamandi. Wirklich ein Fall für sich.“<br />

Galaks Blick verdüsterte sich. Diesen Kerl konnte er jetzt überhaupt<br />

nicht brauchen. „Sortak... darf ich fragen, was du hier machst?“<br />

„Deinem Gewäsch zuhören. Deiner vorgespielten Bestürzung. Und<br />

dem herzergreifenden Beispiel mit diesem kleinen, unschuldigen<br />

Jungen... die du dieser extrem wichtigen Versammlung hier vorlegst.<br />

Vor allem denen hier...“ und er deutete mit einer knappen Geste zu den<br />

jungen Frauen, vor allem zu Shaya. „... deinen auserkorenen<br />

Beutefrauen.“<br />

„Vielleicht hast du zu tief ins Glas geschaut, Sortak.“, bemerkte Galak.<br />

Und er sagte schnell zu den anderen versammelten: „Das hier tut mir<br />

außerordentlich leid. Sortak hat wohl zu viel getrunken. Ich bin sicher, er<br />

wollte uns gerade wieder verlassen und lieber den Rausch ausschlafen<br />

gehen.“<br />

„Oh, wollte ich das?“ Sortak hob die Brauen. „Kann mich nicht dran<br />

erinnern, einen derartigen Wunsch geäußert zu haben. Und betrunken bin<br />

ich ganz sicher nicht. Bei Synthehol ist das überhaupt nicht möglich.<br />

Nein. Nein, du bist es, der lieber gehen sollte. Ganz weit fort.“<br />

Er wankte ein paar Schritte auf Galak zu, bis sie sich


gegenüberstanden. Obgleich seiner Behauptung, wurde allen<br />

Anwesenden schnell klar, dass er tatsächlich den ein oder anderen Drink<br />

zu viel intus hatte – wo auch immer er Alkohol auf dieser von den<br />

Offizieren überwachten Party gefunden haben mochte. „Mach keinen<br />

Fehler, Galak.“, drohte der Vulkanier leise. „Du drehst dich mit dem<br />

Wind. Zu deinem Vorgesetzten und denen, die dir nützen könnten -.<br />

Beruflich, oder als Bettgespielinnen -, sagst du, was immer du glaubst,<br />

was sie hören wollen. Und den Rest behandelst du als wären sie<br />

Ungeziefer. Das ist es was wir für dich sind. Und ich habe dich<br />

durchschaut. Ich sehe den Feigling hinter der Fassade. Den Betrüger.<br />

Den Manipulator. Den versnobten Sohnemann. Ich werde nicht zulassen,<br />

dass du Shan zu deinem nächsten Opfer erwählst.”<br />

Galak wurde wütend. Er spürte die Blicke der anderen auf sich ruhen.<br />

„Und ich sehe...“, zischte er. „Einen Exsträfling. Einen Kerl aus der<br />

Gosse, der selbst von seinem eigenen Vater gehasst wird, weil er ein<br />

unkultivierter Taugenichts ist!“<br />

Das war genug für Sortak. Er schnaubte und verpasste Galak einen<br />

kräftigen Stoß, der ihn gegen das Geländer der Galerie stoßen lies.<br />

„Na gut, das reicht! Du spinnst doch! Als ob ich Shan etwas antun<br />

wollte. Sicherheitsdienst!“, bellte Galak. Er griff nach Sortaks Arm.<br />

„Sicherheitsdienst, nehmen sie diesen Mann in gewahr-“<br />

Was Galak nicht verstand, war die Tatsache, dass der Sicherheitsdienst<br />

und die möglichen Konsequenzen einer Konfrontation für Sortak<br />

überhaupt keine Rolle spielte. In dem Augenblick, als Galak Sortaks<br />

Vater erwähnt hatte, vernebelte unbändiger Zorn das Gehirn des<br />

Vulkaniers, der alle Worte Galaks verschluckte. Er hörte nur noch, wie<br />

der verhasste Galak Shan erwähnte. Und er hörte, wie er den Kosenamen<br />

in den Mund nahm, mit dem Sortak, und nur Sortak sie seit frühester<br />

Kindheit angesprochen hatte. Mehr hörte er nicht. Alles weitere wurde<br />

von seiner aufkochenden Wut hinweggefegt, als er sich auf Galak<br />

stürzte.<br />

Katarina „Scotty“ Scott war sehr mit sich zufrieden. Für gewöhnlich<br />

war die Kadettin überaus trinkfest. Es war ihr sogar einmal gelungen


eine klingonische Schnapsdrossel, der in Trinkwettbewerben als<br />

unbesiegbar gegolten hatte, unter den Tisch zu saufen. Doch an diesem<br />

Abend, dem Abend der Feier, war sie bereits früh weggetreten. Zur<br />

Hälfte weggetreten. Sie schaffte es selbstverständlich noch immer<br />

aufrecht zu stehen, auch wenn sie seit einigen Minuten vorsichtshalber<br />

an einer der Säulen oben in der Nähe der breiten, geschmückten Treppe.<br />

Die Welt um sie herum hatte sich vorhin ein klein wenig zu drehen<br />

begonnen und Scotty hatte entschieden, dass es wohl das klügste sei, sich<br />

eine Weile irgendwo anzulehnen. Es war ja nur für ein paar Momente.<br />

Immerhin war sie nur zur Hälfte weggetreten. Allerhöchstens. Vielleicht<br />

sogar nur zu einem dreiviertel. Nichts desto trotz war sie sehr zufrieden.<br />

Mit sich und mit der Welt. In der Hand hielt sie noch immer die Flasche<br />

Scotch. Es befanden sich nur noch ein paar Schluck des guten Gesöffs<br />

drin, welche Scotty nun zügig leerte.<br />

Sie wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab und sah dann mit<br />

trübem Blick, aber breitem Lächeln, auf die Kadetten herab. Auch wenn<br />

die Bewegungen der Masse für ihr Gehirn irgendwie zu viel waren, um<br />

sie völlig zu begreifen, entging ihr nicht, wie einer der jungen Burschen<br />

des ersten Jahres, abseits der anderen taumelte. Er griff nach einem Glas<br />

auf einem der Tische, verfehlte sein Ziel und kippte um wie ein gefällter<br />

Baum. Scotty kicherte. Der Kadett war nicht der einzige, der bereits arg<br />

wankte. Denn was die Feiernden nicht wussten, war, dass Scotty ihnen<br />

etwas in den Punch getan hatte. Genaugenommen in alle Getränke,<br />

inklusive des Syntehols und des Wassers.<br />

Es war kein leichtes unterfangen gewesen in der Nacht zuvor den<br />

Alkohol – echten, wohlschmeckenden schottischen Scotch - in die<br />

Getränkeaufbereitungsanlagen zu schmuggeln. Aber sie hatte es<br />

tatsächlich geschafft das Sicherheitsschloss der entsprechenden Räume<br />

zu knacken, unbemerkt einzudringen und den genialen Plan ihres kleinen<br />

Streiches durchzuführen.<br />

Sie wollte damit die Feier etwas auflockern. Dass die Organisatoren<br />

echten Alkohol verboten, hatte sie nicht nachvollziehen können. Was<br />

war schon gegen eine kleine Menge einzuwenden? Für Scotty bestand<br />

kein Zweifel, dass die Party dadurch ernstlich in Gefahr lag öde zu<br />

werden. So etwas durfte nicht geschehen! Also hatte sie die Sache selbst<br />

in die Hand genommen.


Was Scotty wiederum nicht wusste, war, dass sie nicht die einzige mit<br />

dieser Idee gewesen war. Der andere Kadett, der zu demselben<br />

Entschluss gelangt war wie sie, und den synthetischen Champagner mit<br />

echtem, russischem Vodka angereichert hatte, lehnte direkt neben ihr an<br />

der Säule, da er auch schon mächtig einen in der Krone hatte. Sein Name<br />

war Andrej Chekov. Er war in der Nacht zuvor genau fünf Minuten,<br />

nachdem Katarina Scott ihr Werk vollbracht hatte und gegangen war, in<br />

die Lagerstätte der Getränke eingebrochen. Und als er gegangen und<br />

nach vollbrachter Tat vergessen hatte die Tür zu schließen... war heute<br />

früh – wie sollte es auch anders sein? - einer der Organisatoren der Feier<br />

schulterzuckend in die Anlage marschiert und hatte ein wenig, aber<br />

durchschlagskräftiges, romulanisches Ale hinzugeschüttet, damit diese,<br />

seine Party nicht zu der langweiligen Zusammenkunft wurde, zu der sie<br />

zu werden drohte. Immerhin hatte er einen Ruf zu verlieren.<br />

So kam es, dass drei verschiedene Kadetten, ohne von den jeweils<br />

anderen beiden zu wissen, ordentlich Zunder in die Getränke gegeben<br />

hatten. Als sich nahe des Eingangs eine junge Frau übergab, zuckte<br />

Scotty mit den Schultern. „Scheinen nich’ viel zu vertragen, die Orioner.<br />

Haben wohl keinen Alkohol.“<br />

„Natürlich niacht.“, säuselte Chekov neben ihr. „Alkohol ist immerhin<br />

eine russische Erfindung.“ Er begrüßte Scotty, die ihn erst jetzt<br />

bemerkte, mit einem knappen Nicken. „Sie virken aber auch niacht mehr<br />

taufrisch, meine Liebe.“ Ein kleines Kichern konnte er sich nicht<br />

verkneifen. „Liegt vialleicht am... na ja...“ Er sah sich schnell<br />

verschwörerisch um, beugte sich zu Scotty herüber und flüsterte dann<br />

weiter: „Liegt vialleicht am Vodka, den ich in die Getränke gegeben<br />

habe.“ Grinsend zwinkerte er.<br />

„Nah.“, winkte Scotty fröhlich ab. „’S braucht schon ’n bisschen mehr,<br />

um ’ne Schottin umzuhauen. Außerdem kannse’ keinen Vodka in die<br />

Getränke gegeben haben...“<br />

„So?“ Der Russe stutzte. „Und varum niacht?“<br />

„Weil ich schon Scotch reing’schüttet hab’, natürlich.“<br />

Sie zwinkerte ihrerseits und grinste blöde...<br />

...und Chekov grinste blöde und erhob sein kleines Fläschen...<br />

...und dann wurden beide schlagartig nüchtern, als sie begriffen, was<br />

sie getan hatten. Ihre Köpfe flogen herum und sie sahen sich aus großen


Augen an. „Was hast du nur angestellt?!“, riefen sie gleichzeitig. Und in<br />

diesem Moment flogen zwischen Galak und Sortak die Fäuste und dann<br />

brach die Hölle los.<br />

Zwei Minuten vorher, und draußen, auf der Parkbank, waren Shan und<br />

Cera noch immer über den Datenblock gebeugt und tasteten sich<br />

gemeinsam an die Erdensprache heran, als plötzlich hinter ihnen jemand<br />

höhnte: „Oh, seht nur. Ist das nicht ein entzückendes Bild? Die kleine<br />

Dicke und die kleine Bartez lernen unsere Sprache.“<br />

Shan drehte sich stirnrunzelnd, um die Quelle des Neuankömmlings<br />

auszumachen, und sah ein halbes Dutzend Kadetten auf sie zukommen.<br />

Cardassianer, Ferengi, Menschen. Sie grinsten, aber es war absolut kein<br />

freundliches Grinsen. Zunächst wusste Shan nicht, was das zu bedeuten<br />

hatte – sie kannte keinen einzigen von denen -, doch dann trat jemand<br />

zwischen den Kadetten hervor, den sie sehr wohl wiedererkannte und<br />

plötzlich war ihr klar, dass Ärger anstand.<br />

Finnegan war zurück.<br />

Und er hatte Freunde dabei. Viele Freunde.<br />

„Woher wusste ich nur, dass ich euch beide hier draußen vorfinden<br />

würde, hm?“<br />

Shan sagte ironisch an Cera gewandt, aber ohne den Blick von<br />

Finnegan und seinen Leuten zu nehmen: „Siehst du, Cera? Er ist<br />

Hellseher, wie ich gesagt habe. Das ist der ultimative Beweis.“<br />

Cera hingegen sagte nichts. Shan bemerkte, wie sie langsam von der<br />

Bank aufstand. Irgendetwas im Blick der Pakled hatte sich verändert.<br />

Diesmal waren ihre sonst sehr treuen, harmlosen Augen von einer Kälte<br />

erfüllt, die Shan einen Schauer über den Rücken jagte. Und sie wusste<br />

instinktiv, dass das nichts gutes zu bedeuten hatte.<br />

Shan stand ebenfalls auf, ihre Schultern gestrafft, ihr Blick wachsam.<br />

Sie wollte vorbereitet sein, aber sie versuchte sich an Janeways Worte zu<br />

erinnern. Versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, dass dies die<br />

Sternenflottenakademie war, kein Schulhof. Wenn es diesmal Ärger<br />

geben sollte, würde niemand mehr darüber hinwegsehen. Keine<br />

Frischlingsboni mehr. Nicht für Cera und erst recht nicht für Shan.


Finnegan waren kurz vor der Bank stehen geblieben. Seine Begleiter<br />

hatten eine bedrohliche Kesselformation um Shan und Cera<br />

eingenommen, und ihnen damit den Rückweg versperrt.<br />

„Bartez.“, raunte Finnegan nun mit geneigtem Kopf. „Shan Bartez.<br />

Wir hatten ja bereits das Vergnügen.“<br />

Shan erwiderte nichts, beobachtete ihn einfach nur.<br />

Finnegan rieb sich den Kiefer. „Gute Arbeit, eh? Ich durfte aus erster<br />

Hand erfahren, dass die medizinische Einrichtung der Akademie ihrem<br />

guten Ruf durchaus gerecht wird. Man merkt überhaupt nicht, dass der<br />

Kiefer je gebrochen war.“<br />

„Ich weiß es aber.”, sagte Shan. „Ich brach ihn.“<br />

„Ja. Ja, das hast du in der Tat. Ein hinterhältiger Glückstreffer, als ich<br />

gerade nicht hinsah.“<br />

Shan runzelte die Stirn. „Ist es das, was du deinen Freunden hier<br />

erzählt hast? Und die glauben dir das auch noch? Dann sind sie dümmer<br />

als sie aussehen.“<br />

Eine Bajoranerin, die einen Kaustein von einer Wange zur anderen<br />

Schob, grinste Shan von oben bis unten an. „Ganz schön vorlaut, die<br />

Kleine.“<br />

Shan warf ihr einen düsteren Blick zu. „Nenn mich noch einmal kleine<br />

und ich verpass dir eine neue Nasenrille!“<br />

Finnegan ging dazwischen. „Kadett Bartez, mir gefällt ihr Ton nicht.“<br />

Und dann grollte er: „Hör zu, Kleines. Vielleicht wäre es besser, wenn<br />

du niemals den Mund aufgemacht und mich angegriffen hättest. Erst<br />

recht nicht, wo ich mit ihr, der breiten Masse dort, beschäftigt war.“ Er<br />

deutete auf Cera. „Ja, genau, Dickerchen. Dich meine ich. Also wirklich,<br />

mich wundert es überhaupt nicht, dass du hier draußen ganz alleine sitzt.<br />

Wundert euch das etwa, Leute?“<br />

Seine Freunde verneinten alle. Besonders der Ferengi schüttelte heftig<br />

den Kopf. „Mit der würde ich mich auch nicht abgeben.“<br />

Ein anderer pflichtete ihm bei. „Höchstens, wenn wir die letzten<br />

beiden Lebewesen im Universum wären und es keine Schafe mehr<br />

gäbe...“<br />

Zwei seiner Klassenkameraden musterten ihn argwöhnisch, aber die<br />

anderen lachten hämisch über Cera und nickten zustimmend.<br />

„Was macht die überhaupt hier?“, sagte jemand. „Jemand wichtigerem


den Studienplatz wegnehmen, nicht wahr? Kann ja nicht mal unsere<br />

Sprache richtig. Als die vom Baum der Blödheit gefallen ist, hat sie aber<br />

auch wirklich jeden Ast erwischt.“<br />

Und wieder lachten sie.<br />

Shan merkte aus den Augenwinkeln, dass Cera immer wütender<br />

wurde. Man konnte es ihr nicht wirklich ansehen, denn die Mine der<br />

Pakled war nie besonders Aussagekräftig. Aber Shan spürte ganz<br />

deutlich, dass es in Cera brodelte. Sie war kurz davor Finnegan<br />

anzugreifen. Shan konnte sehen, dass ihre Fäuste geballt waren, jeder<br />

Muskel an ihrem schweren Körper befand sich im kritischen Zustand.<br />

Das war nicht gut. Finnegan provozierte sie, er hatte nichts aus ihrer<br />

ersten Begegnung gelernt. Gar nichts! Und Shan hatte Cera auch noch<br />

geraten, ihn auseinander zu nehmen, wenn er sie ärgern tun sollte. Sie<br />

hatte das im Scherz gesagt, aber nun war sie sich nicht mehr sicher, ob<br />

Cera ihre Bemerkung nicht doch falsch aufgefasst haben mochte.<br />

Shan ahnte bereits, in welche Richtung sich die Situation bewegte.<br />

Früher oder später, würde Cera – so ruhig und gutmütig ihr Gemüt auch<br />

sein mochte – explodieren und gerade die stillen Wasser waren tief.<br />

Gerade die Leute, denen man es nicht zutraute, auf denen immer<br />

herumgehackt wurde, waren gefährlich, das wusste sie. Denn wenn die<br />

einmal rot sahen, dann war das kein helles Rot sondern ein sehr, sehr<br />

dunkles. Und wenn Cera der Geduldsfaden riss und sie etwas dummes<br />

tat, dann würde sie auf jeden Fall von der Akademie fliegen. Vielleicht<br />

erwartete sie sogar schlimmeres.<br />

Shan wollte nicht, dass der Pakled so etwas widerfuhr. Sie wollte<br />

nicht, dass ihr überhaupt etwas passierte. Es war unfair. Einfach unfair.<br />

Jemand, der so hart daran arbeitete hier zu sein, auf diesem Campus,<br />

jemand, der nicht in der goldenen Wagschale aufgewachsen, dem nicht<br />

die Erziehung und die Ausbildung gewährt worden war, wie allen<br />

anderen, der hatte es nicht verdient, auf diese Art und Weise zu enden.<br />

Finnegan grinste. Es bestand kein Zweifel, dass er auf eine physische<br />

Konfrontation aus war. Shan hätte ihm am liebsten sein hämisches<br />

Grinsen aus dem Gesicht gerissen und es so lange in ihren Rucksack<br />

gesteckt, biss sich nicht einmal mehr Kinder davor ängstigten. Nun baute<br />

sich Finnegan baute vor ihr auf. „Und was wirst du jetzt tun, Kadett?“,<br />

fragte er. „Wirst du dich endlich entschuldigen, für das, was du getan


hast, oder erzählst du deinem Daddy, dass-“<br />

Auch diesmal bekam Finnegan keine Gelegenheit, seinen Daddy-Satz<br />

zu vollenden. Ein weiteres Mal sah er die Faust nicht kommen. Finnegan<br />

wusste nur, dass das Mädchen im einen Moment noch vor ihm gestanden<br />

hatte, und einen Augenblick später fand er sich auf dem Boden wieder.<br />

Auch Moron, der sich direkt neben Finnegan befunden hatte, blieb keine<br />

Zeit zu realisieren, was passiert war, da Shan plötzlich herumwirbelte<br />

und ihm einen Stiefel in den Magen trat. Er krümmte sich schmerzerfüllt<br />

vornüber, nur um von Shan einen Aufwärtshaken unter das Kinn geknallt<br />

zu bekommen, der ihn mit ausgebreiteten Armen zurück warf.<br />

Finnegan rappelte sich auf. Er spuckte Blut. „Schnappt euch das<br />

Miststück!“, brüllte er.<br />

Und im nächsten Moment gingen alle auf Shan los.<br />

Niemand wusste so genau, wer oben auf der Galerie zuerst zuschlug.<br />

Selbst Galak und Sortak nicht. Im einen Augenblick stritten sie noch, die<br />

Gesichter lediglich Zentimeter voneinander entfernt. Und im nächsten<br />

Moment prallten sie aufeinander, rangen, schoben und zerrten.<br />

Unten hatte sich Tala gerade ein weiteres Käsebällchen in den Mund<br />

werfen wollen, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, wie über ihr, auf<br />

der Galerie, ein heftiges Handgemenge zwischen den beiden entbrannte.<br />

Sortak landete auf dem Orsorianer, holte aus und schlug so kräftig zu,<br />

wie er konnte. Die ganze Halle verstummte vor Schreck, die Band hörte<br />

auf zu spielen. Kadetten allerorts erstarrten und warfen die Köpfe herum,<br />

auf die ersten fliegenden Fäuste.<br />

Sortaks Schlag blieb nicht ohne Wirkung. Einen Augenblick lang<br />

schien Galak benommen zu sein, doch dann erholte er sich wieder und<br />

schlug zurück. Sortak flog praktisch durch die Luft und prallte gegen<br />

zwei andere Kadetten, die nun ineinander rasselten und offenbar auch<br />

nicht besonders gut auf sich zu sprechen waren, da sie plötzlich anfingen<br />

sich gegenseitig zu beschimpfen. Im nächsten Moment hatte sich Galak<br />

bereits aufgerappelt und ging nun seinerseits auf Sortak los, der sich aber<br />

recht geschickt aus seinem Griff wand und den Schlägen auswich. Er<br />

holte mit den Beinen aus, erwischte den Orsorianer an den Knöcheln und


Galak ging zu Boden. Sortak warf sich auf ihn und sie wälzten sich<br />

herum, brüllten sich an und prügelten drauf los.<br />

Und niemand ging dazwischen. Die Kadetten standen wie angewurzelt<br />

da, starrten auf die Streithähne... und begannen plötzlich zu Jubeln.<br />

Wotan, der das Unglück im selben Moment wie Tala gesehen hatte,<br />

versuchte sich verständlich zu machen, hatte aber nicht den geringsten<br />

Erfolg damit.<br />

„Sortak, um Himmels willen...“, rief er, doch seine Stimme war<br />

lediglich eine von vielen und ging in dem Chaos unter. Als nächstes<br />

tönte ein erneutes Raunen durch die überraschte Menge und als Tala den<br />

Kopf drehte, um der Ursache auf den Grund zu gehen, sah sie, wie auch<br />

draußen eine zweite Schlägerei begann. Und Shan und Cera waren<br />

mittendrin, zwei gegen sieben. Im ersten Moment sah es nicht einmal so<br />

aus, als hätte Shan Probleme sich gegen diese Übermacht zur Wehr zu<br />

setzen.<br />

Eine Bajoranerin stürzte sich kreischend auf sie und es gelang der<br />

jungen Frau sogar, einige von Shans Schlägen abzublocken und selber<br />

einen schweren Treffer zu landen. Im nächsten Moment riss Shan aber<br />

ihr Knie hoch und rammte es ihr mit voller Wucht in den Magen, nur um<br />

eine Sekunde später, dem nächsten Angreifer die Faust auf das Kinn zu<br />

setzen. Das genügte, um die Aufmerksamkeit einiger anderer Kadetten<br />

aus dem vierten Jahr zu erwecken – Freunde von Finnegan, ihrem<br />

Gesichtsausdruck nach zu urteilen. Sie setzten sich in Bewegung, um,<br />

die Halle zu verlassen und draußen mitzumischen. Tala war klar, dass sie<br />

Shan und Cera auseinander nehmen würden und das durfte sie nicht<br />

zulassen. Freunde hielten zusammen. Egal in welcher Situation. Wer<br />

davonrannte, war ein Feigling. Darüber hinaus begrüßte die andorianerin<br />

jeden Kampf.<br />

Sie stellte sich den Drittklässlern in den Weg und als der erste Kadett<br />

sie mit einem geraunten „Mach Platz!“ zur Seite stoßen wollte, wirbelte<br />

sie wie ein Blitz herum und duckte sich, während sie nach vorn sprang.<br />

Ihre Schulter knallte in den Magen des Jungen und bei dem Aufprall<br />

grunzte er auf. Er stürzte mit rudernden Armen nach hinten und prallte in<br />

einen Kadetten, der wiederum in einen anderen hineinfiel. Wie<br />

Dominosteine stürzten fast fünf Leute gleichzeitig zu Boden.


In einer Verkettung äußerst unglücklicher Missverständnisse,<br />

kombiniert, mit der heimlich in die Getränke gegebenen Menge<br />

Alkohols, gerieten nun auch diese Kadetten aneinander. Zunächst<br />

schubsten sie sich nur, doch nur wenige Augenblicke später entstand<br />

eine handfeste Keilerei. Und dann geschah alles gleichzeitig.<br />

Kadettin Zaylie Burton, die sich für die Organisation der Feier<br />

verantwortlich zeichnete, und gerade ihre gesamte Arbeit den Bach<br />

heruntergehen sah, kreischte, ebenso wie ein Großteil der anderen<br />

Schüler, die erschrocken aufsprangen und in alle möglichen Richtungen<br />

davonzulaufen versuchten, entweder um Hilfe zu holen, oder um sich in<br />

Sicherheit zu bringen. Dabei rempelten sie sich gegenseitig über die<br />

Tanzfläche, und gerieten ihrerseits in äußerst unglückliche<br />

Missverständnisse mit der anderen Hälfte der Anwesenden Kadetten, die<br />

bereits so betrunken waren, dass sie sofort fröhlich mitmischten, oder<br />

sich weniger fröhlich mit allem und jedem in die Wolle bekamen, was in<br />

Reichweite war.<br />

Binnen weniger Sekunden flogen Fäuste und der Ballsaal wurde<br />

auseinandergenommen. Schreie, das Umkippen von Gläsern und Stühlen<br />

und durcheinanderstürzenden Menschen, schufen ein Chaos, wie es in<br />

Pandoras Büchse nicht anders hätte sein können.<br />

Tala fand sich plötzlich in einer handfesten Massenschlägerei wieder,<br />

vergeudete aber keine Zeit damit, ihr schlimmes Werk zu betrachten. Sie<br />

grinste erfreut, holte mit einer schnellen Drehung ihres trügerisch<br />

schlanken Oberkörpers aus und warf einem anderen von Finnegans<br />

Leuten ihre Faust entgegen, die er geschickt mit dem Kinn auffing.<br />

Ein paar Meter neben Tala, brachte sich Kadett Yoko mit einer<br />

geringfügigen, aber exakt berechneten Neigung seines Kopfes aus der<br />

Wurfbahn eines gläsernen Geschosses. Die Flasche sauste dicht an<br />

seinem Schädel vorbei und zersplitterte mit einem Knall an der Wand.<br />

Und dann hob Yoko sein Glas Wasser um 36,4 Zentimeter an, um dem<br />

Kadetten Platz zu machen, der gerade an ihm vorbeigeworfen wurde. Als<br />

Pazifist, hatte Yoko selbstverständlich keinerlei Ambitionen an der<br />

Keilerei teilzunehmen. Genauso wenig wollte er die Halle aber auch


verlassen, immerhin war der Abend als gesellschaftlicher Anlass gedacht<br />

und die Schlägerei – so wenig die Menschen auch zu verstehen waren –<br />

bot eindeutig ein gewisses kulturelles Zusammenkommen, denn<br />

inzwischen waren alle Anwesenden beteiligt – gewollt, oder ungewollt.<br />

Die Musikgruppe begann wieder zu spielen, so als fange das Fest erst<br />

richtig an. Was der Wahrheit entsprach.<br />

Yoko betrachtete das Chaos und kam zu dem Schluss, dass sein<br />

Aufenthalt in der Akademie, intensive Meditationen erfordern würde, um<br />

bei Verstand zu bleiben...<br />

Shan hatte es irgendwie geschafft, sich aus dem aufgebrachten<br />

Kadettenknäuel, welches wie eine Flutwelle über ihr sprichwörtlich<br />

zusammengeschlagen war, zu befreien. Sie konnte nicht genau sagen,<br />

wie ihr das gelungen war, aber es blieb auch gar keine Zeit, darüber<br />

nachzudenken, denn Finnegans Leute waren fest entschlossen, sie zu<br />

lynchen, und es wurden irgendwie immer mehr, also hielt Shan es für<br />

eine gute Idee, nachdem sie so lange durchgehalten hatte, einen<br />

kurzfristigen Rückzug anzutreten, bis ihr etwas schlaues einfiel, um mit<br />

Finnegans Leuten fertig zu werden. Sie drehte sich um, rannte auf den<br />

Saal zu...<br />

... und kam verblüfft ins Stocken, als sie sah, dass in dem ganzen Saal<br />

eine gewaltige Massenschlägerei ausgebrochen war. Fäuste, Stühle,<br />

Gläser, Kadetten, ja ganze Tische – alles flog durch die Gegend. Shan<br />

war derart überrascht über den Anblick, der sich ihr darbot, dass sie<br />

einen Moment nicht aufpasste, wohin sie rannte, sodass sie mit dem<br />

Schuh in einer Wurzel hängen blieb und das Gleichgewicht verlor. Sie<br />

schlug der Länge nach hin.<br />

Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen. Und sofort stürzte<br />

sich die Meute wieder auf sie. Shan hatte nicht einmal Zeit aufzustehen.<br />

Für einen kurzen Moment, vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde,<br />

sah sie ein paar Kadetten des ersten Jahres in einiger Entfernung in den<br />

Gärten, aber sie standen einfach nur da, tatenlos, und beobachteten<br />

kopfschüttelnd das Geschehen. Sie dachten nicht einmal daran<br />

einzugreifen.


Und Shan dachte nicht einmal daran, um Hilfe zu rufen. Vermutlich<br />

würden sie ihr auch gar nicht helfen können. Richtige Hilfe – der<br />

Sicherheitsdienst - war bestimmt längst unterwegs. Und wenn nicht,<br />

dann war es ihr auch recht. Dann sollte sie mit wehenden Fahnen<br />

untergehen. Shan spürte, wie jemand sie am Bein packte und dann wurde<br />

sie bäuchlings über die Erde zurückgezerrt. Sie schaffte es, sich auf den<br />

Rücken zu drehen und holte mit dem freien Bein aus. Ihr Stiefel – Gott<br />

sei dank trug sie welche – erwischte ihren Gegner äußerst schmerzhaft<br />

am Knie und der größere Kadett ging zu Boden.<br />

Shan kam wieder auf die Beine... und fing sich sofort einen rechten<br />

Haken ein, als zwei von Finnegans Freunden herankamen. In ihrem Kinn<br />

explodierten Photonentorpedos. Der pulsierende Schmerz raubte ihr fast<br />

das Bewusstsein.<br />

Für einen kurzen Moment geriet Cera in ihr Sichtfeld, wie sie mit<br />

einem anderen Kadetten rang. Das machte Shan wütend. Sie schlug<br />

blindlings zurück und traf eine Kellnerin, die ihr zu Hilfe gekommen<br />

war, nun aber mit gebrochener Nase zusammensackte.<br />

Shan hatte keine Zeit, ihre Tat zu bereuen, denn sie wurde von Achtern<br />

hoch- und herumgerissen. Das brachte ihre Beine wieder in den<br />

Einflussbereich des Ferengis. Shan zögerte keinen Augenblick und trat<br />

ihm mit ganzer Kraft gegen das rechte Ohr, dort, wo bei seiner Spezies<br />

die Empfindungen am größten war. Der Ferengi brüllte auf und taumelte<br />

nach hinten, wo er über einen seiner bewusstlosen Kollegen stolperte<br />

und stürzte.<br />

Einer noch.<br />

Der Typ, der sie fest im Griff hatte. Und ihr allmählich die Luft<br />

abdrückte. Er hatte gewaltige Arme, jeder dicker, als Shan und er presste<br />

die Arme wie einen Schraubstock um sie zusammen. Die Schmerzen<br />

wurden schier unerträglich, es war nur noch eine Frage von Sekunden,<br />

ehe Shan Rippen brechen hörte. In ihrer Verzweiflung stieß sie mit dem<br />

Kopf nach hinten. Sie traf einen Kiefer. Sofort löste sich der Griff und<br />

der Kerl hinter ihr jaulte auf. Shan wollte ihm keine Zeit geben, sich zu<br />

erholen, wirbelte herum und schlug mit der Faust aus. Zu ihrer eigenen<br />

Verwunderung traf sie sogar. Und wie sie traf! Ihre Faust schleuderte so<br />

hart, dass sie vor Schmerz aufkeuchte.<br />

Ihr Gegner tat nichts der gleichen. Erst jetzt sah Shan, dass es sich um


den knapp Zwei Meter großen Benziten, namens Moron handelte. Diese<br />

Spezies war für ihre Robustheit bekannt. Genauso gut hätte sie auch<br />

gegen eine Wand schlagen können. Seelenruhig richtete er sich auf und<br />

maß Shan mit einem Blick, in dem sich Verachtung und hämische<br />

Schadenfreude mischten. Ein dünner Blutstrom rieselte aus seiner Nahe.<br />

Er machte sich nicht einmal die Mühe, ihn wegzuwischen.<br />

Keine Chance, dachte Shan. Jetzt bist du erledigt.<br />

Doch dann erinnerte sie sich an Kats Worte. Du kannst alles schaffen.<br />

Und sie erinnerte sich an den Trick, den Kat ihr gezeigt hatte. Also<br />

kreuzte sie die Finger, und schlug zu, wie es ihr gezeigt worden war, ehe<br />

sich der Riese revangieren konnte. Und es funktionierte! Sie schlug<br />

gegen seinen Brustkorb und hörte ein leises Knacken. Sehr viel lauter<br />

war eine halbe Sekunde später Morons Schrei, als er platschend mit weit<br />

ausgebreiteten Armen im Teich landete, gute zwei Meter von Shans<br />

Position entfernt.<br />

Sie betrachtete ihre Faust, verwundert über sich selbst, und hätte fast<br />

zuversichtlich gegrinst, als sie aus den Augenwinkeln sah, wie sich fünf<br />

andere Kadetten näherten.<br />

Als sie sich alle auf sie stürzten, blieb Shan ihr kurzer Anflug von<br />

Enthusiasmus, im Halse stecken.<br />

Tala war enthusiastisch. Sie schleuderte gerade einen Kadetten auf<br />

einen Antigravitationsservierwagen und stieß mit dem Stiefel zu. Durch<br />

den Schwung sauste das Gefährt durch die sich prügelnde Menge auf das<br />

Podium zu, wo der Kadett mitsamt Wagen in das Schlagzeug krachte.<br />

Er wollte aufstehen, doch die Leadsängerin Judy D’Agosta packte ein<br />

längliches Musikinstrument, das aussah, wie eine zu lang geratene Flöte<br />

und hieb dem muskulösen Störenfried damit nieder. Er landete auf der<br />

Tanzfläsche, wo noch mehr Kadetten wild durcheinander rannten, oder<br />

sich prügelten. Es war eineinziges Chaos!<br />

„Dang, ich liebe das!“, rief Tala berauscht. Sie bewegte sich mit der<br />

Geschwindigkeit einer Katze und rammte ihre blanke Faust in den<br />

Magen eines anderen Opponenten. Wotan hingegen hatte deutlich<br />

weniger vergnügen. Er duckte sich, da gerade ein Kadett mit rudernden


Armen über ihn hinwegsegelte und dabei in eine andere Meute prallte.<br />

„Schön, wenn sich wenigstens einer Amüsiert.“<br />

„Ach komm schon, Wotan.“, erwiderte Tala, als dem Kadett, den sie<br />

gerade in der Mangel hatte, augenblicklich ein Trupp Helfer<br />

herbeistürmte. In ihrer Verzweiflung warf sie ein Tablett wie einen<br />

Frisbee in Richtung der Wachen und traf auch tatsächlich einen. Der<br />

unglückselige Kerl sackte bewusstlos auf dem Boden zusammen. Mit<br />

den anderen beiden geriet sie in ein Handgemenge.<br />

„Wir müssen auch mal Dampf ablassen.“, setzte sie ächzend das<br />

Gespräch fort. „Und dazu gibt es nun wirklich nichts besseres als eine<br />

Kneipenschlägerei.“<br />

„Das hier ist aber keine Kneipe!“<br />

Tala verpasste gerade einem, selbst für seine Spezies erstaunlich<br />

hässlichen Nausicaaner, einen hervorragend platzierten Kinnhaken.<br />

„Seine Mutter hat keinen Dampf abgelassen“, rief sie. „und nun schau dir<br />

an, was aus ihm wurde!“<br />

„Ich bin ein Tiger, Tala.“, rief Wotan verzweifelt. „Ein ehemals wildes<br />

Tier! Ein Jäger! Ich habe Angst vor meiner Dunklen Seite und den<br />

animalischen Instinkten, die noch immer in mir schlummern. Als ich sie<br />

noch nicht kontrollieren konnte, sind schreckliche Dinge passiert,<br />

verstehst du? Schreckliche Dinge!“<br />

Tala entgegnete nichts, sondern tauchte unter einem weiten Schlag des<br />

Nausicaaners hindurch. Er war jetzt richtig wütend, brüllte und spuckte,<br />

aber Tala hatte keine Probleme seinen viel zu langsamen Attacken zu<br />

entgehen.<br />

Während sie geschickt mal hierhin und mal dorthin auswich, sah Tala,<br />

wie Kadett Yoko nicht weit von ihr entfernt seelenruhig durch die um<br />

sich schlagenden Kadetten wanderte. Es schien völlig unmöglich, aber er<br />

blieb von allem unberührt. Keiner kümmerte sich um ihn. Niemand<br />

schien ihn auch nur zu beachten. Während um ihn herum Tische und<br />

Stühle und Kadetten durch die Luft segelten, spazierte er ohne besondere<br />

Eile mit einer erstaunlichen, an Mystik grenzenden Unantastbarkeit<br />

durch die chaotische Menge und streckte den Arm aus, als er in<br />

Reichweite des nächstbesten Kadetten war.<br />

Tala glaubte einen Moment lang, dass er tatsächlich beabsichtigte, den<br />

Kadetten zu erdrosseln. Hätte er dies getan, hätte Tala dem Typen keine


Träne nachgeweint. Natürlich hätte sie es lieber persönlich getan, aber es<br />

bereitete ihr keinen besonderen Kummer, wenn jemand anderes diese<br />

Aufgabe übernahm. Aber Yoko würgte den Kadetten nicht. Stattdessen<br />

reagierte der auf die Berührung mit Yokos Hand, die sich auf seine<br />

Schulter legte. Instinktiv riss der Kadett die Hände hoch, um den Angriff<br />

abzuwehren, doch, als sich sein Finger um den Arm des Jungen krallten,<br />

war es bereits zu spät. Er verdrehte die Augen und sank dann zu Boden,<br />

ohne einen Laut von sich zu geben. Dann marschierte Yoko zum<br />

nächsten und wiederholte die Prozedur.<br />

„Vulkanischer Betäubungsgriff.“, murmelte Tala, während sie dem<br />

Nausicaaner mit einer Serie schneller Tritte zusetzte. „Pah! Ich zeige<br />

euch mal, was ein andorianischer Betäubungsgriff ist!“ Sie holte aus und<br />

klatschte mit der Faust auf den Nasenrücken ihres Widersachers. „Das<br />

ist ein richtiger Nervengriff! Siehst du, Wotan?“, rief sie durch den<br />

Lärm. „Selbst unser steifer Vulkanier da drüben hat Spaß.“<br />

Yoko, der aufgrund seiner hervorragenden Ohren jedes einzelne Wort<br />

gehört hatte, hob eine Braue, während er den nächsten Opponenten mit<br />

dem berühmten Nackengriff außer Gefecht setzte. „Ich habe keinen ...<br />

Spaß.“, entgegnete er. „Ich versuche vielmehr das Chaos in Grenzen zu<br />

halten, in dem ich die Anzahl der Opponenten limitiere.“<br />

Tala schnaubte verächtlich und wandte sich wieder ihren eigenen<br />

Problemen zu. „Yeesh, er kämpft sogar langweilig.“, murmelte sie und<br />

geriet plötzlich in arge Bedrängnis.<br />

Der Kadett, den sie als erste niedergeschlagen hatte, kam brüllend auf<br />

die Beine. Tala wandte sich um, und stellte sich ihm entgegen. Leider<br />

drehte sie dabei einem anderen den Rücken zu, der die Sache endlich<br />

beenden wollte und dabei fies genug war, einen Barhocker zu Hilfe zu<br />

nehmen. Er hielt ihn, wie einen Baseballschläger fest und wog das<br />

Gewicht. Dann lies er den Hocker zwei, dreimal spielerisch durch die<br />

Luft pfeifen, packte ihn mit aller Kraft, schleuderte, und dann sauste der<br />

Hocker auch schon durch die Luft, direkt auf Tala zu. Die<br />

Zielgenauigkeit des Kadetten, war aufgrund des Alkoholgehalts in<br />

seinem Blut jämmerlich, das Ergebnis aber dafür umso schrecklicher.<br />

Tala konnte dank ihrer Antennen und der dadurch überlegenen Sinne,<br />

zwar den Hocker im letzten Moment herannahen spüren, und es gelang<br />

ihr sogar, sich noch rechtzeitig zu ducken, aber dafür flog der Hocker


nun unerbittlich auf den Kasvagorianer zu.<br />

Bisher hatte er noch immer unbeteiligt und von allem unberührt an der<br />

Theke gesessen und vor sich hergemurmelt. „Einen Galadrian von einem<br />

Jurakki unterscheiden? Kein Problem... Einen Knellt von einem<br />

Romulaner unterscheiden? Kein Problem. Eine-“<br />

WHAM!<br />

Der Hocker flog mit unfassbarer Wucht gegen seinen Schädel...<br />

...und zerschellte einfach. Der fürchterliche Krach des Aufpralls fuhr<br />

wie eine Schockwelle durch den Saal und augenblicklich hielten alle,<br />

aber auch wirklich alle Anwesenden in der Bewegung inne und drehten<br />

entsetzt die Köpfe zu dem Kasvagorianer, der sich nun von seinem<br />

Hocker erhob und zu seiner vollen, beeindruckenden Größe aufrichtete.<br />

Alle sahen das drohende Unheil kommen und niemand wagte es, sich zu<br />

rühren. Es war, als sei die ganze Schlägerei plötzlich zu einem Standbild<br />

degradiert worden. Selbst Galak und Sortak, die sich oben auf der<br />

Gallerie an der Gurgel hatten, hielten inne und starrten entsetzt in Halle<br />

herab. Draußen steckte Shan im Schwitzkasten, von Finnegans Leuten,<br />

aber sogar die hielten inne und wandten ihre Köpfe zu dem Unwetter,<br />

dass sich da drin gerade zusammenbraute.<br />

Der Kasvagorianer drehte sich ganz ... langsam... um.<br />

Tala schluckte.<br />

Sie hatte bisher nicht geglaubt, dass es Kasvagorianer gab, die größer<br />

werden konnten, als drei Meter. Aber es gab sie und einem davon stand<br />

sie jetzt gegenüber. Die Schultern des Burschen waren dreimal so breit<br />

wie ihre eigenen, und die Muskelstränge auf seinen nackten Oberarmen<br />

waren dicker, als Talas Arme. Sein Gesicht war länglich und knochig,<br />

mit großen, nach oben gewölbten Reißzähnen in seinem<br />

Überbissgeplagten Unterkiefer. Seine Hände sahen aus, als zerschlüge er<br />

Warpkerne zum puren Zeitvertreib. Oder auch Köpfe.<br />

Tala blieb wie angewurzelt stehen – alle blieben wie angewurzelt<br />

stehen - , als sich der Riese umdrehte und nach dem Versender des<br />

Hockers umsah. Und offenbar schien er Tala für die Verantwortliche zu<br />

halten. Sie konnte spüren, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich und sie<br />

so blass wurde, wie eine Aenar. Er sah sie mit einem bösen Funkeln in<br />

den Augen an. Gleichzeitig stieß er einen knurrenden Laut aus, der sich<br />

fast wie das Grollen eines zornigen Ochsen anhörte, und er ballte die


Fäuste, die nicht viel kleiner, als Talas Kopf waren.<br />

„O verdammt.“, murmelte sie. Der Kasvagorianer war kein Riese,<br />

dachte Tala erschüttert. Er war ein Berg von einem Kerl! Ein Berg, der<br />

sich nun anschicken würde, sie zu zermalmen. Aus den Augenwinkeln<br />

sah sie, wie Wotan, der sich ebenfalls zu seiner vollen, aber im Vergleich<br />

zu dem Kasvagorianer völlig lächerlichen Größe aufgerichtet hatte,<br />

wieder auf alle Viere sinken lies, und sich mit angelegten Ohren<br />

heimlich davonstahl. Er zog sprichwörtlich den Schwanz ein.<br />

Tala konnte es ihm insgeheim nicht verübeln, auch wenn sie das<br />

niemals gesagt hätte, denn für einen Andorianer war solch ein Rückzug<br />

die schlimmste aller Sünden. Aber wäre sie vor Schreck nicht völlig<br />

gelähmt gewesen, hätte sie vermutlich auch sofort die Beine in die Hand<br />

genommen. Stattdessen hatte sie den starren Gesichtsausdruck von<br />

einem Kaninchen auf einer nächtlichen Straße, das glaubte, die beste Art,<br />

mit näherkommenden Scheinwerfern fertig zu werden, sie, sie zu<br />

hypnotisieren. Sie hörte hinter sich entsetztes Getuschel.<br />

„Jemand sollte den Notfallkoffer holen.“<br />

„Jemand sollte alle scharfen Gegenstände verstecken.“<br />

„Jemand sollte mich verstecken.“<br />

Der Kasvagorianer fletschte die Zähne. In seinen Augen schäumte die<br />

Wut eines brandenden Ozeans. Er setzte sich in Bewegung und trat über<br />

den leblosen Tellariten Durkin hinwegtreten, um Tala zu packen und in<br />

der Luft zu zerreißen.<br />

Das war genau der Moment, den sich Durkin zum Aufwachen<br />

ausgesucht hatte, und als er mit rasselnden Kopfschmerzen, aber völlig<br />

nüchtern, zu sich kam, war er nicht besonders guter Laune. Seine haarige<br />

Faust zuckte hoch und traf den Kasvagorianer genau dort, wo es auch bei<br />

dieser Spezies am längsten schmerzte. Der Hüne verdrehte vor Schmerz<br />

die Augen, presste die Knie aneinander und fasste sich in den Schritt.<br />

Dann schwankte er nach hinten... nach vorne... dann wieder nach<br />

hinten... und dann kippte er endgültig um. Durkin rollte sich rechtzeitig<br />

zur Seite, um nicht unter dem gewaltigen Körper begraben zu werden,<br />

und rappelte sich auf. Er schäumte noch immer vor Wut, die Wildheit<br />

der Schlacht, in deren Mitte er aufgewacht war, hatte ihn erregt. „Wer<br />

mich geschlagen?“, schnaufte er. „Wer hat mich bewusstlos geschlagen?<br />

Wer hat es gewagt...“


Tala deutete auf einen zur Bewegungslosigkeit erstarrten und völlig<br />

unschuldigen Kadetten: „Der war’s!“<br />

Durkin brüllte los, stürzte sich auf den jungen Mann, und von einem<br />

Sekundenbruchteil auf den anderen, ging die Schlägerei weiter. Lärm<br />

und Geschrei schlugen erneut wie eine Woge über der Halle zusammen.<br />

Hocker, Flaschen, Gläser und Kadetten wirbelten durch die Luft. Die<br />

Prügelei wurde immer gewaltiger und gewaltiger. Es war sozusagen das<br />

Gegenteil eines Schwarzen Lochs.<br />

Statt ins Nichts gesogen zu werden und für immer zu verschwinden,<br />

breitete sich die Schlägerei immer weiter aus, und mehr und mehr<br />

Kadetten gerieten hinein und aneinander und auch die Band legte mit<br />

dem rockigeren „Shake, Rattle and Roll“ nach. So ging es weiter, bis<br />

irgendwann die Sicherheitsleute eintrafen. Immerhin konnten sie alle<br />

hinterher voller Stolz behaupten, dass sie bei diesem historischen<br />

Ereignis dabei gewesen waren.<br />

Nämlich bei der größten Massenschlägerei, in der Geschichte der<br />

Sternenflottenakademie...<br />

Danach<br />

Sie saßen ramponiert in Janeways Büro und warteten auf den<br />

Richterspruch, mit anschließender Exekution. Die gesamte<br />

Studiengruppe war versammelt und jeder einzelne von ihnen sah so aus,<br />

als hätte man ihn rückwärts durch eine Hecke gezerrt, während die<br />

Hecke gleichzeitig rückwärts durch einen Mähdrescher gezerrt worden<br />

war. Ihre zerrissenen Uniformen waren eine farbenfrohe Mischung aus<br />

Grasflecken, brauner Erde, Blut und den Überresten des Buffets, für<br />

dessen Zusammenstellung sich Kadettin Zaylie Burton besonders viel<br />

Mühe gegeben hatte.<br />

Shan und Cera saßen in der ersten Reihe, Tala, Yoko, Wotan und<br />

Durkin in der zweiten und Galak und Sortak dahinter. Die Arme<br />

verdrossen vor der Brust verschränkt, die Beine ausgestreckt, waren sich<br />

vor allem diese beiden Streithähne zumindest in ihrem Gebaren recht<br />

ähnlich. Mit dieser Vorstellung war Sortak nicht besonders glücklich –


mit dem Gedanken, etwas mit Galak gemeinsam haben zu können, und<br />

sei es auch nur die Körpersprache. Also veränderte er seine Haltung und<br />

schlug die Beine übereinander. Seltsamerweise hatte Galak gerade<br />

beschlossen, genau das Gleiche zu tun. Als sie begriffen, dass sie jetzt<br />

schon wieder gleich saßen, rückten beide ihre Stühle voneinander weg<br />

und Sortak drehte sich nach links, während sich Galak nach rechts<br />

wandte – wodurch sie zwar schon wieder in der völlig gleichen Position<br />

dasaßen, aber das wenigstens nicht sehen konnten. Auf diese Weise<br />

saßen sie anscheinend eine Ewigkeit reglos da. Sie sprachen nicht<br />

miteinander und die anderen schwiegen auch alle. Doch schließlich ging<br />

die Stille Galak zu sehr auf die Nerven... besonders, nachdem sich das<br />

Bild hinzugesellt hatte, das er sich im Kopf von seinem enttäuschten<br />

Vater gemacht hatte.<br />

„Ich hoffe du bist jetzt glücklich.“, zischte er.<br />

„Bin ich.“<br />

Galak gab ein Geräusch des Abscheus von sich. Wenn der Vulkanier<br />

irgendein Spielchen mit ihm treiben wollte, hatte er nicht die geringste<br />

Absicht, daran mitzuwirken. Doch nun, da das Schweigen gebrochen<br />

war, ließ sich Galak zu einem weiteren Kommentar hinreißen: „Jetzt<br />

werden Sie dich von der Akademie werfen.“<br />

„Dich aber auch.“, entgegnete Sortak gepresst. „Und das war es mir<br />

absolut wert.“<br />

„Haltet die Klappe!“, zischte Tala. Ihr Anblick bewies eindrucksvoll,<br />

dass selbst Andorianer so etwas wie ein blaues Auge haben konnten.<br />

„Die werden uns alle rauswerfen.“<br />

Zuerst wollte Sortak etwas darauf erwidern, doch dann sah er den<br />

vernichtenden Blick, den Tala ihm über die Schulter hinweg zuwarf.<br />

Ähnlich wie Shan, hatte sie auch ein recht berühmtes Elternteil in der<br />

Flotte vorzuweisen, doch Tala hatte ganz bewusst in ihre Fußstapfen<br />

treten wollen. Nun sahen ihre Chancen auf eine glorreiche Zukunft in der<br />

Flotte aber alles andere als rosig aus. Also hielt Sortak lieber den Mund.<br />

Er und Galak hatten sich ohnehin nichts mehr zu sagen. Daher verfielen<br />

wieder alle in erdrückende Stille.<br />

„Also...“, gestand Durkin nach einer Weile. „mir hat’s Spaß gemacht.“<br />

Alle drehten sich finster zu ihm.<br />

„Was denn?“, fragte er unschuldig.


Und dann glitten die Türhälften am anderen Ende des Zimmers<br />

beiseite. Admiral Janeway und Dekan Barclay traten ein. Mehr aus<br />

Höflichkeit denn aus Pflichtgefühl – schließlich argwöhnten alle in dem<br />

Raum, dass ihre Sternenflotten-Karrieren beendet waren, bevor sie<br />

richtig angefangen hatten - erhoben sie sich und standen stramm.<br />

Jedenfalls, sofern ihre Verletzungen dies zuließen. Janeway musterte sie,<br />

einen nach dem anderen, und bedachte sie bei dieser Gelegenheit mit<br />

einem Blick, der noch viel finsterer war, als jener, den sie Shan bei ihrer<br />

ersten Begegnung zugeworfen hatte. Er war schlichtweg vernichtend und<br />

wahrscheinlich ihre schlimmste aller Waffen.<br />

Der Blick.<br />

Der Umstand, dass Barclay neben der Tür stehen blieb und in der<br />

Anhörung offenbar nichts sagen würde, machte allen Kadetten klar, dass<br />

sie keinerlei Gnade zu erwarten hatten.<br />

„Beschämend!“, donnerte Janeway. „In all den Jahren, in denen ich<br />

nun in der Sternenflotte tätig bin, habe ich nie ein derart abscheuliches<br />

Ereignis erlebt, wie diesen Vorfall. Ich habe die Bücher vergeblich nach<br />

einer angemessenen Strafe abgesucht, aber da es eine solche Katastrophe<br />

noch nie in diesen Hallen gegeben hat, muss ich mit einer eigenen<br />

Lösung aufwarten. Das nächste, was mir angemessen erscheint, wäre<br />

Kielholen! Aber die Sternenflotte würde das kaum unterstützen. Ich<br />

hingegen ziehe diese Maßnahme ernsthaft in Betracht... Ohhh, ich weiß,<br />

was sie alle jetzt denken. Sie waren unwissend angetrunken. Sie waren<br />

auf einer Feier. Außer Dienst. Sie sagten Dinge, die Sie nicht meinten,<br />

und Sie taten Sachen, die Sie nicht wollten. Diese Entschuldigungen,<br />

werden Sie nicht retten! Dies ist die Sternenflottenakademie, kein<br />

Kindergarten!“<br />

„Wer auch immer den Alkohol in den Punch schmuggelte – und ich<br />

schwöre Ihnen, die Ermittlungen laufen und wir werden es herausfinden<br />

und entsprechende Maßnahmen ergreifen - er lies tief verborgene<br />

Gefühle und Antipathien in ihnen allen durchbrechen. Gefühle, für die<br />

wir hier auf der Akademie, einer zivilisierten, erwachsenen Einrichtung<br />

mit langer, langer, ehrwürdiger Tradition, keinen Platz haben. Wir<br />

müssen aufeinander zählen können, wenn wir überleben wollen. Der<br />

Kälte des Alls ist es völlig egal, ob Sie weiß, schwarz, grün, blau,<br />

Terraner, Pakled, oder Tellarit sind! Habe ich mich klar ausgedrückt?“


Die Kadetten schwiegen. Keiner von ihnen traute sich, auch nur ein<br />

Wort zu sagen. Es schien, als wagten sie es nicht einmal, zu atmen.<br />

Janeway rieb sich die Schläfen, während sie sich einen Moment lang<br />

ernsthaft fragte, warum in aller Welt sie sich dazu entschlossen hatte, die<br />

Sternenflottenakademie zu leiten. Dann sagte sie streng: „Kadett<br />

Wotan... Kadett Yoko... Kadett Regonod... Sind meine Informationen<br />

korrekt, dass Sie drei zwar ebenfalls an der Schlägerei teilgenommen, sie<br />

aber nicht angefangen haben?“<br />

Cera sah zu Shan. Die sah Cera eindringlich an und nickte kaum<br />

merklich, woraufhin Cera an den Admiral gewandt sagte: „Ja, Sir.“<br />

Auch Wotan und Yoko bestätigten. „Ja, Sir.”<br />

„Gut.” Janeway deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Tür.<br />

„Raus. Alle drei.“<br />

„Sir?” Wotan war verdutzt.<br />

„Ich würde Sie nur zu gerne lynchen.“, zischte Janeway. „Wenn ich<br />

aber jeden einzelnen der Akademie verweisen würde, der an der<br />

Schlägerei in irgendeiner Form beteiligt war, dann wäre der Campus<br />

morgen leer. Also müssen wir andere Maßnahmen ergreifen.“ Sie<br />

schüttelte den Kopf, unfähig, das ganze Ausmaß ihres Missfallens zu<br />

artikulieren. Cera und Wotan wurden immer kleiner.<br />

„Sie drei werden genau wie alle anderen Mittäter Strafdienst leisten<br />

und so viele Hausaufgaben aufgebrummt bekommen, bis Ihnen der<br />

Schädel explodiert. Ihre freien Wochenenden sind für die nächsten paar<br />

Monate gestrichen. Für die nächsten Jahre! Für die nächsten<br />

Jahrtausende! Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen.“<br />

Keiner von ihnen rührte sich. Cera, weil sie nicht so recht zu wissen<br />

schien, was sie tun sollte, Wotan, weil er arge Schuldgefühle dabei hatte,<br />

seine Herde bereits in der Schlägerei alleine gelassen und nicht<br />

unterstützt zu haben, und Yoko, weil er sich den anderen aus einem<br />

merkwürdigen Gefühl heraus verpflichtet fühlte. „Bei allem Respekt,<br />

Sir.“, sagte der vulkanier mutig. „Wir sind eine Gruppe. Ein Team.<br />

Freunde. Wir halten zusammen. Wir...”<br />

Janeways Mine verdunkelte sich und als sie ihren Blick auf ihn<br />

richtete, geschah das auf solch bedrohliche Weise, dass Yoko das<br />

Gefühl hatte, dass rote Strahlen aus ihren Augen schießen und ihn<br />

verdampfen würden, wenn er ihr nun in die Augen sah.


„...werden jetzt besser gehen, Sir.“, entschied er.<br />

„Sehr weise. Das zeigt große Voraussicht. Ebenso, sich rauszuhalten.“<br />

„Ist uns nicht leicht gefallen.“, versicherte Wotan.<br />

Tala schnaubte und murmelte so leise, dass nur Wotans feines Gehör<br />

sie verstehen konnte: „Pussy-Cat!“<br />

Wotan warf ihr einen kurzen Blick zu. Dann wandte er sich ab.<br />

„Komm, Cera.“<br />

Der Tiger gab ihr einen kleinen Schubs mit der Schnauze und ale drei<br />

setzten sich in Bewegung. Dann sah er noch einmal zu den anderen<br />

zurück, ganz so als wäre dies das letzte mal, dass er sie lebendig sehen<br />

würde, und fiebte hilflos.<br />

Als sich die Tür hinter ihnen schloss, ließ Janeway das unsichtbare<br />

Damoklesschwert noch ein paar Sekunden über den Köpfen der Kadetten<br />

hängen. Dann trat sie, ohne Shan eines Blickes zu würdigen, zu Tala,<br />

Durkin, Sortak und Galak. Sie betrachtete sie, als wolle sie in just diesem<br />

Moment eine Entscheidung fällen, was sie in dieser Angelegenheit<br />

unternehmen wollte. Natürlich waren sich die Kadetten ziemlich sicher,<br />

dass sie schon lange, bevor sie den Raum betreten hatten, gewusst hatte,<br />

was sie mit ihnen allen anstellen würde. „Sortak... Arsamandi…Sehen<br />

Sie sich an.“<br />

Der Vulkanier und der Orsorianer betrachteten einander mit düsteren<br />

Minen.<br />

„Meine Herren.“, sagte Janeway. „Sie sehen Ihren neuen<br />

Zimmergenossen.“<br />

Es dauerte einen Augenblick, bis die beiden begriffen, was sie gerade<br />

gesagt hatte, und dann sprachen beide gleichzeitig.<br />

„Frau Admiral, mit allem gebührenden Respekt...“<br />

„Das wird nicht gut gehen...“<br />

„Ich kann mich nicht entsinnen, Ihnen eine Wahl gelassen zu haben“,<br />

schäumte sie. „Es gibt natürlich zwei Fragen. Die erste lautet: Wie stark<br />

ist Ihr Wunsch, in der Sternenflotte zu bleiben? Und die zweite... da ich<br />

davon ausgehe, dass Sie beide die Situation eines gemeinsamen<br />

Quartiers für unerträglich halten...“<br />

Beide nickten im Einklang.<br />

„In diesem Fall kommt es lediglich darauf an, wer von Ihnen als erster<br />

aufgeben wird. Sobald einer von Ihnen die Akademie verlassen haben


wird, wird der andere es viel einfacher haben... ganz davon zu<br />

schweigen, dass er dann ein Zimmer für sich allein haben wird. Also...<br />

wer von Ihnen will uns verlassen?“<br />

Der Satz hing wie ein Geier in der Luft. Keiner der beiden jungen<br />

Männer wusste, wie er reagieren sollte.<br />

„Ich werde die Akademie nicht verlassen“, sagte Galak dann fest.<br />

„Ich habe auch nicht die Absicht“, brummte Sortak.<br />

Janeway wandte sich an Tala und Durkin. „Tala, Durkin... für Sie<br />

beide gilt dasselbe.“<br />

„Was?“<br />

„Waaaaaaas?“, plusterte sich Durkin auf. „Sie wagen es-“<br />

„Das ist ein Angebot, das ich Ihnen allen nur einmal mache, und auch<br />

nur aufgrund besonderer Umstände. Ich rate Ihnen also ganz dringend, es<br />

ohne Wiederworte und mit Handküssen anzunehmen. Andernfalls<br />

fliegen Sie nicht nur hochkant aus der Akademie, sondern auch aus<br />

meinem Bürofenster. Haben wir uns verstanden?“<br />

Tala schnaubte.<br />

Durkin grunzte.<br />

Aber beide nickten wiederwillig.<br />

„Na also!“ sagte Janeway. „Dann sind wir jetzt anscheinend ja eine<br />

große, glückliche Familie.“ Ihr Blick verdüsterte sich. „Doch sollte es<br />

noch einmal zu einem solchen Ausbruch kommen, wie wir ihn jüngst<br />

ertragen mussten, werden Sie beide von der Akademie verwiesen. Mir<br />

sind Spezies, Kriegsgeschichten und dergleichen völlig egal. Wegtreten.“<br />

Sie drehten sich um und gingen zur Tür.<br />

Blieb noch Shan.<br />

Janeway wandte sich zu ihr um, wie eine heranrollende Gewitterfront.<br />

„Und nun zu Ihnen, Kadett.“<br />

„Schon gut.“, hob Shan die Hände. „Sie brauchen nichts zu sagen.<br />

Jedes weitere Wort wäre überflüssig. Mein Rucksack ist in fünf Minuten<br />

gepackt. Wenn sie mir Startfreigabe erteilen, werde ich die Pax nehmen<br />

und sofort-“<br />

„Mr. Finnegan.“<br />

Shan sah sie verwirrt an. „Mr. Finnegan?“, wiederholte sie. Sie wollte<br />

fragen, was sie meinte, doch die Frage erübrigte sich, als Finnegan<br />

eintrat. Er sah schlimmer aus, als Shan, was erstaunlich war, wenn man


edachte, dass er es nur mit einer einzigen Kadettin zu tun gehabt hatte,<br />

Shan hingegen mit einer ganzen Gruppe, die sie alle hatten<br />

auseinandernehmen wollen. Sein Haar war zerzaust, und sowohl sein<br />

rechtes Auge, als auch seine linke Wange geschwollen. Sein rechter Arm<br />

befand sich in einer elektronischen Richtungseinheit und seine Uniform<br />

war an mehreren Stellen gerissen. Mit anderen Worten: Er sah genauso<br />

aus, wie jemand, der in einen Kampf geraten war und dabei den kürzeren<br />

gezogen hatte.<br />

Shan sagte nichts.<br />

Und Finnegan sagte nichts.<br />

Es gab im Grunde auch nichts zu sagen. Vielleicht höchstens noch ein<br />

paar Schläge auszutauschen, bevor Shan die Akademie endgültig<br />

verlassen würde...<br />

„Mr. Finnegan...“, sagte Janeway langsam. „übernimmt die volle<br />

Verantwortung für den Zwischenfall außerhalb der Halle.“<br />

Shan hob verwundert die Brauen. Sie hätte jetzt mit allem gerechnet.<br />

Sogar, dass er versuchen würde ihr die Schuld aufzuladen. Aber ein<br />

Schuldeingeständnis von seiner Seite aus kam völlig überraschend. Das<br />

einzige Wort, das sie zustande brachte, war ein schlichtes: „Warum?“<br />

„Weil er ein Sternenflottenoffizier ist, Bartez.“, antwortete Janeway.<br />

„Das ist Grund genug.“<br />

Finnegan ließ einen langen Seufzer entweichen. „Schau... die Pferde<br />

sind mit mir durchgegangen. Oder eher gesagt: mein Ego. Ich war so<br />

sehr damit beschäftig euch Frischlingen in die Schranken zu weisen, dass<br />

ich vergaß, dass manchmal auch Kadetten des dritten Jahres in die<br />

Schranken gewiesen werden müssen. Dass du mich mit einem einzigen<br />

Schlag niedergestreckt hast, hat mir nicht gerade gefallen.“<br />

„Ich dachte es sei nur ein Glückstreffer gewesen...“<br />

Finnegan zog eine Grimasse. „Ich auch. Zumindest habe ich mir das<br />

immer wieder selbst gesagt. Bisher war ich nämlich ziemlich stolz auf<br />

meine Selbstverteidigungsfähigkeiten.“<br />

„Ich hoffe du hast noch andere Talente.“<br />

Shan bereute ihren Kommentar in dem Moment, in dem sie ihn<br />

ausgesprochen hatte. Weder Janeway, noch Finnegan lachten.<br />

Glücklicherweise hielten sie ihr auch nichts vor.<br />

„Der Punkt ist.“, fuhr Finnegan fort. „Ich habe realisiert, dass mein


Ego mich blind machte. Alle haben sich über mich lustig gemacht, weißt<br />

du? Die ganze Akademie. >Faustschlag-Shan trifft Großmaul-Fin


mit langfristigem Nutzen abwiegen müssen. Nur Sie können diese<br />

Entscheidungen treffen, Shan. Manchmal sind sie schwer, manchmal...<br />

manchmal nicht. Aber immer werden sich Konsequenzen aus Ihrem<br />

Handeln ergeben. Glauben Sie mir. Ich kann davon ein Liedchen singen,<br />

wirklich.“<br />

Shan nickte langsam. Sie hatte nicht die Absicht, wegzusehen, sofern<br />

jemand litt und Hilfe benötigte, aber vielleicht musste sie sich in Zukunft<br />

an anderer Stelle mehr zurückhalten. „Was wird jetzt mit Jett passieren?“<br />

„Wir haben bereits Disziplinarmaßnahmen eingeleitet.“, sagte<br />

Janeway.<br />

Finnegan neben ihr seufzte. „Ich werde ein Jahr zurückgestuft.“<br />

„Wenigstens schmeißt man dich nicht raus, hm?“<br />

Janeway sah von einem zur anderen. „Ich schätze das ist ein<br />

hervorragender Moment, sich die Hände zu schütteln.“<br />

Was die beiden dann auch taten.<br />

„He, Bartez, eins würde ich gerne wissen: Was muss ich tun, um so<br />

kämpfen zu können, wie du?“<br />

Shan grinste schief, als sie an Katarina Mueller dachte. „Wissen, dass<br />

du gewinnst.“<br />

„Das kann aber keiner vorher wissen.“, meinte Finnegan. „Es gibt<br />

immer Variablen und unvorhergesehene...“<br />

„Du kannst alles schaffen. Wenn du es nur willst.“<br />

Langsam nickte Finnegan. „Wissen, dass du gewinnst. Hab<br />

verstanden.“ Er hob und senkte ihre Hände noch einmal. „Ach, und nur<br />

damit du es weißt... Ich mag dich immer noch nicht besonders.“<br />

„Damit kann ich leben.“, versicherte Shan mit einem dünnen Grinsen.<br />

Finnegan nickte, drehte sich auf dem Absatz herum und salutierte vor<br />

Janeway. Die erwiderte den Salut und gab ihm damit die Erlaubnis<br />

wegzutreten. Nachdem er gegangen war, wollte Janeway selbst zur Tür<br />

treten, wandte sich aber noch einmal zu Shan um.<br />

„Damit haben Sie all ihre guten Karten ausgespielt, Kadett.“ Sie<br />

seufzte. „Sie sind eine Löwin, Shan. Fähig, aber auch gefährlich. Ich bin<br />

davon überzeugt, dass irgendwo, ganz tief in Ihnen drin, ein<br />

hervorragender Offizier stecken könnte. Meine Geduld, darauf zu<br />

warten, dass er endlich an die Oberfläche kommt, ist aber erschöpft.<br />

Noch mal so ein Zwischenfall – ganz egal wie klein und wer ihn


egonnen hat – und ich werde Sie höchstpersönlich zur Tür begleiten.<br />

Haben Sie das Verstanden?“<br />

„Ja, Sir.“<br />

„Gut.“<br />

Die Tür schloss sich zischend, nachdem Janeway gegangen war und<br />

Barclay schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, während er sich hinter den<br />

Schreibtisch begab. Shan entging nicht, dass er dabei möglichst viel<br />

Abstand von ihr hielt, als hätte er Angst, dass sie ihn als nächstes<br />

verprügeln könnte. „Sie h-haben eine Menge Glück gehabt, Kadett.“<br />

„Glück?“, echote Shan. „Ich wurde schon wieder in eine Schlägerei<br />

verwickelt. Ich wurde schon wieder ermahnt. Ich fühle mich nicht<br />

besonders glücklich...“<br />

„Och d-doch, sie h-hatten Glück. Glück, dass Finnegan genug Klasse<br />

b-besitzt, die volle Verantwortung zu übernehmen. Er glaubt an die<br />

Ideale der Akademie, auch wenn er sie für einen Moment vergessen hhaben<br />

mag. Aber er glaubt an sie. D-das sollten Sie sich für die Zukunft<br />

merken.“<br />

„Ja.“ Sie sah zu ihm auf. „Ich gedenke sie zu ändern.“<br />

„P-Pardon?“<br />

„Ich möchte an den Kursen der Kadetten des diplomatischen Corpses<br />

teilnehmen, sobald der Frischlingsommer vorbei ist.“<br />

Barclay starrte sie über den Schreibtisch hinweg an. „S-sie w-wollen...<br />

w-was ist... was ist mit ihrem Sicherheitstraining?“<br />

„Überflüssig. Kämpfen kann ich, wie man sieht. Ich steige aus dem<br />

Sicherheitstraining aus. Ich muss viel lieber lernen, wie man Kämpfe<br />

vermeidet, anstatt zu lernen, wie man sie führt. Denken Sie nicht auch?“<br />

„A-aber, Sie haben schon zwei Mal die Hauptfächer gewechselt.“<br />

Shan bedachte ihn mit einem bedrohlichen Blick. „Was wollen Sie<br />

damit sagen?“<br />

„N-Nichts. Ich will damit gar nichts sagen.“ Barclay hob abwehrend<br />

seine Hände und verbarg sich dahinter. „Bitte schlagen Sie mich nicht.“<br />

Shan rollte die Augen.<br />

Als sie nach draußen auf den Korridor trat, war Shan alleine. Die


anderen hatten nicht auf sie gewartet. Wotan nicht und auch nicht Cera.<br />

Niemand hatte gewartet. Die Botschaft war unmissverständlich: sie<br />

wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben.<br />

Shan fühlte sich schrecklich isoliert und zurückgelassen. In solchen<br />

Zeiten gab es für gewöhnlich nur noch einen auf den sie sich verlassen<br />

konnte. Shan schickte die anderen gedanklich zum Teufel und begab sich<br />

auf die Suche nach Sortak.<br />

Unterwegs grüßte sie niemand. Im Gegenteil, man drehte sich sogar<br />

nach ihr um und warf ihr abschätzende Blicke entgegen, was Shan nicht<br />

verborgen blieb. Sie wich jedoch nicht vom Weg ab, der zu Sturaks<br />

Labor führte. Doch schon bald wurde sie langsamer, den sie hörte den<br />

Klang lauter Stimmen. Die eine erkannte sie augenblicklich als Sturaks.<br />

Die andere identifizierte sie kurz darauf als die ihres Freundes Sortaks.<br />

Die Stimmen waren leicht gedämpft, aber wirklich nur leicht, was darauf<br />

hindeutete, dass da drin ein ganz schönes Gebrüll vonstatten ging.<br />

„Wann bekommst du es endlich in deinen vulkanischen Sturkopf?“,<br />

brüllte Sortak gerade. „Ich habe ein Recht hier zu studieren, Vater!“<br />

„Das Recht!“ erwiderte Sturak. „Ausgerechnet du sprichst über<br />

Rechte. Ein Strafgefangener! Ich spreche über Geschichte, wenn ich<br />

sage, dass du ein Versager bist. Du warst es immer und du wirst es<br />

immer sein. Ich will nicht länger, dass du Schande über mich und deine<br />

Familie bringst!“<br />

„Bemerkenswert Eitel für einen gottverdammten Vulkanier, der ja ach<br />

so aufgeschlossen sein möchte. Unfassbar, wie sehr du dir einbildest, ein<br />

toleranter Vater zu sein.“<br />

„Es ist genauso bemerkenswert, dass du dir einbildest, du könntest von<br />

vorne beginnen.“<br />

„Mir ist egal, was du sagst. Du kannst mich nicht vertreiben.“<br />

„Das glaube ich, Sortak! Du hast bereits schmerzlich klargestellt, dass<br />

du auch weiterhin deine unerwünschte Anwesenheit aufzwingen wirst,<br />

ganz gleich, was alle anderen sagen. Oder stimmt das etwa nicht?“<br />

„Ach, du kannst mich mal!“


Mittlerweile hatte Shan das Zimmer erreicht, aus dem das Gebrüll<br />

stammte und überlegte, ob sie auf den Türmelder drücken sollte. Doch<br />

dann hörte sie, dass laute Schritte von der Tür näherten. Aus<br />

irgendeinem Grund kam sie sich wie ein Spitzel vor und trat zurück und<br />

drückte sich gegen die Wand, damit man sie nicht sofort sah. Die Tür<br />

öffnete sich zischend und Sortak stürmte heraus. Er hatte die Hände zu<br />

Fäusten geballt und das Kinn vorgeschoben. Er zitterte am ganzen Leib<br />

und Shan wurde klar, dass er sich mit aller Kraft bemühte, nicht die<br />

Beherrschung zu verlieren und einen Fehler zu wiederholen, der ihn<br />

schon einmal ins Gefängnis gebracht hatte.<br />

Er sah sie nicht einmal, als er sich nach rechts wandte und den<br />

Korridor entlang eilte.<br />

„Meinetwegen brauchst du gar nicht erst zurückzukommen!“, rief<br />

Sturak ihm hinterher. Die Tür schloss sich zischend wieder und Shan<br />

musste sich zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden: Sie konnte<br />

Sortak folgen. Sein Zimmer betreten. Mit ihm sprechen. Oder einfach<br />

davongehen und so tun, als hätte sie von dem Streit nichts<br />

mitbekommen. Sie entschied sich für die dritte Möglichkeit und stürmte<br />

in das Labor. Die Tür öffnete sich wieder, damit sie eintreten konnte,<br />

und schloss sich dann.<br />

Sturak saß zusammengesunken hinter seinem Schreibtisch und<br />

bemerkte sie erst, als sie direkt vor ihm stand und die Hände in die<br />

Hüften stemmte. Er sah zu ihr hoch und versuchte ein freundliches<br />

Lächeln zustande zu bringen. Es war wackliger, als ein Kartenhaus.<br />

„Shan.“, sagte er. „Es freut mich, dich zu-“<br />

Sie deutete zur Tür. „Warum hasst du ihn so sehr?“<br />

„Halte dich bitte daraus. Das geht dich nichts an.“<br />

„Nichts angehen?“, fragte Shan. „Nichts angehen? Ihr seid beide<br />

Familie für mich. Du... mein Onkel. Kein Blutsverwandter, aber<br />

Seelenverwandt. Sortak ist mein bester Freund. Mehr noch. Er ist für<br />

mich wie ein Bruder. Wenn ihm etwas zu schaffen macht, macht es auch<br />

mir zu schaffen.“<br />

„Ich weiß, dass du ihn magst...“<br />

„Und du hasst ihn.“<br />

„Shan, das ist persönlich. Eine... komplexe vulkanische<br />

Angelegenheit.“


Sie rollte mit den Augen. „Ach bitte. Weder du, noch Sortak - keiner<br />

von euch hat besonders viel mit einem normalen, logischen Vulkanier<br />

gemein. Ihr lasst Gefühle zu, wie jeder verdammte Mensch. Was hat er<br />

denn so schlimmes getan?“<br />

Sturak dachte lange über eine Antwort nach. Aber sie lies ihn erst gar<br />

keine formulieren. Shan hockte sich auf die Kannte seines<br />

Schreibtisches, wo auch der Urgon stand. „Wusstest du, wie ernst die<br />

Lage auf Frigoria für mich war?“, fragte sie ihn.<br />

„Natürlich. Ich war zutiefst besorgt.“<br />

„Ich auch, Sturak. Ich auch. Ich dachte ernsthaft ich würde in dieser<br />

Eishölle sterben. Es gab Momente.. in denen ich absolut davon überzeugt<br />

war, dass ich Mom... Dad... dich... Sortak... dass ich keinen von euch<br />

jemals wiedersehen würde. Das hat mir vor Augen geführt, wie<br />

gefährlich der Weltraum ist und wie schnell es vorbei sein kann.“<br />

„Das ist eine ... schwere Erfahrung, die du gemacht hast.“<br />

„Ich schätze vor allem ein Sternenflottenoffizier macht sie früher oder<br />

später, was? Man sollte meinen, dass man mit diesem Wissen im<br />

Hintergrund versucht, jeden Tag versucht, mit seinem Umfeld und<br />

seinen Mitmenschen im Reinen zu bleiben. Sich nicht mit jemandem zu<br />

zerstreiten, niemanden zu beleidigen...“<br />

„...niemanden zu verprügeln?“<br />

Sie ignorierte seinen Kommentar. „...denn, wenn es einen plötzlich<br />

erwischt, wird man keine Gelegenheit mehr haben, sich zu<br />

Entschuldigen und die Dinge zu klären. Dabei fehlt doch oft nur so<br />

wenig zu Versöhnung. Ein erklärendes Gespräch. Eine Entschuldigung.<br />

Ein Bitte. Ein Danke.“<br />

Sturak hob eine Braue. „Warum habe ich das Gefühl, dass du von mir<br />

sprichst, nicht von dir?“<br />

Shan zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, warum du das meinst.<br />

Schlechtes Gewissen?“<br />

Sturak dachte einen Moment über ihre Worte nach. Er wusste natürlich<br />

ganz genau, worauf Shan hinaus wollte. Dann spitzte er trotzig die<br />

Lippen. „Nein. In Anbetracht der Geschehnisse, halte ich es für<br />

angebracht und für gerechtfertigt, durchaus... ärgerlich zu sein. Es ist<br />

mein gutes Recht.“


„Hier geht es aber nicht um Recht und Unrecht, sondern das, was<br />

richtig ist! Er hat einen Fehler gemacht, Sturak. Schön. Fein. Haben wir<br />

jetzt alle kapiert. Jeder schießt mal besonders großen Bockmist.“<br />

„Er hat mich belogen.“<br />

„Um dich zu schonen.“<br />

„Ich hätte es verkraftet.“, behauptete Sturak.<br />

„Wirklich? Verkraftest du es denn jetzt?“<br />

Daraufhin gab der Vulkanier keine Antwort.<br />

Sie betrachtete ihn einen Augenblick lang, als sie überlegte, ob sie<br />

fortfahren solle, oder nicht. Doch nachdem sie bereits so weit gegangen<br />

war, konnte sie wohl kaum noch zurück. „Ich verstehe ja, dass du sauer<br />

auf ihn bist, weil er T’Puls Krankheit wusste und du nicht. Du machst<br />

ihm Vorwürfe, weil er dir die Wahrheit nicht anvertraute, gib es zu. Aber<br />

ihren physischen Zustand vor dir geheim zu halten war nicht seine<br />

Entscheidung. Es war ihre.“<br />

„Vielleicht hätte ich aber ein Heilmittel finden können und-“<br />

„Es war ihre Entscheidung! Ihre ausdrückliche Bitte.“<br />

Sturak seufzte. „Ich weiß.“, sagte er zerknittert und leise. „Ich weiß es<br />

ja. Sie wollte mich schonen. Wollte nicht, dass ich mir Sorgen mache.<br />

Also verschwieg sie mir ihr Leiden. Dabei waren die Anzeichen da. Ich...<br />

ich sah sie nur nicht... bis es zu spät war. Und ich nur noch um sie<br />

trauern konnte.“ Er atmete tief ein. „Ja, vielleicht hätte ich ihm nicht zum<br />

Vorwurf machen sollen, dass er nichts sagte. Er wollte ihren Wunsch<br />

respektieren – ob ich das gut finde, oder nicht. Aber das ist noch lange<br />

keine Entschuldigung für das, was Sortak danach getan hat. Er hätte<br />

diese Wachmänner fast umgebracht! Einer hat so irreparable Schäden am<br />

Rückenmark davongetragen, dass er noch immer auf einen Rollstuhl<br />

angewiesen ist.“<br />

„Eine Entschuldigung ist es gewiss nicht, nein. Aber vielleicht eine<br />

Erklärung. Sortak hat ein Ventil gebraucht, Sturak. Um seine Wut und<br />

Verzweiflung irgendwie zu verarbeiten. Über sich, über den Tod, über<br />

die Unfähigkeit der Medizin... und über dich. Du kennst ihn doch, er<br />

frisst für gewöhnlich alles in sich hinein, bis irgendwann die Pferde mit<br />

ihm durchgehen. Vielleicht ist daran auch der Vater schuld, der sich<br />

weigerte ihn nach vulkanischer Tradition großzuziehen, hm?“


Sturak warf ihr einen finsteren Blick zu. „Ich wollte, dass er seinen<br />

eigenen Weg geht. Selbst entscheiden kann, ob er irgendwann das<br />

Kohlinar durchführen möchten oder nicht. Hätte ich geahnt, dass er<br />

ausgerechnet diesen Weg nimmt...“<br />

„Hast du überhaupt eine Ahnung.“, fuhr sie fort. „Warum er damals in<br />

die Laboratorien eingebrochen ist? Hm? Ich wette nicht. Du hast ihn ja<br />

kaum noch wahrgenommen. Ich sag dir, was er dort wollte. Er war nicht<br />

auf der Jagd nach geldbringenden Forschungen, um wieder über Wasser<br />

zu kommen, wie die Justizabteilung später behauptete. Für sie war er ja<br />

nur ein herumlungerndes Straßenkind. Ein Rowdie. Leider wehrte er sich<br />

ja nicht einmal gegen diese Vorwürfe. Er sagte gar nichts vor Gericht,<br />

wie du vielleicht weißt. An diesem Abend war er in das Labor<br />

eingebrochen, um Dampf abzulassen. Purer Vandalismus. Er hatte die<br />

Wissenschaftler angefleht, als T’Puls Krankheit im Endstadium war,<br />

aber sie hatten ihm nicht helfen können und irgendwie war er an diesem<br />

Abend wohl so weggetreten, dass er rot sah. Aus Wut über die<br />

Wissenschaftler. Aus Wut über sich. Eine dumme Aktion – ja. Ich will’s<br />

gar nicht verherrlichen und schönreden. Aber er hatte seine Gründe.“<br />

Sie hielt inne, damit ihre Worte Eindruck machen konnten. „Ich habe<br />

mitbekommen wie ihr euch auseinandergelebt habt, Sturak. Und ehrlich<br />

gesagt... du hast ihn in dieser schlimmen Phase ganz schön allein<br />

gelassen. Ich meine, jedes Mal, wenn ich bei euch in der neuen<br />

Wohnung zu besuch war... Nach T’Puls Tod hast du nur noch in deinem<br />

Arbeitszimmer gelebt, unablässig über alte Folianten und Relikte<br />

gebeugt. Die Vergangenheit war für dich lebendiger gewesen, als die<br />

Gegenwart, gib es zu. Man hat sich ja nur eure Wohnung ansehen<br />

müssen. Aber sie hat nicht nur dir gefehlt. Jedes Zimmer bewies:<br />

nirgends ein Hauch von Weiblichkeit. Nichts weiches, keine Farben. Nur<br />

elektronische Bücher, und Altertümer, wohin man blickte. Sauber<br />

gemacht hat so gut wie niemand. Sortak hatte das Gefühl, du hättest dein<br />

Leben auf deine Arbeit beschränkt.“<br />

„Willst du auf etwas Bestimmtes hinaus?“, fragte Sturak und bemühte<br />

sich, geduldig zu klingen. Shan fuhr fort, als hätte er nichts gesagt: „Gib<br />

es zu ohne T’Pul fehlte die Brücke zwischen euch beiden. Nach ihrem<br />

Tod habt ihr keinen Weg mehr zueinander gefunden. Wann immer<br />

Sortak sie erwähnte, oder irgendetwas, das mit ihr in Verbindung stand,


hättest du ihm nur einen eisigen Blick zugeworfen und das Thema<br />

gewechselt. Oder ihm eine Menge Arbeit aufgetragen, die er nicht<br />

bewältigen konnte. Und Sortak war zu stolz um zu stöhnen. Um zu<br />

schluchzen, oder ein >bitte hilf mir!< zu jammern. Er hielt sich<br />

stattdessen mehr und mehr auf der Straße auf und verwickelte sich in<br />

Schlägereien, weil er keinen anderen Weg, mit seiner Trauer fertig zu<br />

werden, kannte. Und nun, Sturak... vergleiche seine Unfähigkeit mit<br />

T’Puls Tod umzugehen, mit deiner. Du sprichst davon, wie schwer es für<br />

dich war. Wie sehr du gelitten hast. Aber was ist mit Sortak? Er hat nicht<br />

nur seine Mom in jener Nacht verloren... sondern auch seinen Dad.“ Sie<br />

lies einen Moment der Stille einkehren. Dann sagte sie: „Willst du<br />

wissen, was ich sehe, wenn ich euch beide nun betrachte? Ich sehe zwei<br />

Vulkanier, die verdammt noch mal zu stur sind, um ihre Prinzipien auf<br />

ihr eigen Fleisch und Blut anzuwenden.“<br />

Sturak atmete tief an. „Das ist weder der richtige Ort, noch die richtige<br />

Zeit.“<br />

Shan rollte die Augen. „Sturak, vielleicht bin ich ja bloß eine naive<br />

Bruchpilotin, aber eines weiß ich mit medizinischer Gewissheit – Fleisch<br />

und Blut leben nicht ewig. Wenn du zu lange wartest, um Frieden mit<br />

ihm zu schließen, werdet ihr die Möglichkeit verpassen. Und das wird<br />

jeder von euch beiden bedauern, da bin ich mir sicher. Er ist jetzt hier. Er<br />

sucht einen Weg zu dir durchzudringen. Gib ihm eine Chance. Gib ihm<br />

Gelegenheit sich zu beweisen. Vielleicht... wird es die letzte sein.“<br />

Sturak sagte nichts.<br />

Shan glitt vom Schreibtisch und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen<br />

und drehte sich zu ihm um. „Ich werde dir jetzt nicht sagen, was du zu<br />

tun hast, Sturak. Aber wenn ich du wäre, würde ich es Sortak ein wenig<br />

einfacher machen... nur ein wenig. Denn sehen wir den Tatsachen ins<br />

Auge: Er ist hier. Er hätte überall hinrennen können, aber er ist hier. Er<br />

versucht sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Und gegen alles,<br />

was er durchgemacht hat, ist das doch nur eine Kleinigkeit.“<br />

Dann ging sie hinaus und lies Sturak mit seinen Gedanken alleine.<br />

Persönliches Logbuch,


Sha’Nyn Bartez<br />

Nachtrag<br />

Hey, Dad,<br />

Ich vermisse euch. Im Augenblick... vermisse ich euch sogar sehr. Ich<br />

muss gestehen, dass es mir nicht besonders gut geht und ich wollte mir<br />

einfach ein paar Dinge von der Seele reden. Außer diesem Logbuch hört<br />

mir keiner mehr zu. Was passiert ist, fragst du? Nun, die Dinge sind<br />

etwas aus dem Ruder gelaufen. Etwas... Genaugenommen ist es sogar<br />

ein richtiges Desaster. Ich habe wirklich daneben gehauen, diesmal.<br />

Nun, nicht ganz daneben gehauen... aber... Uh. Ich erspare dir die<br />

Details, du wirst es sowieso hören, oder längst gehört haben. Und<br />

vermutlich auch noch auf einer merkwürdigen Art und Weise Stolz sein.<br />

Ich bin jedenfalls nicht stolz. Ich meine, ich will mich nicht rechtfertigen<br />

– sicher nicht. Dazu besteht kein Grund. Ich habe getan, was ich für<br />

richtig hielt und das tue ich jederzeit wieder. Dennoch wünschte ich, die<br />

Konfrontation mit Finnegan wäre anders gelaufen.<br />

Als ich trotz vermeintlicher Ursache der Schlägerei nicht aus der<br />

Akademie entlassen wurde, hatte ich fast eine Welle des Protests<br />

erwartet. Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Anscheinend sind die<br />

meisten Sternenflottenkadetten aus einem anderen Holz geschnitzt. Oder<br />

aber die zusätzliche Arbeit, die uns allen als Strafe aufgebrummt wurde,<br />

hat die meisten Gedanken an Rebellion erstickt. Andererseits begegne<br />

ich auch keinerlei Versuchen mir zu zeigen, ich sei weiterhin an der<br />

Akademie willkommen. Viele drehen die Köpfe nach mir um und tuscheln<br />

hinter meinem Rücken, wenn ich an ihnen vorbeikomme. Es wird auch<br />

mit dem Finger auf mich gezeigt. Zwar immer nur dann, wenn sie<br />

denken, ich würde es nicht merken, aber andererseits geben sie sich<br />

auch nicht besonders viel Mühe ihre Antipathien zu verbergen.<br />

Als ich gestern in der Mensa war, hatte Cartman über seiner Mahlzeit<br />

am Tisch gesessen und nur kurz aufgeschaut. „Oh. Noch hier?“, hatte er<br />

gefragt. Er schien weder wütend, noch frustriert, oder froh, oder sonst<br />

was zu sein. Er hatte einfach nur meine Anwesenheit zur Kenntnis<br />

genommen. Und ganz ähnlich verhält es sich mit dem Rest der Kadetten.<br />

Stets scheint dieses „Oh. Noch hier?“ in der Luft zu schweben. Niemand<br />

wirft direkt mit Steinen nach mir, aber andererseits reicht mir auch


keiner mehr die Hand. Lieber gehen sie mir aus dem Weg. Vermutlich<br />

aus Angst, ich könnte sie in Schwierigkeiten bringen. Ironischerweise<br />

verhält es sich mit unserer Lerngruppe – den Leuten, die mich immerhin<br />

ein bisschen besser kennen sollten – auch nicht anders. Wo ich erwartet<br />

hätte Unterstützung zu finden – da wir ja nun alle die Ausgestoßenen<br />

sind -, finde ich mich auch nur alleine wieder. .<br />

Sie nennen uns den Punch-Squad – die Faustschlagtruppe -, weil wir<br />

uns offenbar gerne prügeln. Leider kann man von einer Gruppe nicht<br />

mehr sprechen. Seit der Massenschlägerei und Janeways Standpauke,<br />

haben wir uns kaum noch versammelt – weder zum Lernen, noch zum<br />

Essen, oder für andere Aktivitäten. Und wenn doch, dann nur in kleinen<br />

Grüppchen, und die Stimmung war jedes Mal derart im Keller, dass sich<br />

alle schon nach kurzer Zeit ankeiften, und schnellstens wieder getrennte<br />

Wege gingen. Jeder gibt dem anderen die Schuld an dem Vorfall. Jeder<br />

ist auf jeden wütend... und vor allem scheint jeder wütend auf mich zu<br />

sein. Nun... ich kann’s ihnen nicht einmal verübeln.<br />

Cera ist die einzige, die sich noch normal zu mir verhält.... - Wenn<br />

man es als normal ansieht, dass sie wie eine Klette an mir klebt. Seit ich<br />

sagte, ich würde ihr bei ihren Aufgaben helfen, kommt sie wegen jedem<br />

Problem angerannt. Selbst die einfachsten Aufgaben begreift sie nicht.<br />

Ich will nicht gemein sein und erst recht nicht arrogant klingen, aber im<br />

Moment nervt mich Cera mit ihrer Begriffsstutzigkeit fürchterlich. Hätte<br />

besser meinen Mund gehalten. Aber wie konnte ich auch wissen, dass sie<br />

so viel Hilfe braucht? Ich komme mit meinen eigenen Aufgaben kaum<br />

hinterher. Wie soll ich welche für zwei erledigen?<br />

Von Wotans Seite kann ich auch keine Unterstützung erwarten. Seit<br />

der Schlägerei ist er zu nichts mehr gebrauchen. Er fühlt sich schuldig<br />

und schäbig, weil er Tala im Moment größter Not alleine ließ. Für<br />

Andorianer ist solch ein davonstehlen von der Schlacht das Schlimmste<br />

überhaupt. Dass Tala ihn dann auch noch dauernd auf - wie ich finde -<br />

bösartige Weise mit diesem Pussy-Cat-Spruch aufzieht, trägt nicht dazu<br />

bei, seine Laune zu bessern. Die meiste Zeit lässt er die Ohren hängen<br />

und fiebt und mäupst erbärmlich. Und reichlich. Im Gegenzug spricht er<br />

kaum noch. Ich hätte zwar nie gedacht, dass ich sein Geplapper<br />

vermissen würde, aber es ist so.<br />

Yoko und Grau machen sowieso einen Bogen um mich. Bin wohl nicht


Sternenflottig genug für die beiden.<br />

Durkin benimmt sich noch verhältnismäßig normal. Aber was immer<br />

sie ihm in den Kursen der Diplomaten beizubringen versuchen – sie<br />

reden ganz offensichtlich gegen eine Wand! Seit er sich mit Tala ein<br />

Zimmer teilt, liegen sie sich jedenfalls ständig in den Haaren – sogar<br />

noch schlimmer als üblich. Zumindest haben sie es bisher geschafft, sich<br />

nicht gegenseitig umzubringen.<br />

Galak lebt auch noch, obwohl er sich ein Zimmer mit Sortak teilen<br />

muss, aber seit der Schlägerei habe ich ihn kaum gesehen. Geht er mir<br />

nun etwa aus dem Weg, weil Sortak ihn verprügelte? Wegen mir, wie ich<br />

hörte? Oder hat das einen anderen Grund? Ich weiß nicht. Aber<br />

irgendwie... irgendwie vermisse ich seine Gegenwart.<br />

...<br />

Computer, letzten Satz streichen.<br />

...<br />

Und Sortak? Heh – ich habe es tatsächlich geschafft, die einzige<br />

Person im Universum, auf die ich mich verlassen kann zu verärgern.<br />

Nun... nicht ich allein, sein Vater ist wohl der Hauptgrund. Aber ich<br />

komme einfach nicht mehr an Sortak ran. Er wird aufgefressen von Wut<br />

und Frustration. Er hat sich komplett von uns anderen zurückgezogen<br />

und lässt niemanden durch seine Schutzschilde. Ich habe versucht mit<br />

ihm zu sprechen. Ich habe versucht mit den anderen zu sprechen.<br />

Zwecklos. Es ist, als würde ich Fremden begegnen.<br />

Alles ist auf einmal anders, weißt du? Das ist das Problem mit<br />

Veränderungen. Sie kommen immer abrupt. Ich meine, ich bin kein Kind<br />

mehr. Technisch gesehen schon, aber ... du weißt, was ich meine. Und<br />

ich weiß, dass es im Leben um Veränderungen geht – um gute und um<br />

schlechte. Darüber zu heulen, bringt nichts. Veränderungen passieren<br />

einfach, ob wir wollen, oder nicht. Am Ende kommt es nur darauf an, mit<br />

den neuen Begebenheiten umzugehen und sich anzupassen. Es ist nur...<br />

Freundschaften werden geschlossen, Freundschaften fallen<br />

auseinander... und es ist verdammt unfair.<br />

Ich vermisse meine alte Schule. Ich vermisse mein altes Leben.<br />

Shan.


Wendepunkte<br />

Als Captain Matthew Bartez fünf Tage nach der geschichtsträchtigen<br />

Massenschlägerei den Klassenraum betrat, und den Unterricht der jungen<br />

Kadetten aufnahm, brachen die Schüler in ohrenbetäubenden Applaus<br />

aus. Alle erhoben sich von ihren Sitzen und jubelten der lebenden<br />

Legende, von der sie bereits so viel gehört hatten, begeistert zu. Alle, bis<br />

auf Shan. Sie blieb mit verdrossener Mine sitzen, wo sie war, und kochte<br />

ungestört vor sich hin, während die anderen mit an Wahnsinn<br />

grenzendem Elan in die Hände klatschten. Ein paar pfiffen sogar.<br />

Vermutlich weil sie annahmen, dass sich das positiv auf ihre Noten<br />

auswirken würde, was, wie Shan ihren (etwas) selbstverliebten Vater<br />

kannte, gar keine dumme Einschätzung war.<br />

Matt winkte mit roten Wangen ab und versuchte den Anschein zu<br />

erwecken, dieser Ausdruck von Respekt sei doch gar nicht nötig. In<br />

Wirklichkeit war er aber sehr geschmeichelt und man sah ihm deutlich<br />

an, wie sehr er das Rampenlicht genoss, in dem er nun wieder stand.<br />

„Aber, aber.“, sagte er dennoch. „Das ist doch nicht nötig.“<br />

„Doch, Sir.“, sagte ein Kadett aus der ersten Reihe, der besonders<br />

enthusiastisch applaudierte. „Das ist es.“ Sein Name war Jubal, Sohn<br />

eines hohen Admirals. Er hatte – wie die meisten – große<br />

Karriereambitionen und auch er tat alles, um Beziehungen zu schließen<br />

und die Weichen für eine glorreiche Karriere zu stellen – und dieses Ziel<br />

verfolgte er sogar noch weitaus härter als Galak. Genaugenommen war<br />

Galak gegen ihn sogar ein zurückhaltendes Mauerblümchen. Kurz<br />

gesagt: jeder auf dem Campus kannte Jubal als schrecklichen<br />

Arschkriecher. Matt schien davon nichts zu bemerken.<br />

Jubal beteuerte: „Um ehrlich zu sein, Sir, in dieser Klasse gibt es<br />

einige Leute, die ihre Großmutter verkaufen würden, nur um Ihren<br />

Geschichten eine Stunde lang zu lauschen. Ach, was rede ich da? Nicht<br />

nur bezüglich Ihrer Abenteuer sind wir – allen voran ich natürlich – sehr<br />

neugierig, sondern auch über Sie selbst. Sie hatten eine furchtbar<br />

beeindruckende Karriere.“<br />

„Sie war... interessant.“, gab Matt zu.


„Sie sind zu bescheiden, Sir.“<br />

„Oh ja. Zu bescheiden.“, pflichtete ein anderer Kadett ihm bei.<br />

Shan rollte die Augen.<br />

Als sie vor drei Wochen erfahren hatte, dass ihr Vater Belars Kurs<br />

übernehmen würde, war sie nicht besonders begeistert gewesen. Sie hatte<br />

mit überschwänglicher Begeisterung seitens der anderen Kadetten<br />

gerechnet und sich während schlafloser Nächte fürchterliche Dinge<br />

ausgemalt. Und wie sich nun herausstellte, traf das alles ein. Den meisten<br />

Kadetten merkte man die Aufregung, von einer solch berühmten Person<br />

unterrichtet zu werden, deutlich an. Ob es sich nun um eine kurzfristige<br />

Vertretung handelte, oder nicht. Die einzigen, die weniger euphorisch<br />

reagierten, waren die übrigen Mitglieder aus Shans ehemaliger<br />

Lehrgruppe, was aber vermutlich daran lag, dass sie alle viel zu sehr<br />

damit beschäftigt waren, sich gegenseitig anzugiften. Da war Wotan, der<br />

versuchte Talas spitzen Bemerkungen aus dem Weg zu gehen, da war<br />

Durkin in der ersten Reihe, der jede freie Minute dazu nutzte, sich von<br />

seiner gemeinsamen Zeit mit Tala zu erholen und da waren Cera, Yoko<br />

und Grau, die sich gegenseitig ignorierten.<br />

Und da war Sortak in der letzten Reihe.<br />

Shan drehte den Kopf zu ihm um. Sie hatte Sortak seit einigen Tagen<br />

nicht gesehen. Er war nicht mehr zu ihren üblichen gemeinsamen<br />

Mahlzeiten erschienen und hatte gesagt, er ziehe es vor, auf seinem<br />

Zimmer, oder überhaupt nicht zu essen. Er war ihr und den anderen aus<br />

dem Weg gegangen und hatte Erschöpfung vorgeschoben und behauptet,<br />

ihm stecke vermutlich eine Grippe in den Knochen. Er war ein schlechter<br />

Schwindler. Shan wusste, dass er sich –welch Ironie - in die Arbeit<br />

gestürzt und viele Stunden lang immer wieder verschiedene Texte<br />

gelesen hatte. Vermutlich, um sich von seinem Vater abzulenken, davon<br />

war Shan überzeugt. Denn eigentlich hatte jemand wie Sortak es sicher<br />

nicht nötig, diese relativ einfachen Texte, immer und immer wieder<br />

durchzugehen. Andererseits, dachte sie, war er sie auch schon vorher<br />

immer wieder durchgegangen...<br />

Dennoch, nachdem sie Sortak eine Zeitlang nicht mehr gesehen hatte,<br />

empfand sie nun eine gewisse Besorgnis. Irgendwie wirkte er nicht mehr<br />

so robust wie früher. Seine Augen schienen etwas eingefallen zu sein, als<br />

hätte er in letzter Zeit nicht mehr besonders gut geschlafen. Er hatte


eindeutig abgenommen. Er sah zwar nicht gerade krank aus, doch diese<br />

subtilen Veränderungen, die jedem anderen, nur Shan nicht, entgangen<br />

wären, reichten aus, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie hätte ihm<br />

gerne zur Seite gestanden, doch einerseits war ihr klar, dass sie nicht an<br />

ihn rankam, wenn er das nicht wollte, und andererseits, hatte sie genug<br />

eigene Probleme zu bewältigen. Und das größte davon stand momentan<br />

am Lehrerpult.<br />

Der Applaus legte sich allmählich und Matt räusperte sich. „Einen<br />

schönen guten Tag, Kadetten. Die meisten werden es wohl schon wissen,<br />

mein Name ist Matthew Bartez. Aber es reicht, wenn Ihr mich Matt<br />

nennt. Und das dort drüben in eurer Mitte“, fügte er hinzu. „ist meine<br />

bezaubernde Tochter Shan.“ Matt gestikulierte, als würde er eine<br />

königliche Hoheit vorstellen. „Hallo, Liebling. Deine Mom lässt dich<br />

herzlich grüßen.“<br />

Shan stöhnte und duckte sich so tief sie nur konnte, ohne unter den<br />

Tisch zu krabbeln.<br />

„Ich werde Admiral Belar vertreten, bis der gute wieder auf den<br />

Beinen ist, von der Grenze abgezogen werden und hier herkommen kann<br />

– was eine Weile dauern könnte. Mit etwas Glück, werden wir das ganze<br />

nächste Semester zusammen verbringen.“<br />

Das war der Zeitpunkt, an dem Shans Kehle ein noch viel lauterer<br />

Seufzte entsprang. Einige Kadetten kicherten boshaft, während andere<br />

mit Erstaunen reagierten. Sie konnten Shans offenkundige Abneigung<br />

nicht verstehen, wo es doch eine solche Ehre war, jemanden wie Matt<br />

Bartez zum Vater zu haben. Matt schien dem keine Beachtung zu<br />

schenken. Lediglich ein kurzer Moment, in dem er die Mundwinkel zu<br />

einem verständnisvollem Lächeln hob, offenbarte, dass er sehr wohl<br />

verstand. Aber der Moment war so kurz bemessen und verschwand so<br />

schnell wieder, dass kaum jemand davon etwas mitbekam, zumal die<br />

Aufmerksamkeit der Kadetten in diesem fraglichen Moment ohnehin<br />

eher auf Shan ruhte, als auf ihm.<br />

„Ich weiß, wie es euch Kindern geht.“, leitete er eine kleine Rede ein,<br />

darauf achtend, seine Tochter nicht direkt anzusehen. „Hier an der<br />

Akademie ist alles sehr aufregend und verwirrend. Ja sogar anstrengend.<br />

Es gibt tausend Dinge die euch im Kopf rumspuken. Gleichzeitig spielen<br />

eure Hormone verrückt und ganz nebenbei gilt es auch noch den


Unterricht zu meistern. Ich sag euch: Teenager zu sein ist wie in einem<br />

Krieg zu kämpfen. Im einen Moment kriecht man noch geblendet über<br />

den Boden, auf der Suche nach seinem Gewehr, und im nächsten<br />

Moment verliert man seinen Kopf, nur um kurz darauf völlig perplex<br />

nackt in einem Bett aufzuwachen, und sich zu fragen, was zur Hölle man<br />

da letzte Nacht getan hat. Und vor allem: wie oft man es getan hat.“<br />

Gelächter erfolgte. Jubal jubelte am lautesten – und am künstlichsten.<br />

Offenbar schien er kein bisschen zu bemerken, wie lächerlich er sich<br />

machte.<br />

„Ernsthaft: das Leerpersonal weiß, was in euch vorgeht. Wir waren<br />

alle mal jung. Und diese Zeit haben wir sicher nicht vergessen.<br />

Verdrängt vielleicht, aber nicht vergessen. Dennoch wird der Unterricht<br />

von nun an stetig härter und ihr müsst, um mitzukommen, doppelt so<br />

schnell laufen wie bisher. Also versucht euch zu konzentrieren und gut<br />

aufzupassen. Habt keine Angst, ein Schwamm zu sein. Saugt alles auf,<br />

was ihr kriegen könnt. Also.“, sagte er und lehnte an den Lehrerpult. „Ihr<br />

habt alle hart trotz Admiral Belars Ausfall gelernt, ja?“<br />

Fast alle Kadetten nickten. Jubal - wie sollte es auch anders sein - am<br />

eifrigsten.<br />

„Gut. Dann brauche ich mir jetzt keine Ausreden wie >ich habe<br />

nichts davon gehört< oder >mir hat keiner was gesagt< oder andere<br />

solcher Verschwendungen von Atem, Zeit und Glaubwürdigkeit<br />

anzuhören.“<br />

Fast alle Kadetten schüttelten den Kopf. Jubal... ihr wisst schon.<br />

„Sehr gut. Also, berühmte Schlachten, die anders ausgegangen wären,<br />

hätte der Faktor Glück keine erhebliche Rolle gespielt. Wer möchte seine<br />

Fallstudie als erster vortragen?“<br />

Ein Dutzend Finger gingen hoch. Auch Jubal hob augenblicklich die<br />

Hand und sah noch einmal auf seinen elektronischen Datenblock, um<br />

sich zu vergewissern, dass er seine Informationen auch richtig<br />

zusammengestellt hatte. Dann warf er einen erwartungsvollen Blick zu<br />

Matt, der durch die Gesichter sah. „Hmmm.... Shan.“<br />

Shan, die mehrere Reihen hinter und rechts von ihm saß, schaute<br />

verwirrt auf. „Dad! Ich hab nicht aufgezeigt!“<br />

„Aber ich habe dich aufgerufen. Also?“<br />

Nun richteten alle Kadetten im Raum ihre Aufmerksamkeit von Matt


auf Shan. Die spürte die kollektiven Blicke auf sich ruhen und bedachte<br />

im Gegenzug ihren Vater mit einem giftigen Blick. So etwas konnte sie<br />

nun absolut nicht gebrauchen. Es waren ohnehin schon alle schlecht auf<br />

sie zu sprechen. Das würde sich garantiert nicht ändern, wenn Matt<br />

Bartez, ihr Vater, sie bevorzugte.<br />

„Schön.“, sagte sie mit geschürzten Lippen. „Du willst eine Schlacht,<br />

die uns als Warnung, denn als Nachahmung dienen soll? Fein. Ich hab<br />

eine Schlacht ausgewählt, in der jemand ziemlich berühmtes etwas völlig<br />

idiotisches getan hat.“<br />

Shan erhob sich und Matt ahnte, was nun kommen würde. Er behielt<br />

recht.<br />

„Die Schlacht, die ich ausgewählt habe“, sagte sie. „ist das<br />

Eingekreist-Gefecht aus dem Jahr 2388. Die USS Starfury, unter dem<br />

Kommando eines gewissen...“ Sie tat so, als müsse sie auf ihren<br />

Datenblock sehen, um sich zu vergewissern. „...Matthew Bartez, stellte<br />

sich auf ihrer Flucht vor der Sternenflotte dem Flaggschiff USS<br />

Enterprise-E, unter dem Kommando von Jean-Luc Picard.“<br />

Angesichts von Shans unmissverständlicher Aufmüpfigkeit, schien<br />

die Temperatur im Klassenzimmer um mindestens zwanzig Grad zu<br />

fallen. Die Kadetten drehten sich langsam zum Pult, um Matts Reaktion<br />

darauf zu sehen. Seine Mine blieb unlesbar. „Fahr fort.“<br />

„Die Schlacht.“, begann Shan „fand statt, weil die Crew der Starfury<br />

hinter die Machenschaften einer Geheimorganisation namens Sektion 31<br />

zu kommen drohte. Als Reaktion darauf, belastete Sektion 31 die<br />

Führungsoffiziere der Starfury, um sie innerhalb der Sternenflotte in<br />

Ungnade fallen zu lassen. Den Führungsoffizieren gelang jedoch, ehe sie<br />

in Gewahrsam genommen und mundtot gemacht werden konnten, die<br />

Flucht mitsamt Schiff und die ganze Flotte wurde mobilisiert, um sie<br />

wieder einzufangen, allen voran die Enterprise-E. Es gelang der Crew,<br />

die Starfury recht schnell aufzuspüren, ihnen den Rückweg<br />

abzuschneiden und sie zu stellen.“<br />

Es wurde still in der Klasse. Matt sah seine Tochter eine ganze Weile<br />

an. Dann lächelte er plötzlich. „Sehr gut, Spätzchen.“<br />

Shan blinzelte verwirrt. „Sehr gut?“ Das hatte sie nicht erwartet.<br />

„Du hast ein ausgezeichnetes Beispiel gewählt. Diese Schlacht ist ein<br />

Paradebeispiel dafür, dass Glück oftmals eine erhebliche Rolle spielt.


Nicht nur was ihren Ausgang betrifft, sondern auch ihren Anfang, da es<br />

im Weltraum für einen Suchtrupp sehr schwer ist ein Schiff aufzuspüren,<br />

das um jeden Preis verborgen bleiben will. Wie konnte die Enterprise<br />

uns also erst finden? Wer kann mir das sagen?“<br />

Erneut reckten die Kadetten ihre Hände.<br />

„Hm... Shan.“<br />

Selbstverständlich hatte sie auch diesmal nicht aufgezeigt. „Dad!“<br />

Er blockte ihren Protest mit einem sanften Lächeln ab. „Deine<br />

Antwort, Schatz?“<br />

Shan spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, einfach zu<br />

sagen, sie wisse es nicht. Dann jedoch, beschloss sie eine andere, viel<br />

bessere Taktik. Und zwar, eine falsche Antwort zu geben.<br />

„Die Yridianer gaben ihnen den entscheidenden Hinweis?“<br />

„Das ist richtig.“<br />

„Was?! Das war überhaupt nicht richtig! Die Enterprise hat euch nur<br />

zufällig gefunden, weil Picard mehr oder weniger deine Taktik<br />

durchschaut hat.“<br />

Matt lächelte gewinnend. „Siehst du? Du weißt es also doch.“<br />

Shan grummelte etwas.<br />

„Was hast du gesagt?“<br />

„Nichts.“, brachte sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor.<br />

Ein paar der Kadetten kicherten.<br />

„Die Schlacht gegen die Enterprise-E“, griff Matt den Faden wieder<br />

auf. „war aussichtslos. Wir hatten ein viel kleineres Schiff.<br />

Waffentechnisch weit unterlegen. Meine Crew war müde, angespannt<br />

und angeschlagen. Wir hatten eine Menge hinter uns. Und noch mehr vor<br />

uns. Im Kampf für die Föderation und deren Ideale, sahen wir uns nun<br />

mit unseren eigenen Leuten konfrontiert. Durch die Bemühungen der<br />

Sektion 31 hielten sie uns für die Feinde.“ Er machte eine Pause, die<br />

Kadett Jubal nutzte, um sich in den Vordergrund zu spielen. „Aber wie<br />

wir alle wissen“, sagte er. „gehört Captain Picard zu einem der größten<br />

Männer der Flotte. Soweit ich gehört habe war er gewillt sie anzuhören<br />

da er selbst misstrauisch war, was die Anklagepunkte betraf.“<br />

„Ja, er war tatsächlich gewillt sich unsere Version der Geschichte<br />

anzuhören.“, erwiderte Matt. „Die Sache ist nur so... ich war nicht bereit<br />

auf sein Angebot einzugehen. Das Risiko war mir zu groß. Wir wussten


nicht, wie weitreichend die Verschwörung innerhalb der Flotte war. Wir<br />

konnten niemandem trauen. Auch Picard nicht. Ich beschloss also, dass<br />

wir uns den Weg freikämpfen würden.“<br />

Ein leises Raunen ging durch die Klasse.<br />

Matt nickte. „Den Befehl das Feuer auf eines unserer eigenen Schiffe<br />

zu eröffnen, war der schwerste, den ich je gegeben habe.“<br />

„Aber... Sie schafften es doch, nicht wahr? Sie gewannen ganz<br />

offensichtlich.“<br />

„Falsch, Jubal. Wir unterlagen. Haushoch sogar. Sicher, wir wehrten<br />

uns so gut wir konnten, und schafften es mithilfe einiger unschöner<br />

Tricks sogar, die Enterprise beinahe Manövrierunfähig zu feuern. Am<br />

Ende jedoch kam es auf einen Bluff an – auf einen Bluff, der nicht<br />

aufging. Ein Schuss der Enterprise hätte gereicht, um uns endgültig zu<br />

erledigen. Wir stahlen uns langsam aus ihrer Reichweite. Um Zeit zu<br />

gewinnen, lies ich unsere eigenen Torpedorohre öffnen, obwohl das<br />

Feuerleitsystem zerstör war. Ich hatte gehofft, Picard würde darauf<br />

hereinfallen. Ich hatte gehofft, er würde das Feuer nicht eröffnen, um<br />

selbst nicht zerstört zu werden. Tja. Ich hatte mich verschätzt. Und hier<br />

ist die Lektion dabei: es war dennoch die richtige Entscheidung. Denn im<br />

letzten Moment kam uns die Voyager zu Hilfe, fing den Torpedo auf,<br />

den Picard abfeuern lies und der für uns bestimmt war und bewahrte uns<br />

dadurch vor der Inhaftierung durch die Enterprise. Uns gelang die<br />

Flucht, wir deckten die Machenschaften von Sektion 31 auf und heute<br />

stehe ich hier und kann ihnen davon erzählen. Wissen sie, die<br />

Entscheidung die sie treffen, ist nicht halb so wichtig wie die Tatsache,<br />

dass sie eine treffen. Richtig oder falsch - bleiben sie bei der<br />

Entscheidung. Wenn sie zögern, schwammig erscheinen, die<br />

Unsicherheit zeigen die immer irgendwo mitschwingt, dann entmutigen<br />

sie ihre Mannschaft.“<br />

Jubal rutschte auf seinem Stuhl herum. „Wollen sie damit sagen Sir,<br />

dass sie manchmal Angst haben?“<br />

„Ich würde das niemals sagen.“, grinste Matt.<br />

„Wotan hier würde das auch niemals sagen.“, rief Tala aus der letzten<br />

Reihe.<br />

„Tatsächlich?“<br />

„Oh ja, Sir. Er lacht der Gefahr ins Gesicht... und versteckt sich dann,


is sie vorbei ist.“<br />

Ein paar Kadetten schmunzelten, was Wotan dazu brachte, beschämt<br />

zu Boden zu blicken.<br />

Matt fuhr unbeeindruckt fort. „Vor ein paar hundert Jahren, teilte<br />

Benjamin Franklin mit der Welt das Geheimnis seines Erfolges. >Was<br />

du heute kannst besorgenverschiebe nicht auf morgen.< Das<br />

war der Mann, der die Elektrizität auf der Erde entdeckte. Man könnte<br />

meinen, mehr von uns würden seine Worte beherzigen. Leider ist dem<br />

nicht so. Ich weiß nicht, warum wir Dinge vor uns herschieben, aber<br />

wenn ich raten müsste, würde ich sagen, es hat mit Angst zu tun. Angst<br />

vor Fehlern. Angst vor Schmerzen. Angst vor Ausstoßung. Manchmal<br />

hat man davor Angst, was passiert, wenn man sich irrt. Was, wenn man<br />

einen Fehler begeht, den man nicht mehr rückgängig machen kann?<br />

Wovor wir uns auch immer fürchten, eine Sache bleibt immer gleich.<br />

Dass, mit der Zeit, der Schmerz, dass wir etwas nicht tun größer wird, als<br />

die Angst davor, es zu tun.“ Er zuckte mit den Schultern. „>Der Frühe<br />

Vogel fängt den Wurm. Der, der zögert verliert. Wir können nicht<br />

verhindern, wovon wir nichts wissen.< Wir haben diese Sprichwörter<br />

schon alle in der ein oder anderen Form gehört, hörten die Philosophen,<br />

hörten unsere Großeltern, die vor verschwendeter Zeit warnten, hörten<br />

die verdammten Poeten, wie sie uns drängen, die Zeit zu nutzen, weil sie<br />

wie ein Raubtier sei, in dem wir verbrennen. Trotzdem müssen wir das<br />

alles von Zeit für Zeit für uns selbst herausfinden. Wir müssen unsere<br />

eigenen Fehler machen und unsere eigenen Lektionen lernen, bevor wir<br />

verstehen, was Benjamin Franklin und alle anderen, wirklich meinten.<br />

Dass Wissen besser ist, als sich zu wundern, dass Wachsein besser ist,<br />

als schlafen. Und dass selbst der größte Fehler... besser ist, als etwas<br />

niemals zu versuchen.“ Er lies seine Worte ein paar Sekunden lang<br />

wirken. Die Kadetten strahlten begeistert.<br />

Shan strahlte nicht. Sie war wütend. Es bestand kein Zweifel, dass ihr<br />

Vater mit seiner kleinen Rede etwas ganz bestimmtes bezweckte. Er<br />

spielte ganz offenbar auf ihre Entscheidung an, sich der<br />

Sternenflottenakademie anzuschließen. Unfassbar! Matt platzte hier<br />

herein, lies sich feiern, und nutzte den Unterricht für seine Zwecke, um<br />

Shan auch ja in ihrer Entscheidung, hier zu bleiben, zu bekräftigen. Hätte<br />

sie auch nur einen Funken verstand im Schädel gehabt, wäre sie jetzt auf


ihr Zimmer gegangen, um ihrem Vater zu zeigen, dass er einfach kein<br />

Recht dazu hatte, so etwas zu machen.<br />

„Du brauchst das nicht tun.“, grollte sie stattdessen.<br />

„Tun?“, fragte Matt ahnungslos. „Was tun?“<br />

„Mir deine kleinen Botschaften zukommen zu lassen.“<br />

„Shan, ich weiß nicht, wovon du-“<br />

„Ich bin sechzehn, Dad. Ich brauche niemanden, der mir gut zuredet.“<br />

Matt runzelte die Stirn. Dann jedoch, zuckte er mit den Schultern.<br />

„Schätze, man ist nie zu alt, um in einem Feuer... oder im ewigen Eis<br />

umzukommen, nicht wahr?“<br />

Shan stand augenblicklich auf, nahm ihren Datenblock und ging zum<br />

Ausgang. „Schatz? Ich habe dir nicht die Erlaubnis erteilt, zu gehen.“<br />

Shan blieb an der Tür stehen und drehte sich um. „Ich habe nicht um<br />

deine Erlaubnis gebeten.“<br />

Ihr Blick traf sich kurz mit Galaks. Großartig, dachte sie. Kadetten,<br />

die sie hassten, Kadetten, die ihr aus dem Weg gingen, aus Angst, sie<br />

könnte ihnen die Nase brechen, ein bester Freund, der niemanden mehr<br />

an sich ran ließ, ein Vater, der ihr ständig ins Leben pfuschte, und um<br />

dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen: Galak, der sie anstarrte! Es<br />

war zum Schreien und Shan musste raus, ehe sie begann, auf<br />

Gegenstände und Personen einzuschlagen.<br />

Hätte sich die Tür nicht rechtzeitig geöffnet, Shan hätte sie<br />

aufgetreten.<br />

Im Klassenraum folgte ein langes Schweigen, nachdem Shan<br />

hinausgestürmt war. Kadetten sahen einander an, größtenteils verwirrt,<br />

einige grinsten verstohlen – unter ihnen Kadett Jubal.<br />

Matt grinste nicht. Wütend schien er aber auch nicht zu sein –<br />

zumindest zeigte er es nicht, als er sich der Klasse zuwandte und in die<br />

Runde fragte: „Wo will sie denn hin?“<br />

Tala aus der letzten Reihe rief: „Deltaner treffen. Voll mit Sperma.“<br />

Matt bedachte sie mit einem schiefen Blick. „Witzig.“<br />

Es handelte sich um einen jener Witze, die ein Vater niemals im Leben<br />

hören wollte...


Bei Sonnenuntergang lehnte Shan außerhalb der Akademie über eine<br />

Brüstung und beobachtete, wie die große, glühende Kugel langsam<br />

hinter der Golden Gate Bridge unterging, den Himmel rot färbte und<br />

dabei lange Schatten auf die Bay warf. Es war später Abend und frisch.<br />

Die Luft war ziemlich kühl und vom Ozean wehte eine steife Brise. Sie<br />

erfüllte die Region mit dem Geruch des Meeres und für einen<br />

Augenblick lang fühlte Shan sich mit Forschern vergangener<br />

Jahrhunderte verwandt. Mit jenen, die nicht den Sternen in großen<br />

Metallschiffen getrotzt hatten, sondern den Meeren in solchen, aus<br />

ächzendem Holz, das von antiquierten, selbstdichtenden Schaftbolzen<br />

zusammengehalten wurden, die man damals noch >Nägel< nannte.<br />

Was für Menschen mussten diese Abenteuer gewesen sein? Obwohl<br />

von den Geheimnissen des Weltraums noch so viele unbekannt<br />

geblieben waren, gab es doch auch zahlreiche, von denen man bereits<br />

wusste. Aber das war kaum zu vergleichen, mit jenen ersten Forschern,<br />

die in einer Gesellschaft aufgewachsen waren, die sie gelehrt hatte, die<br />

Welt sei flach und an den Rändern lebten Drachen, die jeden<br />

unvorsichtigen Seefahrer verschlingen würden, der sich ihnen näherte.<br />

Wie mussten sie gewesen sein, diese Forscher? Wie hatten sie sich<br />

gefühlt, als sie einfach davon gesegelt waren, und alles Vertraute hinter<br />

sich gelassen hatten? Freunde... Familie...<br />

... den Bekanntheitsgrad des Vaters...<br />

„Was machst du hier draußen?“<br />

Noch bevor er sich neben sie an das Geländer stellte, wusste Shan<br />

irgendwie, dass sich Galak ihr genähert hatte. Sie konnte nicht<br />

ergründen, wie sie das ahnen konnte. Sie hatte es einfach.<br />

„Ich beobachte die Schiffe.“, sagte sie.<br />

„Schiffe?“ Er sah angestrengt auf den Pazifik hinaus. Die See war leer.<br />

„Ich sehe keine Schiffe.“<br />

„Deswegen bin ich auch nicht besonders gut darin.“<br />

Shan warf ihm müde lächelnd einen Blick zu. Sie mochte die Art, wie<br />

seine Haut im Lichte der untergehenden Sonne glänzte. Ein frischer<br />

Wind ließ seine blaue Mähne auf heldenhafte Art flattern.


„Sag mal, ist dir nicht kalt?“, fragte Shan mit einem Frösteln.<br />

Galak blickte verdutzt an seinem nackten Körper herab. „Warum?<br />

Sieht man das etwa?“ Und als er wieder aufsah, zwinkerte er lächelnd.<br />

„Quatschkopf.“ Shan schüttelte den Kopf, grinsen musste sie aber<br />

dennoch - auch wenn ihr das nicht so ganz behagte. Aber es tat gut. Sie<br />

hatte schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gelächelt. Seit der<br />

Schlägerei...<br />

„Es tut mir übrigens leid.“, sagte sie.<br />

„Was denn?“<br />

„Dass dich Sortak auf der Akademiefeier verprügelt hat, meine ich.<br />

Nimm’s bitte nicht persönlich.“<br />

„Ach das.“ Galak winkte ab. „Neeee, das habe ich nicht persönlich<br />

genommen. Eher mit meinem Kinn. Und mit meinem Bauch... und dem<br />

Auge... und mit allen anderen Stellen meines Körpers, die er mit seinen<br />

bemerkenswert kräftigen Fäusten bearbeitet hat – was etwa allen Stellen<br />

meines Körpers entspricht.“<br />

Shan lachte. „Er kann gründlich sein.“<br />

„Er hat wohl was gegen die Oberschicht, der gute.“<br />

„Sein Leben war nicht leicht.“<br />

„Und er fühlt sich für dich verantwortlich, hm?“<br />

„Ja, denke schon. Sortak ist für mich wie ein großer Bruder, weißt du?<br />

Er passt auf mich auf. Das war schon immer so. Auch wenn das<br />

eigentlich gar nicht nötig ist.“<br />

„Du wirkst auf mich auch nicht wie jemand, der beschützt werden<br />

muss. Er macht das vermutlich einfach, weil du eine Frau bist.“<br />

„Oh ja.“ Sie rollte die Augen. „Du hast Recht. Das ergibt Sinn. Ich<br />

meine... es ist die einzig logische Erklärung. Weil ich eine Frau bin!<br />

Natürlich! Warum bin ich nicht von selber darauf gekommen?“<br />

„Das weiß ich nicht.“<br />

„Arsamandi!“, stöhnte Shan frustriert, während sie mit ihren Händen<br />

so tat, als wolle sie ihn würgen. „Das war Sarkasmus! Oder... Ironie. Ich<br />

bringe das immer durcheinander.“<br />

„Ironie“, erklärte Galak. „findet dann statt, wenn bei einer<br />

Unterhaltung zwischen zwei Leuten, einer von den beiden nicht bemerkt,<br />

dass der andere das Gesagte nicht ernst meint. Sarkasmus hingegen ist<br />

offensichtlicher, leichter zu durchschauen und generell viel


oberflächlicher.“<br />

„Nun, vielen Dank für die Aufklärung, Professor Ich-kenne-mich-sogut-mit-menschlichen-Gepflogenheiten-aus.“<br />

„Für Sarkasmus muss man sich kürzer fassen, Shan...“<br />

„Oh, wie interessant!“<br />

„Siehst du? Das war Sarkasmus...“<br />

„Halt die Klappe.“<br />

„Und das war einfach taktlos.“<br />

Shan rollte erneut die Augen, unterließ es aber, einen<br />

Gegenkommentar von sich zu geben. Stattdessen sah sie wieder auf den<br />

Ozean hinaus. Die untergehende Abendsonne lag wie ein Laken auf dem<br />

glitzernden Wasser. Eine ganze Weile schwiegen beide. Die Sonne<br />

verschwand langsam hinter dem Horizont und die ersten Sterne<br />

begannen deutlich über ihnen zu funkeln, während Stück für Stück die<br />

Nacht hereinbrach und einige Grillen ihren abendlichen Chor begannen.<br />

Schließlich lag der Campus unter einem sternenreichen Nachthimmel,<br />

erhellt vom satten Vollmond.<br />

Galak deutete auf einige Worte, die über dem Haupteingang der<br />

Akademie eingraviert war. „Das da drüben, auf dem Schild. Das ist nicht<br />

eure Sprache, oder? Ich war nicht in der Lage die Schriftzeichen zu<br />

übersetzen.“<br />

Shan drehte sich um, und sah in die Richtung in die er zeigte. Dann<br />

lächelte sie auf eine Weise, als wäre das, wonach er gefragt hatte, etwas<br />

süßes, oder charmantes. „Das ist Latein. Es heißt >Ex astris scientiaVon den Sternen wissen.Latein


dass man sie auch aus dieser Entfernung noch gut erkennen konnte, und<br />

in einer heldenhaften Pose reckte sie den Arm zu den Sternen. Shan<br />

reckte ihren Hals, um zu sehen, wen er meinte.<br />

„Das?“, fragte sie. Es war doch selbstverständlich, dass jeder diese<br />

Person kannte „Das ist Zefram Cochrane.“<br />

„Ach, tatsächlich? Der Erfinder des Warpantriebes? Hm. Auf dem<br />

Holofoto, das man uns im Basiskurs Warptheorie zeigte, sah aber ganz<br />

anderes aus.“<br />

Shan nickte. „Zu der Zeit, als das Foto gemacht wurde, war Cochrane<br />

schon auf Alpha Centauri.“, erklärte sie. „Hat sich dort sehr verändert,<br />

der Mann.“<br />

„In der Tat. Er sah dort viel frischer aus.“<br />

„Ja. Scheint eine verjüngende Wirkung zu haben, wenn man einfach<br />

alles hinter sich lässt und irgendwo in Ruhe und Frieden leben kann,<br />

ohne von Bewunderern genervt zu werden.“<br />

Galak rückte ein wenig näher an sie heran. Shans ganze Körpersprache<br />

sagte ihm, dass etwas nicht stimmte. Ihr Blick richtete sich häufiger nach<br />

Innen, in ferne Sphären, und offenbar war sie zu müde, sich verbal mit<br />

ihm anzulegen, wie sonst.<br />

„Was bedrückt dich, Shan?“<br />

„Warum denkst du, dass mich etwas bedrückt?“<br />

„Nun, der Fakt, dass dich etwas bedrückt, lässt mich denken, dass dich<br />

etwas bedrückt.“, entgegnete Galak. „Komm schon. Es geht um deinen<br />

Vater, nicht wahr? Ist kein Geheimnis, dass dir seine Popularität zu<br />

schaffen macht. Jeder sieht es. Und ich... nun, ich verstehe es. Weil wir –<br />

so ungern ich es auch zugebe - in diesem Falle tatsächlich etwas<br />

gemeinsam haben.“<br />

Shan wurde ungeduldig. „Ich... ich glaube ich sollte langsam auf mein<br />

Zimmer zurückkehren.“ Sie sah übertrieben auffällig auf das<br />

Chronometer. „Es ist schon spät und wir müssen die nächsten Tage lange<br />

im Laborbereich schuften, um unsere Strafe abzuarbeiten.“<br />

Sie wollte sich zum Gehen abwenden, aber Galak hielt sie sanft am<br />

Oberarm fest und lachte. „Du zeigst es nie, oder?“<br />

Shan drehte sich um und sah ihn vorsichtig an. Alarmstufe Gelb,<br />

Schilde hoch! „Ich hab nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.“<br />

„Fällt dir wirklich schwer, dich zu öffnen, habe ich recht, Shan Bartez?


Du agierst immer so furchtbar tough, um ja niemanden näher an dich<br />

heranzulassen. Dir gefällt die Vorstellung, unantastbar zu sein. Shan, die<br />

Starke. Shan, die Heroin. Shan allein gegen alle. Du würdest lieber allem<br />

und jedem den Rücken kehren und auf der Stelle gehen, als auch nur<br />

einmal Schwäche zu zeigen, nicht wahr? Aber tief in deinem Innersten<br />

brüllen Emotionen, die nur darauf warten, rausgelassen zu werden.“<br />

Sie starrte zum Meer hinüber.<br />

„Schöner Mond.“, sagte sie.<br />

„Ich habe dich etwas gefragt.“<br />

„Und ich will nicht antworten.“<br />

Er lächelte. „Weil’s stimmt.“<br />

„Das ist lächerlich!“ Sie spürte deutlich, wie sich Risse in der Fassade<br />

bildeten. Schilde versagen, Shan! Alle Mann auf Kampfstationen. Also<br />

ergriff sie schnell Sarkasmus-Gegenmaßnahmen, um größeren Schaden<br />

zu vermeiden. „Oder kannst du noch melodramatischer sein?“<br />

„Du hast Angst vor Intimität.“<br />

„So viel dazu...“<br />

„Es ist fast drollig. Du wehrst dich dagegen so sein zu wollen wie dein<br />

Vater und dennoch verhälst du dich genau wie er.“<br />

Volltreffer. Hüllenbruch auf allen Decks. „Du verbringst zu viel Zeit<br />

mit Wotan.“ Obwohl sie verärgert war, fehlte es ihren Worten an Pepp<br />

und irgendwie klangen sie hohl.<br />

Galak legte ihr in der ihr in der Dunkelheit die Hand auf die Schulter,<br />

und Shan spürte ein Prickeln, das ihren ganzen Körper erfasste und in<br />

den Fingerspitzen endete. Auf diese Weise empfand sie in letzter Zeit<br />

ständig, wenn er sie berührte, wenn er sie auch nur ansah, oder ihr sein<br />

seltsam arrogantes, in einer merkwürdigen Art und Weise aber auch<br />

verwegenes Lächeln schenkte.<br />

„Weißt du“, sagte Galak. „mein Vater ist ebenfalls dafür<br />

verantwortlich, dass ich mich hier, in dieser... Institution... befinde. Und<br />

wenn er von der Schlägerei erfährt, und meinem Anteil an dem Desaster,<br />

dann werde ich wünschen, dass ich sie nie mehr verlassen müsste –<br />

obwohl ich nicht besonders gerne hier bin.“ Für eine kurzen Moment –<br />

nur für einen ganz kurzen -, schienen seine Augen vor Bitterkeit und<br />

Resignation über die Bürde, die man ihm auferlegt hatte, aufzuschreien,<br />

und ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht. Aber dieser tiefe


Blick in sein Gefühlsleben verschwand so schnell wieder, dass Shan sich<br />

nicht einmal sicher war, ob sie überhaupt etwas derartiges gesehen, oder<br />

es sich nur eingebildet hatte.<br />

„Dieser ganze Austauschkram ist eine Katastrophe für mich. Ich<br />

meine... ihr seid nicht einmal nackt! Trotzdem kann ich nicht<br />

zurückgehen, ohne meinen Vater maßlos zu enttäuschen – auch wenn<br />

das kaum noch möglich sein sollte. Du hast wenigstens einen Vater, der<br />

dich liebt, und den du liebst, Shan, das hat man dir angesehen – trotz<br />

dieser leichten Spannungen, die da in der Luft zu hängen scheinen.<br />

Meiner...“ Er sah auf seine Zehenspitzen und schüttelte den Kopf. „Na<br />

ja. Eltern... Sie können einen manchmal ganz schön zum heulen bringen,<br />

stimmt’s?“<br />

„Galak, ich...“<br />

„Also... wenn du mit jemandem reden möchtest, dann komm zu mir.“<br />

Shan bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. „Warum tust du<br />

das, hm?“<br />

„Warum tue ich was?“<br />

„Warum... warum bist auf einmal du so nett zu mir?<br />

Er zuckte mit den Schultern. „Weil du gar nicht so furchtbar bist, wie<br />

du denkst, weißt du das?“<br />

Sie sah ihn schief an. „Und du bist gar nicht so ein arrogante Grekka-<br />

Targ, wie du immer tust.“<br />

Galak lachte, woraufhin auch Shan lächeln musste. Er drückte mit<br />

seinem Zeigefinger leicht gegen ihre Schulter. „Whew, wie Schlagfertig.<br />

Da hat wohl jemand eine zu enge Unterhose angezogen.“<br />

„Denk nicht einmal für nur eine Minute, du hättest irgendeinen Effekt<br />

auf mein Unterhose.“<br />

„Auf was habe ich dann für einen Effekt?“<br />

„Von meinem Brechreiz abgesehen? Auf nichts.“ Sie sagte das mit<br />

einem Lächeln, das von Galak erwidert wurde. Einen Moment sahen sie<br />

sich nur in die Augen. Und dann berührte Galak plötzlich ihre Wange.<br />

„Ich mag dein Lächeln.“, sagte er. „Du bist süß. Und sexy. Und sehr<br />

anziehend - für einen Menschen. Tatsächlich denke ich, dass du der<br />

wundervollste Mensch bist, der auf diesem Planeten wandelt.”<br />

Shan starrte ihm nur in die Augen. Sie wollte ihn nicht mögen. Sie war<br />

sogar daran gewöhnt ihn zu hassen, weil sie beschlossen hatte, ihn zu


hassen. Und doch...<br />

... und doch mochte sie sein blaues Haar, wie es immerzu zu wehen<br />

schien, selbst in Windstillen Räumen. Sie mochte seine merkwürdigen<br />

Augen – solch hypnotische Augen hatte sie nie zuvor gesehen. Sie<br />

mochte seine breiten Schultern und starken Arme. Shan konnte es nicht<br />

fassen: Von allen Männern an der Akademie – immerhin den Besten der<br />

Besten - , fühlte sie sich ausgerechnet zu ihm hingezogen. Und er zu ihr.<br />

Dabei war sich Shan durchaus darüber im Klaren, dass sie alles andere<br />

denn eine Dame war. Sie war hin und wieder nicht einmal eine<br />

besonders angenehme Person. Ihr Sarkasmus war bissig und ihre<br />

Umgangsformen ziemlich rüde – milde ausgedrückt. Sie sagte, was sie<br />

dachte und nicht, was andere hören wollten und darauf war sie immer<br />

stolz gewesen. Sie hatte eben ihren eigenen Kopf und wenig bis gar kein<br />

Interesse an den Dingen, mit denen sich die meisten Mädchen in ihrem<br />

Alter beschäftigten – auch nicht an Jungs. Zumindest... war das bis jetzt<br />

der Fall gewesen.<br />

Und trotzdem machte ihr Galak den Hof. Sie wusste einfach nicht<br />

warum. Mit seinem Aussehen, hätte er doch jede auf dem Campus haben<br />

können. Jede! Warum ausgerechnet also sie? Bisher hatte sich Shan nie<br />

mit anderen Mädchen verglichen, aber ganz plötzlich sah sie die<br />

Angelegenheit aus dem Blickwinkel der Rivalität. Da waren eine Menge<br />

Frauen hier – vor allem die im dritten oder vierten Jahr -, die fantastisch<br />

aussahen. Erwachsen und mit schönem Haar. Was fand Galak nur an ihr?<br />

Sie entgegnete langsam: „Du bist verdammt selbstsicher, hat dir das<br />

schon mal jemand gesagt?“<br />

„Aber natürlich. Ich sage das jeden Tag zu mir selbst.“<br />

Shan presste die Lippen aufeinander. „Ich dachte mir, dass du so etwas<br />

in der Art sagen würdest.“<br />

„So bin ich.“<br />

Ja, so war er, dachte sie. Galak Arsamandi: Anziehend und Abstoßend<br />

zu gleich – welch merkwürdige Kombination. Shan schüttelte den Kopf.<br />

„Mann, du bist der frustrierendste Kerl, den ich kenne.“<br />

„Ich?“<br />

„Ja.“<br />

„Dann solltest du mehr Männer kennen lernen.“<br />

„Und du weniger Frauen...“


„Ich kenne nicht wirklich viele Frauen. Eigentlich... kenne ich kaum<br />

jemanden richtig.“<br />

„Huh? Du erweckst auf mich eher den Anschein eines Playboys, denn<br />

eines einsamen Kerls.“<br />

„Hey! Du denkst, ich sei nie einsam, weil ich unfassbar süß und<br />

populär bin?“<br />

„So in etwa...“<br />

„Das ist leider falsch. Ich kann umgeben sein von Leuten und mich<br />

dennoch vollkommen alleingelassen fühlen. Soll ich dir sagen, was für<br />

uns Orsorianer lebenswichtig ist?“ Ohne abzuwarten, dass sie „ja“ sagte,<br />

fuhr er fort: „Gemeinschaft. Wir brauchen sie. Wir suchen sie.<br />

Alleinsein... Isolation... das ist für uns wie Gift. Wir glauben an Mengen.<br />

An Banden und Sippen. Je mehr, desto besser. Was denkst du, warum<br />

ich trotz kleinerer gegenseitiger Antipathien ständig bei der Lerngruppe<br />

bin? Ich brauche die Gesellschaft. Wenn ich allein bin, fühle ich mich<br />

krank. Auf Orsoria war ich nie allein. Das Problem ist... mein Volk... wir<br />

sind so sehr darauf bedacht, unsere Sucht nach Gesellschaft zu<br />

befriedigen, dass wir über die Jahre anspruchslos wurden, was unser<br />

Umfeld betraf. Wir wollen einfach nur mit jemandem zusammen sein –<br />

egal mit wem. Ich habe viele Bekanntschaften. Viele Leute, die ständig<br />

um mich herum sind. Aber die Wahrheit ist... es gibt niemanden, der mir<br />

wirklich nahe steht. Der mir wirklich etwas bedeutet. Keiner von denen<br />

kennt mich. Ich weiß nicht einmal, ob sie mich überhaupt leiden können,<br />

oder Witze machen, sobald ich ihnen den Rücken kehre. Wenn ich den<br />

Mund aufmache, sind sie die meiste Zeit so sehr damit beschäftigt mir<br />

beizupflichten, dass ich den Eindruck habe, sie hören, oder verstehen,<br />

nicht ein Wort von dem, was ich sage.“<br />

Shan wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie hatte mit allem<br />

möglichen gerechnet, aber nicht mit so etwas. Galaks Offenheit<br />

überraschte sie über alle Maßen. Und alles was er sagte ergab Sinn.<br />

Hinter dieser fürchterlich oberflächlichen Art steckte tatsächlich ein<br />

ernster, ja sogar tragischer Hintergrund. Mit einem Mal veränderte sich<br />

alles und sie sah ihn schlagartig in einem ganz anderen Licht.<br />

„Ich... ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Das... konnte ich<br />

nicht wissen, Galak. Und ich möchte mich für die Prinz Ego-Sprüche<br />

entschuldigen.“


„Nein. Nein, du sollst dich nicht entschuldigen. Im Gegenteil. Ich<br />

finde es sogar recht erfrischend. Tala, Durkin, du... ihr sagt, was ihr<br />

denkt. Ihr nehmt kein Blatt vor den Mund. Von allen Leuten die ich<br />

kenne, seid ihr vielleicht das, was Freunden am nächsten kommt.“<br />

„Nun, das... kam unerwartet.“, gestand Shan.<br />

Galak erwiderte sanft: „Ich bin mindestens genauso erschrocken<br />

darüber wie du.“ Wieder eine Pause. Er zuckte nach einer Weile mit den<br />

Schultern. „Hättest du Lust, heute Abend ... na ja... mit zu mir zu<br />

kommen? Sortak ist nicht, da und ich dachte mir, wir könnten<br />

vielleicht...“<br />

„Miteinander schlafen?“<br />

„Ich wollte >etwas zusammen unternehmen< sagen, aber dein<br />

Vorschlag passt auch ganz gut.“<br />

„Ich... ich weiß nicht, Galak. Ich denke, das ist keine gute Idee.“<br />

„So?“, fragte er. „Warum nicht?“<br />

„Weil... weil...“ Sie suchte nach den richtigen Worten. Und fand sich<br />

nicht. „Komm schon, wir wissen beide, worauf du hinauswillst.“<br />

„Genau. Diese Entwicklung zwischen uns kündigt sich doch schon<br />

länger an, oder etwa nicht?“<br />

Shan wusste nicht genau, welche Bemerkung sie von Galak erwartet<br />

hatte, aber bestimmt nicht diese. „Wie ist das gemeint?“<br />

„Hast du es nicht gemerkt, Shan? Die Chemie zwischen uns stimmt<br />

einfach. Oder wie würdet ihr Menschen noch gleich sagen? Es ballert<br />

gewaltig zwischen uns.“<br />

„Es funkt gewaltig zwischen uns.“<br />

„Siehst du? Du stimmst mir zu.“<br />

„Nein, ich habe dich nur korri...- vergiss es.“<br />

„Wir sind uns sehr ähnlich, weißt du?“, behauptete er.<br />

Jetzt lachte Shan auf. „Das stimmt überhaupt nicht! Wir sind sogar<br />

außerordentlich verschieden. Schon alleine aufgrund deines kulturellen<br />

Hintergrundes. Ich meine - ja, ok. Du hast mir einen neuen Einblick<br />

eröffnet. Ich kann dich jetzt besser verstehen. Ich sehe dich sogar<br />

plötzlich ganz anders und diese Informationen muss ich berücksichtigen.<br />

Aber du bist nicht der Typ Mann, den ich mir wünschen würde – nichts<br />

für ungut.“<br />

Das schien ihn wiederum zu amüsieren. „So?“, fragte er lächelnd.


„Und was für einen Typ Mann würdest du dir wünschen?“<br />

„Nun, jemanden... jemanden... vielleicht brauche ich jemanden, mit<br />

dem ich mich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag in Rivalität befinde.<br />

Jemanden, dem etwas an mir liegt, der mich nicht als Objekt der<br />

Bedürfnisbefriedigung sieht. Jemand sensibles. Einfaches. Jemand, der<br />

sich für mich interessiert. Dem mehr an meinen Hoffnungen und<br />

Träumen liegt, als an meinem Körper. Ich will... ich will...“<br />

Und plötzlich küsste er sie. Galak trat einen Schritt vor, fasste Shan am<br />

Kinn und hob es empor. Sie keuchte, als seine Lippen ihre verschlossen.<br />

Sein Mund schmeckte nach Mandarinen. Der angenehme Duft von Seife<br />

auf seiner Haut stieg ihr in die Nase. Einen kurzen Moment lang wollte<br />

sie sich instinktiv wehren, doch dann schien sie einfach nur in seinen<br />

Armen dahinzuschmelzen, als sie sich gierig küssten, als sie sich einer<br />

Anziehungskraft überließen, die von Anfang in ihren Köpfen pulsiert,<br />

deren Existenz jedoch keiner von beiden freiwillig zugegeben hatte. Sie<br />

zog sich von ihm zurück. Ihr Brustkorb hob und senkte sich heftig. Er<br />

hielt sie noch einen Augenblicklang fest, dann lies er sie los. Shan<br />

schwankte, stieß an das Geländer und hielt sich fest, als würde sie<br />

ansonsten das Gleichgewicht verlieren. Und sie sah ihn an, als würde sie<br />

ihn zum ersten Mal sehen.<br />

„Was... was zum Teufel war das?“, fragte sie. Ihre Stimme zitterte und<br />

sie bemühte sich, gleichmäßiger zu atmen.<br />

Galak schien selbst etwas überrascht. Ganz erheblich überrascht sogar!<br />

Tatsächlich hatte er nicht gewusst was er tun würde, bevor er es getan<br />

hatte – was strenggenommen noch kein Grund zur Beunruhigung war.<br />

Sie war bei weitem nicht das erste Mädchen, dass er geküsst hatte – auch<br />

nicht spontan -, aber er hatte niemals etwas annähernd vergleichbar<br />

intensives gefühlt, wie in diesem Moment. Er war verwirrt, vielleicht<br />

sogar verwirrter als Shan, aber er mochte es besser zu verbergen, obwohl<br />

seine Stimme merkwürdig hoch war, als er erwiderte: „Ich... ich denke,<br />

das ist es, was du brauchst. Oder? Es... war auf einmal da... einfach so.“<br />

„Galak...“ Sie nahm einen weiteren tiefen Atemzug, um sich zu<br />

beruhigen, und als sie die Luft wieder ausstieß, zitterte ihre Stimme<br />

immer noch ein wenig. „Sieh mal, ich...“<br />

„Hat... hat es dir nicht gefallen?“<br />

„Was?! Doch! Ich meine... Nein! Ich meine...“ Sie seufzte. Tatsächlich


hatte sie sich noch nie zuvor derart desorientiert gefühlt. „Es liegt nicht<br />

an dir, es ist nur...“<br />

„Du bist noch nicht bereit für diesen Schritt?“<br />

Ihre Gestalt sackte ein wenig ein. „Ja... genau. Ich bin... mir gehen zur<br />

Zeit sehr viele Dinge im Kopf herum... Die Akademie... Mein Vater... –<br />

vor allem mein Vater! Ich kann förmlich seine Stimme hören. In diesem<br />

Moment. Wie er auf meiner Schulter sitzt und immer wieder sagt; Mach<br />

keinen Blödsinn! Mach keinen Blödsinn! Und keine Jungs!“<br />

„Bist du so sehr auf ihn getrimmt?“ Galak war enttäuscht.<br />

Shan feuerte ihm einen giftigen Blick entgegen, worauf er schnell die<br />

Hände hochnahm. „Okeoke, das war überflüssig. Ich nehm’s zurück.<br />

Vergiss es am besten. Tut mir leid.“<br />

Sie trug es ihm nicht nach und legte ihre Hände auf seine Schultern.<br />

Auf seine unglaublich breiten, muskulösen-<br />

Konzentrier dich, Mädchen!<br />

„Ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit, okay?“<br />

„Sicher.“<br />

„Kannst du das verstehen?“<br />

„Absolut.“<br />

„Gut zu wissen, denn ich...“<br />

Als er sie diesmal küsste, war sie etwas besser darauf vorbereitet. Nun<br />

dauerte es länger und es war viel intensiver, von beiden Seiten, voller<br />

Leidenschaft und Hingabe, und als sie sich trennten, hatten sie es nicht<br />

so eilig wie vorher, sich voneinander zu entfernen.<br />

„Galak...“, sagte sie und glättete ihre Uniform. „Das... wird<br />

irgendwann lächerlich. Du hast gesagt, du würdest...“<br />

„Ich weiß. Alles klar. Tut mir leid.“<br />

„Dass du mich zwei mal geküsst hast...“<br />

„Du hast mich auch geküsst!“<br />

„Nein, habe ich nicht.“<br />

„Doch, Shan, das hast du. Ich weiß es. Ich war dabei.“<br />

„Ich habe nichts derartiges getan.“<br />

„Meiner Erfahrung nach, sind zum Küssen sind aber zwei Personen<br />

erforderlich. Es sei denn, ich habe das mein Leben lang falsch gemacht.“<br />

„Galak, ich...“ Sie schloss die Augen. „Es ist zu früh. Ich bin noch<br />

nicht so weit.“


„Okay. Das akzeptiere ich.“<br />

„Wirklich?“<br />

„Ja, ich ... denke schon, ich... ich...“ Er hatte keine Ahnung, was er<br />

dachte. Da waren auf einmal Tausende von Gedanken, die um seine<br />

Aufmerksamkeit buhlten, und kein einziger, den er erfassen konnte. Die<br />

Situation war ihm sehr unangenehm.<br />

„Ich will dich nicht drängen.“, entschied er.<br />

„Gut.“<br />

„Ja... gut.“<br />

„Ich mache jetzt Feierabend.“<br />

„Okay... okay. Umm... wenn du es dir anders überlegst, weißt du, wo<br />

ich bin.“<br />

„Klar. Sicher.“ Shan machte den Eindruck, als wollte sie noch etwas<br />

sagen, entschied sich dann aber dagegen. Stattdessen ging sie ein paar<br />

Schritte rückwärts, wobei sie ihn nicht aus den Augen lies, als würde sie<br />

befürchten, dass er sie von hinten anspringen würde. Oder als müsse sie<br />

dringend Abstand zwischen sich bringen, ehe sie es sich anders<br />

überlegte. Nachdem sie dadurch, dass sie nicht sah, wo sie eigentlich<br />

hinlief, vom Weg abkam, und in ein Betunienfeld stolperte, hob sie zum<br />

Zeichen des Abschieds eine Hand, wand sich ab und eilte zurück zu den<br />

Gebäuden.<br />

„Lass dir... lass dir nicht zu viel Zeit!“, rief Galak ihr nach, aber Shan<br />

war bereits zu weit entfernt. Er stand noch eine Weile da, unter dem<br />

klaren Nachthimmel, in einer sanften Brise, und staunte, was da eben<br />

geschehen war. Zu seiner Verärgerung stellte er fest, dass seine Hand<br />

zitterte. Er konnte noch immer Shans Lippen auf seinen schmecken.<br />

„Ich glaube ich verliere allmählich den Verstand.“, murmelte er.<br />

Shan verließ hastig den Park, und sobald sie die Kadettenunterkünfte<br />

betreten hatte, sackte sie in sich zusammen, an eine Wand neben der<br />

Eingangstür gelehnt. Was zum Teufel war da eben geschehen? Wie<br />

konnte sie nur...? Wie hatte sie derart die Kontrolle verlieren können?<br />

Um ein Haar wäre sie in seinen Armen völlig dahingeschmolzen. Und –<br />

viel wichtiger: warum in alles in der Welt hatte sie sich dagegen


gewehrt?!<br />

War es für sie wirklich ein solcher Kampf, ihn zu küssen? Jemanden<br />

auch nur ein bisschen an sich heranzulassen? Oder war es tatsächlich die<br />

Stimme ihres Vaters in ihrem Schädel, der sie vom Glücklichsein<br />

abhielt? Glücklich sein... War das überhaupt mit jemandem wie Galak<br />

möglich? Allein der psychologische Hintergrund seiner Spezies sprach<br />

dagegen. Sie waren Gesellschaftssüchtig. Brauchten Pomp, Ruhm und<br />

Medien. Shan hingegen sah sich als eine Einzelgängerin, die sich aus all<br />

diesen Dingen nicht viel machte. Tatsächlich fühlte sie sich am wohlsten,<br />

wenn sie alleine war. Sie beide eigneten sich nicht für eine längerfristige<br />

Beziehung – mal ganz davon abgesehen, dass sie darin auch überhaupt<br />

keine Erfahrung hatte. Ihr stand auch nicht der Sinn danach, das zu<br />

ändern. Bisher hatte sie so etwas noch nicht einmal in Betracht gezogen.<br />

Es war schlicht und einfach kein Teil ihres bisherigen Lebens gewesen.<br />

Aber jetzt...?<br />

Der Moment, den sie geteilt hatten, war atemberaubend gewesen. Sie<br />

hatten sich emotional verbunden und Shan hatte eine Nähe verspürt, die<br />

ihr ansprechend und unangenehm zugleich war. Verdammt! Wovor zum<br />

Teufel fürchtete sie sich nur? Vor einer Zukunft, in der noch jemand in<br />

ihrem Leben eine Rolle spielte? In der sie ihr Leben mit jemandem teilen<br />

musste? War sie derart frostig und auf emotionaler Abgrenzung anderen<br />

gegenüber bemüht? Selbst wenn sie keine Zukunft teilen, keine<br />

Beziehung eingehen wollten – sie waren jung! Warum die Dinge nicht<br />

einfach genießen?<br />

Aber mit Galak? In den vergangenen sechs Wochen hatte sie sich<br />

fürchterlich über ihn geärgert. Sie hatten sich gegenseitig das Leben<br />

schwer gemacht und nun fragte sich Shan, ob es sich dabei tatsächlich<br />

um eine Art verschrobenes Balzritual gehandelt hatte. Hatte sie ihm etwa<br />

Signale gegeben? Sie war sich nicht sicher. „War das nicht abzusehen“,<br />

hatte er gesagt.<br />

War es das?<br />

Verdammt!<br />

Von seiner Seite hatten kein Zweifel daran bestanden, dass er<br />

zumindest körperlich an ihr interessiert war. Aber sie hatte das für ein<br />

Getue gehalten, um sie zu ärgern.<br />

Männer waren fürchterlich komplizierte Kreaturen! Sie sagten das


eine... und meinten das dann auch noch so! Es blieb nur eine einzige<br />

Schlussfolgerung: der Fehler lag bei ihr. Shan wusste einfach nicht, was<br />

sie im Leben wollte. Ihr Geist lehnte sich auf einmal zurück, um das<br />

vollständige Bild dessen, was sie gerade gedacht und entdeckt hatte, zu<br />

betrachten.<br />

Sie wusste einfach nicht, was sie im Leben wollte.<br />

Das war es! Das war das ganze Problem. Shan hatte keine Ahnung,<br />

was sie wollte. Weder beruflich, noch privat. Dort war immer das Bild<br />

ihres Vaters im Hinterkopf: Karrieremann, Familienmensch, und sie<br />

glich jede ihrer Entscheidungen mit seinen ab, versuchte immer nur so<br />

weit zu gehen, dass sie nicht völlig in seiner Kerbe, seine Richtung<br />

einschlug. Und deshalb war sie bei allem unentschlossen. Wenn sie auch<br />

nur ein bisschen Selbstständigkeit verfügt hätte, sie hätte sich auf dem<br />

Absatz herumgedreht und wäre zu Galak gegangen!<br />

Tu es!<br />

Shan drehte sich zur Tür. Nur wenige Schritte und sie wäre bei ihm.<br />

Tu es, verdammt!<br />

Sie wollte zu Galak aber ... aber... verdammt! Sie konnte einfach nicht.<br />

Frustriert schlug sie gegen die Wand. „Gut, fein! Triff halt keine<br />

Entscheidung, wenn es dich glücklich macht.“<br />

Natürlich machte es Shan ganz und gar nicht glücklich. Und<br />

allmählich fragte sie sich, ob sie jemals irgendetwas glücklich machen<br />

würde.<br />

Auf dem Weg zu ihrem Quartier war Shan so sehr in Gedanken<br />

versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie sie direkt in eine Falle lief.<br />

Die Türhälften glitten beiseite und ohne Vorwarnung, fand sich Shan im<br />

Eingang wieder, wie sie mit leichtem Schock auf ihren Vater starrte, der<br />

am Arbeitstisch saß und zweifellos auf sie gewartet hatte. Er war allein.<br />

Von Wotan fehlte jede Spur, was Shan ein wenig überraschte, da der<br />

Tiger um diese Urzeit keine Kurse belegt hatte und die Zeit meistens<br />

nutzte, um im Quartier den Stoff des Tages durchzugehen. Andererseits<br />

war es auch wieder nicht verwunderlich. Vermutlich hatte Matt ihn<br />

weggeschickt.


„Überraschung.“, sagte er.<br />

„Dad, was-“ Shan stoppte mitten im Satz, als ihr der Duft frisches<br />

Hasperad-Soufflets in die Nase stieg. Erst jetzt bemerkte sie den Antigravitations-Serviertisch<br />

neben Matt, der mit silbernem Besteck und<br />

diversen Servierplatten beladen war. Matt lächelte milde und begann<br />

Besteck für zwei Personen auf dem Tisch zu verteilen.<br />

„Dad, was soll das?“<br />

„Abendessen.“, erwiderte er gut gelaunt. „Wonach sieht’s denn sonst<br />

aus?“ Sein Gesichtsausdruck änderte sich zu einem alarmierten. „Sag mir<br />

nicht, dass du schon gegessen hast.“ Dann winkte er seine Hand in einer<br />

abweisenden Geste ab. „Na und wenn schon. Den Pricketts wirst du<br />

sicher trotzdem nicht widerstehen können. Nach unserem kleinen...<br />

Missverständnis... in der Klasse gestern, dachte ich, das mindeste, was<br />

ich tun könnte, wäre, dir ein anständiges Abendessen zu servieren. Ich<br />

kann mich noch zu gut an das repliziere Essen in der Mensa erinnern.“<br />

Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und blickte sich flüchtig in dem<br />

Quartier um. „Und an die Zimmer hier. Es sollte ein Gesetz geben, dass<br />

es euch verbietet, in Umkleideschränken zu leben... Komm, Schatz.<br />

Probier die Brötchen.“<br />

Wie ein Roboter bewegte Shan mit gerunzelter Stirn ihren Arm zu<br />

dem Brötchen. Ihre Fingerkuppen berührten das gebackene Mehl. Warm.<br />

Das Aroma war köstlich. So köst-<br />

Shan zog den Arm schnell wieder weg, als hätte sie sich an etwas<br />

verbrannt. Sie blinzelte, als würde sie aus einer Hypnose erwachen. Er<br />

hätte sie fast gekriegt. „Es war kein Missverständnis, Dad! Es war ein<br />

Statement! Und den Versuch mich mit Essen zu bestechen, kannst du dir<br />

sparen. Ich bin keine zehn mehr!“<br />

„Nein, das bist du nicht mehr.“, seufzte Matt, als würde ihn dieser Fakt<br />

bedrücken. „Shan, glaub nicht, ich hätte nicht bemerkt, dass du meine<br />

Anrufe ignorierst. Ich bin seit ein paar Tagen auf dem Campus und<br />

trotzdem gehst du deinen Angelegenheiten nach, als würde ich nicht<br />

existieren. Da wir uns meiner Erinnerung nach nicht im Streit getrennt<br />

haben, denke ich, dass wir beide uns dringend unterhalten sollten.“ Er<br />

griff nach einem Stuhl neben der Arbeitsablage, stellte ihn vor die<br />

Antigrav-Platte und nahm dann auf dem anderen platz. „Setz dich.“<br />

Shan starrte einige Sekunden lang auf den Stuhl, unschlüssig, wie sie


eagieren sollte – ob wütend, oder mit einem Lachen. Sie entschied sich<br />

für die Variante in der sie beinahe explodierte.<br />

„Ich werde nichts dergleichen tun!“ Daran bestand kein Zweifel. Alles,<br />

woran Shan denken konnte, war Galak. „Wie kannst du es wagen, hier<br />

einfach einzudringen, mit all diesen... diesen...-“ Shan gestikulierte<br />

hilflos auf das Frühstück. Bei den Sternen, was, wenn jemand ihren<br />

Vater damit hatte hereinkommen sehen? Wahrscheinlich flogen bereits<br />

die ersten Witze über den Campus, über die Kadettin dessen Vater-der-<br />

Lehrer Abendessen in ihr Quartier lieferte!<br />

„Um Gottes Namen!“, raunte Matt mit leichter Verärgerung. Er warf<br />

eine Serviette auf den Tisch. „Ich versuche nur, es dir leichter zu<br />

machen.“<br />

Shan zögerte verwirrt. „Leichter? Was leichter machen?“<br />

„Dich zu entschuldigen, natürlich. Denkst du, ich könnte einfach so<br />

darüber hinwegsehen, dass du gestern den Klassenraum verlassen hast?“<br />

Shan starrte ihn an. „Du ... erwartest ernsthaft von mir .... mich zu<br />

entschuldigen.“ Kein Androide der Galaxis wäre in der Lage gewesen,<br />

monotoner zu klingen.<br />

Matt vollführte mit der rechten Hand eine kleine Geste, während er mit<br />

der linken ein Prikett auf seinen Teller beförderte. „Das ist es, was<br />

Töchter normalerweise tun, wenn sie ihren Vater in der Öffentlichkeit<br />

bloßstellen.“<br />

„Ich habe dich bloßgestellt? Ich habe dich bloßgestellt?“, echote Shan.<br />

„Das glaube ich einfach nicht.“<br />

„Ich ja auch nicht. Du bist keine zwei Monate von zuhause weg und<br />

boom, fliegen deine Mannieren aus dem Fenster.“<br />

Es war alles, was Shan tun konnte, ohne auszurasten; Ihre Fäuste<br />

ballend, durchschritt sie den Raum zwei mal, und entschied dann, sich<br />

lieber zu setzen, bevor die wütende Energie, die durch ihren Körper<br />

raste, sie etwas dummes tun lies, wie zum Beispiel eine<br />

Antigravitationsplatte aus dem Fenster zu werfen, direkt hinter ihre<br />

Manieren her...<br />

„Was machst du hier auf der Akademie, Dad? Du hast mir<br />

versprochen, du würdest dich von mir fernhalten, du würdest keine<br />

meiner Kurse übernehmen und mir meinen Freiraum lassen. Und erzähl<br />

mir nicht, du hättest das vergessen.“


„Vergessen sicher nicht.“, erwiderte Matt sanft. „Aber auch wenn<br />

meine Dienste als Vater nicht gewünscht werden..., die als vorgesetzter<br />

Offizier werden es ganz sicher.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin<br />

hier, um dir zu helfen.“<br />

„Mir zu helfen?“ Shan starrte ihn an. „Ich brauche deine Hilfe nicht!“<br />

„Ach wirklich? Dann erklär mir mal, warum du dich bereits zwei mal<br />

geprügelt hast und erklär mir ferner, warum du nach erheblichen<br />

Fehltritten, die jeden anderen Kadetten von der Akademie<br />

ausgeschlossen hätten, noch immer diese Uniform trägst.“<br />

Shan rutschte auf ihrem Stuhl nach hinten. „Nein.“, flüsterte sie. Ein<br />

Gefühl des Versagens quetschte die Selbstsicherheit aus ihr heraus.<br />

„Nein, Dad... ich dachte, ich... Nein! Sag mir nicht, dass du deine Finger<br />

da im Spiel hattest.“<br />

„Natürlich hatte ich meine Finger im Spiel!” Matt schob das Gebäck<br />

in seinen Mund und zuckte mit den Schultern. „Schon nach deiner<br />

glorreichen Ankunft hier, bat mich Janeway um Hilfe. Nach der<br />

Schlägerei auf der Akademiefeier rief sie mich erneut an, völlig<br />

aufgebracht, und fragte mich, was zur Hölle sie mit dir machen sollte,<br />

und wie feste sie zutreten müsse, damit du direkt zum Mond fliegst. Du<br />

weißt gar nicht, was für Hebel ich umlegen musste, um deinen<br />

Rausschmiss zu verhindern.“ Er richtete seine fleischgeladene Gabel auf<br />

Shan. „Du brauchst mich, Schatz. Wenn du mit deinem Bartez’chen<br />

Sturkopf so weitermachst, brauchst du Rückendeckung.“ Und er schob<br />

das Fleisch in seinen Mund, übertrieben kauend.<br />

All die Unabhängigkeit, die Shan seit ihrer Ankunft auf der Akademie<br />

zu spüren begonnen hatte, stürzte wie ein Kartenhaus um sie herum ein.<br />

„Hör auf damit!“, schrie sie. Der Stuhl stürzte mit einem lauten Knall<br />

um, als sie energisch aufsprang. „Was auch immer du mir für eine Hilfe<br />

gibst, hör einfach auf! Ich werde nie auf meinen eigenen Beinen stehen,<br />

wenn du mich nicht lässt!“<br />

Matt zuckte nicht zusammen, aber die Überraschung über Shans<br />

heftige Reaktion war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Du stehst<br />

doch bereits auf eigenen Beinen.“<br />

„Nein! Nein, tue ich nicht, Dad. Soll ich dir sagen, wo ich stehe? Ich<br />

stehe in deinem Schatten. In deinem gewaltigen, alles absorbierenden,<br />

mein Leben verschluckenden Schatten. Im Schatten der Legende. Und


das ist kein Ort, an dem ich sein will!“<br />

„Und du denkst, du kommst daraus, in dem du dich prügelst?“<br />

Fehltritt! Matt schloss die Augen. Er wünschte, er könnte die Worte<br />

irgendwie rückgängig machen, sie wie mit einem Lasso einfangen und<br />

wieder zurück befördern, da, wo sie hergekommen waren, aber es war<br />

bereits zu spät.<br />

„Das war’s!” Shan griff nach einigen Datenblöcken auf dem Tisch,<br />

bedachte ihren Vater mit einem vernichtenden Seitenblick, und warf<br />

dann ihren Rucksack über die Schulter.<br />

„Shan, was hast du vor?“<br />

„Ich gehe, Dad. Ich werde mein eigenes Leben leben, ob du es willst,<br />

oder nicht, und ich werde dir zeigen, dass ich deine Hilfe nicht brauche.<br />

Wenn du mich jetzt entschuldigst... ich muss noch lernen.“ Sie schlug<br />

auf den Öffnungsmechanismus und die Türhälften glitten rasch beiseite,<br />

scheinbar, um Shan nicht die Gelegenheit zu bieten, ihre Finger in den<br />

Mittelschlitz zu schlagen und die Tür einfach aufzustemmen. Ohne sich<br />

noch einmal umzudrehen, oder ein weiteres Wort zu verlieren, stürmte<br />

Shan auf den Korridor hinaus und die Tür glitt hinter ihr wieder zu.<br />

Matt blieb alleine zurück, starrte mit großer Überraschung dorthin, wo<br />

eben noch seine Tochter gestanden hatte, und beschloss, dass er das<br />

nächste Mal die Tür verriegeln müsse. Ihm war nämlich nicht entgangen,<br />

dass sie, bei jedem ihrer Streitgespräche, mit dem Knallen einer Tür<br />

verabschiedete, ehe sie die Sache hatten ausdiskutieren können.<br />

„Ich frage mich, von wem sie diesen Drang zur Dramatik hat...“,<br />

murmelte er.<br />

Und obwohl er sein Spiegelbild im Fenster sah, fiel ihm einfach<br />

niemand ein.<br />

Das Wetter in San Fransisco war oft kalt und ungemütlich, besonders<br />

zu dieser Jahreszeit. Im Vergleich zu dem Klima in New New York bot<br />

es Vor- und Nachteile: zwar brachten die Winter keine eisige Kälte, aber<br />

dafür gab es jede Menge Nebel. An diesem Tag jedoch hüllte die<br />

aufgehende Sonne San Francisco in einen goldenen Glanz.<br />

Shan saß auf einer Bank im Park hinter der Akademie und genoss die


angenehme Wärme, während sie sich auf den Datenblock in ihrer Hand<br />

zu konzentrieren versuchte. Was ihr aber nicht im Geringsten gelang.<br />

Während sie zwar mit den Augen über die Zeilen las, wanderte ihr Geist<br />

ständig in eine gänzlich andere Richtung. Zu ihrem Vater. Und zu Galak.<br />

Er war schuld! Er hatte sie mit diesen Küssen... diesem Überfall...<br />

dermaßen verwirrt und verärgert, dass sie nicht mehr Herr ihres<br />

Verstandes war. Hätte er das doch nur niemals getan.<br />

„Verdammter Kerl.“, murmelte sie.<br />

Neben ihr fragte jemand: „Wer ist verdammt?“<br />

Shan zuckte unwillkürlich zusammen. Sie hatte gedacht, vollkommen<br />

allein zu sein, dementsprechend überrasche es sie, direkt neben der<br />

Parkbank einen alten Mann in den Blumenbeeten knien zu sehen, der<br />

sich gerade um die singende Lirpapflanze kümmerte, die schon die ganze<br />

Zeit leise vor sich hin schnurrte.<br />

Er trug ein weißes Hemd und eine braune, an den Knien schmutzige<br />

Latzhose. Das weiße Haar, war kurz und schüttern. Sein Gesicht war ein<br />

wenig mager und vornehm, sorgenvoll, doch nicht unfreundlich - eben so<br />

ein Gesicht, dem man ohne weiteres sein ganzes Geld anvertrauen<br />

würde. Shan blinzelte erstaunt. „Wo sind Sie hergekommen?“<br />

„Mars.“, brummte der alte Mann rüde. „Wir sind für gewöhnlich<br />

unsichtbar auf dem Mars. Ich habe mir eine Schattenuniform der Peng<br />

Lai übergestreift und mich dann angeschlichen, um Sie zu erschrecken.“<br />

Als Shan ihn einfach anstarrte, die Stirn gerunzelt, brummte der alte<br />

Mann erneut. „Junge Dame, Sie waren so sehr in Gedanken versunken,<br />

dass eine Herde Elefanten in rosa Röcken an Ihnen hätte vorbeiziehen<br />

können, ohne von Ihnen bemerkt zu werden.“<br />

„Wer sind sie?“<br />

„Boothby.“, antwortete der alte Mann. „Ich bin der Platzwart hier.“<br />

Mit einem kleinen Gartenwerkzeug, dass aussah, wie eine Schaufel,<br />

deutete er auf die Pflanzen am Wegesrand. „Und sehr beschäftigt, seit<br />

einige Kadetten der Meinung waren, sich in meinen Blumen raufen zu<br />

müssen.“<br />

„Oh.“, machte Shan. Sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte,<br />

zumal es sich bei ihr um die fragliche Person handelte, die sich in<br />

Boothbys Anlage geprügelt hatte. „Sie sind das also, über den alle<br />

sprechen. Ich dachte Sie seien nur eine Erfindung der älteren Kadetten.


Hab Sie noch nie in den Gärten gesehen.“<br />

„Doch, haben Sie.“, erwiderte Boothby. „Sie haben mich vorher nur<br />

nie wahrgenommen.“<br />

Shan neigte ungläubig den Kopf. „Ich bin ein sehr aufmerksamer<br />

Mensch, Mister Boothby. Ich hätte Sie garantiert wahrgenommen.“<br />

Das fand Boothby sichtbar amüsant. „Junge Dame, ich kann nicht<br />

einmal mehr aufzählen, wie oft Sie schon direkt an mir vorbeikamen und<br />

durch mich durchsahen, als sei ich tatsächlich unsichtbar.“<br />

„Oh... uhm... wirklich?“<br />

„Wirklich.“<br />

Shan spürte, wie sie errötete. „Tut mir leid. Das war ... nicht sehr nett<br />

von mir, was?“<br />

„Nein, das war es tatsächlich nicht.“ Aber dann winkte er ab, Boothby<br />

war dem Anschein nach nicht nachtragend. „Ich schätze, Sie hatten<br />

genug zum Grübeln.“ Er machte eine vage Geste. „Das ist das schöne an<br />

den Gärten. Sie öffnen einem den Geist.“ Boothby richtete sich<br />

umständlich auf, wobei seine Knie geräuschvoll knackten und setzte sich<br />

dann, ohne von Shan dazu eingeladen worden zu sein, neben sie auf die<br />

Bank. Aber was hätte sie auch dagegen sagen soll? Als Platzwart und<br />

Gärtner war dies schließlich sein Territorium und nicht Shans. Da sie<br />

keine Ahnung hatte, was sie noch sagen sollte, schloss sie die Sache mit<br />

einem geistigen Schulterzucken ab und widmete sich wieder ihrem<br />

Datenblock.<br />

„Wenn Sie sich wirklich um Nettikette scheren“, fuhr Boothby die<br />

Unterhaltung fort. „sollten Sie wissen, dass es auch nicht besonders<br />

höflich ist, einem alten Mann keine Antwort zu geben, wenn er Ihnen<br />

eine Frage stellt.“<br />

Shan sah wieder auf. „Frage? Welche Frage?“<br />

Boothby blies geräuschvoll Luft durch seine Lippen und schüttelte den<br />

Kopf. „Die bringen euch Kadetten nicht sehr viel bei, wenn ihr schon<br />

nicht mehr in der Lage seid, eine Konversation länger als dreißig<br />

Sekunden in eurem Kopf zu behalten.“<br />

Zunächst hatte Shan keine Ahnung, wovon er überhaupt sprach, doch<br />

dann ging ihr plötzlich ein Licht auf. „Oh, richtig. Sie haben gefragt, wer<br />

verdammt ist.“ Sie nickte. Und dann schüttelte sie wieder den Kopf.<br />

„Niemand, Mister Boothby. Nur mein ... hm … mein Freund.”


War er das? War er ihr Freund? In welcher Hinsicht? Platonisch? Oder<br />

waren sie jetzt, nach diesen intimem Momenten etwa mehr? Shan hatte<br />

keine Ahnung.<br />

„Ihr Freund ist nichts? Ich sehe, diese Beziehung baut auf einem festen<br />

Grund auf...“<br />

„Nein, Sie missverstehen das. Es keine Beziehung. Und ... ich bin auch<br />

nicht wirklich wütend auf ihn ... denke ich. Nein, bin ich nicht. Er hat<br />

nichts getan. Es war nicht sein Fehler.“<br />

„Hm.“, machte Boothby. „Sie sind nicht wütend auf ihn, wegen etwas,<br />

dass er nicht getan hat.” Er schüttelte den Kopf. „Bringen die euch hier<br />

eigentlich etwas über Physik bei? So etwas wie Ursache und Wirkung?<br />

Es ist offenbar etwas passiert, was Ihnen nicht gefällt und Sie sind damit<br />

beschäftig, abzustreiten, dass es Ihnen nicht gefällt. Habe ich das richtig<br />

verstanden?“<br />

„Nun...“<br />

„Ich frage mich, ob ihr zwei, Sie und ihr Freund, überhaupt<br />

miteinander kommuniziert.“<br />

„Hey!“ Shan deutete mit dem Finger auf ihn. Wer auch immer er war,<br />

er ging zu weit. So etwas lies sie sich nicht gefallen. „Bei allem Respekt,<br />

Mister, was bilden Sie sich eigentlich ein, so ein Urteil zu fällen? Sie<br />

kennen mich nicht einmal.“<br />

„Heh.”, schnaubte Boothby. Er fand das ganz offensichtlich witzig.<br />

„Junge Dame, das ist eines der Vergnügen, die ich habe, hier zu arbeiten.<br />

Man lernt jeden kennen. Oh, sicher, die Namen ändern sich. Aber die<br />

Kadetten selbst, die Dinge, die sie sagen und fühlen... das ist von Jahr zu<br />

Jahr so ziemlich das Gleiche. Und das beste daran ist, dass jeder denkt,<br />

seine Situation sei einzigartig.“<br />

„Glauben Sie mir, meine ist einzigartig.“<br />

„Sehen Sie?“<br />

Jetzt hatte er sie in eine Sackgasse manövriert. Boothbys Logik war<br />

wasserdicht.<br />

„Alles klar.“, sagte Shan und wandte sich ihm nun ganz zu, ihren<br />

Datenblock beiseite legend. Er wollte sie herausfordern? Schön. Shan<br />

lief vor keiner Herausforderung davon. „Mein Vater ist die vielleicht<br />

größte, lebende Legende der Föderation. Er hat nicht nur den gesamten<br />

Quadranten vor dem Untergang gerettet, nein, das wäre ja auch zu


gnädig, sondern – als wäre das nicht schon fantastisch genug -, die ganze<br />

Milchstraße.“<br />

Boothby starrte sie einfach an. „Sie kommen also aus einer recht<br />

berühmten Familie und auf Ihren Schultern lastet ein enormer<br />

Erfolgsdruck. Da sing große Fußspuren, die sie auszufüllen versuchen.“<br />

„Nein.“<br />

Sie starrten sich einen Moment an.<br />

„Nun... doch. Darin haben Sie Recht.”<br />

„Eh.“, winkte er ab. „Schon tausendmal da gewesen.“<br />

„Nein, garantiert nicht mit meinem Hintergrund.“<br />

„Auf den Hintergrund kommt es nicht an, junge Dame.“, erwiderte<br />

Boothby barsch. „Verschiedene Umstände? Es gibt immer verschiedene<br />

Umstände. Das ist die Natur meiner Erfahrung, und die Erfahrung, das<br />

ist alles, was zählt. Merken Sie sich das. Das ist etwas, was die euch hier<br />

nicht beibringen. Nun, eigentlich schon. Sie sagen euch nur nicht, dass<br />

sie es machen, und die meisten Kadetten haben nicht genug Grips, es zu<br />

realisieren.“<br />

Shan betrachtete ihn schief. „Sie scheinen nicht viel von den Kadetten<br />

der Akademie zu halten.“<br />

„Eine Menge von euch scheinen ja auch nicht viel von sich selbst zu<br />

halten. Vor allem die, die während der Sonnenaufgänge auf den<br />

Parkbänken sitzen und so gedankenverloren sind, dass sie nicht einmal<br />

die knackenden Gelenke eines alten Mannes näherkommen hören.“ Er<br />

machte eine rasche Bewegung mit der rechten Hand, als würde er eine<br />

Fliege neben seinem Kopf verjagen wollen. „Und ich darf dann die Reste<br />

von euch aufsammeln, und versuchen, alles wieder zu reparieren. Das<br />

stand nicht unbedingt in der Jobbeschreibung. Aber selbst wenn es noch<br />

Geld in der Föderation gäbe, könnten die mich gar nicht genug dafür<br />

bezahlen.“<br />

Shan verschränkte die Arme vor der Brust und nahm eine abweisende<br />

Haltung ein. „Ich habe Sie nicht um Hilfe gebeten.“<br />

Das schien ihn nicht zu stören. „Tut ihr nie.“<br />

Jetzt war es Shan, die brummte. An diesem Punkt des Gesprächs<br />

konnte sie ihm entweder sagen, dass er verschwinden sollte, oder sie<br />

konnte aufstehen und selber gehen. Stattdessen blieb sie, wo sie war,<br />

obwohl sie selbst nicht genau wusste, warum. Aber Boothby schien es


irgendwie zu wissen. Und er schien noch viel mehr zu wissen. Trotzdem<br />

fragte er: „Sie haben mir immer noch nicht gesagt, weswegen Sie so<br />

wütend auf ihn sind.“<br />

„Bin ich ja nicht.“<br />

„Dann verdammen Sie also jeden, auf den Sie nicht wütend sind? Heh.<br />

Dann will ich nicht wissen, was Sie mit denen machen, die Ihnen auf die<br />

Füße treten.“<br />

Zurücktreten, dachte Shan. Oder... zurückschlagen. Bevorzugt in ihren<br />

Gärten.<br />

Laut sagte sie: „Das ist es ja nicht.“<br />

„Was ist es dann?“<br />

„Ich ... ach, ich weiß es nicht.“<br />

„Doch. Das tun Sie.“, erwiderte er schlicht. Boothby wusste genau,<br />

dass sie es abzustreiten versuchte, aber da mussten sie sich jetzt<br />

durchkämpfen. Sie war bereit, dem alten Mann die Antworten zu geben,<br />

die er akzeptieren würde, nur, damit diese Konversation endete. Also<br />

beschloss er die Sache etwas ins Rollen zu bringen. „Es ist nicht ihr<br />

Freund, der Sie bedrückt, nicht wahr?“<br />

„Nein.“, gab sie leise zu. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er.. und<br />

ich... Es ist...“ Ja was denn? Was zur Hölle ging nur in ihr vor? Sie fühlte<br />

sich irgendwie verloren und warf einen Blick über die Schulter zum<br />

Akademiegebäude. „Ich weiß nicht einmal, warum ich überhaupt hier<br />

bin. Auf der Akademie. Wahrscheinlich, weil mein Vater es wollte.“<br />

„Sie sehen mir nicht aus, wie jemand, den man zu irgendwas zwingen<br />

könnte, was Sie nicht wollen.“<br />

„Nein, es stimmt ja. Ich will in den Weltraum. Aber... alleine. Ich<br />

meine, was soll ich hier? Mein Vater hat so viel getan. Furchtbar viel<br />

erreicht. Das Universum ist friedlich. Er hat so viel bewirkt, dass...“ Ihre<br />

Stimme wurde leiser. „...dass...“<br />

„Dass es in dieser friedlichen Welt keinen Platz mehr für Sie gibt, sich<br />

zu beweisen?“, vollende er ihren Gedanken.<br />

Shan sah auf. Plötzlich realisierte sie, dass sie in dem Versuch, alles zu<br />

sagen, was die Konversation zu einem Ende bringen würde, ganz gleich,<br />

ob richtig, oder nicht, Boothby auf die genaue Wahrheit der Sache<br />

gebracht hatte. Eine Wahrheit, die sie jetzt erst so richtig einzugestehen<br />

bereit war, wo er sie laut ausgesprochen hatte. Sie fühlte sie überrumpelt,


schaffte es aber zu nicken. Dafür traf sie die nächste Frage völlig<br />

unvorbereitet.<br />

„Brauchen Sie denn die Akademie?”<br />

Sie starrte ihn an. „Was meinen Sie?“<br />

„Lustige Sache.“, sagte Boothby. „Ich bin viel zu alt, um noch etwas<br />

anderes zu meinen, als das, was ich sage. Tun Sie? Die Akademie<br />

brauchen?“<br />

Gute Frage. Shan dachte an Frigoria. Die Kälte. Diese eisige Kälte.<br />

Sie konnte sie noch immer deutlich spüren. Auf ihrer Haut. In ihren<br />

Knochen. Es war so vieles schief gelaufen auf ihrem Ausflug. Alles, weil<br />

es ihr an guter Vorbereitung, Disziplin und Wissen gefehlt hatte. Und es<br />

hätte weitaus schlimmer kommen können. Sie antwortete nur sehr leise<br />

und zögernd. „Das... nehme ich an.“<br />

„Das nehmen Sie an? Junge Dame, wenn Sie mit dieser<br />

Überzeugungsfähigkeit je in den Kommandobereich wechseln sollten,<br />

können sie froh sein, wenn man Ihnen nicht den Kopf von den Schultern<br />

reißt.“<br />

„Okay. Fein. Ich brauche sie.“, gab sie zu - aber nicht, ohne ein<br />

„Schätze ich.“, hinzuzufügen.<br />

„Schätzen Sie.“<br />

Sie zog ein gequältes Gesicht. „Es ist nicht so leicht.“<br />

„Das sollte es aber sein.“<br />

„Es ist nicht so, dass ich ohne die Akademie nicht existieren könnte.<br />

Ganz bestimmt nicht.“ Sie schnaubte. „Wie würde es sich auch anhören,<br />

wenn ich so etwas sage?“<br />

„Wie eine junge Frau, die weiß, was sie vom Leben will, bestimmte<br />

Ziele hat und alles daran setzt, sie zu erreichen. Im Gegensatz zu einer<br />

jungen Frau, die so sehr daran gewöhnt ist, gegen alles und jeden zu<br />

rebellieren, was mit ihrem Vater zu tun hat, sodass sie schon gar nicht<br />

mehr in der Lage ist, ihrem Leben eine Richtung zu geben.“<br />

Sie starrte ihn an. „Es... ist nicht so einfach.“<br />

„Das sagten Sie bereits. Und ich sagte, es sollte aber einfach sein.<br />

Aber vielleicht sind Sie noch zu jung, um zu wissen, wer Sie eigentlich<br />

sind und wo sie hingehören. Und vielleicht schaffen Sie es so lange, über<br />

die Richtung, die ihr Leben einschlagen soll unschlüssig zu sein, dass Sie<br />

am Ende überhaupt keine einschlagen und sagen, es sei eben nicht so


einfach.“ Er beugte sich zu ihr vor. „Es ist einfach. Sie sind hier. Auf der<br />

Akademie. Das wären Sie nicht ohne Grund. Nehmen Sie, was Sie<br />

brauchen und gehen sie Ihren Weg. Ganz einfach. So wie ich jetzt zurück<br />

zur Arbeit gehe.“<br />

„Ja, das sollten Sie.”, zickte Shan leicht verärgert, und drehte sich weg,<br />

um sich wieder ihrem Datenblock zu widmen. Sie würde Boothby<br />

einfach ignorieren. Immerhin gab es andere Dinge, um die sie sich<br />

kümmern musste. Die Diplomatenkurse, waren schließlich nicht gerade<br />

spannend. Im Grund ödete sie der ganze Lehrplan schrecklich an.<br />

Vielleicht sollte sie das Hauptfach erneut wechseln, um... um...<br />

Shan verzog das Gesicht, als sie realisierte, was sie da eigentlich<br />

dachte. Vielleicht hatte Boothby recht. Sie versuchte sich so sehr gegen<br />

die Flotte zu wehren, dass sie sich einfach nicht für einen bestimmten<br />

Weg entscheiden wollte. Man konnte es ihr gar nicht recht machen.<br />

Weder die Flotte, noch Galak noch sonst wer. Der alte Mann hatte den<br />

Nagel wirklich auf den Kopf getroffen. Und sie sah ein, dass sie endlich<br />

Entscheidungen treffen musste und Hilfe benötigte. Shan drehte sich zu<br />

Boothby um.<br />

Er war weg.<br />

Sie blickte sich überall um, auf der Suche nach irgendeiner Spur von<br />

ihm. Nichts. Shan runzelte die Stirn. Vielleicht war er wirklich vom<br />

Mars und konnte sich unsichtbar machen.<br />

In der Bibliothek betrachtete Cera angestrengt die Hausaufgaben auf<br />

dem Computerbildschirm. Das tat sie nun schon seit geraumer Zeit, aber<br />

sie wollte einfach nicht begreifen, was dort stand. Mathematik war noch<br />

nie ihre Stärke gewesen und an diesem Warpsinus hier, verzweifelte sie<br />

absolut. Sie verstand ja nicht einmal die Aufgabenstellung richtig und<br />

noch viel weniger, welche Formeln sie anwenden musste, um auf die<br />

richtige Lösung zu kommen. Es war zwecklos. Die Zahlen begannen<br />

bereits zu tanzen, zu fliegen und sich über sie lustig zu machen.<br />

Nach einer Weile lehnte sich Cera zurück und seufzte. Alleine würde<br />

sie an dieser Aufgabe verzweifeln, daran gab es nichts zu rütteln. Sie<br />

brauchte mal wieder Hilfe, so viel war klar. Doch wen konnte sie fragen?


Vorsichtig schielt die Pakled über ihren Monitor. Der Raum war auch so<br />

früh am Morgen schon gut besucht. Überall saßen Kadetten über ihren<br />

Aufgaben gebeugt, kauten auf Stiften herum, tippten Datenreihen in ihre<br />

Computerterminals, oder zogen ein ähnlich verzweifeltes Gesicht wie<br />

Cera.<br />

Die Pakled blickte lahm durch die Reihen, aber es war niemand da,<br />

den sie kannte. Sie kannte kaum jemanden. Die meisten hielten sich von<br />

ihr fern. Vielleicht mochten sie sie nicht. Oder sie hatten Angst vor ihr.<br />

Cera war sich nicht sicher. In jedem Fall, war sie zu schüchtern, sich<br />

ihnen zu nähern. Hier würde sie keine Hilfe bekommen. Also packte sie<br />

sorgfältig ihre Sachen zusammen und zählte noch einmal durch, nur um<br />

sicherzugehen, dass sie nichts vergessen hatte. Zwei Datenblöcke, ein<br />

Datenstift, ein Tricorder. Alles da. Dann spürte sie zweifel. Hatte sie<br />

nicht doch noch etwas vergessen? Also ging sie die Sachen noch einmal<br />

durch. Datenblöcke, Stift, Tricorder. Nein, sie hatte an alles gedacht.<br />

Oder nicht? Sie überlegte, ob sie noch einmal ihre Sachen überprüfen<br />

sollte, entschied sich dann aber dagegen. Dadurch verlor sie nur<br />

wertvolle Zeit, die sie ganz sicher bei den Aufgaben benötigen würde.<br />

Wenn sie etwas vergessen würde, konnte sie das später immer noch<br />

holen.<br />

Also watschelte sie zum Ausgang und begab sich zu den<br />

Kadettenunterkünften. Sie überlegte, wen sie um Hilfe bitten konnte. Ihr<br />

erster Gedanke viel auf Shan. Aber sie hatte Shans Hilfe schon sooft in<br />

Anspruch genommen... sie wollte sich nicht aufdrängen. Es war Cera<br />

unangenehm. Und sie wollte Shan nicht verärgern. Die Freundschaft zu<br />

ihr war ihr zu wichtig. Während sie sich durch das Gebäude bewegte, fiel<br />

also die Entscheidung, einen der anderen Aufzusuchen. Vielleicht Yoko.<br />

Oder Durkin. Bisher hatte Cera mit denen so gut wie nichts zu tun<br />

gehabt. Aber sie schienen nett zu sein. Zumindest waren sie nicht<br />

gemein. Neutral. Ja, neutral waren sie. Und neutral war gut. Wo sie<br />

näher darüber nachdachte, kam ihr in den Sinn, dass Wotan noch sehr<br />

nett war. Der Tiger hatte ihr ab und an Mut zugesprochen. Genau wie<br />

Shan. Vielleicht sollte sie einfach ihn aufsuchen. Andererseits, bewohnte<br />

er dasselbe Quartier wie Shan. Und ihr wollte sich Cera heute nicht<br />

aufdrängen. Also doch Yoko. Ja, das war eine gute Idee, dachte Cera und<br />

änderte entsprechend ihre Richtung.


Die Unterkünfte waren zu dieser Tageszeit gefüllt, aber sie befanden<br />

sich alle hinter geschlossenen Stunden und lernten. Das Frühstück lag<br />

hinter ihnen und der Morgensport würde erst in einer Stunde anfangen.<br />

Die freie Zeit dazwischen nutzten die Leute immer, um sich auf den<br />

Stoff des Tages vorzubereiten. Die leeren Korridore machten Cera klar,<br />

wie groß das Gebäude war. Wie groß die ganze Akademie war.<br />

Geradezu gewaltig! Sie war nur eine einzelne, unter Tausenden. Und<br />

diese Erkenntnis, lies sie sich furchtbar klein fühlen. Auf Pakled lebte<br />

man nicht in so großen Gruppen zusammen, sondern in kleinen<br />

Stämmen. Sie bog in einen Seitentang, erreichte Yokos Quartier und<br />

betätigte den Türmelder. Niemand antwortete. Niemand öffnete. Sie<br />

betätigte den Melder ein weiteres Mal, mit demselben Ergebnis. Je<br />

länger sie wartete, desto länger unterließ es die Tür, sich zu öffnen.<br />

Offenbar war der Vulkanier nicht in seinem Quartier. Als nächstes<br />

suchte sie Durkins Raum auf, doch auch dort öffnete niemand. Sowohl<br />

er, als auch Tala schienen ausgegangen zu sein. Cera seufzte.<br />

Dann konnte ihr wirklich niemand mehr helfen, außer Shan. Ob sie die<br />

Schlauheit des Mädchens noch einmal in Anspruch nehmen sollte?<br />

Schließlich zuckte sie mit den schweren Schultern und setzte sich in<br />

Bewegung. Was war schon dabei...?<br />

In seinem Quartier lag Galak ausgestreckt auf dem Bett und<br />

registrierte mit mildem Interesse, dass sein Atem sich langsam wieder<br />

beruhigte. Der Sex war spektakulär gewesen, wie üblich. Aber irgendwas<br />

war heute anders. Nachdenklich, aber befriedigt, verschränkte er die<br />

Arme hinter dem Kopf, sah zur Decke und begann eine Melodie zu<br />

summen, während er mit den Zehen wackelte.<br />

„Sei nicht so selbstzufrieden.“, tadelte eine Stimme neben ihm. Sie<br />

klang nicht besonders glücklich. Galak lies sich daran nicht stören. „Was<br />

ist denn mit dir, meine Liebe? Du scheinst heute gar nicht gut gelaunt zu<br />

sein.“<br />

Er drehte den Kopf zu Tala, die sich neben seinem Bett befand und<br />

wieder in ihre Uniformhose schlüpfte. Ihr nackter Oberkörper war noch<br />

immer von einem leichten Schweißfilm bedeckt, das weiß-blonde Haar


hing zerzaust herab. Obwohl sich Galak alle Mühe gegeben hatte, um ihr<br />

Vergnügen zu bereiten, wirkte sie nicht sehr glücklich.<br />

„Bin ich auch nicht.“, beteuerte sie knapp. Tala griff nach ihrer Jacke<br />

und streifte sie schnell über. Aber sie schloss sie nicht, sondern blickte<br />

kopfschüttelnd zu Galak herab. „Dang! Was du mir da eben erzählt<br />

hast... was machen wir denn jetzt nur, Galak?“ In ihren Augen blitzte<br />

Verzweiflung. „Ich kann immer noch nicht glauben, was du getan hast.<br />

Was du ihr angetan hast. Und in welcher Zwickmühle ich nun<br />

deinetwegen stecke. Alles deinetwegen!“<br />

Galak erwiderte ihren Blick mit ausdrucksloser Mine. „Bleib ruhig,<br />

Tala. Ich werde es ihr sagen.“<br />

„So wie du es mir mitgeteilt hast? Dang! Das hättest du vorher machen<br />

müssen!“<br />

„Dann werde ich das eben nachholen.“<br />

„Sie wird dich umbringen!“<br />

„Dann werde ich besser den Mund halten.“<br />

Tala schüttelte verzweifelt den Kopf und knabberte mit angestrengtem<br />

Blick auf ihrer Unterlippe herum. Sie wirkte tatsächlich außerordentlich<br />

unglücklich, was ihn sehr überraschte. Scheinbar fühlte sie sich schuldig<br />

für das, was geschehen war, und das konnte er ganz und gar nicht<br />

nachvollziehen. Auf Orsoria fühlte man sich nicht... schuldig. Nicht für<br />

eine völlig natürliche Sache. Trotzdem fragte er: „Bereust du etwa, was<br />

wir getan haben?“<br />

„Huh?“ Sie dachte nach. „Nein... im Grunde nicht.“<br />

„Dann war es auch nichts Verkehrtes.“<br />

Eine Weile sagte niemand mehr etwas.<br />

„Und was geschieht jetzt?“, fragte Tala irgendwann. Sie sprach sehr<br />

leise, fast so, als fürchte sie die Antwort auf ihre Frage. „Gehst du jetzt<br />

zu ihr? Willst du auch mit ihr...“<br />

Sein Blick glitt ins Leere. „Ich denke nicht, dass sie bereit dazu ist.<br />

Das hat sie ausdrücklich klar gemacht. Sie hatte ihre Chance.“ Tala sagte<br />

nichts. Galak runzelte die Stirn. „Das ist doch nur etwas körperliches.“,<br />

sagte er. Die nächste Frage, die sie an ihn richtete, traf ihn aber völlig<br />

unvorbereitet: „Und was war das mit mir?“<br />

Er war davon ausgegangen, das hätten sie geklärt. „Tala... du wusstest,<br />

worauf du dich einlässt.“


Sie sah ihm in die Augen. „Ja. Ja, das wusste ich.“<br />

„He.“ Er umschloss ihr Handgelenk und zog sie sanft zu sich herab.<br />

„Komm schon. Wir hatten doch Spaß, hm?“<br />

Sie lächelte leicht. Es war ein bitteres Lächeln, aber immerhin ein<br />

Lächeln. Darauf konnte er aufbauen. „Siehst du? Ich liebe dich.“<br />

„Tust du nicht.“<br />

„Ich liebe Teile von dir...“<br />

Tala brummte und riss ihre Hand los. Er konnte es ihr nicht ganz<br />

verübeln. Bis zum gestrigen Tag noch, hatte er geglaubt, dass er Tala<br />

tatsächlich liebte... in gewisser Weise. Er liebte schließlich alle seine<br />

Freundinnen. Aber der Kuss mit Shan... Das war irgendwie etwas<br />

anderes gewesen. Etwas neues. Es hatte zum ersten Mal so richtig...<br />

geprickelt. Ein unbeschreibliches Gefühl! Ein Gefühl, dass ihn furchtbar<br />

verwirrte und Galak wollte nicht verwirrt sein. Er war durch das Gelände<br />

spaziert, und hatte sich die halbe Nacht lang den Kopf darüber<br />

zerbrochen, was nur mit ihm los war.<br />

Und was das besondere an dieser Erdenfrau war, die ihm derartig den<br />

Kopf verdreht hatte. Mit einem Kuss. Mit einem einzigen Kuss!<br />

Vielleicht lag es daran, dass sie sich nicht so leicht erobern lies. Für<br />

gewöhnlich musste sich Galak nicht anstrengen, um die Objekte seiner<br />

Begierde zu erobern. Ein nettes Wort hier, ein Kompliment dort... es fiel<br />

ihm immer verschämt einfach. Nicht so mit Shan. Sie hatte ihn<br />

abgewiesen. Und das war... so... anders! Je mehr er darüber nachdachte,<br />

desto mehr hatte ihn die Tatsache aber auch verärgert. Er wollte es nur<br />

ungern zugeben, aber er fühlte sich in seinem Ego verletzt. Mit<br />

Zurückweisungen kam er nicht besonders gut klar. Für gewöhnlich<br />

reagierte er sehr ungehalten. Aber nicht einmal richtig böse sein, konnte<br />

er ihr. Er war wirklich wahnsinnig durcheinander gewesen letzte Nacht.<br />

Er wusste, dass er zu Shan hätte gehen sollen. Er hätte den Mut<br />

aufbringen müssen, ihr sein Herz auszuschütten, mit ihr zu ernsthaft zu<br />

reden und ihr zu beteuern, dass er gewillt war, sich für sie zu ändern.<br />

Aber er wollte sich keine Blöße geben. Irgendwie hatte er das Gefühl,<br />

dass er dadurch in ihrer Achtung sinken würde. Dieses Risiko wollte er<br />

auf keinen Fall eingehen. Wie konnte sie ihn bewundern und wollen,<br />

wenn sie ihn so schwach erlebte? Das war nicht der Galak Arsamandi,<br />

den sie kannte, nicht das, was sie von ihm erwartete. Sie brauchte. Er


auchte.<br />

Also war er zu Tala gegangen. Zwischen ihnen war schon seit einiger<br />

Zeit etwas am Laufen. Sie war allein, er war allein – warum also nicht?<br />

Er hatte kein Wort sagen müssen. Das war das Wunderbare an ihr. Er<br />

hatte sie geküsst, um Shan aus seinem Kopf zu bekommen und nicht<br />

mehr länger verwirrt zu sein. Und sie hatte nichts gesagt. Kein Wort.<br />

Bis er ihr vorhin gestanden hatte, dass er Shan geküsst hatte, und das<br />

dieser Kuss irgendwie anders war. Sie war nicht begeistert gewesen und<br />

Galak konnte nicht recht nachvollziehen, warum. Vielleicht fühlte sie<br />

sich schuldig, weil sie nun das Gefühl hatte, Shan in den Rücken gefallen<br />

zu sein? Er wusste es nicht. Im Grunde war es auch unwichtig. Es ging<br />

schließlich nur um Sex...! Nun betrachtete er Talas aufregenden Körper<br />

und lächelte. Er war sehr dankbar für die Ablenkung, die sie ihm bot.<br />

Dafür, dass sie ihn auf andere Gedanken brachte.<br />

„Wir haben noch ein bisschen Zeit, bis Sortak von seiner Strafarbeit<br />

zurückkehrt.“, sagte er. „Wenn es uns gelingt leise zu sein, könnten wir<br />

die nächsten Minuten für etwas besseres nutzen, als zu streiten...“<br />

Tala drehte sich herum zu ihm. „Ach, Galak...“<br />

„Na komm schon. Lass uns nicht streiten. Dafür ist das, was wir<br />

haben, viel zu schön.“ Er berührte sie wieder am Arm und zog sie ein<br />

weiteres Mal herab. Tala wehrte sich nicht. Ihre Lippen näherten sich.<br />

Natürlich suchte sich die Tür ausgerechnet diesen Moment, um beiseite<br />

zu gleiten, und Shan den Einlass in das Quartier zu gewähren. „Galak,<br />

ich habe meine Meinung geändert. Wir müssen uns über unsere Zukunft<br />

unter...“<br />

Ihre Stimme verblasste, bei dem Anblick, der sich ihr darbot. Nämlich<br />

Tala, mit offener Uniformjacke, den Großteil ihrer Kleidung über den<br />

Raum verteilt, während sie über Galak gebeugt war, der deutlich<br />

verschwitzt auf dem Bett lag. Und wenn man bedachte, wo sich seine<br />

Hände befanden, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis auch Tala<br />

wieder sichtlich verschwitzt auf dem Bett lag.<br />

Alle drei erstarrten einen quälend langen Moment lang genau dort, wo<br />

sie waren. Man hätte den trommelfellzerreißenden Klang einer fallenden<br />

Stecknadel hören können. Shans Gehirn hatte Probleme, das zu<br />

verarbeiten, was ihre Augen ihr mitteilten, aber Tala und Galak sahen<br />

schließlich die Erkenntnis, die Shan mit der Macht, einer Subraumbombe


traf. Sie fühlte sich, als würde ihre Haut einfrieren, als ihr Blut das<br />

Gesicht evakuierte und für einen kurzen Moment, schwankte der Raum.<br />

All die Gefühle und Empfindungen, die plötzlich zu Tausenden auf sie<br />

einströmten, versuchten an ihr zu reißen, jede einzelne, sie in eine<br />

bestimmte Richtung zu drängen. Ihr schossen Millionen Gedanken im<br />

Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, aber nicht ein einziger klarer<br />

Gedanke. Anschließend kam der Schock und dann der Zorn, Zorn, der<br />

Mark und Bein auf unvorstellbare Weise durchschlug.<br />

„Shan!“, rief Tala erschrocken und nahm ihre Hände ruckartig von<br />

Galak, als würde sie sich andernfalls an seinem Körper verbrennen.<br />

„Bitte... du solltest jetzt nicht überreagieren.“<br />

Galak richtete sich übereilt auf und pflichtete ihr eifrig nickend bei.<br />

„Es ist nicht so ... wie du denkst!“<br />

„Ich denke ihr habt miteinander geschlafen.“<br />

„Dann... ist es doch so, wie du denkst.“, musste er einräumen. „Ich<br />

kann nur erahnen, was jetzt in deinem Kopf vorgeht...“<br />

Shan mobilisierte ihren Atem, um ihre Stimme hart klingen zu lassen.<br />

Das war nicht sonderlich schwer. „Nein, Galak. Das kannst du nicht.“<br />

Sie starrte ihm direkt in die Augen, wünschte sich, dort irgendetwas zu<br />

finden, was ihr Hoffnung gab, Hoffnung, dass das alles gar nicht<br />

passierte. Aber natürlich wusste sie längst, dass sie sich nur etwas<br />

vormachte.<br />

„Es tut mir leid, Shan.“, sagte Tala vorsichtig. „Du musst mir glauben,<br />

dass ich dich nicht verletzten wollte.“<br />

Nun sah Shan ihr erstmals in die Augen. Die Wellen der Wut, die Tala<br />

entgegenschlugen, raubten ihr fast den Atem. „Du hast es gewusst,<br />

oder?“, fragte Shan. „Du hast gewusst, dass ich etwas für ihn empfinde.“<br />

Tala ließ ihre Fühler sinken. Sie nickte wortlos.<br />

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“, schnappte Shan. „Du hattest<br />

kein Recht das zu tun! Du bist meine Klassenkameradin! Meine<br />

Freundin! Du kannst mir nicht derart in den Rücken fallen, erst recht<br />

nicht, wenn du wusstest, dass wir-“<br />

„Genaugenommen....“, sagte Galak. „War sie zuerst da.“<br />

„Was?!“<br />

„Tala und ich, wir... wir waren schon vorher involviert, Shan. Vor dir.“<br />

Er zuckte mit den Schultern. „Es ist aber nur eine Sexgeschichte. Nichts


weiter. Sie bedeutet mir nichts. Überhaupt nichts.“<br />

Tala schleuderte ihm einen finsteren Blick zu. „Danke, wie nett...!“<br />

Shan stolperte einen Schritt zurück, als hätte sie jemand gestoßen. Ihre<br />

Augenbrauen fuhren auf verzweifelte Art und Weise nach oben. „O mein<br />

Gott.“<br />

Und plötzlich begriff sie.<br />

„Das… ist eine komplizierte Situation.”, sagte Tala, nun wieder an sie<br />

gewandt. „Wir sollten darüber reden.“<br />

Shans Hände ballten sich zu Fäusten. Die Knöchel an ihren Fingern<br />

traten weiß hervor. „Was gibt es da noch zu reden?“<br />

„Galak... hätte dir von uns erzählen sollen. Und was er von dir will.“<br />

Der Orsorianer zuckte mit den Schultern. „Ich nahm an, sie wüsste das<br />

längst, Tala. Ich habe doch nie ein Geheimnis draus gemacht, was ich<br />

wirklich will.“<br />

„Ja. Aber sieh sie dir an.“, meinte Tala mit vorwurfsvoller Stimme.<br />

„Schau in ihre Augen. Du hast sie zutiefst verletzt!“<br />

„He, du bist auch nicht unschuldig.“<br />

Sie ignorierte seinen Kommentar. „Hör zu, Shan, das ist alles ein<br />

Missverständnis. Ich weiß, wie sehr dich das treffen muss und ich...“<br />

„Sag mir nicht, wie ich mich fühle, Tala!“<br />

„...werde daher deinem Wunsch nach dem Ushaan entsprechen.“<br />

„Ushaan?“, wiederholte Galak und stand vom Bett auf. „Was ist ein<br />

Ushaan?“<br />

Sie machte eine vage Geste. „Dabei handelt es sich um eine alte<br />

andorianische Tradition. Ein Kampf, auf Leben und Tod zwischen zwei<br />

Kontrahenten, die nur mit dem Ushaan-tor bewaffnet sind, einem<br />

Werkzeug unserer Eisarbeiter. Der Ritus wird meistens angewendet, um<br />

einen Toten zu rächen, aber man kann ihn auch anwenden, um einen<br />

Sexualpartner zu kämpfen und-“<br />

„Ich weiß, was ein Ushaan ist, verdammt!“, fauchte Shan.<br />

Tala nickte förmlich. „Gut. Das ist die einzige Möglichkeit, ehrenvoll<br />

aus dieser Situation zu kommen.“<br />

Shans Nasenflügel flatterten. „Du willst einen Kampf“, grollte sie. „Du<br />

willst tatsächlich kämpfen? Du sollst deinen Kampf haben!“<br />

Sie war wütend. Machte einen Schritt auf Tala zu...<br />

... und dann doch wieder einen zurück. Shan schloss einen Moment die


Augen und schüttelte den Kopf. „Nein.“, sagte sie fest. „Nein, ich gehe<br />

jetzt.”<br />

„Was?“, fragten Tala und Galak zeitgleich. Sie hatten nicht genau<br />

gewusst, welche Reaktion sie nun erwartet hatten. Vermutlich die, von<br />

einem blonden Wirbelwind auseinandergerissen zu werden. Shans<br />

Rückzug kam jedoch unerwartet.<br />

„Ich sagte, ich gehe jetzt.“ Shan machte einen Schritt auf Tala zu und<br />

auch, wenn ihre Stimme stabil klang, sah man ihr deutlich an, dass sie<br />

sich erheblich zusammenreißen musste, nicht die Beherrschung zu<br />

verlieren. „Lass dir eins gesagt sein, Tala. Wenn ich davon überzeugt<br />

wäre, Galak wäre mein... wenn ich davon überzeugt wäre, dass er mit<br />

mir zusammensein und eine ernsthafte Beziehung aufbauen wollte...<br />

Würde ich mit dir kämpfen. Und glaub mir, ich weiß wie du kämpfst. Du<br />

würdest mich vermutlich in der Mitte durchbrechen, aber ich würde dir<br />

trotzdem gegenübertreten, Auge um Auge, und sie müssten meine Zähne<br />

aus deinem, Hals schneiden, um uns beide voneinander zu trennen. Wie<br />

gesagt, wenn ich davon überzeugt wäre, dass Galak und ich füreinander<br />

bestimmt wären. Aber dem ist nicht so, nicht wahr? Also ... also kann ich<br />

gehen.“<br />

Um ein Blutbad zu vermeiden, hielt Galak lieber den Mund. Das war<br />

nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, über seine wahren<br />

Empfindungen zu sprechen.<br />

„Shan...“, began Tala.<br />

„Nein. Spar dir das! Halt einfach den Mund, bevor ich deine Fühler<br />

verknote! Bevor ich etwas wirklich, wirklich dummes tue! Ich will nicht<br />

noch einmal in Janeways Büro hocken und ihre Predigten über mich<br />

ergehen lassen. Die letzte war mehr als genug. Wenn ich eines gelernt<br />

habe in den vergangenen Wochen... dann, dass wir auf dem Weg sind,<br />

erwachsen zu werden. Und das wir uns auch langsam so verhalten<br />

sollten, wie erwachsene, stolze Leute. Ohne rituelle Zweikämpfe. Ohne<br />

Schlägereien. Ohne Verletzungen. Zumindest... ohne körperliche. Und<br />

deswegen gehe ich jetzt.”<br />

Sie blickte Tala tief in die Augen und sah, dass sich die Andorianerin<br />

wirklich schämte. Dann wandte sie sich Galak zu und betrachtete ihn mit<br />

einer erschütternden Mischung aus Enttäuschung und Wut. Der Schmerz<br />

war ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Sie schüttelte vorwurfsvoll den


Kopf, ohne den Blick von ihm zu nehmen und sagte leise: „Du bist<br />

absolut nicht der, für den ich dich gehalten habe.“<br />

„Shan... Ich habe das schlecht gehandhabt.“<br />

„Oh ja.”, stimmte sie zu. „Das hast du.“<br />

„Aber du kannst auch meinen Hintergrund nicht vergessen. Wir<br />

Orsiorianer sind eben so. Wir... brauchen unsere vielen Weibchen. Das<br />

liegt einfach nicht in unserer Natur. Wir männlichen Orsorianer müssen<br />

unser Genom verbreiten. Dabei sind wechselnde Partnerinnen – oder<br />

mehrere Partnerinnen auf einmal – etwas völlig normales und wir<br />

möchten genießen, was das Leben zu bieten hat.“ Er lächelte schief. „He.<br />

Wenn du willst, können wir ja zu dritt-“<br />

Shans Hand klatschte ihm ins Gesicht. Die Backpfeife traf ihn nicht<br />

nur mit voller Wucht, sondern auch absolut unvorbereitet. Galak hatte<br />

das mehr aus Spaß gesagt, doch Shan nahm seinen Kommentar<br />

offensichtlich ernst und fühlte sich angegriffen. Was ... sie nun dazu<br />

verlitten hatte, ihn anzugreifen. Er hielt sich stirnrunzelnd die Wange.<br />

Shans Kiefer mahlte. „Ihr habt euch gegenseitig verdient.“ Und damit<br />

drehte sie sich um und verließ das Quartier.<br />

Shan stürmte den Korridor entlang und stieß alle Kadetten beiseite, die<br />

ihr zufällig in den Weg gerieten. Als sie Shans wütenden<br />

Gesichtsausdruck sahen, unterdrückten sie sofort ihre erste Reaktion auf<br />

die unsanfte Behandlung und hielten klugerweise den Mund. Shan lief<br />

durch die einzelnen Sektionen der Kadettenunterkünfte und bewegte sich<br />

so schnell, dass den Türen kaum Zeit blieb, sich für sie zu öffnen. In der<br />

Stimmung, in der sie jetzt war, wäre sie wahrscheinlich einfach durch die<br />

Türen gerast, hätten sie sich nicht rechtzeitig geöffnet.<br />

Sie wurde erst langsamer, als ihr nur noch wenige Leute entgegen<br />

kamen und als sie schließlich sicher war, dass sich niemand in<br />

unmittelbarer Nähe befand und ihre Schwäche sehen konnte, blieb sie<br />

stehen. Shan lehnte sich an die Wand, wo sie zu weinen begann. Es<br />

waren zwei, höchstens drei Tränen, die sie sich gestattete, aber diese<br />

wenigen genügten schon.<br />

Shan wusste nicht, worüber sie wütender sein sollte. Über den Verrat


ihrer sogenannten Freunde, oder über sich selbst. Freunde. Pah! Allein<br />

der Gedanke war lächerlich. Die beiden waren nie ihre Freunde gewesen.<br />

Weder Galak noch Tala. Und Shan hatte ihnen auch noch vertraut! Galak<br />

hatte sie sogar - wenn auch unfreiwillig und ungewollt - ihr Herz<br />

gegeben, und das nur, um anschließend einen Scherbenhaufen<br />

zurückzuerhalten. Wie er sie angeschaut hatte, aus seinen höhnischen<br />

Augen. Unfassbar! Mit ein paar miesen Phrasen hatte er klaffende<br />

Löcher in ihr Hirn gestochen. >Wir können ja zu dritt...


„Shan.“, rief sie und hielt einen Datenblock in die Höhe. „Kannst du ...<br />

kannst du mir hierbei helfen tun?“<br />

Shan stöhnte innerlich auf. Das hatte sie jetzt wirklich noch gebraucht.<br />

„Cera, es ... ist jetzt nicht so günstig.“<br />

Aber die Pakled war bereits neben ihr, hielt ihr den Datenblock unter<br />

die Nase und deutete mit großen Augen darauf. Auf dem Display waren<br />

Matheaufgaben. Einfach, der Viertklässler lösen konnten. Cera hatte alle<br />

Rechnungen verbockt, das sah Shan schon bei einem kurzen Überflug.<br />

„Kannst du ... kannst du mir helfen tun?“<br />

Sie schien nicht einmal zu bemerken, dass Shan etwas bedrückte,<br />

dabei sah man ihr die roten Augen zweifellos an. Aber niemand<br />

bemerkte es jemals, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte. Niemand. Sie<br />

kamen immer nur, um Shan ihre eigenen Probleme auf die Schultern zu<br />

laden, aber kümmerten sich überhaupt nicht, wenn es ihr einmal schlecht<br />

ging. Vielleicht hatte sie sich das selbst eingebrockt, da sie immer die<br />

Starke spielte.<br />

„Cera...“<br />

„Ich ... ich verstehe die Aufgaben leider nicht.“<br />

Shan drückte den Datenblock weg und wollte sich wegdrehen, doch<br />

Cera drehte sich mit ihr und deutete auf den Block. „Schwere Aufgaben.<br />

Schwer, ja. Ja.“<br />

Langsam wurde Shan wütend. „Cera!“<br />

Die Pakled stutzte. „Bist du ... bist du wegen irgendwas wütend?“<br />

Also das...! Das war ja wohl die Höhe! Shan platzte entgültig der<br />

Kragen. „Ja!“, schrie sie Cera an. „Ja, du hast verdammt recht, ich bin<br />

wütend!“<br />

Cera zuckte sichtlich zusammen und wich erschrocken einen Schritt<br />

zurück. Sie starrte Shan aus großen Augen an, als wäre sie zu einem<br />

Drachen mutiert und hatte plötzlich Angst vor ihr. Shan brodelte.<br />

Dennoch schaffte es Cera vorsichtig zu fragen: „Wo... worüber?“<br />

„Über alles!“, schrie Shan. „Über meinen Vater! Die Akademie!<br />

Meine sogenannten Freunde! Über… über mich!”<br />

„Das wusste ich nicht...“<br />

„Natürlich wusstest du das nicht!“, keifte Shan. „Woher auch? Du hast<br />

dir ja nicht einmal die Mühe gemacht, zu fragen, wie es mir überhaupt<br />

geht. Niemand macht sich die Mühe. Stattdessen wollen immer alle


etwas von mir. Immer nur nehmen, nehmen, nehmen, aber niemals<br />

geben.“<br />

Cera wusste offenbar nicht, was sie tun sollte und sah auf den<br />

Dateblock in ihrer Hand, was Shan noch wütender machte. Sie holte aus<br />

und Schlug Cera den Block aus der Hand. Er flog durch die Luft und<br />

zerbrach an der Wand. Shan wusste, dass es verkehrt war, aber das<br />

kümmerte sie in diesem Moment nicht, denn sie war in voller Fahrt und<br />

hoffte, dass Cera endlich – endlich – die Botschaft verstanden hatte. All<br />

der angestaute Frust, der sich angestaut hatte, musste entladen werden<br />

und Cera hatte das unzweifelhafte Vergnügen, zur falschen Zeit am<br />

falschen Ort aufgekreuzt zu sein. Einmal in fahrt, konnte der Vulkan<br />

Shan nicht mehr aufgehalten werden und sie walzte nun alles nieder, was<br />

ihr in den Weg kam.<br />

„Du musst diesen Scheiß auch mal alleine machen, Cera! Das sind<br />

Aufgaben, die jeder Grundschüler beherrscht, aber jeder Grundschüler<br />

scheint auch mehr Grips zu haben, als du. Du kannst doch nicht immer<br />

zu mir gerannt kommen! Wenn du diesen Blödsinn nicht beherrscht, bist<br />

du eindeutig zu blöd für die Akademie!“<br />

Shan schnaufte heftig. Jetzt war alles raus. Alles entladen. Einen<br />

Moment lang starrten sie sich an. Ceras Lippen bebten. Auf einmal<br />

schossen ihr die Tränen in die Augen und Shan verspürte ernsthafte<br />

Gewissensbisse. Zu hart, dachte sie. Viel zu hart.<br />

„Cera...“<br />

„Du hast ... du hast leicht reden!“, brüllte Cera schluchzend. Sie war<br />

aufgebracht und spuckte. „Dir fällt alles in die Hände! Du bist schlank<br />

und hübsch. Alle tun sich nach dir umdrehen! Du hast ja keine Ahnung,<br />

wie es für mich ist! Keine Ahnung!“<br />

„Cera.“<br />

Doch sie wollte nicht mehr hören. Cera versetzte ihr einen kräftigen<br />

Stoß, der Shan auf den Hintern beförderte. Die Pranken der Pakled<br />

öffneten und schlossen sich, einen Moment lang, schien sie gewillt zu<br />

sein, Shan anzugreifen. Doch stattdessen drehte sie sich abrupt um und<br />

rannte weinend davon.<br />

Shan richtete sich auf. „Cera...“, rief sie ihr hinterher. „Cera, es tut mir<br />

leid. Cera... bitte.“<br />

Aber es war zu spät. Cera kam nicht wieder zurück. Und jetzt


ealisierte Shan est nach und nach, was sie eigentlich gesagt hatte. Sie<br />

wusste nicht, was passiert war. Es kam ihr so vor, als hätte eine andere<br />

Shan aus ihr gesprochen. Eine böse, dunkle Shan, die sie niemals<br />

wiedersehen durfte. Aber es war zu spät und nun brach alles auseinander.<br />

Sie war gescheitert. Endgültig. In jeder Hinsicht. Die Akademie sollte<br />

das beste aus den Leuten holen. Aber sie hatte das schlechteste aus Shan<br />

geholt. Was für einen Sinn hatte es, sich irgendwo reinzuhängen, dass<br />

solche Reaktionen in ihr hervorrief?<br />

Shan zog die Konsequenzen.<br />

Eine Stunde später war sie damit beschäftigt, ihre Sachen zu packen.<br />

Sie rechnete nicht damit, dass es lange dauern würde, viel hatte sie nicht<br />

mitgenommen. Wotan kauerte niedergeschlagen auf seinem Bett und<br />

beobachtete sie dabei. Zu seiner Enttäuschung, hatte er kein Glück darin,<br />

Shan davon zu überzeugen, ihr Vorhaben noch einmal zu überdenken.<br />

Sie war fest entschlossen.<br />

„Liebes. Meinst du nicht, du bist zu hart zu dir?“<br />

„Ich bin nicht einmal ansatzweise hart genug zu mir.“, meinte Shan,<br />

ohne aufzusehen. Sie stopfte ein paar ihrer Hemden in den Rucksack und<br />

räumte dann die Hosen aus dem Schrank. „Was ich Cera angetan habe,<br />

ist unverzeihlich.“<br />

„Es geschah aus einem Affekt. Du warst wütend...“<br />

Shan hielt einen Moment inne und starrte Wotan ernst an. „Mag sein.“,<br />

sagte sie mit harter Stimme. „Aber es hätte niemals so weit kommen<br />

dürfen.“<br />

Wotan seufzte schwer. „Arme Shan. Du hast dich in Galak verliebt<br />

und er hat dich mit deiner besten Freundin betrogen.“<br />

Shan brummte. Sie musste nicht ständig daran erinnert werden.<br />

„Und?”<br />

“Das ist die traurigste Geschichte in der Welt.”<br />

„Ist meine eigene Schuld. Weißt du was? Ich hatte eine Chance und<br />

habe sie nicht genutzt. Ich hätte Galak gleich ansprechen können. Vom<br />

ersten Moment an. Aber ich habe meinen eigenen Rat nicht befolgt. Und<br />

hier bin ich. Am Ende der Linie.“


„Aber schau doch nur, wie weit du schon gekommen bist, hm? Was<br />

wir alle geschafft haben. Und jetzt willst du abbrechen?“<br />

„Wotan... Ich war nie dazu bestimmt, hier irgendetwas zu schaffen.<br />

Das wusste ich von Anfang an.“<br />

„Wirklich?“ Wotan neigte misstrauisch den Kopf. „Und du denkst<br />

nicht, dass es sich dabei um so eine Art selbsterfüllende Prophezeiung<br />

handelt? Dass du dir so lange das Scheitern eingeredet hast, bis du<br />

unterbewusst darauf hingearbeitet hast und diesen Vorfall nun als<br />

willkommenen Ausrede vorschiebst?“<br />

Sie begann wieder ihre Sachen einzupacken. „Diese...<br />

Prophezeiung...“, sagte sie. „hätte sich so oder so erfüllt. Glaub mir.“<br />

„Nun... ich muss sagen, Liebes, dass du für jemanden, der so<br />

überzeugt von seinem Scheitern war, eine Menge getan hast, eben jenes<br />

Scheitern zu verhindern. Das ist nicht wirklich typisch für jemanden, der<br />

denkt, er versage sowieso.“<br />

Shan erwiderte nichts.<br />

„Weißt du, was ich denke? Ich denke, du hast dich gar nicht vor dem<br />

Scheitern gefürchtet. Ich denke du hast vielmehr den Erfolg gefürchtet“<br />

„Den Erfolg?“, wiederholte sie stirnrunzelnd. „Warum sollte ich<br />

Erfolg fürchten?“<br />

Wotan deutete mit einer Pranke auf sie. „Weil das bedeuten würde,<br />

dass du deinem Vater gleichkommst.“<br />

Shan verdrehte die Augen. „Nicht schon wieder die alte Leier.“<br />

Aber Wotan fuhr unbeeindruckt fort. „Sehen wir der Tatsache ins<br />

Auge, Shan. Du würdest nun lieber gehen und dich selbst bedauern, aus<br />

Angst, du könntest hier auf der Akademie etwas erreichen. In der Flotte.<br />

Denn da draußen wärst du auf jeden Fall etwas anderes als dein Vater.<br />

Das Problem ist nur.. du kannst nicht vor seinem Ruf davonlaufen. Auch<br />

da draußen wirst du mit ihm verglichen. Automatisch.“<br />

Shan warf ihm einen zornigen Blick von der Seite zu. „Wer bist du?<br />

Mein Psychologe?“<br />

„Ja.“<br />

Einen Moment hing eine bleierne Stille zwischen ihnen. Und dann<br />

sagte Shan schnell: „Du kennst mich nicht.“<br />

„Oh, ich kenne dich inzwischen gut genug.“, entgegnete Wotan und<br />

richtete sich auf. Er tappte zur Bettkante, duckte sich ein Stück und


sprang dann an Shan vorbei auf ihr Bett, wo er sich neben ihren<br />

Rucksack setzte, um ihr in die Augen sehen zu können. „Ich kenne dich<br />

sogar sehr gut. Und ich weiß, du könntest eine der Besten sein.“<br />

Shan seufzte schwer. „Ach Wotan...“ Sie war fast gewillt zu sagen >es<br />

ist kompliziert


einfach bereitwillig geben. Um sie irgendwann selbst zu erhalten. So<br />

funktioniert die Welt.“<br />

Shan schnaubte und deutete mit einer vagen Geste auf den Raum. „Ja.<br />

Diese Welt hier. Die Welt der Sternenflotte. Nicht meine. In meiner<br />

überlebt man, wenn man alleine bleibt. Andernfalls bereitet man allen<br />

Kummer. Das Recht des Stärkeren. Wer sich nicht selbst helfen kann, ist<br />

verloren. Du als Tiger solltest das am ehesten verstehen. So.“ Sie schlug<br />

sich auf die Oberschenkel und stand auf. Als nächstes warf sie ihren<br />

Rucksack über die Schulter und nahm das Schwert von der Wand. Damit<br />

hatte sie alles bei sich, womit sie gekommen war. Wotan fiebte und lies<br />

die Ohren hängen. Er wusste, das alle Mühe vergebens war. Shan wollte<br />

gehen und nichts konnte sie von ihrer Entscheidung abbringen. Dann<br />

hallte eine Glocke durch das Gebäude. Der nächste Kurs stand an, die<br />

Kadetten mussten sich in ihren Aufgabenbereichen einfinden. „Basiskurs<br />

Warptechnologie bei O’Brian?“, fragte Shan.<br />

Wotan verneinte. „Professor Sturak hat uns zu Wartungsabreiten in das<br />

verlassene Gebäude am Rande des Geländes beordert.“<br />

„Ah. Dieses alte Ding? Da waren wir noch nie drin.“<br />

„Wir müssen dort unsere Strafe abarbeiten. Wegen der Schlägerei. Du<br />

weißt schon.“<br />

„Nur zu gut. Siehst du? Noch eine Sache, die ich verbockt habe. Dank<br />

mir darf nun die halbe Akademie nachsitzen.“<br />

„Ach, Liebes...“<br />

In dem Moment glitt die Tür auf und Durkin stand im Korridor, um<br />

Wotan abzuholen. Seine Schweinsäugen stierten zu Shan und dann zu<br />

Wotan. „Hast du es geschafft?“<br />

Der Tiger lies noch immer den Kopf hängen. „Sie will gehen.“<br />

Durkin lies ebenfalls die Schultern hängen. Shan konnte sich nicht<br />

einmal erklären, warum. Immerhin hatten sie kaum miteinander zu tun<br />

gehabt. Sie waren keine Freunde. Und die anderen waren es auch nicht.<br />

Shan wandte sich wieder an Wotan. „Sag Sortak nichts. Er wird es noch<br />

früh genug erfahren.“<br />

Wotan blickte zu ihr auf. „Ich bin nicht glücklich damit, dich gehen zu<br />

lassen.“<br />

Shan steckte sich das Schwert an den Gürtel, um die Hände<br />

freizuhaben. Sie hockte sich vor Wotan hin, kraulte ihm hinterm Ohr, wo


er es besonders mochte, und sah ihm tief in die Auge. „Ist okay. Ich<br />

danke dir für alles, Wot. Machs gut.“ Sie streichelte ihn ein letzte mal<br />

über den Kopf, dann trat sie nach draußen. Im Vorbeigehen klopfte sie<br />

Durkin auf die Brust. „Bye, Durk.“<br />

„Bye, Shan.“<br />

Und damit war sie gegangen. Durkin sah ihr ein paar Sekunden<br />

kopfschüttelnd nach. „Pah! Menschen.“, grunzte er. „Die und ihre<br />

Paarungsrituale.“ Er spuckte das Wort regelrecht aus. „Wir Tellariten<br />

beschnuppern einfach unsere Genitalregion und wissen, was Sache ist!“<br />

„Das... ist in der Tat einfacher“, musste Wotan eingestehen. „Aber bei<br />

Menschen läuft das etwas anders, Durkin. Für einige wenige Minuten der<br />

Liebe zahlen sie mit Stunden des Hasses.“<br />

„Anscheinend der übliche Weg menschlicher Emotionen. Wie gut,<br />

dass wir keine Menschen sind!“<br />

„Genau.“<br />

„Und nicht lieben.“<br />

„Genau.“, nickte Wotan. Glücklich, fühlte er sich trotzdem nicht.<br />

Strafarbeiten<br />

Tala überprüfte den Plasmafluss im Energiesystem und schüttelte den<br />

Kopf. Einerseits handelte es sich um eine ziemlich langweilige Prozedur,<br />

die sie im Rahmen ihrer Strafe ausführen musste. Andererseits verlief sie<br />

wenigstens einigermaßen glatt. Es gab kleinere Abweichungen im<br />

Plasmafluss. Unter einem Prozent der Norm nur, aber das reichte schon,<br />

sodass sie nun die nächsten Stunden damit verbringen durfte, der<br />

Ursache auf die Spur zu kommen. Mit den Diagnoseprogrammen –<br />

selbst denen, dieses baufälligen Gebäudes -, wäre dies eine Sache von<br />

Sekunden gewesen, aber Tala war dazu verdonnert worden, die<br />

Messungen auf die gute alte Art vorzunehmen, vermutlich, um sie zu<br />

quälen. Denn diese Arbeit war furchtbar langweilig und zog sich wie<br />

Kaugummi.


„Sie alle kennen die Ihnen zugeteilten Aufgaben.“, hatte Commander<br />

Sturak gesagt, als sie heute früh zur Strafarbeit erschienen waren. „Eine<br />

gründliche Überprüfung aller Anlagen dieses Gebäudes, sowie die<br />

Reinigung der Transporter- und Energieleitungssysteme mit veralteter<br />

Ausrüstung. Und das bis spätestens 0900 Uhr, wo die nächste<br />

Unterrichtsstunde im Auditorium beginnt. Es gibt sechs Etagen, sie sind<br />

acht Kadetten und werden neben mir die einzigen Personen in diesem<br />

Gebäude sein. Sie können sich also selbst ausrechnen, dass sie ihre<br />

Aufgabe in Rekordzeit erledigt haben sollten. Ich wünsche über alles<br />

was sie finden detaillierte Berichte. Falls es ein Problem geben sollte,<br />

befinde ich mich im Überwachungsraum auf der oberen Etage. Sind ihre<br />

Kommunikatoren eingeschaltet?“<br />

Ein jeder hatte auf diese Frage seinen Insignienkommunikator berührt.<br />

Bei allen war das bestätigende Piepsen erklungen, woraufhin sie alle<br />

nickten. „Ausgezeichnet. Also an die Arbeit, Kadetten. Ich hoffe das war<br />

ihnen die Schlägerei wert.“ Und damit hatte er sie alleine gelassen.<br />

Tala schob nun die Wandverkleidung wieder zurück und drehte sich in<br />

dem Moment um, als Sortak zu ihr kam.<br />

„Was ist los?“, fragte er schroff.<br />

Tala deutete mit dem Kinn zur Energieleitung. „Die Spulen sind intakt.<br />

Fragt sich nur für wie lange noch. Das ganze Energiesystem ist so<br />

empfindlich, wie ein nackter Tellarit auf Tarsus drei. Aber ich sehe die<br />

Ursache nicht. Möglicherweise liegt es am-“<br />

„Ich meinte nicht das Energiesystem.“ Sortak umschloss ihre<br />

Oberarme mit festem Griff. „Ich will wissen, warum Shan sich nicht mit<br />

uns hier eingefunden hat. Wo ist sie?“<br />

„Ich... ich weiß nicht genau.“<br />

„Du weißt nicht genau?“<br />

„Ja, ich... ich habe sie... seit heute früh nicht mehr gesehen. Ich weiß<br />

wirklich nicht, wo...“<br />

Sortak starrte ihr mit durchdringendem Blick in die Augen. Sie hielt es<br />

nicht mehr länger aus und sah zur Seite.<br />

„Sag schon, Tala!“<br />

„Es hat ein kleines Missverständnis gegeben.“<br />

„Ein Missverständnis?“<br />

Sie nickte. „Zwischen mir... ihr... und Galak.“


„Galak also, ja?“ Er brummte wütend, nahm aber den stechenden<br />

Blick nicht von ihr. „War ja klar.“<br />

Plötzlich klickte ihr Kommunikator. „Tala.“ Es war Wotans Stimme.<br />

Er hatte den Auftrag erhalten, in der dritten Etage die Redundanz der<br />

Langreichweitenmonitore, die das ganze Areal überwachten zu<br />

überprüfen. Tala tippte auf den Kommunikator. „Was ist, Pussy-Cat?“<br />

Da er sich aus der Schlägerei herausgehalten und keine Stellung für<br />

seine Freunde bezogen hatte, war Tala noch immer nicht besonders gut<br />

auf den genetisch aufgewerteten Tiger zu sprechen. Für Andorianer gab<br />

es keinen schlimmeren Vertrauensbruch. Selbst der Tellarit hatte mehr<br />

Mut gezeigt. Und da Tala genau wusste, wie sehr es Wotan verletzte,<br />

wenn sie ihn Pussy-Cat nannte, lies sie keine Gelegenheit aus, ihn mit<br />

diesem speziellen Spitznamen zu benennen und ihn an seinen Akt der<br />

Feigheit zu erinnern. Sie hoffte, dass er auch jetzt ganz schön geknickt<br />

sein würde, doch wenn es so war, dann lies er es sich dieses eine Mal<br />

nicht anmerken. Tatsächlich klang er ungewöhnlich besorgt. „Hättest du<br />

einen Moment Zeit, um hochzukommen? Ich würde gerne wegen einer<br />

Sache deine Expertise hören.“<br />

„Kann das nicht warten?“<br />

„Ich würde dich nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre. Du musst<br />

diese Daten hier überprüfen. Ich kann mit dem Kauderwelsch, den der<br />

Computer mir ausspuckt, nicht viel anfangen und du hast mehr<br />

technische Kurse belegt, als die meisten von uns. Bitte.“<br />

Tala atmete geräuschvoll aus. Sortak starrte sie noch immer an.<br />

Äußerlich ließ er sich kaum eine Regung anmerken, fixierte sie einfach,<br />

aber Tala spürte regelrecht, wie er brodelte.<br />

„Okay.“, sagte sie.<br />

„Danke sehr. Galak weiß nämlich auch nicht weiter.“<br />

Sortak fragte: „Galak ist bei dir?“<br />

„Ja. Sicher.“<br />

Ohne weitere Diskussionen drehte sich Sortak auf dem Absatz herum<br />

und lief den Gang entlang.<br />

„Ich bringe Sortak mit.“, kündigte Tala an.<br />

„Ausgezeichnet. Aber beeilt euch.“<br />

Sie murmelte: „Mach den Erste Hilfe-Koffer schon mal auf.“ Aber<br />

Wotan hatte den Kommunikationskanal bereits geschlossen.


Tala musste regelrecht laufen, um mit Sortaks energischem Schritt<br />

mitzuhalten. Sie stiegen in den Turbolift, fuhren zwei Etagen hinauf und<br />

verließen ihn wieder in der dritten Etage. Wotan wartete bereits im<br />

Korridor auf sie. „Schön, dass ihr gekommen seid. Ich könnte eure-“<br />

Sortak marschierte schnurstracks an Wotan vorbei, ohne ihm auch nur<br />

eines Blickes zu würdigen. Im nächsten Moment war er in der<br />

Ortungszentrale verschwunden. Tala und Wotan tauschten einen Blick<br />

und eilten ihm anschließend schnell hinterher.<br />

Galak war mit Durkin allein und gerade über ein Terminal gebeugt,<br />

um die Instrumente abzulesen. Eigentlich dachte er an nichts böses. Es<br />

hatte ein wenig Ärger zwischen ihm und Tala gegeben, nachdem Shan<br />

gegangen war, aber er sah nicht ein, sich darüber den Kopf zu<br />

zerbrechen. Orsorianer brachen sich wegen so etwas nicht den Kopf. Bei<br />

ihnen gab es schlicht keine Beziehungskisten über die man sich sorgen<br />

machen müsste. Warum sollte er also jetzt damit anfangen? Als er<br />

jemanden eintreten hörte, blickte er noch rechtzeitig auf, um zu sehen,<br />

wie ein äußerst aufgebrachter Sortak ihn angriff. Galak war überhaupt<br />

nicht darauf vorbereitet. Es ging alles fürchterlich schnell! Galak hatte<br />

nicht einmal die Chance, irgendetwas anderes zu sagen, außer „Urks“.<br />

Im einen Moment war Sortak noch am Ende des Raumes gewesen und<br />

dann, in der nächsten Sekunde oder so, hatte er Galak mit einer Hand am<br />

Hals gepackt und katapultierte ihn scheinbar mühelos aus seinem Stuhl<br />

heraus.<br />

Galaks Beine baumelten in der Luft und er spürte, wie sich Sortaks<br />

kräftige Hände um seinen Hals schlossen und ihn zu würgen begannen.<br />

Er war aus irgendeinem Grund – den sich Galak denken konnte - äußerst<br />

wütend und hatte es sich offenbar in den Kopf gesetzt, ihn entschlossen<br />

und rasch zu töten. Galak rang nach Atem. „Sortak!“, keuchte er.<br />

„Sortak, du bringst mich noch um!“<br />

„Das ist meine Intention, ja.“


„Aber ich habe mich noch gar nicht erklärt...“<br />

„Ist nicht nötig. Shans Abwesenheit genügt mir als Grund.“<br />

Die Welt vor Galaks Augen begann bereits zu verschwimmen.<br />

Irgendwie bekam er noch mit, wie Wotan und Tala im Türrahmen<br />

erschienen. „Yo! Tala!“ Seine Stimme war nicht mehr, als ein leises<br />

röcheln. „Willst du mir nicht helfen?“<br />

Tala machte sich gar nicht erst die Mühe, ihm zu antworten, sondern<br />

drehte sich auf der Stelle zu Wotan um. „Weswegen hast du uns<br />

gerufen? Wo ist das Problem?“<br />

Der Tiger reagierte nicht sofort, sondern betrachtete mit Entsetzen das<br />

Geschehen. Er war unschlüssig, was er tun sollte.<br />

„Pussy-Cat! Warum hast du uns gerufen?“<br />

Wotan begriff nicht, wie Tala so ruhig bleiben konnte und kam zu dem<br />

Schluss, dass dies vielleicht ihre Taktik war: Sortak von seinem Abhaben<br />

abzubringen, in dem sie ganz normal weitermachte. Das erschien ihm<br />

zwar nicht sonderlich logisch, andererseits viel ihm auch keine andere<br />

Taktik ein, weswegen er sich stumm einverstanden erklärte. „Äh...<br />

überprüfe das Subroutinensystem A. Energiefluss. Sag mir, was du<br />

siehst.“<br />

Tala trat neben ihn und beobachtete, wie seine großen Tatzen sich über<br />

die Anzeigen bewegten. „Das ist ein Echozeichen.“, erkannte sie.<br />

„Irgendein... irgendein ungewöhnlicher Energiefluss...?“<br />

Sortak verzog das Gesicht zu einem Stirnrunzeln. „Ein nicht<br />

autorisierter Energieabzug?“ Er lies überraschend von Galak ab und trat<br />

einen Schritt zurück. Galak stürzte auf alle Viere und schnappte nach<br />

Luft. Er japste und keuchte fürchterlich, aber er war okay, ihm fehlte<br />

nichts. Sortak bedachte ihn mit einem Kopfschütteln, und trat dann an<br />

ihm vorbei und interessiert zu Tala und Wotan an die Konsole, wo er<br />

selbst einen Blick auf die Anzeigen warf. „Vielleicht eine Fehlfunktion?“<br />

„Nein, sieht nicht danach aus. Zumindest kann ich keinen Fehler<br />

sehen.“<br />

„Ich sage dir, was ich sehe...“, begann Galak mit erstickter Stimme.<br />

„Niemand hat dich gefragt.“, fauchte Sortak. „Wir sind noch nicht<br />

fertig miteinander. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, klar?“ Und an<br />

Tala gewandt fragte er: „Wer hat das Autorisiert?“<br />

„Niemand. Ich schätze, das hat bisher nicht einmal jemand entdeckt.“


„Und wohin wird die Energie geleitet?“<br />

Die Andorianerin befragte die Sensoren. „In das Laborgebäude, am<br />

anderen Ende des Campus.“<br />

Sortak runzelte die Stirn. Er war mehrmals in dem Laborkomplex<br />

gewesen, hatte dort sogar versucht seinem Vater zu assistieren, bis er<br />

Galak seinem Sohn vorgezogen hatte. Viele ihrer Lehrer arbeiteten dort,<br />

experimentierten und führten die Schüler an die wissenschaftlichen<br />

Geräte heran. Aber Sortak konnte sich nicht erinnern, dass dort etwas vor<br />

sich ging, was mehr Energie verbrauchte, als die Generatoren des<br />

Gebäudes erzeugten. Vielleicht ein außer Kontrolle geratenes<br />

Experiment einiger Schüler? Wotan schien seine Gedanken zu lesen.<br />

„Sagen wir es Sturak?“<br />

„Was sollen wir ihm denn sagen, Wotan?“, schnaubte Galak und erhob<br />

sich schwerfällig auf die Knie. „Es kann sich um keine Fehlfunktion<br />

handeln. Die primären Ortungsfelder hätten das schon längst gemeldet.<br />

Gäbe es eine Fehlfunktion, würden die Alarmglocken hier so laut<br />

Leuten, dass man sie bis nach Nydaris hören könnte. Wir sind vielleicht<br />

einfach nur zu blöde, die Anzeigen abzulesen. Es gibt deutlich fähigeres<br />

Personal auf der Akademie. Jemandem wäre ers aufgefallen, wenn etwas<br />

vor sich ginge.“<br />

Sortak stutzte. „Vielleicht handelt es sich um einen Computerfehler.<br />

Die Geräte in diesem Gebäude sind so alt, dass die Anzeigen falsch sein<br />

könnten.“<br />

„Holen wir Grau her.“, schlug Tala vor. „Mit Computern kennt sich<br />

keiner so gut aus, wie er.“<br />

„Grau ist ein Computer.“, mischte sich Durkin naserümpfend in die<br />

Unterhaltung ein.<br />

„Richtig. Grau.“ Wotan tippte auf seinen Kommunikator. „Grau?“<br />

Keine Antwort.<br />

„Grau.“, wiederholte er.<br />

Die anderen sahen sich besorgt an. „Grau, wo bist du?“, fragte Wotan.<br />

„Ich. Bin. Da.“<br />

Sie fuhren zusammen und drehten sich dann um. Grau stand direkt<br />

hinter ihnen, als wäre er aus heiterem Himmel dort aufgetaucht. Er sah<br />

von einem zum anderen, während er seine Finger knotete. Der<br />

Sprachumwandler flammte erneut auf und erklärte mit monotoner,


lecherner Stimme: „Ich. Gekrochen. Durch. Jeffries. Röhre.“<br />

Wotan deutete auf die Instrumente. „Wir empfangen etwas auf den<br />

Sensoren. Einen Fehler im Energiesystem, irgendwas scheint Energie<br />

von den Generatoren in der ganzen Akademie abzuziehen.“<br />

„Entweder das, oder das System ist kaputt.“, sagte Tala. „Wir haben<br />

einen Primär-Check vorgenommen. Alle Werte scheinen normal.“<br />

Graus Kopf ruckte. „Dann. Vielleicht. Überprüfungssystem. Defekt.“<br />

„Hm.“, machte Tala und betrachtete nachdenklich die Konsole, als<br />

würde sie ihr dadurch mitteilen, was mit ihr nicht stimmte.<br />

„Vielleicht sollten wir einen richtigen Techniker heraufholen.“, schlug<br />

Wotan vor. „Nur zur Sicherheit.“<br />

„Warum rufen wir nicht alle her.“, sagte Galak sarkastisch. Er rieb sich<br />

noch immer den Hals. „Und feiern eine kleine Party?“<br />

„Papperlapapp! Macht mal Platz da.“, brummte Durkin und trat zur<br />

Konsole. „Tellariten kennen sich mit solchen Dingern aus.“<br />

„Mit Schrott?“, fragte Tala. „Wundert mich nicht...“<br />

Durkin ging nicht auf ihren Kommentar ein. „Das ist die primäre<br />

Ortungsstation, oder?“<br />

„Ja genau.“, nickte Wotan.<br />

„Und ging etwas merkwürdiges vor sich, würde sie Alarm auslösen,<br />

nicht wahr?“<br />

„Ja!“, sagte Tala gepresst. Sie wurde allmählich ungeduldig.<br />

„Aber da es keinen Alarm gegeben hat“, fuhr Durkin fort, als käme er<br />

einem großen Geheimnis auf die Spur. „gibt es entweder keine Gefahr...<br />

oder dieses Ding hier ist kaputt.“<br />

„Richtig...“, warf Wotan ein. Selbst der gutmütige Tiger schien wegen<br />

Durkins Beschränktheit etwas verblüfft zu sein.<br />

„Hmm.“ Durkin betrachtete die Konsole genau, bückte sich dann und<br />

schaute unter sie.<br />

Tala rollte die Augen. „Das ist doch Zeitverschwendung.“<br />

Und dann zog Durkin langsam und bedächtig seine Pranke zurück,<br />

ballte sie zur Faust...<br />

... und schlug auf die Konsole. Augenblicklich heulte ein greller, lauter<br />

Alarm los, der in dem gesamten Gebäude erklang. Die Kadetten sahen<br />

sich verwirrt an – alle bis auf Durkin, der ungewöhnlich zufrieden<br />

wirkte. „Repariert!“, sagte er.


Commander Sturaks Stimme erklang gleichzeitig aus den<br />

Deckenlautsprechern. „Was ist da unten los?“<br />

Überall um sie herum blitzten plötzlich Instrumente auf. Jedes<br />

Ortungsgerät in dem Gebäude spuckte wie wild Daten aus.<br />

„Commander, hier spricht Tala. Wir messen einen extremen<br />

Energieanstieg, ausgehend vom Laborgebäude. Von überall aus der<br />

Akademie wird Energie dorthin umgeleitet.“ Sie sah auf. „Und es wird<br />

schlimmer.“<br />

Draußen auf dem Landefeld hinter der Akademie, begab sich Shan zu<br />

ihrem geparkten Schiff, der Pax, ihr Rucksack auf dem Rücken, ihr<br />

eingepacktes Schwert in der Hand. Sie hatte sich bei Barclay nach langer<br />

Diskussion abgemeldet und war nun mit geschulterter Tasche bereit zum<br />

Abflug – wohin auch immer.<br />

Als sie ihr kleines Schiff erreichte, war die Sonne hinter<br />

tiefhängenden, dunklen Wolken verschwunden. Der ganze Campus war<br />

in sanftes, rötliches Licht getaucht. Von den höher gelegenen<br />

Landeplattformen auf dem das Schiff stand aus, hatte sie einen<br />

großartigen Ausblick über das Gelände. Der Campus wirkte dunkel, still<br />

und leer. Die Kadetten waren wohl alle in den Vorlesungshallen.<br />

Irgendwo im Norden grollte Donner. Die Luft wurde kühler, fühlte sich<br />

elektrisiert an. Während die Eintrittsschleuse der Pax herabfuhr, sah<br />

Shan skeptisch zum Himmel. Es sah nach Gewitter aus. Regen war um<br />

diese Jahreszeit nicht ungewöhnlich. Die Wetterkontrollstationen ließen<br />

ihn regelmäßig für die Pflanzen zu, oder erzeugten sogar künstlichen<br />

Niederschlag. Aber Gewitter waren etwas ungewöhnliches. Erneut<br />

grollte Donner.<br />

Die Schleuse berührte mit einem sanften Knall der von Endgültigkeit<br />

zeugte den Boden und brachte Shan ins Hier und Jetzt zurück. Das<br />

Mädchen seufzte. Obwohl erst ein paar Wochen vergangen waren, seit<br />

sie auf genau diesem Landefeld eingetroffen war, kam es ihr in gewisser<br />

Hinsicht so vor, als wäre es erst gestern gewesen. Sie konnte kaum<br />

glauben, dass ihr in so kurzer Zeit so viel zugestoßen war. Und sie<br />

konnte kaum glauben, dass es nun vorbei sein solle. Es ärgerte Shan,


dass sie so lange durchgehalten hatte, nur um jetzt, so kurz vor dem Ziel,<br />

doch noch zu scheitern.<br />

Aber ihr blieb keine andere Wahl. Seit ihrer Ankunft hatte sie nur<br />

Probleme bereitet. Der Zank mit Finnegan war eine Sache, aber die<br />

Nerven zu verlieren und eine gute Freundin unverdientermaßen derart<br />

anzufahren, wie sie es mit Cera getan hatte, war inakzeptabel. So wollte<br />

sie nicht sein. Wenn es das war, was das einengende Leben auf der<br />

Akademie aus ihr machte, eine entnervte Furie, dann wollte sie lieber<br />

rechtzeitig die Notbremse ziehen und gehen, ehe man sie hinauswarf. Sie<br />

wollte niemandem schaden. Und erst recht wollte sie nicht vorgeben<br />

etwas zu sein, dass sie nicht war.<br />

Sie erlaubte sich einen kurzen Blick zu dem alten Energiegebäude, in<br />

dem ihre Studiengruppe nun Strafarbeit leistete.<br />

Ihre Studiengruppe?<br />

Shan berichtigte sich stumm. Es war nicht mehr ihre Studiengruppe.<br />

Es waren nur irgendwelche Leute, die in ihrem weiteren Leben wohl<br />

keine Rolle mehr spielen würden. Fremde. Wiederstrebend wandte Shan<br />

ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Schiff zu. Die Kontrollen im<br />

Steuerraum fuhren automatisch hoch, lockten, versprachen Abenteuer,<br />

für die sie vielleicht nicht bereit war.<br />

Was soll’s? Finde ich eben auf die harte Tour raus, wer ich bin und<br />

was ich kann.<br />

Bevor sie eintrat und der Akademie endgültig den Rücken kehrte, gab<br />

es nur noch eine Sache zu erledigen. Sie nahm ihren Kommunikator von<br />

der Brust und wollte ihn gerade mit aller Kraft fortschleudern – schon<br />

alleine der Symbolik willen -, als er plötzlich piepte.<br />

„Shan? Sturak hier. Kannst du ins Energiegebäude kommen?“<br />

Shan nahm den Anruf entgegen und hielt sich den Kommunikator vor<br />

den Mund. „Nein. Kann ich nicht. Womit auch immer du es versuchst,<br />

du bekommst mich nicht dazu überredet, meine Entscheidung zu<br />

überdenken, oder gar zu ändern, Sturak.”<br />

„Entscheidung?” Sturak klang verwirrt. „Welche Entscheidung? Ich<br />

weiß nicht, wovon du sprichst. Shan, hör zu. Ich brauche deine Hilfe. Es<br />

ist ein Notfall.“<br />

Shan zuckte leichthin die Schultern. „Melde dich wieder, wenn’s ne<br />

Katastrophe ist.“


Zu ihrer Überraschung erwiderte Sturak: „Es ist vielleicht eine.<br />

Jedenfalls, wenn meine Vermutung korrekt ist. Es geht um den Urgon.<br />

Er zieht unkontrolliert Energie ab. Da braut sich was zusammen.“ Shan<br />

runzelte die Stirn. Sturak scherzte nicht. Das war ernst!<br />

„Komm zum Energiegebäude. Schnell!“ Dann schloss er den Kanal.<br />

Shan drehte sich zum Campus. Der Himmel hatte sich nun völlig<br />

verdunkelt, am Horizont blitzte es. Kein Donner diesmal. Die Ruhe vor<br />

dem Sturm. Shan sah zum Einstieg ihres Schiffes. Alles, alles, was sie<br />

tun musste, war einsteigen, die Maschinen starten und das alles hier<br />

hinter sich zu lassen. Sie schloss die Augen und hörte Kats Stimme<br />

durch ihren Geist hallen.<br />

„Grozit!” Shan schlug gegen den Verriegelungsmechanismus und die<br />

Tür fuhr langsam wieder zu. Als sie endlich einrastete, war Shan bereits<br />

zum Gebäude unterwegs.<br />

Zwei Minuten später drängten sich alle um die Kontrollmonitore im<br />

Überwachungsraum und versuchten aus der chaotischen Fülle an<br />

Informationen, die der Computer ausspuckte, schlau zu werden. Sturak<br />

nahm den Blick von den Anzeigen und sah Shan über die Arbeitskonsole<br />

in der Mitte des Raumes hinweg an.<br />

Seine Mine war ernst. „Es liegt eindeutig an deinem Artefakt, soweit<br />

ich das beurteilen kann.“, sagte er. „Es zieht irgendwie Energie aus allen<br />

Systemen ab. Irgend etwas geht vor sich.“<br />

„Der Urgon? Sicher?“ Shan konnte sich darauf keinen Reim machen.<br />

„Aber wie ist das möglich? Das ist doch nur ein Relikt.“<br />

„Offenbar ist es mehr als das. Ein Gerät. Eine Maschine. Ein<br />

Technoartefakt. Ich weiß nicht genau.“<br />

„Hast du es nicht untersucht?“<br />

Sturak verneinte. „Ich kam noch nicht dazu. Die Untersuchung war für<br />

morgen früh angesetzt. Der Urgon befindet sich bereits in einer<br />

Harmonikkammer, die über den heutigen Tag hinweg Sondierungen<br />

durchführen und Informationen sammeln sollte, die ich morgen<br />

auszuwerten gedachte. Wir haben das tausendmal bei ähnlichen<br />

Artefakten gemacht. Ich nahm an, es sei ungefährlich. Aber jetzt....“ Er


deutete auf die Energiespitzen, die sich oberhalb der Skala befanden und<br />

schüttelte den Kopf. Unbemerkt studierte er aus den Augenwinkeln die<br />

anderen Kadetten. Ihm entging nicht, dass sie sehr unterschiedlich auf<br />

den Tumult reagierten. – Yoko und Durkin bewahrten ein kühles<br />

Verhalten, fast professionell – während andere, wie Wotan und Grau<br />

sehr aufgeregt waren. Der Tiger wirkte sogar außerordentlich nervös.<br />

Tala, Sortak und Galak hingegen, schienen den Ernst der Lage nicht zu<br />

begreifen und ihre Bemühungen darauf zu richten, sich hin und wieder,<br />

wenn sie glaubten, Sturak würde nicht aufpassen, giftige Blicke<br />

zuzuwerfen. Shan, offenbar Quell ihrer Differenzen, wie Sturak aus<br />

kleinen Gesten herauslas, war hingegen ganz auf ihr gegenwärtiges<br />

Problem konzentriert – wahrscheinlich, um nicht mit den anderen reden,<br />

oder sie gar ansehen zu müssen. Es herrschte zweifelsohne noch immer<br />

dickes Blut unter den Kadetten. Ihre Differenzen schienen sich nicht<br />

gelegt, sondern sogar noch verstärkt zu haben.<br />

Nun legten sich dunkle Schatten auf ihre Gesichter, als draußen die<br />

Sonne von drohenden Gewitterwolken verschluckt wurde. Donner grollte<br />

und kam immer näher. Die Luft schien sich förmlich aufzuladen. Sturak<br />

richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Shan.<br />

„Irgendwelche Theorien?“<br />

Sie starrte noch immer auf die verwirrenden Daten, die über den<br />

Bildschirm rollten und schüttelte langsam den Kopf.<br />

„Über Frigoria, vielleicht? Shangri-La?“<br />

Es dauerte einige Sekunden, ehe Shan aufblickte. Sie sprach sehr leise.<br />

„Es wird dir nicht gefallen.“<br />

„Versuch es.“<br />

„Beim Raumhaften von Frigoria habe ich versucht mehr Informationen<br />

zusammenzutragen, habe mir angehört, was die Frachterkapitäne und die<br />

Einheimischen sich darüber erzählen. Ich konnte nicht viel mehr in<br />

Erfahrung bringen, als das, womit du mich bereits neugierig gemacht<br />

hattest. Dass die es sich der Legende nach bei dem mythologischen<br />

Reich der Shangri-Laner um eine Hochkultur gehandelt haben sollte.<br />

Heilige Wesen, die vom Rest des Universums und auch der Zeit getrennt<br />

lebten und erblühten. Der Himmel auf Erden. Doch irgendwann, von<br />

jetzt auf gleich, ging die Kultur einfach unter, aufgrund vom Zorn<br />

Gottes, oder so etwas.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Der Ort ist derart


legendär, dass die meisten ihn sowieso nur als Mythos abtaten. Keiner<br />

nahm die widersprüchlichen und bruchstückhaften Erzählungen ernst.<br />

Die meisten, denen ich begegnete, lachten mich aus, bis auf...“<br />

Sturak neigte den Kopf. Ihm war nicht entgangen, dass Shan nervös<br />

ihr Gleichgewicht von einem Bein zum anderen verlagerte. „Ja?“<br />

„Na ja, da war so ein alter Mann, der mich durch die verschiedenen<br />

Geschäfte verfolgte. Er versuchte mich von meinem Vorhaben, die Stadt<br />

zu suchen, abzubringen. Faselte immer wieder etwas von einem Fluch,<br />

der über der Stadt lag, und all jene heimsuchen würde, die es wagten, die<br />

Ruhe der Stadt zu stören.“<br />

„Hm.“<br />

„Komm schon.“ Shan lächelte unsicher. „Du glaubst das doch nicht,<br />

oder? Zorn der Götter und so was. Es war nur ein alter irrer. Er wollte<br />

mich ängstigen, nichts weiter.“<br />

„Die meisten Überlieferungen enthalten einen Funken Wahrheit, den<br />

wir Archäologen entschlüsseln müssen. Wenn Sternenflottenoffiziere auf<br />

einen Planeten mit primitiverer Kultur beamen würden und in eine<br />

Situation gerieten, in der sie ihre Phaser abfeuern müssten, würde in<br />

späteren Überlieferungen dieser Kultur zweifellos von Göttern die Rede<br />

sein, die aus der Luft kamen, und Blitze schickten. Letztendlich ist alles<br />

eine Sache der Interpretation.“<br />

„Selbst wenn - Ich habe nur den Urgon gefunden, nicht aber die Stadt.<br />

Und in dieser Höhle war sonst nichts. Nur die Leiche eines Schatzjägers<br />

und das Monster, dass mich angriff.“<br />

Sturak atmete geräuschvoll ein. „Weißt du, Shan...“, begann er<br />

langsam. „Da gibt es ein paar Dinge, die ich dir nicht erzählt habe, weil<br />

ich dich nicht ängstigen wollte. In den Überlieferungen heißt es nämlich<br />

weiterhin, dass die Grenzen der Stadt von verschiedenen Wächtern<br />

beschützt wurden, die Eindringling fernhielten. Dressierte Tiere, nehme<br />

ich an. Als die Shangri-Laner schließlich ihre Götter erzürnten, schickten<br />

diese magische Statuen in die Stadt. Die Wächter wandten sich plötzlich<br />

gegen die Bewohner... und vernichteten die Bevölkerung... Die Götter<br />

taten ihr übriges und begruben die Stadt, das Vermächtnis der Shangri-<br />

Laner für alle Zeit – inklusive der Statuen und der Wächter.“<br />

Shan starrte ihn an.<br />

Yoko studierte die Anzeigen und dachte nach. „Und nun lädt sich das


einzige verbleibende Artefakt der Shangri-Laner mit Energie auf.“<br />

„Aber wie?“, fragte Tala. Es war ihr unbegreiflich. „Und wieso?“<br />

Durkin beschlich ein unschöner verdacht. „Könnte es sich um eine<br />

Bombe handeln? Ein Explosivgerät?“<br />

„Mach dich nicht lächerlich, Tellarit! Es ist nur eine Statue.“<br />

Shan konnte bereits sehen, in welche Richtung Sturaks Gedanken<br />

gingen.<br />

„Nein.“, keuchte sie. „Sag mir nicht, dass ich den >Zorn der Götter<<br />

oder so etwas ins Herz der Sternenflottenakademie gebracht habe.“<br />

„Könnte sein. In diesem Falle ist es besser, je eher wie dieses Ding<br />

abschalten. Grau?“<br />

Der Briori war sofort zur Stelle. „Ja. Sir.“<br />

„Sie begleiten mich, Kadett. Wir gehen rüber ins Labor und trennen<br />

das Artefakt von der Energieversorgung.“ Grau vollführte eine knappe<br />

Verbeugung und flitzte sofort voraus. Sturak folgte ihm. Unterwegs zur<br />

Tür drückte er Yoko einen Tricorder in die Hand. „Halten sie die Daten<br />

damit im Auge, insbesondere den Energieanstieg. Geben sie mir<br />

nennenswerte Veränderungen oder Schwankungen sofort durch.“<br />

„Natürlich, Sir.“<br />

„Warten Sie!“ Tala trat einen Schritt vor: „Was sollen wir anderen<br />

machen?“<br />

Sturak hielt vor der Tür inne. Nach einem kurzen, künstlichen Zögern<br />

drehte er sich ein letztes Mal zu den Kadetten um. Keiner schien<br />

begeistert, dass er sie nun alleine lassen würde. Sturak zuckte leichthin<br />

mit den Schultern. „Versucht euch nicht gegenseitig umzubringen.“ Und<br />

damit ließ er sie zurück.<br />

Shan konnte sich an keinen Zeitpunkt erinnern, an dem die Stimmung<br />

innerhalb der Lerngruppe je derart unangenehm gewesen war. In den<br />

vergangenen Tagen hatte es zwischen ihnen einige Probleme und<br />

unschöne Momente gegeben, aber es war nie so unerträglich gewesen. In<br />

den ersten Minuten, nachdem Sturak und Grau sie verlassen hatten,<br />

schwiegen sie sich einfach nur an und das war fast schlimmer, als jedes<br />

gesprochene Wort. Auf der anderen Hand jedoch, konnte man auch nie


wissen, was die Leute zu einem sagen würden. Dennoch, die Stille wurde<br />

schier unerträglich.<br />

Draußen hatte sich der Himmel verdunkelt. Ein starker Wind war<br />

aufgekommen, und irgendwie war die Stimmung unheimlich, obgleich<br />

sich Shan weigerte, an derartige Dinge zu glauben. Auch nicht an<br />

Sturaks Vermutung über das Artefakt, das sie als Schauermärchen abtat.<br />

Dennoch - Es schien sich ein schweres Unwetter zusammenzubrauen.<br />

Genau wie zwischen der Lerngruppe. Es war nun ein Gefecht der Blicke<br />

und Shan war nicht gewillt, dieses Gefecht zu verlieren. Ihre stahlblauen<br />

Augen bohrten sich in Galaks hinein. Noch hielt er stand.<br />

Sag es, dachte Shan zu sich selbst. Sag all die Dinge, zu diesem<br />

schleimigen, arroganten Grekka-Targ, die du sagen willst. Lass den<br />

Schmerz raus, den Betrug... lass ihn Wissen, dass, wenn er etwas<br />

derartiges noch mal versuchen sollte, dann wirst du ihn drei Köpfe<br />

kürzer machen. Aber du wirst ihn nicht noch einmal davon kommen<br />

lassen und den Rückzug antreten. Sag ihm, dass er dein Vertrauen<br />

missbraucht hat. Sag ihm, dass er in der Hölle schmoren wird. Sag ihm,<br />

es sei alles seine Schuld. Sag ihm...<br />

„Es tut mir leid, Shan.“<br />

Yup. Man weiß nie, was die Leute zu einem sagen werden.<br />

„Denkst du, es ist so einfach?“, fragte Shan. „Ein >es tut mir leid< und<br />

schon ist alles wieder wie vorher?“ Sie schnaubte. „Ich kann immer noch<br />

nicht glauben, dass du mich geküsst und betrogen hast und ich brauche<br />

mehr als nur eine Entschuldigung.“<br />

Sortak wurde hellhörig. „Er hat was getan? Er hat was getan?“<br />

Niemand ging auf ihn ein.<br />

„Komm schon Shan. Hör auf, auf Galak rumzureiten.“<br />

Shan feuerte Tala einen kalten Blick zu. „Nur wenn du auch damit<br />

aufhört.“<br />

„Uh, der war zu gut. Jetzt bin ich zu stolz, um böse zu sein.“<br />

„Was soll ich denn tun?“, fragte Galak. „Weinen? Dir Geld geben?“<br />

Dieser Kommentar machte Shan nicht glücklich. Und wenn sie sich<br />

unglücklich fühlte, machte sie ihrem Zorn normalerweise Luft, in dem<br />

sie auf etwas schlug... normalerweise auf einen unbelebten Gegenstand.<br />

Aber es war keiner in der Nähe, und der Orsorianer stellte allmählich<br />

eine schreckliche Versuchung dar. Das war jedenfalls keine Art, sich bei


jemandem zu entschuldigen.<br />

Sortak schien ihre Gedanken zu lesen. Er ballte die Fäuste, machte mit<br />

finsterer Mine einen Schritt auf Galak zu. „Soll ich ihn töten, Shan?“<br />

„Vergiss das!“, wich Galak zurück. „Shan, sag ihm, dass du nicht<br />

amüsiert bist.“<br />

„Nun, das bin ich aber. Ein bisschen. Ich finde seinen Vorschlag sehr...<br />

verlockend.“<br />

„Verlockend? Verlockend? Er hat mich schon einmal angegriffen! Ich<br />

sollte die Sicherheit...“ Er dreht sich zu Sortak und zeterte: „Ich sollte die<br />

Sicherheit alarmieren! Das ist es, was ich tue, wenn du mir zu nahe<br />

kommst, also bleib bloß da stehen, wo du bist!“<br />

„Ist das deine Art auf eine Herausforderung zu reagieren,<br />

Arsamandi?“, fragte Sortak. „Dich hinter anderen zu verstecken?“<br />

„Völlig richtig! Ich bin ein Mitglied des orsorianischen Adels, Sortak.<br />

Wenn mir jemand an den Kragen will, dann informiere ich für<br />

gewöhnlich die imperiale Garde, und lass sie die Scheiße aus demjenigen<br />

für mich herausprügeln!“<br />

„Leute...?“ Es war Yoko, der nun sprach. Er hatte die ganze Zeit<br />

seinen Tricorder im Auge behalten und nun offenbar etwas<br />

merkwürdiges auf den Anzeigen entdeckt. Leider schenkte ihm niemand<br />

Beachtung. Alle waren viel zu sehr beschäftigt, Drohungen auszustoßen.<br />

„Ich hatte keine andere Antwort von dir erwartet.“, sagte Sortak zu<br />

Galak. „Nimm eine Herausforderung bloß nicht wie ein Mann, sondern<br />

wie eine Memme.”<br />

„Meine Antwort?“, fragte Galak. „Du willst eine Antwort hören?<br />

Meine Antwort ist, dass du ein kompletter Idiot bist! Falls es dir<br />

entgangen sein sollte, wir haben uns bereits geprügelt und der Kampf<br />

ging relativ unentschieden aus, was lediglich daran lag, dass du auf<br />

unfaire Tricks zurückgegriffen hast, vermutlich im Knast aufgesammelt,<br />

möchte ich wetten.“<br />

„Okay!“, kochte Sortak. „Das war’s! Finito! Aus, Ende! Du bist<br />

erledigt! Ein für allemal erledigt!“ Er ballte die Fäuste, genau wie Galak,<br />

bereit zum Kampf.<br />

Und in diesem Moment trat Yoko zwischen sie, den Blick streng auf<br />

die Anzeigen des Tricorders in seiner Hand gerichtet. „Ich hab was!“<br />

Galak und Sortak stoppten. Alle Blicke richteten sich auf Yoko.


„Was?“, wollte Sortak wissen. „Was hast du?“<br />

„Ich bin nicht sicher. Die ansteigenden Energiewerte verwirren die<br />

Anzeigen. Ich habe Schwierigkeiten etwas neben den ausschlagenden<br />

Energieindikatoren zu messen. Es könnte sein, das- Wartet!“ Er riss die<br />

Augen auf.<br />

Die Kadetten erstarrten. Draußen grollte Donner.<br />

„Was ist es?“, flüsterte Wotan.<br />

„Lebenszeichen. Ganz in der Nähe. Sechs. Vielleicht Sieben.“<br />

„Aber außer uns sollte sich heute niemand in diesem Gebäude<br />

aufhalten.“, erinnerte sich Durkin. Für ihn gab es nur eine einzige<br />

Schlussfolgerung. Er hob die Fäuste und drehte sich zur Tür, als würde<br />

er eine anrückende Armee erwarten. „Feinde, kein Zweifel.“<br />

„Mach dich nicht lächerlich!“, schnaubte Tala. „Ein kleines Gewitter,<br />

ein harmloser Energieanstieg und schon sehen Tellariten Gespenster,<br />

huh? Dang! Wir haben hier keine Feinde.“<br />

„Nein.“, erwiderte Durkin ruppig. „Keine Feinde. Nur den halben<br />

Campus, der wegen der Strafarbeiten sauer auf uns ist und – auch wenn<br />

sie es nicht offen zeigen – am liebsten jeden einzelnen der hier<br />

anwesenden aufknöpfen würden.“<br />

„Vielleicht ist das die Sicherheit und sie sind hinter Sortak her.“, warf<br />

Galak verdrossen ein. „Sie haben herausgefunden, dass er beinahe<br />

jemanden gekillt hat...“<br />

Sortak riss den Kopf herum. „Woher weißt du das?“<br />

Galak zuckte selbstgefällig mit den Schultern.<br />

„Yoko, rede mit uns.“, sagte Shan sachlich. Sie hatte kein Interesse<br />

daran, dass die Situation eskalierte – nicht, wenn möglicherweise Gefahr<br />

von Außen drohte. In diesem Falle hatten sie alle ihre persönlichen<br />

Differenzen zurückzusetzen und verdammt noch mal professionell zu<br />

sein! „Sag mir was der Tricorder ausspuckt. Um wen handelt es sich, wo<br />

sind sie?“<br />

„Kann ich nicht genau sagen. Ich- Moment. Ich bekomme genauere<br />

Biowerte. Es handelt sich um... huh? Das ist merkwürdig.“<br />

„Was?“<br />

„Fast alles Zweibeiner. Sechs humanoide und ein...“ Seine Stimme<br />

wehte fort.<br />

„Und ein Tiger, wolltest du sagen?“, fragte Shan augenrollend.


Yoko murmelte: „Tut mir leid.“<br />

„Dang!“, stöhnte Tala.<br />

„Was ist passiert? Werden wir angegriffen?“ Durkin schien verwirrt zu<br />

sein. Tala drehte sich zu ihm herum und schlug mit der Hand gegen<br />

seinen Hinterkopf. „Das waren nur wir, du Trottel. Er hat unsere eigenen<br />

Lebenszeichen gemessen. Meine Güte, ich wollte mit den Besten der<br />

Besten arbeiten und der da kann nicht einmal einen Tricorder bedienen.“<br />

„Ich habe einen Fehler gemacht.“, gestand Yoko. „Bitte verzeiht. Es ist<br />

wirklich schwer neben diesen Energiewerten etwas zu lesen.“<br />

Talas einzige Erwiderung bestand in einem Grunzen.<br />

„Es ist okay, Yoko.“, sagte Shan. „Hätte jedem passieren können.”<br />

„Es wäre mir lieber gewesen, wenn es einem anderen passiert wäre.“,<br />

gab Yoko zu und justierte an den Feineinstellungen seines Tricorders<br />

herum, als das Gerät plötzlich piepte. „Dadurch hätte ich nicht- Wartet!“<br />

„Was ist es diesmal?“, stöhnte Tala. Ihre Geduld war fast am Ende.<br />

„Die Energieindikatoren schlagen aus.“<br />

„Das haben sie auch eben schon getan.“<br />

„Aber jetzt zeigen sie...“ Er blinzelte verwundert. „Die Werte sind fast<br />

doppelt so hoch. Verblüffend!“<br />

„Jenseits der Skala?“, fragte Shan.<br />

Yoko nickte. Er drehte sich im Kreis, den Blick noch immer starr auf<br />

die Anzeigen gerichtet. „Es kommt direkt vom... vom Labor. Immer<br />

noch.“ Er sah auf. Draußen war es merkwürdig still. „Ich glaube wir<br />

haben ein Problem.“<br />

„Yoko!“ Tala trat mit energischen Schritten ans Fenster und deutete in<br />

übertriebenen Gesten auf das Laborgebäude in der Ferne. „Hör auf uns<br />

irre zu machen! Da ist nichts! Sturak und Grau sind vermutlich gerade<br />

dabei das Artefakt zu entfernen. Und sonst geht absolut nichts vor sich.<br />

Es gibt nicht den geringsten Grund beunru-“<br />

In dem Moment explodierte das Laborgebäude.<br />

Es geschah innerhalb einer dreiviertel Sekunde. Sortak und die<br />

anderen sahen alle den Blitz, der einen Großteil des Glasdaches des<br />

Labors zerfetzte, und sie sahen die gleißende Energiesäule, die in den


Himmel schoss, während unmittelbar darauf die Eruption erfolgte und<br />

den Boden erzittern lies. Das alte Lagerhaus schien zu schwanken und<br />

riss sie alle von den Füßen. Sortak prallte zu Boden und Tala fiel auf ihn.<br />

Durch den Lärm der Schreie und Explosionen hörten sie plötzlich<br />

Sturaks Stimme aus, die aus den Kommunikatoren kam. „Artefakt...<br />

außer Kontrolle... Schilde...“<br />

Sortak drückte auf seinen Kommunikator. „Vater!“, rief er. „Vater,<br />

komm da raus!“ Er rappelte sich auf, stieß Tala beiseite und rannte zum<br />

Fenster. Draußen, unter den pechschwarzen Gewitterwolken, war die<br />

Luft erfüllt von Feuerranken, die aus dem zerstörten Dach des Labors<br />

fegten, von Energiespitzen, die in den Himmel emporschossen, von<br />

Lohe, die das Firmament versenkte. Weißes Licht gleißte aus sämtlichen<br />

Fenstern des Labors, weiß, grellrot, blau, das ganze Gebäude schien für<br />

einen Moment zu glühen, ja zu summen. Und dann kam die<br />

Flammensäule.<br />

Eine schäumende Springflut von Dunkelheit und Feuer, wie das erste<br />

Licht des Schöpfungstages, eine Gischt aus purer Energie, strahlend und<br />

sprühend peitschte aus dem Labor hinauf, schlug in den Wolken ein und<br />

verbrannte den Himmel... und gleichzeitig hörten sie die Schreie. Sie alle<br />

hörten sie durch ihre geöffneten Kommuniaktionsverbindungen – die<br />

Schreie, die im Labor erklangen. Es waren Sturak und Grau. Und über<br />

ihre Kommunikationsverbindung hörten sie auch das brausen und<br />

dröhnen eines unfassbaren Höllensturmes, und wie die Schreie abrupt<br />

abschnitten, bevor sie ihre volle Lautstärke erreicht hatten. Und dann<br />

nichts mehr.<br />

Sturak hatte die Augen weit aufgerissen. Hinter ihm sahen sich die<br />

anderen Kadetten an. Sie waren kreidebleich geworden. Jeder wusste,<br />

was der Abbruch der Kommunikation zu bedeuten hatte.<br />

„Oh Gott.“, flüsterte Tala. „Sturak ist tot.“<br />

Die Explosion entging niemandem. In der Mensa unterhielten sich die<br />

Kadetten während des Essens über den Unterricht, und in der nächsten<br />

Sekunde hörten sie den dumpfen Knall einer Detonation und spürten das<br />

Rumpeln des Bodens. Geschirr klapperte, Bildschirme fielen aus,


panische Rufe erfolgten. Überall auf dem Campus, in den Unterkünften,<br />

in den Lehrräumen, in den Sportanlagen, rannten die Kadetten zu den<br />

Fenstern und starrten nach draußen.<br />

Die Flammensäule sahen sie alle.<br />

Er wuchs aus den Überresten dessen, was sie einst als das<br />

Laborgebäude gekannt hatten, schäumte und tobte. Er stand am Himmel<br />

wie der Schatten Gottes, ein brennender, lohender Schatten nicht aus<br />

Dunkelheit, sondern aus grellem Licht. Er stand da, zugleich<br />

erschreckend und herrlich, und blendete alle, die auf ihn blickten.<br />

Der Himmel schien zu rotieren, als er von seiner Macht ausgefüllt<br />

wurde. Die Wolken wurden schwärzer, verkohlten förmlich. Im ersten<br />

Moment sah es so aus, als würde sich direkt über dem Labor, dort, wo<br />

die Flammensäule auf den Himmel traf und ein Loch hineinriss, ein<br />

Tornado bilden, doch der Finger Gottes blieb aus, Stattdessen stülpte<br />

sich der Himmel ein Stück gen Boden, wie ein umgedrehter Abfluss. In<br />

den Wolken begann Energie zu zucken, elektrische Ladungen, die sich in<br />

alle Richtungen ausbreiteten.<br />

Und dann kamen die Blitze und alles rannte und schrie.<br />

Als der erste Blitz mitten im Park in den Boden schmetterte, standen<br />

im Lagerhaus alle an den Fenstern und starrten dorthin, wo sich eben<br />

noch das Laborgebäude befunden hatte, unfähig zu begreifen, was sie<br />

dort sahen. Die Entladung war so heftig, dass sie alle zusammenzuckten.<br />

Dort, wo der Blitz einschlug, ließ er nur verbrannte Asche zurück. Dann<br />

kam ein zweiter, dann ein dritter, sie schlugen überall auf dem Gelände<br />

ein, spalteten Bäume, zerstörten die Schiffe auf den Fluganlagen. Überall<br />

Blitze, immer mehr und mehr, verwüsteten und zerstörten alles in<br />

rasendem Zorn, den nichts zu lindern schien.<br />

Das Lager wurde getroffen, an zwei Stellen gleichzeitig. Ein<br />

grässlicher Donner hallte durch das Gebäude, Konsolen überluden und<br />

explodierten, und große Teile der Decke regneten herab. Shan riss<br />

Durkin gerade noch rechtzeitig beiseite; im nächsten Augenblick<br />

schlugen dort, wo er gerade noch gestanden hatte, schwere Trümmer auf.<br />

Der Rest der Decke rumorte, jeden Moment konnte alles einstürzen.


Draußen heulte eine Sirene auf, sie hörten dumpfe Schreie, überall<br />

Panik.<br />

„Vater ist tot.“, sagte Sortak. Er stand noch immer am Fenster. In<br />

seinem Gesicht war nicht mehr die geringste Farbe. „Er ist tot! Er ist<br />

tot!“<br />

Der Boden schwankte unter ihm.<br />

„Wir müssen hier raus!“, rief Galak und stürmte zur Tür. Sie öffnete<br />

sich nicht. Die Systeme waren ausgefallen. Galak war hysterisch und er<br />

schrie: „Wir stecken in der Falle! Wir stecken in der Falle!“<br />

„Halt die Klappe!“, rief Tala..<br />

„Wir stecken in der Falle!“<br />

Tala scheuerte ihm eine. „Beruhig dich!“ Das schien fürs erste zu<br />

genügen. Er blinzelte, als sei er gerade aus einem Traum erwacht und<br />

hielt sich die schmerzende Wange.<br />

„Ich kann die Türverriegelung nicht deaktivieren.“, sagte Yoko mit<br />

erstaunlicher Ruhe. Seine Finger flogen präzise über das Tastenfeld einer<br />

Konsole. In dem Augenblick, in dem er erkannt hatte, dass sie in<br />

Schwierigkeiten steckten, war seine Zerstreutheit verschwunden. „Durch<br />

den Blitzeinschlag sind alle Systeme ausgefallen.“<br />

„Durkin, du blöder Tellarit! Jetzt!“, brüllte Tala dem Tellariten zu, der<br />

augenblicklich verstand. Er setzte sich in Bewegung und rammte seinen<br />

massigen, schweren Körper der Schulter voraus gegen die Tür. Der<br />

Aufprall genügte, um sie ein Stück zu öffnen, und Galak konnte die<br />

Finger in den Spalt schieben. Er stöhnte und zog mit aller Kraft, und<br />

dann half ihm auch schon Shan. Ein paar Sekunden, die eine Ewigkeit zu<br />

währen schienen, geschah gar nichts. Dann löste die Tür sich plötzlich<br />

aus der Verankerung und es gelang den Kadetten die Türhälften beiseite<br />

zu schieben. „Raus! Alle raus!“, rief Shan.<br />

Überall um sie herum entzündeten sich beschädigte Geräte, und die<br />

Flammen nagten an den uralten Wandverkleidungen. Wotan war als<br />

erstes draußen.<br />

Tala knurrte. „Schon mal was von Ladys First gehört, Pussy Cat?“<br />

Shan packte sie an der Schulter. „Quatsch nicht!“ Sie schob die<br />

Andorianerin nach draußen, wartete, bis auch Galak, Durkin und Yoko<br />

an ihr vorbei waren. Einer fehlte.<br />

Sortak rührte sich nicht. Er stand noch immer am Fenster, schüttelte


ungläubig den Kopf, als wolle er einfach nicht begreifen, was geschehen<br />

war. Shan schirmte sich das Gesicht mit ihrem Arm ab, als sie durch die<br />

bröselnde Decke zu ihm rannte. „Es tut mir leid, Sortak, es tut mir<br />

wirklich leid! Aber wir müssen jetzt gehen!“<br />

Er drehte sich langsam zu ihr um. Lächelte sanft, irgendwie<br />

merkwürdig. „Geh nur, Shan. Rette dich.“<br />

Sie starrte ihn einen Moment lang an. „Machst du Witze? Komm<br />

schon, verdammt!“<br />

Shan riss Sortak beinahe von den Füßen, rannte mit ihm durch dne<br />

Raum und stieß ihn hinaus. Dann folgte sie selbst, und im nächsten<br />

Augenblick stürzte die Decke ein.<br />

Auf dem Korridor versuchten alle wieder zu Atem zu kommen,<br />

keuchten und schwitzen. Sie waren sehr aufgeregt und verängstigt.<br />

Draußen heulten die Sirenen, ständig grollte Donner. Sie hörten entferne<br />

Explosionen, noch immer schlugen überall Blitze ein. Alle drängten um<br />

Shan.<br />

„Das ist schrecklich.“, sagte Tala. „Schrecklich!“<br />

„Wie konnte das nur so schief gehen?“, fragte Wotan.<br />

Galaks Stimme war panisch. „Was passiert hier, nur, was passiert hier<br />

nur?“<br />

„Ich... ich...“, Shan zögerte.<br />

„Es ist dein Artefakt gewesen! Was hat es angerichtet? Was hat es<br />

getan?“<br />

„Ich weiß es nicht, okay!? Ich weiß es nicht! Es... es... vielleicht...“<br />

„Ach!“ Galak winkte wütend ab, drehte sich um und lief energisch den<br />

Korridor hinab.<br />

Tala sah ihm nach. „Wo willst du hin?“<br />

„Hier raus natürlich! Zu den Evakuierungsfahrzeugen, oder etwas<br />

ähnlichem. Irgendjemand wird uns schon in Sicherheit bringen. Wenn<br />

ihr unbedingt hier bleiben wollt, bis das ganze Gebäude zu Asche zerfällt<br />

– bitte. Ich halte euch nicht auf!“<br />

Er erreichte das Ende des Ganges, schob das Schott zum Notschacht<br />

beiseite und-


Etwas großes, weiß-pelziges, und extrem wütend dreinschauendes,<br />

brüllte ihm direkt ins Gesicht. Die anderen schnappten erschrocken nach<br />

Luft. Und obwohl es nur so ähnlich, aber nicht genauso aussah, erkannte<br />

Shan das Tier auf der Stelle wieder. Es war das Monster, dass sie in der<br />

Höhle auf Frigoria angegriffen hatte. Nun, nicht genau das Monster...<br />

aber zweifellos ein sehr naher Verwandter. Galak schlug das Schott zu<br />

und sperrte das Biest aus – für den Moment. Er drehte sich zu den<br />

anderen und sagte: „Wir haben ein Problem.“<br />

„Bei Munipors Mond!“ Durkin wirbelte zu ihnen herum. Er hatte sich<br />

am Ende des Korridors zu dem Panoramafenster begeben. „Seht euch<br />

das an!“<br />

Es geschah überall auf dem Akademiegelände. Die Blitze hatten<br />

bereits weite Teile des Geländes zerstört, Wiesen verbrannt und Bäume<br />

gespalten. Aber es gab noch eine andere Art Blitz, einen, der keinen<br />

Schaden anrichtete. Diese Blitze waren seltener und sie brachten etwas<br />

her, von dem Durkin überzeugt war, dass es sich um den Krognig-<br />

Dämon handelte – eine Kreatur der tellaritischen Mythologie. Diese<br />

Kreatur war ihre Version des Teufels, ein Wesen, beschrieben als<br />

Vierbeiner, mit zotteligem, weißen Fell und scharfen, schrecklichen<br />

Zähnen, in einer langen Schnauze.<br />

Und genau diese Wesen befanden sich plötzlich überall auf dem<br />

Campus, und alle kamen auf die gleich Art an: Der Blitz raste herab,<br />

geräuschlos, und dort, wo er den Boden leckte, stand von einem zum<br />

anderen Moment ein Krognig-Dämon. Und sie befanden sich auf der<br />

Jagd. Durkin und die anderen beobachteten vom Fenster aus mit<br />

Entsetzen, wie die Akademie von den Wesen angegriffen und überrannt<br />

wurde. Überall schrieen Kadetten. Sie rannten panisch umher, einige zu<br />

den Schiffen, die aber genau wie die Verteidigungssysteme – als stecke<br />

Präzision hinter ihnen – von Blitzeinschlägen funktionsuntüchtig<br />

gemacht worden waren. Andere versuchten sich in die Parks zu retten.<br />

Aber kaum einer entrann seinem Schicksal. Gleich nach ihrer Ankunft<br />

brüllten die Tiere, eröffneten die Jagd auf die hilflosen Menschen. Der<br />

Angriff erfolgt mit Brutalität und verblüffender Schnelligkeit.


Ungehindert stürmten sie knurrend und brüllend über das Gelände und<br />

streckten einen wehrlosen Besucher der Akademie nach dem anderen<br />

nieder. Durkin zählte zwanzig, vielleicht dreißig. Und immer mehr<br />

kamen an.<br />

„Nein, das sind keine Dämonen.“, sagte Shan steif. Durkin hatte seine<br />

Gedanken laut ausgesprochen.<br />

„Das sind Tiere.“<br />

„Du kennst sie, Shan?“, fragte Tala.<br />

„Ja. Ja, ich kenne sie. Ich bin einem von ihnen in der Eishölle von<br />

Frigoria begegnet.“ Sie sah Tala ernst an. „Bei dem Artefakt. Es sah ein<br />

wenig anders aus. Die hier sind kleiner, die Körperform stimmt nicht<br />

ganz und die Schnauze ist zu lang. Aber die Ähnlichkeit ist dennoch<br />

verblüffend.“<br />

Durkin schüttelte den Kopf. „Was geht denn hier vor?“<br />

Neben ihm lies Yoko den Tricorder sinken und runzelte nachdenklich<br />

die Stirn. „Wir werden ausgelöscht.“ Er klappte den Tricorder zusammen<br />

und drehte sich zu den anderen. „Ich denke, ich habe jetzt genug Daten<br />

für eine fundierte wissenschaftliche Hypothese. Ich glaube, wir sind<br />

Zeuge der Rache der Götter. Ich glaube, das Urgon ist die frigorianische<br />

Version von Pandoras Büchse.“<br />

Galak blinzelte und starrte den Vulkanier an. „Erklär das.“<br />

„Zuerst, zieht das Artefakt geraume Energiemengen zusammen.<br />

Genug Energie, um in unserer mittleren Atmosphäre einen Wettereffekt<br />

zu erzeugen, der dem eines Blizzards gleicht, um Blitze hervorzurufen,<br />

die nur keine gewöhnlichen Blitze mehr sind, sondern – wie ich vermute<br />

– auf irgendeine Weise interspaziale, oder interdimensionale Portale<br />

öffnen, aus denen die Tiere dort unten hervortreten. Eine andere Theorie<br />

wäre, dass das Artefakt irgendeinen Programmcode in diesen<br />

Wettereffekt geladen hat, und die Blitze öffnen keine Durchgänge in<br />

Parallelwelten, sondern erzeugen selbst diese Tiere. Ich bin mir nicht<br />

sicher. Meiner Einschätzung nach, wird der gesamte Campus in wenigen<br />

Minuten von Horden dieser Wesen überflutet werden und wie es<br />

aussieht, scheinen sie aus einem bestimmten Zweck hier zu sein:<br />

Eroberung. Eine Eroberung, an der auch die Stadt Shangrila zugrunde<br />

ging.“<br />

„Was nicht bedeuten muss, dass hier das gleiche geschieht.“, erwiderte


Tala skeptisch. Sie strauchelte, als der Boden erneut erzitterte. „Es<br />

könnte sonst was sein. Vielleicht haben diese Tiere überhaupt nichts mit<br />

Shans Artefakt zu tun.“<br />

Yoko dachte einige Sekunden darüber nach und schüttelte dann den<br />

Kopf.<br />

„Unwahrscheinlich. Es muss eine Verbindung zwischen der verlorenen<br />

Stadt, dem Urgon, dem Tier aus Shans Erzählung und diesen Wesen hier<br />

geben.“<br />

Hinter ihnen pocht das Monster gegen die Tür. Es kam gleich durch.<br />

Wotan starrte Yoko an. „Was sollen wir jetzt tun?“<br />

Für Durkin, den Tellariten gab nur eine vernünftige Antwort: Selbst<br />

zum Angriff übergehen. „Krognig-Dämonen hin oder her: Ich sage, wir<br />

vernichten sie! Wir besorgen uns Waffen, sammeln uns, oder schließen<br />

uns dem nächsten Sicherheitsteam an und töten sie. Einen nach dem<br />

anderen!“ Er drehte den Kopf zu Sortak, der noch immer leichenblass<br />

war. „Bist du dabei, Sortak?“<br />

Sortak sah ihn lange an. „Bin ich.“, sagte er. „Bin ich auf alle Fälle.“<br />

„Gut! Was ist mit dir, Andorianerin?“<br />

„Ich unterstütze dich lieber moralisch.“<br />

Das schien ihm zu genügen. „Von mir aus! Dann bleiben mehr Gegner<br />

für uns übrig!“<br />

„Halt!“ Yoko sah sie energisch an. „Das könnt ihr nicht tun.“<br />

„Nicht tun, Yoko? Nicht tun?“ Durkin knurrte. „Vielleicht kann ein<br />

schwächlicher Vulkanier wie du das nicht tun, aber ich, als Tellarit,<br />

werde diesen grundlosen, abscheulichen Angriff gebührend beantworten!<br />

Einer der unsrigen ist tot und dieser Verlust schreit nach Rache! Grau<br />

schreit nach Rache! Sturak schreit nach Rache!“ Er hob die Faust.<br />

„RACHE! RACHE!“ In dieser Stimmung wollte er sich Richtung Luke<br />

bewegen, wo noch immer das Tier gegen das Schott hämmerte. Aber<br />

Yoko stellte sich ihm entschlossen in den Weg.<br />

„Yoko.“, knurrte Durkin. „Ich sag’s nur einmal: mach die Bahn frei!“<br />

„Ich kann das nicht zulassen. Ihr dürft sie nicht töten. Es handelt sich<br />

um intelligente Wesen. Die Sternenflotte existiert zu einem einzigen<br />

Zweck: Brücken zwischen intelligenten Lebewesen aufzubauen. Wir<br />

dürfen das Fremde nicht bekämpfen. Wir müssen versuchen, einen<br />

Kontakt herzustellen. Irgendwie mit ihnen zu kommunizieren! Was auch


immer sie wollen – vielleicht können wir sie davon überzeugen, uns in<br />

Ruhe zu lassen.“<br />

Durkin jaulte „Aber es sind bloß Tiere.“, protestierte er. „Tiere sind<br />

nicht intelligent.“<br />

„He!“, machte Wotan.<br />

„Anwesende natürlich ausgeschlossen.“<br />

„Richtig.“, warf Tala ein. „Die sind nur feige.“<br />

Wotan bedachte sie mit einem bösen Blick, zog sich aber mit<br />

hängenden Ohren wieder beschämt zurück.<br />

„Wir müssen unsere toten rächen, und nicht reden!“, brüllte Durkin,<br />

woraufhin selbst Yoko erstaunlich energisch zurückargumentierte. Dann<br />

fauchten sich plötzlich alle gegenseitig an, schrieen durcheinander,<br />

beleidigten und drohten.<br />

Shan hörte kaum hin. Nur für den Moment eines Herzschlages – und<br />

aus Gründen, die sie nicht verstand -, erlebte sie einen klaren Moment.<br />

Einen Moment, in dem sie nicht mehr während der Katastrophe im<br />

Korridor des Lagerhauses stand. Einen Moment, in dem sie in ihrer<br />

Vergangenheit war und ihre Ausbilder, ihren Vater, ja sogar Gärtner<br />

Boothby zu sich sprechen hörte. Und einen Moment in dem sie begriff.<br />

„Zweifeln sie niemals an sich selbst.“, warnte Tuvok vorne am Pult.<br />

„Und wenn sie einmal am Boden liegen – und das werden sie zweifellos<br />

-, vertrauen sie auf ihre Kameraden.“<br />

„Du kannst alles schaffen.“, Mueller legte ihr eine Hand auf die<br />

Schulter. „Wenn du es nur willst.“<br />

Und sie hörte ihren Vater: „Wissen Sie, die Entscheidung, die Sie<br />

treffen, ist nicht halb so wichtig, wie die Tatsache, dass sie eine treffen.<br />

Egal ob richtig oder falsch – bleiben sie bei der Entscheidung. Wenn sie<br />

zögern, schwammig erscheinen, die Unsicherheit ziegen, die immer<br />

irgendwo mitschwingt, dann entmutigen sie ihre Mannschaft.“<br />

Aber vor allem sah sie...<br />

...sich selbst. Wie sie älter war. Entschlossener. Besser. Die Frau, diese<br />

anmutige Frau, blickte auf sie herab, erwachsen und stark.<br />

„Du musst es ja doch machen.“, sagte sie. „Also mach es gleich... und<br />

mach es richtig.“<br />

Sie lächelte, verblasste... verblasste... und dann war Shan plötzlich<br />

zurück - in die Realität geschleudert durch Durkins barsches Gebrüll:


„RACHEEE! RACHEEE!“<br />

Und Yoko sagte: „Ich kann das nicht zulassen!“<br />

Und Durkin blaffte: „Ist mir egal, versuch doch mich aufzuhalten!“<br />

Und Galak jammerte: „Wir werden hier sterben!“<br />

Und Tala schrie: „Wie willst du das bewerkstelligen, du tellaritischer<br />

Trottel? Dang! Keine Waffen, keine Verstärkung, keine Hoffnung. Was<br />

für Mittel haben wir denn noch?“<br />

„Mich.“<br />

Es war Shan, die das gesagt hatte. Alle drehten die Köpfe zu ihr<br />

herum. Sie waren so sehr mit Zanken beschäftigt gewesen, dass sie Shan,<br />

die einzige, die sich nicht beteiligte, vergessen hatten. Nun trat sie einen<br />

Schritt vor, mit beachtlicher Entschlossen- und Selbstsicherheit. „Wir<br />

werden weder einen Rachefeldzug starten, noch blindlings auf diese<br />

Tiere zugehen, in der Hoffnung, dass sie uns zuhören, anstatt uns zu<br />

zerfleischen. Nein, wir werden etwas anderes tun: Wir werden diese<br />

interdimensionalen Risse, oder was es auch immer sein mögen, schließen<br />

und retten, was zu retten ist! Du willst kämpfen, Durkin?“ Sie richtete<br />

ihren Blick auf den Tellariten. „Viel Glück! Du wirst keine zehn<br />

Sekunden überleben. Ich war bereits mit diesen Tieren konfrontiert. Sie<br />

sind schnell, gerissen und brutal. Einen Tellariten wie dich verspeisen sie<br />

zum Frühstück.“<br />

Durkin schäumte. Er wollte eine passende Antwort krakeelen, aber<br />

Shan wandte sich einfach von ihm ab und Yoko zu. „Yoko, du sagtest,<br />

das Artefakt würde seine Energie aus der Akademie beziehen.“<br />

„Aus den Energiegeneratoren, ja.“<br />

„Wenn wir diese Generatoren also abschalten würden... wäre es dann<br />

vorbei?“<br />

Der Vulkanier dachte einen Moment nach. „Möglich, ich bin nicht<br />

sicher. Die Energiesäule in den Himmel jedoch, weist darauf hin, dass<br />

sie von Nöten ist, um den Blizzard zu kontrollieren und aufrecht zu<br />

erhalten. Wenn die Energiezufuhr abbricht, besteht die Möglichkeit, dass<br />

sich die Atmosphäre wieder normalisiert und die Vorgänge stoppen.<br />

Doch es gibt ein Problem: Die Generatoren müssen manuell abgeschaltet<br />

werden, denn die Automatik ist zerstört.“<br />

„Wie viele Generatoren? Wo sind die?“<br />

„Es müsste genügen die beiden Hauptgeneratoren zu deaktivieren, die


Hauptsromversorger des Akademiegeländes. Einer liegt unterirdisch, in<br />

der Nähe der Flughalle. Der andere befindet sich hinter der Akademie in<br />

unmittelbarer Nähe der Cochrane-Statue.“<br />

„Klingt für mich nach einem Plan.“<br />

„Warte Shan“, warnte Yoko. „Da ist noch etwas. Das Artefakt hat<br />

schon einmal einen Weg gefunden, unbemerkt Energie anzuziehen und<br />

zu horten. Wer weiß, wie groß der Energiespeicher noch ist, und welche<br />

Möglichkeiten diese Technologie besitzt. Vielleicht reagiert es sogar<br />

äußerst empfindlich, wenn es... einfach den Strom abgestellt bekommt.<br />

Es könnte explodieren und den ganzen Campus vernichten. Vielleicht<br />

ganz San Francisco.“<br />

Galak starrte ihn an. „Du willst das Teil also... was? Zerstören? Aus<br />

der Sensorkammer entfernen, damit es San Francisco nicht in Schutt und<br />

Asche legt? Du willst du mir einen Bären aufbinden, oder?“<br />

„Ich sehe keinen logischen Grund, ein wildes Tier an deinen Körper zu<br />

fesseln.“, erklärte Yoko stirnrunzelnd.<br />

„Shan, das kann doch unmöglich dein Ernst sein.“<br />

„Doch, Galak.“, antwortete sie. „Das ist mein Ernst.“<br />

„Das ist Wahnsinn! Lass es andere tun! Warum willst du das<br />

unbedingt selbst machen?“<br />

Shan prüfte, ob ihr Schwert richtig saß, dann sah sie ihn an. „Weil die<br />

anderen vielleicht auch alle sagen: lass es andere machen? Und dann<br />

macht es niemand. Wir sind hier, wir haben das Wissen, wir haben den<br />

Plan, wir haben eine Chance.“<br />

„Bist du verrückt? Du musst verrückt sein! Du kannst nicht zwei<br />

Generatoren ausschalten und dann auch noch das Artefakt zerstören. Auf<br />

der anderen Seite des Campus! Das zu schaffen ist unmöglich. Die<br />

Blitze, die Tiere...“<br />

„Deswegen brauche ich auch eure Hilfe. Von jedem einzelnen. Wir<br />

werden das gemeinsam tun.“<br />

Alle starrten sie an, als hätte Shan den Verstand verloren.<br />

Sie sog die Luft geräuschvoll ein, sah einen nach dem anderen an.<br />

„Egal wie sehr wir uns alle verkracht haben, jetzt müssen wir zusammen<br />

halten! Das ist es doch, worum es in der Sternenflotte geht, oder nicht?<br />

Die Ressourcen verschiedener Welten zu einigen, um ein gemeinsames<br />

Ziel zu erreichen. Hier ist unsere Chance dazu! Ihr seit mehr, als nur eine


Gruppe wandelnder Uniformen. Jeder einzelne von euch ist etwas<br />

besonderes, mit einzigartigen Fähigkeiten und der Möglichkeit ein Held<br />

zu sein. Die Sache ist nur, selbst Helden fürchten sich. Glaubt nicht, mir<br />

würde die Vorstellung gefallen, erneut gegen diese Wesen anzutreten.<br />

Ich habe Angst. Ich habe sogar sehr große Angst. Ich hatte auch auf<br />

Frigoria Angst, aber diese Angst hat mich nicht davon abgehalten,<br />

trotzdem zu tun, was erforderlich war!<br />

Ihr müsst jetzt auch mehr sein. Ihr dürft keine Furcht zulassen. Ihr<br />

dürft nicht eine Sekunde lang an euch zweifeln. Jeder von euch muss<br />

sich vorstellen, dass wir dies hier schaffen und überleben. Stellt es euch<br />

vor, und haltet an diesem Gedanken fest. Benutzt ihn als eine Quelle der<br />

Stärke, um über die Ängste, die ihr empfindet, oder zu empfinden glaubt,<br />

zu triumphieren.<br />

Und bedenkt folgendes: Wir sind hier, um in die Fußstapfen unserer<br />

Helden und Vorbilder zu treten, vielleicht sogar unserer Eltern. Und<br />

diese Legenden, haben durch die Jahrhunderte immer wieder in<br />

Situationen gekämpft, in denen die Chancen beträchtlich gegen sie<br />

standen. In denen sogar die Götter gegen sie standen. Die der Menschen,<br />

die der Andorianer, selbst die der Tellariten. Und dennoch haben sie am<br />

Ende den Sieg davon getragen und wurden zu den größten und<br />

epischsten Helden, die je existierten. Anstatt sich zu fürchten, solltet ihr<br />

euch bewusst machen, dass wir alle zusammen und gemeinsam die Ehre,<br />

das Privileg und die pure Pflicht besitzen, an dem Ort, wo solche Helden<br />

ihren Weg beginnen – der Akademie -, in ihre Fußstapfen zu treten und<br />

etwas besonderes zu werden. Und ihr werdet sagen können >Ich war da.<br />

Ich habe etwas bewegt. Ich habe keinen dummen Alleingang hingelegt,<br />

sondern mit diesen Leuten gekämpft. Ich stehe nicht mehr länger in<br />

jemandes Schatten.


Er sah sie lange an, und obwohl er nichts sagte, nur nickte, schenkte er<br />

ihr den größten aller Vertrauensbeweis: Er salutierte.<br />

„Ich bin auch dabei.“, sagte Yoko als nächster, was Tala insgeheim<br />

sehr erstaunte. Sie hatte den kleinen Vulkanier nie als mutigen Mann<br />

gesehen. Eher als maskuline Frau. So wie Shan. Zu ihrer Verwunderung<br />

machte selbst Wotan diesmal keinen Rückzieher und war gewillt zu<br />

helfen, denn er nickte. Wenn auch schwerfällig.<br />

„Galak?“, fragte Shan den letzten.<br />

Der Orsorianer besaß weniger vertrauen in sie als die anderen. „Ich bin<br />

nur halb so ein Idiot, wie ein solches Unterfangen verlangt! Zehn Prozent<br />

deines Plans ist Wahnsinn, fünfzig Prozent deiner Zuversicht sind nicht<br />

genug, und hundert Prozent tot ist tot. Ich will nicht sterben, Shan.“<br />

„Ich auch nicht, Galak. Ich auch nicht. Und ich will dass wir alle<br />

diesen Plan überleben. Bist du dabei oder nicht?“<br />

Er seufzte. „Was soll ich machen? Wo ihr alle ja sagt, kann ich ja<br />

kaum einen Rückzieher machen. Wie würde das denn aussehen?“<br />

„Gut! Tala, Durkin, ihr begebt euch zum östlichen Generator. Galak,<br />

Sortak, ihr übernehmt den anderen.“<br />

„He!“, protestierte Galak. „Warum muss ich mit ihm-“<br />

„Weil du weißt, wo die Statue ist.“<br />

„Sollte ich nicht lieber mit Tala-“<br />

„Nein! Ich habe nicht vergessen, was ihr getan habt, und wenn das hier<br />

vorbei ist, werde ich einen von euch umbringen. Im Moment brauchen<br />

wir uns jedoch. Ihr geht getrennt. Ich übernehme das Artefakt.“<br />

Wotan staunte nicht schlecht. „Du bist verdammt mutig.“<br />

„Nein, Wotan.“, erwiderte Shan. „Aber es gibt jetzt wichtigeres als<br />

sich zu ängstigen.“<br />

„Du hast recht. Und ich werde dich begleiten.“<br />

Sie stutzte. „Bist du sicher? Das wird nicht schön werden. Diese Tiere<br />

sprechen eine gewalttätige, starke Sprache. Erwachseneninhalt.“<br />

„Ich war, wie du weißt, selbst mal ein Raubtier und ich habe keine<br />

Neigung weiterhin die Pussy-Cat zu sein. Ich komme mit dir.“<br />

Yoko nickte beipflichtend. „Ich begleite euch ebenso. Wenn wir die<br />

Tiere stoppen können, ohne sie zu verletzten, dann bin ich dabei.<br />

Außerdem... im Falle einer Krise halten Außenseiter zusammen. Das ist<br />

nur... logisch.“


Shan lächelte. Sie ging zu einer Tür, die zu einem anderen Notschacht<br />

führte, zog ihr Schwert und rammte die Klinge in den Türschlitz. Sortak<br />

war sofort zur Stelle und half, die Tür zu öffnen. Beide sahen hinein. Der<br />

Schacht glühte rot. Kein Monster da. Shan wandte sich wieder den<br />

anderen zu. „Wir glauben an uns. Wir werden triumphieren. Keine<br />

Zweifel. Keine Unsicherheit. Keine Verluste!“ Sie lies die Worte noch<br />

einmal wirken und nickte dann. „Okay, jeder weiß, was zu tun ist. Viel<br />

Glück.“<br />

„Euch auch.“<br />

Sie kletterten die Leiter herab und dann trennten sich ihre Wege.<br />

Während Shan, Yoko und Wotan zum Ausgang rannten, und Galak und<br />

Sortak die unterirdischen Korridore nach links verfolgten, nahmen Tala<br />

und Durkin die Abzweigung in die andere Richtung. Alles war still und<br />

verlassen. Die Beleuchtung war matt, der Alarm glühte.<br />

„Nette Rede!“, bemerkte Tala, während sie durch die Korridore eilten.<br />

„Ein Tick zu viel Yankee-Doodle, aber durchaus beeindruckend.“<br />

Durkin brummte. „Typisch Menschen. Müssen immerzu Predigen<br />

halten.“<br />

„Ach so? Machen das Tellariten etwa nicht um ihre Leute zu<br />

ermutigen, bevor sie in die Schlacht ziehen?“<br />

„Selbstverständlich nicht!“, erwiderte Durkin. „Wir setzen sie einfach<br />

unter Drogen.“<br />

„Oh.“, machte Tala. „Nun... das hätte sicher auch funktioniert, schätze<br />

ich.“<br />

Was habe ich nur dabei gedacht? Die Frage pulsierte durch Shans<br />

Geist, als sie mit Yoko und Wotan im Ausgang stehen blieben und das<br />

ganze entmutigende Ausmaß der Katastrophe sahen. Ihr wurde<br />

schmerzlich bewusst, dass Tapfer klingen und sich tapfer fühlen, zwei<br />

völlig verschiedene Dinge waren.<br />

Überall um sie herum herrschte Chaos, als die Bewohner der<br />

Akademie, die nur wenige Minuten zuvor noch friedlich ihrem Alltag<br />

nachgegangen waren, nun kreuz und Quer rannten, kreischten, Befehle<br />

blafften und von den endlosen Blitzeinschlägen zu Boden gerissen


wurden. Vom Sternenflottenkommando, gegenüber des Campus, war fast<br />

nichts übrig geblieben. Das Gebäude war von mehreren Blitzen getroffen<br />

worden und in einer finalen, Ohrenbetäubenden Explosion in tausend<br />

Stücke gesprengt worden. Niemand wusste, wie viele bereits tot waren,<br />

aber es bestand kein Zweifel, dass die Zahl mit jeder verstreichenden<br />

Sekunde drastisch stieg.<br />

Verantwortlich dafür waren die Tiere. Abgerichtete Wächter, als<br />

Kampfmaschinen gezüchtet, rücksichtslos und unbestechlich. Immer<br />

mehr von ihnen trafen ein, jagten die Hilflosen Kadetten und Offiziere<br />

brutal durch die Anlage und streckten alles nieder, was in die Reichweite<br />

ihrer Fänge und Klauen geriet. Die Menschen an der Akademie hatten<br />

nicht die geringste Chance. Der Angriff kam für sie völlig überraschend<br />

und erfolgte in verblüffender Schnelligkeit. Welle um Welle trafen<br />

immer neue Tiere ein. Für sie sind wir nur Schlachtfieh, dachte Shan.<br />

Eine fremde Art, für die sie kein Empfinden haben, auszurottende<br />

Schädlinge. Für die Tiere war es unerheblich, aus welchen Gründen sie<br />

hergebracht wurden, und warum sich Menschen an diesem Ort befanden.<br />

Sie töteten nicht, um sich Nahrung zu beschaffen, sich zu verteidigen,<br />

oder ihre Jungen zu schützen – sie töteten, weil man sie dazu abgerichtet<br />

hatte. Und ausgerechnet Shan hatte ihnen ermöglicht, ihrer Pflicht<br />

nachzukommen. Im Zentrum der Föderation.<br />

Was habe ich getan? Was habe ich getan? Wieder und wieder<br />

schossen diese Worte durch ihren Geist. Sie zwang den Aufruhr in ihrem<br />

Kopf zur Ordnung. Konzentrier dich! Dafür ist später noch Zeit.<br />

Wotan neben ihr knurrte nur und betrachtete fassungslos das<br />

Geschehen, genau wie Yoko. Schreie drangen an ihre Ohren und von<br />

irgendwo eröffneten mutige Sicherheitsoffiziere, die sich diszipliniert<br />

und schnell gesammelt hatten, den Beschuss aus ihren Gewehren. Das<br />

Mündungsfeuer verklang genauso schnell wieder, wie es erschallte, als<br />

die Tiere über sie herfielen. Es folgte ein Knurren, ein Gurgeln und dann<br />

nichts mehr. Die Offiziere waren tot. Der Gegenangriff vernichtet, bevor<br />

er richtig begonnen hatte. Woanders heulten Sirenen los. All das und<br />

unzählige tragische Schicksale mehr, spielte sich innerhalb weniger<br />

Augenblicke ab. Während sie die Tiere beobachtete, schmetterte ein<br />

Blitz direkt unmittelbar vor ihnen in einen Baum und spaltete den<br />

Stamm. Der Glanz war so grell, dass Shan grüne Streifen vor ihren


Augen sah.<br />

„Drinnen wären wir sicherer...“, stellte Yoko fest.<br />

„Nein.“, sagte Shan fest. „Kein Rückzug. Wir müssen da jetzt durch.<br />

Wir müssen das hier zu einem Ende bringen. Retten was noch zu retten<br />

ist – ganz egal, was aus uns wird.“<br />

„Und wie sollen wir da lebendig rüberkommen?“<br />

Shan folgte Yokos Blick zum Laborbereich. Das Gebäude lag auf der<br />

anderen Seite des Parks. Weit entfernt, dachte sie. So schrecklich weit<br />

entfernt. Yoko teilte ihre Gedanken: „Wir werden zu Fuß nicht schnell<br />

genug sein, um den Blitzschlägen und Tieren auszuweichen.“<br />

„Ihr vielleicht nicht.“, sagte Wotan. Er sah mit grimmigem<br />

Gesichtsausdruck zu ihnen auf. „Ich schon.“<br />

Shan fragte: „Denkst du, was ich auch denke?“<br />

„Denke schon.“<br />

„Kannst du uns denn tragen? Hälst du das aus?“<br />

„Ich schaff das. Ganz sicher.“<br />

„Gut, dann-“<br />

Ein paar Hundert Meter rechts von ihnen ragte die Stellarabteilung in<br />

die Höhe – ein großes, gläsernes Gebäude mit etlichen Sensoren und<br />

Antennen auf dem Dach. Ein Blitz schmetterte mit furchterregendem<br />

Krach herab, traf irgendein empfindliches System wie eine Bombe, was<br />

zu einer verheerenden Kettenreaktion führte. Einen Moment später war<br />

das Gebäude fort, untergegangen in einer zum Himmel bleckenden<br />

Flammenzunge.<br />

„Grozit!“, fluchte Shan. „Los, machen wir’s, bevor es nichts mehr<br />

gibt, was wir retten können.” Sie sprang auf Wotans Rücken. Yoko<br />

kletterte hinter sie und umschlang ihre Hüfte mit seinen Armen. Shan<br />

konnte sich nirgends festhalten. Sie fühlte Panik. Wie sollte sie sich auf<br />

Wotan halten, wenn er losrannte?<br />

Er rief: „Krall dich an meinem Fell fest.“<br />

„Tut dir das nicht-“<br />

„Mach schon!“<br />

Ein anderer Blitz krachte vom Himmel herab, traf einen Kadetten, der<br />

sich auf der Flucht vor einem der Tiere befand, und ließ nur das<br />

verkohlte Fleisch der Leiche übrig. Vielleicht würde sie dasselbe


Schicksal ereilen, dachte Shan. Aber es gab kein Zurück mehr. Jetzt oder<br />

nie. Sie trat Wotan mit den Stiefelhacken in die Seite. „Los!“<br />

Wotan brüllte und wetzte los. Direkt in die Blitze hinein.<br />

Es geschah alles so schnell, dass Sortak kaum Zeit hatte, zu<br />

verarbeiten, was passiert war. Im einen Moment, hatten sie noch<br />

routinearbeiten durchgeführt, jeder von ihnen auf irgendeine Art mit dem<br />

jeweils anderen verkracht. Und in der nächsten Sekunde stand die<br />

Akademie in Flammen! Der Moment, als die Energiesäule explodiert<br />

war...<br />

...bei den Sternen!<br />

Sturak. Sturak und Grau waren mitten drin gewesen. Das ... das<br />

konnten sie unmöglich überlebt haben. Sortak schob den Gedanken<br />

schnell beiseite. Er durfte sich jetzt nicht der Trauer hingeben. Noch<br />

nicht. Zunächst hatten sie eine Aufgabe. Es wäre ihm egal gewesen, was<br />

mit den anderen geschieht. Aber ihm war nicht egal, was Shan geschah.<br />

Sie hatte einen Plan und er würde ihr helfen, ihn auszuführen, damit sie<br />

überlebte. Sie war die einzige, die ihm noch geblieben war. Jetzt, nach<br />

Sturaks offensichtlichem Tod... war sie die einzige, die etwas zählte.<br />

„Ich will diesen Biestern nicht wirklich begegnen.“, sagte Galak hinter<br />

ihm und blickte immer wieder nervös über die Schulter. Er war sichtbar<br />

ängstlich. Schweiß rann seinen Körper herab und seine Bewegungen<br />

waren fahrig. Sortak hingegen erlitt eine gewisse Lethargie. Er versuchte<br />

sich einfach auf das Ziel zu konzentrieren: Den Generator zu erreichen<br />

und abzuschalten. Und das möglichst, ohne auf Gegner zu stoßen, da<br />

ihnen keine Waffen zur Verfügung standen.<br />

Sie waren in einen unterirdischen Verbindungstunnel geklettert und<br />

schlichen nun durch gespenstische Düsternis. Vor einer Minute waren<br />

die Lichter über ihnen flackernd erloschen. Nur noch der rote Alarm<br />

glühte auf und zauberte eine düstere Ambiente herbei. Alles war still.<br />

Die Explosionen über ihnen, drangen nur gedämpft zu ihnen, wie aus<br />

weiter Ferne.<br />

Auf einmal schnappte Galak nach Luft. „Hast du das gehört?“


Sortak blieb stehen und wandte sich um. Er spitzte die Ohren. Nichts.<br />

Alles war still. Alles war ruhig. Er schüttelte den Kopf. Und dann, in den<br />

Schatten hinter ihnen, sah er eine Bewegung. Dann noch eine.<br />

Anschließend hörten sie das Scharen von Krallen. Die Tiere! Sie waren<br />

hier unten. Und hinter ihnen her. Die alptraumhaften Kreaturen waren<br />

vor ein paar Sekunden noch nicht da gewesen, aber nun sah Sortak sie<br />

aus verschiedenen Eingängen und Notschächten springen. Ihre schweren<br />

Körper schälten sich einer nach dem anderen aus den Schatten. Sie<br />

knurrten Galak und Sortak an, bellten und rissen gierig ihre Mäuler auf.<br />

„Wir könnten ein Problem haben.“, äußerte Sortak.<br />

Und dann sprangen die Tiere los.<br />

„Lauf, lauf!“, schrie Sortak. Und rannte.<br />

Wotan entwickelte ein beachtliches Tempo. Er stürmte direkt durch<br />

den Park, die Nasenflügel gebläht, die Ohren angelegt. Shan konnte sich<br />

kaum auf seinem Rücken halten. Ihre Finger gruben sich tief in sein Fell,<br />

rissen ganze Büschel heraus, aber es schien Wotan nichts auszumachen –<br />

oder aber er ignorierte den Schmerz. Ein Blitz drosch direkt vor ihnen<br />

nieder und explodierte in einem Mast. Metall kreischte, und das ganze<br />

Ding kippte seitlich zu Boden, drohte sie unter sich zu begraben.<br />

Wotan schnellte herum, wich nach rechts aus. „Aufpassen!“<br />

Shan sah die Hecke im letzten Moment. Sie riss die Arme hoch, im<br />

gleichen Moment, als Wotan sich abstieß, so feste er konnte, und in sie<br />

hineinsprang. Äste und Blätter schlugen ihr ins Gesicht. Sie hörte, wie<br />

Yoko hinter ihr überrascht nach Luft schnappte. Plötzlich waren sie<br />

durch, auf der anderen Seite. Und dann geschah alles wie in Zeitlupe.<br />

Shan öffnete einen Spaltweit die Augen. Und riss sie dann ganz auf<br />

vor Schreck. Unter ihnen klaffte ein Abgrund! Hinter der Hecke lag der<br />

Boden gut sieben, vielleicht acht Meter tiefer. Shan wusste nicht, ob<br />

Wotans Gelenke diesen Sturz verkraften, oder sie sich nun alle Knochen<br />

brechen würden. Die Zeit schien still zu stehen. Selbst das gewaltige<br />

Bewegungsmoment des Sprunges, mit dem sie durch die Luft gen Boden<br />

flogen, verlor sich für Shans Sinne. Alles war wie in Bernstein gefangen,<br />

oder an die Peripherie einer Raum-Zeit Anomalie geheftet. Eine halbe<br />

Millionen Ängste rangen in Shan um die Vorherrschaft. Und dann, mit


einem jähen Krachen, geriet die Realität wieder in Bewegung. Der<br />

Augenblick von Zeitlosigkeit fand ein abruptes Ende, als Wotans<br />

Vorderpfoten den Boden berührten. Seine Muskeln schrieen beim<br />

Aufprall auf, seine Gelenke entfachten ein Feuerwerk aus Schmerz hinter<br />

seinen Schläfen. Aber er stürzte nicht. Er preschte einfach weiter. Das<br />

war sein Tag. Das war seine Stunde. Diesmal würde er sich nicht<br />

zurückziehen.<br />

Wotans Beine, vagen Schemen gleich, brachten sie in Windeseile über<br />

den Platz, auf Kadettenunterkünfte zu. Um sie herum flohen Schüler in<br />

alle Himmelsrichtungen – so gut wie jeder von ihnen im Schock, die<br />

meisten mit Blut, oder Ruß bedeckt. Und Schreie, überall Schreie!<br />

Wotan steuerte näher an das Gebäude heran, um dem Durcheinander<br />

zu entgehen. Sie jagten die gläserne Fassade entlang, als ein weiter Blitz<br />

mit unfassbarer Wucht vom Himmel herabfuhr, in dem Bauwerk<br />

einschlug, es erschütterte und sämtliche Fenster bersten lies. Splitter<br />

prasselten auf Wotan, Yoko und Shan nieder. Yoko brachte seine Lippen<br />

nahe an ihr Ohr und schrie etwas. Aber sie konnte ihn durch das Poltern<br />

des Donners nicht verstehen, nicht ein Wort! Donner! Sie wollte keinen<br />

weiteren Blitzeinschlag mehr, nicht jetzt, nicht so nahe. Wotan wetzte<br />

wieder nach links, vom Gebäude und den Glasscherben auf dem Boden<br />

weg. Er war reingetreten, hatte sich verletzt. Sie zogen eine Blutspur<br />

hinter sich her. Aber er wurde noch immer nicht langsamer. Es war nicht<br />

mehr weit. Nicht mehr weit!<br />

Das Dach des Labors ragte bereits vor ihnen auf. Die Energiesäule<br />

wuchs noch immer aus dem Gebäude heraus, loderte direkt in den<br />

Himmel hinein. Es war nicht mehr weit! Es war nicht mehr weit! Yoko<br />

brachte seinen Mund erneut an sie heran und deutete mit dem Finger an<br />

ihr vorbei, schräg nach vorne. Und schließlich verstand sie, was er sagte,<br />

noch bevor er es aussprach. Denn sie sah sie nun auch.<br />

„Achtung, Tiere!“<br />

Eine ganze Gruppe von ihnen, fünf Stück. Sie lauerten auf der<br />

Anhöhe, rannten nun los. Sie bewegten sich fürchterlich schnell, so<br />

schnell! Wotan bemerkte sie nicht, er war zu sehr auf ihr Ziel<br />

konzentriert – er blickte einfach nicht nach oben.<br />

Shan fluchte. „Scheiße!“ Sie griff nach ihrem Schwert am Gürtel.


Und dann waren die Tiere plötzlich da. Die Luft erzitterte, als das erste<br />

brüllte und heransprang. Shan duckte sich ruckartig – genau wie Yoko -,<br />

und holte verzweifelt mit der Klinge aus. Das Tier sprang knapp über sie<br />

hinweg, das Schwert jedoch schnitt eine tiefe Wunder in sein Bein. Das<br />

Tier jaulte. Es konnte vor Schmerz seinen Sturz nicht mehr abfangen und<br />

schlug hart auf. Sein Kopf prallte mit einem abscheulichen Pochen auf<br />

den Beton und der Schädel platzte. Die anderen Tiere waren vorsichtiger,<br />

sprangen erst herab, nachdem Wotan, Shan und Yoko an ihnen<br />

vorbeisausten und nahmen dann die Verfolgung auf.<br />

Wotan legte noch einen Zahn zu. Sie erreichten wieder offenes Feld.<br />

Das Labor lag direkt vor ihnen. Shan warf einen Blick über die Schulter<br />

– der Abstand zwischen ihnen und den Tieren wuchs. Vielleicht würden<br />

sie es nach drinnen schaffen, ehe die Tiere sie erreichten. Vielleicht, nur<br />

vielleicht. Sie wollte ihren Blick wieder nach vorne richten, als ein Blitz<br />

so nahe bei ihnen in den Boden schmetterte, dass die Druckwelle Shan<br />

und Yoko seitlich von Wotan warf. Sie verlor ihr Schwert, prallte hart<br />

auf, überschlug sich. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen.<br />

Sie spürte einen Schlag, als hätte ihr jemand einen Hammer in den<br />

Magen gerammt. Der Schmerz trieb sie an den Rand der<br />

Bewusstlosigkeit und für einen Moment sah sie Sterne. Das Gebrüll des<br />

Donners war Ohrenbetäubend. Es hielt Shan im Hier und Jetzt. Sie<br />

keuchte, zwang sich auf Hände und Knie.<br />

„Steh auf.“<br />

Yoko war plötzlich neben ihr, griff Shan unter die Arme und half ihr<br />

auf die Beine zu kommen. Er deutete auf das Labor. Es war direkt vor<br />

ihnen. „Wir haben es geschafft, wir sind da!“<br />

Und dann hörten sie hinter sich das Gebrüll. Ihre Köpfe flogen herum.<br />

Die Tiere kamen direkt auf sie zu. Shan und Yoko wirbelten herum,<br />

rannten los. Wotan stand nahe des Eingangs auf den Hinterpfoten,<br />

winkte, drängte sie zur Eile. „Kommt! Schnell, schnell!“<br />

Ein weiterer Blitz sauste herab, schlug in das Labor ein und<br />

verwandelte einen Teil des fünften Stockwerks in einen Haufen Asche.<br />

Shan kam ins Trudeln, stolperte auf den Eingang zu. Dann sah sie die<br />

Bewegung aus den Augenwinkeln: plötzlich sprang eines der Tiere aus<br />

einem Fenster der zweiten Etagen und landete in eine Meer aus Scherben


direkt vor ihnen. Es schnitt ihnen den Weg ab, riss sein Maul auf und<br />

fauchte. Von hinten näherten sich die andere, hatten sie fast erreicht.<br />

Wotan zögerte nicht: Er wirbelte herum und sprang dem wilden Ding<br />

in die Seite. Es wurde zu Boden geschleudert, aber es kam sofort wieder<br />

auf die Beine und schüttelte sich. Bevor sich Wotan richtig orientieren<br />

konnte, waren die anderen Tiere heran. Eines sauste durch die Luft.<br />

Yoko brachte sich mit einer Seitwärtsrolle knapp in Sicherheit. Dafür<br />

stand nun Shan direkt in seiner Flugbahn. Sie riss die Augen weit auf.<br />

Das war’s! Das war ihr Ende. Sie konnte sich nicht mehr ausweichen,<br />

nicht mehr fliehen. Shan hatte sich immer gefragt, wie sie aus dem<br />

Leben scheiden würde. Wie es enden würde. Manche Menschen<br />

behaupteten, dass sie vor ihren Auge ihr Leben an ihnen vorbeiziehen<br />

sehen würde, wenn sie dem Tod ins Angesicht sahen. Shan sah ihr Leben<br />

vor ihren Augen nicht an sich vorbeiziehen. Das einzige, was sie vor<br />

ihren Augen sah, waren zwei Tigerpranken.<br />

Wotan packte von hinten den Hals des Tieres, noch während es<br />

sprang, und drehte ihm in einer ruckartigen Bewegung den Kopf herum.<br />

Ein lautes Knacken war zu hören, und nur kurz spiegelte sich die<br />

Verwunderung darüber in den aufgerissenen Augen des Tieres über,<br />

bevor es Tot zur Seite sackte.<br />

„Los rein!“, rief Wotan. Die anderen Tiere kamen heran. „Rein!“<br />

Shan und Yoko brauchten keine weiter Aufforderung. Sie wirbelten<br />

herum, Arme und Beine flogen. Animalisches Brüllen dröhnte hinter<br />

ihnen. Dann waren sie im Gebäude. Endlich drin, dachte Shan. Endlich<br />

drin! Sie hörte, wie jemand die Tür hinter ihnen zuschlug und<br />

verriegelte. Dann dumpfes Gebrüll und Donner von draußen. Shan<br />

drehte sich um. Neben der Tür stand nur Yoko.<br />

Wotan war noch draußen!<br />

Mit einem Satz war Shan an der Tür. Sie glitt nicht auf. Shan schlug<br />

auf den manuellen Öffner. Auch weiterhin blieb die Tür verschlossen.<br />

Jemand hatte draußen die Verriegelung aktiviert - Wotan! Panik stieg in<br />

Shan auf. Sie wollte ihn nicht zurücklassen! Nicht ihn, nicht


ausgerechnet Wotan! Shan wirbelte zu Yoko herum, um ihn zu fragen,<br />

ob er die Tür-<br />

Und in dem Moment schlug ein Blitz durch das zerstörte Dach ein,<br />

krachte durch die Etagen und lies blaue Energiefäden in alle Richtungen<br />

zucken. Das Licht flackerte, fiel aus. Shan hörte die Überladung. Sie<br />

sprang, prallte gegen Yoko und riss ihn somit aus der Explosionswelle,<br />

als sich die Türkontrollen knallend verabschiedeten.<br />

Übrig blieb nichts als verkohlte Überreste. Ein Stahlträger,<br />

Deckenschotts und Schutt polterten mit Getöse von der Decke herab,<br />

verfehlten die beiden Kadetten nur knapp und Begruben einen großen<br />

Teil des Eingangsbereichs unter sich. Die Luft war voller Rauch. Shans<br />

Lungen brannten, als sie sich hustend auf die Ellenbogen stemmte.<br />

Neben ihr stöhnte Yoko.<br />

„Alles klar?“<br />

Er nickte.<br />

Sie half ihm hoch und blickte dann mit bitterer Mine auf das Chaos<br />

vor ihnen. Sie kamen nicht mehr raus. Yoko analysierte die Lage im<br />

gleichen Moment. „Vielleicht, wenn wir die Trümmer beiseite räu-“<br />

„Nein.“, beschloss Shan. Es war eine der härtesten Entscheidungen,<br />

die sie jemals treffen musste. Und eine der erwachsensten „Dadurch<br />

verlieren wir zuviel Zeit.“<br />

„Aber Wotan...“<br />

Sie schloss die Augen. „Er ist auf sich alleine gestellt.“<br />

Yoko blickte sie ernst an. Zunächst schien es, als wollte er<br />

protestieren, dann erkannte er jedoch, dass Shan recht hatte und nickte<br />

stumm.<br />

Shan öffnete die Augen und sah ein letztes Mal zur Tür. Dann drehte<br />

sie sich um. „Los, komm.“<br />

Yoko folgte ihr sofort. Gemeinsam rannten sie tiefer ins Labor – ins<br />

Zentrum der Katastrophe.<br />

Wotan war verletzt und umringt von brüllenden und fauchenden<br />

Tieren, entfernte Verwandte, mit denen er genauso viel gemeinsam hatte,<br />

wie mit einer Horta. Tiere, die herumsprangen, die Zähne fletschten und


ihn attackierten, inmitten des Blitzgewitters, das durch das<br />

Campusgelände schlug. Seit jenem Tag nach seiner genetischen<br />

Aufwertung, an dem er einem Menschen beinahe den Arm abgebissen<br />

hatte, war Wotan jeder Konfrontation aus Angst, seine Urtriebe könnten<br />

wieder erwachen, aus dem Weg gegangen.<br />

Doch nun, wo er immer und immer wieder attackiert wurde und<br />

inmitten dieses brüllenden Sturmes gegen diese Monster um sein Leben<br />

kämpfte, spürte er, wie sein Killerinstinkt wuchs. Sie stießen mit ihren<br />

Hörnern nach ihm, sie bissen ihn mit ihren Reißzähnen und fügten<br />

ernsthafte Verletzungen zu. Wotan schrie auf, als sie von allen Seiten auf<br />

ihn einstürmten, bis sich die sorgsam kultivierte Persönlichkeit, an deren<br />

Entwicklung er so lange gearbeitet hatte, in Luft auflöste. Wotan brüllte,<br />

und es war ein wahrhaft erschreckendes Gebrüllt, das Gebrüll eines<br />

Tigers. Eines Tigers, der bereit war, seine Feinde zu zerfleischen. Im<br />

Zustand völliger Wildheit stürzte sich Wotan auf die Tiere.<br />

Der Kampf war grausam und blutig.<br />

Sortak und Galak stürmten in den Generatorraum hinein, die Tiere<br />

direkt hinter ihnen her. Es war eine große Halle, mit einem komplexen<br />

Stegsystem auf der zweiten Ebene, zwei gewaltigen Generatoren,<br />

etlichen Regalen mit Austrüstung und Maschinen. Das Licht war aus,<br />

alles lag im diffusen Licht der Notsysteme. Nur die Warnlampen an den<br />

Wänden zuckten und tauchten den Raum in ein bedrohliches rot. Sortak<br />

warf hektisch den Kopf herum. Der Kontrollraum, wo war der<br />

Kontrollraum?<br />

Galak brüllte: „Wo müssen wir hin?“<br />

„Dort!“ Sortak zeigte nach oben. Zweite Ebene, jenseits des Steges.<br />

Galak stürmte los, sprang über einen der Container, wie ein<br />

Hindernisläufer. Hinter sich hörte er die Tiere, kreischend und<br />

schnappend. Sie waren clever, teilten sich sofort auf, um die Fliehenden<br />

von zwei verschiedenen Seiten in die Zange nehmen zu können. Sortak<br />

sah, dass Galak zum Frachtaufzug rannte. Er sprang auf, wollte den<br />

direkten Weg nach oben nehmen, aber er würde es nicht schaffen! Das<br />

Ding war zu lahm und die Tiere zu schnell, sie würden Galak erwischen,


ehe er auch nur die Hälfe der Strecke zurückgelegt hatte.<br />

Verdammter Trottel!<br />

Sortak brauste schnell in die andere Richtung, zur Leiter am Ende des<br />

Raumes. Er rannte, rannte wie verrückt, schlug im Vorbeilaufen gegen<br />

Container, Rohre und Maschinenteile, um so viel Krach wie möglich zu<br />

machen.<br />

„Kommt schon, kommt schon!“, brüllt er. Es funktionierte: die Tiere<br />

wurden beide gleichermaßen auf ihn aufmerksam, bremsten und blieben<br />

einen Moment verwirrt stehen. Ihr Blick wechselte von Galak zu Sortak,<br />

unschlüssig, wen sie zuerst angreifen sollten. Galak war ein<br />

verlockendes Ziel. Und ein leichtes. Sortak hingegen eine<br />

Herausforderung. Sie entschieden sich für ihn und sprangen los. Aus den<br />

Augenwinkeln registrierte Sortak, wie Galak auf die Liftkontrollen<br />

schlug und sich der Aufzug in Bewegung setzte. Die Tiere wetzten an<br />

ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Galak stand die blanke Angst in den<br />

Augen.<br />

Sortaks Gesichtsausdruck hingegen, war fast ebenso wild wie der,<br />

seiner Verfolger. Er wechselte abrupt die Richtung, sprang zu einem<br />

Regal und zerrte an der Verbindungsstange, welche die Konstruktion<br />

hielt. Er zerrte, zerrte mit solcher Kraft, dass die ganze Struktur aus der<br />

Verankerung riss und das Regal in den Gang schlug.<br />

Die beiden Tiere waren zu schnell, konnten nicht mehr abbremsen und<br />

prallten fauchend dagegen. Sortak zögerte keine Sekunde, rannte zum<br />

gegenüberliegenden Regal, hievte sich hoch und über die etlichen<br />

Container nach oben zu sprinten, wie auf einer unförmigen Treppe mit<br />

übergroßen Stufen.<br />

Unten war eines der Tiere wieder auf den Beinen, während das andere<br />

sich nicht rührte. Die Bestie brüllte wütend und rammte mit voller Wucht<br />

gegen den Metallrahmen des Regals, auf dem Sortak lief. Eingelagerte<br />

Ausrüstung schepperte und klapperte, das Gerüst schwankte und Sortak<br />

kam ins Trudeln. Das Tier brüllte, nahm Anlauf und stieß ein weiteres<br />

Mal gegen den Rahmen. Die Macht seines Aufpralls drückte die Stangen<br />

ein. Immer wütender schlug es dagegen, sprang sogar und versuchte<br />

hinaufzuklettern, rutschte aber jedes Mal von den Kisten ab.<br />

Irgendwie gelang es Sortak, sich auf den Beinen zu halten. Er stolperte<br />

weiter, zum Regalende, blieb stehen und sah Galak, der inzwischen oben


angelangt war und den Lift verlassen hatte. Nun kam er auf den<br />

Mittelsteg gerannt, bediente sich aus einer offen stehenden Kiste, und<br />

bewarf das Tier mit Schaltkreisen, Werkzeugen und Ersatzteilen. Das<br />

Tier schien das nicht einmal zu spüren. Es warf sich nun immer<br />

wütender gegen das Regal, warf Gestelle und Kisten um. Sortak taumelte<br />

erneut unter den Erschütterungen. Bald würde das Tier das Regal<br />

umgestoßen haben. Sortak drehte sich halb, nahm einen Schritt Anlauf<br />

und sprang auf das lange, höhere Regal links neben ihm. Unter<br />

Aufwendung all seiner Kraft zog er sich hinauf. Das Tier unten grunzte<br />

beleidigt. Das war zu hoch für ihn. Nicht jedoch für seinen Artgenossen.<br />

Sortak hätte sich fast zu einem Grinsen hingegeben, als plötzlich das<br />

andere Tier auftauchte und mit einem gewaltigen Satz zu Sortak auf das<br />

Regal sprang. Alles schwankte unter der Wucht seines Aufpralls, aber<br />

das Tier fand sofort sein Gleichgewicht und stand geduckt, zum Sprung<br />

bereit vor Sortak. Der Vulkanier war verblüfft, verblüfft, wie hoch das<br />

Tier springen konnte – drei Meter hoch, ohne erkennbare<br />

Anstrengungen. Und nun stand es direkt vor ihm.<br />

Mehr aus Wut, als aus Verzweiflung, trat Sortak dem Tier gegen die<br />

Schnauze. „Mistfieh!“<br />

Der Kopf des Biestes flog herum, und für einen Moment war es<br />

erstaunt und erschrocken gleichermaßen. Diese Sekunde genügte Sortak.<br />

Er beging nicht den Fehler eines weiteren Angriffes, sondern sprang,<br />

sprang auf ein anderes Regal zu, das höchste von allen. Er streckte die<br />

Arme aus und bekam die Streben zu fassen. Das Tier schüttelte seine<br />

Benommenheit ab, fauchte und sprang Sortak kurzerhand hinterher. Es<br />

riss das Maul auf und schnappte nach seinem Bein. Mit den gewaltigen<br />

Hauern erwischte es den Stoff der Hose und begann sofort daran zu<br />

zerren. Sortak hätte um ein Haar den Halt verloren. Er keuchte. Das<br />

Biest hing nun mit seinem ganzen Gewicht an ihm. Der Vulkanier wollte<br />

auf keinen Fall loslassen, entwickelte – selbst für ein Mitglied seiner<br />

Spezies – übernatürliche Kräfte und zog sich mit zusammengebissenen<br />

Zähnen und knallrotem Kopf nach oben. Unter ihm zerrte und zischte<br />

das Tier. Es hing nur an Sortaks Hose, baumelte völlig in der Luft und<br />

war kein bisschen gewillt loszulassen. Sortak trat ihm gegen die<br />

Schnauze, aber das Tier hatte sich in seiner Beute verbissen. Plötzlich<br />

riss der Stoff und das Monster schlug zu Boden, nur mit einem Fetzen


der Hose im Maul.<br />

Sortak zog sich nun ganz nach oben.<br />

„Mach schon!“, rief Galak herab.<br />

Der Mittelsteg war etwa einen Meter über Sortak. Aber knapp drei<br />

Meter entfernt. Nun schwankte auch dieses Regal, als unten das eine Tier<br />

dagegen stießen. Das andere kletterte wieder grimmig nach oben. Sortak<br />

sah zum Steg herüber. Er war sich nicht sicher, ob er den Sprung<br />

schaffen konnte. Wenn nicht, stand ihm ein kurzer Fall bevor. Für<br />

Anlauf war diesmal kein Platz.<br />

Los! Shan zählt auf dich.<br />

Also sprang er einfach aus dem Stand. Wie in Zeitlupe verlor sich der<br />

Boden unter seinen Füßen, ein tiefes Loch tat sich auf. Sortak ruderte mit<br />

Armen und Beinen, aber je näher er dem Steg kam, desto klarer wurde<br />

ihm, dass er ihn nicht erreichen konnte. Er begann bereits zu fallen, er<br />

würde den Steg nicht packen können. In seinem Geiste sah er sich bereits<br />

auf dem Boden aufschlagend, wo er sich sämtliche Knochen brach.<br />

Anschließend würden die Tiere über ihn herfallen. Es war vorbei.<br />

Und dann griff jemand nach seinem Handgelenk. Galak biss die Zähne<br />

zusammen, als plötzlich Sortaks Gewicht an seinem Arm zerrte. Er zog<br />

und zog und irgendwie vollbrachte er es, Sortak weit genug hinauf zu<br />

hieven, sodass der Vulkanier über das Geländer auf den Steg klettern<br />

konnte. „Denk jetzt ja nichts falsches!“, knurrte Galak. „Ich habe dich<br />

nur gerettet, weil du der einzige von uns beiden bist, der den Generator<br />

ausschalten kann!“<br />

Sortak bekam keine Gelegenheit für eine bissige Erwiderung. Eines<br />

der Tiere war inzwischen ganz nach oben geklettert und entschied sich<br />

ebenfalls zu einem mutigen Sprung - der ihm wesentlich besser gelang,<br />

als Sortak zuvor. Er kam hoch genug um über das Geländer zu kommen<br />

und nach Galaks Hals zu schnappen. Galak schrie überrascht auf und zog<br />

den Kopf ein. Das Tier verfehlte ihn nur knapp, kam polternd auf dem<br />

Steg auf und fuhr fauchend zu den beiden herum. Er stand direkt vor<br />

ihnen. Brauchte nur noch ein weiteres Mal zu springen.<br />

Sortak fletschte die Zähne. „Jetzt habe ich aber...“<br />

Er streckte die Arme in beide Richtungen.<br />

„...endgültig....“<br />

Packte die Haltestangen zu beiden Seiten, die den Steg an der Decke


hielten.<br />

„...genug von euch!“<br />

Und drückte zu. Sie rissen aus ihren Befestigungen und der ganze Steg<br />

kippte nach unten weg. Das Tier stürzte kreischend in die Tiefe, knallte<br />

in einen Haufen Kisten hinein und brach sich das Genick. Sortak und<br />

Galak hielten sich fest, der Steg raste wie ein gewaltiges Pendel in den<br />

zur Hälfte Raum hinein, bis es gegen das Mittelregal stieß. Durch den<br />

Aufprall wurden einige schwere Kisten aus den Regalen geschleudert<br />

und stürzten zu Boden. Das Tier, das immer wieder gegen die<br />

Verstrebung des Gestelles gerannt war, legte den Kopf in den Nacken,<br />

als ein Schatten auf ihn fiel, und kreischte kurz auf, bevor es von einem<br />

herabstürzenden Container zermatscht wurde. Sortak und Galak, die sich<br />

noch immer hatten festhalten können, kletterten nun nach oben und<br />

zogen sich schnaufend über den Rand. Sie rollten auf den Boden, direkt<br />

vor den Generatorkontrollraum, ihre Brustkörbe hoben und senkten sich<br />

schnell.<br />

„Das war...“, schnaufte Galak. „Durchaus beeindruckend. Wie du<br />

diese Stangen verbogen has, meine ich. Gut, dass dich die Tiere derart in<br />

Rage gebracht haben.“<br />

„Haben sie nicht.“, erwiderte Sortak, gleichermaßen erschöpft. „Du<br />

warst gemeint.“<br />

„Oh.“ Galak blinzelte. „Wenn das so ist... können wir froh sein, dass<br />

ich so eine Nervensäge bin.“<br />

Dem wagte es Sortak nicht, zu widersprechen.<br />

Zur gleichen Zeit eilten Shan und Yoko über die Rampe hinauf in den<br />

zweiten Stock des Laborkomplexes. Die Luft wurde heiß, immer heißer,<br />

es roch mit jedem Meter zunehmend nach Ozon. Sturaks Labor war nicht<br />

mehr weit.<br />

„Wir kriegen das wieder hin, Yoko.“, schnaufte Shan. „Wir kriegen<br />

das wieder hin!“<br />

Der Vulkanier erwiderte nichts.<br />

Shan war noch nie zuvor in ihrem Leben so schnell gerannt wie jetzt,<br />

wo sie durch das Labyrinth aus immergleichen Korridoren wetzten. Ihre


Lungen brannten und sie spürte ihr Herz bis in den Hals hinauf schlagen.<br />

Yoko hingegen schienen die Anstrengungen nichts auszumachen. Er<br />

hielt mühelos mit ihr mit. Das einzige, was Shan ein klein wenig Trost<br />

spendete, war die Tatsache, dass er ohne sie vermutlich auch nicht<br />

schneller unterwegs gewesen wäre. Dennoch offenbarte seine Stimme<br />

nicht das geringste Anzeichen von Anstrengung, als er in aller<br />

Seelenruhe feststellte: „Das Artefakt gibt Strahlung ab. Bemerkst du die<br />

Hitze“<br />

„Wie sollte man die nicht bemerkten?“<br />

„Es wird stärker.“ Er benötigte keinen Tricorder für diese Analyse.<br />

„Vermutlich liegt die Strahlung auf tödlichem Niveau an der Quelle. Ich<br />

hatte diese Möglichkeit nicht berücksichtig.“<br />

Sie bogen in einen Seitengang. „Denk dir nichts. Wir schaffen es.“<br />

„Du bist so zuversichtlich, Shan.“, bemerkte Yoko mit gehobener<br />

Braue.<br />

Shan schnaufte. „Ich schätze ein Anführer fuchtelt nicht mit den<br />

Armen herum und schreit >scheiße, wir werden alle verrecken!


und fragte sich ernsthaft, was da gerade passiert war. Sie war überzeugt<br />

davon, mit einem schweren Gegenstand geschlagen worden zu sein. Zum<br />

Beispiel mit einem Barren in Gold gepresstes Latinum. Oder von einem<br />

Shuttle überrollt worden zu sein. Sie blieb noch einen Moment liegen<br />

und als sich der neblige Schleier komplett gelichtet hatte, tauchte Yoko<br />

über ihr auf und hielt ihr eine Hand hin.<br />

„Ein Kraftfeld.“, erklärte er.<br />

Shan brummte verärgert: „Wäre ich nie drauf gekommen...“ Sie griff<br />

nach seiner Hand und Yoko katapultierte sie förmlich mit<br />

bemerkenswerter Kraft zurück auf die Beine. Es war Shan absolut<br />

schleierhaft, warum Lebewesen mit solcher Kraft auf einen<br />

Betäubungsgriff vertrauten, um ihre Gegner auszuschalten.<br />

Yoko fragte: „Bist du verletzt?“<br />

„Nur mein Stolz.“ Die Welt schien sich um sie zu drehen.<br />

„Die Notsysteme haben offenbar noch genug Energie. Vermutlich ist<br />

der gesamte Strahlungsbereich abgeschirmt.“<br />

„Kannst du die Kraftfelder deaktivieren? Kommen wir irgendwie in<br />

den Innenbereich?“<br />

Yoko war bereits am nächsten Kontrollbildschirm an der Wand.<br />

„Nein, nicht von hier aus. Mein Sicherheitscode ist ohnehin zu niedrig.“<br />

„Na klasse!“<br />

Sie sah sich um. Direkt neben ihnen lag Sturaks Labor. Von dort aus<br />

gab es eine Notleiter, die in die Laborhalle führte. Vielleicht, nur<br />

vielleicht hatten sie Glück...<br />

Shan murmelte ein Stoßgebet, als sie das Labor betrat. Grellrote<br />

Warnlichter blinkten und tauchten Yokos und ihre Gestalt in<br />

blutfarbenes Licht. Die Schotten waren alle vor die Fenster gefahren, sie<br />

konnten nicht sehen, was in der Haupthalle vor sich ging. Aber sie hörten<br />

das dumpfe Brüllen der Energiesäule. Die Luft war jetzt furchtbar heiß.<br />

Shan schwitzte stark. Sie eilte zur gegenüberliegenden Seite des Raumes,<br />

griff nach dem manuellen Hebel, der die Tür zum Notschacht öffnen<br />

sollte und riss ihn herab. Nichts tat sich. Auf der Anzeigetafel neben der<br />

Tür blinkte ein roter Schriftzug.<br />

ZUGANG VERWEIGERT


Shan fluchte. „Gibt es einen anderen Zugang?“<br />

Yoko befragte seinen Tricorder. „Ich fürchte nicht. In den Korridoren<br />

wurden die Kraftfelder aktiviert, die andere Zugänge werden durch<br />

Notschotts versperrt.“<br />

„Könnten wir mit einem Transporter hindurch kommen?“<br />

„Möglich.“<br />

„Gibt es eine Transportvorrichtung in der Nähe?“<br />

„Ja. Im Gebäude, wo wir herkamen, gibt es einen Nottransporter.“<br />

Shan starrte ihn an. „Warum hast du das nicht vorher gesagt?“<br />

„Ich hielt es nicht für wichtig.“<br />

Shan dachte nach. „Wo ist Cera.“<br />

Cera lag auf der Transporterplattform und war damit beschäftigt, die<br />

gesamte Anlage im Rahmen ihrer Strafarbeit mit einem Mikroresonator<br />

zu reinigen – was nach Commander Sturaks Einschätzung 26,8 Stunden<br />

dauern würde. Es war keine glamouröse Arbeit, aber eine einfache. Eine,<br />

die sie in der Lage war auszuführen und Cera war entschlossen, den<br />

Transporter zu reinigen, wie ihn noch nie jemand gereinigt hatte, um<br />

Sturak zufrieden zu stellen. Daher hatte sie sich auch nicht von ihrer<br />

Arbeit abbringen lassen, als sie vor einer Weile das schreckliche<br />

Donnern in der Entfernung gehört hatte, und auch nicht, wie der Boden<br />

gerumpelt hatte, und erst recht nicht, als die Notbeleuchtung<br />

angesprungen war und der Alarm angefangen hatte zu glühen. Nicht<br />

einmal jetzt, als ihr Kommunikator piepte unterbrach Cera ihr Vorhaben<br />

für einen Moment. Sie klopfte nur nebenbei, ganz automatisch, auf das<br />

kleine Gerät, während das Augenmerk ihrer Konzentration darauf<br />

gerichtet lag, die Energieinduktoren gründlich zu reinigen.<br />

„Cera?“<br />

Es war Shan. Sie klang aufgeregt. „Cera, bist du da? Cera! Melde<br />

dich! Cera, bitte…“<br />

„Ich tu nicht mehr mit dir sprechen tun!“<br />

„Cera, bitte! Wir haben jetzt keine Zeit für Streitereien!“<br />

„Und ich habe.... ich habe... keine Zeit zu... zu sprechen.“ Sie klopfte<br />

beleidigt auf ihren Kommunikator und unterbrach die Verbindung.


Im Labor starrte Shan mit großen Augen auf den Kommunikator an<br />

ihrer Brust. Die Leitung war abgeschaltet. „Ich glaub das nicht!“, sagte<br />

sie fassungslos. „Ich glaub das einfach nicht!“<br />

„Versuch es erneut.“, schlug Yoko vor.<br />

„Sie wird nicht antworten. Offenbar sind Pakled sehr nachtragend.“<br />

„Habt ihr euch gestritten?“<br />

„Könnte man sagen. Fürchte sie wird uns nicht helfen. Und ich kann’s<br />

ihr nicht einmal verübeln, ich habe ein paar schlimme Sachen gesagt.“<br />

„Keine Beleidigung ist schrecklich und Grund genug, als das man<br />

einem Freund Hilfe verweigern würde.“<br />

„Ich sagte, sie sei dümmer als Viertklässler.“<br />

„Diese Beleidigung hingegen“, musste Yoko einräumen. „ist Grund<br />

genug, dir Hilfe zu verweigern.“<br />

„Was tun wir jetzt?“<br />

Yoko zuckte die Schultern. „Du arbeitest besser an deinen Manieren.“<br />

Cera reagierte mit leichter Verärgerung, als ihr Kommunikator erneut<br />

piepte. Sie schlug dagegen. „Ich sagte... ich sagte, ich werde dir nicht<br />

helfen tun!“<br />

Dann hörte sie plötzlich eine andere Stimme als erwartet. „Cera, ich<br />

bins. Yoko. Du kennst mich vielleicht noch aus Gelegenheiten wie<br />

unseren Studientreffen in der Bibliothek, oder dem gemeinsamen<br />

Unterricht in den Klassenräumen und Auditorien. Cera... Shan benötigt<br />

deine Hilfe. Und ich ebenso. Mir wirst du doch sicher keine Hilfe<br />

verweigern, oder?“<br />

Cera dachte einige lange Moment darüber nach. „Ich kann nicht.<br />

Commander Sturak hat mir eine Aufgabe erteilt. Ich muss-“<br />

„Commander Sturak ist tot.“<br />

Nun sah Cera auf. „Er ist... er ist gestorben sein?“<br />

„Grammatikalisch falsch, aber inhaltlich korrekt. Und es werden noch<br />

sehr viel mehr Personen sterben – uns eingeschlossen -, wenn du uns


nicht hilfst.“<br />

„Was kann ich denn tun... tun?“<br />

„Befindest du dich in der Nähe eines Transporterraumes?“<br />

Cera sah auf die Plattform herab, auf der sie kniete. „Ja, in der Nähe,<br />

ja. Ja.“<br />

„Wie lange brauchst du, um dort zu sein?“<br />

Sie zuckte zur Antwort mit den Schultern. Als ihr schließlich einfiel,<br />

dass Yoko diese Geste gar nicht sehen konnte, sagte sie: „Ich weiß<br />

nicht.“<br />

„Geh dort hin, Cera. Melde dich, sobald du da bist.“<br />

„Okay.“ Sie erhob sich schwerfällig. „Ich bin da.“<br />

Es kam zu einer kurzen Pause, in der niemand auf der anderen Seite<br />

der Kommunikationsverbindung etwas sagte. Als Yoko wieder sprach,<br />

klang er etwas durcheinander. „Das... ging schnell.“<br />

Cera sagte nichts.<br />

„Cera, hör jetzt genau zu. Du musst den Transporter bedienen. Wir<br />

benötigen einen Ort zu Ort Transport.“<br />

Cera schluckte. Und zögerte. „Aber das...“<br />

„Keine Sorge. Aktiviere die Monitore hinter der Transporterkonsole,<br />

wir werden dich einweisen.“<br />

Ein dicker Kloß bildete sich in Ceras Hals. Ein Ort zu Ort Transport.<br />

Sie wusste grob worum es sich dabei handelte. Das war ein doppelter<br />

Beamvorgang, bei dem ein Objekt von einem Ort zu einem ganz anderen<br />

transportiert wurde. Unglaublich komplex und schwer. Cera drehte den<br />

Kopf zur den Transporterkontrollen des Operators. Von dort aus wurden<br />

normalerweise sämtliche Beamvorgänge gesteuert und überwacht.<br />

Außerdem konnten automatisch ablaufende Vorgänge unterbrochen,<br />

oder die Notabschaltung initiiert werden. Das System war sehr<br />

kompliziert und mächtig und Cera hatte große Angst davor. Für die<br />

Sternenflotte mochten diese Apparate zum Alltag gehören. Bei ihrer<br />

Spezies, den Pakled jedoch, kam es Zauberei gleich, eine Person, oder<br />

einen Gegenstand in seine Molekühle zu zerlegen diese und mit einem<br />

Materiestrom über einen Eindämmungsstrahl zu einem Ziel zu schicken,<br />

wo sie wieder zusammengesetzt wurden. So weit entwickelt war ihr<br />

Volk nicht, und Cera war in ihrem bisherigen Leben mit nichts auch nur<br />

annähernd komplexem konfrontiert gewesen.


„Cera...“, sagte Yoko erneut. „Aktiviere die Monitore.“ Er klang nicht<br />

direkt nervös, aber sehr bestimmt. Im Hintergrund hörte sie Shan. Sie<br />

zischte immer wieder, dass sie nicht mehr viel Zeit hätten. Irgendetwas<br />

stimmte nicht, das war kein Scherz. Das war ernst!<br />

Sie schluckte und trat zögernd hinter die Kontrollen. Die Hauptkonsole<br />

war groß und breit. Das Bedienfeld, auf dem normalerweise viele<br />

Schaltelemente glühten, war dunkel. Jemand hatte sie deaktiviert. Sie<br />

wandte sich den Bildschirmen zu. Sie waren ebenfalls aus. Alles war aus.<br />

Aber selbst im deaktivierten Zustand, konnte man den Aufbau der<br />

Bedienfelder sehen. Cera versuchte sich die einzelnen Funktionen<br />

Gedächtnis zu rufen. Professor O’Brian war das mit ihnen ganz genau<br />

durchgegangen. Cera drückte auf die dunklen Kontrollen oben rechts.<br />

Das waren die Aktivierungstasten. Aber nichts passierte. Dann drückte<br />

sie andere Tasten. Die Bildschirme blieben schwarz. Cera bekam Panik.<br />

Shan fragte über Funk: „Was ist los, Cera?“<br />

„Ich habe... ich habe keine Ahnung von den Kontrollen sein.“<br />

„Cera! Du schaffst das!“<br />

„Ich dachte, ich sei dümmer, als-“<br />

„Nein, nein, nein, Cera! Ich hab das nicht so gemeint. Ich war wütend<br />

und aufgeregt. Es tut mir leid, das musst du mir glauben!“<br />

„Okay, ich versuche es.“<br />

Und dann hörte sie Yoko: „Du kannst von dort aus auf die<br />

Videoüberwachung zugreifen. Wir werden dich einweisen.“<br />

Cera probierte es noch einmal. Es geschah wieder nichts. Sie sah sich<br />

die Bedienfelder noch einmal genau an. Der Boden unter ihren Füßen<br />

erzitterte einen kurzen Moment, das ganze Gebäude schwankte. Von<br />

irgendwo drang der dumpfe Knall einer Explosion zu ihr heran. Cera<br />

versuchte dem keine Beachtung zu schenken, sondern konzentrierte sich<br />

ganz auf die Kontrolleinheit. An der Kopfseite des rechten<br />

Kontrollfeldes entdeckte sie eine Reihe stecknadelgroßer<br />

Bedienelemente – rote Lichtpunkte. Rotes Licht an den Rändern des<br />

Bildschirms... was konnte das sein? Sie bewegte ihren Zeigefinger auf<br />

das Licht zu, sah den rötlichen Widerschein auf ihrer Haut und zögerte<br />

einen Moment.<br />

„Na los.“, drängte Shan über Funk. „Du schaffst das!“<br />

Also berührte Cera die Taste und hörte ein Piepen. Sie hatte es


geschafft! Die Bildschirme sprangen an und auch die Transporterkonsole<br />

hinter ihr erwachte blinkend zum Leben, und die Anzeigen sagten ihr,<br />

dass sie Zugang zum System habe und nun auswählen konnte, was sie<br />

tun wollte. Cera berührte die Kontrollen an verschiedenen Stellen und<br />

erhielt Submenüs. Und weitere Submenüs. Alles geriet durcheinander.<br />

Cera taumelte von den Monitoren weg und stieß mit dem Rücken an die<br />

Konsole. Es erschienen immer mehr Menüs. Das schaffte sie niemals!<br />

„Shan.“, sagte sie entsetzt. „Zu viele... zu viele Menüs. Ich tu das nicht<br />

schaffen tun!“<br />

„Cera, du kannst das! Hast du verstanden? Du musst nur an dich<br />

glauben.“<br />

Die Pakled lies ihre Schultern hängen. „Aber ich glaube nicht an<br />

mich.“<br />

„Ich glaube an dich!“<br />

„Das sagst du nur so.“<br />

„Cera! Ich lege hier mein Leben in deine Hände. Und ich würde das<br />

nicht, wenn ich der Meinung sei, du würdest es verbocken. Aber ich<br />

weiß, dass mich nicht hängen lässt. Ich glaube feste an dich.“<br />

Cera nickte langsam. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Als sie<br />

die Augen wieder öffnete, spürte sie neue Kraft, neue Entschlossenheit.<br />

Sie berührte diverse Tasten, der Bildschirm veränderte sich.<br />

„Schaut!“, freute sie sich. „Es hat funktioniert!“<br />

Die an der Wand verteilten Kontrollmonitore zeigten schnell sich<br />

verändernde Ansichten von verschiedenen Teilen des Campus. Auf den<br />

meisten Monitoren war nur Rauschen zu sehen, die Kameras waren<br />

zerstört worden, aber die anderen zeigten verschiedene Teile des<br />

Gebäudes und überall waren die Tiere! Auf den Dächern, in den<br />

Korridoren... und sie metzelten und schlachteten die Kadetten und das<br />

hilflose Lehrpersonal. Cera sah auf einem der Monitore für einen kurzen<br />

Moment Galak und Sortak an der Kamera vorbeihuschen, doch sie waren<br />

sofort verschwunden und im nächsten Moment wechselte das Bild. Cera<br />

hatte jetzt eine Liste der Videomonitore auf dem Bildschirm. Ein<br />

Sichtfeld trug die Bezeichnung LABOR KORRIDOR: LV 2-47, ein<br />

anderes LABOR LODGE: LV 2-46 und das letzte LABOR LODGE LV<br />

2-45. Cera berührte sie alle.<br />

Drei Monitore sprangen an; der in der Mitte explodierte. Splitter und


Funken fauchten in den Raum, dann quoll beißender Rauch. Aber die<br />

anderen beiden Monitore blieben intakt. Auf dem rechten sah man Shan<br />

im Labor.<br />

„Ich bin drin!“<br />

„Sehr, gut Cera. Und jetzt wende dich der Transporterstation zu. Wir<br />

weisen dich ein.“<br />

Dann erweckte einer der drei neuangesprungenen Monitore wieder<br />

ihre Aufmerksamkeit. Der des Korridors. Tiere kamen in Sicht. Ihre<br />

Körper waren hinter einem heruntergesackten Stahlträger verborgen,<br />

man sah nur ihre wippenden Köpfe. Dann ein Fauchen. Der Monitor<br />

wurde schwarz.<br />

„Okay, Cera.“, sagte Yoko über Funk. Er und Shan hatten von allem<br />

nichts mitbekommen. Cera wandte sich dem entsprechenden Monitor zu,<br />

um sie zu sehen. „Die Bedienung des Transportersystems kann in fünf<br />

Phasen aufgeteilt werden. Erstens: die Personenerfassung. Bei diesem<br />

ersten Schritt gibst du unsere aktuellen Koordinaten in das<br />

Transportersystem ein, oder, wenn du dich unsicher fühlst, kannst du<br />

alternativ auch einfach unsere Kommunikatorsignale erfassen. Ich werde<br />

dir die genaue Frequenz durchgeben. Du musst nur mit den Sensoren<br />

danach suchen. Als nächstes programmierst du die Koordinaten des<br />

Zielortes - in diesem Fall das Labor - ein. Damit wir am Zielort nicht in<br />

einer Wand erscheinen, werden dir diverse Diagnosevorgänge<br />

automatisch helfen und die Koordinaten entsprechend anpassen. Als<br />

nächstes kommt die Energieauflösung und Dematerialisierung. Die<br />

Molekularabbild-Scanner leiten ein Echtzeit Abbild des<br />

Quantenauflösungsmusters unserer-“<br />

„Yoko, mach’s nicht so kompliziert!“, zischte Shan.<br />

„Aber das versuche ich ja.“<br />

„Cera.“, sagte Shan. „Hör genau zu. Erfass einfach unser Signal – die<br />

Frequenz ist... ahm...“<br />

„13.5 Tetraherz.“, half Yoko.“<br />

„Richtig. 13.5 Tetraherz. Such danach, dann gib die Koordinaten des<br />

Labors in das System ein und betätige den Sequenzauslöser. Das ist<br />

alles. Der Computer macht den Rest. Aber die Zielkoordinaten müssen<br />

von dir eingegeben werden. Das ist unsere einzige-“<br />

Mit einem lauten Krachen zersplitterte die Tür hinter ihr. Shan


wirbelte herum. Ein Tier stand fauchend im Eingang.<br />

Cera stand entsetzt vor dem Monitor. Sie sah, wie Shan zur Wand<br />

stürzte und sich mit aller Kraft gegen den Aktivierungshebel des<br />

Notschotts warf. Kreischend ratterte die Eisentür herab, das überraschte<br />

Tier wurde am Nacken erfasst und zwischen Schott und Boden<br />

eingeklemmt. Doch sein Genick brach nicht, nicht einmal seine<br />

Angriffswust. Es fauchte und schnappte mit seinen Hauern um sich.<br />

Shan trat ihm mit ihrem Stiefel so feste sie konnte gegen die Schnauze.<br />

Der Kopf verschwand jaulend aus der Spalte und das Notschott konnte<br />

einrasten. Das Tier draußen brüllte und schlug dagegen. Das Schott<br />

beulte sich ein.<br />

„Hilf mir!“, rief Shan. Yoko sprang auf, lief zum Schott und stemmte<br />

sein Gewicht ebenfalls dagegen.<br />

Plötzlich war das Labor von Tieren umringt. Brüllend und kreischend<br />

warfen sie sich gegen die Fenster, so heftig, dass sofort Risse entstanden.<br />

Sie krachten gegen die Wände, Regale kippten um, Ausrüstung und<br />

Dosen fielen klappernd zu Boden. An verschiedenen Stellen begann sich<br />

das Notschott einzudrücken. Shan stemmte sich dagegen, aber genauso<br />

gut hätte sie sich gegen eine Lawine stemmen können.<br />

„Cera!“, brüllte sie. „Los, bedien den Transporter!“<br />

Cera atmete schnell. Sie wandte sich wieder der Transporterkontrollkonsole<br />

zu, wusste jedoch nicht so recht, was sie tun sollte. Sie betätigte<br />

die grünen Tasten für die Transportersysteme. Und sofort füllte sich der<br />

Bildschirm mit Symbolen. Cera fand sich plötzlich in einer verwirrenden<br />

Vielfalt von Submenüs für die Transporterstation wieder und versuchte<br />

zu verstehen, was sie da sah. Die meisten Systeme hatten eine einzelne<br />

Taste oder einen einzelnen Befehl, mit dem man die gewünschte<br />

Handlung ausführen konnte. Aber dieses System hatte so etwas nicht –<br />

oder zumindest wusste sie nichts davon. Die Transporter waren auch<br />

zweifellos zu komplex. Sie war sich auch ziemlich sicher, dass es bei<br />

den Systemen Hilfebefehle gab, aber auch die konnte sie nicht finden.<br />

Außerdem hörte sie die Schreie der Tiere und ihrer Kameraden aus den<br />

Lautsprechern dringen, und das machte sie nervös.


Sie sah über die Schulter. Yoko hatte einen großen<br />

Ausrüstungsschrank aus der Wand gerissen und schob ihn vor das<br />

splitternde Türschott. Die Tiere krachten von der anderen Seite dagegen,<br />

die Ausrüstung im Schrank klapperte.<br />

„Haben wir Phaser?“, frage Shan hektisch. „Yoko, haben wir Phaser?“<br />

„Draußen im Korridor im Notschacht.“<br />

„Na toll!“<br />

Die Tiere warfen sich so heftig gegen die Fenster, dass das Glas zu<br />

brechen begann. Ein Schott in der rechten Wand splitterte, große Risse<br />

entstanden.<br />

„Wir müssen hier raus!“, schrie Shan in das Videobild. Sie schwang<br />

eine Eisenstange und versuchte die Tiere vom Eindringen durch das<br />

Fenster abzuhalten, aber es wurden immer mehr. Die Katastrophe brach<br />

in Windeseile von allen Seiten auf sie herein.<br />

Cera zwang sich, den Blick von ihnen abzuwenden und sich wieder<br />

auf die Kontrollkonsole vor sich zu konzentrieren. Sie studierte die<br />

Anzeigen, suchte nach den richtigen Bedienfeldern.<br />

Notfalleingriffsauswahl... Manuelle Ablaufsteuerung... Diagnosefeld...<br />

Da: Personenerfassung!<br />

Die Zahl... was war es für eine Zahl gewesen, die Shan gesagt hatte?<br />

13.5 Tetraherz! Cera gab sie ein. Sie schwitzte. Da! Sie hatte die<br />

Kommunikatoren erfasst.<br />

Nun zu den Koordinaten. Die Koordinaten des Labors. Das war<br />

kompliziert! Sie hörte das Knurren der Tiere und wusste, dass sie sich<br />

beeilen musste. Sie drückte ZIELKOORDINATENKONTROLLE und<br />

stöhnte verzweifelt auf, als sie sah, was ihm die Konsole lieferte. Sie<br />

drückte das Steuerungsfeld für die manuelle Zieleingabe. Sie wusste<br />

nicht, was sie tun sollte. Was hatte Yoko gesagt? Die würden ihr helfen.<br />

Zielscanner! Sie musste die verdammten Zielscanner finden. Sie ging<br />

wieder ein Menü zurück. Aus den Lautsprechern drang ein<br />

markerschütterndes Kreischen - Shannny, aber Cera sah nicht von der<br />

Konsole auf. Sie ging ein Menü zurück. Drückte auf<br />

Zielerfassungsscanner. Das Menü baute sich quälend langsam auf. Es<br />

waren nur Sekunden, aber es kam Cera vor, wie Stunden.<br />

Tu schon kommen, tu schon kommen!<br />

Cera schwitzte.


Dann war sie drin. Hinter sich, von den Monitoren stammend, hörte<br />

Cera ein Splittern und Krachen. Shan und Yoko waren in ernster Gefahr.<br />

Cera drehte sich nicht um, sondern aktivierte den Scanner. Auf einmal<br />

liefen ellenlange Sequenzen über den Bildschirm. Die Sensorphalangen<br />

lieferten Informationen über den gesamten Einsatzbereich des<br />

Transporters – und das waren... 40 000 Kilometer! Sie starrte auf den<br />

Monitor.<br />

STANDART PARAMETER<br />

B4-C6 ÄUSSERES GITTER C2-D2<br />

BB-07 INNERES GITTER R4-R4<br />

C4-G7 HILFSGITTTER D5-G4<br />

AH-B5 KERNGITTER A1-C1<br />

Prozess nicht getestet<br />

Sicherheitsvorgänge bleiben automatisch.<br />

Cera schüttelte frustriert den Kopf und spürte Panik. Sie, starrte die<br />

Informationen an. Das ergab alles gar keinen Sinn für sie! Sie wusste<br />

nicht, was sie tun sollte. Sie starrte den Bildschirm einfach nur an. Sie<br />

merkte, dass sie an alles mögliche dachte. Gedanken, die ihr ohne ihr<br />

Zutun durch den Kopf schossen. Viele Grafiken. Viele Koordinaten. Was<br />

Professor O’Brian im Unterrichte gesagt hatte. Und dann traf sie die<br />

Erkenntnis wie ein Blitz! Sie begriff, dass diese Tabellen ihr eine<br />

wertvolle Hilfe war. Sie musste nur den Bereich einschränken! Hinter ihr<br />

schrieen Shan und Yoko durcheinander. Alles klapperte, Tiere Fauchten.<br />

Cera versuchte sich zu Konzentrieren. Sie wählte die Erde aus. Als<br />

nächstes Amerika. Dann beschränkte sie den Fokus auf Kalifornien. San<br />

Fransisco.<br />

Mehr Schreie hinter ihr. Cera suchte nach dem Akademiegelände. Da!<br />

Dann das Laborgebäude. Zweiter Stock. Sektion 5. Raum 12.<br />

„Sie kommen!“, schrie Shan.<br />

Cera schlug auf den Sequenzauslöser.<br />

Der Ausrüstungsschrank kippte in den Laborraum. Auf allen Seiten<br />

brachen die Tiere durch die Wände, warfen Gestelle und Tische um.<br />

Fauchend und mit wippenden Köpfen sprangen die Tiere in den Raum.


Sie bewegten sich schnell. Sie waren auf der Jagd. Aber Shan und Yoko<br />

waren verschwunden.<br />

Sie materialisierten erfolgreich und intakt am Zielort, direkt vor dem<br />

Eingang der Laborhalle, in der das Höllenfeuer tobte.<br />

Yoko und Shan tauschten einen Blick.<br />

„Okay.“, sagte Shan. „An die Arbeit.”<br />

Auf der anderen Seite der Akademie brauste Tala gerade, dicht gefolgt<br />

von Durkin, durch eine Tür im Gebäude mit dem Generator und sah<br />

plötzlich ein einzelnes Tier am anderen Ende des Korridors über einer<br />

Leiche gebeugt stehen. Tala geriet ins Trudeln und kam schliddernd zum<br />

Stoppen, wobei sie so leise wie möglich zu sein versuchte. Dann prallte<br />

Durkin von hinten in sie herein.<br />

„Was zum Henk-“<br />

Tala fand ihr Gleichgewicht, wirbelte herum und presste ihm schnell<br />

die Hand auf den Mund. Er wollte protestieren, doch dann sah er das<br />

Tier auch. Wie war es nur hier hereingekommen? Während die beiden<br />

Kadetten noch dastanden und mit großen Augen gafften, tauchte ein<br />

zweites Tier auf, dann ein drittes. Sie knurrten sich ein paar Sekunden<br />

lang gegenseitig an, begannen aber dann alle, sich um den toten Körper<br />

zu scharen. Leise drückte sich Tala mit dem Rücken gegen Durkin, um<br />

wieder in dem anderen Korridorsegment zu verschwinden, aber sie<br />

stießen gegen die Tür. Sie ging nicht auf. Der Öffnungsmechanismus<br />

reagierte nicht auf sie.<br />

„He!“, knurrte Durkin und versetzte der Tür einen Schlag. Nichts tat<br />

sich.<br />

„Bist du wohl leise?“, zischte Tala durchdringend. Sie warf einen<br />

Blick über die Schulter, aber die Tiere hatten sie noch nicht gehört.<br />

Durkin schlug noch einmal gegen die Tür. Doch auch diesmal hatte er<br />

nicht mehr Glück. Er wirbelte herum. „Wir sind Gefangene!“


„Wir sind tot, wenn du nicht endlich die Klappe hälst!“ Sie zeigte auf<br />

die Schalttafel der Tür. Ein rotes Licht leuchtete. Irgendwie waren die<br />

Sicherheitssperren der Tür aktiviert worden. „Du Idiot hast uns<br />

ausgesperrt!“, zischte sie. „Dang, du hast uns ausgesperrt!“<br />

„Was kann ich denn dafür?“<br />

„Arrgh, du bist Tellarit! Du trägst an allem die Schuld!“ Sie senkte<br />

schnell wieder ihre Stimme und drehte den Kopf. Die Tiere scharten sich<br />

noch immer um ihr Opfer und hatten sie bisher nicht bemerkt. Tala sah<br />

den Korridor entlang. Neben allen Türen leuchtete auf einmal ein rotes<br />

Licht. Das heißt, alle anderen Ausgänge waren verschlossen. Sie konnten<br />

nirgendwo hinein. Dann entdeckte sie in ein paar Metern Entfernung<br />

eine Leiter, die zu einem Notschacht führte. Wenn sie sich recht an den<br />

Plan des Gebäudes erinnerte, war dort oben eine kleine Kontrollstation<br />

für die Umweltsysteme. Von dort aus konnte sie zugriff auf die meisten<br />

Energiesysteme erlangen. Tala tauschte einen Blick mit Durkin. „Wir<br />

könnten es schaffen.“, flüsterte sie.<br />

Ohne auf eine Bestätigung von ihm zu warten, setzte sie sich in<br />

Bewegung, behutsam und vorsichtig, tiefer in den Korridor hinein. Auf<br />

die fremden Tiere zu. Durkin folgte auf leisen Hufen. Etwa zehn Meter<br />

trennten sie von der Leiter. Weitere zwanzig Meter dahinter fraßen die<br />

Tiere noch immer an ihrem Opfer. Nun, wo sie langsam näher kamen,<br />

konnte Tala erkennen, dass es sich um den Körper eines Kadetten<br />

handelte. Und sie kannte ihn.<br />

„O mein Gott!“, flüsterte sie. „Sie haben Kenny getötet!“<br />

„Ihr Schweine!“, grunzte Durkin mit geballter Faust.<br />

Tala sah ihn merkwürdig an.<br />

Durkin fragte: „Was denn?“<br />

„Schhht!“<br />

Sie schlichen weiter. Der Weg zur Leiter schien endlos zu sein, und<br />

Tala gewann den Eindruck, dass sie schon seit Minuten darauf<br />

zuschlichen. Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals. Eine falsche<br />

Bewegung, ein zu lautes Geräusch...- Sie wollte nicht daran denken, was<br />

dann geschah. Tala war eine ausgezeichnete Kämpferin und sie scheute<br />

keine Konfrontationen. Aber ein Gefecht gegen diese Tiere würden sie<br />

nicht lange überstehen, dessen war sie sich völlig bewusst und sie wollte<br />

alles unternehmen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Es passte ihr zwar


nicht, vor dem Tellariten wie ein Feigling zu wirken, aber wenn sie<br />

gefressen wurden, nützte das niemandem etwas. Sie hoffte nur, um alles<br />

in der Welt, Durkin würde einmal, einmal den Mund halten.<br />

Nach einer halben Ewigkeit erreichten sie die Leiter. Die Tiere<br />

bemerkten sie noch immer nicht, nährten sich an ihrem Opfer. Tala griff<br />

zur ersten Sprosse. Sie war kalt. Ausnahmslos alles war kalt. Mit dem<br />

Gewittersturm und dem Beginn der Blitze hatte sich die Luft abgekühlt,<br />

selbst in den Gebäuden. Sie begann vorsichtig die Leiter hochzuklettern.<br />

Die Tiere fraßen weiter.<br />

Galak und Sortak hatten inzwischen den Kontrollraum für den<br />

Sekundär-Generator gefunden und liefen zu den Kontrollen. Galak<br />

bekam es mit der Panik zu tun, als er die unzähligen Konsolen und<br />

Monitore betrachtete. „Welche Tasten sind es? Welche Tasten sind es?“<br />

„Halt die Klappe!“, fauchte Sortak. „Ich muss mich konzentrieren!“<br />

„Sieh dir diese Geräte an!“ Galak war sehr aufgeregt. „Die sind doch<br />

uralt! Die werden bestimmt nicht mehr funktionieren. Wir sollten die<br />

Beine in die Hand nehmen und-“<br />

Sortak schlug ihm die Faust ins Gesicht. Galak stürzte und blieb<br />

benommen auf dem Boden liegen. Von irgendwo drang der dumpfe<br />

Knall einer heftigen Explosion, der ganze Boden erzitterte. Sortak<br />

kämpfte gegen düstere Gedanken – Geh zu Sternenflotte, dachte er.<br />

Erlebe fremde neue Welten. Na jetzt siehst du ja, was du davon hast! Er<br />

sah hektisch von einem Schaltpult zum anderen. Für einen kurzen<br />

Augenblick lang glaubte er, die Notabschaltung gesehen zu haben, dann<br />

hatte er sie wieder verloren. Welches war die richtige Konsole?<br />

Doch er musste den verdammten Generator endlich abschalten, oder<br />

sie waren alle tot!<br />

„Ach, sei’s drum!“ Er rannte zu irgendeiner Konsole und drückte auf<br />

bloßen Verdacht hin auf die Knöpfe, um das System zu überladen und<br />

sprach ein kurzes Stoßgebet. Irgendwas tat sich. Der Generator kreischte,<br />

die Anzeigen schlugen aus. Und dann initiierte die automatische<br />

Notabschaltung. Ein Stottern war zu hören und die Geräte fielen aus. Der<br />

Generator verstummte.


Sortak jubelte.<br />

Durkin war nicht zum Jubeln zumute. Er war sogar ausgesprochen<br />

unglücklich. Sein Blick wechselte von der Leiter, an der er hingm zu den<br />

Tieren, die noch immer mit der Leiche Kennys beschäftigt waren und ein<br />

geradezu verlockendes Ziel darstellten. Tatsächlich fühlte sich Durkin<br />

wie auf Tellar, während der Knufu-Jagd. Nur mit dem Unterschied, dass<br />

er an der Jagd ganz offenbar nicht teilnehmen durfte. Seine Ete-petete-<br />

Begleiterin Tala, war ganz offenbar zu feige, sich einem offenen Kampf<br />

zu stellen. Genau wie die anderen. Was hatten die alle nur? Warum<br />

schlichen sie hier durch die Gegend und stahlen sich zu Notleitern, wie<br />

eine Herde verängstigter Grekka-Targs?<br />

Er war kein großer Fan von Verstecken. Das Problem mit dem<br />

Verstecken war, dass es bedeutete einen Plan A zu haben, ohne einen<br />

Plan B. Plan A war >werde nicht gefundenVerdammt. Sie haben uns gefunden. Jetzt sind wir in<br />

Schwierigkeiten


durch die Luke quetschen. Aber sicher nicht, weil er zu dick war.<br />

Sondern, weil die Sternenflotteningenieure die Luken viel zu eng bauten.<br />

Sie waren zweifellos auf die schwachen, dürren Körper der Menschen<br />

geeicht und nicht auf die kräftige Erscheinung eines Tellariten. Einen<br />

Moment lang strampelten Durkins kurze Beine in der Luft, während er<br />

feststeckte. Er strampelte weiter, versuchte die Leiter mit seinen Hufen<br />

zu erreichen, damit er sich abstoßen konnte, doch stattdessen hing er<br />

plötzlich mit einem Hosenbein irgendwo fest. Er grunzte, zog und zerrte,<br />

kam zunächst aber nicht frei. Also zerrte er weiter. Ein lautes Ratschen<br />

war zu vernehmen, als der Stoff seiner Hose riss, dann war sein Bein<br />

wieder frei und mit dem anderen Fuß fand er endlich die Leiter.<br />

Durkin stemmte sich ächzend hoch und war endlich draußen. Nun sah<br />

er, dass ein ganzer Teil des Stoffes an seinem Bein aufgerissen war.<br />

Nicht einmal die Hosen waren besonders stabil hier. Kein Vergleich zu<br />

tellaritischer Wertarbeit!<br />

Nach einer kurzen Verschnaufpause – die er aber eigentlich gar nicht<br />

nötig hatte, wie er sich einredete -, rappelte er sich auf und drehte den<br />

Kopf, um die neue Umgebung in Augenschein zu nehmen. Und was er<br />

sah, war nicht gerade begeisternd. Durkin fand sich in einem kleinen<br />

unscheinbaren Raum mit niedriger Decke und einigen Fenstern an der<br />

Außenwand wieder. Offenbar ein Wartungszimmer. Es gab ein paar<br />

Kontrollmonitore und eine Hauptkonsole. Aber keine Tür. Nur die<br />

Fenster. Sie steckten in einer Sackgasse.<br />

Tala schien seine Gedanken zu lesen, denn sie erstickte seine<br />

Bedenken im Keim. „Ich denke, ich kann von hier aus auf den Generator<br />

zugreifen.“<br />

„Bist du sicher?“<br />

Sie hatte sich bereits hinter die Konsole geschwungen und begann mit<br />

den Händen über die Tasten zu fliegen. „Mit etwas Glück... ja.“<br />

Durkin brummte. „Dann mach! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“<br />

Tala warf ihm einen Blick zu, ersparte sich aber einen Kommentar. Sie<br />

widmete nun lieber ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Kontrollkonsole,<br />

denn ein Zugriff auf den Generator würde bei weitem nicht so einfach<br />

werden, wie sie gerade behauptet hatte. Da sie nicht über die nötige<br />

Zugangsberichtigung verfügte, würde sie sich vielleicht in das System<br />

hacken musste. Sie hoffte inständig, dass diese Systeme der Sternenflotte


nicht besonders gut gesichert waren. Sie war gut. Aber nicht so gut. Aber<br />

Tala musste es zumindest versuchen. Was hatte sie schon für eine Wahl?<br />

Durkin guckte unterdessen zu den Fenstern hinaus. Überall gingen<br />

Blitze nieder. Die Tiere wurden immer mehr und mehr. Inzwischen hatte<br />

es zu schneien begonnen. Eine dünne Eisschicht bedeckte die Gebäude<br />

bereits. Irgendwo explodierte ein Baum und dann sah er hier und dort<br />

vereinzelte Phaserstrahlen der verzweifelten Gegenwehr durch die Luft<br />

fauchen.<br />

Durkin seufzte schwer. Da draußen wurden wenigstens noch<br />

Schlachten geschlagen, während er hier zur Untätigkeit gezwungen war.<br />

Er fragte sich, welche glorreichen Kämpfe die anderen gerade fochten...<br />

Knurrend riss Wotan ein Stück Fleisch aus dem Körper seines<br />

Gegners, während um ihm herum Blitze zu Boden schossen und die<br />

ganze Akademie in Flammen aufzugehen schien. Doch das bemerkte<br />

Wotan nicht mehr, er war in Kampfeslust und nur noch daran<br />

interessiert, zu töten. Er schlug wieder mit den Zähnen zu, rammte sie<br />

tief in die Schultern seines Gegners. Das Tier brüllte wütend auf, als sich<br />

sein dichtes, weißes Fell blutrot färbte. Sein Kopf ruckte herum, als es<br />

Wotan in einer kräftigen Bewegung davon schleuderte.<br />

Der Tiger schlug hart auf und sah einen Moment lang Sterne. Sofort<br />

setzte das Tier mit gesenktem Kopf nach und griff an. Sein Horn zielte<br />

genau auf Wotans Körper. Doch der bemerkte die Attacke noch<br />

rechtzeitig und schüttelte sich die Benommenheit ab. Kurz bevor das<br />

Tier ihn erreichte, prang er mit seinen kräftigen Hinterbeinen auf und<br />

flog über die Bestie hinweg. Das Tier konnte nicht schnell genug<br />

bremsen, sodass es gegen die Wand schlug. Das ganze Laborgebäude<br />

schien zu erzittern.<br />

Doch der Wildheit der Bestie tat das keinen Abbruch. Es wirbelte<br />

herum, entblößte seine Zähne und brüllte Wotan voller Wut an. Es rannte<br />

wieder los. Hätte Wotan über seine normale geistige Kapazität verfügt,<br />

hätte er vermutlich die Flucht ergriffen. Doch so, wo seine animalische<br />

Seite die Oberhand gewonnen hatte, und er in einen Blutrausch verfallen<br />

war, blieb er stehen, um sich dem Angriff zu stellen. Er brüllte aus


vollem Leibe zurück und trat mit der rechten Vorderpfote wie ein Stier<br />

kurz vor dem Angriff aus.<br />

Das Tier sprang und ließ die Krallen durch die Luft sausen. Wotan<br />

blieb wo er war und richtete sich auf. Dann trafen sie aufeinander und<br />

begannen, auf den Hinterbeinen stehend, wild brüllend aufeinander<br />

einzuschlagen. Ihre krallenbewährten Pranken zuckten, sie fügten sich<br />

gegenseitig schwere Schnittverletzungen zu. Die linke, dann die rechte,<br />

dann wieder die Linke. Binnen weniger Sekunden hatten sie schwerste<br />

Schnittverletzungen. Es geschah alles so schnell, fast zu schnell für das<br />

menschliche Auge. Aber keiner von den beiden Kontrahenten war ein<br />

Mensch.<br />

Und Wotan spürte keinen Schmerz. Er schlug einfach nur auf seinen<br />

Gegner ein, als der plötzlich den Kopf senkte und dann mit seinem Horn<br />

nach vorne stieß, um Wotans Schädel zu spalten. Von der Not und seinen<br />

Instinkten angestachelt, schlug Wotan auf einmal durch die Abwehr des<br />

Tieres und schlug ihm die Krallen ins Gesicht. Das Tier stieß einen<br />

Schrei aus, worauf Wotan es wegstieß. Das Tier überschlug sich,<br />

wirbelte Staub auf, kam aber sofort wieder auf alle Viere. Nun standen<br />

sie sich erneut gegenüber, die Zähne gefletscht und sich gegenseitig<br />

belauernd. Das Tier versuchte eine geeignete Stellung zu finden, die es<br />

zu einem erneuten Angriff mit seinem Horn nutzen konnte. Wotan hatte<br />

seine Krallen weit ausgefahren und war bereit, erneut zuzuschlagen und<br />

endlich wieder zu töten, wie früher, in der Savanne Afrikas, bevor er von<br />

Doktor Giger zivilisiert worden war... Zivilisiert. Das Wort löste etwas in<br />

ihm aus. Eine Stimme ertönte in seinem Geist... von einer Person, die gar<br />

nicht hier war. Erinnerungsfetzen.<br />

„Ich bin ein Tiger.“, hatte Wotan gesagt.<br />

Doch Giger hatte den Kopf geschüttelt. „Du kannst mehr sein.“<br />

Mehr sein...<br />

...mehr sein...<br />

Für einen kurzen Augenblick, klärte sich Wotans Geist. Er war keine<br />

wilde Bestie mehr. Er war eine zivilisierte Person. Er hatte so hart<br />

gekämpft, um akzeptiert zu werden... und nun das? Nein! So würde es<br />

nicht ändern. Er sah, wie das Tier wieder mit unbeherrschtem<br />

Wutgeschrei auf ihn zustürmte.


„Dunnerlütschen!“, rief Wotan und wich hastig zurück, während das<br />

Tier immer näher kam. Doch das Tier würde ihn mühelos einholen,<br />

wenn er weiterhin rückwärts lief. Wotan wirbelte herum und rannte, so<br />

schnell er konnte, auf allen Vieren davon. Überall schlugen die Blitze<br />

nieder. Das Fauchen von Phaserfeuer war zu hören, an allen Fronten der<br />

Akademie wurde gekämpft.<br />

Wotan stürmte weiter, die Bestie dicht an seinen Fersen. Genau vor<br />

ihm ragte das Laborgebäude auf. Wotan legte noch einen Zahn zu, sie<br />

wollte schon nach Wotans Schwanz schnappen, doch der Biss des Tieres<br />

ging ins Leere. Und als Wotan unmittelbar vor der Wand war, sprang er<br />

an ihr hoch, schlug die Krallen in das Gestein und stieß sich ab. Dann<br />

geschah alles wie ein Zeitlupe.<br />

Wotan überschlug sich in der Luft, griff dabei nach dem Horn des<br />

Tieres, und nutzte seinen Schwung, um es nach hinten auf den Rücken<br />

zu werfen. Die Zeit bewegte wieder in Bewegung. Das Tier schmetterte<br />

mit dem Schädel zu Boden und rührte sich nicht mehr. Wotan landete<br />

sanft daneben. Wenn er sich noch im Blutrausch befunden hätte, hätte er<br />

die Gelegenheit genutzt, um seine Zähne in den Hals des Tieres zu<br />

schlagen und ihm das Genick zu brechen. Aber da seine zivilisierte Seite<br />

wieder die Oberhand gewonnen hatte, schüttelte er sich zunächst nur und<br />

sah sich dann nach einer medizinischen Tasche um, die er vorhin in dem<br />

Chaos erspäht hatte. Sie lag nur ein paar Meter entfernt.<br />

Wotan sprang schnell herüber, zog die Ausrüstung heraus, und begann<br />

bestmöglich das Tier zu verarzten und vor dem Tode zu bewahren. Das<br />

Tier mochte ihn schwer verwunden, ja sogar töten können, wenn es<br />

wieder erwachte... aber es konnte seiner Seele nichts anhaben, denn er<br />

war kein gewalttätiges Biest. Er war mehr. Er war...<br />

...Wotan!<br />

Durkin beobachtete, wie die Tiere unten an der Leiter vorbeizogen. Er<br />

stand da, mit in den Hüften verschränkten Pranken, sah den Notschacht<br />

herab und betrachtete die merkwürdigen Geschöpfe kopfschüttelnd. Sie<br />

waren primitiv und schwach und keinerlei Bedrohung für einen wahren<br />

Tellariten! Er verstand einfach nicht, warum beim großen Gnuh Tala


solche Angst vor ihnen hatte und darauf bestand, dass sie beide Still sein<br />

und der Konfrontation mit diesen Wesen möglichst aus dem Weg gehen<br />

sollten. Er sah zu ihr herüber. Tala war auf der anderen Seite des Raumes<br />

über der Kontrollkonsole gebeugt, und starrte angestrengt auf die<br />

Monitore, während sie unzählige Datenfolgen in den Computer eingab.<br />

Durkin schnaubte. Andorianer! Hatten einfach keine Ahnung vom<br />

Kampf. Tala war vermutlich nur ängstlich. Das war typisch für ihre<br />

Spezies.<br />

Durkin sah wieder den Schacht hinab. Die drei Tiere kamen nun auf<br />

gleicher Höhe mit der Leiter, und es sah so aus, als würden sie<br />

weiterziehen, als das letzte Tier plötzlich stehen blieb. Es sah sich um<br />

und schnupperte in der Luft. Dann bückte es sich und schien mit der<br />

Schnauze den Boden zu beißen.<br />

Was macht es da, fragte sich Durkin. Das Tier brüllte. Es wühlt weiter<br />

auf dem Boden herum. Und plötzlich hob es den Kopf und hatte etwas in<br />

der Schnauze. Durkin kniff seine schlechten Augen zusammen, um<br />

besser erkennen zu können, worum es sich handelte. Es war ein Fetzen<br />

seiner Hose, die er sich vorhin aufgerissen hatte. Mit glühenden Augen<br />

sah das Tier den Schacht hinauf. Es starrte Durkin direkt an.<br />

Und brüllte.<br />

Shan spürte die Hitze. Und sie spürte die Strahlung. Sie waren in der<br />

Vorkammer der Lagerhalle endmaterialisiert, nur Sekunden, bevor die<br />

Tiere sie zerfleischen konnten. Grellrote Warnlichter blinkten und<br />

tauchten sie und Yoko in blutfarbenes Licht. Nur eine Glaswand trennte<br />

sie noch von ihrem Ziel, hielt den Großteil der Strahlung zurück.<br />

Dahinter toste die Energiesäule aus dem Artefakt, schäumte und<br />

verschwand irgendwo hoch oben, in den Wolken. Der Anblick war<br />

überwältigend. Nichtsdestotrotz war Shan entschlossen, ihrem düsteren<br />

Schauspiel ein Ende zu bereiten. Das schien sie wütend zu machen. Sie<br />

toste, schäumte. Erfüllte die Halle mit einem brausenden Geräusch, wie<br />

ein brandender Ozean.<br />

Yoko klappte seinen Tricorder zu. „Kein Mensch kann die Strahlung<br />

da drin ertragen.“


„Dann wird derjenige, der dort reingeht, um das Artefakt aus der<br />

Halterung zu reißen, also sterben.“ Shan nickte. „Alles andere wäre auch<br />

zu einfach gewesen.“<br />

„Ich werde es tun.“, beschloss Yoko.<br />

„Yoko...“<br />

„Ich bin kein Mensch. Ich halte vermutlich lange genug durch.“<br />

„Nein. Das ist nicht deine Aufgabe.“ Sie traf ihre Entscheidung. „Ich<br />

gehe hinein. Ich habe den Schaden angerichtet, ich werde ihn<br />

wiedergutmachen.“<br />

„Aber-“<br />

„Nein, Yoko!“ Sie sah ihm feste in die Augen. „Ich werde dich nicht<br />

meinen Platz einnehmen und dorthinein gehen lassen. Es ist meine<br />

Verantwortung. Ende der Debatte.“<br />

Yoko sah Shan an. Sie war so völlig und beruhigend berechenbar.<br />

Yoko konnte ihr Gespräch in seinen Gedanken vorwegtragen und wusste<br />

alles, was das Mädchen sagen würde, alles, was sie ihm antworten<br />

würde. Und zwar unlogische, aber typisch menschliche Heldendramatik.<br />

Sie wollte nicht zuhören und sie würde nicht zuhören. Also sagte er das,<br />

was sie hören wollte. „In Ordnung. Wie du möchtest.“<br />

Shan nickte und sah wieder die Energiesäule an. „Das war’s also.“ In<br />

ihrer Stimme schwang Bedauern mit. „Okay. Na gut. Wir informieren<br />

die anderen... und dann gehe ich rein.“<br />

Yoko nickte stumm. Und fragte sich, wie viel Kraft er in den Schlag<br />

bringen musste, um sie zu überwältigen.<br />

Mit einem Knurren begann das erste Tier die Leiter des Notschachtes<br />

hochzuspringen. Wieder und wieder knallte er gegen das Gestänge, das<br />

unter der Wucht des Aufpralls schepperte und schwankte. Die Klauen<br />

des Tieres kratzten über das Metall, dann fiel es zu Boden. Durkin<br />

wunderte sich, wie hoch das Tier springen konnte. Zweieinhalb Meter<br />

hoch, ohne erkennbare Anstrengung.<br />

Eines Tellariten würdig!<br />

Seine Sprünge lockten die anderen beiden Tiere an. Bald war die<br />

Leiter umzingelt, von springenden, brüllenden Tieren. Die Leiter


schwankte, während die Tiere immer wieder dagegen prallten, mit ihren<br />

Pranken Halt suchten und erneut zurückglitten. Aber bemerkenswerter<br />

war, dass sie aus ihren Erfahrungen lernten. Schon hatten einige<br />

begonnnen, mit ihren Vorderläufen die Metallstangen zu packen und sich<br />

daran festzuklammern, während sie mit den Hinterläufen Halt suchten.<br />

Eins der Tiere schaffte es bis knapp unterhalb der Eingangsluke, bevor es<br />

erneut nach unten fiel. Die Stürze schienen den Tieren nichts<br />

auszumachen. Sie standen sofort wieder auf, schüttelten sich und<br />

sprangen erneut.<br />

Tala sah von ihrer Konsole auf, als sie den Lärm registrierte. „Was<br />

geht da vor sich?“<br />

Durkin griff nach dem Hebel für die manuelle Notschottkontrolle, der<br />

sich neben ihm an der Wand befand. Er legte ihn mehrmals kraftvoll um<br />

und sperrte die Tiere mit einem Schott aus. Er hörte sie dumpf dagegen<br />

poltern, doch das Material hielt. Nach ein paar Sekunden schienen die<br />

Tiere das auch zu begreifen; das Poltern hörte auf.<br />

Vermutlich waren sie weg.<br />

„Nichts.“, sagte Durkin. „Arbeite weiter.“<br />

Shan nahm den Blick von der Energiesäule und trat zum nächsten<br />

Wandterminal. Sie aktivierte ihren Kommunikator und schaltete durch<br />

die Bilder der wenigen, noch intakten Überwachungsmonitore.<br />

„Bartez an alle. Bitte melden.“<br />

Ein Knistern. Ein Rauschen.<br />

„An alles verbliebene Personal. Wir werden nun versuchen die Quelle<br />

der Energiesäule zu entfernen. Wir... wir wissen nicht, wie sich das<br />

auswirken wird. Sie sollten alle unverzüglich...“<br />

„Dort.“, sagte Yoko auf einmal und deutete auf die Monitore. Shan<br />

hatte beim durchschalten zufällig eine Kamera erwischt, die Tala und<br />

Durkin zeigte. „... das Gelände verlassen, sofern es ihnen möglich ist.“,<br />

sprach sie weiter. Nehmt die Beine in die Hand. Viel Glück. Bartez,<br />

Ende.“<br />

Sie schloss den Kanal und versuchte sich per Videoübertragung zu<br />

Tala durchzuschalten. Yoko bekam es schließlich hin. Seine Finger


flogen über das Tastenfeld und wenige Augenblicke später stand die<br />

Verbindung. Tala konnte sie nun auch sehen.<br />

„Was macht ihr noch da?“, fragte Shan. „Ihr müsst verschwinden.“<br />

„Wir sind noch nicht so weit.“, sagte Tala gepresst. Sie nahm den<br />

Blick nicht ein einziges Mal von ihrer Computerkonsole, tippte wie<br />

wahnsinnig auf den Tastenfeldern herum. Ihre Stirn glänzte vor Schweiß.<br />

„Der andere Generator ist aus. Aber ich brauche für den hier noch ein<br />

paar Sekunden.“<br />

Shan schüttelte den Kopf. „Du hast keine paar Sekunden mehr. Ich<br />

ziehe das Artefakt jetzt raus, egal ob die Energie noch steht, oder nicht.<br />

Verschwindet lieber. Das ist eure einzige Chance. Hast du verstanden,<br />

Tala?“<br />

Und dann ertönte das Geräusch von etwas, das zerschmettert wurde,<br />

und Shan sah, wie Tala und Durkin auf irgend etwas reagierten, was<br />

außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera geschah. Ein Brüllen, ein<br />

Kratzen. Dann verblasste das Bild. Nur noch Rauschen. Zurück blieb das<br />

höhnische Abbild des Sternenflotten-Deltas. Und Shan wusste, dass es<br />

die beiden nicht geschafft hatten.<br />

„Das ist eure einzige Chance.“, sagte Shan auf dem<br />

Computerbildschirm. „Hast du verstanden, Tala?“<br />

Ehe Tala in der Lage war zu antworten, prallte von außen ein spitzes<br />

Horn gegen das Fenster. Die Scheibe war sofort von spinnennetzartigen<br />

Rissen durchzogen. Tala zuckte zusammen. Sie riss den Kopf herum und<br />

sah kurz eines der Monster hinter dem Fenster. Dann knallte ein anderes<br />

dagegen. Die Scheibe explodierte nach innen und ein Meer nadelspitzer<br />

Scherben ergoss sich durch den Raum. Tala wirbelte verzweifelt zurück<br />

zur Konsole und versuchte weiterzumachen, doch sie wusste, dass nicht<br />

genug Zeit blieb! Das Monster war nun vollständig durch das Fenster<br />

gedrungen und stand brüllend vor ihnen.<br />

Das war der Moment in dem Durkin aktiv wurde.<br />

Er plusterte sich im Bruchteil einer Sekunde auf und machte brüllend<br />

einen Satz nach vorn. Talas Augen weiteten sich vor Erstaunen, als der<br />

Tellarit zum Angriff überging. Durkin schmetterte mit einem


hemmungslosen Heulen seine rechte Pranke gegen das Kinn des Tieres.<br />

Der Kopf des Angreifers flog herum und krachte gegen die Wand. Tala<br />

zwang sich, nicht hinzusehen, sondern sich weiter auf die Konsole zu<br />

konzentrieren. Sie gab die letzten Sequenzen ein. Eine noch, eine noch!<br />

Dann ertönte plötzlich neues Gebrüll und als Tala den Kopf drehte,<br />

erkannte sie, dass ein zweites Tier aufgetaucht war und mit gesenktem<br />

Horn auf Durkin zuspringen wollte. Der konnte das unmöglich sehen, da<br />

er gerade mit dem anderen Tier rang.<br />

Tala fluchte. Das zweite Monster würde ihn mit seinem Horn<br />

durchbohren. Doch das lies sie nicht zu! Nun war auch sie auf den<br />

Beinen, hechtete durch die Luft und warf sich mit aller Gewalt seitlich in<br />

das heransausende Tier, drückte es gegen die Wand.<br />

Durkin brüllte hinter ihr tellaritische Obszönitäten. Auch Tala zischte<br />

wütend. Die Tiere brüllten aus vollem Halse und übertönten beinahe<br />

Durkin.<br />

Tala holte aus, doch ehe sie zuschlagen konnte, stieß ihr Opponent den<br />

Kopf herum. Das verfehlte sie zwar nur knapp mit dem Horn, aber der<br />

Stoß seines schweren Kopfes reichte völlig aus, um Tala von den Beinen<br />

zu reißen. Sie flog im hohen Bogen durch die Luft und knallte gegen die<br />

Konsole. Ein stechender Schmerz durchzog Tals Rücken und drohte, ihr<br />

ihre Sinne zu berauben. Doch Zeit zum Verschnaufen blieb ihr nicht,<br />

denn das Tier kam wie ein Stier auf Tala zu. Und sprang los. Nun befand<br />

sie sich in derselben Situation wie Durkin vorhin; sie war dem Horn<br />

hilflos ausgesetzt. Tala riss die Hände hoch, den tödlichen und<br />

zweifelsohne schmerzlichen Aufprall erwarten. Dann schoss eine pelzige<br />

Pranke hoch und knallte so heftig gegen den Kopf des Tieres, dass seine<br />

Bahn von Tala abgelenkt wurde. Das Monster fuhr mit seinem Horn<br />

genau in eine Konsole hinein. Funken flogen. Es kam zu Kurzschlüssen.<br />

Ein Knallen und dann zuckten Blitze über den Körper des Tieres. Es<br />

wurde bei lebendigem Leib gebraten. Das Wesen heulte zornig, wirbelte<br />

um die eigene Achse und zuckte im Todeskampf. Dann war es vorbei. Es<br />

roch nach verkohltem Fleisch.<br />

Sein Artgenosse rappelte sich gerade wieder auf und von unten begann<br />

das Hämmern gegen die Luke von Neuem. Sie verbog sich diesmal auf<br />

der Stelle.


„Durkin!“, rief Tala. „Es ist zwecklos. Wir können gegen dem Sturm<br />

aus Tieren nicht ankämpfen. Wir müssen irgendwie verschwinden!“<br />

Sie wollte ihn am Bein packen, fing sich aber nur einen festen Stubs<br />

von Durkin ein, der brüllte: „Das geht nur diese pelzigen Trottel und<br />

mich etwas an!“<br />

Der Untergrund erbebte erneut. Irgendwo explodierte ein Gebäude,<br />

draußen ging ein Explosionspilz empor.<br />

Für einen Augenblick wurde das Tier dadurch abgelenkt, es sah sich<br />

nach der Ursache um. Den Moment nutzte Durkin. Zu Talas Entsetzen<br />

warf er sich gegen das Tier und alle beide wurden in einem Gewirr aus<br />

Pelz und Gliedmaßen durch das Fenster geschleudert.<br />

Talas Augen weiteten sich vor entsetzen. Sie wollte zum Fenster<br />

rennen, aus dem Durkin verschwunden war, als ein weiterer Blitz zu<br />

Boden raste. Der Donnerknall war Ohrenbetäubend! Tala geriet ins<br />

Straucheln, stolperte zurück und hielt sich an der Konsole fest. Sie hörte<br />

draußen einen Kampfschrei, ein Fauchen und Brüllen.<br />

Dann nichts mehr. Nur das Fauchen des Schneesturms. Durkin hatte es<br />

nicht geschafft, so viel war klar. Tala gewährte sich einen Moment des<br />

Schocks und der Trauer. Sie trauerte tatsächlich um einen Tellariten. So<br />

weit war es also schon gekommen. Wütend trat sie gegen den<br />

gebratenen, stinkenden Körper des Wesens, dass sie beinahe aufgespießt<br />

hätte. Dabei gab die Konsole ein elektronisches Sprotzen von sich.<br />

Die Konsole!<br />

Tala schwang sich dahinter, prüfte, ob das Tastenfeld noch<br />

funktionierte. Tat es. Sie wollte einen letzten Versuch unternehmen, ihre<br />

Aufgabe zu beenden. Das Hämmern gegen die Luke wurde stärker. Tala<br />

schluckte. Sie tippte die letzte Zahlenfolge ein und bestätigte. Einen<br />

Augenblick lang geschah gar nichts. Sie stöhnte entsetzt auf. Dann<br />

jedoch änderte sich der Bildschirm, zeigte ein grünes Feld. Sie war drin!<br />

Sie hatte die Sicherheitssperren tatsächlich umgehen könne.n Tala<br />

jubelte. Das Feld blinkte erneut.<br />

GENERATOR DEAKTIVIEREN? J/N


Sie betätigte J. Sofort schalteten sich die Geräte und Lichter aus. Der<br />

Generator erstarb. Tala hatte ihre Aufgabe erfüllt. Die Tiere konnten<br />

kommen und sie holen. Nun lag es an Shan und Yoko, den Tag zu retten.<br />

Shan starrte auf den Monitor, auf dem sie eben noch Tala und Durkin<br />

gesehen hatte. Er zeigte nur noch Schnee. Nach einer Weile schaltete sie<br />

ihn ganz ab. Vermutlich waren beide nicht mehr am leben. Vielleicht<br />

waren Shan und Yoko sogar die letzten überlebenden – und ihnen blieb<br />

selbst nicht mehr viel Zeit. Sie schloss die Augen und genehmigte sich<br />

eine Sekunde der Trauer. Sie hatten alles verloren. Innerhalb kürzester<br />

Zeit. Von einem Moment zum anderen, waren ihre Leben in Chaos<br />

gestürzt und nun standen sie vor dem finalen Moment, indem sie beides<br />

– ihre Leben und das Chaos – beenden würden. Sie fühlte sich von allem<br />

weit entfernt: von der Energiesäule, von der Gefahr, vom Universum<br />

selbst. Hinter ihr schritt Yoko ohne ein weiteres Wort zu verlieren, oder<br />

sein Vorhaben anzukündigen, zur Laborhalle. Er begann den<br />

Überbrückungscode der Sicherheitssperre einzutasten. Dies blieb Shan<br />

nicht verborgen. Mit dem sonderbar menschlichen, atavistischen Instinkt<br />

für Gefahr ahnte sie was Yoko vorhatte und wollte ihn mit gewallt davon<br />

abhalten.<br />

„Was machst du da?“ Sie sprang auf, packte Yoko am Arm und riss<br />

ihn herum. Eine nette Geste, denn der Vulkanier war ihr bei weitem<br />

überlegen. „Was hast du vor?“<br />

„Du warst ein hervorragender Anführer.“, sagte er. „Aber es ist nicht<br />

die Bestimmung des Anführers zu sterben.“<br />

„Nicht die Bestimmung? Yoko, wir...“<br />

„Ich bedaure sehr, aber uns bleibt keine Zeit für eine logische<br />

Diskussion, Shan.“ Seine Hand schlug ihr ins Gesicht. Shan hatte die<br />

Ohrfeige nicht kommen sehen. Ihr Kopf flog herum und ein pulsierender<br />

Schmerz schrie in ihrer Wange auf. Sie rieb sie mit der Hand. „Au!“, rief<br />

sie. „Was... was soll denn das?“<br />

„Ich wollte dich kO schlagen.“, erklärte Yoko sein Anliegen. Er war<br />

leicht verwirrt. „Damit du mir nicht folgen kannst.“


„Du schlägst wie ein Mädchen!“<br />

Er probierte es ein weiteres Mal, diesmal mit einer Ohrfeige auf die<br />

andere Wange.<br />

„Au!“<br />

Auch diesmal kippte Shan nicht um. Wankte nur stark. Yoko hob eine<br />

Braue. „Du bist härter im nehmen, als ich dachte.“ Er beließ es bei<br />

diesem letzten gescheiterten Versuch und vertraute auf seine<br />

Schnelligkeit als Vulkanier. Er beendete die Codierung zum Ausschalten<br />

der Sicherheitssperre des abgegrenzten Bereichs und trat, ehe Shan<br />

reagieren konnte, in den kreischenden Energieflux.<br />

Er hatte nur einen kurzen Moment der Ablenkung gebraucht, nicht<br />

mehr. Shan hatte sich die schmerzende Wange gerieben und im nächsten<br />

Moment war Yoko in das Sicherheitsfeld getreten, die Tür hinter ihm<br />

zugleitend. Sie sah, wie er in der Hitze eintauchte und nach dem Urgon<br />

griff. Shan sprang sofort gegen das Glas, hämmerte und trat dagegen.<br />

„Yoko!“, schrie sie. „Yoko, bitte!“<br />

Natürlich konnte er sie nicht hören. Sie konnte sich ja selbst kaum<br />

verstehen. Die Energiesäule brüllte, sang in ihren Ohren. Trotzdem<br />

schrie sie frustriert: „Was habt ihr verdammten Vulkanier nur immer mit<br />

eurer Selbstaufopferung?“<br />

Sie sah, wie die Strahlung ihn verbrannte, seinen Körper zerfraß und<br />

zerstörte. Und das war nicht alles! Yoko hatte Probleme: Er bekam das<br />

Urgon nicht aus der Halterung. Er zerrte daran, zerrte mit aller Kraft,<br />

aber der Urgon löste sich kein Stück. Er schaffte es nicht!<br />

Strahlung sang in Yokos Ohren und übertönte beinahe Shans Schreie,<br />

die auf der anderen Seite der strahlungssicheren Glasscheibe stand und<br />

ihm zubrüllte, er solle herauskommen, sofort herauskommen!<br />

„Yoko, bitte!“<br />

Wie irrational die Menschen doch waren. Es gab für Yoko kein Zurück<br />

mehr, das sollte eigentlich völlig klar sein. Er würde sterben. Mit dem


Betreten des abgesperrten Bereichs hatte er sein Todesurteil<br />

unterschrieben und mit jeder verstreichenden Sekunde rückte der<br />

Moment der ultimativen Wahrheit näher. Anfangs empfand er die Hitze<br />

als recht angenehm, wie helles Sonnenlicht. Eine Strahlenaura bildete<br />

sich bereits um seine Hände; die Strahlen schossen nach vorn, nach<br />

außen, und sogar rückwärts, drangen in jeden Winkel seines Körpers ein.<br />

Er konnte seine Blutgefäße sehen, seine Knochen. Es war überaus<br />

faszinierend. Aber er lies sich nicht ablenken, denn er hatte eine<br />

Aufgabe.<br />

Yoko zerrte weiter an dem Urgon. Die Strahlung wurde stärker, sein<br />

Körper interpretierte sie als Hitze, als unfassbares Höllenfeuer. Er zerrte<br />

weiter. Zerrte, zerrte. Das Artefakt löste sich nicht aus der Halterung. Er<br />

versuchte es weiter.<br />

Während er arbeitete, erinnerte sich Yoko an Ereignisse in seinem<br />

Leben, die ihm intellektuell Freude bereitet hatten. Fragmente von Musik<br />

– vor allem die irdische, wie Sinatra, Klassik – und bestimmte<br />

Erkenntnisse auf den Gebieten der Mathematik und Physik. Und sogar<br />

Freundschaften. Aber er erinnerte sich auch an verpasste Gelegenheiten<br />

und unergriffene Chancen und schließlich fand er sich mit den Dingen<br />

ab, die er überaus bedauerte – allen voran die törichte und unachtsamen<br />

Gedankenverschmelzung, die seinen Geist verwirrt hatten. Wäre er doch<br />

nur disziplinierter gewesen. Geübter, im Bereich mentaler Techniken.<br />

Als Folge seiner Unachtsamkeit war seine Reputation beinahe zerstört<br />

worden. Doch nun würde er vielleicht einen Teil wieder gut machen<br />

können. Sofern es ihm gelang, das Artefakt aus der Halterung zu ziehen<br />

– wogegen es sich noch immer vehement Sträubte. Es war ein Spiel<br />

gegen die Zeit und der Urgon drohte das Spiel zu gewinnen. Yoko<br />

spürte, wie er schwächer wurde. Die Strahlung zertrümmerte die Zellen<br />

seines Körpers, liebkoste ihn wie eine betrügerische Geliebte. Er wischte<br />

sich den Schweiß von der Stirn und ein dunkler Blutstreifen, blieb auf<br />

seinem Ärmel zurück. Blutergüsse breiteten sich auf seinen Händen aus.<br />

Der Schmerz der Anstrengung kroch von den Nervenbahnen zu seinem<br />

Rückrat, in sein Gehirn, und er konnte ihn nicht mehr lange<br />

unterdrücken.<br />

Seine Finger umspannten den Urgon, sein geschundenes Fleisch, seine<br />

schmerzenden Knochen wehrten sich gegen die eiserne Selbstkontrolle,


mit der er sich aufrecht hielt. Er sah, wie seine Haut bei dem Druck<br />

gegen das glatte Metall zerfaserte, zusammen mit seinem Blut kleben<br />

blieb. Es ist zu spät, dachte er. Ich schaffe es nicht.<br />

Und dann spürte er, wie sich Hände über die seinen legten. Shan stand<br />

vor ihm. Sie war ebenfalls durch die Sicherheitssperre getreten. Yoko<br />

hatte vergessen, das Türschloss mit einem Code zu verriegeln. Nun<br />

lächelte sie. In der Gewissheit des Todes lächelte sie. Er konnte nicht<br />

hören was sie sagte, aber er las die Worte von ihren Lippen: „Ich nehme<br />

meine Bestimmung selbst in die Hand.“, sagte sie. „Und die ist, dass wir<br />

zusammenhalten.“<br />

Yoko nicke stumm. Ihre Hände umschlossen den Urgon. Mit<br />

gemeinsamer Kraft zogen sie ihn aus der Halterung. Die Feuersäule<br />

kreischte, das Universum schrie. Dann verging alles im grellen, alles<br />

durchdringenden Licht der Vernichtung.<br />

Tala schob sich durch das gesplitterte Fenster und sah hinaus. Ein<br />

Lichtblitz fuhr durch die Akademie, als die Energiesäule flackerte. Shan<br />

und Yoko standen kurz davor, den Urgon zu entfernen, so viel war klar.<br />

Irgendwie wusste Tala, dass es zu spät kam. Die Akademie lag in<br />

Trümmern, die Gebäude waren zerstört, überall lagen Tote. Doch all dies<br />

war neben der bewegungslosen Gestalt des unter ihr auf dem Dach<br />

liegenden Durkin zweitrangig. Neben ihm befand sich die Leiche des<br />

Tieres, mit dem er im Todeskampf gerungen hatte.<br />

Tala kletterte hinunter und kniete neben ihm hin. Durkin schnappte<br />

nach Luft. Seine dicken Borsten waren merkwürdig gekräuselt und er<br />

schnaubte Tala an. „Du dumme Kuh!“, murmelte er. „Ich musste.. die<br />

ganze Arbeit... allein tun.“<br />

„Du hast die Tiere davon abgehalten, mich umzubringen.“, sagte Tala<br />

verwundert. „Du hast mir das Leben gerettet.“<br />

Durkin hustete und spuckte einen dicken Klumpen einer zähen<br />

schwarzen Flüssigkeit aus. „Du warst ... mir im Weg.. mehr nicht.“ Dann<br />

fröstelte er. „Es ist kalt.“<br />

„Schhht. Rühr dich nicht.“, sagte Tala verzweifelt. „Es kommt schon<br />

wieder in Ordnung, Durkin, es kommt in Ordnung!“ Sie sah sich hilflos


um. Kein Arzt in der Nähe. Kein Sanitäter. Niemand. Sie war völlig<br />

allein. Völlig hilflos.<br />

Der Körper des Tellariten zitterte und er murmelte: „Hör zu,<br />

Andorianerin... tu mir einen Gefallen .... und vermassle es nicht.“<br />

„Alles, was du willst! Alles was du willst!“<br />

„Sag meinen Eltern... dass ich etwa ein dutzend von diesen Biestern...<br />

mitgenommen habe.“<br />

Seinen Schweinsäuglein wirkten, als zögen sie sich einen Moment<br />

zurück, dann rollten sie nach oben. Durkin stieß einen eigenartigen,<br />

rasselnden Atemzug aus. Dann sackte sein Kopf zurück und er rührte<br />

sich nicht mehr.<br />

„Nein!“, schluchzte Tala. Sie umarmte den reglosen Durkin und<br />

verharrte einige Moment in dieser Position. Dabei kullerten ihr Tränen<br />

über die Wange und durchnässten Durkins Uniform. Sie wusste, dass sie<br />

hätte laufen sollen. Aber sie wollte Durkin nicht alleine lassen. Die Ehre<br />

verlangte von ihr, bei ihm zu bleiben, auch, wenn das ihren eigenen Tod<br />

bedeuten würde. Sie verharrte eine Weile über ihn gebeugt, den Kopf auf<br />

seiner Brust liegend, doch dann blinzelte sie. Warum zum Teufel spürte<br />

sie seinen-<br />

Tala richtete sich auf. „Durkin?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn.<br />

„Durkin...“<br />

Durkin rührte sich nicht.<br />

Sie rollte verdrossen die Augen. „Durkin, du atmest noch.“<br />

Durkin rührte sich nicht.<br />

Tala schlug ihm auf den Bauch.<br />

„Au!“, machte Durkin und zuckte zusammen. Er sah sie verärgert aus<br />

seinen Schweinsäuglein an. „Warum schlägst du mich?“<br />

„Warum atmest du noch?“<br />

„Na weil ich...“ Er stutze. „Potzblitz! Warum atme ich eigentlich<br />

noch?“<br />

„Ja, genau das habe ich mich auch gerade gefragt.“<br />

Durkin setzte sich auf und prüfte seinen Körper nach Löchern,<br />

entdeckte aber nur die üblichen. Genaugenommen hatte er nicht einmal<br />

einen Kratzer. Keine Wunden, keine Schrammen... Nichts. Gar nichts!<br />

Er sah Tala verwundert an. „Was in Ghus Namen geht hier vor?“


Galak und Sortak polterten über einen Steg oben im Frachtraum. Arme<br />

und Beine flogen. Sie hatten Shans Nachricht erhalten, waren nun auf<br />

dem Rückweg und sahen sich verzweifelt nach dem verdammten<br />

Liftschacht um, der sie in Sicherheit vor der Explosion bringen sollte.<br />

Aber es war keine Tür in Sicht. Sie konnten kaum etwas sehen. Rauch<br />

quoll zu ihnen hoch, im Raum unter ihnen loderte ein Plasmafeuer. Der<br />

Lärm der züngelnden Flammen war ohrenbetäubend. Draußen dröhnten<br />

dumpfe Explosionen zu ihnen und gelegentlich schüttelte sich der<br />

Boden.<br />

Galak erreichte das Ende des Steges und kam schlitternd vor der Tür<br />

zum Stehen. Er hätte sie beinahe übersehen.<br />

„Die Nottreppen!“, rief er. „Wir müssen hinauf zu-“<br />

Das Gebäude wurde erneut getroffen und Konsole neben der Tür<br />

gesprengt. Eine Feuerwalze erfasste Sortak und er spürte, wie ihn die<br />

Druckwelle wie ein Hammerschlag traf. Er stieß gegen das Geländer,<br />

sein Kopf knallte auf Stahl und er sackte mit schmerzerfülltem Gesicht<br />

zusammen.<br />

Galak wurde von den Beinen gerissen und stürzte über den Steg. Er<br />

kreischte auf und streckte die Arme aus, griff verzweifelt um sich. Im<br />

letzten Moment schlossen sich seine Finger um die Kante des Steges. Er<br />

baumelte an einer Hand, und Rauch wogte um ihn. Da er keine Kleidung<br />

trug, spürte er die Hitze deutlich, spürte, wie sie ihn bereits versengte.<br />

Die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Tränen schossen in seine<br />

schmalen Augen. Fünf Etagen unter ihm tobte auf dem Boden des<br />

Schachts ein Inferno.<br />

Das Metall, das er umklammerte, verbog sich abrupt und begann zu<br />

brechen. Der Schmerz in seinem Arm wurde unerträglich, er rutschte ab.<br />

Er besaß auch nicht genügend Kraft, um sich hinauszuziehen. Ein Finger<br />

löste sich. Dann noch einer. Galak trat verzweifelt um sich, fand aber<br />

keinen Halt. Unter ihm brüllte das Feuer.<br />

Er wandte den Blick von den Flammen ab und schaute nach oben.<br />

Sortak stand anderthalb Meter über ihm.<br />

„Sortak!“, rief Galak durch den Lärm. Seine Stimme zitterte und war<br />

nicht mehr, als ein kehliges Kreischen. „Sortak, hilf mir!“


Sortak rührte sich nicht. Entweder konnte er ihn nicht verstehen, oder<br />

wollte nicht.<br />

„So hilf mir doch, zieh mir hoch!“<br />

Aber seine Augen verengten sich. Und Galak erkannte den<br />

Gesichtsausdruck, die Lethargie in seinen Augen. Erkannte, dass der<br />

Vulkanier ihm nicht helfen würde. Er würde ihn in den qualvollen<br />

Feuertod stürzen und elendig verbrennen lassen. Ein Unfall, würde er<br />

behaupten. Er sei einfach über das Geländer geschleudert. Niemand<br />

würde je die Wahrheit erfahren. Es war vorbei. Galaks Zeit war<br />

abgelaufen.<br />

Er verlor den Halt....<br />

...fiel....<br />

...fiel...<br />

...fiel...<br />

...und wurde von den Flammen verschluckt.<br />

Galak spürte den Aufprall. Sonderbarerweise tat er ihm nicht<br />

sonderlich weh, aber dieser Tatsache schenkte er nicht viel Beachtung -<br />

immerhin verbrannte er gerade bei lebendigem Leib. Galak schrie, als<br />

das Feuer ihn einhüllte, um ihm herum brüllte und sich an seinem Körper<br />

nährte. Und er schrie und schrie...<br />

...bis er realisierte, dass er nun schon seit einer geraumen Weile schrie.<br />

Aber nicht verbrannte.<br />

Galak öffnete die Augen. Er lag inmitten der Feuerbrunst. Den Steg<br />

weiter oben konnte er nicht mehr sehen. Da waren nur noch Flammen,<br />

überall um ihn herum Flammen und nichts anderes. Aber das Feuer tat<br />

nicht weh. Es war substanzlos. Galak runzelte die Stirn. Und während er<br />

hilflos dalag, im substanzlosen Fegefeuer, und darauf wartete, dass ihn<br />

ein schmerzhafter Tod ereilte, sah er im lodernden Feuer Commander<br />

Sturak. Er stand völlig ruhig da.<br />

Und lächelte.<br />

Und winkte.


„Computer ... Programm beenden.“<br />

Worte, die sie eigentlich nicht mehr hätten hören dürfen – weder Shan,<br />

noch Yoko, noch Durkin und auch nicht Galak. Aber sie alle hörten diese<br />

Worte, die der vermeintlich tote Sturak ganz ruhig und sachlich<br />

gesprochen hatte.<br />

Die Überreste des zerstörten Akademiegeländes... der Campus, die<br />

Tiere... das alles verschwand. Die Kadetten stellten fest, dass sie auf<br />

einem Boden standen. Der Raum, in dem sie sich befanden, war riesig,<br />

pechschwarz und wurde auf allen Seiten von einem gelben Netzwerk<br />

sich schneidender Linien durchzogen. Abgesehen von ihnen selbst<br />

befand sich rein gar nichts in dem Laborgebäude. Keine Laboratorien,<br />

keine Korridore, keine Ausrüstung... einfach nur die Tür und die weit<br />

über ihnen hängende Decke.<br />

Tala, die sich ein paar Meter von den anderen entfernt wiederfand,<br />

blinzelte vor Verblüffung. Sie kniete noch immer neben dem nicht<br />

minder verdutzten Durkin, der sich schwerfällig auf die Ellenbogen<br />

stemmte.<br />

„Nicht, dass mich sein Wohlergehen kümmern würde...“, sagte sie und<br />

deutete mit einer Kopfbewegung auf den Tellariten. „Aber warum lebt<br />

der noch? Was ist passiert? Wo sind wir hier?“<br />

Yoko hingegen hatte sofort begriffen. „Ein Holodeck.“, sagte er<br />

erstaunt. „Wir... wir sind auf einem Holodeck. In...“<br />

„In einem Ausbildungszentrum der noch immer völlig intakten<br />

Akademie.“, beendete Sturak den Satz. Er musterte die erstaunt<br />

dreinschauenden Kadetten. „Nichts von dem, was sie soeben gesehen<br />

haben, ist wirklich passiert. Alles, was sie sahen, waren dreidimensionale<br />

Bilder und Figuren, entstanden durch Kraftfeldern, um die ultimative<br />

Illusion von Realität zu erzeugen. Ich habe sie alle in das als Labor<br />

getarnte Holodeck gelotst, mit der Trainingsmission begonnen und wir<br />

haben das Ausbildungszentrum seither nicht mehr verlassen.“<br />

„Ausbildungszentrum?“, fragte Cera lahm.<br />

„Ganz recht.“, bestätigte Sturak. „Es ist gut und schön, dass sie<br />

theoretisch lernen, wie Sie mit einer gefährlichen – ja sogar tödlichen –<br />

Situation umzugehen haben. Aber nichts geht über eine grundsolide<br />

praktische Erfahrung. Wir machen das mit allen Kadetten. Unnötig zu


erwähnen, dass ihr mit dieser Einrichtung über niemanden sprechen<br />

dürft, um anderen die... Überraschung nicht zu verderben.“<br />

Shan starrte ihn an. „Soll das heißen... das war alles nur erfunden?“<br />

„Erstunken und Erlogen.“ Sturak hielt den Urgon hoch. „Es hat nie<br />

Monster gegeben.“, erklärte er. „Grau hier, hat mit seinen überragenden<br />

Computerprogrammierfähigkeiten die Prüfung nicht nur geschrieben,<br />

sondern auch spontan auf jede eurer Reaktionen reagiert und die<br />

Simulation in eine andere Richtung getrieben – je nach dem, wie ihr<br />

vorgegangen seid. Er war eine große Hilfe.“<br />

Grau verneigte sich, dann wieder mal hierhin, mal dorthin.<br />

„Die Tiere, mit denen sie sich konfrontiert sahen... waren nicht real.<br />

Wir haben sie so gut wie möglich nachgestellt, aufgrund der<br />

Beschreibung, die Shan mir lieferte, als sie von ihrem Aufenthalt auf<br />

Frigoria erzählte. Du warst leider etwas vage, Shan, daher haben wir sie<br />

nicht ganz getroffen.“<br />

„Nur... simuliert?“, fragte sie stirnrunzelnd.<br />

Sturak nickte. „Gegen was du da in dieser Höhle gekämpft hast, Shan,<br />

war wirklich nur ein Tier. Nichts weiter. Kein Wächter. Keine Ausgeburt<br />

einer außerirdischen Büchse der Pandora. Der Urgon hier...“ er Wog das<br />

Relikt in seiner Hand. „...hat ganz sicher kein Reich vernichtet. Er ist<br />

nämlich nur... eine Statue. Und ein Objekt, um das man eine nette, aber<br />

völlig an den Haaren herbeigezogene Geschichte stricken konnte.“<br />

Draußen grollte leiser Donner. Sturak zuckte mit den Schultern, als die<br />

Kadetten sich fragende Blicke zuwarfen. „Auch in San Francicso<br />

herrscht mal ein Unwetter und diese Einrichtung hier ist offenbar nicht<br />

Schalldicht. Wir mussten das also in die Simulation miteinbeziehen,<br />

damit sie nicht enttarnt wird“<br />

Sie sahen ihn noch immer an wie Autos. „Es war eine Prüfung.“,<br />

erklärte er noch einmal. „Und nichts ist passiert. Wir haben sie alle... mit<br />

ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert und ihre Belastbarkeit getestet.<br />

Sie dachten, sie hätten in der Vergangenheit versagt, aber die Qualitäten,<br />

die jeden von ihnen auszeichnen – Mut, Opferungsbereitschaft, Instinkt,<br />

Intelligenz und Führungsqualität – formten, sobald sie vereint waren -<br />

aus einer Gruppe zerstrittener und unterschiedlicher Kadetten, eine<br />

Macht, die mehr war, als die Summer ihrer Teile. Und genau darum geht<br />

es in der Flotte. Sie haben das Ideal der Akademie hervorragend


präsentiert; dass wir alle, trotz unserer Unterschiede, zusammenarbeiten<br />

und an einem Strang ziehen können.“<br />

Er streckte den Arm aus und hielt Shan den Urgon entgegen. „Du hast<br />

dich gut gemacht bei deinem ersten Kommando. Die Truppe<br />

zusammengehalten, einen kühlen Kopf bewahrt... ja sogar einen deiner<br />

Leute zum Wohl des Ganzen zurückgelassen. Ich gratuliere. Ich würde<br />

erwarten, dass die Kommandolaufbahn die richtige für dich ist?“<br />

Shan nahm den Urgon vorsichtig aus Sortaks Hand. Und in ihren<br />

Augen blitzte etwas, als sie das Artefakt betrachtete. Sie fühlte plötzlich<br />

dieselbe wissenschaftliche Neugierde, die sie bereits als kleines Kind<br />

zum Ausdruck gebracht hatte, als sie ihr erstes Relikt aus längst<br />

vergessener Zeit gesehen hatte. Ein heiliger Moment. Ein Moment der<br />

Erleuchtung. Wilde Tiere und Artefakte. Sie hätte wütend sein können<br />

auf Sturak – und dazu besaß sie jedes Recht. Er hatte sie hergelockt und<br />

beeinflusst. Aber sie war nicht wütend. Sie war ihm sogar dankbar.<br />

„Nein.“, sagte sie langsam, ohne den Blick von dem Urgon<br />

abzuwenden. „Es wird Zeit, dass wir aufhören, unser Leben nach den<br />

Erwartungen anderer zu gestalten um einfach die zu sein, die wir sind –<br />

wer immer das auch sein mag.“ Sie sah auf und Sturak in die Augen.<br />

„Ich denke, ich weiß jetzt, was ich will.“ Sie lächelte. „Jetzt weiß ich es<br />

endlich.“<br />

Es war die ganze Zeit vor ihrer Nase gewesen. Und sie hatte es nicht<br />

erkannt.<br />

Sortak räusperte sich. „Sie haben sich alle hervorragend bewährt und<br />

so gut wie alle Situationen anstandslos gemeistert. Nun.. nicht alle.“ Sein<br />

Blick fiel auf Sortak, der sich gerade erhoben hatte.<br />

Sortak ballte die Fäuste und alle rechneten schon damit, dass er seinem<br />

Vater nun an die Kehle springen würde, aber er hatte sich unter<br />

Kontrolle. „Du Mistkerl!“<br />

„Mistkerl? Du wolltest eine Chance. Das hier war sie. Ich habe sie dir<br />

gewährt. Nun... zum Großteil hast du bestanden. Bis zu diesem Passus<br />

am Ende.“ Sturak seufzte. „Ich hatte wirklich gehofft, du würdest es<br />

schaffen. Aber leider... hast du dich nicht geändert, Sohn.“<br />

Sortak sagte nichts. Er glättete seine Jacke, trat auf Seinen Vater zu...<br />

Und an ihm vorbei. „Computer... Ausgang!“<br />

Am Ende des Raumes erschien eine Tür. Sortak ging wortlos hinaus.


„Geh nicht.“, sagte Shan. „Bitte.“<br />

Sortak packte seine letzten Besitztümer zusammen. Er stand in<br />

Zivilkleidung da. Seine Kadetten-Uniformen hingen ordentlich im<br />

Schrank. Langsam sah er zu Shan herab. Und lächelte schief. Zum ersten<br />

Mal seit langer Zeit lächelte er. Das echte, warmherzige Lächeln, des<br />

zufriedenen Sortaks, den man nur selten erlebte.<br />

„Es gibt nichts daran zu rütteln, Shan.“, erklärte er. „Ich bin mit der<br />

Akademie fertig.“<br />

„Ach komm schon. Das habe ich auch gedacht. Ja, gut, du hast einen<br />

Fehler gemacht. Wer tut das nicht? Wir sind hier, um aus den Fehlern zu<br />

lernen, nicht, um alles von Anfang an richtig zu machen, weißt du noch?<br />

Das hat Tuvok gesagt. Und er sagte, nicht einmal Vulkanier machen<br />

alles richtig.“<br />

„Aber ich mache gar nichts richtig. Zumindest... wenn ich versuche<br />

meinem Vater gerecht zu werden. Du hast es doch selbst gesagt. Es ist<br />

Zeit, dass wir aufhören unser Leben nach den Erwartungen anderer<br />

auszurichten. Shan, du gehörst hier hin. Aber ich... verstehst du denn<br />

nicht? Das ist ... eine Erleichterung für mich. Ich bin nicht für die<br />

Sternenflotte geschaffen. Ich war es nie und werde es nie sein.“<br />

„Unsinn!“, sagte Shan heftig. „Du schaffst, was immer du willst. Du<br />

musst es nur wollen.“<br />

„Ja, eben. Aber ich will das nicht.“<br />

Er setzte sich auf die Bettkante und betrachtete seine gepackte Tasche.<br />

„Ich bin jahrelang mit Vaters Zorn aufgewachsen. Ich habe versucht ihm<br />

zu gefallen und ... na ja. Wozu überhaupt? Du hast doch selbst gesagt,<br />

wir sollten endlich anfangen, wir selbst zu sein. Das schaffe ich hier aber<br />

nicht. Ich bin nicht mit den Ansprüchen des Studiums fertig geworden,<br />

und noch viel weniger mit den Ansprüchen an die Einschränkungen, die<br />

man bei der Sternenflotte eingehen muss. Ich meine... na, komm schon,<br />

Shan, du hast doch gesehen, wie es mir erging. Du hast gesehen, dass ich<br />

dieses Sternenflottige einfach nicht drauf habe.“ Er hob und senkte die<br />

Schultern. „Witzig, nicht? Während ich versucht habe meinem Vater zu<br />

gefallen, war das der falsche Weg. Und du, hast genau das Gegenteil


versucht. Und das war für dich der falsche Weg. Jetzt sind wir beide auf<br />

der Spur.“<br />

„So? Meinst, du wirklich, ich gehöre hier hin?“<br />

Sortak lachte lauf auf. „Du bist der einzige von den Pappnasen hier,<br />

mit ein bisschen Grips in der Birne. Die Sternenflotte braucht dich mehr<br />

als alles andere.“<br />

„Ach Sortak.“, seufzte Shan. „Was soll ich denn hier nur ohne dich<br />

machen?“<br />

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und sah ihr ernst in die Augen.<br />

„Dasselbe, was du immer machst: Überleben. Die Zeiten, in denen du<br />

einen Beschützer brauchtest, die sind längst vorbei. Ich weiß nicht<br />

einmal, ob es sie jemals gab. Du musst dich niemandem unterlegen<br />

fühlen, Shan. Niemals. Dafür gibt es nicht den geringsten Grund. Und du<br />

wirst hier bleiben, und du wirst Erfolg haben, und du wirst eine<br />

unglaubliche Karriere machen, Shan. Und wenn du jemals Hilfe<br />

brauchst, oder in Bedrängnis gerätst... dann bin ich für dich da. Immer.<br />

Ich würde ohne zu zögern mein Leben für dich geben. Hast du mich<br />

verstanden?“<br />

Shan nickte. Sie legte die Arme um ihren vulkanischen Freund und<br />

drückte ihn an sich... ganz fest. Am liebsten hätte sie ihn nicht<br />

losgelassen, aber natürlich wusste sie, dass sie ihn nicht hier behalten<br />

konnte. Also trat sie zurück.<br />

„Mach uns stolz“<br />

Shan grinste schief. „Bezweifelst du, dass ich das tun werde.“<br />

Sortak nahm seine Tasche, ging zur Tür und drehte sich zu Shan um.<br />

„Nein“, sagte er.<br />

Und dann war er fort.<br />

Persönliches Logbuch,<br />

Sha’Nyn Bartez<br />

Nachtrag<br />

Hey Dad,<br />

Der Frischlingsommer ist so gut wie vorbei. Das waren ein paar...


interessante Wochen. Sehr ereignisreich. Alles hat sich irgendwie doch<br />

noch zum Guten gewandt, denke ich. Aber ich schätze du weißt davon<br />

längst, huh? So wie du immer alles weißt. Ich dachte, auf die Akademie<br />

zu gehen sei eine falsche Entscheidung. Du weißt schon, eine jener<br />

Entscheidungen, bei der wir ganz genau wissen, dass wir sie in dem<br />

Moment... in der Minute... und besonders am Tag nachdem wir sie<br />

getroffen haben, fürchterlich bereuen. Soll ich dir mal was sagen? Ich<br />

bereue es nicht mehr sie getroffen zu haben. Im Gegenteil. Ich begrüße –<br />

und benötige – die Erfahrungen, die ich in den vergangenen Wochen<br />

machen durfte. Jetzt wird es Zeit diese Erlebnisse für einen neuen<br />

Anfang zu nutzen. Denn etwas hat sich geändert. Ich kann selbst nicht<br />

genau sagen was... kein großes Ereignis hat das Ausgelöst... aber auch<br />

kein kleines.<br />

Und trotzdem ist es da – eine neue Selbstsicherheit... irgendwie habe<br />

ich ein viel klareres Bild von der Welt... und vor allem von mir selbst. Ich<br />

habe in der Vergangenheit viele Linien gezogen, Grenzen, die ich<br />

niemals übertreten wollte, und die mich verunsicherten. Ich weiß nun,<br />

dass, wenn man bereit ist einige Risiken einzugehen, und dem Wind<br />

vertraut, dann kann man alles erreichen. Die Aussicht auf der anderen<br />

Seite der Linie ist spektakulär.<br />

Ich weiß nun, wer ich bin. Und was ich will. Mom, Dad...<br />

...danke. Für alles. Ich liebe euch.<br />

Shan.<br />

Die Studiengruppe hatte sich am späten Abend nach langer Zeit wieder<br />

gemeinsam versammelt und alle saßen in Shans Quartier, als sie<br />

hereinkam. In dem Moment, als sie eintrat und im Türrahmen stehen<br />

blieb, hoben die jungen Leute die Blicke von ihren Datenblöcken, sahen<br />

Shan an und warteten ab, was passieren würde.<br />

Sie waren alle da. Galak... Yoko... Tala... Grau... Wotan... Cera... und<br />

Durkin. Eine ganze Weile sagte niemand etwas. Als das Schweigen<br />

schier unerträglich wurde, sah sich Tala nach den anderen um. Sie<br />

erkannte aber, dass sie keine Rückendeckung zu erwarten hatte. Also<br />

atmete die Andorianerin tief ein, als ob sie sich wappnen müsste, stand


auf und trat auf Shan zu. Sie bewegte sich achtsam und hielt immer<br />

danach Ausschau, ob Shan ihre Fäuste ballen und ihr ans Kinn werfen<br />

wollte. Aber nichts davon geschah. Shan stand einfach nur da, in der Tür,<br />

und lies Tala nicht aus den Augen.<br />

„Du hast dich also endlich für einen Karrierezweig entschieden.“<br />

Shans Mine war ausdruckslos „Ja.“<br />

„Archäologie und Anthropologie als Hauptfach, habe ich gehört.“<br />

„Ja.“<br />

„Genau deine Spezialität, was?“<br />

„Uh-huh.“<br />

Wieder schweigen.<br />

„Hm.“, machte Tala. Shan wollte es ihr also nicht einfach machen.<br />

Aber damit hatte sie gerechnet. In den Händen hielt sie eine kleine<br />

Datendisk mit der sie ein paar Momente nervös herumspielte. Schließlich<br />

hielt sie die Scheibe zögernd Shan entgegen. Die sah stirnrunzelnd von<br />

Tala zu der Disk. „Was ist das?“<br />

Tala zuckte mit den Schulter. „Das erste Album, das Warpdrive<br />

rausbrachte. Du weißt schon. Als dir die Gruppe noch gefallen hat.<br />

Schau mal. Ist handsigniert.“ Sie tippte auf die Disk. „Siehst du?“<br />

Shan schwieg einen Augenblick lang. Dann nahm sie schließlich die<br />

Disk entgegen. Tatsächlich, eine Insignie von Judy D’Agosta.<br />

„Für mich?“<br />

Wieder das Schulterzucken. „Ich dachte, du könntest sie vielleicht<br />

brauchen. Wenn man sich vom Lernen mal ablenken will, weißt du? Ich<br />

hatte ein paar Credits und...“ Sie sah zu Galak. „Und über Umwege ein<br />

paar gute Kontakte geschlossen, über die ich das Album noch besorgen<br />

konnte.“<br />

Shan sah kurz zu Galak und dann wieder zu Tala. Zu Talas<br />

Erleichterung hoben sich ihre Mundwinkel ein paar Zentimeter. „Ist das<br />

wahr?“, fragte sie.<br />

„Na ja... irgend so ein Typ halt.“<br />

„He.“, machte Galak und warf ihr ein Kissen über. Er traf sie genau an<br />

der Schulter. Aber Tala schenkte dem gar keine Beachtung, das Kissen<br />

prallte einfach ab. Sie grinste aber und beugte sich zwinkernd zu Shan<br />

herüber. „Hat ein bisschen Ärger wegen ihm mit einer guten Freundin<br />

gegeben, aber wirklich, wirklich feste Freundschaften sollten so etwas


auch mal verkraften können.“<br />

Shan hob die Brauen. „Sollten sie?“, fragte sie.<br />

„Ich denke schon. Oder?“<br />

„Hm.“ Shan sah wieder auf die Disk. „Du kannst mir aber nicht jedes<br />

mal eine Musikdisk von Warpdrive schenken, wenn du meine Gefühle<br />

verletzt.“<br />

„Ich weiß.“, grinste Tala. „Aber es gibt ja noch genügend andere<br />

Musikgruppen.“ Sie zwinkerte. Und damit ging sie wieder an den<br />

Schreibtisch zurück.<br />

Auch Shan musste Grinsen. Sie betrachtete die Disk in ihren Händen<br />

und las die Widmung: Für Shannyn. Danke für alles – Judy. Das war<br />

merkwürdig. Ihr Name war falsch geschrieben. Shannyn... Shannyn....<br />

sie probierte den Geschmack des Wortes. Klang nicht schlecht. War auch<br />

leichter zu auszusprechen.<br />

Shannyn.<br />

Gefiel ihr gut. Wirklich gut. Hatte einen netten klang. Sie würde sich<br />

den Namen merken. Aber was hatte es mit dem „Danke für alles“ auf<br />

sich? Sie war Judy D’Agosta nie zuvor begegnet. Ein Schatten viel über<br />

die Disk und als sie wieder aufsah, stellte sie fest, dass nun Galak vor ihr<br />

stand. Er wusste einen Augenblick lang nicht, was er tun sollte.<br />

„Die Sternenflotte versteht uns junge Leute einfach nicht.“, sagte er<br />

schließlich.<br />

„In dieser Hinsicht stimme ich sogar mit dir überein.“<br />

„Zum Beispiel“, fuhr Galak fort. „könnten unsere Lehrer glauben, der<br />

Versuch, uns gegenseitig das Leben zu retten, als wir dachten, in der<br />

attackierten Akademie zu sein, hätte bewirkt, dass wir jetzt besser<br />

voneinander denken. Dass wir jetzt wieder Freunde seien und uns gut<br />

verstehen würden. Unsere Lehrer könnten das glauben, habe ich gesagt.“<br />

„Richtig.“, entgegnete Shan ernst. „Aber unsere Lehrer würden die<br />

berühmte Starrköpfigkeit und Überheblichkeit eines Orsorianers nicht<br />

verstehen.“<br />

„Die lediglich“, stellte Galak fest. „der berühmten Starrköpfigkeit und<br />

Überheblichkeit einer Bartez gleichkommt.“<br />

„Auch in dieser Hinsicht stimme ich mit dir überein.“<br />

„Es wäre also sinnlos, sich an Dekan Barclay zu wenden und eine<br />

Versetzung in eine andere Klasse zu beantragen.“, sagte Galak


schließlich. „Er würde darauf bestehen, dass wir zusammenbleiben, in<br />

der vergeblichen sternenflottigen Hoffnung, dass wir lernen, einander<br />

wieder zu respektieren und uns irgendwann vielleicht sogar – der<br />

Himmel soll es verhindern – mögen. Oder mehr.“<br />

„Lächerlich.“<br />

„Absurd.“<br />

„Ja, einfach abwegig. Und dennoch...“ Shan seufzte. „Hast du<br />

wahrscheinlich recht. Anscheinend müssen wir uns auch weiterhin<br />

irgendwie zusammenraufen.“<br />

Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „In der Tat.“<br />

Shan atmete geräuschvoll ein und wieder aus. Galak trat respektvoll<br />

beiseite. Shan legte die Hände auf den Rücken und wanderte durch den<br />

kleinen Raum, an den anderen vorbei, wie eine Kommandantin, die ihre<br />

Crew prüfte. Wotan lag auf dem Bett und wedelte gemächlich mit dem<br />

Schwanz. Nun wusste er, dass er die Kontrolle über seine wilde Seite<br />

behalten konnte, und Tala hatte sich eingestehen müssen, dass ihre<br />

Vorwürfe ihm gegenüber, nicht gerechtfertigt waren. Infolgedessen<br />

ärgerte sie ihn auch nicht mehr mit dem Spitznamen Pussy-Cat, sondern<br />

nannte ihn fortan nur noch Battle-Cat – was Wotan sehr schmeichelte.<br />

Grau knotete unentwegt seine Finger, sah mal hierhin, dann mal<br />

dorthin anschließend zu Shan, und dann wieder ganz woanders hin. Ob<br />

er überhaupt etwas von ihren zwischenmenschlichen Problemen<br />

mitbekommen, oder verstanden hatte, vermochte niemand so genau zu<br />

sagen. Aber er hatte die Holodeck-Simulation so programmiert und<br />

spontan umgeschrieben, als hätte er genau gewusst, worauf es ankam,<br />

welchen Schalter er bei jedem einzelnen anwenden musste, um sie alle<br />

wieder zusammenzuführen.<br />

Yoko machte sich gerade eine Notiz, sich später Notizen zu machen –<br />

worüber nun niemand mehr einen zynischen Kommentar von sich gab.<br />

Sie hatten alle begriffen, dass sein Geist in merkwürdigen Bahnen<br />

arbeitete, aber zur Stelle war, wenn es drauf ankam. Von allen war es<br />

vielleicht sogar er gewesen, der am vernünftigsten und am ehesten im<br />

Sinne der Sternenflotte gehandelt hatte. Er war bereit gewesen, sich für<br />

sie alle zu opfern. Und diese Aufopferungsbereitschaft vergaß niemand.<br />

Durkin war bester Laune. Er rieb sich den Bauch und lächelte wie ein<br />

Weihnachtsmann. Zwar bekam er sich noch immer ohne Unterlass mit


Tala in die Wolle, aber – auch wenn das niemals einer von beiden<br />

bereitwillig zugegeben hätte -, empfanden sie tief in sich drin einen<br />

großen gegenseitigen Respekt zueinander, auch wenn man ganz genau<br />

hinhören musste, um das zwischen all den Spitzen, die sie sich gaben, zu<br />

bemerken.<br />

Als letztes blieb Shan vor Cera stehen. Die Pakled, frischgebackene<br />

Kadettin im Transporterbereich, unter Professor O’Brians Aufsicht,<br />

straffte ihre Gestalt. Shan sah ihr tief in die Augen. „Cera, schau – es tut<br />

mir aufrichtig leid, was ich im Korridor gesagt habe. Ich war wütend<br />

und...-“<br />

„Gemein?“<br />

„Ja. Du hast vollkommen recht – ich war gemein.“<br />

Cera versuchte ganz offensichtlich ein Lächeln zu unterdrücken.<br />

„Echte Freundschaften sollten darüber stehen tun.“<br />

Shan schmunzelte und streckte die Hand aus. Die Pakled ergriff sie<br />

sofort.<br />

„Vergeben und Vergessen?“<br />

Cera nickte. „Einverstanden.<br />

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Galak.<br />

Shan drehte sich zu ihm um. „Was wohl?“ Sie griff nach dem<br />

elektronischen Datenblock, den Durkin ihr entgegen hielt und warf einen<br />

Blick auf die Vorlesungen des Abends. Quantenmechanik bei Dax. Dann<br />

warf sie Galak den Datenblock zu, der ihn geschickt auffing.<br />

„Lernen natürlich.“, erklärte sie und zog sich einen Stuhl heran. „Wir<br />

sind doch schließlich eine Lerngruppe, oder?“<br />

Draußen, in einiger Entfernung zum Zimmer, stand Matt Bartez in<br />

einer der weitläufigen Parkanlagen neben seinem alten Freund Sturak,<br />

und legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Über ihnen<br />

glitzerte ein Meer aus Sternen.<br />

„Tut mir leid, wegen deinem Sohn.“<br />

„Er wird seinen Weg gehen.“, entgegnete der Vulkanier. „Außerhalb<br />

der Akademie. Da bin ich sicher.“<br />

Matt wölbte verwundert die Brauen. „Kein Zorn mehr?“


„Oh doch.“, seufzte Sturak. „Eine Menge Zorn sogar. Auf beiden<br />

Seiten. Aber.. ich sah seine Besorgnis um mich, während der Simulation.<br />

Ich... war mir nicht bewusst, dass seine Gefühle für mich so stark sind,<br />

und... ich muss gestehen, dass ich viele Fehler gemacht habe. Ich war zu<br />

hart zu ihm. Da ist doch noch eine tiefe Zuneigung zwischen uns<br />

vorhanden, eine tiefe Verbundenheit. Vielleicht... vielleicht ist das ein<br />

Grundpfeiler, auf dem wir in Zukunft aufbauen können, um einander<br />

wieder näher zu kommen. Aber das wird seine Zeit dauern... denn... denn<br />

so schnell sind wir alten Herren nicht im Vergeben.“<br />

„Im Gegensatz zur nächsten Generation.“, sagte Matt und deutete<br />

Richtung der Kadettenwohnung, in der sich die Lerngruppe eingefunden<br />

hatte. „Sieh sie dir an, Sturak. Die haben all ihre Differenzen<br />

überwunden. Offenbar haben sie uns alten Hasen schon einiges voraus,<br />

was?“<br />

„Oh ja.“ Sturak dachte nach. „Findest du es nicht bedenklich? Dass du<br />

Shan manipulierst, meine ich?“<br />

Matt atmete schwer ein. „Ich erinnere mich an einen Vulkanier, der<br />

sich in unserer schwersten Stunde zu mir über seine Konsole beugte, und<br />

sagte >du glaubst zu schieben und wirst geschoben


gesehen habe... Und wir alle wissen, was aus denen wurde.“<br />

Er deutete zu den Kadettenunterkünftigen, dort, wo noch Licht<br />

brannte. „Bei dieser Gruppe dort spielen Sie mit dem Feuer, das<br />

garantiere ich Ihnen.“<br />

„Aus keinem anderen Grunde habe ich sie zusammengestellt,<br />

Boothby.“, erklärte Matt. Er zog einen kleinen, funkelnden Kristall aus<br />

seiner Jackentasche hervor und betrachtete ihn geistesabwesend. „Die<br />

Galaxie ist ein gefährlicher Ort. Auf andere Art als sie es bei uns damals<br />

war. Es wird eine völlig neue Generation an Sternenflottenoffizieren<br />

nötig sein, um dafür zu sorgen, dass die Föderation und ihre Ideale<br />

überleben. Sie müssen voller Überraschungen sein.“<br />

Eine Zeitlang sagte niemand etwas. Dann fragte Matt irgendwann an<br />

Boothby gewandt: „Woher wussten Sie es? Diese Simulation war Ihre<br />

Idee, Boothby. Woher wussten Sie, dass die Kadetten sich bei gerade<br />

diesem Szenario zusammenraufen würden?“<br />

„Hab ich nicht. Aber ich kenne die jungen Leute. Und ich wusste,<br />

wenn es einen Weg gab, erfolgreich aus so einer gefährlichen Situation<br />

zu kommen, dann würden sie ihn finden... so lange sie nur<br />

zusammenhalten. Heh, es ist nicht so, als ob denen das bewusst wäre. Sie<br />

glauben es zu wissen, aber in Wahrheit haben sie keine Ahnung, welche<br />

dunklen Dinge dort draußen auf sie warten. Ja, sehr dunkle Dinge sogar.<br />

Aber, heh, sie sollten nun begriffen haben, dass sie noch eine Menge zu<br />

lernen haben... und das Unerwartete zu erwarten.“ Er hob den<br />

Zeigefinger. „Und sie haben eine andere Sache gelernt. Dass, egal wie<br />

Dunkel es wird, egal wie schlecht die Dinge stehen, und egal wie<br />

hoffnungslos die Situation erscheint - wenn sie zusammenhalten,<br />

kommen sie aus allem wieder heil raus. Und schließlich, in einem<br />

Universum, in dem alles und jeder durch diese kalte, schwarze Distanz<br />

getrennt ist... trifft diese Weisheit nicht auf uns alle zu?“<br />

„Bessere Worte wurden nie gesprochen.“, bemerkte Sturak.<br />

„Dann, heh, ist es Zeit beiseite zu treten und ihnen den Freiraum zu<br />

lassen, den sie brauchen, denken sie nicht meine Herren?“<br />

Matt lächelte – nicht ganz ohne Bitterkeit. „Das ist der schwerste<br />

Schritt, Boothby. Das ist der schwerste Schritt.“<br />

„Schauen Sie mir einfach zu“, sagte Boothby und ging voraus. „Ich<br />

zeige Ihnen wie es geht.“


Matt blieb noch einen Moment stehen und blickte zurück zum Zimmer<br />

seiner Tochter, ehe er seinen Freunden folgte. Und während sie sich<br />

zurückzogen, und im Schatten der Bäume verschwanden, bereiteten sich<br />

die Kadetten auf jene kalte Distanz vor... denn sie wartete bereits. Auf<br />

jeden einzelnen von ihnen.<br />

ENDE


Unnötiger Zusatz:<br />

Achtung: Die Stunts in diesem Buch wurden ausschließlich von Profis<br />

erdacht und sind nicht zur Nachahmung geeignet. Wir übernehmen keine<br />

Haftung für Folgeschäden. Rechtschreibfehler wurden bewusst platziert<br />

und dienen der Belustigung anderer. Während den Schreibarbeiten<br />

kamen weder Menschen, noch Tiere zu schaden. Eine elektronische<br />

Maus verschied im Alter von nur drei Jahren an Kabelversagen und eine<br />

Festplatte erlitt durch chronischen Virenbefall eine Totalamnesie,<br />

befindet sich inzwischen aber wieder auf dem Weg der Besserung.<br />

Geldspenden und aufmunterte Worte für die Angehörigen bitte an<br />

folgende Adresse: Damon1984@web.de

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