FÜR NICHTS!? - deviantart
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STAR TREK<br />
STARFLEET ACADEMY<br />
BEGINNINGS<br />
Roman<br />
Star Trek©<br />
Starfleet Academy<br />
Ω<br />
2008<br />
STARFURY PRODUCTIONS<br />
Dritte Auflage (Ohne Illustrationen)<br />
Korrekturgelesen von Martin Kirf<br />
www.st-legend.de.vu
My independence is calling my name<br />
A doubtful voice divides my faith<br />
My independence only hesitates<br />
An unsure choice I can't embrace<br />
You're gonna have to carve me,<br />
Carve me from stone<br />
Right to the bone<br />
Or I'll end up alone<br />
Playing the role<br />
Of someone in control<br />
My independence is turning the page<br />
Tomorrow comes we start to fade<br />
My independence only complicates<br />
It's not enough to meet half way
Vorwort des Autors, Danksagung, und sortierte Abschweifungen<br />
Na sieh mal einer an - wir sind alle da. Wir haben es wieder einmal<br />
geschafft und sind nun alle in diese Geschichte involviert und dadurch<br />
miteinander verbunden. Ich, der sie mit großem Frus...- Spaß<br />
niedergeschrieben habe, Sie – jemand der sie hoffentlich mit ähnlich<br />
großem Eifer lesen wird, und ein ganzer Haufen fiktiver Charaktere,<br />
denen ich - obwohl ich sie so fürchterlich gern habe - immer ganz<br />
schreckliche Dinge anzutun pflege. Aber zunächst - ja, da müssen wir<br />
jetzt durch - folgt die Danksagung inklusive schonungsloser<br />
Selbstverherrlichung. Viele Leser sind von Danksagungen bestenfalls<br />
irritiert, schlimmstenfalls angeödet. Und dennoch wollen die meisten<br />
Leser jene Danksagungen nicht missen, weil sie fürchten, sie könnten<br />
dadurch etwas versäumen, oder der Autor sei dann irgendwie beleidigt.<br />
Betrachten sie das hier also als Freibrief. Wenn sie die Danksagung<br />
überspringen wollen, dann tun sie das ohne Schuldgefühle, oder der<br />
Sorge, ich würde bereits mit einem Scharfschützengewehr auf ihren<br />
Schädel zielen. Dem ist nicht so. Ich ziele auf ihre Brust. Sie sehen, für<br />
die Leute, die folgend erwähnt werden, wird dies sicher das Highlight<br />
des Tages. Des Monats. Des Jahres. Ach, was rede ich? - das wird das<br />
Highlight ihres Lebens! Ein großer Dank (und große Schuld, nehme ich<br />
an) für diese Arbeit geht also an die gleich im Anschluss folgenden.<br />
Beginnings hat eine lange Entstehungsgeschichte, mit der ich sie nicht<br />
langweilen will, außer in Internetforen. Und wenn es sie dort nervt,<br />
können sie ja gehen. Ich würde auch mitkommen und sie auf dem Weg<br />
weiterbequatschen. Der Roman war jedenfalls lange in Produktion,<br />
begann zunächst als Kurzgeschichte, kumulierte zur ausufernden und<br />
zeitraubenden Katastrophe und erfuhr verschiedene Namensänderungen -<br />
von Surrender über Overkill, war alles dabei (und meiner Stimmung<br />
diesem Roman gegenüber angemessen), bis schließlich Beginnings das<br />
Rennen machte. Was ironisch ist, da dies meine letzte Geschichte<br />
werden soll... wird... könnte. Öhm. Zumindest ist es meine erste<br />
Geschichte seit einigen Jahren, die in sich abgeschlossen ist. Am Ende
steht also auch tatsächlich einmal "Ende" und nicht "Fortsetzung folgt...<br />
vielleicht." Ein gutes Gefühl! Und es ist mit knapp 430 Seiten meine<br />
längste Geschichte - obwohl im Vergleich zu meinen üblichen<br />
Explosionsberichten gar nicht so viel passiert. (Vergessen Sie das! Das<br />
habe ich nie gesagt. Es passiert sogar eine ganze Menge und diese ganze<br />
Menge sollten sie keinesfalls verpassen!) Im Grunde ist es "nur" eine<br />
nette kleine... große... Geschichte über eine Gruppe junger Leute, die<br />
ihren Platz im Leben zu finden versuchen. Im Gegensatz zur<br />
Thrillerreihe „Cast Away“ schaltete ich dieses mal ein paar Gänge<br />
zurück, um den Fokus mehr auf die Charaktere und dem amüsant<br />
bissigem Humor zu legen. Wenn Sie nur halb so viel Spaß beim Lesen<br />
haben, wie ich beim Schreiben hatte, dann können wir jedenfalls alle<br />
zufrieden sein.<br />
Das letzte Mal dankte ich besonders den Leuten, die mich während der<br />
Schreibarbeiten trotz Hürden unterstützten, und das ist dieses mal nicht<br />
anders. Zu diesen Leuten zählen meine Familie, meine Freunde und<br />
einige der FF-Kollegen, allen voran Martin Kirf, der mir erlaubte, sein<br />
alter Ego von einer witzigen Seite zu betrachten - und der das auch mit<br />
viel Humor nahm. Ein besonderes Hallo richte ich an meine Schwester<br />
Sabrina, die nun allen ihren Freunden sagen kann "Siehst du? Ich sagte<br />
doch, ich sei mit ihm verwandt." Ein Gruß und Dank auch an Steffan -<br />
obwohl ich, seit er mir sagte, Yoko sei genau wie ich, einige schlaflose<br />
Nächte habe. Abschließend ist dieser Roman all jenen gewidmet, die zur<br />
Schule gehen, zur Schule gehen wollen, oder je zur Schule gegangen<br />
sind - denn bei ihnen handelt es sich um die wahre nächste Generation.
Harbinger<br />
Sie hätten das Kind niemals mitnehmen dürfen. Professor Block,<br />
seines Zeichens bolianischer Historiker, Dienststelle Vulkan, wusste<br />
ganz genau, dass sie das Mädchen hätten Zuhause lassen sollen. Ein<br />
Kind in einer uralten Tempelruine – das konnte doch nur Probleme<br />
heraufbeschwören! Er hatte dies die ganze Zeit über gepredigt, hatte die<br />
Leiter der hiesigen Expedition geradezu angefleht. Doch die beiden<br />
Sternenflottenoffiziere waren Stur bei ihrem Vorhaben geblieben, ihre<br />
Tochter bei diesem Ausflug mitzunehmen. Es sei ihr sechster Geburtstag<br />
und sie hätte es sich so sehr gewünscht, ihre Eltern wenigstens einmal<br />
bei der Arbeit zu begleiten, hatten sie gesagt. Und offenbar wog der<br />
Wunsch einer sechsjährigen schwerer als jegliche Vernunft – und ganz<br />
speziell schwerer, als die akademische Meinung eines<br />
expeditionserfahrenen Wissenschaftlers. Vor allem der Vater hatte sich<br />
in diesem Punkt als erschreckend verbohrt und uneinsichtig erwiesen,<br />
und hatte versucht, Block mit so hohlen Sprüchen der Sorte „Machen Sie<br />
sich keine Gedanken“, oder „Wird schon schief gehen.“, zu beruhigen.<br />
Was natürlich nicht geklappt hatte.<br />
Nun, im Innern des steinernen Tempels von Vishnu, zuckte Block<br />
unweigerlich zusammen, als er von seinem piependen Tricorder<br />
aufblickte und bemerkte, wie das kleine Mädchen den Arm zu einer<br />
Höhlenmalerei an der Wand ausstreckte.<br />
„Nicht anfassen!“, kreischte er.<br />
Das Mädchen fuhr zusammen. Engelsgleich, mit einem blonden<br />
Haarschopf und einer mindestens genauso unbändigen Persönlichkeit<br />
wie seine furchtbaren Eltern, hob sie sofort die Hände, als würde sie sich<br />
ergeben wollen, biss sich auf die Unterlippe, und sah den Professor aus<br />
großen, unschuldigen Augen an.<br />
Block seufzte und seine massige Gestalt sackte ein. Das Mädchen<br />
hatte ihm einen fürchterlichen Schrecken eingejagt. Er zog zitternd ein<br />
fleckiges Seidentuch aus seiner Hosentasche und tupfte den perlenden
Schweiß von seiner blauen Stirn, während er verzweifelt versuchte,<br />
seinen Puls wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ihm wäre fast das<br />
Herz stehen geblieben. Eine Frechheit! Eine unfassbare Frechheit! Ich<br />
bin Akademiker und kein Kindermädchen!, dachte er aufgebracht. Doch<br />
genau dazu war er nun verdonnert worden.<br />
„Sie passen wie ein Falke auf sie auf!“, hatte der Expeditionsleiter<br />
gesagt, bevor er mit seiner Frau in die unteren Katakomben gegangen<br />
war. „Wie ein Falke, verstanden?!“<br />
Block gefiel das überhaupt nicht. Er fühlte sich schrecklich<br />
zurückgesetzt. Schließlich war er verdammt noch mal Wissenschaftler!<br />
Und was das anging, war er auch kein Touristenführer, nicht einmal für<br />
Leute mit einem so hohen Status wie er den Eltern des kleinen Mädchens<br />
zugesprochen wurde. Er war Professor für vulkanische Archäologie, der<br />
hin und wieder dafür bezahlt wurde, dass er Interessierte Leute auf<br />
Expeditionen in die Berge von Seleya führte, weil er den örtlichen<br />
Dialekt fließend sprach und die Berge nach Jahren der intensiven<br />
Forschung kannte, wie kein anderer. Er hatte das schon öfter getan:<br />
Vermessungstrupps, Studenten, und archäologische Untersuchungen, wie<br />
diese hier. Aber nie, nie, war jemand so töricht gewesen, ein Kind<br />
mitzunehmen!<br />
Es war für ihn unverständlich. Absolut unverständlich! Die alten<br />
Tempelanlagen konnten gefährlich sein. Es gab hier Höhlen, die sich<br />
über einen Bereich von mehreren hundert Kilometern erstreckten. Viele<br />
davon waren einsturzgefährdet. Die Erde in dieser Gegend rumpelte<br />
häufig, die vulkanische Aktivität in diesem Teil des Planten war<br />
unvorhersehbar. Es gab ein Dutzend Dinge, die schief gehen konnten.<br />
Dies war einfach kein Ort für Kinder und er war nicht der richtige Mann,<br />
um auf Kinder aufzupassen. Tatsächlich hatte er mit Kindern überhaupt<br />
nichts am Hut. Er hatte nie eines gewollt – nicht, dass er eine Partnerin<br />
zur Durchführung eines entsprechenden Unternehmens haben würde –<br />
und er wollte auch ganz sicher keine fremden Kinder. Er mochte sie<br />
einfach nicht. Er hatte sie schon nicht gemocht, als er selbst noch ein<br />
Kind gewesen war, und die Abneigung hatte sich bis heute nicht<br />
geändert. Man konnte sich mit ihnen nicht über Archäologie unterhalten,<br />
und schon gar nicht über Geologie. Sie waren klein und dumm und<br />
ignorant.
Wenn die beiden Elternteile ihr Gör unbedingt mitnehmen mussten,<br />
dann sollten die sich auch gefälligst darum kümmern! Er würde da nicht<br />
mehr mitspielen. Block steckte das Tuch zurück in die Tasche. Seine<br />
Hände zitterten noch immer. Er deutete dann streng auf das Mädchen. Es<br />
hatte sich seit seinem Geschrei nicht mehr vom Fleck gerührt. Gut so,<br />
dachte er.<br />
„Du bleibst da stehen!“<br />
Das Mädchen sah ihn aus unschuldigen Augen an.<br />
„Du wirst dich nicht rühren.“<br />
Sie sagte nichts.<br />
„Und vor allem wirst du nichts berühren.“<br />
Sie sagte immer noch nichts.<br />
„Hast du das verstanden?“<br />
Nichts.<br />
Block wertete das kurzerhand als ein >Ja
aufpassen, dass er sie nicht aß. Vielleicht irrte sie sich ja auch und der<br />
dicke Mann tat so etwas auch gar nicht. Das Mädchen wusste zwar nicht,<br />
wovon sich Bolianer sonst ernährten, aber dieser dicke Bolianer aß<br />
sicherlich immer eine ganze Menge. Er war sogar noch dicker als Onkel<br />
Roach.<br />
Aber im Gegensatz zu Onkel Roach war der Bolianer gemein. Shan<br />
hatte sogar ein oder zweimal den Drang verspürt, ihm die Zunge<br />
rauszustrecken. Aber Mommy hatte zu ihr gesagt, sie müsse artig sein.<br />
Wenn kleine Mädchen nicht artig waren, bekämen sie statt eines<br />
Kuchens nur Gagh zum Geburtstag. Shan wusste zwar nicht genau, was<br />
Gagh war, aber dass sie lieber Kuchen essen wollte, das wusste sie.<br />
In der Höhle war es still und unheimlich. Aber Shan hatte keine Angst.<br />
Dafür war sie auch viel zu aufgewühlt! Das einzige Licht waren<br />
Sonnenstrahlen, die von der löchrigen Höhlendecke eindrangen.<br />
Außerdem hatte Daddy überall Lampen aufgestellt, die blau leuchteten.<br />
Daddy dachte einfach an alles. In den Lichtstrahlen tanzte feiner Staub.<br />
Sie versuchte sich auf die Strahlen zu konzentrieren und die Staubkörner<br />
zu zählen, aber ihr wurde ein bisschen übel dabei, daher lies sie es<br />
bleiben. Außerdem gab es interessanteres zu entdecken! Zum Beispiel<br />
die zahlreichen Malereien mit denen die Wände geschmückt waren.<br />
Shan balancierte vorsichtig über den mit Steinen übersäten Boden auf<br />
eine der Wandmalereien zu, um sie zu berühren. Sie blieb davor stehen<br />
und sah nach links und dann nach rechts, nur um sicher zu gehen. Der<br />
dicke Mann war noch nicht wieder da. Was hatte sie also zu verlieren?<br />
Sie würde schließlich nichts kaputt machen. Also hob sie die Hand und<br />
fuhr mit den Fingern über feine Rillen. Das Gestein war kalt und rau.<br />
Shan kicherte. Jetzt hatte sie der dicke Mann doch nicht davon abhalten<br />
können, die Malereien zu berühren. Sie drehte sich um und sah durch<br />
den Tempel. Überall ragten große Säulen an die Decke. Und da waren<br />
noch mehr Höhlenmalereien. Dort... und da drüben auch... einfach<br />
überall! Das Mädchen begann gut gelaunt hin und herzulaufen. Und<br />
dann blieb sie plötzlich stehen. Ihre Augen weiteren sich und ihr Mund<br />
formte ein O. Sie hatte ein Funkeln gesehen. Nur aus den Augenwinkeln,<br />
aber sie hatte es gesehen. Es wäre ihr beinahe entgangen, weil sie schon<br />
wieder zur anderen Seite der Höhle laufen wollte, um die dortigen<br />
Wandmalereien zu begutachten.
Sie sah sich um, aber das Funkeln war verschwunden. Wo war es nur<br />
hergekommen? Nach ein paar Sekunden zuckte Shan mit den Schultern.<br />
War vielleicht nur Einbildung. Nein, halt! Da drüben funkelte schon<br />
wieder was. Jetzt sah das Mädchen auch genau, wo es funkelte, da sie<br />
direkt in die Richtung geschaut hatte.<br />
Tief, sehr tief in einer kleinen Felsspalte – sie war bestimmt...<br />
Tausende von Kilometern lang - sah Shan einen Kristall. Er begann von<br />
innen heraus zu funkeln und zu glühen, wie ein Stern. Shans Interesse<br />
war geweckt. Mehr noch! Der Kristall zog sie in einen merkwürdigen<br />
Bann. Sie konnte nicht wegsehen. Es gab nichts mehr, außer dem<br />
Kristall. Shan prüfte die breite der Spalte. Der dicke Mann würde da<br />
nicht durchpassen. Nicht einmal Daddy, oder Mommy würden da<br />
durchpassen. Aber für sie war der Platz ausreichend. Sie war also die<br />
einzige, die dort hineinkonnte. Tausende von Kilometern oder nicht – sie<br />
würde sich den Kristall holen! Er rief nach ihr, ganz deutlich! Shan<br />
duckte sich. Sie begann in die Dunkelheit einzudringen, während der<br />
Kristall aufglühte...<br />
In den darunter liegenden Katakomben blickte Matthew Bartez abrupt<br />
von seinem Tricorder auf. Mit gespitzten Ohren reagierte er auf das<br />
Geräusch zu seiner Linken über ihm, und sofort schrillten alle<br />
Alarmglocken hinter seiner Stirn. Er trat an eine Stelle unter der Decke,<br />
an der das Sonnenlicht durch mehrere Lücken im Fels durchsickerte und<br />
schaute, wo die Bewegung hergekommen war.<br />
Matthew Bartez war Sternenflottenoffizier im Rang eines Captains –<br />
die Medien hatten ihm so einfallsreiche Namen wie „Held“ „Abenteurer“<br />
und „Ikone“ verliehen, wobei sie häufig seinen Status als ehemaligen<br />
Raumschiffkommandanten zitierten. Und das, obwohl er sein altes<br />
Kommando, sein geliebtes Schiff, die USS Starfury aufgegeben hatte,<br />
nachdem es ihm im Pferdekopfnebel gelungen war, den Quadranten vor<br />
einer Invasion der schlangenartigen Grez’An zu bewahren. Er hatte das<br />
Schiff aufgegeben, um eine Familie zu gründen. Das lag nun bereits<br />
sieben Jahre zurück und war der Beginn eines Abenteuers gewesen, das<br />
sein Leben von Grund auf verändern sollte – auch wenn sich sein Leben
in letzter Zeit bei weitem nicht mehr so ereignisreich gestaltet hatte, wie<br />
früher.<br />
Nichtsdestotrotz hatte Matt Bartez immer noch das schneidige<br />
Auftreten eines Mannes der Tat. Das Alter konnte seinen kantigen<br />
Zügen, dem forschen Blick seiner blauen Augen, und seinem<br />
jungenhaftem Aussehen nichts anhaben. Mit leichtem drei-Tage-Bart<br />
und dichtem, schwer zu bändigen Haar, das an den Schläfen mit bislang<br />
kaum sichtbaren Silberstreifen durchzogen war, und mit dem Schwert an<br />
seinem zur Uniform passenden Gürtel, hätte er es jederzeit mit Helden<br />
wie James Kirk oder Mackenzie Calhoun aufnehmen können.<br />
Und genau in diesem Moment wurde ein Held gebraucht! Da waren<br />
Schritte...<br />
Leise Schritte, die sich mit nichterkennbaren Geräuschen vermischten.<br />
Sie schallten durch die kalten Katakomben des Tempels. Matt<br />
deaktivierte seinen summenden Tricorder, und sofort wurde es leise in<br />
der Kammer. Übrig blieb nur dieses gespenstische Rascheln, das jedem<br />
dunklen und unbewohntem Ort anhaftete. Verstohlen bewegte sich Matt<br />
die harte Felswand zum Gang entlang und zog so leise wie möglich sein<br />
Schwert. Die Schritte wurden lauter, immer lauter. Da kam etwas näher!<br />
Oder jemand! Nur wer? Söldner? Diebe? Möglicherweise Schatzjäger?<br />
In dieser gefährlichen Gegend der vulkanischen Berge war alles möglich.<br />
Und Matt hatte sich im Laufe seiner Karriere zwar Freunde, aber auch<br />
Feinde gemacht. Vielleicht hatte einer dieser Feinde den heutigen Tag<br />
zur Begleichung alter Rechnungen gewählt.<br />
Matt blieb an einer dunklen Wegbiegung stehen und wartete ab. Jeder<br />
Muskel in seinem Körper war angespannt und er spürte, wie das<br />
Adrenalin durch seine Adern schoss – oh, wie sehr hatte er das vermisst!<br />
Der Unbekannte näherte sich.<br />
Matt wartete. Lauschte auf die Schritte. Es war jetzt ganz nahe. Er<br />
wartete... wartete... noch ein bisschen näher... Dann stürzte er einen<br />
Kampfschrei von sich gebend um die Ecke, mit hocherhobenem<br />
Schwert...<br />
...und erschreckte seine Frau.<br />
„He!“, machte sie, und nahm reflexartig eine Abwehrposition ein. Matt<br />
seufzte und lies die Klinge sinken. Er entspannte sich und steckte das<br />
Schwert wieder zurück an den Gürtel – dort, wo es hingehörte. Dort, wo
es einfach nicht mehr gebraucht wurde. Genau wie ich. Es tat weh, es<br />
sich einzugestehen, aber die Tage der Abenteuer und Heldentaten, waren<br />
vorbei. Nach den verheerenden Verlusten durch das Dominion, den<br />
Grez’An, und den Borg, war niemandem im Quadranten mehr nach<br />
Streit und Ärger zumute. Ironischerweise war es genau diese neue Ära,<br />
die er miterarbeitet und erst mitermöglicht hatte, in der solche<br />
Friedensstifter wie ein Matt Bartez keinen Platz mehr fanden. Diese<br />
erschütternde Erkenntnis machte ihm mehr zu schaffen, als er bereit war,<br />
sich einzugestehen. Die Aussicht, dass es keine neuen Welten mehr zu<br />
beschützen, keine Unterdrückten mehr zu befreien gab, war vernichtend.<br />
Seine Frau Kelly lies geräuschvoll den angehaltenen Atem<br />
entweichen. Kelly war so schön, so wunderschön, wie eh und je.<br />
Dunkelhaarig, mittelgroß, schlank und mit beachtlich glanzvollen<br />
Augen, die auf Matt noch immer, die beispiellose Sogkraft eines<br />
Schwarzen Lochs ausübten, wie am ersten Tage ihrer Begegnung. Sie<br />
lächelte erleichtert, und dieses Lächeln war alles, was Matt brauchte, um<br />
sich wieder gut zu fühlen. Egal wie niedergeschlagen er auch sein<br />
mochte, sobald Kelly lächelte, ging die Sonne auf – selbst im dunkelsten<br />
Teil des Universums.<br />
„Da ist wohl einer übermütig, was?“, sagte sie sanft.<br />
„Eher unterfordert. Hast du etwas gefunden?“<br />
„Ja.“, bestätigte Kelly und wurde sofort ernst. „Hab ich. Deine<br />
Vermutung war korrekt, Matt, sie könnten hier gewesen sein. Die Alten.<br />
Und ich glaube sie haben uns endlich eine Spur hinterlassen.“<br />
„Eine Spur?“ Er konnte es kaum glauben. „Eine Spur zur...“<br />
„Ganz recht.“, nickte Kelly. „Zur größten uns bekannten Macht in<br />
dieser Galaxie.“<br />
Sie betraten Kammer drei, in der Kelly die ganze Zeit über gearbeitet<br />
hatte. Matt sah im matten Schein seiner Handlampe alte, größtenteils<br />
zerfallene Statuen ihm unbekannter, vulkanischer Gottheiten. Seit<br />
Tausenden von Jahren glaubte niemand mehr an sie.<br />
Kelly deutete auf eine kleine Nische in der rechten Wand. „Dort.“ Sie<br />
hatte mit einer Bürste versucht die antiken Gravuren zu enthüllen – alte,
nur auf diesen Wänden existierende Aufzeichnungen über eine Legende,<br />
der Matt nun schon seit Jahren hinterher jagte.<br />
Seit die Träume angefangen hatten.<br />
„Ich entdeckte die gleichen Zeichnungen, die wir auch schon auf<br />
Andoria bemerkten.“, erklärte Kelly. Ihre Stimme hatte hier einen<br />
gruseligen Hall. „Sie müssen Tausende, vielleicht Millionen von Jahren<br />
alt sein. Ich kann’s leider nicht genau bestimmten, aufgrund<br />
geringfügiger Kelbonitablagerungen im Gestein spuckt der Tricorder nur<br />
widersprüchliche Werte aus.“<br />
Matt hörte ihr kaum zu. Mit schlafwandlerischer Sicherheit trat er nahe<br />
an die Zeichen heran, strich ehrfürchtig mit dem Finger darüber, als<br />
könne er dadurch zusätzliche Informationen aus ihnen gewinnen.<br />
Informationen, die nur ihm bestimmt waren. In seinen Augen flackerte<br />
etwas. Ein merkwürdiger Luftzug ging durch die Kammer.<br />
Kelly fröstelte. „Wir sind auf der richtigen Spur, nicht wahr?“<br />
„Sie waren hier, Kelly.“, nickte Matt. „Hier auf Vulkan. Ich kann es<br />
regelrecht spüren. Genau wie auf den anderen Welten.“<br />
Er trat ein paar Schritte von der Nische zurück. Wieder ging der<br />
Luftzug. Matts Blickwinkel des Raumes veränderte sich im Lichtzug der<br />
brennenden Handlampe, als würde er plötzlich Tausende von Jahren<br />
zurück in die Vergangenheit befördert. Die kleine Nische erstrahlte mit<br />
einem Mal in ihrer alten Pracht, die Schriftzeichen waren wie neu,<br />
goldene, glitzernde Malereien. Er sah mehrere miteinander verbundene<br />
Punkte, einer oben drei rechts, drei links. Einer in der Mitte.<br />
... und dann stand er wieder in der dunklen, alten Kammer, mit den<br />
kaum lesbaren Schriftzeichen. Er blinzelte. Das alles, die ganze... Vision,<br />
wie er sie aus Ermangelung eines besseren Wortes bezeichnen musste,<br />
hatte vielleicht zwei Sekunden gedauert. Allerhöchstens. Die Erinnerung<br />
verblasste so schnell, dass er sich nach wenigen Augenblicken nicht<br />
einmal mehr sicher war, ob er überhaupt etwas derartiges wie eine<br />
Vision erlebt hatte. Kelly hatte weder etwas davon gesehen, noch<br />
mitbekommen. Sie bemerkte nur die Veränderung in seinem Gesicht.<br />
„Eine Ahnung?“, fragte sie leise.<br />
„Nein. Nein, das hier... das hier ist mehr.“<br />
„Hast du etwas gesehen?“<br />
„Ich bin mir nicht sicher.“
„Hör mal...“, sagte Kelly besorgt. „Gegen Träume habe ich nichts.<br />
Visionen machen mich aber nervös. Geht’s dir wirklich gut?“<br />
„Ja. Ja, mir fehlt nichts.“ Er sah zu ihrer Ausrüstungstasche. „Hast du<br />
eine Sternenkarte dabei?“<br />
„Im hinteren Fach.“<br />
Matt stieg über ein paar Felsbrocken zur anderen Seite der Kammer,<br />
kniete vor Kellys Tasche nieder und öffnete den Verschluss. Er kramte<br />
den elektronischen Datenblock mit der Sternenkarte hervor und legte ihn<br />
auf den Boden. Dann sah er wieder zur Wand. Mehrere miteinander<br />
verbundene Punkte. Einer oben, drei rechts, drei links, einer in der<br />
Mitte.<br />
Ein Sternbild. Nur welches? Es kam ihm vertraut vor, er hatte es schon<br />
einmal gesehen. Irgendwo... irgendwo im Herzen des<br />
Föderationsraumes. Er suchte nach Andoria. Wo war Andoria? Dort.<br />
Dann Vulkan... Nein... da fand er die Sternenkonstellation auch nicht.<br />
Aber er war nahe. Das wusste er. Er hatte keine Ahnung warum. Er<br />
wusste es einfach. Weiter unten vielleicht? Sein Zeigefinger fuhr die<br />
Karte ein Stück herab, ganz automatisch, nach...<br />
Matt runzelte die Stirn.<br />
Sektor 42-F, auch genannt Rontar Minor. Er suchte die Punkte. Heka<br />
war der erste, ganz oben. Beteigeuze, Alnitak und Na Pali die drei auf<br />
der linken Seite. Bellatrix, Mintaka und Rigel auf der rechten. Alnitam in<br />
der Mitte. Er kramte einen Datenstift aus der Tasche und verband die<br />
Punkte.<br />
„Das Sternbild des Orion.“, murmelte er. „In Rontar Minor.“<br />
Kelly kniete neben ihn. „Okay.“, sagte sie. „Jetzt ist es offiziell. Ich<br />
bin beunruhigt.“<br />
„Ich mache mir selbst ein bisschen Angst.“ Matt schüttelte<br />
nachdenklich den Kopf. „Warum immer Rontar Minor? Alle Hinweise,<br />
die wir finden, führen genau dort hin. Irgendwo in diesen Sektor. Aber<br />
wohin genau?“<br />
„Du hast doch Tobias dorthin geschickt. Hat er etwas gefunden?“<br />
Matt verneinte. „Seit sich die administrativen Einrichtungen der<br />
Föderation komplett aus Rontar Minor zurückgezogen haben, ist der<br />
Sektor im Chaos versunken. Ohne unserer Kontrolle stehen<br />
Schmugglern, Schatzjägern und dem Orionsyndikat Tür und Tor offen.
Als wäre das nicht schon genug, fallen die dortigen Großmächte<br />
übereinander her. Die Handelsabkommen wurden ausgesetzt und ein<br />
Dutzend Völker machen Mobil, um ihren Einflussbereich zu erweitern.<br />
Rontar Minor ist ein einziges Pulverfass. Tobias und den Mitgliedern des<br />
Forschungsaußenpostens sind die Hände gebunden, sie halten sich nur<br />
am Randgebiet auf und trauen sich nicht tiefer in den Sektor hinein.<br />
Keiner tut das. Selbst meiner Organisation fällt es schwer, einen<br />
Überblick über die politische Lage dort zu erhalten. Und das trotz<br />
unserer Mittel. Wie soll ein unabhängiges Forschungsteam da mehr<br />
ausrichten können?“ Er schüttelte frustriert den Kopf. „So kommen wir<br />
nicht weiter. Einfach nicht weiter!“<br />
Kelly wollte gerade etwas erwidern, als sie plötzlich Schritte hörten.<br />
Diesmal lies Matt sein Schwert allerdings stecken, denn das zusätzlich<br />
an sein Ohr dringende Geräusch heftigen Geschnaufes, machte ohne<br />
jeden Zweifel klar, dass sich Professor Block näherte. Matt und Kelly<br />
tauschten einen vielsagenden Blick. Block kam schwitzend und<br />
keuchend, aber dennoch – oder gerade deswegen - sehr miesgelaunt in<br />
den Raum hineingestürmt. „Captain Bartez!“, empörte er sich. „Ich muss<br />
Sie bitten, Ihre Tochter aus den Höhlen zu entfernen. Endgültig!“<br />
„Hat sie etwas angestellt?“<br />
„Ja ... nein ... doch!“ Block fuchtelte mit den Händen herum. „Sie will<br />
fortwährend alles mögliche berühren und ertasten und... und bringt alles<br />
durcheinander. Ich kann so nicht arbeiten!“<br />
„Sie ist eben neugierig.“, erwiderte Matt, der bereits seine Sachen<br />
zusammenpackte. „Wie jeder von uns. Aber na schön. Wir haben<br />
sowieso, was wir wollten.“<br />
Block blinzelte. „Wirklich?“<br />
„Ja.“<br />
„Würden Sie mir auch erklären, was?“<br />
„Nein.“<br />
„Und warum nicht?“<br />
Matt warf sich den Rucksack über die Schulter und hastete Richtung<br />
Ausgang. „Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen uns beeilen.“<br />
„Beeilen? Warum beeilen?“ Block verstand nicht.<br />
Matt hielt auf dem Weg nach draußen kurz neben ihm inne. „Weil Sie<br />
meine Tochter da oben alleine gelassen haben, Sie Trottel!“
Die Spalte war eng und schien endlos zu sein. Shan hatte kaum Platz.<br />
Sie spürte das Gestein – kühl, trocken, fest. Je tiefer sie hineinkrabbelte,<br />
desto tiefer schien die Erde hinabzuführen und desto dunkler wurde es.<br />
Bald war es so finster, dass sie nichts mehr erkennen konnte. Bis auf den<br />
Kristall. Er war jetzt nahe, ganz nahe. Nun kam ein hohltöniger Wind auf<br />
und blies ihr Spinnweben ins Gesicht. Shan reagierte gar nicht darauf.<br />
Sie sah nur den Kristall. Er leuchtete direkt vor ihr und spiegelte sich in<br />
ihren großen Augen - seine glühenden Kräfte hatten sie gefangen.<br />
Endlich war sie am Ende der Spalte angelangt. Shan duckte sich unter<br />
einem überragenden Felsen hinweg, dann konnte sie den Kristall genauer<br />
betrachten. Er zeigte drei aufgemalte Linien und schimmerte hell. Wie<br />
das Nachtlicht, das Daddy ihr ans Bett gestellt hatte. Shan berührte den<br />
Stein zögernd. Er war kühl. Sie hob ihn vorsichtig an die Augen und<br />
blickte in das glühende Innere. Irgendwo hinter ihr rief jemand ihren<br />
Namen. Es war Mommy. Shan hörte kaum hin. In ihren Händen funkelte<br />
der Kristall. Sein Licht war ätherisch und bannend. Es war wunderschön.<br />
Regenbogenlicht... Sternenlicht. Sie wurde magisch davon angezogen.<br />
Es war ihre Entdeckung! Ganz allein ihre. Daddy würde so stolz auf sie<br />
sein. Und plötzlich realisierte Shan, dass er laut nach ihr rief. Im Innern<br />
der Spalte drangen ihre Stimmen nur gedämpft zu ihr.<br />
„Shanny?“<br />
Und dann Mommy. Sie klang noch besorgter: „Shan?“<br />
„Ich bin hier, Mommy.“<br />
„Shan?!“<br />
Sie wollte zurückkrabbeln, aber als sie sich von der Stelle entfernte,<br />
wo der Kristall gelegen hatte, bemerkte sie, wie sein Licht verblasste und<br />
erlosch. Shan hielt ihn wieder zu der Stelle. Erneut strahlte er hell. Weg:<br />
dunkel; zurück, hell. Sie hätte das den ganzen Tag lang machen können,<br />
so fasziniert war sie.<br />
„Shanny, wo bist du?“<br />
„Ich komme, Mommy.“<br />
Shan wich mit dem Kristall in der Hand zurück, und kroch wenig<br />
später rückwärts aus der Spalte.
„Shan!“ Mommy kniete plötzlich neben ihr. Sie griff Shan unter die<br />
Arme und hob sie auf die Beine. „Uff.“, machte sie. „Hey! Wo hast du<br />
bloß gesteckt?“<br />
Shan biss sich auf die Unterlippe und zuckte mit den Schultern. Nun<br />
ging Daddy vor ihr in die Hocke. Er tippte auf den Kristall, den Shan<br />
noch immer in der Hand hielt. Sein Licht war erloschen. „Was ist das?<br />
Shan, wo hast du das her? Ich habe dich angewiesen, nichts anzufassen.“<br />
„Aber es war so wunderschön...“<br />
„Das ist... das ist einfach unerhört!“, schimpfte der dicke Mann. Er<br />
war sehr aufgebracht und zitterte am ganzen Körper. „Mister, und Misses<br />
Bartez! Ich habe Sie beide ausdrücklich gewarnt, dieses Kind mit hierher<br />
zu bringen!“<br />
„Beruhigen Sie sich.“, sagte Daddy und hob Shan an sich. „Ist ja alles<br />
in Ordnung.“<br />
„Alles in Ordnung? Alles in Ordnung?!“ der dicke Mann schüttelte<br />
den Kopf. Er schwitzte wieder sehr stark und suchte in seiner Tasche<br />
nach einem Tuch. „Nicht auszudenken, was ihr hätte passieren können!“<br />
Er lehnte sich mit dem Rücken an einen Steinklotz, der aus der Wand<br />
ragte und tupfte sich die nasse Stirn ab. „Wer weiß, welche Arten von<br />
Fallen die alten Vulkanier an diesem Ort ausgelegt haben, um die Ruinen<br />
zu schützen! Alles, was sie anfasst, könnte schreckliche Dinge auslösen!<br />
Schreckliche Dinge! Wenn man eine Expedition in diesen<br />
Tempelanlagen nicht mit der gleichen Bedachtsamkeit, Vorsicht und<br />
Professionalität ausführt, wie ich es tue-“<br />
Der Klotz, an dem er lehnte, glitt in die Wand hinein und löste eine<br />
Vorrichtung aus.<br />
Block schluckte. „Uh-oh.“<br />
Alle hielten inne. Einen Augenblick lang geschah nichts. Shan starrte<br />
auf den Steinklotz, dann auf das vor Schreck erstarrte Gesicht des dicken<br />
Mannes und auf einmal nahm sie ein fremdartig fernes Geräusch war, ein<br />
Grollen, wie von einem, sich in Bewegung setzenden Raumschiff. Als<br />
erwache etwas aus langem Schlaf, um brüllend, zerfetzend und<br />
zermalmend durch den Tempel zu fahren. Shan wusste nicht, was das zu<br />
bedeuten hatte, aber sie wusste instinktiv, dass es nichts gutes war. Dann<br />
wurde der Lärm stärker, ohrenbetäubend und alles begann zu schwanken
und zu zittern, als würde der Tempel einstürzten, als platzte alles<br />
auseinander, während plötzlich Steine von der Decke stürzten.<br />
Sie hörte Mommy schreien: „Lauft!“<br />
Daddy drückte sie mit einem Arm feste an seine Schulter, fuhr herum<br />
und lief, lief so schnell er konnte, über Gesteinsbrocken hinweg und<br />
zurück auf den Eingang zu. Alles stürzte zusammen. Und noch immer<br />
verstärkte sich der Donner, rollte und hallte durch die alten Gänge und<br />
Kammern. Es war laut, so unvorstellbar laut, aber Shan wollte sich die<br />
Hände nicht auf die Ohren pressen, denn dann hätte sie ihre Entdeckung<br />
loslassen müssen.<br />
Über Daddys Schulter hinweg sah Shan das ganze Geschehen.<br />
Mommy und der dicke Mann waren direkt hinter ihnen und ihnen folgte<br />
eine Gesteinslawine. Überall knallte die Decke herunter. Die ganze Erde<br />
schwankte. Alles schwankte. Plötzlich und ohne Vorwarnung wurden sie<br />
vom Druck heißer Luft umweht. Irgendjemand schrie. Shan konnte nicht<br />
verstehen was, sie konnte gar nichts verstehen. Da war nur das tosende<br />
Donnern in ihren Ohren. Sie spürte die Sorge ihres Vaters, die<br />
unerbittliche Sorge, dass sie es nicht schaffen würden, gleichzeitig spürte<br />
sie aber auch seine eiserne Entschlossenheit, nicht aufzugeben.<br />
Merkwürdigerweise empfand Shan keine Angst. Daddy sprang über eine<br />
umstürzende Säule. Alls bebte, das Mauerwerk brach, die Decke krachte<br />
direkt über ihnen zusammen, stürzte auf sie herab... und plötzlich waren<br />
sie im Freien.<br />
Und zwar alle.<br />
Die Hitze Vulkans schlug ihnen entgegen und hoch oben über ihren<br />
Köpfen, glühte der nahegelegene Mond am dunklen Nachthimmel.<br />
Matt rannte die Treppen hinab, während im Tempel überall große<br />
Stein- und Felsbrocken herunterkrachten und die letzten Säulen barsten.<br />
Kurz darauf brachen die letzten Innenwände, aus dem Eingang quoll eine<br />
gewaltige Staubwolke, die sie alle verschluckte.<br />
Shan hustete.<br />
Daddy drückte sie an sich. Er schnaufte schwer. „Alles ist gut, Schatz.<br />
Alles ist gut.“<br />
Shan glaubte ihm und nickte kaum merkbar. Wenn er sagte, alles sei<br />
gut, dann war es auch so. Der Staub legte sich ein wenig und plötzlich<br />
stand Mommy neben ihnen, erschöpft und mitgenommen, aber
unverletzt. Matt nahm sie in den Arm und drehte dann den Kopf. Vom<br />
Tempel war nicht viel übrig geblieben.<br />
Block sah das im gleichen Augenblick. „Der Tempel!“, stöhnte er.<br />
„Zerstört! Alles zerstört! Seine Schätze, seine Geheimnisse.. für immer<br />
verloren!“<br />
„Nicht ganz, Professor.“ Matt sah seine Tochter an. „Hast du noch<br />
immer den Kristall, Shan?“<br />
„Ja, Daddy.“<br />
Sie hielt ihn hoch. Sie hatte ihn tatsächlich die ganze Zeit über nicht<br />
losgelassen. Mommy lächelte, so wie nur sie lächeln konnte. „Gut<br />
gemacht, Täubchen. Mommy und Daddy sind sehr stolz auf dich.“ Sie<br />
zwinkerte.<br />
Shans Mundwinkel gingen nach oben. Sie betrachtete wieder den<br />
Kristall. Er mochte nicht mehr leuchten... aber dafür strahlten Shans<br />
Augen umso heller. Denn ihr war plötzlich klar, wenn es von diesen<br />
Entdeckungen... diesen Artefakten, wie Daddy sie nannte, noch mehr im<br />
großen, weiten Universum gab...<br />
... dann wollte sie das ganze Universum sehen!
Eishölle - Erster Tag<br />
Shan öffnete benommen die Augen und das erste, was sie sah, war<br />
nichts. Und davon sah sie eine ganze Menge. Es war dunkel, sie konnte<br />
kaum etwas erkennen. Keine der Konsolen glühte. Und es war still, so<br />
merkwürdig still. Sämtliche Maschinen schwiegen. Kein Brummen des<br />
Antriebes, kein Piepen laufender Selbstdiagnosen. Alles war aus. Ein<br />
beißender Gestank drang in ihre Nase, irgendetwas roch verbrand. Was<br />
hatte das nur zu bedeuten?<br />
Shan stöhnte, schloss die Augen wieder und kämpfte gegen den<br />
unbändigen, alles beherrschenden Drang an, einfach weiterzuschlafen.<br />
Ihre Wange fühlte sich aus irgendeinem Grund kalt an – ausnahmslos<br />
alles fühlte sich kalt an - und der gesamte rechte Arm tat ihr schrecklich<br />
weh. Das waren die einzigen Sinneseindrücke, die sich ihr gegenwärtig<br />
darboten: Schmerz und Verwirrung. Alles andere existierte wie durch<br />
einen Schleier.<br />
Die Bewusstlosigkeit – oder vielleicht der Tod – rief sie erneut zu sich,<br />
aber der pochende Schmerz in ihrem Arm behielt ihren trägen Geist<br />
bedauerlicherweise im Hier und Jetzt, zwang sie endgültig aufzuwachen.<br />
Irgendwann, nach Minuten, die wie Jahre waren – oder auch Jahren, die<br />
wie Minuten waren -, zogen sich die letzten Spuren der Bewusstlosigkeit<br />
und ihr größerer, dunklerer Bruder von ihr zurück, als hätte man sie<br />
überprüft und noch nicht für würdig befunden. Vorsichtig öffnete sie<br />
erneut die Augen, sah noch immer nichts, und bewegte probeweise ihre<br />
Gliedmaßen. Auch sie schmerzten, teilweise sogar höllisch, aber sie<br />
ließen sich bewegen. Nichts gebrochen.<br />
Das war das erste, kleine Gefühl der Erleichterung, dass sie an diesem<br />
Tag erlebte. Es sollte ihr nur wenige weitere vergönnt sein. Plötzlich<br />
musste Shan schwer husten, jede Bewegung von einer neuen Stoßwelle<br />
der Agonie begleitet, und dann, als ihr gepeinigter Körper wieder zur<br />
Ruhe kam, versuchte sie endlich herauszufinden, in welcher Lage sie<br />
sich befand. Sie fühlte, dass sie auf der Seite lag – wie lange schon, das<br />
wusste sie nicht -, merkwürdig gekrümmt, das Gesicht gegen Boden und
Rückwand des Steuerraums gepresst, und irgendwas stimmte nicht. Sie<br />
drehte behutsam den Kopf und versuchte über die Schulter zu blicken,<br />
was sie enorme Kraft kostete, und eine neue Welle des Schmerzes hinter<br />
ihrer Stirn explodieren ließ. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an<br />
die Dunkelheit, und Details ihrer Umgebung schälten sich aus der<br />
Finsternis, was sie unendlich beruhigte. Als sie die Augen geöffnet, und<br />
nichts gesehen hatte, hatte sie zunächst befürchtet, blind zu sein.<br />
Stattdessen waren im ganzen Schiff die Lampen aus. Dennoch kam ein<br />
ganz schwaches, dämmriges Licht von irgendwo oben - außerhalb der<br />
breiten Frontscheibe. Und Shan spürte nun, was nicht stimmte. Das<br />
Schiff befand sich in einem Steigungswinkel von etwa vierzig Grad; das<br />
Heck fiel nach unten ab, der Bug deutete zum Himmel. Vielleicht war<br />
das Schiff in der Gletscherspalte, in die es gestürzt war, auf einem<br />
Vorsprung gelandet. Oder ganz unten auf dem Boden aufgeschlagen.<br />
Shan war sich nicht sicher, ihre Erinnerungen an die Minuten vor –<br />
und vor allem nach - dem entsetzlichen Aufprall waren wie in Nebel<br />
gehüllt und kamen nur langsam zurück. Sie versuchte sich aufzurichten.<br />
Natürlich stürzte sie sofort wieder kraftlos zurück. Übelkeit und<br />
Schwindel wechselten sich für Minuten miteinander ab, sodass sie<br />
wieder mit geschlossenen Augen und leise stöhnend stillhielt. Bis auch<br />
das verging, und sie vorsichtig ein drittes Mal die Lider hob. Als sie sich<br />
dieses Mal langsam aufzurichten versuchte, um sich mit dem Rücken an<br />
die Wand zu lehnen, ging es einigermaßen, auch wenn sie die Zähne<br />
zusammenbeißen und einen Schmerzensschrei unterdrücken musste.<br />
Dabei bemerkte sie, dass nicht nur hinter, sondern auch an ihrer Stirn<br />
Schmerz pochte. Sie tastete vorsichtig mit zittrigen Fingern ihres nicht<br />
schmerzenden Armes ihr Gesicht ab und fühlte ihr eigenes Blut,<br />
aufgeschürfte Haut - und einen kleinen, dreieckigen Glassplitter, der ihr<br />
linkes Auge nur um wenige Zentimeter verfehlt hatte und wie eine<br />
Pfeilspitze in ihrer Schläfe steckte.<br />
Shan biss die Zähne erneut zusammen, ergriff ihn mit den Fingern und<br />
zog ihn vorsichtig aus ihrem Fleisch. Es tat sehr weh, viel mehr, als alles,<br />
was sie vorher erlitten hatte, und aus der Wunde sickerte ein kleiner<br />
Strom Blutes über ihr Gesicht. Stöhnend presste sie unter erneuten<br />
Schmerzen die andere Hand auf die Wunde, blieb einige Augenblicke<br />
reglos so sitzen, versuchte die Pein in sich aufzunehmen, sie nicht zu
ekämpfen, und sie auf die Art irgendwie zu einem Teil von ihr und<br />
erträglich zu machen, und blickte dann zur Frontscheibe, über die sich<br />
ein spinnennetzartiges Gewebe zog. Dann blinzelte sie, nicht nur, weil<br />
ihr Blut ins Auge zu tropfen drohte, sondern auch aufgrund des<br />
Anblickes, der sich ihr draußen präsentierte.<br />
Das Schiff war tatsächlich in eine Gletscherspalte gestürzt, und die<br />
Öffnung war nah über ihr. Vielleicht siebzig, achtzig Meter. Höchstens.<br />
Dort oben wütete noch immer der verheerende Schneesturm, der ihr die<br />
törichte Zuversicht, eine ganz passable Pilotin zu sein, auf rabiate Art<br />
und Weise geraubt hatte. Shan hatte tatsächlich angenommen, trotz ihres<br />
zarten Alters von sechzehn Jahren ein Naturtalent hinter den<br />
Steuerkontrollen zu sein, und mit allen möglichen Schwierigkeiten, die<br />
ein Pilot in einer solchen Umgebung haben könnte, problemlos fertig zu<br />
werden. Auch mit etwas heftigeren Turbulenzen. Ein Irrtum, wie sich an<br />
diesem denkwürdigen Tage herausgestellt hatte.<br />
Nun versuchte sie sich daran zu erinnern, was genau passiert war.<br />
Erinnerungsblitze zuckten durch ihren Geist, ähnlich dem, der die<br />
Maschinensektion getroffen und den Antrieb ausgeschaltet hatte, als sie<br />
durch den Sturm geflogen war. Sirenen waren losgegangen, Monitore<br />
hatten zu rollen begannen, oder hatten sich ganz ausgeschaltet. Die<br />
Steuereinheit war durch eine funkensprühenden Explosion zerfetzt<br />
worden, und hatte kleine Metall- und Glassplitter nach ihr geschleudert,<br />
und dann war alles so schnell gegangen, so schrecklich schnell! Das<br />
kleine Schiff war mit brennendem Antrieb sofort abgesackt. Shan hatte<br />
plötzlich inmitten des Schneegestöbers den Boden auf sich zurasen<br />
gesehen, die Spalten im Schnee. Dann war der Aufprall erfolgt und die<br />
Konsole war ihr ins Gesicht geschlagen. Das war das letzte, woran sie<br />
sich erinnerte.<br />
Nun seufzte Shan. Wenigstens schienen die Wände der Gletscherspalte<br />
nicht so glatt wie zunächst gedacht. Im Gegenteil, sie wurden von<br />
Rissen, Spalten und klaffenden Furchen durchzogen. Eine elende<br />
Kletterei, aber es war für die Rettungstrupps zu schaffen. Daraus<br />
schöpfte sie Hoffnung, auch wenn Hilfe sicher noch lange auf sich<br />
warten lassen würde. Aber vorerst war sie wenigstens in Sicherheit. Und<br />
es ging ihr gut, sie war nicht schwer verletzt.<br />
Inzwischen hatten sich ihre Augen völlig an die Dunkelheit gewöhnt.
Sie senkte den Blick und betrachtete die winzige Glasscherbe, die sie<br />
noch immer zwischen Daumen und Finger hielt, und die sich mit ihrem<br />
eigenen Blut hellrot gefärbt hätte, und erschauderte bei dem Gedanken,<br />
wie knapp sie ihr Auge verfehlt hatte. Sie seufzte und warf die Scherbe<br />
zu den unzähligen anderen, die sich über den Boden verteilt hatten.<br />
Ein Luftzug zerrte durch den Steuerraum, frostig und klar. Shan<br />
runzelte die Stirn. Hier drin? Das konnte nur auf einen Hüllenbruch<br />
hindeuten. Sie lehnte sich ächzend auf alle Viere und begab sich, teils<br />
kriechend, teils rutschend, mit wahnsinnig schmerzendem Arm zum<br />
schmalen Verbindungsgang hinab, der zur Achtersektion führte. Dort<br />
wollte sie den Antrieb begutachten. Vielleicht kam sie ja sogar von selbst<br />
hier heraus. Shan öffnete die Tür und blickte in den Korridor hinein. Im<br />
nächsten Moment bedauerte sie diesen Blick bereits, denn dummerweise<br />
blieb nicht viel zu begutachten; Heck und Antrieb des Schiffes waren<br />
verschwunden - an ihrer Stelle klaffte nun ein gewaltiges Loch, das von<br />
scharfkantigen Duraniumsplittern gesäumt war. Dahinter war es<br />
stockfinster, Shan konnte kaum etwas erkennen. Sie kroch etwas näher<br />
an den Rand und reckte den Kopf, sah aber immer noch nichts.<br />
Bis auf-<br />
Shan schnappte nach Luft. Unter ihr war kein Vorsprung, sondern<br />
gähnende Finsternis! Die Gletscherspalte verjüngte sich nach unten hin<br />
und das Schiff hatte sich zwischen den beiden Wänden verkeilt, dreißig,<br />
vierzig, vielleicht auch fünfzig Meter über dem Grund der Felsspalte!<br />
Großer Vogel!<br />
Plötzlich bewies Shan erstaunliche Agilität, als sie den Kopf hurtig<br />
einzog, zurückkroch, und sich im Steuerraum wieder an die Wand<br />
presste. Jetzt steckte sie in Schwierigkeiten! Auf der feindlichen, eisigen<br />
Oberfläche eines entfernten Planeten gestrandet. Tief in einer<br />
Gletscherspalte gefangen. Ohne Antrieb. Ganz allein. Panik drohte sie zu<br />
übermannen, aber Shan zwang sich zur Ruhe, versuchte gleichmäßig zu<br />
atmen, die Kontrolle zu behalten. Sie drehte das Gesicht zu einem der<br />
Seitenfenster und erschrak, bei dem, was sie in der Spiegelung sah; ein<br />
junges Mädchen, mit schulterlangem blondem Haar, einer frischen<br />
Wunde über der linken Augenbraue, und einer anderen, weniger<br />
frischen, weil blutverkrusteten Schnittverletzung an der rechten Schläfe.<br />
Was? Blutverkrustet?
Sie runzelte die Stirn. Wie lange hatte sie nur bewusstlos dagelegen?<br />
Stunden? Tage? Sie hatte keine Ahnung. Die Wunde war ihr bisher gar<br />
nicht aufgefallen und tat auch kein bisschen weh – womit sie eindeutig<br />
eine Ausnahme bildete. Shan fragte sich, ob das ein gutes, oder ein<br />
schlechtes Zeichen war.<br />
Ziehende Schmerzen verspürte sie dafür aber sehr wohl nach wie vor<br />
im kompletten rechten Arm, den sie nur durch das Adrenalin des<br />
Schocks kurzfristig vergessen hatte, der jetzt aber dafür umso<br />
beständiger zurückkehrte. Eine pulsierende Qual, von der Schulter bis<br />
zur Hand hinunter, ja sogar, bis zu den Fingerkuppen. Shan verzog das<br />
Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse und sog die Luft rasselnd<br />
ein. Sie betastete die Oberarmtasche ihrer Jacke und fühlte ihren<br />
Datenrecorder darin. Mit zwei Fingern zog sie das kleine, eckige Gerät<br />
hinaus und stellte mit entsetzen fest, dass es kaputt war. Das<br />
Plastikgehäuse war zerdrückt und in der Mitte gebrochen. Die<br />
Scannereinheit war hinausgesprungen und hing nur noch an zwei dünnen<br />
Drähten.<br />
Shan betätigte probeweise ein paar Knöpfe, aber nichts rührte sich.<br />
Das Display blieb schwarz. Sie musste während des Absturzes<br />
draufgefallen sein. Daher auch die Schmerzen in ihrem Arm. Shan zog<br />
Jacke und Unterhemd am Kragen zur Seite und versuchte in der<br />
Dunkelheit etwas zu erkennen. Es fiel ihr nicht sonderlich schwer eine<br />
Verletzung auszumachen, denn der ganze Arm war grün und blau. Ein<br />
hässlicher Bluterguss breitete sich auf dem Oberarm aus und war für den<br />
schillernden Schmerz hinter ihrer Stirn verantwortlich.<br />
Shan betrachtete wieder den zerborstene Datenrecorder in ihrer<br />
anderen Hand und seufzte. Die Arbeit von Wochen dahin. Es war zum<br />
verzweifeln! Dabei hatte sie alles so sorgfältig geplant! Seit sie erfahren<br />
hatte, dass die langweilige Reise, auf die sie gezwungen war, ihre Eltern<br />
begleiten zu müssen, in die Nähe von Frigoria führen würde, war sie<br />
entschlossen gewesen, der Legende der sagenumwobenen Eisstadt<br />
nachzugehen, die sich irgendwo auf diesem Planeten befinden sollte.<br />
Man wusste so gut wie nichts über sie, nicht einmal ihren echten Namen,<br />
weshalb sie manche einfach Shangri-La nannten. Einst sollte sie das<br />
Machtzentrum einer hochentwickelten Kultur gewesen sein, einer<br />
Kultur, die schließlich von ihren eigenen Göttern ausgelöscht wurde,
weil sie sich ihnen zu entsagen drohten. Die Stadt ging unter, von einem<br />
Eissturm begraben, der ein ganzes Jahrhundert angedauert haben soll.<br />
Seither war sie verschollen. Und Shan hegte die Absicht sie zu finden –<br />
sofern sie überhaupt existierte. Sie sollte wunderschön sein, hieß es in<br />
den vorsichtig geflüsterten Erzählungen. So wunderschön, dass man bei<br />
ihrem Anblick weinen müsse. Und die Zeit würde dort still stehen,<br />
Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart zusammenfließen. Shan<br />
war fasziniert gewesen, und hatte diese Legende, die pure Vorstellung<br />
der Stadt, einfach nicht wieder aus dem Kopf bekommen.<br />
Sie besaß seit frühester Kindheit eine bemerkenswerte Begeisterung<br />
für Orte und Dinge, von denen die meisten Leute nicht einmal etwas<br />
gehört, geschweige denn sie je gesehen, oder gar betreten hatten. Es war<br />
ihr selber unerklärlich, wo genau diese Leidenschaft herrührte, aber sie<br />
war da. Wenn sie mit der Schulklasse Museen, oder alte Ruinen und<br />
Ausgrabungsstädten besuchte, war Shan immer die interessierteste von<br />
allen. Sie konnte fast riechen, oder spüren, wie das einst war, als dort<br />
noch jemand gelebt hatte.<br />
Schon mit sechs Jahren war daher für sie der eiserne Entschluss<br />
gefallen, diese verborgenen Orte und Schätze alle zu besuchen, und zu<br />
fühlen - und in den vergangenen Jahren bemühte sie sich auch, diesen<br />
Wunsch umzusetzen, wenn auch nur mit mäßigem Erfolg. Sie wollte<br />
jederzeit, überall hin und alles tun, um die Türen zum Unbekannten<br />
aufzustoßen. Ganz egal, wo diese Tür sich befinden sollte. Auch wenn<br />
sie sich im ewigen Eis befand.<br />
Shan hatte sich gut auf die Reise nach Frigoria vorbereitet – auch auf<br />
die Kälte -, die Reiseroute ausgerechnet, und das nötige Equipment<br />
zusammengetrommelt. Feldstecher, Winterkleidung, Datenrecorder –<br />
eben alles, was man zur Erforschung einer, den Erzählungen nach,<br />
irgendwo im Eis vergrabenen Stadt benötigte, deren Existenz nicht<br />
einmal bewiesen war. Vielleicht, weil sich bisher niemand die Mühe<br />
gemacht hatte. Der Planet Frigoria lag nämlich ziemlich abgeschieden<br />
und war in seiner jetzigen Form für kaum jemanden interessant – seine<br />
Position war weder von strategischer Bedeutung, noch gab es auf ihm<br />
irgendwelche reichen Mineralvorkommen. Bis auf einige wenige Tiere,<br />
existierte hier kein eigens, intelligentes Leben. Die für Menschen<br />
geradeso atembare Atmosphäre bestand hauptsächlich aus Eisen und
Vorkommen an Magnesium. Trotzdem gab es in der freundlicheren<br />
Region des Planeten einen Raumhafen, der jenseits der Handelsrouten<br />
von Frachterpiloten als Zwischenstopp benutzt werden sollte. Durch die<br />
Kombination aus kalten Temperaturen, mächtigen Oberflächenwinden<br />
und schlechten Sichtverhältnissen, trauten sich aber nur die wenigsten<br />
her, und die, die es taten, hatten für gewöhnlich nur zwielichtige<br />
Geschäfte im Sinn.<br />
Das alles hatte Shan in Erfahrung gebracht und es war überhaupt kein<br />
Problem gewesen. Nur konnte eine sechzehnjährige nicht ohne weiteres<br />
in diese abgelegene Gegend des Quadranten reisen – so überzeugt von<br />
ihren Fähigkeiten sie auch sein mochte. Es gab selbst hier draußen, in<br />
dieser Einöde des Weltalls einige Kontrollstationen, die man nicht<br />
einfach so passieren konnte. Erst recht nicht als minderjährige. Sie hatte<br />
nach Wegen gesucht, sie zu umgehen, aber keine gefunden. Beinahe<br />
hätte sie das Vorhaben abbrechen, oder zumindest auf unbestimmte Zeit<br />
verschieben müssen.<br />
Aber dann es zu dieser Reise gekommen auf die ihre Eltern gingen.<br />
Ihre Mom, die inzwischen im Föderationsrat arbeitete, hatte zu einer<br />
Konferenz auf Draylon II gemusst, auf die sie Dad begleitete, da er als<br />
Gastdozent auf einer dortigen Zweigstelle der Sternenflottenakademie<br />
erwartet wurde. Die Termine waren idealerweise zusammengefallen –<br />
oder zumindest von Moms und Dads Mitarbeitern etwas zurechtgebogen<br />
wurden, damit sie passten -, sodass sie diese Reise gemeinsam<br />
unternehmen konnten. Und da Ferien waren, und sonst niemand zuhause<br />
war, hatte Shan sie begleiten sollen. Das hatte ihr nicht im geringsten<br />
gepasst, und sie hatte gemeckert und ein langes Gesicht gezogen, bis sie<br />
bemerkt hatte, dass die Route sie in die Nähe von Frigoria bringen<br />
würde. Als sie schließlich auf Draylon II angekommen waren, hatte Shan<br />
darum gebeten die östlichen Strände zu besuchen, und mit den dortigen<br />
Kindern ein wenig zu feiern.<br />
Von Frigoria, und ihrer Absicht, heimlich diesen gefährlichen Planeten<br />
zu besuchen – und zwar alleine – hatte sie selbstverständlich nichts<br />
erwähnt. Der Rest war recht einfach gewesen. Sie hatte ihren<br />
unschuldigsten, liebenswertesten Augenaufschlag-Blick aufgesetzt, und<br />
schon nach kurzer Diskussion hatte sie die Strände besuchen dürfen.<br />
Denn ihr harter Dad, der große Held, der im Pferdekopfnebel die
Grez’An besiegt hatte, knickte unter dem Willen seiner Tochter ein, wie<br />
ein Zirkuszelt. Und das nutzte Shan dann und wann schonungslos aus.<br />
Sie fand das zwar moralisch selbst ein wenig bedenklich, aber hey – sie<br />
war trotz allem immer noch ein Kind. Ihre Eltern hatten eingesehen, dass<br />
eine sechszehnjährige nicht unbedingt in einem Hotelzimmer<br />
herumlungern wollte, während es in der Nähe einen Strand zu<br />
besichtigen gab. Schließlich war der Tag des geplanten Aufbruchs<br />
gekommen.<br />
Die Familie war mit ihrem privaten Schiff, der Pax, losgeflogen, und<br />
kaum dass ihre Eltern ihr nach einer langen Rede ihres Vaters, was sie<br />
nicht tun dürfe, den Rücken gekehrt hatten, hatte sich Shan die Pax...<br />
nun ja, man könnte sagen, sie hätte sie ausgeliehen. Im Grunde hatte sie<br />
das Schiff ohne Erlaubnis genommen und war statt zum Strand in den<br />
Weltraum geflogen.<br />
Das tat sie häufiger.<br />
Bisher war das zwar noch nie mit der Absicht geschehen eine<br />
Expedition durchzuführen – das war selbst für Shan neu -, aber den ein<br />
oder anderen unplanmäßigen Ausflug, hatte Shan bereits unternommen.<br />
Meistens, hatten ihre Eltern davon nichts mitbekommen. Sie wollte nun<br />
einmal das Universum mit ihren eigenen Augen sehen, und zur Erfüllung<br />
dieses Zieles nahm sie die typischen und irgendwie unreifen<br />
Verhaltensmuster eines Teenagers gerne in Kauf.<br />
Im Grunde genommen sprach sich ihr Vater auch gar nicht so sehr<br />
dagegen aus, dass sie kleinere Ausflüge mit seinem Schiff unternahm.<br />
Sie konnte schließlich damit umgehen. Zumindest hatte sie das bisher<br />
geglaubt. Jedenfalls war ihrem Vater irgendwann aufgefallen, dass Shan<br />
Interesse an kleineren Ausflügen hatte, und die Pax war zwar ein altes<br />
und nicht besonders schnelles, aber immerhin robustes Schiff. Die Pax<br />
hätte Matt immer in einem Stück nach Hause gebracht, hatte er gesagt,<br />
und dasselbe, würde sie auch für Shan tun. Aber er war nie gewillt sie<br />
alleine losfliegen lassen, verlangte stets, das immer jemand bei ihr war.<br />
Mom, er selbst, oder einer seiner zahlreichen Freunde und ehemaligen<br />
Crewmitglieder. Das war Shan keinesfalls recht. Was sollte das schon<br />
bringen? Auf die Art und Weise behielt und erweiterte sie nie das<br />
bisschen Autonomie, dass sie sich in der Vergangenheit hart erkämpft<br />
hatte.
Jetzt jedoch wäre sie froh gewesen, eine Begleitung bei sich zu haben.<br />
Egal wen. Oder wenigstens jemandem gesagt zu haben, wohin sie fliegen<br />
würde. Aber nein, sie war einfach aufgebrochen, klammheimlich, und<br />
hatte nicht einmal eine Notiz hinterlassen. Warum auch? Der<br />
Ursprüngliche Plan hatte schließlich vorgesehen, dass überhaupt keiner<br />
bemerkte, dass sie Draylon II verlassen hatte. Sie wollte sich jeden Tag<br />
pünktlich bei ihren Eltern melden, vom ach so tollen Strand schwärmen,<br />
dabei ein bisschen schauspielern, und dann, nach fünf Tagen und gegen<br />
Ende der Konferenz, wäre sie wieder wie geplant zurückgewesen. Ihre<br />
Eltern hatten bei all dem Trouble zweifellos dermaßen viel zu tun – wie<br />
üblich -, sodass man Shans kleinen Ausflug vermutlich gar nicht bemerkt<br />
hätte.<br />
Nun, in der Einsamkeit des zerstörten Steuerraums, lies Shan die<br />
Kamera sinken und stieß immer wieder mit dem Hinterkopf an die Wand<br />
an der sie saß, was zwar keinen erkennbaren Sinn ergab, sich aber<br />
irgendwie gut anfühlte. So weit gekommen! Alles für die Katz. Sie hatte<br />
es ohne Zwischenfälle bis nach Frigoria geschafft, Informationen am<br />
Raumhafen eingeholt, war diesem alten Tatterkreis ausgewichten, der<br />
von einem Fluch der über der Stadt liegen und all jene heimsuchen<br />
würde, die sie finden wollten, gebrabbelt hatte, und war in die<br />
vielversprechendste Richtung losgeflogen, dorthin, wo sich alle<br />
Hinweise verdichteten. In die Eishölle. Und dann war einfach dieser<br />
verdammte Schneesturm gekommen und machte ihr alles zunichte. Aber<br />
wer hätte das schon wissen können? Niemand. Aber sie hätte trotzdem<br />
damit rechnen sollen, schalte sie sich. Man sollte eben doch besser auch<br />
das Unerwartete erwarten, das war ihr nun eine Lehre.<br />
Und langsam, während sie so dasaß, durch die gesprungene Scheibe<br />
des Frontfensters zu den Rändern der Gletscherspalte starrte, und die<br />
ganze Tragweite der Situation erfasste, realisierte Shan, in was für einer<br />
misslichen Lage sie sich eigentlich befand. Niemand wusste, wo genau<br />
sie sich befand! Weder ihre Eltern, noch ihre Klassenkameraden, noch<br />
sonst jemand. Selbst wenn es ihren Eltern gelang, Shans Spuren bis nach<br />
Frigoria zurückverfolgen, die Rettungstrupps konnten sie nicht finden.<br />
Der Notrufsender des Shuttles hatte sich im Heck befunden und die<br />
Tatsache, dass es auf dem Grund der tiefsten Gletscherspalte, die Shan<br />
bei ihrer „Notlandung“ hatte finden können lag, half dem Signal, das
ohnehin nicht sehr starken sein würde, ganz gewiss nicht.<br />
Zusätzlich war dieser Bereich des Planeten für seine<br />
elektromagnetischen Störungen bekannt, welche Sensordaten beinahe<br />
vollständig verhinderten, oder zumindest falsche liefern konnten (Was<br />
Shan als Ursache ansah, dafür, dass niemand die Stadt je gefunden<br />
hatte). Und wenn die Rettungsmannschaften das Gebiet überflogen?<br />
Auch dann würden sie das Schiff nicht finden. Ob es nun dreißig, oder<br />
dreihundert Meter tief unter der Oberfläche liegen mochte - es war auf<br />
jeden Fall zu tief, um von einem Schiff aus beim bloßen Überflug<br />
entdeckt zu werden. Oder von einem vorbeikommenden Fahrzeug. Aber<br />
es würde ohnehin keins vorbeikommen. Der Raumhafen befand sich<br />
kilometerweit weg.<br />
Nein, dachte Shan. Niemand würde sie finden. Die Bergungstrupps<br />
würden tagelang suchen und irgendwann einfach aufgeben. Und dann<br />
traf die Erkenntnis Shan wie ein Schlag: Sie war mutterseelenallein hier<br />
unten. Knapp hundert Meter tief in einer eiskalten Gletscherspalte,<br />
mitten im Nirgendwo über das ein Schneesturm hinwegbrüllte,<br />
meilenweit entfernt vom nächsten Raumhafen. Und sie begriff mit einem<br />
Frösteln, dass, wenn sie nicht rein zufällig gefunden wurde, dies hier ihr<br />
Grab werden würde.<br />
Natürlich wurde sie nicht zufällig gefunden. Diese Vorstellung war<br />
völlig illusorisch. Das Glas ihres Chronometers am Handgelenk war<br />
zertrümmert; Shan wusste nicht, wie lange sie nun schon in der Pax<br />
ausharrte und auf Rettung wartete, aber es war nun dunkler als am<br />
Anfang. Die Lücke im Eis über ihr war nicht mehr so hell. Auch der<br />
Sturm hatte nachgelassen und heulte nicht mehr so laut wie vorher.<br />
Entweder hatte es einen merkwürdigen Wetterumschwung gegeben, oder<br />
die zwei Sonnen standen tief am Horizont. Das würde bedeuten, dass sie<br />
bereits seit einer ganzen Weile hier unten hockte. Es fühlte sich an wie<br />
ein halbe Ewigkeit.<br />
Die Beine dicht an den Körper angezogen und mit den Armen<br />
umschlungen, hatte Shan die vergangenen Stunden – oder Tage? – in<br />
dieser Position verbracht und sich kaum gerührt, um wertvolle
Körperwärme zu speichern. Währenddessen überlegte sie verzweifelt ihr<br />
weiteres Vorgehen. Aber viel gab es da gar nicht zu überlegen - Sie hatte<br />
sich an die törichte Hoffnung geklammert, dass man sie vielleicht ja<br />
doch auch so finden würde, aber im Grunde wusste sie es natürlich<br />
besser. Es würde nicht geschehen, niemals. Außerdem war Shan mitunter<br />
Tagelang fort, niemand würde sie schon nach ein paar Stunden<br />
vermissen, oder in einer lebensbedrohlichen Situation vermuten.<br />
Nein, sie wusste, dass niemand sie retten würde. Sie hatte es nur noch<br />
nicht wahrhaben wollen, aber nun, nach dem Verstreichen einiger Zeit,<br />
wurde die innere Stimme, die ihr beständig einredete, dass alles gut<br />
werden würde, immer leiser, und eine andere, die ihr mitteilte, dass sie<br />
hier nicht mehr lange verharren konnte, und etwas tun musste, gewann<br />
deutlich an Intensität.<br />
Und lange konnte Shan wirklich nicht mehr einfach so dasitzen. Sie<br />
spürte, wie ihr Körper langsam steif wurde – nicht bloß von dem harten<br />
Aufprall, der sie ganz schön durchgeschüttelt hatte, oder weil sie sich so<br />
klein wie möglich gemacht und kaum bewegt hatte, sondern vor allem<br />
auch, so wurde ihr klar, weil ihr kalt war. Die Wärme war durch das<br />
Loch im Heck aus der Pax entwichen und es wurde immer frischer.<br />
Ihr kam der Gedanke die Maschinen anzulassen. Klar, der Antrieb<br />
hatte sich verabschiedet – und mit ihm die Energiereaktoren. Aber<br />
vielleicht verfügte die Pax noch irgendwo über Notstromgeneratoren. Ihr<br />
Vater hatte schließlich ein wenig am Schiff herumgebastelt. Vielleicht<br />
war er auf solche Präzedenzfälle vorbereitet. Dann würde die Heizung<br />
wieder laufen. Es war einen Versuch wert.<br />
Shan richtete sich umständlich auf, und sofort spürte sie ein Ziehen in<br />
den steifen Gelenken, die sie in den vergangenen Stunden in einer<br />
unbequemen Position hatte verweilen lassen, und die sich nun bei ihr<br />
gebührend dafür bedankten. Sie stöhnte, und umschlang sich für einen<br />
Moment selbst, weil sie unwillkürlich fröstelte. Dann zog sie sich zu<br />
einem Schaltpult hoch und aktivierte die Außenscheinwerfer. Einer<br />
funktionierte noch und reflektierte grell von der Eiswand. Irgendwo<br />
musste also noch ein Energiegenerator sein. Sie aktivierte die<br />
Hauptenergie. Die Leitungen machten ein mahlendes Geräusch, dann ein<br />
Knistern und dann wieder Stille. Die Maschinen blieben aus. Alles blieb<br />
aus. Shan versuchte es erneut. Nichts. Alles war tot. Nur der eine
Außenscheinwerfer brannte, und das nicht einmal stark.<br />
„Grozit!“, fluchte sie und schlug frustriert mit der Handkante gegen<br />
die Schalttafel, die Shans Wutausbruch mit einem elektronischen<br />
Sprotzen quittierte, was auf eine unheimlichen Art und Weise ein sehr<br />
menschliches Geräusch war.<br />
„Ja, ja, schon gut.“<br />
Shan brummte und wandte ihren Blick nach einer Weile zum Fenster.<br />
Sie beschloss, sich die Sache dort draußen einmal näher anzusehen. Sie<br />
bemühte sich um einen sicheren Stand, damit ihre Schuhe nicht<br />
wegrutschten, und griff dann nach der Lehne des Pilotensessels, an der<br />
sie hinaufkletterte, um einen besseren Blick durch das Fenster zu<br />
bekommen. Hoch oben sah sie die Spalte. Shan zog einen verdrossenen<br />
Gesichtsausdruck. Sie war nicht begeistert. Hundert Meter Kletterei,<br />
dachte sie. Schöner Schlammassel.<br />
Sie hatte früher Gymnastikstunden genommen, und sogar an der<br />
Nationalmeisterschaft teilgenommen – auch wenn es nur für<br />
zweiundzwanzigsten Platz gereicht hatte. Aber sie hatte Ausdauer und<br />
traute sich daher einiges zu. Aber das da? Es ging verdammt steil rauf!<br />
Shan konnte ihre Fähigkeiten in dieser Situation absolut nicht<br />
einschätzen; sie war nie geklettert und hatte es eigentlich auch nicht<br />
vorgehabt. Und ganz sicher nicht ohne Netz. Was sollte auch schon<br />
aufregend daran sein, irgendwo eine Felswand oder einen Berg<br />
Hochzukraxeln? Solche Leute hatte Shan nie verstanden. Aber eine<br />
andere Option blieb ihr nicht, wenn sie dort hinauf wollte. Zumindest sah<br />
sie sonst keine Möglichkeit gefunden zu werden. Dennoch bereitete ihr<br />
die Vorstellung, an dieser Wand selbstmörderisch hochzuklettern, alles<br />
andere als Vergnügen. Eher Sorge. Große Sorge.<br />
Ein falscher Griff...<br />
Und selbst wenn sie es schaffen würde, hier herauszukommen und sich<br />
nicht den Hals zu brechen, was dann? Sie hatte keinen Scanner mehr,<br />
keine Karte, kein Kommunikationsgerät. Keine Ausrüstung – die lag<br />
zusammen mit dem anderen Teil des Schiffes und ihrem Gepäck auf dem<br />
Grund der Spalte. Sie wusste ja nicht einmal, in welcher Richtung es zu<br />
dem Raumhafen ging. Na immerhin hatte sie einen rot leuchtenden<br />
Parker an, der noch aus einiger Entfernung zu sehen sein würde, und sie<br />
fand vielleicht irgendwo im Schiff noch Ausrüstung.
Shan kletterte wieder von der Frontscheibe weg. Sie setzte sich<br />
vorsichtig auf den Boden, rutschte noch etwas weiter nach links und lies<br />
sich dann zur Rückwand hinabgleiten, ganz vorsichtig, um nicht durch<br />
die weit offene Tür zum Heckbereich zu schliddern und durch das<br />
klaffende Loch in die Tiefe zu stürzten. Ihre Rutschpartie bremste sie mit<br />
den Schuhen ab – dabei knirschten kleine Glasstücke unter ihr. Dann<br />
richtete sie sich auf und kletterte zu der Tür, die zum Lagerschrank des<br />
Cockpits führte. Ohne Energie würde der Öffnungsmechanismus nicht<br />
reagieren. Shan tastete stattdessen in dem Dämmlicht der Gletscherspalte<br />
nach dem Hebel für die manuelle Öffnung und legte ihn um, aber die Tür<br />
öffnete sich nur einen Spaltweit. Mehr nicht. Sie war leicht verbogen.<br />
Beim Aufprall mussten gewaltige Kräfte gewirkt haben, die den<br />
gesamten Raumrahmen zerdrückt hatten. Shan bekam die Tür so nicht<br />
auf.<br />
Also streckte sie kurzerhand ihre Hände durch die Spalte und<br />
versuchte die Türhälften selbst aufzustemmen. Nichts rührte sich. Aber<br />
so schnell gab sich Shan nicht geschlagen. Sie biss die Zähne zusammen<br />
und setzte ihre ganze Kraft ein, alles, was sie mobilisieren konnte. Ihr<br />
Arm protestierte heftig dagegen, indem er einen weißglühenden Schmerz<br />
genüsslich ihre Schulter hinaufbewegen ließ.<br />
Shan ignorierte auch das und drückte weiter, wütend auf die dämliche<br />
Tür, den blöden Arm und den verfluchten Schlammassel, in den sie sich<br />
gebracht hatte! Sie versuchte und versuchte, dachte nicht einmal ans<br />
Aufgeben, und stellte eine beeindruckende Beharrlichkeit zur Schau, die<br />
sie vermutlich selbst verwundert hätte, wenn sie einen Gedanken daran<br />
hätte erübrigen können. Stattdessen drückte, und drückte Shan. Fast eine<br />
Minute lang versuchte sie auf diese Weise die Tür unter größter<br />
Kraftanstrengung aufzuhebeln, ehe sich endlich etwas tat. Mit einem<br />
resignierten Kreischen sprang die Tür schließlich auf und Shan wäre um<br />
ein Haar in den Schrank gefallen. Sie hielt sich gerade so am Türrahmen<br />
fest und keuchte schwer. Wenigstens war ihr bei dieser Aktion warm<br />
geworden - Immerhin etwas. Die Sache schien die Mühe aber kaum wert<br />
gewesen sein. Als sie in den Schrank hineinspäte, bot er sich leer dar.<br />
Kein Proviant, kein Wasser, keine Kletterausrüstung. Keine<br />
Thermodecken, kein Miniheizer, keine Antigravitationsstiefel, kein Zelt<br />
und auch kein Phaser.
Gar nichts.<br />
Shan holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Sie blieb ruhig,<br />
unterdrückte die aufkeimende Verzweiflung. Sie überlegte, was sie<br />
machen konnte, sah wieder zum Fenster und den zerklüfteten Wänden<br />
der Gletscherspalte. Ohne Seil und Steigeisen kam sie nicht nach oben.<br />
Was konnte sie stattdessen nehmen? Unter dem Sitz befand sich eine<br />
Werkzeugkiste mit selbstdichtenden Schaftbolzen und Duraniumnägeln.<br />
Die Schaftbolzen waren überflüssig, aber die Nägel konnte sie vielleicht<br />
durch die Schuhsolen drücken und dann hochklettern. Und was könnte<br />
sie als Seil nehmen? Vielleicht etwas von dem Stoff des Sitzes? Das<br />
könnte gehen.<br />
Sie begann methodisch ihre Kleider und alles, was sie bei sich trug, zu<br />
untersuchen. Manchmal, das wusste sie, erwiesen sich die banalsten<br />
Dinge in bestimmten Situationen als überaus nützlich. Leider war dies<br />
keine von diesen bestimmten Situationen. Und dann sah sie in der<br />
Dunkelheit der Kammer etwas aufblitzen, als das Licht in einem ganz<br />
bestimmten Winkel hineinfiel. Eine Klinge. Eine Schwertklinge. Shan<br />
runzelte die Stirn.<br />
Dad’s Schwert, erkannte sie.<br />
Es gehörte zu seiner weißschwarzen Galauniform und hatte es bei<br />
diversen Gelegenheiten und offiziellen Anlässen am Gürtel getragen, zur<br />
Zierde und als Symbol. Früher hatte er damit wohl gekämpft, sogar die<br />
Grez’An besiegt, wenn man den Geschichten glauben konnte. Und dort<br />
sah Shan auch die Galauniform zusammengefaltet liegen.<br />
Natürlich. Dad musste sie mit eingepackt haben, nur für den Fall. Er<br />
hatte früher einmal versucht ihr den Umgang damit beizubringen, aber<br />
sie hatte kein Interesse gezeigt und müde gegähnt. Er war ziemlich<br />
enttäuscht gewesen. Aber was sollte man mit einem Schwert auch schon<br />
großartiges anstellen? Eine unpräzise und unsaubere Waffe, wirklich<br />
höchstens zur Zierde an einer Uniform geeignet und da sie nicht<br />
vorhatte, irgendwann in ihrem Leben eine Uniform zu tragen, sah Shan<br />
absolut keine Verwendung dafür. Sollte sie sich einmal verteidigen<br />
müssen, würde sie - wenn überhaupt - den Phaser vorziehen. Der machte<br />
wenigstens nicht solch fiese Wunden. Aber im Moment konnte ihr das<br />
Schwert vielleicht mehr nützen. Als Kletterwerkzeug. Möglicherweise<br />
konnte sie das Ding in den Schnee rammen und zum Klettern benutzen.
Ja, das könnte gehen.<br />
Sie griff in den Schrank und zog die Waffe hinaus. Es war gar nicht so<br />
schwer wie befürchtet, lag sogar recht gut in der Hand. Na ja. Komisches<br />
Ding. Das war also das einzige, was sie hatte. Ein Schwert und eine<br />
Galauniform, die ihr nicht passen würde. Keine Ausrüstung und eine<br />
riesige Wand zu erklettern. Schlimmer konnte es kaum noch kommen.<br />
Wenigstens, so dachte Shan, befindet sich das Shuttle in einer stabilen<br />
Position.<br />
In dem Moment hörte sie das Ächzen. Und in der nächsten Sekunde<br />
splitterte ein Teil des Felsens, der bisher das Gewicht des Schiffes<br />
getragen hatte, aus der Wand, und die Pax fiel.<br />
Das Schiff sackte mit einem Schlag fünfzig Zentimeter ab. Es jagte<br />
Shan einen fürchterlichen Schrecken ein! Der Boden unter ihr kippte zur<br />
Seite, sie verlor das Gleichgewicht und prallte gegen die Seitenwand.<br />
Dann verkeilte sich das Schiff wieder in der Spalte; die Landekufen an<br />
der einen, das Dach an der anderen Wand.<br />
Und dieses Knirschen!<br />
Dieses fürchterliche Knirschen! Es drang ihr durch Mark und Bein.<br />
Shan spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen und kalter Schweiß brach ihr<br />
aus. Sie wagte es kaum, von der absurden Angst erfüllt, dass selbst diese<br />
Bewegung zuviel sein konnte, den Kopf zu heben. Und sie wusste<br />
plötzlich: es konnte sehr wohl schlimmer kommen!<br />
Es war schlimmer gekommen! Das Shuttle lag jetzt zwar wieder in der<br />
Waagerechten, aber dafür schief. Es hatte aufgehört zu zittern, aber jede<br />
noch so kleine Bewegung von Shan ließ den Rumpf erneut dröhnen und<br />
ächzen, und Shan konnte regelrecht hören, wie die Felsen, die das Schiff<br />
jetzt trugen, unter seinem gewaltigen Gewicht zu kapitulieren begannen.<br />
Irgendwo hörte sie Schnee rieseln, dann ein Ächzen, dann ein Knacken,<br />
dann wieder das Rieseln.<br />
Warum war die Pax abgesackt? Warum jetzt auf einmal, warum<br />
ausgerechnet in diesem Moment? Es konnte nur daran liegen, dass sich<br />
Shan bewegt hatte. Sie war herumgelaufen. Das musste zuviel gewesen<br />
sein. Sofort verfluchte sie sich dafür. Warum war sie nicht einfach sitzen
geblieben? Einen Moment lang wollte sich Shan einfach nur wieder an<br />
die Wand lehnen und die Knie anziehen.<br />
Ja.<br />
Ja, das war eine gute Idee! Sogar eine ganz hervorragende Idee! Je<br />
mehr sie darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien sie ihr. Wenn sie<br />
sich nicht mehr bewegte, dann würde das Shuttle sich auch nicht mehr<br />
bewegen und zur Ruhe kommen. Dann würde ihr nichts geschehen.<br />
Außerdem war es hier im Schiff immer noch viel sicherer als an einer<br />
Eiswand zu klettern. Selbst wenn das Shuttle wieder absackte, nach<br />
unten hin wurde der Spalt enger. Das Schiff passte gar nicht hindurch,<br />
der Sturz würde also gebremst werden. Es war vermutlich besser wenn<br />
sie einfach blieb, wo sie war. Ja genau. Rettung würde kommen. Sie<br />
musste nur durchhalten. Ihre Eltern würden sie schon finden. Ganz<br />
bestimmt sogar. Es würde alles gut werden, wenn sie sich jetzt nur ruhig<br />
verhielt. Andererseits...<br />
Shan seufzte. Irgendwie wusste sie, dass sie sich gerade nur etwas<br />
vormachte. Und die Wand – na ja. Sie konnte es ja mal versuchen, oder?<br />
Die Möglichkeit wieder ins Schiff zu gehen, würde ihr schließlich nicht<br />
genommen werden.<br />
„Also gut.“, murmelte sie und richtete sich vorsichtig wieder auf. „So<br />
habe ich mir das zwar nicht vorgestellt, aber na schön.“<br />
Sie hatte das Schwert vor Schreck fallen gelassen. Es war scheppernd<br />
neben sie gerutscht, als ob es im Anbetracht der Notlage ein Bedürfnis<br />
nach Gesellschaft verspürt hätte. Shan hob es langsam, ganz langsam,<br />
mit sehr vorsichtigen Bewegungen vom Boden auf und steckte das<br />
Schwert langsam an ihren Gürtel. Dann kam sie auf die Beine und<br />
versuchte anschließend mit kleinen, schlurfenden Schritten zur Tür zu<br />
gelangen. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie neben dem<br />
Seitenfenster Schnee herabrieselte.<br />
Das Dach ächzte.<br />
Shan war angespannt, ihre Beine fühlten sich auf einmal an, wie<br />
Gummi. Mit dem Mut der Verzweiflung trat sie vorsichtig durch die Tür<br />
und ging den kurzen Gang entlang, auf das gähnende Loch im Heck zu.<br />
Ein kalter, zerrender Wind schlug ihr entgegen und ließ sie frösteln. Von<br />
hier aus kam sie nicht einfach an die Wand heran. Sie musste springen.<br />
Aber sie konnte es schaffen. Es war nicht unmöglich. Das versuchte sie
sich zumindest einzureden. Auf diese Weise schützte sie sich vor der<br />
absoluten Verzweiflung.<br />
Sie atmete tief ein. Auch wenn ihre Überlebenschance gering war, sie<br />
hatte immerhin eine Chance. Eine Chance. Darauf konzentrierte sie sich.<br />
Ihre vor Kälte und vor Angst zitternde Hand tastete nach einer<br />
Metallstrebe und Shan lehnte sich ganz vorsichtig nach draußen. Sie sah<br />
hinab in den Abgrund und sofort überkam sie Schwindel und gewaltige<br />
Zweifel. Sie zog sich schnell wieder in das Schiffsinnere zurück. Nein!<br />
Nein, nein. Shan hatte es sich anders überlegt. Da würde sie nicht<br />
rausgehen!<br />
Niemals.<br />
Unter gar keinen Umständen. Sie drehte sich auf dem Absatz zurück,<br />
um ins Schiff zu gehen, dorthin, wo sie hergekommen war. Zurück an<br />
die Wand, an die sie gehörte!<br />
Dann ertönte das fürchterliche Knacken und Knallen und Shan<br />
reagierte ganz instinktiv in dem sie herumwirbelte und mit einem<br />
gewaltigen Satz einfach nach draußen sprang. Sie tat es, ohne überhaupt<br />
bewusst diese Entscheidung getroffen zu haben, geschweige denn damit<br />
einverstanden zu sein.<br />
Als das Schiff zu stürzen begann, sprang sie mit ausgebreiteten Armen<br />
nach der Wand zu ihrer Linken und klammerte sich fest. Shan prallte<br />
unsanft gegen das Eis, schnitt sich Wange und Hände auf. Unter ihr<br />
stürzte das Schiff in die Tiefe, unheimlich lautlos.<br />
Es wurde kleiner ... kleiner ... kleiner ... verschwand in der Dunkelheit,<br />
und dann, nach einigen endlos erscheinenden Sekunden der Stille,<br />
erfolgte ein markerschütterndes Krachen und Splittern vom Grund der<br />
Gletscherspalte. Starr vor Schrecken hing Shan fast eine Minute lang<br />
reglos im Eis und zitterte fürchterlich, ehe sie sich traute nach unten zu<br />
sehen.<br />
Selbst in dem schummrig trüben Licht, das nicht viel erkennen ließ,<br />
war der Anblick furchtbar. Das Schiff war tief gefallen, bis die Spalte<br />
erneut zu eng geworden war, den Sturz gebremst und die Pax durch die<br />
Wucht des Aufpralls wie eine Konservendose zerdrückt hatte. Die Reste<br />
des geborstenen Schiffes waren dann auf dem Grund aufgeschlagen und<br />
zersplittert. Hätte Shan auch nur einen einzigen Moment länger<br />
gewartet...
Es hätte ihren sicheren Tod bedeutet. Sie blinzelte, als ihr diese<br />
erschütternde Erkenntnis bewusst wurde. Das Schiff hatte kontinuierlich<br />
seinen Halt verloren, als die Felsen unter dem enormen Gewicht Stück<br />
für Stück nachgegeben hatten, und sie hatte da drin gehockt, gejammert<br />
und das alles lieber verdrängt, als sich der Situation zu stellen. Sie war<br />
drauf und dran gewesen, sich etwas einzureden, und das wäre ihr<br />
Untergang gewesen. Diese Erkenntnis sollte sie für alle Ewigkeiten<br />
wachrütteln und sie fasste einen Entschluss, der für den Rest ihres<br />
Lebens ihr Credo werden sollte: Heul nicht rum. Beklag dich nicht.<br />
Wenn du zögerst, verlierst du wertvolle Zeit. Du musst es ja doch<br />
machen, also mach es gleich und mach es richtig!<br />
Nun stieg Rauch von den Trümmern auf. Shan verspürte ein Gefühl<br />
tiefer Trauer und Verzweiflung. Das Schiff hatte ihr eine ganze Menge<br />
bedeutet, mehr, als ihr bis zu diesem Moment bewusst war. Die Pax hatte<br />
nicht ihr gehört - nicht im herkömmlichen Sinne -, aber irgendwie ... sie<br />
hatte genau in diesem Schiff das Licht der Welt erblickt, und mit ihr das<br />
Universum gesehen. Zumindest einen kleinen Teil davon. Ihre ganze<br />
Autonomie war stets in der Benutzung dieses Schiffes begründet<br />
gewesen. Nun war das Schiff fort, auf dem Grund einer Gletscherspalte<br />
zerschellt, und es war ihre Schuld.<br />
Dad bringt mich um, wenn er das sieht, dachte Shan bitter und verzog<br />
das Gesicht, als sie sich die Standpauke vorstellte, die sie zweifellos zu<br />
erwarten hatte, würde sie jemals wieder hier hinauskommen. Das würde<br />
nicht schön werden. Andererseits, hätte sie nun einfach alles dafür<br />
gegeben, ihren zweifellos wütenden Eltern zu begegnen, anstatt hier im<br />
Eis zu hängen. Ja... ja genau. Das war es, den einen Hoffnungsfunken,<br />
den se brauchte! Deswegen durfte Shan jetzt nicht aufgeben. Sie musste<br />
sich ihre Standpauke abholen! Und sie würde sich ihre Standpauke<br />
abholen. Sie würde sich nicht aus der Verantwortung ziehen und sterben.<br />
Sie hatte mist gebaut, und dafür würde sie geradestehen.<br />
Shan starrte noch einige Sekunden lang auf das bis zur<br />
Unkenntlichkeit zertrümmerte Etwas herab, das vor wenigen Minuten<br />
noch das Schiff ihres Vaters gewesen war, und dann machte sie sich an<br />
den langen, beschwerlichen Weg nach oben. Schon bald sank ihre<br />
Zuversicht wieder. Shan war schon das ein oder andere Mal in einer<br />
verzweifelten Lage gewesen, aber niemals in einer wie dieser hier. Sie
hing mit blutigen Händen und einem höllisch schmerzenden rechten Arm<br />
in hundert Metern Höhe an einer Eiswand, die sich beinahe senkrecht<br />
ungefähr weitere hundert Meter über ihr erhob, und selbst wenn sie das<br />
Unmögliche schaffte, und irgendwie dort hinaufkam, dann lag etwas<br />
noch unmöglicheres vor ihr – nämlich verletzt und mit nichts anderes als<br />
einer Jacke und Hose bekleidet, ohne Karte, ohne Proviant und Scanner,<br />
einen Weg durch die ewige Eiswüste von Frigoria zu finden. Und<br />
dennoch – sie gab nicht auf. Heul nicht rum. Beklag dich nicht. Ihr neues<br />
Credo. Daran dachte sie nun. Außerdem wollte sie ihre Standpauke. Sie<br />
hatte eine verdient und sie würde auch eine bekommen, verdammt noch<br />
mal!<br />
Shan brauchte mehr als drei Stunden für die knapp hundert Meter und<br />
sie schaffte es auch nur, weil sich die Wand als zerklüfteter erwies, als<br />
zunächst angenommen. Ihre Hände hatten schon nach Minuten<br />
unerträglich zu schmerzen begonnen – überhaupt schien es keine Stelle<br />
an ihrem Körper mehr zu geben, die nicht brannte, pochte, stach, oder<br />
auf eine andere vorstellbare (und auch unvorstellbare) Art und Weise<br />
weh tat -, und die Kälte und der heulende Wind taten ihr bestes, um ihre<br />
Muskeln hart wie Holz werden zu lassen, und jedes bisschen Kraft aus<br />
ihr herauszuprügeln. Das Klettern an der Wand aus Eis erwies sich im<br />
Grunde als überraschend einfach und hätte ihr in jeder anderen Situation<br />
vielleicht sogar Spaß gemacht. Das einzige, was ihr wirklich Probleme<br />
beim Klettern bereitete, war ihr Schuhwerk – mit den glatten Sohlen<br />
rutschte sie ständig ab. In diesen Momenten war sie gezwungen, ihr<br />
gesamtes Körpergewicht auf ihre Hände zu verlagern, was unheimlich<br />
weh tat.<br />
Was hätte sie nun alles für Kletterschuhe gegeben. Sie schwor sich,<br />
das Haus nie wieder ohne richtige Stiefel zu verlassen! Wenigstens fand<br />
sie immer wieder einen Vorsprung, eine Spalte oder einen Grat, auf dem<br />
sie sich niederlassen und für einige Minuten ausruhen konnte. Aber die<br />
Etappen zwischen diesen Pausen wurden immer kürzer und die Pausen<br />
immer länger, so dass sie auf dem letzten Viertel des Weges immer nur<br />
vier, fünf Meter weit stieg, ehe sie sich irgendwo verkantete und<br />
versuchte, ihrem Körper die so dringend notwendige Rast zu gönnen,<br />
ohne dabei einzuschlafen, was ihren sicheren Tod bedeutet hätte.<br />
Die letzten zehn Meter legte sie in einem Zustand zwischen Wachsein
und Bewusstlosigkeit zurück, in dem sie zu keinem bewussten Gedanken<br />
mehr fähig war. Ihre blutigen Hände hinterließen eine grausige Spur an<br />
der Wand, aber Schmerz und Kälte waren seltsam irreal geworden. Shan<br />
fühlte sich leicht und irgendwie schwebend, und unter der tödlichen<br />
Kälte, die ihre Hände und die Muskeln zu Eis erstarren ließ, erwachte<br />
etwas, das wie Wärme war, aber verlockender und wohltuender. Sie<br />
wusste, was es war. Die Behauptung, dass Erfrieren im letzten Stadium<br />
ein sehr angenehmer Tod sein sollte, schien zu stimmen. Aber sie wollte<br />
nicht sterben. Nicht hier und nicht so, und auch nicht, bevor sie … etwas<br />
Bestimmtes getan hatte. Sie erinnerte sich nicht mehr genau, was es war.<br />
Im Nebel ihrer Gedanken tauchte ein Gesicht auf. Dann ein dazu<br />
passender Name. Der Name: Dad. War das überhaupt ein Name? Sie<br />
erinnerte sich nicht einmal, was das Wort zu bedeuten hatte. Sie konnte<br />
nicht mehr denken. Selbst ihre Gedanken schienen zu Eis zu erstarren.<br />
Monoton zog sie ihren Körper in die Höhe, streckte den Arm aus, bis<br />
sie irgendwo Halt fand, dann den anderen, immer weiter und weiter, wie<br />
eine Maschine, die nur zu diesem Zweck konstruiert und zu nichts<br />
anderem in der Lage war. Mom, Dad … Sie hatte vergessen, wem diese<br />
Namen gehörten und was sie bedeuteten. Aber sie waren wichtig. Sie<br />
waren der Grund, weswegen Shan noch lebte und weiterkletterte. Und<br />
die Standpauke nicht zu vergessen! Die Standpauke. Was immer das<br />
auch sein sollte, es war ihr ebenfalls wichtig.<br />
Irgendwann nach zehn oder auch hundert Millionen Jahren griffen ihre<br />
tastenden, erstarrten Hände ins Leere, und weitere zehntausend Jahre<br />
danach, zog sie ihren nutzlosen, tonnenschweren Körper über den Rand<br />
der Gletscherspalte, brach zusammen und verlor endgültig das<br />
Bewusstsein.<br />
Eishölle - Zweiter Tag<br />
Sie spürte Kälte und Feuchtigkeit. Etwas raues fuhr ihr übers Gesicht,<br />
wie Schleifpapier. Ein schmatzendes Geräusch. Es war furchtbar weit<br />
weg, als ob es jemand anderem passieren würde und irgendwie<br />
interessierte es sie auch gar nicht mehr. Sie versuchte einen Moment lang
gegen die tödliche Wärme anzukämpfen, die in ihrem Innern zunahm, so<br />
verlockend und einlullend, dass sie keine Kraft mehr besaß, es<br />
zurückzudrängen. Sie spürte, dass es der Tod war. Der Moment ihres<br />
Wiederstandes ging schnell vorbei. Es war in Ordnung. Sie wollte jetzt<br />
zur Wärme. Dann spürte sie noch einmal dieses Raue auf ihrer Wange.<br />
Es zerrte sie zurück in die Realität, wo sie ganz und gar nicht hinwollte.<br />
Die grauen Schleier begann die Schwärze vor ihrem Blick aufzulösen.<br />
Shan hustete. Etwas tropfte ihr auf den Hals. Sie roch etwas komisches.<br />
Süßlich. Sie hörte tiefes Schnauben. Dann spürte sie wieder das raue<br />
Scheuern, es begann an ihrem Hals und wanderte die Wange hoch.<br />
Irgendwie fand Shan die Kraft den Kopf zu heben und die Augen zu<br />
öffnen. Sie wäre nicht erstaunt gewesen, hätte sie in das Gesicht eines<br />
Skeletts im schwarzen Umhang geblickt, das über ihr stand und sich auf<br />
seine Sense stützte. Stattdessen starrte sie in das Gesicht eines Pferdes.<br />
Das große, runde Auge des Tieres starrte mit sanftem Liedschlag auf sie<br />
herab. Es leckte ihre Wange ab und die Berührung fühlte sich beinahe<br />
angenehm an. Shan lächelte. Die grauen Schleier vor ihrem Blick<br />
lichteten sich weiter und-<br />
Es war kein Pferd.<br />
Shan sprang auf. „Bei den Sternen!“<br />
Ihre plötzliche Bewegung ängstigte das merkwürdige Tier. Es<br />
schnaubte erschrocken und trottete sich langsam von ihr weg. Shan<br />
bereute ihre Bewegung sofort, als sich die gesamte Welt um sie zu<br />
drehen begann. Sie ächzte und versuchte sich aufzurichten, was gar nicht<br />
so einfach war, da sie sich kaum bewegen konnte. Ihr ganzer Körper<br />
fühlte sich taub an und das einzige, was sie spürte – wenn sie etwas<br />
spürte -, waren Schmerzen. Ihr rechter Arm schmerzte jetzt unerträglich<br />
und ihr Gesicht fühlte sich an, als hätte jemand versucht, ihr die Haut in<br />
Streifen herunterzuziehen. Noch schlimmer waren die Hände, die<br />
scheinbar in Flammen standen.<br />
Und ihre Beine zitterten. In ihren Ohren dröhnte der Wind und sie<br />
hatte rasende Kopfschmerzen. Aber ihr Sehvermögen kehrte langsam<br />
wieder komplett zurück und Shan sah sich nach dem Tier um, dass sie<br />
geweckt und vermutlich vor dem sicheren Erfrierungstod bewahrt hatte.<br />
Es trottete ein Stückchen die Gletscherspäte entlang und drehte sich dann<br />
noch einmal zu ihr um, um Shan vorwurfsvoll anzusehen. Aber jetzt
konnte sie es richtig sehen: ein kleiner Kopf, dicker Hals, schwerfälliger<br />
Körper, der mit zotteligem, weißem Fell bedeckt war. Es hatte nur ein<br />
Auge, zwei Fangzähne neben dem breiten Maul und große Ohren mit<br />
denen es regelmäßig flatterte.<br />
Shan blinzelte. Verwirrt und benommen suchte sie in ihrem<br />
Gedächtnis nach dem Namen des Tiers, aber sie kannte keinen. Sie<br />
kannte das ganze Tier nicht. Und obwohl es geradezu lachhaft<br />
abscheulich aussah, übte es auf groteske Art und Weise eine gewisse<br />
Faszination auf Shan aus. Vielleicht war sie die erste, die so ein Wesen<br />
je zu Gesicht bekommen hatte. Der Gedanke gefiel ihr.<br />
Shan sah an ihrer Jacke hinunter und bemerkte den schaumigen<br />
Speichel, der ihr vom Hals herunterlief. Das Tier hatte sie besabbert. Sie<br />
berührte den Speichel mit den Fingern - Shan empfand bei solchen<br />
Dingen keinen Ekel. Fühlte sich warm an. Sie starrte wieder das Tier an.<br />
Es bewegte sich gemächlich und vermittelte einen sanftmütigen,<br />
reichlich dummen Eindruck.<br />
Ist wahrscheinlich auch dumm, dachte Shan. Einige Meter von ihr<br />
entfernt blieb das Tier stehen, drehte sich zu ihr um und musterte ihre<br />
neue, jetzt aufrechte Erscheinung. Als Shan sich nicht bewegte, verlor<br />
das Tier wieder das Interesse und trottete weiter. Sie sah dem Wesen ein<br />
paar Sekunden nach und dann verschaffte sie sich einen Überblick über<br />
die Umgebung, um zu einer Einschätzung ihrer Situation zu gelangen.<br />
Dazu drehte sich Shan einmal um die eigene Achse und versuchte ihre<br />
wachsende Verzweiflung zu verbergen. Um sie herum ragte das extrem<br />
verbogene Gebirge der Eishölle in die Höhe und sie sah auf den ersten<br />
Blick, dass die Wetterverhältnisse dort noch ein wenig schlechter waren<br />
als im Bereich der Ebene in der sie abgestürzt war. Hier wie dort<br />
herrschten extrem niedrige Temperaturen. Der Schnee schmolz so gut<br />
wie nie, bildete immer dickere Schichten unter denen sich tückische<br />
Felsspalten verbargen.<br />
Trostlos, dachte Shan. Hier lebt höchstens Santas böser Bruder. In der<br />
Ebene zwischen dem Gebirge, wo sie sich befand, erstreckte sich die<br />
zerklüftete Eiswüste nach allen Seiten, so weit, dass sie in der Ferne in<br />
die grauen, dunklen Berge überzugehen schienen. Nichts als Weiß,<br />
endlos, ewig, schrecklich. Weiß und mörderisch kalt. Zum Glück hatte<br />
der Sturm aufgehört und es schneite im Moment auch nicht. Aber immer
wieder zuckten Blitze aus dem finsteren Himmel herab, die dunklen,<br />
drohenden Wolken hingen tief und wirkten wie Ungeheuer.<br />
Und Shan war mittendrin.<br />
Allein.<br />
Ohne Essen, Wasser, oder einen Notrufsender. In einer dunklen,<br />
schneebedeckten Berglandschaft. Sie wusste nicht, was zu tun war.<br />
Patience Shan Bartez befand sich in Schwierigkeiten. Großen<br />
Schwierigkeiten.<br />
Die Art, die einen umbrachte.<br />
Shan blickte zum dunklen Himmel hoch, aber die beiden Sonnen von<br />
Frigoria blieben hinter der bedrohlichen Wolkendecke verborgen.<br />
Dennoch glaubte sie zu wissen, wo sie ungefähr standen, da es an den<br />
entsprechenden Stellen ein klein wenig Heller hinter den Wolken war.<br />
Aber gingen die beiden Sterne gerade unter oder auf? Und in welche<br />
Richtung standen die Sonnen hier eigentlich? Sie runzelte die Stirn. Shan<br />
war sich nicht sicher und durfte jetzt keine Fehler machen. Nicht noch<br />
mehr als ohnehin schon. Dieser eine Berg dort rechts, der mit den<br />
gezackten Felsen an der Spitze, die so aussahen, als ob er eine Krone<br />
trüge – er kam ihr bekannt vor.<br />
Bei dem Absturz, hatte sie durch den Sturm kaum etwas gesehen, aber<br />
sie war sich ziemlich sicher, dass sie während dem Sinkflug mit der Pax<br />
erschreckend dicht über genau diesem Berg hinweggesaust war. Sie hatte<br />
noch befürchtet, dass sie mit seinen spitzen Felsen kollidieren, oder<br />
zumindest, dass sie die Unterseite der Pax aufschlitzen würden. Dann<br />
war er plötzlich unter ihr verschwunden, während nur wenige<br />
Augenblicke später der Boden auf sie zugesprungen war. Der<br />
Aufprallwinkel stimmte auch ungefähr. Und Shan wusste sehr genau,<br />
dass irgendwo in dem Tal weit hinter dem Berg der Raumhafen lag. Von<br />
dort aus war sie entgegen aller Warnungen gestartet und dann einem<br />
geraden Kurs geflogen.<br />
Der Raumhafen.<br />
Da musste sie hin, entschied sie schließlich. Aber das war ein verflucht<br />
langer Marsch. Sie hatte mit der Pax einige Zeit gebraucht, um von dort
is hierher zu gelangen. Zu Fuß würde es Tage dauern. Wochen. Und es<br />
herrschten nicht gerade angenehme Wanderbedingungen. Der Wind<br />
zerrte bereits heftig an ihrer Gestalt und durch die Kälte spürte sie ihre<br />
Finger und Zehenspitzen fast gar nicht mehr. Shan fragte sich, wie um<br />
alles in der Welt sie die Reise bis dort hin durchhalten sollte, ohne, dass<br />
ihr die ein oder anderen Gliedmaßen einfach abfielen.<br />
Sie sah dem schnaufenden Tier nach, wie es langsam durch den<br />
Schnee davon trottete, und ihre Hand tastete nach dem Knauf des<br />
Schwertes, dass ihr plötzlich viel zu groß schien. Einen Moment lang<br />
überlegte Shan, dass Tier zu töten, lies es aber doch bleiben. So<br />
verzweifelt konnte sie gar nicht sein, um ein unschuldiges Lebewesen<br />
auf grausame Art und Weise aufzuschlitzen, nur, damit sie was zu essen<br />
hatte. Das wäre ihm gegenüber unfair, schließlich hatte das Tier sie vor<br />
dem sicheren Tode bewahrt. Und es war sowieso eine ganz fürchterlich<br />
dumme Idee. Ohne Feuer konnte sie ja ohnehin kein Fleisch braten und<br />
Roh würde sie nichts herunterwürgen können.<br />
Ein kalter Wind schlug ihr entgegen. Shan schauderte, zog den Kopf<br />
zwischen die Schultern und begann die lange Wanderung. Schlurfend<br />
und Steif vor Kälte marschierte sie, das Tier hinter sich lassend, auf die<br />
Berge zu.<br />
Nach einer halben Ewigkeit Fußmarsch war Shan furchtbar hungrig<br />
und erschöpft. Inzwischen bereute sie es, das Tier verschont zu haben. In<br />
ihrer Bauchhöhle rumorte es heftig. Sie bekam von ihrem Magen ständig<br />
zu hören, dass er Nahrung brauchte und nach einer ganzen Weile war er<br />
richtig ausfallend geworden, was dieses Thema anging. Nun knurrte er<br />
unentwegt. Es war der einzige Muskel in ihrem Körper, den sie noch<br />
spürte. Alle anderen waren taub.<br />
Unter ihren Schuhen knirschte beständig der Schnee. Ein starker Wind<br />
war aufgekommen, gegen den sie richtig ankämpfen musste. Auf Shans<br />
Gesicht bildeten sich bereits Eiskristalle und überzogen Mundwinkel und<br />
Augenränder.<br />
Gott ist das kalt, dachte sie, als ihr der eisige Wind einen Schwall<br />
Schnee entgegenpeitschte. Der Schneesturm wütete unglaublich heftig.
Und Shan befand sich mitten drin. Sie stapfte mit den Füßen und<br />
versuchte, das Gefühl in sie zurückzubringen, während sie mit<br />
steifgefrorenen Fingern den Scanner aus ihrer Jackentasche fummelte<br />
und aufklappte. Aber es nützte nichts. Er hatte den Geist aufgegeben und<br />
war nun genauso unnütz, wie der Großteil ihres Körpers. Wütend warf<br />
sie ihn in den Schnee und marschierte weiter.<br />
Shan spürte weder ihre Finger, noch ihre Nase und Ohren. Ihr<br />
verletzter, rechter Arm war mittlerweile völlig taub und hing nutzlos an<br />
ihrem Körper herunter, als würde es sich um einen Fremdkörper handeln.<br />
Es war zum verzweifeln. Sie stand kurz vor dem Erfrieren, hatte keine<br />
Ahnung, was sie tun sollte und Rettung würde wohl keine kommen.<br />
Aber Shan wollte nicht den Mut verlieren. Im Geiste wiederholte sie<br />
immer wieder ihr neues Credo, konzentrierte all ihre Energie auf das<br />
weitermarschieren. Einfach weitermarschieren. Dennoch hatte sie das<br />
Gefühl, keinen Meter weiter zu kommen. Es kam ihr so vor, als stünde<br />
sie auf einem Laufband.<br />
Stunden vergingen. In diesem Land ohne Nacht verlor Shan jedes<br />
Zeitgefühl und da gab es nichts, wonach sie sich hätte richten können –<br />
keine Gebäude, kein Raumhafen, keine Sonnen. Nichts als Schnee und<br />
Eis. Nur die Berge hinderten sie daran, völlig die Orientierung zu<br />
verlieren. Sie kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf den<br />
Berg mit der Krone. Das war ihr Ziel. Den wollte sie erreichen.<br />
Stur stapfte sie weiter und ihre Fußspuren zeichneten sich deutlich<br />
hinter ihr ab, würden aber schon bald zugeweht werden. Als Shan<br />
dorthin zurückblickte, wo sie hergekommen war, kam sie sah sie nichts<br />
als Schnee und grauem Himmel. Sie sah wieder nach vorn. Der Berg mit<br />
der Krone kam ihr in dieser endlosen Kulisse aus weißem Eis und<br />
wolkenbehangenem Himmel klein und unwirklich vor, obwohl er<br />
eigentlich riesig und sehr viel realer hätte sein müssen. Und er kam kein<br />
Stück näher. Kein Stück.
Shan schnaubte und marschierte weiter.<br />
Stunden später marschierte sie noch immer. Sie wusste nicht wie und<br />
warum, aber sie tat es. Es spielte auch gar keine Rolle mehr warum. Ihr<br />
Körper war dazu fähig, also sollte er es tun. Im Grunde war es Shan<br />
inzwischen völlig egal. Sie spürte ihre Beine ja sowieso nicht mehr. Sie<br />
waren nicht mehr länger ein Teil ihres Körpers und deswegen konnten<br />
sie ihretwegen auch tun und lassen, was sie wollten. Von einer<br />
Diskussion mit ihren Gliedmaßen sah Shan ebenfalls ab, da sie zu starke<br />
Antipathien für sie empfand. Weil sie taub waren, weil sie sich von ihr<br />
losgesagt hatten, und weil sie so beträchtlich kurz waren.<br />
Macht nur, dachte Shan pikiert. Wandert ruhig weiter. Es sollte ihr<br />
recht sein. Sie brauchte das nicht, aber wenn ihre Beine sich unbedingt<br />
bewegen wollten – schön. Fein. In Ordnung. Shan gedachte nicht, sie<br />
aufzuhalten.<br />
Blöde Beine!<br />
Die Welt wurde flacher und grauer, verlor fast jede Tiefe. Ein dichter,<br />
weißer Rauch lag in der Luft, man konnte immer schlechter sehen, und<br />
langsam drohte sie schneeblind zu werden. Falls das Wetter anhielt,<br />
würde sie bald nicht einmal mehr erkennen können, wenn eine<br />
Gletscherspalte kam. Dann würde sie vielleicht doch noch mit ihren<br />
Beinen reden und auf der Stelle ausharren müssen, bis sich das Wetter<br />
besserte. Am Rande des Universums.<br />
Der Wind heulte. Shans rote Jacke wurde flach gegen ihren Körper<br />
gedrückt. Das Gehen wurde immer schwerer. Aber sie kämpfte weiter.<br />
Sie wusste nicht, wie lange sie schon durch diese Eishölle latschte -<br />
Millionen, oder Billiarden Jahre, aber sie marschierte.<br />
Der Berg rückte natürlich kein Stück näher. Es kam ihr sogar so vor,<br />
als würde er sich weiter entfernen!?<br />
Er verspottete sie! Ja, ganz bestimmt! Der verdammte Berg verspottete<br />
Shan, indem er vor ihr floh. Das durfte doch einfach nicht wahr sein!
Shan machte ein wütendes Gesicht. Zumindest stellte sie sich das vor,<br />
denn in Wahrheit hatte sie sich schon vor Äonen von Jahren des<br />
Wanderns mit ihrem Gesicht verkracht, da sie auch diesen Teil ihres<br />
Körpers nicht mehr spürte. Wenigstens, so dachte sie, konnte es kaum<br />
schlimmer werden.<br />
In dem Moment wurde es schlimmer. Der Schneesturm, der sie von<br />
hinten überfiel, traf Shan völlig unvorbereitet. Eine eisige dunkle Wand,<br />
von Blitzen durchzuckt und von einem grauenvollen Sturm vorwärts<br />
gepeitscht, prallte gegen sie. Auf einen Schlag sah sie so gut wie gar<br />
nichts mehr. Der soeben noch graue Himmel war plötzlich mit<br />
pechschwarzen Wolken bedeckt und dann verschwand er völlig. Die<br />
Temperatur fiel schlagartig um mehrere gefühlte tausend Grad und<br />
Eisstücke prügelten ihr ins Gesicht.<br />
Und Shan musste kichern. Ein krächzendes Geräusch, das vom<br />
heftigen Wind sofort weggefegt wurde. Sie kicherte, weil ihr nun klar<br />
war, dass sie hier sterben würde.<br />
Eishölle - Dritter Tag<br />
Shan kicherte nicht mehr. Dazu war sie auch gar nicht mehr in der<br />
Lage. Schon der schiere Versuch hätte keinen Sinn gehabt. Ihre<br />
Gesichtsmuskulatur war derart Steif und unbeweglich, dass allein der<br />
Gedanke zu kichern, völlig absurd war.<br />
Während sie weitermarschierte, wirbelte Schnee um, und in ihrem<br />
Kopf herum, der Sturm heulte noch immer und hatte kein bisschen<br />
nachgelassen. Er hatte sich sogar zu einem waschechten Blizzard<br />
gewandelt. Ständig zuckten Blitze, überall Schneegestöber. Shan war<br />
fast völlig blind, hatte keine Ahnung wohin sie ging und ihre Gelenke<br />
bewegten sich so träge und plump, wie die eines altertümlichen<br />
Kampfroboters.<br />
Sie hatte irgendwann fürchterlich zu zittern begonnen, zunächst in<br />
kurzen Schüben und dann fast ununterbrochen, als hätte sie einen<br />
Schüttelkrampf. Nun war ihr Körper ein einziges, wandelndes Zittern.<br />
Sie hatte viel über das Thema Eis gelesen und wusste, was das bedeutete.
Ihre Körpertemperatur war bedrohlich gefallen – sie wunderte sich<br />
ohnehin, dass sie so lange dafür gebraucht hatte – und das Zittern war ein<br />
automatischer, physiologischer Reflex, um den Körper aufzuwärmen.<br />
Dummerweise brachte er nicht viel. Ihr klapperten zwar die Zähne, die<br />
sie gar nicht mehr spürte, und erst recht nicht länger leiden mochte, aber<br />
wärmer wurde ihr dadurch auch nicht. Die Lippen konnte sie ebenfalls<br />
nicht mehr bewegen. Auch die mochte sie inzwischen nicht mehr. Aber<br />
ihr Verstand arbeitete noch, suchte verzweifelt nach irgendeinem<br />
Ausweg aus dieser weißen Hölle... und fand keinen. Vielleicht arbeitete<br />
er doch nicht mehr so richtig. Und Shan überlegte, ob sie ihren Verstand<br />
nicht auch langsam auf die kilometerlangen Liste der Dinge, die sie an<br />
sich hasste, setzen sollte.<br />
Die Zeit verging langsam. Oder gar nicht. Vielleicht verlief sie ja<br />
sogar rückwärts. Shan war sich nicht sicher. Es kam ihr so vor, als ob sie<br />
diese weiße, wirbelnde Masse kleiner, aber enorm schmerzhafter<br />
Eispartikel nun schon seit einer längeren Zeit als der Ewigkeit betrachten<br />
musste. Blitze zuckten, der Wind heulte. Immer das gleiche. Blitze,<br />
heulen. Blitze, heulen. Dazu kam endloses Schneegestöber. Der Sturm<br />
war so dicht und so heftig, dass sie keine zehn Zentimeter weit sah und<br />
sie konnte nicht sagen, wo sie eigentlich war, oder hinmarschierte. Nicht<br />
im geringsten. Die Umgebung kam ihr vor, als existiere das Universum<br />
nur noch in der Größe einer kleinen Schachtel und sie saß mittendrin.<br />
Shan spürte ihren kompletten Körper nicht mehr. Sie spürte nicht<br />
einmal mehr ihre Abneigung zu ihm. Sie spürte gar nichts. Und es war<br />
ihr absolut unbegreiflich, warum ihre Beine dennoch stur<br />
weitermarschierten und nicht einfach durchbrachen. Alles in ihr drängte<br />
danach, sich hinzulegen und endlos zu schlafen. Einfach nur zu schlafen<br />
und nie wieder aufzuwachen. Shans Bewusstsein schwebte gefährlich<br />
zwischen Wachen und Schlafen und eine angenehme Ruhe zerrte an ihr<br />
– Shan hatte sie schon vorher gespürt -, aber noch gab sie sich ihr nicht<br />
hin. Irgendwas in ihr leistete noch immer Widerstand, sagte ihr, dass sie<br />
nicht die Augen schließen, nicht stoppen durfte. Als ihr Geist einen<br />
seltenen, klaren Moment hatte, fragte sie sich, woher sie die Kraft nahm,
fand jedoch keine zufriedenstellende Antwort. Vielleicht war es der<br />
Überlebenswille, obwohl sie das Gefühl hatte, eben diesen schon längst<br />
in den weiten des ewigen Sturmes verloren zu haben.<br />
Und irgendwie wurde ihr in diesem Moment der Klarheit alles egal.<br />
Sie konnte nicht weiter. Ihre Beine schienen das auch endlich zu<br />
begreifen und knickten unvermittelt ein. Shan sank auf die Knie, die<br />
wiederum im Neuschnee versanken. In dieser Position verharrte sie<br />
einige Minuten, ehe sie den Versuch einer weiteren Bewegung<br />
unternahm. Es kostete sie viel Kraft und Konzentration, aber es gelang<br />
ihr schließlich, sich einfach hinzusetzen. Sie zog ihre steifen Beine an,<br />
legte die Stirn auf die Knie ab, die sie mit den Händen umschlang, und<br />
versuchte nicht zu weinen.<br />
Der Wind wurde noch heftiger, kreischte sie jetzt richtig an. Dichter<br />
Schnee wirbelte durch die Luft. Shan blieb sitzen. Sie blieb sitzen und<br />
lies alles über sich ergehen.<br />
Der Blizzard brüllte lauter.<br />
Eishölle - Vierter Tag<br />
Es war nacht. Der Sturm hatte sich gelegt, war zu einer sanften Briese<br />
geworden und schließlich ganz verklungen. Nun war es dunkel in der<br />
Ebene und unheimlich windstill. Nur hin und wieder blitzte es irgendwo<br />
in der Ferne, aber es erklang kein Donner. Auch sonst gab es keine<br />
Geräusche. Shan saß noch immer genau dort, wo sie sich während des<br />
Sturmes niedergelassen hatte und war halb im Schnee versunken.<br />
Genauer gesagt, hatte die neue Schneeschicht sie fast unter sich<br />
begraben. Und Shan rührte sich nicht. Sie vibrierte vielmehr.<br />
Kalt ... so ... kalt.<br />
Eine erschreckende Aura eisiger Kälte umgab sie. Und die Kälte tat<br />
weh. Der Schmerz durchzog ihren bibbernden Körper nun schon seit<br />
geraumer Zeit, war fast zu einem angenehmen Gefühl geworden und<br />
drohte sie allmählich zu lähmen. Im Grunde hatte er das sogar schon<br />
geschafft. Ihr Körper war nur noch ein riesiger, vibrierender Eiskristall,
und sie war sicher, sollte jemand eine Stimmgabel gegen sie schlagen,<br />
würde sie auf der Stelle in tausend kleine Scherben zersplittern.<br />
Aber die Kälte versuchte auch ihren Geist zu lähmen. Und von dem<br />
bestand immerhin noch ein winzig kleiner Teil, der sich noch erfolgreich<br />
wehrte, aber gleichzeitig höllische Schmerzen erlitt. Und trotzdem war<br />
es wahrscheinlich genau das, was sie rettete, denn der Schmerz machte<br />
ihr unbarmherzig klar, was sie erwartete, wenn sie einschlief. Trotzdem<br />
begriff Shan hinterher nicht, wo sie die Energie und die Kraft<br />
hergenommen hatte, derart lange wach zu bleiben, ohne einfach tot<br />
umzufallen. Und wie lange sie hier schon unkontrolliert zitternd und in<br />
sich hineinstöhnend saß und mit der drohenden Bewusstlosigkeit rang,<br />
das wusste sie auch nicht.<br />
Es war die sanfte und doch kraftvolle Berührung des Windes, die sie<br />
schließlich wieder ins Bewusstsein zurückbrachte. Dieses laue Lüftchen<br />
war nicht so kalt wie der Sturm. Er tat nicht weh. Er war sehr<br />
unangenehm und meilenweit davon entfernt, angenehm zu sein, aber er<br />
brachte einen Funken Leben in ihren Körper zurück. Shan versuchte den<br />
Kopf ein Stückchen von den Knien zu heben und schaffte es schließlich<br />
beim achten Anlauf. Sie sah sich aus trüben, eisverkrusteten Augen um.<br />
Die Nacht war klar und der Himmel sternenbehangen. Ein grüner<br />
Mond stand hoch und zauberte einen matten Schein auf die Ebene. Nun<br />
konnte man die zahlreichen und tückischen Gletscherspalten wieder<br />
erkennen. Man sah, wo man hintrat.<br />
Die ideale Zeit, um weiterzumarschieren. Shan fragte sich, ob es ihr<br />
wohl gelingen würde, sich zu bewegen. Aber das einzige, was sie<br />
glaubte, war, dass ihre Arme und Beine einfach durchbrechen mussten,<br />
wenn sie auch nur versuchte, sich innerhalb der nächsten zwei<br />
Jahrzehnte zu rühren. Trotzdem zwang sie sich dazu. Du musst es ja<br />
doch machen, also mach es gleich und mach es richtig, dachte sie. Es<br />
gelang ihr sogar irgendwie, sich hochzustemmen und auf die Füße zu<br />
kommen. Ein qualvoller Ausdruck stand in ihren Augen, obwohl sich in<br />
ihrem Gesicht kein Muskel rührte. Ging auch gar nicht. Dafür war ihr<br />
Gesicht viel zu gelähmt. Einzig ihre Zähne klapperten heftig, und einen<br />
Moment lang drehte sich alles um sie herum.<br />
Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Kälte<br />
kristallisierte alles, selbst den Fluss ihres Geistes. Dennoch spürte sie tief
in sich drin, wie wichtig es war, aufzustehen und sich keinen Illusionen<br />
hinzugeben. Mit aller Gewalt zwang sie sich, die Augen offen zu halten<br />
und sich diesmal richtig umzusehen. Und was sie erblickte, das erfüllte<br />
sie mit einer Mischung aus Staunen, ungläubiger Bewunderung... und<br />
purem Entsetzen!<br />
Sie hatte – unfassbar, aber wahr - die Bergkette während ihres langen<br />
Marsches beinahe erreicht und stand nun kurz vor dem Berg mit der<br />
Krone, aber ... das Ding bestand auf den letzten Milliarden Kilometern<br />
aus einer kerzengeraden Eiswand, ohne Furchen, ohne Rillen, ohne<br />
zufällig eingebaute Griffe für Kletterer. Der Berg war schlicht<br />
unpassierbar! Shan starrte die Eiswand geschlagene fünf Minuten an, ehe<br />
sie in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Das ... war’s?,<br />
fragte sie sich. Das sollte es gewesen sein? Das Ende ihrer qualvollen<br />
Reise? Die Strapazen, der Schmerz, die Taubheit, die Kälte – das alles<br />
für ... für ...<br />
...nichts?<br />
Für Nichts?<br />
<strong>FÜR</strong> <strong>NICHTS</strong>?<br />
Ein unglaublicher Zorn keimte in Shan auf. Die Feuer der Wut<br />
brannten neues Leben in ihren geschundenen Körper und tauten ihre<br />
Gliedmaßen ein Stück weit auf. Schleppend langsam ballten sich ihre<br />
gefrorenen Hände zu Fäusten, selbst die rechte, die sie noch viel weniger<br />
spürte als den Rest ihres Körpers. Ihre Lippen bebten; diesmal nicht vor<br />
Kälte, sondern vor blanker Wut. Vor unfassbarer Wut! Ihre Oberlippe<br />
löste sich schmatzend von der Unterlippe, der Kiefer geriet in Bewegung<br />
und nach mehreren gescheiterten Sprachversuchen krächzte sie mit<br />
schmerzender Kehle: „<strong>FÜR</strong> <strong>NICHTS</strong>!?“<br />
Und dann begann sie wie ein Rohrspatz mit dem Berg zu schimpfen.<br />
Der Schmerz, die Wut, die Enttäuschung ... sie entlud alles, ihren ganzen<br />
Frust, in die krächzenden Geräusche, die ihre trockene Kehle, die steife<br />
Kiefermuskulatur, die spröden Lippen, und das gefrorene Gesicht<br />
zustandebringen vermochten. Sie ballerte restlos alles raus, was ihr zur<br />
Verfügung stand. Das komplette Inventar an Kraftausdrücken und<br />
Flüchen, gesammelt auf den Schulhöfen der Erde und angereichert mit<br />
den Schimpfwörtern von Hunderten von Spezies überall aus der Galaxie.<br />
Alles was sie krakeelte, wurde als Echo von den Bergen reflektierend
zurückgeworfen und hallte durch die Ebene, sodass sie ihre Obszönitäten<br />
selbst noch gut zwei, dreimal hören konnte. Und nach einem ellenlangen<br />
Sturzbach an blumigen Unfreundlichkeiten, der eine halbe Ewigkeit zu<br />
dauern schien, verhallte auch das letzte Echo und es wurde wieder still in<br />
der Ebene. Shan schnaufte schwer. Sie war völlig außer Atem. Dieser<br />
Wutausbruch hatte sie furchtbar viel Kraft gekostet, aber das war es wert<br />
gewesen. Sie fühlte sich unglaublich erleichtert.<br />
„Ha!“, rief sie, zum Berg gewandt. „Das hat dir wohl die Sprache<br />
verschlagen, was?“<br />
Fast als hätte er ihre Worte gehört, drang ein dumpfes Grollen vom<br />
Berghang an sie heran. Shans Augen weiteten sich und ihre Mundwinkel<br />
rutschten gen Boden.<br />
„O Nein.“<br />
Das Grollen und Dröhnen wurde immer lauter. Sie spürte, wie das Eis<br />
unter ihren Füßen zu Vibrieren begann. Und das Vibrieren wurde schnell<br />
zu einem handfesten Beben. Shan stöhnte auf. Das Herz pochte ihr bis<br />
zum Hals empor und schien ihren Brustkorb zu zerreißen. Was ist bloß<br />
mit dir los? schimpfte sie. Hast du deinen Verstand auf Risa gelassen?<br />
Wer viel Lärm macht, bekommt es anschließend mit ziemlich viel Schnee<br />
zu tun!<br />
Und so war es auch.<br />
Sie wirbelte herum und begann zu rennen, aber sie war viel zu<br />
langsam. Ihre Beine erwiesen sich zwar dank des Adrenalins, das<br />
Literweise durch ihre Venen floss, als erstaunlich kooperativ, und<br />
bewegten sich, aber sie versanken in dem Neuschnee, fast bis zur Hüfte.<br />
Shan kam überhaupt nicht voran. Und sie ahnte, dass es ein Wettlauf<br />
war, den sie unmöglich gewinnen konnte.<br />
Sie hatte recht.<br />
Shan war kaum zehn Meter weit gekommen, als sich das Rumpeln zu<br />
einem ungeheurem Dröhnen steigerte. Sie sah im Laufen über die<br />
Schulter und was sie erblickte, lies ihre Muskeln noch stärker arbeiten.<br />
Sie ruderte mit Armen und Beinen, kam aber einfach nicht voran,<br />
versank immer und immer wieder in dem verdammten, pulvrigen<br />
Neuschnee! Sie bekam Panik, ihre Bewegungen wurden fahrig. Eine<br />
staubige, weiße Wand raste in der Dunkelheit auf sie zu und verschlang<br />
alles, was sich ihr in den Weg stellte. Shan blieben nur noch zwanzig
Sekunden.<br />
Vielleicht weniger.<br />
Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben und die Ebene war in<br />
fast völlige Dunkelheit gesenkt, aber sie sah die Lawine dennoch mit<br />
Warpgeschwindigkeit auf sich zubrüllen.<br />
Shan eilte weiter durch den Schnee und blieb plötzlich stehen. Vor ihr<br />
ging es nicht weiter. Sackgasse. Sie stand am Rand einer mehr als sieben<br />
Meter breiten Gletscherspalte, deren Boden sich in pechschwarzer<br />
Finsternis verlor!<br />
O Nein!<br />
Sie spürte die Lawine hinter sich. Der Boden schwankte. Ein Blick<br />
nach hinten verriet ihr, dass die weiße Wand sie fast erreicht hatte.<br />
Hundert Meter... Achtzig.... Sechzig... Shan stürzte auf die Knie, suchte<br />
mit den Händen etwas, von dem sie sich wenigstens einreden konnte,<br />
dass es ein sicherer Halt war, aber da war nichts! Die Gletscherwand<br />
bestand ebenfalls aus Eis. Kein Griff! Kein verdammter Griff! Die<br />
Lawine rumpelte.<br />
Für den Bruchteil einer Sekunde wollte sie aufgeben. Doch dann fiel<br />
ihr plötzlich das Schwert wieder ein. Sie trug es noch immer mit sich<br />
herum. In einer blitzschnellen Bewegung zog sie die Stichwaffe vom<br />
Gürtel, rammte die Klinge mit aller Gewalt in die Wand unter sich, und<br />
lies sich in die Tiefe der schwankenden Spalte fallen. Mit jagendem Herz<br />
und explodierendem Puls, gelang es ihr irgendwie, den Knauf mit der<br />
linken, einigermaßen funktionstüchtigen Hand zu packen und sich in<br />
ihrer Verzweiflung festzuhalten. Im gleichen Moment donnerte die<br />
Lawine über die Gletscherspalte hinweg.<br />
Hinterher wusste sie selbst nicht mehr, wie sie es geschafft hatte. Es<br />
dauerte vielleicht eine Minute, kaum länger, aber für Shan war es, als<br />
verging eine halbe Ewigkeit, während sie sich nur mit der linken Hand<br />
am Schwert festhielt. Der Himmel über ihr war erloschen, verschlungen<br />
von einer brüllenden Decke aus Schnee und Eis, die über ihr<br />
hinwegfegte. Die Wand, an der sie mit dem Schwert hing, wankte und<br />
erzitterte, wie bei einem Erdbeben.<br />
Shan konnte nicht mehr atmen. Die Luft war erfüllt mit pulvrigen<br />
Schneepartikeln, die sie zu ersticken drohten. Ein bestialischer Schmerz<br />
wütete in ihrer Schulter und sie spürte, wie jedes Gefühl und jede Kraft
aus ihren Fingern wich. Allmählich verlor sie den Halt. Eis und Schnee<br />
hämmerten dicht hinter ihrem Rücken in die Spalte hinab. Sie konnte<br />
sich nicht mehr halten. Ihre Finger lösten sich... lösten sich...<br />
Die Lawine war vorbei. Plötzlich war der Nachthimmel wieder über<br />
ihr da und Shan konnte atmen. Das Beben lies nach.... Hörte auf.<br />
Unendlich erleichtert schloss sie die Augen, legte den Kopf in den<br />
Nacken und atmete ein. Sie lachte vor Glück. Dann brach das Schwert<br />
aus der Wand und lies Shan rücklings in die Tiefe stürzen.<br />
Der Sturz brachte sie weder um, noch tat er besonders weh, denn sie<br />
landete im weichen, pulverartigen Schnee, der ihrem Fall den Großteil<br />
der Wucht nahm. Dennoch war Shan nur noch halb bei Bewusstsein, als<br />
sie den frisch entstandenen Schneehügel hinabrollte. Sie überschlug sich<br />
doppelt und dreifach - die Welt drehte sich und wurde dann von einer<br />
merkwürdigen Dunkelheit verschluckt. Es ging abwärts. Der Boden<br />
unter ihr war schlagartig spiegelglatt und musste aus Eis bestehen. Ein<br />
paar Mal prallte sie in der absoluten Schwärze gegen Hindernisse, die sie<br />
nicht sehen konnte. Der verwaschene Lichtfleck, der den Eingang in<br />
diesen Tunnel im Eis darstellte, verblasste nach kurzer Zeit, sodass sie<br />
völlige Finsternis verschlang.<br />
Der Untergrund wurde wieder Eben, ihre Rutschpartie verlangsamte<br />
sich und Shan kam schließlich keuchend zum Stillstand. Irgendetwas<br />
rutschte klirrend neben sie. Das Schwert. Das Geräusch hatte einen<br />
unheimlichen, hohen Wiederhall, der ihr verriet, dass sie sich in einer<br />
großen, unterirdischen Höhle aufhalten musste. Hier war die Luft nicht<br />
so kalt, fast angenehm.<br />
Shan stöhnte laut. Ihr ganzer Körper schmerzte – was auch sonst?<br />
Jedes Glied, jeder Muskel tat weh. Sie bebte am ganzen Leib. Allmählich<br />
fragte sie sich, wie viel sie noch einstecken sollte. Wie viel sie noch<br />
einstecken konnte. Nicht mehr viel, da war sie sich völlig sicher.<br />
Shan blieb eine ganze Weile benommen liegen, ehe sie es wagte sich<br />
aufzusetzen. Ihre Hände waren so steif, dass sie die Finger nicht mehr<br />
gerade bekam, ohne vor Schmerz aufzustöhnen. Selbst das Luftholen tat<br />
ihr in der Kehle weh. Ihr Atem ging langsam und schwer. Irgendwie kam
sie auf alle Viere. Es war noch immer stockdunkel und ihre Augen<br />
gewöhnten sich diesmal auch nicht an die alles verschlingende<br />
Schwärze. Wie eine blinde kroch sie auf dem Boden herum und<br />
versuchte mit den Händen irgendwas zu ertasten, was kein Eis war, und<br />
nicht weh tat.<br />
Irgendwas.<br />
Aber da war nichts. Sie hätte auf der Stelle aufgegeben und wäre tot<br />
umgefallen, wenn ihre Finger nicht plötzlich etwas flauschiges,<br />
merkwürdig weiches ertastet hätten. Sofort waren all ihre Sinne, all ihre<br />
Gedanken auf dieses eine Ding konzentriert. Sie betastete weiter. Es<br />
fühlte sich an, wie...<br />
...wie...<br />
...eine Decke!<br />
Sie roch alt. Modrig. Aber sie war einigermaßen weich und bestimmt<br />
wärmespendend. Shan zerrte daran, aber etwas hielt die Decke fest, oder<br />
lag drauf. Vielleicht ein großer Stein. Verzweiflung und Wut machten<br />
sich in ihr breit. Sie zerrte noch heftiger an der Decke. Wieder nichts. Sie<br />
wollte die Decke haben, verdammt! Und zwar jetzt gleich! Sie hatte sie<br />
gefunden und jetzt würde sie das blöde Ding auch bekommen! Shan riss<br />
ein weiteres Mal an ihr. Irgendwas bewegte sich in der Dunkelheit. Sie<br />
hörte ein Klappern, fast wie von Knochen. Es war ihr egal. Sie zerrte ein<br />
letztes Mal, dann hatte sie die Decke – von was auch immer – befreit.<br />
Oh, eine Decke, dachte sie. Eine wundervolle Decke. Und sie war ihr,<br />
ganz allein ihr. Shan wollte nur noch schlafen. Alles andere war egal.<br />
Die Standpauke, ihre Eltern, ihr Credo – das spielte alles keine Rolle<br />
mehr. Mit einem Bein bereits in der Bewusstlosigkeit, bekam sie kaum<br />
noch mit, wie sie sich die Decke umwarf, einmurmelte und hinlegte. Sie<br />
schlief auf der Stelle ein.<br />
Eishölle - Fünfter Tag<br />
Irgendwas weckte sie. Ein Lebensfunke. Shan war so fürchterlich kalt,<br />
dass es Stunden dauerte, ehe sie realisierte, dass sie sich im Warmen<br />
befand. Es geschah nicht sofort. Sondern Stufenweise. Zunächst tauten
ihre Finger und Zehen auf. Ganz langsam. Dann folgte ihre Lunge. Shan<br />
hatte praktisch schon vergessen, was es hieß, zu atmen, ohne tausend<br />
Nadelstiche im Hals zu spüren. Das Auftauen schmerzte zunächst, aber<br />
das ging vorüber. Sie gab eine Reihe von Seufzern von sich und jetzt erst<br />
begann ihr Gehirn allmählich die Arbeit wieder aufzunehmen und die<br />
Informationen, die auf den Körper einströmten, zu verarbeiten.<br />
Die Kälte... die Kälte war so überwältigend gewesen, dass es für eine<br />
ganze Weile so schien, als könnte sie über nichts anderes nachdenken.<br />
Doch dann begann sie nach und nach die Schmerzen zu spüren und die<br />
Teile ihres Körpers, ihres verkorksten Lebens, zusammenzusetzen.<br />
Shan hatte eine halbe Ewigkeit geschlafen. Und überraschend gut,<br />
wenn man bedachte, dass sie auf purem Eis lag. Ihr Körper war steif und<br />
tat – wie üblich - weh. Jetzt, als sie die Augen aufschlug, fand sie sich in<br />
einer verzauberten Märchenwelt wieder, die so fremdartig war, dass sie<br />
sich im ersten Moment ganz ernsthaft fragte, ob sie wirklich erwacht<br />
war, noch immer träumte, oder sich gar bereits in der Gesellschaft des<br />
Todes befand. Sofern der letzte Punkt zutreffen sollte, war dieser Ort für<br />
die Hölle ungewöhnlich frostig. Ein kalter Luftzug wehte, aber er war<br />
wenigstens nicht bitterkalt.<br />
Es war hell geworden, aber es war ein sonderbares, mildes Licht, das<br />
aus keiner bestimmten Quelle zu kommen schien und es dauerte ein paar<br />
Sekunden, ehe Shan klar wurde, dass es das Eis selbst war, das leuchtete.<br />
Offenbar befand sich die Höhle nicht sehr tief unter dem Boden, sodass<br />
das Licht der Sonnen bis hierher durchdrang. Bizarre Eisgewächse und<br />
Skulpturen hingen von der Decke, oder wuchsen aus dem Boden und<br />
leuchtender Staub rieselte wie in Bernstein von der geschwungenen<br />
Decke. Shan betrachtete den von Schnee und Eis blockierten Eingang,<br />
ohne richtig zu realisieren, was sie da sah und was das bedeutete. Sie<br />
steckte in der Höhle fest. Aber das war nicht wichtig. Nichts war<br />
wichtig. Shan gähnte. Also beschloss sie, einfach weiterzuschlafen. Sie<br />
zog die Decke an sich heran, und drehte sich müde zur anderen Seite.<br />
Eine Mumie starrte sie an.<br />
Shan Schmatzte. Sie schloss die Augen. Schmatzte erneut. Riss die<br />
Augen plötzlich auf, als sie begriff, was sie da gerade gesehen hatte,<br />
kreischte und versuchte hochzukommen. Sie rutschte aus, der<br />
Untergrund war zu glatt. Sie versuchte wieder hochzukommen, rutschte
erneut aus. Die Mumie starrte sie an. Shan schrie, schrie immer<br />
panischer, trat mit den Beinen aus, und legte endlich erfolgreich den<br />
Rückwärtsgang ein - solange, bis sie mit dem Rücken gegen eine Wand<br />
prallte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell. Die Mumie starrte sie<br />
weiter an.<br />
Shan wandte den Blick ab und schluckte Krampfhaft. Sie rutschte mit<br />
dem Rücken an der Wand herunter, spürte Übelkeit und ein<br />
schmerzhaftes Stechen im Magen. Aber es erinnerte sie daran, dass sie<br />
noch lebte. Sie war wach und noch nicht erfroren. Und vielleicht würde<br />
sie das auch nicht. Sie klammerte sich an diesen Gedanken und langsam<br />
wich die Übelkeit aus ihr. Nun sah sie erst, womit sie sich in der Nacht<br />
zugedeckt hatte. Nicht mit einer Decke. Sondern mit einem dicken,<br />
borstigen Umhang. Mit dem Umhang des Toten. Er lag da, auf dem<br />
Boden, grässlich friedlich und still. Halb Skelett, halb Mumie. Das<br />
Gesicht war durch die Temperatur in der Höhle auf groteske Weise<br />
erhalten geblieben, die qualvolle Überraschung in seiner Mine noch<br />
sichtbar, wie zur Warnung, für jeden anderen festgeprägt, der den<br />
Wunsch haben mochte, die Höhle zu betreten, um in ihr Schutz vor den<br />
Elementen zu suchen. Um wen es sich auch immer handeln mochte, er<br />
war bitter erfroren, die Skelettarme um den Oberkörper geschlungen.<br />
Großer Vogel, dachte Shan.<br />
Niemand hatte es verdient so zugrunde zu gehen. Niemand. Trauer<br />
erfasste sie. Und dann bemerkte sie den Riemen. Den Riemen eines<br />
Rucksacks. Die Mumie trug ihn noch immer bei sich. Einen Moment<br />
lang zögerte Shan, wollte dem Toten nicht näherkommen. Wollte ihm<br />
nicht noch seines letzten Hab und Guts entreißen. Andererseits nutzte<br />
ihm der Rucksack nichts mehr, ihr hingegen vermochte er vielleicht das<br />
Leben zu retten. Sie musste nachsehen, ob noch etwas nützliches drin<br />
war! Essen, Wasser, oder etwas anderes, was ihr gegen die Kälte half.<br />
Tu es, sagte sie zu sich selbst. Was soll schon sein? Tu es, zum Teufel<br />
noch mal, was bringt die Vorsicht? Mach es gleich und mach es richtig!<br />
Sie kroch auf allen Vieren hinüber, näher an die Leiche heran.<br />
Irgendwie gelang es ihr den Ekel zu überwinden, die Oberarme der<br />
Mumie zu umschließen und den verwesten Körper aufzusetzen. Die<br />
Mumie war überraschend leicht, fast wie ein Spielzeug. Shan drehte den<br />
Körper und begann am Rucksack zu ziehen. Er löste sich nicht. Sie zerrte
erneut, versuchte die Riemen irgendwie über die Schultern und Arme zu<br />
bekommen, dann war er mit einem kräftigen Ruck, bei dem sich einige<br />
Knochen der Mumie lösten, plötzlich frei. Sie umschlang ihn mit ihren<br />
Armen, als sei er das wertvollste auf der Welt, und kroch wieder ein<br />
Stück von der Mumie weg, um sich den Rucksack genauer zu betrachten.<br />
Der Rucksack war zerfetzt und blutverkrustet. Hauchdünne Fliegen<br />
umschwirrten ihn. Shan öffnete den Verschluss. In dem Moment sprang<br />
ihr ein großes Tier entgegen!<br />
„O Gott!“<br />
Sie warf den Rucksack erschrocken fort. Der Schmetterling flatterte<br />
flink davon. Shan stöhnte auf. Ein Schmetterling, dachte sie. Nur ein<br />
Schmetterling.<br />
„Mistfieh!“<br />
Es lief ihr eiskalt über den Rücken, was sie frösteln ließ. Sie hatte sich<br />
fürchterlich erschreckt. Nun spähte sieh in die Richtung in die der<br />
Schmetterling geflogen war, entdeckte ihn aber nicht mehr wieder. Dann<br />
sah sie wieder in den Rucksack, diesmal vorsichtiger. Sie erblickte jede<br />
menge Schleim auf den alten Nahrungspackungen. Auch eine Flasche<br />
war dabei, mit trübem, braunem Wasser. Außerdem sah sie einen<br />
Haufen, sich windender Maden. In dem Moment meldete sich ihr Magen<br />
mit einem ausfallenden Rumpeln. Sie hatte schrecklichen Hunger. Und<br />
irgendetwas musste sie essen. Wenn sie überleben wollte, musste sie<br />
essen, denn Shan spürte, dass sie kaum noch Kraft hatte.<br />
Sie griff mit der rechten Hand in den Rucksack hinein und füllte sie<br />
mit Maden. Sie brauchte einfach nur hineinzugreifen, das Gewürm war<br />
zahlreich vorhanden. Dann starrte sie auf die schlängelnde und sich<br />
windende Masse auf ihrer Handfläche und überlegte, ob sie das wirklich<br />
tun sollte.<br />
Du musst es ja doch machen, also mach es gleich und mach es richtig.<br />
Shan atmete tief durch, schloss die Augen und stopfte die Maden in<br />
ihren Mund. Sie kaute und schluckte schnell, bevor sie alles wieder<br />
auszuspucken drohte. Es war widerlich und ekelhaft. Alleine von dem<br />
Gedanke, diese trockenen, lebendigen Dinger hinunterzuschlucken,<br />
wurde ihr speiübel. Glücklicherweise musste sie sich trotz allem nicht<br />
übergeben. Sie dachte alleine an den Nährwert und zwang sich, noch<br />
weitere Maden hinunterzuwürgen, bis es einfach nicht mehr ging.
Anschließend zog sie die Flasche aus dem Rucksack und schraubte den<br />
Deckel auf. Sie roch am Inhalt: Alt und breckig. Aber vermutlich<br />
Wasser. Und wenn es sich um Gift handelte, war es ihr auch egal, dann<br />
hatte sie es wenigstens bald hinter sich. Sie schloss erneut die Augen und<br />
trank alles aus, mitsamt den Brocken, von denen sie gar nicht wissen<br />
wollte, worum es sich bei ihnen handelte.<br />
Shan schüttelte sich vor Ekel, bemüht, bloß keinen Gedanken daran zu<br />
verschwenden, was sie da gerade getan hatte, aus Angst, sich dann erst<br />
recht übergeben zu müssen. Also setzte sie schnell die Unersuchung des<br />
Rucksacks fort, um sich abzulenken. Sonst war aber nichts nützliches<br />
drin. Nur noch Staub, mehr Maden und-<br />
Shan runzelte die Stirn. Da drin funkelte etwas. Ein Gegenstand. Im<br />
milden Licht der Höhle konnte Shan nicht richtig erkennen, was es war:<br />
nur irgendein rubingrünes, mit wertvollen Edelsteinen besetztes Ding.<br />
Selbst in dessen jetzigem, verschmutztem Zustand blitzten die Edelsteine<br />
im Licht der Höhle und ließen Shan nicht mehr los. Sie griff fasziniert<br />
hinein, bekam das Ding zu fassen und hob es mit tiefer Ehrfurcht aus<br />
dem Rucksack hinaus. Es raubte ihr den Atem, machte ihr bisheriges<br />
Leiden vergessen, und erzeugte eine Hochstimmung, die sie kaum zu<br />
fassen vermochte.<br />
Der Urgon von Shangri-La!<br />
Das bedeutete, dass es die Stadt wirklich gab! Oder zumindest<br />
gegeben hatte. Alten Legenden zufolge hatten die Shangrilaner wertvolle<br />
Schätze vergraben, bevor ihre Stadt von einem Blizzard erwischt worden<br />
war. Shan hatte von Sturak darüber gehört, er war Wissenschaftler. Er<br />
lehrte an der Sternenflottenakademie. Er wusste alles über diese alten<br />
Geschichten und auch noch eine Menge anderer Dinge. Shan hatte ihm<br />
oft stundenlang gelauscht und war neugierig geworden. Man hatte<br />
angenommen, dass die Stadt vielleicht gar nicht existierte, denn die<br />
einzigen Geschichten, die man über sie hörte, stammten von<br />
zwielichtigen Frachterkommandanten, denen kaum jemand glaubte.<br />
Doch nun hielt Shan den Beweis in der Hand.<br />
Der Urgon<br />
So wunderschön, im Licht der Höhle goldglitzernd – Der Urgon. Der<br />
Urgon der Shangrilaner. Was Shan empfand, war die Erregung einer<br />
überwältigenden Entdeckung. Und sie gehörte nicht dem Toten. Er war
kein Shangrilaner. Es war ein Schatzjäger! Er musste die Stadt gefunden<br />
und den Urgon mitgenommen haben, aber er hatte es nicht<br />
zurückgeschafft. Die Jagd nach dem Urgon war ihm zum Verhängnis<br />
geworden.<br />
Seltsam, dachte Shan. Fünfzehn Zentimeter hoch, Tausende von<br />
Jahren alt, ein Klumpen Gold mit einem Gesicht, das man kaum schön<br />
nennen konnte – seltsam, dass Menschen dafür unfassbare Risiken auf<br />
sich nahmen und ihr Leben riskierten. Sogar dafür töteten. Und trotzdem<br />
hielt sie das Bildwerk in seinem Bann. Jetzt hatte sie den Urgon<br />
gefunden. Das Relikt einer längst vergessenen Zeit, das einzige<br />
Überbleibsel der alten Shangrilaner und der erste Hinweis, dass es sie<br />
wirklich gegeben hatte. Sie hielt den Urgon in ihren Händen, starrte ihn<br />
an. Und sie schien fast zu riechen, oder zu spüren, wie das einst war, als<br />
Shangri-La noch existierte. Es war derart hypnotisierend, dass sie das<br />
Knurren der sich nähernden, fleischgewordenen Gefahr zunächst gar<br />
nicht bemerkte.<br />
Doch dann sah sie es!<br />
Das Wesen stand im Eingang der Höhle und knurrte sie an. Es war<br />
groß, fast drei Meter von der Nasen- bis zur Schwanzspitze. Es war von<br />
dem Krach, den Shan angerichtet hatte, angezogen worden. Und es hatte<br />
zweifellos Hunger! Das gesamte Tier war mit dichtem, zotteligem Pelz<br />
bedeckt. Es bewegte sich auf allen Vieren, mit gewaltigen Krallen. In<br />
den Augen glühte Gier, darüber ragte ein einzelnes, dünnes Horn nach<br />
vorn. Es öffnete den Rachen, und die Kiefer knirschten.<br />
„Scheiße!“<br />
Shans Gedanken schlugen Purzelbäume – und ihr Herz gleich mit. Sie<br />
stand praktisch mit dem Rücken zur Wand, suchte verzweifelt einen<br />
Ausweg.<br />
Das Tier knurrte bedrohlich.<br />
Ein Phaser hätte das Problem in kürzester Zeit erledigt. Auch ein<br />
Messer hätte sich als nützlich erwiesen. Aber gegenwärtig verfügte Shan<br />
nur über ihre aufgerissenen Hände. Und die Entschlossenheit, ihr Leben<br />
nicht im Bauch einer Kreatur auf einem ungastlichen Planeten zu<br />
beenden. Nicht jetzt. Nicht, wo sie den Urgon gefunden hatte. Sie würde<br />
es zurückbringen! Sie musste kämpfen. Sie musste leben. Das Monster<br />
knurrte. Shan knurrte zurück. Zwar bei weitem nicht so lautstark wie die
Monster, aber nicht weniger wild und bedrohlich.<br />
Und in dem Moment beschloss das Monster anzugreifen und sprang<br />
auf sie zu. Lautes Gebrüll erklang. Shan handelte aus einem Reflex, warf<br />
sich verzweifelt nach vorn, auf den Boden. Das Tier sauste über ihr<br />
vorbei, wirkte zornig und verwirrt. Shan spürte die Krallen des Biestes,<br />
die ihr die Schulter aufschlitzte, dann prallte sie dicht unter ihm<br />
bäuchlings aufs Eis, schlitterte durch die Höhle. Und dann sah sie das<br />
Schwert. Dad’s Schwert! Es war mit ihr in die Höhle gerutscht!<br />
Shan streckte im Schlittern den schmerzenden Arm aus und tastete<br />
nach dem Schwert. Sie berührte den Griff kurz, doch im nächsten<br />
Augenblick war sie an der Waffe vorbei.<br />
„Nein!“<br />
Sie prallte gegen eine Eiswand und spürte, wie neuerlicher Schmerz in<br />
der rechten Schulter explodierte. Das waren Schmerzwellen, gegen die<br />
alle vorherigen verblassten. Shan heulte auf. Doch statt vor den<br />
Schmerzen zu kapitulieren, was sie am liebsten getan hätte, machte Shan<br />
genau das Gegenteil. Sie konzentrierte sich darauf und setzte den<br />
grausamen Qualen keinen Widerstand entgegen. Und statt sich davon<br />
schwächen zu lassen, zwang sie sich dazu, daraus Kraft zu gewinnen. Sie<br />
fletschte die Zähne, voller Wut und Angriffslust.<br />
Du musst kämpfen! Mach es gleich und mach es richtig!<br />
Und sie machte es richtig. Shan kam auf die Beine und bereitete sich<br />
auf einen weiteren Angriff vor - der auch unmittelbar erfolgte. Das<br />
Monster war wieder losgestürmt. Es wäre Shans Tod gewesen, hätte sie<br />
sich auch nur einen Moment länger den Schmerzen hingegeben. Das<br />
Wesen funkelte sie wütend aus den roten Augen an und zielte mit dem<br />
Horn auf seine Beute. Shan packte das Horn, kurz bevor es ihr in den<br />
Brustkorb gerammt worden wäre, dann wurde sie über den Boden der<br />
Höhle geschoben, als hätte sie sich an die Kühlerhaube eines Lasters<br />
gehängt. Ihre Schuhe waren wie Skier, rutschten über den Boden.<br />
Jeglicher Versuch gegenzudrücken, war aussichtslos. Die Kreatur brüllte<br />
ihr genau ins Gesicht. Shan blickte über ihre Schulter, entdeckte die<br />
heranrasende Wand. Das Vieh schob sie auf eine dicke Eiswand zu, um<br />
Shan an ihr zu zerschmettern! Und plötzlich, hier draußen, im Schnee,<br />
attackiert von einem grässlichen Monster, kam Shan Wissen zu gute, von<br />
dem sie niemals gedacht hätte, dass es ihr einmal das Leben retten
würde: Ihre Gymnastikstunden!<br />
Sie stieß sich ab, sprang mit gespreizten Beinen in die Höhe, vollführte<br />
eine Drehung, so wie sie es gelernt hatte, landete auf seinem Rücken,<br />
und hielt sich fest. Das Tier versuchte abzubremsen, war aber zu schnell<br />
und knallte mit dem Kopf voran in die Wand, wobei es sein Gesicht an<br />
den scharfkantigen Eisfelsen aufschlitzte. Jetzt war es das Monstrum, das<br />
vor Schmerzen brüllte. Das Wilde Ding bäumte sich auf und heulte<br />
wütend. Blut strömte über seine Schnauze.<br />
Shan hatte sich so klein wie möglich gemacht, und war zwar durch den<br />
Aufprall durchgeschüttelt, aber nicht verletzt worden. Nun hielt sie Arme<br />
und Hände von Rachen des Tieres fern und schloss sie stattdessen um<br />
seinen Hals. Das Ungeheuer sank wieder auf alle Viere und schüttelte<br />
sich heftig, um Shan fortzuschleudern. Ihr Griff lockerte sich, und von<br />
einem Moment zum anderen flog Shan durch die Luft und landete hart<br />
im Schnee. Dicht neben ihr lag das Schwert. Das Monster drehte sich<br />
herum, und stürmte erneut auf sie zu. Brüllte. Und sprang. Shan rollte<br />
zur Seite, umschloss den Griff der Waffe, die sie nie in ihrem Leben<br />
zuvor eingesetzt hatte, und schlug mit aller Kraft zu. Sie schlitzte dem<br />
Wesen den Bauch der Länge nach auf. Die Haut riss und seine Innereien<br />
klatschten auf Shan nieder, worauf es einen lauten, fast menschlich<br />
klingenden Schmerzensschrei ausstieß, der Shan aber keinen Mitleid<br />
entlocken konnte, sondern ihre Rage nur noch förderte, denn jetzt hatte<br />
sie eine Chance!<br />
Das Wesen prallte auf und begriff schockiert, dass der feuchte<br />
Klumpen da auf dem Boden eigentlich in seinen Bauch gehörte. Es<br />
jammerte fürchterlich und nun versuchte es sich wimmernd vor der mit<br />
seinen Eingeweiden besudelten und überaus wütenden Shan zu<br />
entfernen.<br />
Aber es war zu spät. Zu spät um sein Überleben zu sichern und zu<br />
spät, um sich vor dem Gegner zurückzuziehen, der ihm<br />
erstaunlicherweise überlegen zu sein schien. Shan kam von der Seite. Sie<br />
packte das Wesen an der Kehle, lies die Klinge sausen und schlitzte ihm<br />
die Schlagader auf. Das Blut spritzte ihr regelrecht ins Gesicht, aber sie<br />
schien es gar nicht zu bemerken. Sie stieß einen Triumphschrei aus, der<br />
lauter war als alles, was die Kreatur bislang von sich gegeben hatte. Das<br />
riesige Tier machte nur noch einen Schritt, dann stürzte es zu Boden und
ührte sich nicht mehr. Nur noch ein Röcheln seines letzten Atemszugs<br />
war zu hören, bis auch dieses Lebenszeichen erstarb.<br />
Shan stand einfach nur da, starrte mit schäumenden Augen auf das<br />
Blutbad, das sie angerichtet, das Leben, das sie genommen hatte. Ihr<br />
Brustkorb hob und senkte sich schnell. Sie war besudelt mit den<br />
Eingeweiden des Tieres, mit seinem Blut. Und nach dem Schmerzen, die<br />
sie erlitten und den Qualen, die sie ertragen hatte, hatte es ihr gefallen<br />
dem Tier ein Ende zu bereiten.<br />
Ihr rutschte das Schwert aus den vor Kälte steif gewordenen Fingern<br />
und klirrte zu Boden. Dann sackten Shans Beine ein und sie fiel auf die<br />
Knie, als ihr endgültig bewusst wurde, was sie gerade getan hatte. Von<br />
wegen, das Leben sei kompliziert. Es war einfach. Eine simple<br />
Entscheidung. Zu wählen, an wessen Ende des Schwertes man stand.<br />
Und sie realisierte, dass sie den Urgon noch immer fest in ihrer Hand<br />
hielt. Sie hatte das Relikt die ganze Zeit über nicht losgelassen, es mit<br />
ihrem Leben verteidigt. So etwas hatte sie als kleines Kind schon einmal<br />
getan, wie sie sich erinnerte.<br />
Sie starrte auf das Relikt.<br />
Es in den Händen zu halten... zu wissen, was sie alles durchgemacht,<br />
was sie alles überlebt hatte, um es zu akquirieren... war magisch! Sie sah<br />
entschlossen in die Höhle hinein, mit klarem Geist, so klarem Geist, wie<br />
seit Tagen nicht mehr, und sie wusste plötzlich ohne auch nur den<br />
Schatten eines Zweifels, dass sie überleben würde. Dass sie<br />
zurückkehren und nun nach Hause gehen würde. Shan stopfte das Urgon<br />
in den Rucksack, warf ihn sich über die Schulter und hob das Schwert<br />
vom Boden auf. Dann setzte sie sich in Bewegung, tiefer in die Höhle<br />
hinein, ohne noch einmal zurückzublicken. Es war nicht ihr Wunsch<br />
gewesen, Leben zu nehmen. Aber gleichzeitig wusste sie instinktiv, dass<br />
dies nicht das letzte Mal gewesen sei. Und ihr wurde klar, dass sie nie<br />
mehr so sein würde, wie vorher.<br />
Eishölle - Sechster Tag<br />
Es war schwer in dieser unwirklichen Welt aus Eis und erstarrter Kälte
die Zeit zu bestimmen, aber Shan schätzte, dass sie schon mindestens<br />
einen halben Tag durch das Höhlensystem wanderte. Die Intensität des<br />
Lichts schwankte stark. Ein paar Mal bewegte sie sich durch fast<br />
vollkommene Finsternis, aber mehrmals wurde das Eis über ihrem Kopf<br />
auch so dünn, dass sie die Sonne wie einen blassgelben Fleck mit<br />
verwaschenen Rändern darüber erkennen konnte. Zwei oder dreimal<br />
verließ sie das Eislabyrinth auch ganz, ehe sie wieder in einen Tunnel<br />
oder eine Höhle eindrang.<br />
Die märchenhafte Schönheit dieser verborgenen unterirdischen Welt<br />
täuschte auf den ersten blick darüber hinweg, wie schwer das<br />
Vorwärtskommen in ihr manchmal war. Ganze Strecken musste sie<br />
kletternd oder kriechend zurücklegen. Aber es machte Shan nichts mehr<br />
aus. Gar nichts mehr. Sie war durstig und alles tat ihr weh, ihr war sogar<br />
schlecht, aber auch das ignorierte sie. Da war nur noch diese eiserne<br />
Entschlossenheit, die sie voran trieb. Den Willen, nach allem, was sie<br />
durchgemacht hatte, jetzt nicht mehr aufzugeben. Ihr Rucksack mit dem<br />
Urgon baumelte von einer Seite zur anderen. Sie hatte vor einer Weile<br />
ihr Aufnahmegerät hervorgeholt. Der Gedanke lag nahe, einen<br />
Abschiedsbrief zu sprechen, für den Fall, dass sie es nicht schaffen<br />
würde. So etwas wie „Hi, Dad, hi Mom, es tut mir leid.“ Aber das kam<br />
für sie überhaupt nicht in Frage. Es kam einer Kapitulation gleich.<br />
Stattdessen hatte sie Sachen aufgezählt, für die es sich zu leben lohnte.<br />
Die sie sehen wollte. Die sie Essen wollte. Und die Standpauke, die sie<br />
hören wollte. Und dann hatte sie angefangen den Urgon zu beschreiben,<br />
die Höhle, in der sie ihn gefunden hatte, und einige zusätzliche<br />
Gedanken, was er wohl langfristig für die Forschung bedeutete, und wie<br />
man ihn und seinen Fundort als Ausgangsbasis für zukünftige<br />
Expeditionen auf der Suche nach Shangri-La nutzen konnte.<br />
Sie marschierte eine weitere gute Stunde, dann war sie draußen. Die<br />
Kälte der Nacht klatschte ihr so unvermittelt entgegen, dass sie einen<br />
Moment lang schwankte. In der Höhle war es kühl, aber wenigstens<br />
nicht so eisig gewesen, ganz im Gegensatz zu draußen. Sofort begann<br />
Shans Körper wieder zu schmerzen und Taub zu werden. Hier draußen<br />
erwartete sie wieder Schneegestöber.<br />
Inzwischen war es Nacht und alles dunkel. Sie entfernte sich noch<br />
einige Schritte von der Höhle und erkletterte zunächst einen kleinen
Hügel. Dann war sie ganz im Freien und sah sich einer steilen, aber<br />
glücklicherweise keiner besonders hohen Wand entgegen. Wieder mal<br />
befand sie sich am Grund einer Gletscherspalte. Der eigentliche Aufstieg<br />
war aber nicht so schwierig, sobald Shan den Dreh raushatte, wie sie mit<br />
ihren Schuhen an der Wand ansetzen, wie hart sie mit dem Schwert<br />
einschlagen musste, damit sich die Klinge ins Eis bohrte. Die Schuhe<br />
waren noch das hinderlichste. Sie waren zum klettern einfach nicht<br />
geeignet, die Sohlen viel zu glatt. Aber sie hatte auch nicht an die<br />
Möglichkeit gedacht, in irgendwelchen Bergen zu kraxeln. Sie schwor<br />
sich dennoch, das Haus nie wieder ohne festes Schuhwerk, Stiefel, zu<br />
verlassen!<br />
Es ging aber trotzdem wesentlich leichter und schneller voran, als an<br />
der Gletscherwand bei der Pax. Diese hier war wenigstens griffig.<br />
Außerdem hatte sie inzwischen Übung. Nach nur sieben oder acht<br />
Minuten war sie oben und kletterte über den Rand. Dort sah es so aus<br />
wie unten. Dasselbe Mondlicht, der dunkle Himmel, der mit dem Boden<br />
verschmolz. Die gleiche, eintönige Welt. Sie begann den langen,<br />
mühsamen Weg einen sanft ansteigenden Hang hinauf. Hin und wieder<br />
rutschte sie ab, fand aber Halt, in dem sie Hände oder Schuhe tief in den<br />
weichen Neuschnee grub. Auf der Hügelspitze angekommen, blieb sie<br />
einen Moment liegen und riss die Augen auf.<br />
Sie sah sie durch das Schneegestöber: Unter ihr, über die Ebene<br />
verteilt, wie eine deplazierte Weltraumkolonie, lag eine kleine Stadt,<br />
umgeben von Wachtürmen und Schneemobilen, erleuchtet nur durch<br />
zahlreiche, in den Himmel gerichtete Scheinwerfer, während auf den<br />
schmucklosen Landefeldern am Rande alte, heruntergekommene<br />
Frachter darauf warteten beladen zu werden.<br />
Shan atmete jetzt noch schwerer, eher vor Erregung, als vor<br />
Erschöpfung. Sie wandte den Kopf und ihr Mund klappte herab. Weit<br />
hinter ihr ragte der gewaltige Berg mit der Krone auf und ihr wurde erst<br />
jetzt klar, dass sie ihn gar nicht mehr überklettern musste. Sie war unter<br />
ihm hindurch. Sie hatte es geschafft! Sie hatte es geschafft!<br />
Sie begann zu lachen. Sie lag einfach nur da und lachte eine Weile.<br />
Schließlich kam sie auf die Beine und machte sich, den Hang hinunter,<br />
auf den Weg zur Polarstadt. Sie bewegte sich nun schnell durch das Eis.<br />
Verrückt! Es schien jetzt so einfach zu sein! Ihre Augen blieben auf die
Stadt gerichtet. Je näher sie kam, desto größere Ausmaße nahm die Stadt<br />
an. Sie hatte es fast geschafft! Nur noch ein paar Hundert Meter waren<br />
zurückzulegen, dann war sie im Warmen. Wo sie warme Milch und ihre<br />
Standpauke erwarteten. Sie wollte erneut lachen, doch das Lachen wurde<br />
zu einem erschrockenen Aufschrei, als sie strauchelte. Unter ihrem<br />
Schuh gab der Untergrund nach. Für einen kurzen Moment schien die<br />
Welt um sie herum zu wanken.<br />
Dann brach das Eis ein. Sie fiel und landete rücklings auf einer kalten,<br />
harten und glatten Oberfläche. Einen Augenblick lag sie einfach da, rang<br />
keuchend nach Atem und versuchte festzustellen, ob sie sich etwas<br />
gebrochen hatte. Schmerzen schossen ihr durch den Arm und die<br />
Schnittwunden an der Schulter pochte. Alles tat ihr weh. Einfach alles.<br />
Aber schon bald öffnete sie mit gequälter Mine die Augen. Shan blickte<br />
nach oben. Sie sah nur die Lücke im Eis und darüber den grauen Streifen<br />
Himmel.<br />
Sie war gefallen. Nicht tief, aber es ging nicht mehr nach oben. Kein<br />
Ausweg. Nichts zu klettern. Sie versuchte sich wieder in eine sitzende<br />
Position zu stemmen, aber es ging nicht. Ihre Muskeln waren plötzlich<br />
zu schwach, ihre Arme harte Eisblöcke. Sie konnte sich nicht mehr<br />
bewegen. Aber es war ohnehin zu spät, dachte sie. Die Anstrengungen,<br />
die Verletzungen zollten ihren Tribut. Sie war weit gekommen, so weit,<br />
hatte unglaubliche Kräfte mobilisiert, und Dinge vollbracht, von denen<br />
sie niemals angenommen hätte, sie vollbringen zu können, aber nun<br />
verlor sie die Kontrolle über ihren Körper. Sie hatte einfach keine Kraft<br />
mehr, keinen Willen gegen die Erschöpfung anzukämpfen. Sie war<br />
verloren in ihrer ganz eigenen Welt aus Erschöpfung und Schmerz. Sie<br />
konnte nicht einmal mehr ihre Knie anziehen und umschlingen, so heftig<br />
zitterte sie. Ihre Zähne klapperten. Und sie wurde schläfrig.<br />
Eishölle - Sechster Tag<br />
Shan wusste nicht, wie lange sie nun schon so dalag. Minuten?<br />
Stunden? Sie versuchte verzweifelt bei Bewusstsein zu bleiben, aber der<br />
Drang zu schlafen wurde übermächtig, auch wenn sie wusste, dass sie
diesmal nicht mehr aufwachen würde. Mit größter Mühe hielt sie die<br />
Augen geöffnet, starrte auf den Himmel weit hinter dem Loch über ihr.<br />
Wie aus weiter Ferne nahm sie ihre Umgebung war und zu ihrer<br />
Verblüffung sah sie auf einmal Szenen aus ihrem Leben. Ihre ganze<br />
Kindheit. Sie sah den Kindergarten, die Grundschule auf Vulkan, Sortak,<br />
ihren besten Freund, sah die Gymnastikstundenden, sah T’Plona, wie die<br />
ihr heimlich den Umgang mit dem Phaser beigebracht hatte, sah die Pax,<br />
mit der sie von Zuhause Reiß Aus nahm... ihr ganzes Leben lief vor ihr<br />
ab. Genau wie es angeblich passierte, kurz bevor man starb.<br />
Sie sah Firgoria. Den Urgon. Und Lichter. Überall waren Lichter.<br />
Blaue, grüne, suchende Lichter. Dann erst ihren Dad, der viel<br />
substantieller war. Sie versuchte verstehen zu können, was er sagte. Er<br />
wedelte hektisch mit den Armen, winkte jemanden herbei. Kurz darauf<br />
erschien ihre Mutter, dort oben, wie sie von weiteren viel<br />
substantielleren Entitäten begleitet wurde. Sie alle sahen auf sie herab,<br />
schienen nach ihr zu rufen. Sie riefen sie ins Totenreich. Shan antwortete<br />
nicht. Dazu war sie gar nicht mehr in der Lage. Blaues Licht umhüllte sie<br />
und Shan spürte, wie sie emporgehoben wurde, empor zu den Engeln, ins<br />
Reich des Himmels. Es war vorbei.<br />
Shan verdrehte die Augen und brach endgültig zusammen.<br />
Sie hörte die Stimmen nicht nur, sondern fühlte sie sogar. „Sie kommt<br />
wieder zu sich.“<br />
Licht schillerte vor ihren Augen und einige Sekunden später bemerkte<br />
Shan, dass es durch die geschlossenen Augenlieder strahlte, durch Haut<br />
und dunkle Träume von Eis und Schnee. Sie öffnete die Augen und<br />
bereute es sofort, als das Gleißen schmerzhafte Intensität gewann und bis<br />
zum Hinterkopf pochte. Sie wollte – wen auch immer – dazu auffordern,<br />
das Licht auszumachen, brachte aber nur ein schwaches Stöhnen hervor.<br />
Der Schmerz ließ ein wenig nach, als sie blinzelte, um die Schleier vor<br />
ihren Augen zu vertreiben.<br />
Dann erschien ein weiß verschwommener Fleck über ihr und wurde<br />
langsam zum hübschen Gesicht ihrer Mutter. Shan konnte die aufrichtige<br />
Erleichterung, von der ihre Mutter überwältigt wurde, deutlich erkennen.
Sie unterdrückte mit Mühe einen freudigen Schluchzer und berührte<br />
Shan sanft an der Wange. „Oh, Liebling.“<br />
Eine weitere Gestalt tauchte über ihr auf. Shans Blick war noch immer<br />
trübe, wie durch einen weichen, samtigen Schleier, aber sie erkannte<br />
ihren Vater sofort. Er lächelte. „Wie fühlst du dich?“<br />
Schrecklich, dachte Shan. Aber sie... fühlte. Das war immerhin ein<br />
Fortschritt. Sie versuchte etwas zu sagen, war aber nicht in der Lage,<br />
einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen. Stattdessen seufzte<br />
sie. Sie war sehr schwach und hatte keine Ahnung, wie viel Zeit<br />
vergangen war.<br />
„Wir haben dich unmittelbar vor dem Raumhafen gefunden.“, erklärte<br />
ihr Vater. „Du hast lange Geschlafen.“<br />
Shan holte mühsam Luft und versuchte sich auf die Ellenbogen zu<br />
stemmen, aber es gelang ihr nicht. Dann sagte sie mühsam: „Tut ... leid.“<br />
Ihre Mutter lächelte erneut und streichelte ihr sanft durchs Haar. Shan<br />
fühlte sich durch die Berührung gleich ein bisschen besser. Das konnten<br />
wirklich nur Mütter. „Schon okay, Liebling. Wir reden darüber, wenn du<br />
dich besser fühlst.“<br />
„Urgon ... Artefakt.“<br />
Ihre Mutter schüttelte den Kopf und legte einen Zeigefinger an ihre<br />
Lippen. „Es ist alles in Ordnung, Shan.“, sagte sie. „Streng dich nicht<br />
an.“<br />
„Du bist über fünfzig Kilometer durch den Schnee gestapft.“, erklärte<br />
Matt. Sein Blick verriet, wie verblüfft er über ihre Leistung war. Aber<br />
auch wie stolz. „Das ist meine Tochter.“, nickte er mit einem Lächeln.<br />
„Lässt sich einfach nicht unterkriegen, Schnee und Eis zum Trotz. Aber<br />
nun ruh dich aus. Werd erst mal wieder fit.“<br />
Shan seufzte. Sie versucht noch etwas zu sagen. Ihre Lippen bewegten<br />
sich, aber kein Ton kam hervor. Dann versank die Welt wieder in<br />
bedeutungsloser Schwärze und sie schlief ein.<br />
Zuhause
Als Shan sie außerhalb ihres Zimmers reden hörte, setzte sie sich<br />
langsam in ihrem Bett auf. Es war das erste mal seit Tagen, wo sie weder<br />
Benommenheit, noch Schwindel verspürte. Endlich hatte sie nicht mehr<br />
das Gefühl, dass ihr jeden Augenblick der Schädel abfallen könnte. Eine<br />
warme Nachmittagssonne strömte durch ihr Fenster herein. Wärme. Nie<br />
hätte sie gedacht, je wieder dieses Gefühl erleben zu können. Draußen<br />
glitten diverse Shuttles lautlos durch die Häuserschluchten New New<br />
Yorks. Sie war vor einer Woche offiziell aus dem Krankenhaus entlassen<br />
und nach Hause gebracht worden. Seither kümmerte sich Doktor<br />
Gregory Roach, persönlicher Arzt und Freund ihres Vaters, um sie.<br />
Er kam jeden Tag vorbei, manchmal sogar mitten in der Nacht. Dann<br />
tastete er sie mit allen möglichen antiquittierten Geräten ab, steckte ihr<br />
ein sogenanntes Fiberthermometer in den Mund und untersuchte sie auf<br />
Herz und Nieren, bis er schließlich zufrieden äußerte, dass sie auf dem<br />
Weg der Besserung sei. Er war sehr um ihre Gesundheit besorgt, womit<br />
er ihr allmählich auf die Nerven ging.<br />
Aber sie sah ein, dass die Beobachtung unter der sie stand, notwendig<br />
war. Man hatte sie mit schwerer Unterkühlung und Erfrierungen ins<br />
Krankenhaus eingeliefert. Wie durch ein Wunder hatte das kleine<br />
Abenteuer sie keine Finger oder Zehen gekostet. Am dritten Tag war sie<br />
das erste Mal aufgewacht. Am fünften hatte sie schon versucht aus dem<br />
Bett zu schlüpfen, doch dann hatte sich der Boden plötzlich um 180 Grad<br />
gekippt und sie war unsanft aufgeschlagen.<br />
Als sie ihre Beine nun über die Bettkante schob und sich aufrichtete,<br />
blieb der Boden dankenswerterweise dort, wo er hingehörte: in der<br />
Waagerechten. Ihr Stand war zwar noch etwas wackelig, aber immerhin.<br />
Sie hielt sich aufrecht und sie kippte nicht um. Shan tappte einigermaßen<br />
ungeschickt zum Wandschrank hinüber und holte frische Sachen heraus,<br />
um sich anzuziehen.<br />
Sie nahm sich Zeit, untersuchte ihren Körper genau. Sie hatte einen<br />
großen Bluterguss auf der linken Schulter, ebenso am Oberschenkel und<br />
an der Seite. Dazu noch hässliche lila Striemen da, wo das Monster seine<br />
Krallen in ihren Körper geschlagen hatte. Dort und an der Stirn war sie<br />
dermalregeneriert worden. Ihr ganzer Körper war auch jetzt, fast<br />
anderthalb Wochen nach ihrer Rettung, noch steif. Sie auch jetzt noch<br />
einen fürchterlichen Muskelkater, und ihr tat alles ein wenig weh, selbst
das Atmen. Es kostete Mühe Socken und Hose anzuziehen. Aber im<br />
Großen und Ganzen ging es ihr gut. Nein, noch besser eigentlich – sie<br />
fühlte sich fast wie neugeboren.<br />
Da draußen im Eis war sie sicher gewesen, dass sie sterben würde.<br />
Woher sie die Kraft genommen hatte, die ganze Strecke bis zum<br />
Raumhafen zurückzulegen und sich auch noch gegen das Monster zur<br />
Wehr zu setzen, wusste sie nicht. Im Nachhinein war es ihr einfach<br />
unbegreiflich. Nur eines wusste sie: aus dieser Erfahrung hatte sie Werte<br />
mitgenommen, und sie war auf eine Art und Weise verändert worden,<br />
die sie selbst noch gar nicht begriff.<br />
Denn alles erschien ihr plötzlich so anders, so fremd. Ihr Zimmer, die<br />
Bücher auf ihrem Nachtschrank... Als würde sie das alles mit anderen<br />
Augen sehen, als wären das alles Dinge, die einer anderen Person<br />
gehörten. Nicht ihr. Das einzige, was ihr vertraut schien, das einzige, von<br />
dem ein gewisser Reiz ausging, waren das Schwert und der Rucksack.<br />
Beide Gegenstände lagen auf dem Schreibtisch, vor einer Reihe kleiner<br />
Stofftiere, die einen merkwürdigen, surrealen Kontrast zu ihnen bildeten.<br />
Shan hatte darauf bestanden, den Rucksack zu behalten, obwohl er<br />
eigentlich ein Fall für die Müllverwertung war. Aber er gehörte ihr. Ganz<br />
allein ihr und sie wollte ich nicht mehr hergeben. Nun strich sie sanft mit<br />
den Fingerkuppen über das alte Material, ertastete die Wahrheit dieser<br />
neuen Realität. Es fühlte sich rau an. Harsch. Dann griff sie langsam zum<br />
Schwert, und drehte die Klinge so, dass sie ihr eigenes Spiegelbild sehen<br />
konnte. Sie wusste nicht genau, wer sie dort ansah, aber es war nicht das<br />
unvorbereitete, naive Mädchen, dass nach Frigoria geflogen war. Die<br />
war irgendwo in der Eishölle verloren gegangen, und jemand anderes<br />
war an ihre Stelle getreten. Der Blick in den Spiegel rief Erinnerungen<br />
an das ewige Eis wach, an die Kälte des Schnees, die Einsamkeit, das<br />
Geheul des Windes, das bedrohliche Knurren des Monsters, und den<br />
Gestank von Blut. Und eine merkwürdige, ihr unbegreifliche Sehnsucht<br />
kam in ihr auf.<br />
Shan wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Sie seufzte, legte die<br />
Klinge wieder auf den Schreibtisch ab und wandte sich zum<br />
Schuhschrank um, um sich vollständig anzukleiden. Sie besaß ein paar<br />
Ausgehschuhe, Turnschuhe... und da waren sogar Wanderstiefel. In der<br />
Vergangenheit hatte sie die Stiefel kaum anprobiert. Sie waren viel zu
schwer für den Alltag, viel zu protzig, und Shan hatte nie das Bedürfnis<br />
verspürt, sie zu benutzen. Aber jetzt? Nie mehr das Haus ohne festes<br />
Schuhwerk verlassen, dache sie. Stiefel also. Shan streifte sie über, und<br />
trat in den Korridor des eher kleinen und funktionellen Apartments<br />
hinaus, dass sie bewohnten.<br />
Als sie die Treppe hinunterging und sich dem Wohnzimmer näherte,<br />
hörte sie die Stimmen ihrer Eltern hinter der angrenzenden Küchentür.<br />
Sie schienen heftig zu diskutieren, was ungewöhnlich war, da sie<br />
normalerweise weder laut wurden, noch großartig unterschiedlicher<br />
Meinung waren. Shan verlangsamte im Schritt und blieb im Flur stehen,<br />
um zu lauschen. Sie hörte ihren Vater und Wörter wie „erstes Jahr“ und<br />
„riskant“ und... „Akademie.“<br />
Als sie das Wort Akademie hörte, fühlte sie Shan, als würde die Welt<br />
um sie herum taumeln. Jetzt war völlig klar, was passierte. Die wollten<br />
sie auf die Akademie schicken! Auf die Sternenflottenakademie. Es war<br />
nicht das erste Mal, dass sie sich darüber unterhalten hatten, aber jedes<br />
Mal war das Gespräch ähnlich verlaufen: Ihr Vater hatte die Akademie<br />
ins Spiel gebracht, Shan hatte heftigst abgewehrt und schon bald waren<br />
sie im Streit auseinandergegangen.<br />
Er hatte ihren Standpunkt nie verstehen wollen – vielleicht, weil sie es<br />
nie für nötig gehalten hatte, sich völlig zu erklären -, und war daher<br />
immer mal wieder mit dem Vorschlag gekommen, ganz vorsichtig und<br />
Shan hatte ihn dafür jedes mal umso bestrebter Abgeschmettert. Nun,<br />
nach ihrem Reiß-Aus in die Eishölle, würde es nicht so einfach werden.<br />
Denn diesmal hatte sie wirklich Mist gebaut und befand sich somit<br />
automatisch in der schwächeren Verhandlungsposition!<br />
„Sie ist so unkontrollierbar wie der Wind.“, hörte sie ihren Vater<br />
sagen. „Jemand muss ihr Einhalt gebieten, ehe sie sich etwas antut. Es ist<br />
nur zu ihrem besten“<br />
„Aber sie will es nicht, Matt. Das hat sie mehr als deutlich gemacht.<br />
Wir können sie nicht zwingen.“<br />
„So? Warum nicht? Dich hat man doch auch gezwungen, Kelly. Deine<br />
Eltern haben dich gegen deinen Willen dorthin geschickt. Und hat es dir<br />
geschadet?“<br />
Eine Pause. Dann ein schweres Seufzten. „Nein. Nein, es hat mir nicht<br />
geschadet. Aber Shan ist anders. Sie will... sie hat ihre Gründe.”
„Welche, Kelly? Grozit, warum bin ich wieder der einzige, der nichts<br />
weiß? Aufgrund meines Postens als Direktor von...- als Direktor meiner<br />
Organisation, müsste es eigentlich umgekehrt sein...“<br />
„Es ist nicht so einfach, Matt. Sie ... sie ist in einer Schwierigen Phase.<br />
Einer Phase, in der sie verzweifelt versucht ihren Platz im Universum zu<br />
finden. Und der liegt vielleicht nicht unbedingt in unseren Wurzeln,<br />
verstehst du?“<br />
Den Rest des Gesprächs bekam Shan gar nicht mehr richtig mit. Das<br />
hier war ernst. Akademie, dachte sie. Das Wort echote in ihrem Kopf. Sie<br />
wollte dort nicht hin. Sie wollte das Universum sehen. Vier Jahre in eine<br />
Schule gesperrt zu werden... in diese Schule... es war undenkbar! Sie<br />
betätigte den Türöffner und erschreckte ihre Eltern, die sich in der Küche<br />
gegenüberstanden, mit in die Hüfte gestemmten, oder vor der Brust<br />
verschränkten Armen.<br />
„Liebling.“, bemerkte Kelly ihr Eindringen und bemühte sich um ein<br />
Lächeln. „Du bist wieder auf den Beinen.“<br />
Shan ging gar nicht erst darauf ein. „Was geht hier vor?“, fragte sie im<br />
skeptischen Tonfall. „Was habt ihr zu betuscheln?“<br />
Ihre Eltern blickten sich einen Moment lang gegenseitig an, bis sie<br />
scheinbar stumm zu einer Übereinkunft gekommen waren. Dann wandte<br />
sich Matt ihr zu. „Wir... müssen reden, Shan.“<br />
„Nein, niemals!“<br />
Shan saß ihren Eltern im Wohnzimmer gegenüber. Ihre Gesichter<br />
zeugten von vorsichtiger Zurückhaltung, aber Shan hatte das Gefühl, sie<br />
wäre bereits mehr oder weniger überstimmt worden, ehe der Kampf<br />
überhaupt begonnen hatte. Aber sie wusste, dass sie auf ihre Meinung<br />
stur weiter beharren musste. Ihre Mutter hielt sich erstaunlich im<br />
Hintergrund. Diesen Kampf fochte sie hauptsächlich mit ihrem Vater<br />
auf, und diesmal nützte ihr selbst ein lieblicher Augenaufschlag nichts<br />
mehr. „Auf gar keinen Fall!“, bekräftigte sie. „Ich gehe nicht auf die<br />
Akademie! Nicht in einer Millionen Jahre!“<br />
„Shan, hör dir doch erst einmal an, was wir zu-“<br />
„Dad! Nein! Lass es einfach, okay?“
„Aber warum willst du denn nicht begreifen, hm? Seit entstehen der<br />
Sternenflotte war so gut wie jeder Bartez auf der Akademie. Deine<br />
Urgroßmutter Sidney auf der Challenger beispielsweise, und nach ihr<br />
haben sich unzählige Mitglieder dieser Familie-“<br />
„Mom...“, sagte Shan in gequältem Ton.<br />
Bevor sie etwas sagen konnte, ging Matt dazwischen. „Deine Mutter<br />
wird dir jetzt ausnahmsweise mal nicht helfen.“ Und er setzte hinzu:<br />
„Hör doch, der Zeitpunkt ist ideal. Du könntest direkt im<br />
Frischlingsommer anfangen. Das ist in nur ein paar Wochen. Ich<br />
schreibe dich ein und du bist sofort dabei.“<br />
„Muss man da nicht erst einen Test machen?“<br />
Matt tat die Sache mit einer ablehenden Geste ab. „Betrachte das als<br />
erledigt.“<br />
„Dad!“, protestierte sie. „Du... nein! Einfach... Nein! Ich... ich will das<br />
nicht. Ich will nicht bevormundet werden und ich will nicht-“<br />
„Der Test dient dazu herauszufinden, ob jemand eigenständig denken<br />
kann, nichts weiter.“, erklärte Matt schnell. „Ob jemand die nötigen<br />
Fähigkeiten besitzt, den stressigen Akademiealltag überhaupt zu<br />
bewältigen. Und... ich bitte dich! Du hast eine Woche in der Eishölle von<br />
Frigoria überlebt. Ich würde sagen, du hast unter Beweis gestellt,<br />
einigermaßen belastbar zu sein. Test bestanden. Betrachte die Sache<br />
einfach als erledigt.“ Er zauberte einen Datenblock aus der Innentasche<br />
seiner Jacke hervor - Eine Broschüre über die Akademie. „Hier, Shan,<br />
sieh dir das an. Das ist der Hauptcampus hier auf der Erde. In San<br />
Francisco. Ich könnte ein paar Hebel in Bewegung setzen, und zusehen,<br />
dass du genau dorthin kommen könntest. Du müsstes nicht zu einer der<br />
übrigen Akademieeinrichtungen auf einem anderen Planeten, sondern<br />
wärst hier. Also direkt bei deinen Freunden. Bei uns.“<br />
Wieder das gequälte Gesicht. „Mom...“<br />
Und erneut ging Matt streng dazwischen. „Du brauchst deine Mutter<br />
gar nicht so anzugucken, in der Hoffnung, einen Keil zwischen uns zu<br />
treiben. Wir haben die Entscheidung gemeinsam getroffen und jetzt<br />
unterhalten wir beide uns.“<br />
Sie rollte die Augen. „Ich weiß, Dad.“<br />
Er deutete erneut auf das Padd. „Es ist großartig, Shan. Natürlich, der<br />
Unterricht ist herausfordernd und nicht einfach. Du wirst viel büffeln
müssen. Aber du bist clever und hast Talent. Du bist schließlich meine<br />
Tochter.“ Er lächelte. „Du schaffst das.“<br />
Shan war völlig verzweifelt. Sie wusste nicht recht, wie ihre weitere<br />
Strategie aussehen sollte, wie sie sich vor diesem Schicksal bewahren<br />
konnte – an diesem Punkt waren sie noch nie gewesen. Sie stützte die<br />
Ellenbogen auf der Tischplatte ab und vergrub ihr Gesicht in den<br />
Händen. Matt ließ sich davon nicht beirren. Er beugte sich vor und hielt<br />
ihr das Padd regelrecht unter die Nase. „Siehst du das hier? Das große<br />
Gebäude? Der Bartez-Flügel, da befindet sich das Haupt-Auditorium.“<br />
Shan stöhnte auf. „Oh, phantastisch, Dad! Die anderen Schüler werden<br />
mich bestimmt lieben, wenn ein ganzer Flügel nach mir benannt ist...“<br />
„Nicht nach dir.“, verbesserte er fröhlich lächelnd. „Nach mir.“<br />
Sie schnappte: „Verdammt noch mal! Dann leb doch darin!“<br />
„Das habe ich. Da... hieß er aber noch nicht Bartez-Flügel.“, musste er<br />
einräumen. „Sondern... Na ist ja auch egal. Hör zu. Die Zeit an der<br />
Akademie war fantastisch. Es waren gute Jahre. Großartige Jarhe. Ich<br />
habe deine Mom dort kennengelernt. Ich wäre nicht, der, der ich heute<br />
bin, wenn ich mich damals nicht eingeschrieben hätte.“<br />
Shan musste sich beherrschen nicht zu schreien – viel fehlte aber nicht<br />
mehr. „Vielleicht will ich nicht wie du sein!“<br />
Matt lachte nur. „Eine kleine Spritztour mit der Pax, alles geht schief,<br />
Monster, Schwertkämpfe... Du bist doch längst wie ich.“<br />
Sie bedachte ihn mit einen vernichtenden Blick. „Kannst du nicht<br />
einfach akzeptieren wer ich bin?“<br />
„Ich akzeptiere ja, wer du bist.“<br />
„Fein. Dann hör auf Entscheidungen für mich zu treffen!“<br />
„Ich bin dein Vater.“, stellte Matt grimmig fest. „Entscheidungen für<br />
dich zu treffen ist mein Job!“<br />
„Und was ich will zählt nicht?“<br />
„Du bist erst sechzehn, Shan. Du weißt gar nicht, was du willst. Und<br />
du wirst es nicht wissen, bis du fünfundvierzig bist. Und wenn du es<br />
schließlich bekommst, bist du zu alt es zu nutzen.“<br />
Sie sprang so energisch auf, dass ihr Stuhl umkippte. „Ich sage es ein<br />
letztes Mal! Ich will nicht auf die Akademie! Ich will nicht in deine<br />
Fußstapfen! Ich will, dass du mir verdammt noch mal vertraust, meine<br />
eigenen Entscheidungen zu treffen....“
Matts Blick verdüsterte sich und zum ersten Mal schwang Zorn in<br />
seiner Stimme mit, als er sie unterbrach. „Deine ach so genialen<br />
Entscheidungen haben dich in die Eishölle von Frigoria gebracht, wo du<br />
um ein Haar ums Leben gekommen wärst, schon vergessen?“<br />
Shan ließ sich nicht einschüchtern, sie kam gerade erst in Fahrt. „...und<br />
ich will, dass du nicht länger versucht mein Leben zu kontrollieren und<br />
zu planen! Schon mal daran gedacht, dass es einen Grund hat, dass ich<br />
langsam versuche abzuhauen?“<br />
Ihre Augen bohrten sich in seine und für einen Moment schienen sie<br />
ein stummes Duell zu führen. Dann drehte sich Shan auf dem Absatz<br />
herum und stürmte mit geballten Fäusten zur Treppe.<br />
Matt sprang ebenfalls auf. „Shan... Sha’Nyn Bartez! Bleib hier! Wir<br />
sind noch nicht fertig!“<br />
Selbstverständlich machte sie keine Anstalten, auf ihn zu hören,<br />
sondern trampelte stattdessen äußerst Geräuschvoll die Treppe hoch.<br />
„Okay! Fein! Wir fahren später fort.“<br />
Er hörte noch ein „Kann’s kaum erwarten!“ von oben. Dann knallte<br />
ihre Zimmertür.<br />
„Du kannst noch so wütend sein!“, rief er ihr hinterher, als er auf den<br />
Flur hinaustrat und die Treppe hochblickte. „Ich werde nicht zulassen,<br />
dass meine Tochter ihr Leben und ihre Talente in irgendeinem<br />
zweitklassigen Beruf verschwendet, nur weil sie nicht die richtige<br />
Ausbildung genossen hat!“<br />
Kelly stand seufzend auf. Diese Art der Interaktion zwischen Shan und<br />
Matt wurde immer mehr zur Gewohnheit. Wahrscheinlich war das bei<br />
Kindern in dem alter normal, aber sie wusste, dass es noch andere<br />
Gründe gab und hielt es für besser, sich einzuschalten. Matt war müde,<br />
er hatte die letzten Nächte an Shans Bett gewacht ohne zu schlafen, und<br />
wenn er müde war, wurde er strenger als üblich. Sie legte ihren Arm um<br />
seine Schulter.<br />
„Matt-“<br />
Er hörte sie nicht, sah immer noch zur Treppe hoch. Jetzt drang<br />
gedämpfte Musik aus der Anlage in ihrem Zimmer. Irgendein Krach.<br />
Er rief: „Wir sind noch nicht fertig, junge Dame!“<br />
„Matt.“<br />
„Was?“
„Es ist schon spät. Möchtest du eine Tasse Kaffee?“<br />
„Kelly, ich lasse wirklich viel von ihr durchgehen. Sehr viel sogar.<br />
Aber sie hat hier eine Grenze überschritten. Uns sie kann so nicht mit<br />
uns umspringen.“<br />
„Was hast du erwartet?“, fragte Kelly und nahm seinen Arm in die<br />
Hände, um ihn sanft Richtung Küche zu bugsieren. „Sie ist deine<br />
Tochter, Matt. Sie hat deinen Sturkopf.“<br />
Seine Gestalt schien einzusacken. „Und deinen.“<br />
„Wir haben sie Sha’Nyn getauft, Matt! Das Tkon-Wort für Geduld.<br />
Als Warnung, weil dieser Name sie daran erinnern soll, nicht zu<br />
stürmisch zu sein. Wir wussten, worauf wir uns einlassen. Wie<br />
unbeugsam sie werden könnte.“ Kelly schmunzelte. „Es gibt bei ihr nicht<br />
viele Möglichkeiten. Entweder rettet sie irgendwann die Welt... oder<br />
unterwirft sie.“<br />
Was Kelly als Scherz meinte, war für Matt totaler Ernst. „Ich versuche<br />
sie zu ersterem zu bringen. Aber du hast mich ja nicht sonderlich dabei<br />
unterstützt, muss ich sagen.“<br />
„Weil ich sie verstehe.“<br />
„Verstehen? Wobei? Was meinst du?“ Er konnte ihr nicht folgen.<br />
„Matt. Hast du je daran gedacht, wie es für sie sein muss? Als Tochter<br />
einer lebenden Legende?“<br />
Er zögerte. „Nun...“<br />
„Wie tritt man aus dem Schatten eines so großen Mannes, hm? Ganz<br />
sicher nicht, indem man ihm folgt.“<br />
Matt runzelte die Stirn. Er sah wieder Richtung Treppe und fragte sich,<br />
was das nun wieder zu bedeuten hatte.<br />
Shan saß im Schneidersitz auf dem Bett und hielt ein übergroßes<br />
Stofftier - Toby den Targ - mit beiden Armen umschlungen und feste an<br />
sich gedrückt, während noch immer die Musik dröhnte. Sie wollte<br />
schmollen, aber eigentlich war ihr gar nicht danach. Sie empfand nicht<br />
einmal eine besondere Wut, weder auf ihren Dad, noch auf sich selbst.<br />
Nur... grenzenlose Verwirrung.<br />
Sie betrachtete Toby und stellte fest, dass er ihr nichts mehr gab. Noch
vor ein paar Wochen war Toby ihr allerheiligstes. Sie schlief nie ohne<br />
ihn ein. Und nun? Ihr ganzes Zimmer gab ihr nichts mehr. Gut, sie hatte<br />
sich nie besonders oft hier aufgehalten. Sie liebte ihre Autonomie und<br />
empfand sich mit ihren sechzehn auch schon als ganz schön erwachsen.<br />
Dennoch war das Zimmer immer eine sichere Zuflucht gewesen, ein<br />
Hort ihrer Kindheit. Doch jetzt fühlte sich das Zimmer irgendwie...<br />
fremd an. Toby fühlte sich fremd an. Einfach alles fühlte sich fremd an.<br />
Einzig das Schwert auf dem Schreibtisch und der Rucksack übten einen<br />
schwer erklärbaren Reiz auf sie aus - Nicht aufgrund dessen, was sie<br />
waren. Sondern aufgrund dessen, was sie für Shan symbolisierten. Sie<br />
hatte da draußen gelebt, zum ersten Mal richtig und auf sich alleine<br />
gestellt. Und so erschreckend – ja sogar traumatisch – diese Erfahrung<br />
eigentlich war... so hatte es einem Teil von ihr gefallen für sich selbst<br />
verantwortlich zu sein.<br />
Shan zupfte gedankenverloren an Tobys Reißzähnen. Es war schon<br />
eine Weile her, seit sie in ihr Zimmer gestürmt war, doch die Worte ihres<br />
Vaters hallten ihr nach wie vor im Kopf herum. Du bist doch schon wie<br />
ich, hatte er gesagt. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen, aber insgeheim<br />
stimmte das sogar. Shan dachte an das Tier, dass sie in der Höhle<br />
erledigt hatte. Mit Blut und seinen Innereien besudelt, das Schwert in der<br />
Hand haltend und die Zähne gefletscht hatte sie sicher einen<br />
respekteinflößenden Anblick dargeboten. Einen Anblick der einem<br />
Bartez gerecht wurde. So musste auch ihr Vater einst ausgesehen haben,<br />
als er sich durch die Massen der Grez’An geschnetzelt hatte, um das<br />
Universum zu retten. Und so musste ihre Mutter ausgesehen haben, als<br />
sie zur selben Zeit im Weltraum mit der USS Starfury die Schlacht gegen<br />
die Armada des Feindes angeführt hatte. Sie konnte sich noch so sehr<br />
dagegen wehren, sie war und blieb eine Bartez. Und tief in ihrem Herzen<br />
hatte sie das auch immer gewusst. Nur war sie bisher davon<br />
ausgegangen, dass sie genügend Selbstständigkeit besaß und mit allem<br />
fertig wurde. Auf der Oberfläche von Frigoria war ihr jedoch ein<br />
ziemlicher Dämpfer verpasst worden, obwohl die Sache noch einmal gut<br />
ausgegangen war. Denn sie hatte eher mit Glück, als mit Verstand<br />
überlebt. Beim nächsten Mal würde die Geschichte wohl anders enden.<br />
Vielleicht brauchte sie ja doch noch Training... vor allem in Sachen<br />
Raumschiffsteuerung.
Sie war so tief in ihren Gedanken versunken, dass sie gar nicht<br />
mitbekam, wie ihre Mutter eintrat. Erst, als sich Kelly sanft lächelnd<br />
neben sie auf das Bett setzte, bemerkte Shan ihre Gegenwart. Sie hob<br />
blinzelnd den Kopf. „Ich hatte abgeschlossen.“, sagte sie mit wenig<br />
Verärgerung.<br />
„Hab die Sperre umgangen.“<br />
Das verblüffte Shan. Um sicherzustellen, dass sie ihre Ruhe hatte,<br />
wenn sie niemand stören sollte, hatte sie wochenlang an dem Sperr-<br />
Algorithmus geschrieben, doch Kelly war es offenbar mühelos gelungen,<br />
ihn zu überbrücken. „Wie... hast du das geschafft?“<br />
Kelly hob lächelnd die Schultern. „Als ich in deinem Alter war, habe<br />
ich selber eine ganze Menge Türen hinter mir zugeknallt. Ich schätze, ich<br />
weiß einfach, wie diese Sperren funktionieren.“<br />
Ein schweres Seufzen drang aus Shans Kehle und sie drückte Toby<br />
näher an sich, als könne er ihr beistehen. „Du bist hier, weil du mich<br />
überzeugen willst, auf die Sternenflottenakademie zu gehen, nicht<br />
wahr?“<br />
„Nein.“<br />
Shan hob den Kopf und machte keinen Hehl aus ihrer Überraschung,<br />
als sie ihre Mutter anstarrte. „Nicht?“<br />
„Nein. Natürlich bin ich das nicht. Shan, du sollst tun, wonach dir der<br />
Sinn steht. Punkt. Wenn du nicht auf die Akademie willst, dann musst du<br />
auch nicht. Keiner wird dich dazu zwingen.“<br />
„Aber Dad-“<br />
„Ich habe mit deinem Vater geredet.“, erklärte Kelly sanft und nahm<br />
Shans Hand in ihre. „Ich versichere dir, er hat das vorhin nicht so<br />
gemeint. Glaubst du etwa, er würde dich gegen deinen Willen zu etwas<br />
drängen? Ernsthaft? Komm schon. Du bist doch seine Prinzessin. Seine<br />
Göttin. Seine Inspiration. Er würde alles für dich tun, Liebling.“<br />
Nun schnaubte Shan. „Ja, sofern ich in seine Fußstapfen trete!“<br />
„Das ist nicht wahr, und das weißt du auch. Dein Vater mag nicht ohne<br />
Fehler sein...“<br />
„Was du nicht sagst...“, rollte Shan sarkastisch mit den Augen.<br />
Kelly ignorierte den Kommentar. „Aber was immer er tut, oder sagt, er<br />
macht es aus Liebe.“ Sie schmunzelte liebenswürdig. „Selbst wenn es<br />
sich um furchtbaren Unsinn handelt. Er macht es für uns. Für mich... für
dich. Du hast uns beiden einen ziemlichen Schrecken eingejagt, weißt du<br />
das? Dein Vater... er kann es vielleicht nicht so zeigen, aber er macht<br />
sich sorgen. Und ich auch. Wir wollen doch nur dein Bestes.“<br />
„Mein bestes, oder eures?“<br />
Kelly blickte verletzt drein, und Shan bereute ihre Worte sofort.<br />
Warum musste sie aber auch immer gleich sagen, was ihr durch den Sinn<br />
kam? Sie seufzte – das schien sie dieser Tage häufig zu tun. „Ich weiß,<br />
Mom. Und ich weiß, dass er es nicht so meint, aber ich...“ Sie sprach den<br />
Satz nicht zuende. Das musste sie auch gar nicht.<br />
„Liebes.“, sagte Kelly. „Wovor hast du solche Angst?“<br />
„Mom, ich... ich habe... Angst davor, in seine Fußstapfen zu treten. In<br />
die Fußstapfen der Legende. Ich habe Angst darin zu versinken.“<br />
Nun lachte Kelly auf. „Natürlich kannst du nicht in seine Fußstapfen<br />
treten. Aber es hindert dich doch nichts daran eigene machen.“<br />
„Aber das versuche ich ja. Ich... ich versuche nur ich selbst zu sein.“<br />
Sie fuchtelte kurz mit den Armen herum, um ihre Frustration zu<br />
unterstreichen. „Aber ich bin mir noch nicht ganz sicher, wer ich<br />
eigentlich bin. Wie viel davon du bist... wie viel davon Dad ist... und wie<br />
viel ich selbst bin, verstehst du das?“ Sie verzog das Gesicht. „Ergibt das<br />
überhaupt irgendeinen Sinn?“<br />
„Das tut es. Ich verstehe vielleicht besser, als du denkst. Ich war auch<br />
mal jung, und musste ebenso herausfinden, wer ich eigentlich bin. So<br />
ziemlich jeder macht das irgendwann durch. Manche finden die Antwort<br />
recht schnell, und andere...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nun, bei<br />
anderen dauert es eben etwas länger.“ Das half Shan nicht sonderlich.<br />
„Mach dir deswegen keine Sorgen, Liebling.“, entgegnete Kelly daher<br />
lächelnd. „Versuche einfach nur Shan Bartez zu sein und lass die<br />
Geschichte ihr eigenes Urteil fällen. Der Rest ergibt sich irgendwann von<br />
alleine.“<br />
Shan warf ihr einen schiefen Seitenblick zu. „Hat man dir so was auf<br />
der Sternenflottenakademie beigebracht?“<br />
„In gewisser Weise.“ Kelly lächelte. „Zefram Cochrane sagte das<br />
einst.“<br />
Shan runzelte die Stirn. „Dass man Shan Bartez sein soll?“<br />
„Ich hab’s ein bisschen modifiziert.“, gestand Kelly augenzwinkernd.<br />
„Hm.“
„Hast du denn eine Vorstellung, was du stattdessen machen willst,<br />
Liebling?“<br />
Ein Schulterzucken. „Ich bin nicht sicher. College, nehme ich an. Aber<br />
wenn ich ehrlich sein soll, habe ich keine Lust mehr weiterhin in diesen<br />
Klassenzimmern zu verwesen.“<br />
„Deine Noten sind doch gut?“<br />
„Ja, aber der Unterricht ödet mich an. Das Lernen macht mir Spaß,<br />
aber ich will nicht nur dauernd theoretisches Wissen um die Ohren<br />
gepeitscht bekommen. Wenn mir meine Lehrer von diesen oder jenen<br />
Dingen erzählen, Planeten in der Galaxie, oder Phänomenen im<br />
Weltraum, dann will ich dorthin, will ich es mit eigenen Augen sehen, es<br />
fühlen, es... erfahren. Ich habe Lust da rauszufliegen und mir anzusehen,<br />
was das Universum zu bieten hat, anstatt es mir von fremden Leuten<br />
erzählen zu lassen. Es gibt so vieles zu sehen...“ Sie sah nachdenklich zu<br />
ihrem Rucksack und dem Schwert auf dem Schreibtisch. Von dem, was<br />
sie bedeuteten, von der Geschichte, die sie erzählten, über Shan und über<br />
Frigoria, und von der Erinnerung an die Erlebnisse auf der Eiswelt, ging<br />
noch immer eine merkwürdige Anziehungskraft aus, und sie begriff nach<br />
wie vor nicht recht wieso. Aber es war aufregend gewesen. Sie hatte<br />
Dinge gesehen, die vielleicht sonst niemand gesehen hatte. Sie war ins<br />
Staunen geraten, hatte Informationen über bis dahin kaum Bekanntes<br />
gesammelt. Sie hatte den Urgon gefunden, in der Fremde, im<br />
Unerforschten Gebiet. Es prickelte in ihr, wenn sie sich vorstellte, was<br />
noch für wundervolle und einzigartige Erfahrungen da draußen auf sie<br />
warteten.<br />
Shan amtete tief ein, als müsse sie Mut sammeln, ehe sie zu ihrer<br />
Mutter sah, um ihr womöglich törichtes Vorhaben zu formulieren.<br />
„Vielleicht... sollte ich einfach meinem Gefühl folgen und nach dem<br />
aktuellen Schuljahr ein wenig im Quadranten herumreisen, was denkst<br />
du? Mir ein bisschen Erfahrung aneignen. Ein paar Orte ansehen. Nichts<br />
gefährliches, nichts wie Frigoria.“, fügte sie schnell hinzu.<br />
Kelly hob und senkte die Schultern. „Wenn dich das glücklich macht,<br />
klar. Warum nicht?“<br />
„Aber...“ Shan schien verunsichert und rutschte auf dem Bett herum.<br />
„Wird es mich denn glücklich machen?“<br />
„Nun, das kann ich dir nicht sagen, Liebes. Das musst du schon selbst
herausfinden.“<br />
„Hm-mmhn.“<br />
Shan schwieg eine Weile. Während sie mit nach innen gerichtetem<br />
Blick mit ihren Fingern spielte, wartete ihre Mom geduldig. Shan war ihr<br />
dankbar, dass sie die Akademie nicht ins Spiel brachte, obwohl ihr<br />
durchaus bewusst war, dass sich der Hinweis, dass es in der Sternenflotte<br />
darum ging, dort hinauszufliegen, und nachzusehen, was hinter dem<br />
Horizont lag, regelrecht anbot. Aber Kelly drängte nicht, und sie musste<br />
es auch nicht.<br />
Schließlich fragte Shan irgendwann von selbst: „Würde die Akademie<br />
mich nicht zu einem Leben in der Flotte verurteilen? Ein Leben, wo<br />
andere über mich und mein ganze Zukunft bestimmen, wo andere mir<br />
sagen, wo ich hinfliegen darf, und wo nicht?“<br />
Kelly lachte. „So etwas wird nicht geschehen, wenn du es nicht willst.<br />
Vergiss nicht, dass ich vor meiner politischen Karriere auch einst ein<br />
Teil der Flotte war. Sie ist kein Gefängnis, kein Club ohne<br />
Austrittsmöglichkeit. Nach einer gewissen Dienstzeit, ist es möglich,<br />
sein Offizierspatent wieder abzulegen, wenn man möchte. Dann bist du<br />
erneut frei. Und solltest du eine lange Karriere anstreben... Nun, man<br />
kann nicht unbedingt tun und lassen, was man will, aber es gibt einen<br />
gewissen Spielraum. Das sind aber Dinge, die noch in ferner Zukunft<br />
liegen. Bis dahin kannst du auf der Akademie eine ganze Menge<br />
wichtiger Dinge lernen.“<br />
„Toll.“, murrte Shan. „Wieder Klassenzimmer.“<br />
Erneut das charmante Lachen ihrer Mutter. „Keine gewöhnlichen<br />
Klassenzimmer, Liebling. Die Sternenflottenakademie ist mit keiner<br />
anderen Schule zu vergleichen. Sie ist einzigartig. Glaub mir, dort hat<br />
sich noch nie jemand gelangweilt...“<br />
„Es gibt immer ein erstes Mal.“<br />
„Sieh mal... der Frischlingsommer, von dem dein Vater vorhin<br />
gesprochen hat, dauert nur sechs Wochen und ist lediglich die<br />
Vorbereitung auf die Ausbildung. Erst im Anschluss dieser Sechs<br />
Wochen musst du den Eid ablegen und wirst verpflichtet. Es ist<br />
sozusagen die ideale Gelegenheit einfach mal hereinzuschnuppern, und<br />
zu entscheiden, ob die Akademie etwas für dich ist. Und wenn es dir<br />
nicht gefällt...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dann kannst du
problemlos wieder aussteigen. Probier es doch einfach mal. Was sind<br />
schon sechs Wochen auf der Akademie, verglichen mit sechs Tagen im<br />
ewigen Eis.“<br />
Shan zupfte wieder an Tobys Reißzähnen, die inzwischen ganz schön<br />
ausgefranst waren. Sie war so nachdenklich, dass sie gar nicht mitbekam,<br />
was sie tat. Nach einer kurzen Gesprächspause fragte Shan: „Hast du es<br />
je bereut, beigetreten zu sein?“<br />
„Nein.“ Es kam wie aus der Pistole geschossen. Dafür legte sich Kelly<br />
die nachfolgenden Worte genau zurecht. „Du... hast das Glück in einer<br />
Zeit aufzuwachsen, die nicht von Kriegen gezeichnet ist. Die Föderation<br />
erblüht und sieht sich keinen unmittelbaren Bedrohungen entgegen –<br />
nicht einmal mittelbaren. Es... herrscht das Paradies, das wir uns immer<br />
erträumt haben, ein Paradies, in dem du umhertollen kannst. Und dafür<br />
bin ich sehr dankbar. Bei uns ging es damals... weitaus turbulenter zu.<br />
Die Konflikte mit den Cardassianern, den Klingonen, der Dominion-<br />
Krieg, die Borg, die Grez’an... Als Sternenflottenoffiziere waren wir<br />
überall mittendrin, in jedem einzelnen Scharmützel. Ich habe in jener<br />
Zeit viele Freunde verloren, und einige Dinge gesehen, die mich zutiefst<br />
erschüttert haben, und denen sich niemand hätte aussetzen sollen. Und<br />
dennoch. Ich habe in keinem Moment bereut, diese Uniform zu tragen.<br />
Weil ich wusste, dass die Arbeit, die von uns verrichtet wurde, wichtig<br />
war. Weil ich wusste, dass wir für all das, was uns heute<br />
selbstverständlich ist, gekämpft und dieses Paradies somit erst möglich<br />
gemacht haben. Es war eine außergewöhnliche Erfahrung. Und ich<br />
würde sie dir nicht nahe legen, wenn ich etwas davon bereut hätte.“<br />
Nachdenklich legte Shan die Stirn in Falten. „Aber... warum bist du<br />
dann überhaupt ausgestiegen?“<br />
Kelly rückte näher, legte Shan den Arm um die Schulter, und küsste<br />
ihre Tochter auf die Stirn. Dann strich sie ihr sanft mit dem Handrücken<br />
über die Wange und sah ihr voller Liebe tief in die Augen. „Ich habe<br />
etwas noch viel erfüllenderes gefunden.“<br />
Das zauberte erstmals auch Shan ein dünnes Lächeln ins Gesicht. Es<br />
war schon erstaunlich. Ihre Mom wusste immer, wie man sie aufheiterte,<br />
wusste alles über Shan. Ihre Ängste, ihre Sorgen... sie kannte die tiefsten<br />
Tiefen ihrer Seele. Selbst die dunklen. Und sie wusste stets das richtige<br />
zu sagen. Shan bewunderte sie für ihre Intelligenz, ihre Ruhe und was sie
ihr gab. Sie arbeitete von morgens bis abends im Föderationsrat, aber sie<br />
war trotzdem immer für ihre Tochter da, war immer da, wenn Shan sie<br />
gebraucht hatte, und gab ihr eine großartige Ausbildung und vermittelte<br />
ihr den Glauben an sich selbst.<br />
Draußen räusperte sich jemand. „Kann ich reinkommen? Darf ich?“ Es<br />
war Matt.<br />
„Die Tür ist offen.“, rief Kelly. Dann sah sie zu ihrer Tochter. „Er darf<br />
doch reinkommen, oder?“<br />
Shan zuckte mit den Schultern: Mir egal.<br />
Die Tür öffnete sich einen Spalt weit und Matt lugte herein.<br />
„Dad.“, nahm sie seine Anwesenheit zur Kenntnis.<br />
„Shan.“, sagte Matt förmlich, sah sich vorsichtig um – zuerst nach<br />
links, dann nach rechts -, und betrat nun, da er sicher war, nicht von<br />
einem klingonischen Erschießungskommando erwartet zu werden, ganz<br />
in ihr Zimmer. Er stand eine Weile da, hatte die Hände in die<br />
Hosentaschen gestopft, und schien sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu<br />
fühlen. Shan hatte Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass sich ein Mattt<br />
Bartez verunsichert fühlen konnte.<br />
„Ich... uh... ich schätze ich muss mich entschuldigen, Shan.“<br />
Shan schnaubte. So leicht wollte sie es ihm nicht machen.<br />
„Deine Mutter hat mir gestanden, was dich bedrückt.“ Matt schüttelte<br />
betroffen den Kopf. „Ich... war ein Idiot, verstehst du? Ich war ein Idiot,<br />
dass ich nicht erkannt habe, wie sehr du daran zu knabbern hast, wer...<br />
was ich bin. Hätte ich gewusst, dass dies der Grund ist, für deine...<br />
Ausflüge...“<br />
„Das ist es nicht, Dad.“<br />
„Nein?“<br />
Shan seufzte. „Ich war einfach... ach, ich weiß nicht. Was hast du<br />
erwartet? Wir haben früher all diese Reisen zusammen unternommen. Ihr<br />
habt mich immer mitgenommen, mir viele tolle Orte gezeigt. Ich dachte<br />
ich könnte es auch alleine...“ Sie zuckte hilflos mit den Schultern,<br />
unfähig zu sortieren und richtig auszudrücken, was sie fühlte. „Du musst<br />
dich nicht entschuldigen.“<br />
„Wirklich?“<br />
„Wirklich.“ Sie sah beschämt zu Toby, der ihr nichts mehr gab, legte<br />
ihn symbolisch beiseite und blickte ihrem Vater dann in die Augen. Zeit
erwachsen zu werden. Dazu gehörte auch, für das eigene Verhalten<br />
geradezustehe. „Ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss. Es war<br />
dumm von mir, Dad. Diese ganze Expedition, dieser ganze Ausflug.“<br />
Matt durchquerte das Zimmer und kniete sich vor sie hin. Dann nahm<br />
er ihre kleinen Hände in seine Großen warmen. „Shan... Liebling... Ich<br />
will das du weißt, dass ich Stolz auf dich bin. Ich bin ganz sicher nicht<br />
einverstanden damit, dass du uns belogen hast, aber... deine Fähigkeiten<br />
habe ich wohl auch ziemlich unterschätzt. Ich meine ... du hast dich<br />
sieben Tage durch die Eishölle von Frigoria geschlagen. Sieben Tage!<br />
Unter schwersten Bedingungen! Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich<br />
das geschafft hätte.“<br />
„Doch, das hättest du.“ Daran bestand keinen Zweifel.<br />
„Ja, das hätte ich, vermutlich.“, nickte er seufzend. „Es tut mir<br />
wirklich leid, Shanny. Ich habe nicht geahnt, wie sehr dir mein Ruf zu<br />
schaffen macht, und dass wir dir mehr Spielraum hätten lassen müssen.<br />
Ich habe es nie in Betracht gezogen.“<br />
„Schon okay.“, erwiderte Shan.“ Der ganze Ärger war verflogen. „Es<br />
kommt nicht wieder vor.“<br />
Das beruhigte ihren Vater sichtlich. Alles war wieder gut. Er strich mit<br />
dem Daumen über ihre Hände, die in seinen fast völlig verschwanden.<br />
Eine Sache stand noch immer aus. „Du musst nicht auf die Akademie,<br />
wenn du nicht willst.“<br />
„Aber du hättest gern, dass ich dorthin gehe, nicht wahr?“<br />
Matt tauschte einen tiefen Blick mit Kelly, die kaum merklich nickte,<br />
und ihn stumm zu irgendetwas aufzufordern schien. Er sah dann zu<br />
Boden und ließ die Schultern leicht hängen. Als er schließlich sprach,<br />
klang er merkwürdig niedergeschlagen, fast traurig. So hatte Shan ihn<br />
noch nie erlebt. Normalerweise gab es kaum etwas, das ihn erschüttern<br />
konnte.<br />
„Weißt du... Väter wollen es oft nicht wahrhaben, wenn ihre Töchter<br />
fähig sind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es bedeutet, dass wir<br />
zu Zuschauern degradiert werden. Dass wir zunehmend überflüssig<br />
werden. Als du geboren wurdest, hatte ich gehofft lange Zeit ein paar<br />
Innings mit dir Spielen zu können, aber... aber du hast mich schon vor<br />
einer ganzen Weile auf die Bank versetzt. Es ist so schnell passiert, dass<br />
ich es kaum mitbekam.“ Seine Augen fixierten die ihren und mit einer
Kopfbewegung deutete er zum zerschlissenen Rucksack und dem<br />
Schwert auf ihrem Schreibtisch. „Du spürst den Ruf davon, oder? Das<br />
Abenteuer. Die Selbstbestimmung. Du hast Blut geleckt, und jetzt willst<br />
du mehr.“<br />
„Ich...“ begann Shan zögernd, in der Absicht, es abzustreiten. Aber sie<br />
hatte in sich hineingehorcht, vorhin schon, und es dämmerte ihr, dass ihr<br />
Vater ins Schwarze getroffen hatte. Ihm war es nur gelungen, ihre<br />
Empfindungen auszuformulieren, das unterschwellige Bedürfnis zu Tage<br />
zu bringen und zu benennen. Statt also alles abzustreiten, flüsterte sie,<br />
überrascht von der eigenen Erkenntnis: „Ja.“<br />
Matt nickte wissend. „Mir ist klar, dass es dich allmählich hinauszieht.<br />
Hinaus in die Freiheit. Und wenn du schließlich deine Flügel spannst und<br />
davonfliegst, werde ich nicht einmal mehr in der Lage sein, das Spiel<br />
von der Zuschauertribüne aus anzusehen. Ich werde den Verlauf nur<br />
noch aus der Ferne mitbekommen, über Hörensagen und gelegentliche<br />
Anrufe von dir. Mir ist ebenso bewusst, dass ich den Moment nicht<br />
verhindern kann. Hinauszögern vielleicht. Aber nicht verhindern. Es<br />
ist...“ Er nahm einen schweren Atemzug. „...eine der erschütterndsten<br />
Wahrheiten, der man sich als Elternteil stellen muss. Ich möchte aber<br />
wenigstens, dass du so gut wie möglich auf das Unbekannte vorbereitet<br />
bist, ehe du dich dorthin begibst. Einfach, damit du da draußen auch<br />
überlebst. Und glücklich wirst. Auch ohne mich. Du hast Talent, du hast<br />
Leidenschaft. Aber das ist alles unkanalisiert, weil du frustriert, verwirrt<br />
und unvorbereitet bist. Du magst denken, dass du es mit dem Universum<br />
aufnehmen kannst – jeder Teenager tut das. Und ich denke, du kämst<br />
besser klar, als die meisten. Dennoch gibt es da eine Menge Dinge, die<br />
du erst noch lernen musst. Vielleicht nicht von uns. Vielleicht nicht von<br />
der Schule. Aber vielleicht von der Akademie. Wenn du dorthin gehen<br />
würdest... dann wüsste ich wenigstens, dass deine Ausbildung die Beste<br />
des Quadranten ist, und, dass man dich so umfassend wie nur irgend<br />
möglich auf die Gefahren da draußen vorbereitet. Außerdem...“ und<br />
dabei warf er Kelly einen kurzen Blick zu „...hätten deine Mutter und ich<br />
noch vier weitere Jahre das Vergnügen deiner Gegenwart, wenn auch<br />
nicht unmittelbar. Aber San Francisco ist gleich um die Ecke. Du wärst<br />
in der Nähe, hier auf der Erde.“<br />
Shan neigte misstrauisch den Kopf und runzelte die Stirn. „Du willst,
dass ich mich schuldig fühle.“<br />
Er schüttelte den Kopf und es war ernst gemeint. „Ich will dich daran<br />
erinnern, dass du zu mehr in der Lage bist, als durch das Eis zu stapfen<br />
und alte Rucksäcke zu finden. Das ist eine Verschwendung deines<br />
bislang ungenutzten Potentials.“ Er tippte ihr schmunzelnd auf das Kinn.<br />
„Du bist eine Bartez. Und eine Bartez ist zu hohem Berufen.“<br />
„Ach, Dad.“, stöhnte Shan. „Warum kannst du nicht einfach normal<br />
sein?“<br />
„Definiere Normal.“<br />
„Na ja... so wie andere Dads eben.“<br />
„Ich bin doch wie andere Dads ... nur ... mit dem Unterschied, dass ich<br />
die Galaxie gerettet habe.“ Er grinste.<br />
Shan rollte die Augen.<br />
„Weißt du...“, setzte er fort „die Grez’An mögen besiegt sein, aber da<br />
draußen gibt es sicher noch größere Abenteuer zu bezwingen. Abenteuer,<br />
die all das, was ich getan habe in den Schatten zu stellen vermögen.<br />
Denkmäler warten darauf deinen Namen zu tragen, Liebling. Und wenn<br />
du das nicht willst...“, er zuckte mit den Schultern. „dann ist das auch<br />
nicht schlimm. Deine Mutter und ich, wir werden dir immer ein<br />
Denkmal stellen. Denn du bist unser größtes Abenteuer.“<br />
Shan kratzte sich nachdenklich über ihr Kinn, während sie zum<br />
Fenster raus, auf die vorbeiziehenden Shuttles sah. Und aus den Tiefen<br />
ihrer Seele entließ sie einen langen, unsicheren Seufzer, während sie sich<br />
in Anbetracht der Entscheidung, die sie zu fällen drohte, fragte, ob es<br />
nicht doch besser gewesen wäre, auf Frigoria zu erfrieren...<br />
Galak<br />
Es war nicht die beste aller Zeiten, aber es war auch nicht die<br />
schlechteste aller Zeiten. Es war der Anbeginn einer neuen Ära für den<br />
Planeten Orsoria und wenn man Galak Arsamandi, einziger Sohn des<br />
Königs und somit zukünftiges Oberhaupt der Herrscherfamilie fragte,<br />
war der Start nicht besonders Vielversprechend.
Er angelte sich ein hohes Champagnerglas vom Tablett einer<br />
vorbeihuschenden Kellnerin und musterte skeptisch die dichtgedrängte<br />
Menschenmenge, während er ohne besonderen Durst an dem Getränk<br />
nippte. Der Champagner schmeckte ein bisschen nach Flusswasser, fand<br />
Galak. Ihm fehlte eindeutig der gute, spritzige Geschmack, den<br />
orsorianische Getränke auszeichnete, aber die waren den<br />
Föderationsgesandten zu süß. Ihnen war alles zu süß, zu laut, und zu<br />
spaßig, und dementsprechend hatte man das Bankett, das heute ihnen zu<br />
Ehren im Palast stattfand, auch ganz harmlos gestaltet – Obgleich der<br />
verschwenderische Prunk des in festlichen Lichts getauchten<br />
Palastgebäudes, und die überschäumende, irgendwie künstliche<br />
Fröhlichkeit der durcheinanderrennenden, lachenden und annähernd<br />
nackten Mitglieder der Herrscherfamilie, zumindest nach menschlichen<br />
Maßstäben nicht als harmlos bezeichnen konnte - Das Klirren von Glas,<br />
die dezente Musik, die im Raunen der Leute fast unterzugehen schien,<br />
und die vornehme Eleganz prunkvoller Möbel. Dazu die livrierten<br />
Dienerinnen, die nicht nur ihre verschwenderisch ausgestatteten Tabletts<br />
mit der Geschicklichkeit von Artisten jonglierten, ohne auch nur ein<br />
einziges Mal irgendwo anzustoßen, oder gar ihre Last fallen zu lassen...<br />
... es war eine durchaus pompöse Veranstaltung.<br />
Und der Pomp zeigte Wirkung. In der Tat, konnte Galak regelrecht<br />
spüren, wie beeindruckt die Föderationsleute waren, auch wenn sie sich<br />
redlich bemühten, dies nicht zu zeigen. Anscheinend war ihnen während<br />
ihrer – wie auch immer gearteten - Ausbildung jeglicher Sinn für Spaß<br />
und Party abgewöhnt worden. Sie fielen in ihren grau-schwarzen<br />
Uniformen zwischen den Orsorianern auf, wie... na ja, eben wie Leute,<br />
die auf einer Feier als einzige Kleidung trugen und bar jeden Vergnügens<br />
in der Gegend herumstanden. Sie schienen an derartige Feiern auch ganz<br />
und gar nicht gewöhnt zu sein. Für Galak, der fast täglich auf solchen<br />
Veranstaltungen mitwirkte, war das schier unvorstellbar. Warum<br />
arbeiteten diese Leute überhaupt, wenn sie nicht bereit waren, die<br />
Früchte ihrer Ernte zu genießen? Einen Moment lang fragte er sich, ob<br />
diese Kreaturen überhaupt lebten.<br />
Da gab es beispielsweise diesen Glatzkopf, den Anführer, mit dem<br />
schmächtigen Körper. Zumindest wirkte er durch die eintönige Uniform<br />
schmächtig und Galak war sich ziemlich sicher, dass er es darunter auch
war. Er bot keinen Vergleich zu den auf natürliche Weise stets gut<br />
gebauten, und im Vergleich zu den Menschen extrem muskulösen<br />
Orsorianern. Dabei war Glatzkopf eine Berühmtheit bei seinen Leuten,<br />
zumindest, wenn man den Geschichten Glauben schenken durfte, die er<br />
gehört hatte. Unter anderem wurde ihm nachgesagt, eine kybernetische<br />
Spezies – die Borg – besiegt zu haben. Er hatte auch Geschichten über<br />
diese Wesen gehört, sie aber ins reich der Fantasie verbannt. Zumindest<br />
waren sie zweifellos übertrieben. Er konnte sich nicht vorstellen, wie<br />
eine ganze Rasse lediglich Erobern, aber nie feiern wollte. Und selbst<br />
wenn etwas wahres dran sein sollte an, den Erzählungen – hier auf<br />
Orsoria musste man sich glücklicherweise nicht mit solchen Dingen<br />
beschäftigen. Sie waren ein friedliebendes Volk und hatten noch nie<br />
irgendwelche Probleme gehabt. Wenn sich andere Welten untereinander<br />
bekriegen wollten, sollten sie es ruhig tun. Hauptsache man hielt die<br />
Orsorianer da raus.<br />
Außerdem sollte er sich für ein Dutzend diplomatischer Missionen<br />
verantwortlich zeichnen, dieser Glatzkopf, und er genoss allgemein ein<br />
hohes Ansehen in seiner Organisation. Aber wenn der schon das Beste<br />
war, was die Föderierten zu bieten hatten – einen alten, schwächlichen<br />
Mann -, dann war eine Allianz mit ihnen vielleicht doch keine so gute<br />
Idee, fand Galak. Ganz gewiss nicht. Glatzkopfs Körper lies eindeutig<br />
die kräftigen Muskelstränge vermissen, die Galak – die jeden Orsiorianer<br />
– auszeichneten. Alle waren sie schmächtig, diese Föderierten.<br />
Schmächtig und schwach. Der Blinde an der Theke, der kleine mit den<br />
großen Ohren neben den Vorhängen... lediglich der große mit der<br />
Schärpe machte einen ganz vernünftigen Eindruck. Dafür war er<br />
allerdings so ziemlich das hässlichste, was Galak je gesehen hatte. Und<br />
ihre Weibchen waren auch nicht viel besser – Ganz hübsche Dinger<br />
eigentlich, die Galak vielleicht sogar gefallen hätten, hätten sie ein<br />
bisschen... lebendiger gewirkt. Hätten sie sich ein bisschen lebendiger<br />
verhalten. Und hätten sie nicht diese abscheuliche Kleidung getragen...<br />
Großer Vogel, wie er diese Uniformen hasste!<br />
Orsorianer trugen keine Uniformen. Sie trugen überhaupt keine<br />
Kleidung. Ihre primären und sekundären Geschlechtsorgane wurde<br />
einzig und allein von einem natürlichen Lichtlendenschurz verdeckt.<br />
Alles andere galt als obszön und anstößig. Da sie aber ohnehin alle
verschwenderisch ausgestattet waren, gab es auch nicht viele<br />
Überraschungen. Ebenfalls merkwürdig, war, so viele Männer an einem<br />
Ort versammelt zu sehen. Auf Orsoria gab es kaum noch Männer. Sie<br />
waren eine Rarität.<br />
Galaks ... - nun, der Begriff Freund war nicht wirklich zutreffend, kam<br />
der Sache bedauernswerter weise aber am nächsten. Sein Freund Zaron<br />
also, der an einer goldenen Säule neben ihm verweilte und gelegentlich<br />
an einem Glas nippte, schien dasselbe zu denken. „Seht sie euch an, Lord<br />
Arsamandi.“, sagte er mit geringschätzigem Gesichtsausdruck. „So klein.<br />
So Uniform. So… bekleidet. Unbegreiflich, dass der König mit diesen<br />
Personen eine Allianz einzugehen gedenkt.”<br />
„Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen, Freund<br />
Zaron. Wir benötigen eben neue... Weidegründe, nicht wahr?“<br />
„Mit denen, mein Lord?“ Zaron sah einer älteren Menschenfrau in<br />
Uniform nach, die gerade an ihm mit unbeeindruckend schwingenden<br />
Hüften vorbeigeeilt war und schnaubte geringschätzig. „So verzweifelt<br />
können unsere Zeiten gar nicht sein.“<br />
Es sah nicht allzu optimistisch aus, das musste Galak einräumen. Doch<br />
dann entdeckte er doch noch ein interessantes Exemplar. Ebenfalls eine<br />
Frau, wie er annahm, diesmal jung und humanoid. Sie stand wenige<br />
Meter von ihm entfernt, und war scheinbar nicht gewillt, der Party die<br />
sich um sie herum entfaltete, auch nur eines Blickes zu würdigen.<br />
Sie war recht groß, was Galak automatisch attraktiv fand, hatte spitze<br />
Ohren und kurzes, schwarzen Haar, das vorne zu einem Pony geschnitten<br />
war. Irgendwie erinnerte der Schnitt an einen... Pagen. Ihre Gesichtszüge<br />
waren hübsch, aber auch sehr streng, was irgendwie unpassend wirkte.<br />
Diesen Eindruck verstärkte natürlich noch die Uniform, mit der sie ihre<br />
durchaus aufregenden Körperformen verhüllt hatte. Ohne Zweifel eines<br />
der hübscheren Exemplare der Föderierten, wenn auch natürlich längst<br />
nicht so makellos, wie selbst die hässlichste Orsorianerin. Sie schien<br />
weder viel von der Gesellschaft zu halten, noch von den Festlichkeiten.<br />
Stattdessen war sie alleine und tippte nun bemüht auf einem kleinen<br />
Gerät herum, bei dem es sich zweifellos um einen Taschenrechner<br />
handeln musste. Vermutlich war sie eine Mathematikerin. Und da sie auf<br />
einer Party arbeitete, handelte es sich bei ihr auch zweifellos um einen<br />
Freigeist. Alleine das machte sie für Galak interessant, zumindest
interessanter als alle anderen, und er stellte fest, dass sie eine<br />
merkwürdige Anziehungskraft auf ihn ausübte.<br />
Zaron, der sie zur gleichen Zeit wie Galak entdeckt hatte, tauschte mit<br />
ihm einen kurzen, wenig begeisterten, Blick.<br />
„Entschuldigt mich einen Moment.“, bat Galak. „Ich denke, ich werde<br />
mich ihr vorstellen.“<br />
Zaron rümpfte misstrauisch die Nase. „Sie ist alt, mein Lord.“<br />
„Auf alten Schiffen lernt man fliegen, Zaron.“<br />
„Nur, bis sie abstürzen, mein Lord.“<br />
Galak schmunzelte und schob sich eine hartnäckige Strähne seines<br />
langen blauen Haares aus dem Gesicht. Dann schlenderte ohne<br />
besondere Eile zu ihr rüber. Unterwegs nickte er einigen Föderierten und<br />
anderen Mitgliedern des Herrschaftshauses zu, ohne ein Gespräch zu<br />
suchen. Schließlich baute er sich zu seiner vollen Größe von immerhin<br />
beachtlichen ein Meter achtzig vor ihr auf und verkündete mit erhabener<br />
Stimme seine Position – etwas, das Frauen immer beeindruckte: „Ich bin<br />
Galak Arsamandi, Prinz des orsorianischen Könighauses und heiße sie<br />
im Namen meiner Familie auf Orsoria willkommen.“<br />
Die Reaktion war eine, mit der er nicht gerechnet hatte: nämlich gar<br />
keine. Die Frau sah nur kurz von ihrem Gerät auf und bedachte ihn mit<br />
einen solch finsteren Blick, der keinen Zweifel daran lies, dass sie es ihm<br />
schon übel nahm, sich ihr überhaupt genähert zu haben. Ohne auf seine<br />
Worte einzugehen, oder gar etwas zu erwidern, widmete sie sich wieder<br />
dem, was sie tat.<br />
Galak starrte sie einen Moment lang an, als hätte sie den Verstand<br />
verloren. „Ich sagte, ich heiße sie auf Orsoria willkommen.“<br />
Diesmal sah sie nicht einmal mehr von ihrem Gerät auf, als sie brüsk<br />
erwiderte: „Das habe ich verstanden. Sogar beim ersten Mal. Wenn sie<br />
mich nun entschuldigen würden - Ich habe zu tun.“<br />
Offenbar lag ihr überhaupt nichts daran, sich mit ihm zu unterhalten.<br />
Oder sie hoffte, ihn durch ihre Schroffheit abzuwimmeln. Vielleicht war<br />
es auch nur eine verdrehte Art des Werbens? Damit weckte sie Galaks<br />
Ehrgeiz. Er sah kurz über die Schulter. Zaron warf ihm einen leicht<br />
amüsierten Blick zu, als würde er sagen wollen: „Sie liegt ihnen ja schon<br />
regelrecht zu Füßen, mein Lord.“<br />
Das wird schon noch, erwiderte Galak stumm und drehte sich wieder
zu der Frau. „Wie ist ihr Name?“, verlangte er zu wissen.<br />
„Selar.“<br />
Das war alles, was sie sagte.<br />
„Welcher Spezies gehören sie an?“<br />
Er glaubte ein verärgertes Grummeln aus ihrer Bauchhöhle zu<br />
vernehmen. Dennoch sagte sie, auch weiterhin ohne aufzublicken: „Ich<br />
bin eine Vulkanierin.“<br />
„Interessant. Sehr interessant.“ Er neigte den Kopf. „Sie sind nicht<br />
sehr Gesprächig, nicht wahr?“<br />
„Ich bin... logisch.“<br />
„Und diese... Logik ... hält sie davon ab, an einer Party teilzunehmen?“<br />
Sie erschien ihm immer genervter. „Exakt.“<br />
„Sie sind nicht erfreut mich zu sehen, oder?“<br />
„Erfreut sie zu sehen? Warum sollte ich erfreut sein, sie zu sehen?“<br />
Galak blinzelte. „Weil die meisten Leute erfreut über meine<br />
Gegenwart sind.“ Daran gab es keinen Zweifel.<br />
„Ich nicht.“<br />
Genug gespielt, dachte Galak. Zeit für direkte Methoden. „Nun, sie<br />
mögen nicht erfreut über mich sein. Aber ich bin sicher, sie haben sich<br />
gefragt, wie es unter diesem Lichtlendenschurz aussieht. Eine<br />
Demonstration ließe sich bestimmt einrichten.“ Er lächelte gewinend.<br />
Aber wieder war die Reaktion eine andere als er erwartet hätte. Selar<br />
stieß ungehalten den Atem durch die Zähne aus und sah zu ihm auf. Er<br />
hatte den Eindruck, dass sie eine Spitze Bemerkung von sich geben<br />
wollte, überlegte es sich dann aber im letzten Moment doch anders.<br />
„Nein. Danke.“, sagte sie einfach. „Und jetzt lassen sie mich meine<br />
Arbeit fortsetzen. Ich habe es hier mit einer medizinischen Überprüfung<br />
ihres Volkes von höchster Wichtigkeit zu tun und das hat eine<br />
unbestreitbar höhere Priorität, als ihr...“ Sie blickte an ihm herab und hob<br />
geringschätzig eine Braue „...Lichtlendenschurz.“ Damit drehte sich<br />
brüsk um und eilte gemessenen Schrittes davon.<br />
Galak stand da, wie ein begossener Pudel. Er wusste beim besten<br />
Willen nicht, was gerade geschehen war. Noch nie hatte ihm jemand eine<br />
Abfuhr erteilt. Und wenn doch, dann ganz bestimmt nicht so eine. Er<br />
hoffte, dass niemand gesehen, oder gehört hatte, was passiert war, doch<br />
dann hörte er hinter sich jemanden in die Hände klatschen.
„Ist das nicht ein entzückendes Bild?“, erschallte eine kalte, vor<br />
Sarkasmus triefende Stimme hinter ihm.<br />
Vater, dachte er. So viel zum schönen Tag.<br />
„Mein Sohn demonstriert sein Versagen. Welch seltener Anblick. Und<br />
ihr sollt als einer der wenigen noch verbliebenen Männer eine wichtige<br />
Säule der orsorianischen Gesellschaft sein, junger Prinz?“<br />
Mit einem stummen Seufzer, wandte sich Galak um und gab seinem<br />
Vater die Ehre von Prinz zu König, in dem er sich leicht vor ihm<br />
verbeugte und rezitierte: „Gepriesen sei der König, und gepriesen sei das<br />
Haus des Königs, und die Stärke des Königs, auf das seine Männlichkeit<br />
niemals vergehe.“<br />
Der König zeigte sich wenig beeindruckt von dieser Standartfloskel.<br />
Er ragte mit strengem Blick und mit in die Hüften gestemmte Händen<br />
vor ihm auf, und wirkte wie eine Kriegsikone. Er war eindrucksvoll<br />
groß, selbstverständlich enorm muskulös und ehrfurchteinflössend. Seine<br />
Arme und Beine waren so dick wie Baumstämme, die mächtige Brust<br />
zum zerreißen gespannt. Das lange rote Haar wehte in einem<br />
merkwürdigen, offenbar nur für den König gedachten Luftzug. Galak<br />
war überrascht, ihn hier anzutreffen, und das auch noch ohne seine neuen<br />
Verbündeten, den Glatzkopf Pi-kah, oder den Irren Kal-Huhn an seiner<br />
Seite. Eigentlich hatte es geheißen, sein Vater, der König, würde erst<br />
morgen von seinem sechswöchigem Aufenthalt bei den Föderierten<br />
eintreffen. Galak realisierte, dass er die Rückkehrfeier verpasst hatte. Er<br />
hatte es ganz vergessen.<br />
„Vater, ich-“<br />
„Was? Meine Begrüßung? Ihr wurdet nicht vermisst.“ Seine Stimme<br />
war so kalt und schneidend, wie die Klinge eines Schwertes. Er sah kurz<br />
zu der Vulkanierin herüber, die gerade in der Menge verschwand und<br />
grollte. „Verschwendet ihr auf diese Art eure Zeit, Prinz?“<br />
„Ich habe nur-“<br />
„Ich sah sehr deutlich, was ihr getan habt.“<br />
„Aber ich war-“<br />
„Schweigt! Ich gab euch die Anweisung, die Abgesandten der<br />
Föderation zu unterhalten, euch mit ihnen zu befassen und sie hier<br />
willkommen zu heißen. Und das ist alles, was ihr erreicht? Eine kleine<br />
Party? Eine... Abfuhr?“
Galak sah die kalte Verachtung in den Augen seines Vaters, die ihn<br />
davon abhielt, eine unangebrechte Bemerkung zu äußern. Er hätte ihm<br />
gerne so vieles gesagt, aber es war zwecklos, wenn der König in dieser<br />
Verfassung war. Stattdessen fragte er trotzig: „Wozu benötige ich<br />
Charme? Mir liegen alle Frauen dieser Welt zu Füßen. Ich habe die freie<br />
Auswahl.“<br />
Der König musterte ihn von oben bis unten. Dann grollte er: „Nicht<br />
mehr lange. Ihr bekommt die Chance, euch zu beweisen und eurer Welt<br />
einen nützlichen Dienst zu verrichten. Kommt nun. Wir haben viel zu<br />
besprechen.“ Er gab seinen Wachen über die Schulter hinweg ein Signal,<br />
wandte sich um und marschierte davon.<br />
Galak ließ die Schultern hängen. „Ja, Vater.“ Bevor er seinem Vater<br />
folgte, drehte er sich noch einmal um, und hielt nach der störrischen<br />
Vulkanierin Ausschau. Doch er sah sie nicht. Er überlegte kurz, ob er sie<br />
exekutieren lassen sollte, überlegte es sich dann aber doch anders.<br />
Seinem Vater würde das nicht gefallen, schon alleine wegen der<br />
angestrebten Allianz mit der Föderation. Also beschloss Galak einfach,<br />
dass er Vulkanier von nun an hasste.<br />
Sie hatten sich in den zweiten Stock des Botschaftergebäudes<br />
zurückgezogen, während von unten der Lärm der Party zu ihnen drang.<br />
Hier, in der rustikalen, anheimelnden Umgebung des Königgemachs,<br />
waren sie ungestört und konnten endlich über die Ergebnisse der<br />
langwierigen Verhandlungen des Königs mit der Föderation reden, deren<br />
Raumschiffe hoch oben im Orbit über Orsoria kreiste. Doch daran dachte<br />
Galak nicht, als er schockiert zu seinem Vater herumwirbelte. „Ich soll<br />
auf deren Akademie?“, brachte er fassungslos hervor.<br />
„Als Austauschschüler.“, nickte der König streng. „Nachdem ihr eure<br />
Zeit mit – im wahrsten Sinne des Wortes - fruchtlosen Spielereien<br />
vergeudetest habt, sollt ihr euch nun dort bewähren, junger Prinz.“<br />
„Vater….” Galak begann wie ein gefangenes Raubtier durch das<br />
Gemach zu marschieren. Der König hingegen stand ohne Mitgefühl für<br />
seinen Sohn am ovalen Fenster, hatte die Hände hinter dem Rücken<br />
verschränkt und sah gebieterisch auf sein Reich hinaus. Es war später
Abend und der violette Schimmer des orsorianischen Himmels bildete<br />
einen farbenfrohen Kontrast zum kristallweißen Glanz der Gebäude der<br />
Hauptstadt.<br />
„...Ich bin nicht schwach. Ich weiß nicht, was ich tun soll, um euch das<br />
Gegenteil zu beweisen. Aber wenn ihr mich bestrafen wollt, in dem ihr<br />
mich von unserer Welt entfernt, dann tut ihr dem Volke damit keinen<br />
Gefallen. Jeder fruchtbare Mann – und zu dieser Minderheit gehöre ich<br />
ebenfalls, ob es euch gefällt, oder nicht -, wird gebraucht, um den<br />
Fortbestand unserer Welt zu sichern. Ihr könnt auf niemanden<br />
verzichten, auch nicht...“ Er hatte sich in Rage geredet, seufzte nun aber<br />
nach kurzem zögern und vollendete leise: „Auch nicht auf euren Sohn.“<br />
„Nonsens.“ Der König schüttelte kaum merklich den Kopf. „Vielleicht<br />
habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Es ist eine Notwendigkeit,<br />
dass ihr geht.“ Er presste die Lippen zusammen und atmete tief ein, als<br />
müsse er sich für etwas wappnen. Als er wieder Sprach, tat er es sehr<br />
leise, fast traurig. Das wunderte Galak, denn er hatte noch nie eine<br />
derartige Emotion des Königs gesehen. „Unser Volk... junger Prinz, steht<br />
am Rande eines Umbruchs.“, in den Worten schwang das Gewicht ihrer<br />
gesamten Welt mit, die auf den Schultern des Königs ruhte, und für<br />
einen kurzen Moment lang, wirkte der König nicht mehr kräftig und<br />
vital, sondern alt und ausgelaugt. „Die Versäumnisse und Fehler unserer<br />
Vorfahren... die dunklen Seiten der Geschichte Orsorias, verfolgen uns<br />
unerbittlich bis zum heutigen Tag, an dem wir unseren Tribut zollen<br />
müssen. Den industriellen Müll, angehäuft über die Jahrhunderte, mögen<br />
wir beseitigt haben, aber die Folgen sind unumkehrbar und wir können<br />
uns nicht mehr länger vor den Konsequenzen der Wahrheit verstecken:<br />
Unser Volk ist so gut wie unfruchtbar geworden. Als wäre das nicht<br />
verheerend genug, erweist sich das weibliche Genom dem männlichen<br />
als Überlegen. Unsere Frauen gebären fast ausschließlich Töchter.“<br />
Galak schob trotzig das Kinn vor. „Ich bin mit unserer Situation<br />
vertraut, Vater.“<br />
Der König schenkte ihm einen vernichtenden Seitenblick. „Seid ihr<br />
das? Seid ich wirklich darüber informiert, wie es um das orsorianische<br />
Volk steht, junger Prinz? Habt ihr während all der Partys, all der<br />
Festlichkeiten, all dem Vergnügen, dem ihr euch ununterbrochen<br />
hingebt, auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, wie die
Auswirkungen unserer Unfruchtbarkeit aussehen werden?“<br />
„Nun, ich-“<br />
„In weniger als fünf Generationen wird Orsoria ausgestorben sein.“<br />
Diese Information traf Galak wie ein Schock. Es war kein Geheimnis,<br />
dass sie Probleme hatten, aber genaue Zahlen waren nie genannt worden.<br />
Man sprach hinter vorgehaltener Hand immer nur von einem gewissen<br />
Druck, dass eine Problemlösung innerhalb der nächsten Jahrhunderte<br />
gefunden werden müsse, sonst könne es eng werden. So drückten es<br />
selbst die Medien aus. Es war stets der Eindruck erweckt worden, als<br />
hätten sie alle Zeit der Welt. Aber das...? Was hatte der König gerade<br />
gesagt? Weniger als fünf Generationen? Galak öffnete und Schloss<br />
mehrmals den Mund, unfähig seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen.<br />
„Ich... ich wusste nicht...“<br />
„Natürlich wusstet ihr es nicht.“, grollte der König verärgert.<br />
„Niemand weiß es. Wir können es uns nicht leisten, die Bevölkerung zu<br />
beunruhigen.“ Er schnaufte beim Blick aus dem Fenster. „Es ist besser,<br />
sie ihre Partys feiern und ihr Leben genießen zu lassen, anstatt sie in<br />
Angst und Schrecken über unsere Zukunft zu versetzen. Die Aufgabe,<br />
sich zu fürchten, hat die königliche Familie übernommen.“ Er schüttelte<br />
den Kopf. „Auch wenn ich es mir lange nicht eingestehen wollte: Was<br />
wir brauchen, ist Hilfe von Außerhalb.“<br />
Galak verstand allmählich. „Daher die Verhandlungen mit der<br />
Föderation.“, sagte er langsam.<br />
Der König nickte bedächtig. „Ihre Technologie ist weit fortgeschritten.<br />
Viel weitere als unsere. Wir sind ein Volk von Künstlern, und<br />
Genießern. Wir sind keine Wissenschaftler.“ Sein Blick wanderte zu den<br />
blinkenden Sternen am Firmament. „Aber sie sind es. Vielleicht - nur<br />
vielleicht - können sie uns medizinische Hilfe gewähren.“<br />
Deswegen diese Ärztin, dachte Galak.<br />
„Aber die medizinischen Untersuchen werden dauern“, fuhr der König<br />
fort. „Selbst mit der Hilfe der Föderation - zumal sie nicht wissen, ob sie<br />
sich überhaupt einmischen dürfen.“<br />
„Warum sollten sie sich nicht einmischen dürfen, Vater?“<br />
„Ihre oberste Direktive verbietet es, da wir kein raumfahrendes Volk<br />
sind, auch wenn wir uns der nachbarschaftlichen Verhältnisse bewusst<br />
sind, in denen wir in dieser Galaxie leben. Bis sie eine Entscheidung
gefällt haben, könnte es bereits zu spät sein.“<br />
„Und was werden wir jetzt unternehmen?“<br />
Nun wandte sich der König endlich vom Fenster ab und sah Galak<br />
direkt an. „Kontakte Knüpfen. Zu anderen Spezies, zu anderen<br />
Sternenreichen. Unser Genom ist trotz allem stark, stärker als das, der<br />
meisten Nicht-Orsorianer.“<br />
Galak musste an die Vulkanierin denken und ein kalter Schauer lief<br />
ihm den Rücken hinab. „Du würdest zulassen, dass wir uns mit anderen<br />
Spezies paaren, in der Hoffnung, dadurch mehr Jungen zu zeugen? Das...<br />
das wäre eine Verwässerung unserer Kultur!“<br />
„Was bringt einem Kultur... Kunst... Musik... wenn niemand mehr da<br />
ist, der sich daran erinnern und erfreuen kann? Die einzige Alternative<br />
läge in unserem Aussterben.“ Die Worte hingen ein paar Sekunden im<br />
Raum, wie zähnefletschende Feinde. Dann straffte der König seine<br />
Gestalt und seine Augen wurden wieder Ausdruckslos. „Aber so weit ist<br />
es noch nicht. Das bleibt zunächst nur der Notfallplan. Zunächst wollen<br />
wir die Verhandlungen mit den Föderierten beschleunigen. Ihr werdet<br />
unser erster Ölzweig sein, euch auf deren Akademie begeben und sie<br />
davon überzeugen, dass wir es Wert sind, gerettet zu werden.“<br />
Galak hatte wenig Lust dazu, aber er wusste genau, dass ihm keine<br />
große Wahl blieb. Hatte der König einmal gesprochen, gab es keine<br />
Diskussion mehr. Er schob mutig das Kinn vor. „Wie mein Vater<br />
wünscht.“, sagte er, seine Stimme ausdruckslos haltend.<br />
Der König starrte ihm in die Augen. „Beweist mir, dass ihr wirklich<br />
mein Sohn seid und nicht irgendein Trick eurer Mutter.“<br />
Nun hatte Galak schon weitaus größere Mühen, sich zu beherrschen.<br />
Er ballte die Fäuste und seine Nasenflügel zitterten. „Meine Mutter war<br />
eure geehrte Frau, Vater. Sie hat euch nicht betrogen und ich werde euch<br />
sowohl in meinem, als auch in ihrem Namen verbieten ihr Andenken zu<br />
beschmutzen!“<br />
„Ah.“ Der König brachte beinahe so etwas ähnliches wie ein Lächeln<br />
zustande. „Schlussendlich zeigt der junge Prinz doch noch eine Spur von<br />
Feuer. Ihr werdet es brauchen. Ihr werdet es gewiss brauchen...“<br />
Der König wandte sich ab und verließ mit ausladenden Schritten sein<br />
Gemach. Galak blieb noch einen Moment, schüttelte verdrossen den<br />
Kopf und sah ebenfalls durch das Fenster in die Nacht hinaus, während
er sich fragte, ob es überhaupt eine Menschenfrau gab, die es auch nur<br />
ansatzweise mit einem Orsorianer aufnehmen konnte.<br />
Shan<br />
Shan nahm zwei Stufen auf einmal, als sie das Treppenhaus<br />
hinaufstürmte. Sie war sehr aufgeregt, das Herz pochte wild in ihrer<br />
Brust und sie spürte wie haufenweise Adrenalin durch ihren Körper<br />
gepumpt wurde.<br />
Heute war der große Tag. Der Tag des Abschieds, an dem sie zur<br />
Sternenflottenakademie fliegen sollte. Davon war sie alles andere als<br />
begeistert und im Grunde hatte sie es nicht wahrhaben wollen und den<br />
Gedanken, dorthin zu gehen, so lange verdrängt, und gehofft, ihr würde<br />
ein Ausweg aus dieser Situation einfallen, bis es schließlich zu spät war.<br />
Was sie allerdings so in Erregung versetzt hatte, war etwas ganz anderes.<br />
Nämlich das Antriebsgeräusch eines herannahenden Schiffes, eines<br />
Antriebes, den sie unter Tausenden wiedererkennen würde. Sie hatte in<br />
ihrem Zimmer gestanden, als ihre Ohren es wahrgenommen hatten,<br />
gerade, als sie ihre Sachen fertig gepackt und ihren Rucksack mit einer<br />
Grabesmimik im Gesicht, über die Schulter geworfen hatte. Doch dieses<br />
Geräusch, ein beinahe liebliches Surren - das hatte ihre Stimmung<br />
grundlegend geändert!<br />
Sie war auf einmal hellwach gewesen, aufgesprungen, und stürmte nun<br />
zum Dach hoch, wo der Landeplatz lag. Shan trug Zivilkleidung – eine<br />
schwarzblau schimmernde Hose, ein weißes Hemd und eine schwarze<br />
Jacke mit kompliziert rot eingeschnittenen Elementen. Vermutlich das<br />
letzte bequeme – und modische - Outfit, das sie in nächster Zeit tragen<br />
würde. Der alte Rucksack von Frigoria war gereinigt und provisorisch<br />
genäht worden und baumelte nun auf ihrem Rücken. Das Poltern ihrer<br />
schweren Stiefel auf dem Metall hallte durch das Treppenhaus, als sie<br />
endlich oben ankam und auf den Ausgang zulief. Es handelte sich um<br />
eine altertümliche Tür ohne Schiebemechanismus. Man musste sie auf<br />
umständliche Art mit einer Art Hebel öffnen, um hindurchschreiten zu
können, ganz ähnlich wie der, die zu ihrem Zimmer führte. Aber Shan<br />
sah, dass die Tür nur angelehnt war, also sprang sie, ohne langsamer zu<br />
werden, mit der Schulter voran dagegen, unterschätzte dabei aber die<br />
Unnachgiebigkeit der Türangel.<br />
„Uff.“, machte Shan, als sie dagegen knallte. Die Tür sprang<br />
kreischend auf und Shan stolperte ins warme Sonnenlicht eines<br />
fröhlichen Juli-Tages. Ihre Eltern, die sich bereits auf dem Dach des<br />
Hauses, hoch über New New York eingefunden hatten, drehten sich zu<br />
ihr um. Im ersten Moment konnte Shan aufgrund der unterschiedlichen<br />
Lichtverhältnisse nicht viel sehen. Es war grell hier draußen, die<br />
Morgensonne stand flach, aber groß, am Horizont und strahlte ihr ins<br />
Gesicht, während ein angenehmer Sommerwind durch ihr Haar strich.<br />
Und dann, nach mehrmaligen Blinzeln, hatten sich ihre Augen an die<br />
Helligkeit gewöhnt und sie sah...<br />
„Großer Vogel.“<br />
Shan stockte der Atem. Ihr Mund stand weit offen, denn sie sah etwas,<br />
was sie nie in ihrem Leben erwartet hätte. Noch mehr als das: Sie sah<br />
etwas, von dem sie überzeugt gewesen war, dass sie es nie wieder sehen<br />
würde. Und doch stand sie da, mitten auf dem Dach. Die Pax! Die Pax<br />
Pelayo! Das Schiff ihres Vaters. Sie war gerade auf der Landefläche<br />
niedergegangen. Ein Geist, ein längst verloren geglaubter Schatten ihrer<br />
Vergangenheit.<br />
Als ihr Vater stolz-grinsend zu ihr trat, deutete Shan mit ungläubig<br />
ausgestrecktem Finger und großen Augen auf das Schiff. „Das... das ist<br />
die Pax.“<br />
„Yup.“<br />
„Kein Nachbau.“<br />
„Nope.“<br />
„Aber... aber wie ist das möglich? Sie ist am Grund der Eisspalte auf<br />
Frigoria zerschellt. Komplett zerschellt. Ich habe es mit eigenen Augen<br />
gesehen. Ich meine...“ Sie sprach nicht weiter, sondern schüttelte einfach<br />
nur völlig verblüfft den Kopf.<br />
„Dein Onkel.“, erklärte Matt. „Er hat sie wieder hinbekommen.“<br />
„Wie?“, fragte Shan nur. Ihr Onkel war eigentlich gar nicht ihr Onkel.<br />
Zumindest bestand keine Blutsverwandschaft, aber er war der Familie –<br />
und vor allem Shan - so nahe, dass die Bezeichnung „Onkel“ mehr als
angemessen war. Kevin Brady, heutiger Leiter der Designabteilung von<br />
Utopia Planitia im Rang eines Konter-Admirals, war ein alter Freund<br />
ihres Vaters - sein ehemaliger Chefingenieur während der Starfury-<br />
Misson, jenen fünf Jahren, die es vermocht hatten, eine kleine Besatzung<br />
zu einer waschechten Familie zusammenzuschweißen. Brady genoss den<br />
Ruf eines Genies und das entsprach der Wahrheit. Brady war in der Lage<br />
aus einer Dose einen Warpkern zu konstruieren. Gleichzeitig war er aber<br />
auch ein bisschen langsam, und schüchtern und – sozial gesehen -<br />
stellenweise auf dem Niveau eines Kindes – aber auf eine gutherzige Art<br />
und Weise. Shan verstand sich prima mit ihm. Er hatte ihr immer<br />
Spielzeug gebaut. Aber das...?<br />
Matt zuckte mit den Schultern. „Kev ist geübt darin die Dinge zu<br />
flicken, die ein Bartez zerstört. Auch wenn es unmöglich scheint, ihm<br />
gelang es schon immer - den nötigen Ansporn vorausgesetzt - alles<br />
wieder grade zu rücken. Du willst gar nicht wissen, wie oft er die<br />
Starfury flickte, wo andere Ingenieure das Schiff einfach für Schrottreif<br />
erklärt hätten.“<br />
Shan atmete erleichtert auf. „Ich bin so glücklich. Ich weiß, wie sehr<br />
du an ihr hängst. Es tut mir leid, dass ich sie beschädigt habe und bin<br />
froh, dass du sie wiederhast.“<br />
Matt schüttelte verneinend den Kopf. „Du verstehst nicht ganz. Sie ist<br />
nicht länger mir.“ Er warf ihr ein kleines Objekt entgegen, dass ihm<br />
Morgenlicht schimmerte - einen winzigen Datenchip, Fingerbreit und<br />
grün, mit isolinearen Schaltkreisen versehen. Shan fing den Chip<br />
geschickt auf. „Was ist das?“<br />
„Die ID-Karte für die neue Türverriegelung der Pax.“ Er deutete mit<br />
dem Kinn zum Schiff. „Sie gehört dir.“<br />
Shan blinzelte. „Du machst Witze. Ich meine... das kannst du nicht<br />
ernst meinen.“<br />
Er lächelte. „Höre ich mich so an, als würde ich Scherzen, Shan?“<br />
Kelly trat neben Matt. Er legte ihr den Arm um und sie sagte an Shan<br />
gewandt: „Dein Vater und ich wissen, wie sehr du an deiner Autonomie<br />
hängst und die Pax war für dich immer ein Inbegriff dieser Autonomie.<br />
Jetzt, wo du einen neuen Abschnitt deines Lebens startest, hast du in ihr<br />
etwas vertrautes. Etwas, das du kennst und liebst.“ Sie sah zu Matt hoch.<br />
„Richtig?“
„Richtig.“, nickte Matt. „Die Tkon hatten ein Sprichwort: Das<br />
Vermächtnis eines Mannes wird an den Geschenken gemessen, die er<br />
seinen Kindern überlässt. Und da du mein Schwert schon annektiert<br />
hast...“ Er deutete auf das Lederpaket, dass sie sich an den Rücksack<br />
gebunden hatte. Ein Stück der Klinge lugte heraus und blitzte<br />
gelegentlich, wenn sich das Sonnenlicht an ihr brach.<br />
Shan hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Shan Bartez, die sechs<br />
Tage lang in der Eishölle von Frigoria gehungert, gekämpft und<br />
schließlich überlebt hatte, wusste absolut nicht, was sie sagen sollte. Was<br />
sie denken, oder fühlen sollte. Also viel sie ihren Eltern einfach<br />
nacheinander um den Hals. „Oh, Dad… Mom... Danke! Danke! Ich weiß<br />
gar nicht, was ich sagen soll. Das ist so fantastisch! Einfach<br />
unglaublich!“<br />
„Freu dich nicht zu früh, junge Dame.“, tadelte Matt. „Die Pax war alt<br />
und klapprig und ich habe Kevin befohlen, sie in genau diesen rüstigen<br />
Zustand zurückzuversetzen, ohne irgendein Upgrade durchzuführen –<br />
etwas, von dem ich ihn nur schwerlich abhalten konnte. Es gibt keine<br />
Extras mehr. Sie hat nun nur geringe Warpgeschwindigkeit, keinerlei<br />
Waffen und keinen Transporter. Wenn du etwas eingebaut haben willst,<br />
dann musst du das von nun an selbst machen. Du musst dich um sie<br />
kümmern, weißt du. So kannst du das, was du auf der Akademie in den<br />
Technikkursen lernst, gleich in die Praxis umsetzen.“<br />
Shan strahlte und versuchte den Drang zu unterdrücken, wie ein<br />
Springball umherzuhüpfen. Es war einfach unglaublich, richtig cool! Sie<br />
hatte befürchtet, dass ihre Eltern sie persönlich zur Akademie fliegen<br />
würden, aber das...? Die Überraschung war gelungen. Absolut gelungen.<br />
Endlich hatte sie ihr eigenes Schiff. Die Pax. Wie sie so herrlich dastand<br />
und von der Sonne angestrahlt wurde, während hinter ihr die Skyline von<br />
New New York Downtown lag...<br />
Shan wandte das Gesicht wieder ihren Eltern zu. Beide glühten vor<br />
Stolz, so dass sie geblendet worden wäre, wären sie Sonnen gewesen. Ihr<br />
Vater – ein starker Mann und ihre Mutter, genauso stark, aber auf andere<br />
Weise. Wo Matt ungestüm war, bewahrte Kelly Ruhe. Wo Matt fordernd<br />
war, war Kelly überzeugend. Sie ergänzten einander perfekt und hatten<br />
gemeinsam alles erreicht, was man nur erreichen konnte. Und nun sollte<br />
ihre Tochter aufbrechen und in ihre Fußstapfen treten. Ein Gedanke, der
Shan nicht recht behagte, aber sie wollte den Moment nicht verderben,<br />
und als sie ihre Mutter erneut umarmte – Kelly zog Shan mit solcher<br />
Kraft an sich, dass es den Anschein hatte, sie wollte sie zerquetschen -,<br />
stellte sich jeder unliebsame Gedanke artig in den Hintergrund.<br />
„Mom...“, sagte Shan nach einer ganzen Weile, in der Kelly sie noch<br />
immer drückte. „...du ... du musst mich irgendwann loslassen.“<br />
Kelly lachte, obwohl ihre Augen feucht wurden, und sie lies Shan los.<br />
Am liebsten hätte Kelly sie einfach nur festgehalten und nie wieder<br />
losgelassen, aber sie wusste natürlich, wie unsinnig dieser Wunsch war.<br />
Und sie wusste auch, dass Shan nichts von langen Abschieden hielt. Sie<br />
weinte nicht, und sie erzählte nicht die alte Geschichte, wie sie vor<br />
sechzehn Jahren ihr kleines Mädchen zur Welt gebracht hatte, obwohl<br />
Kelly das sehr erfüllend gefunden hätte. Aber sie wusste, dass Shan eine<br />
solche Gefühlsregung eher als peinlich empfunden hätte. Vielleicht war<br />
sie zu jung. Vielleicht war sie emotional einfach gefestigter, als alle<br />
anderen in der Familie. Also hielt sich Kelly zurück und widerstand dem<br />
unbändigen Drang, sie erneut zu umarmen.<br />
„Viel Glück, Shan.“, sagte sie stattdessen.<br />
Kelly glaubte Dankbarkeit in ihren Augen zu erkennen, als Shans<br />
Lächeln in die breite Wuchs. „Danke, Mom.“<br />
Dann kam Kelly ein Gedanke der sie aufhorchen ließ. „Hast du auch<br />
genug frische Sachen dabei? Und warme?“<br />
Shan verdrehte die Augen. „Mom... das ist nun wirklich die geringste<br />
meiner Sorgen.“<br />
Kelly fuchtelte mit einem Finger vor ihrem Gesicht herum. „Wenn du<br />
erwachsen und auf Frigoria bist“, sagte sie nachdrücklich. „kannst du so<br />
rumlaufen, wie du willst, aber auf der Akademie wirst du dich warm<br />
anziehen!“<br />
Shan sparte sich einen Kommentar.<br />
„Hast du verstanden, Shan?“<br />
Der Satz war keine wirkliche Frage, aber eindeutig war nur eine<br />
Antwort darauf akzeptabel; „Ja, Mom.“<br />
Kelly küsste ihr auf die Wange und Shan kam zu dem Schluss, dass es<br />
vielleicht doch gar nicht so verkehrt war, für eine Weile Abstand von<br />
Zuhause zu gewinnen, auch wenn das bedeutete, dass sie auf die<br />
Akademie musste. Ihr Vater räusperte sich unbehaglich. Ihm fiel der
Abschied keineswegs leichter, aber er vermochte es besser zu verbergen.<br />
Zumindest gab er sich große Mühe, aber als er Shan nun ebenfalls an<br />
sich drückte und sie sich einen langen und dennoch viel zu kurzen<br />
Moment später aus der Umarmung wieder lösten, sah sie deutlich, dass<br />
er kämpfte und seine wahren Gefühle mit einem für ihn typischen,<br />
überschwänglichen Grinsen überspielte. Außerdem gab es keinen Grund,<br />
Angst zu haben. Er war schließlich auch mal auf der Akademie gewesen<br />
und wusste, dass man dort auf die Jungs und Mädels aufpassen würde.<br />
Einigermaßen jedenfalls.<br />
„Tja.“, sagte er. „Jetzt ist Gestern Vergangenheit, hm? Jetzt wirst du<br />
erwachsen.“ Er kniete sich vor ihr hin und zupfte an ihrer Jacke herum,<br />
vermutlich, weil er nicht wusste, was er sonst mit seinen Händen<br />
anstellen sollte. „Jetzt... jetzt ist wohl der Moment gekommen, vor dem<br />
sich alle Eltern fürchten. Du verlässt du die Heile Welt der Kinderzeit.“<br />
„So ungefähr.“<br />
Er nickte wiederstrebend. „Aber wenn du mal jemanden brauchst,<br />
dann weißt du, wo wir sind okay?“<br />
„Ich weiß, Dad.“<br />
„Gut.“ Er lächelte. „Schau nur nach vorn, Shan, und nie zurück. Hör<br />
auf dein Herz und folge nur deinen Gefühlen. Und wenn man dir mal die<br />
Zähne zeigt, dann sei ruhig zum Kampf bereit, in Ordnung? Nimm nicht<br />
alles hin.“<br />
„Ja, Dad.“<br />
Es gab nichts mehr zu sagen. Matt nickte, erhob sich und trat ein paar<br />
Schritte zu Kelly zurück. Doch dann schien ihm doch noch etwas sehr<br />
wichtiges einzufallen. „Oh, und ehe ich es vergesse: Kein Alkohol, kein<br />
Kwanzaa, keine neuroimmersiven Traumbücher, kein Knutschen, keine<br />
Tetras, keine rituellen Tieropferungen jeder Art... Großer Vogel, ich gebe<br />
ihr nur Ideen.“<br />
Kelly stieß ihm in die Seite. „Matt...!“<br />
Shan rollte die Augen. Sie rückte ihren Rucksack zurecht und ging zur<br />
Pax, während die Einstiegsluke herunterfuhr. Doch als sie einsteigen<br />
wollte, verspürte sie den ersten Anflug von Unbehagen. Sie schaute<br />
unsicher zurück und sah, dass ihre Eltern winkten. Ihr Vater reckte<br />
zuversichtlich einen Daumen in die Höhe. Sie hoffte, dass sie selbst<br />
seine Zuversicht entwickeln würde. Shan atmete tief ein, und trat durch
die Einstiegsluke.<br />
In der Pax hatte sich nicht viel verändert, mal abgesehen davon, dass<br />
das Schiff intakt war und einige Schaltpulte weniger hatte, als vorher.<br />
Shan legte ihr Gepäck ab und warf den Rucksack auf den Sitz des<br />
Copiloten. Dann setzte sie sich hinter das Steuer und fuhr den Antrieb<br />
hoch. Die Einstiegsluke des Schiffes schloss sich mit einem dumpfen<br />
Schlag. Das war’s also, dachte Shan. Jetzt geht es los.<br />
Zur Akademie.<br />
Einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie stattdessen nicht einfach<br />
nach Risa fliegen sollte, aber sie wusste längst, dass sie das ohnehin<br />
nicht tun würde. Sha’Nyn Bartez stellte sich schwierigen Aufgaben.<br />
Wenn, dann würde die Akademie sie schon rauswerfen müssen.<br />
Nachdem sie eine letzte Systemüberprüfung vorgenommen hatte, hob<br />
sich das Schiff ein paar Meter in die Lüfte. Der Antrieb wirbelte Staub<br />
und Blätter davon. Unter der geschickten Führung der Piloten drehte sich<br />
die Pax um neunzig Grad. Shan aktivierte die Heckkameras und konnte<br />
ihre Eltern ausmachen. Sie standen an derselben Stelle wie zuvor und<br />
winkten noch immer, als wären sie mechanische Puppen, die man<br />
aufgezogen hatte. Shan bezweifelte, dass man sie von dort unten aus<br />
sehen konnten... und ihre Eltern konnten auch nicht sicher sein, ob Shan<br />
den Monitor eingeschaltet hatte und sie sah. Aber für ihre Eltern schien<br />
das irgendwie keine Rolle zu spielen. Wahrscheinlich würden sie dort<br />
stehen bleiben und winken, bis ihnen die Arme abfielen, und auch das<br />
würde für sie keine Rolle spielen. Shan hatte das Gefühl, dass sie noch<br />
winken würden, wenn die Pax schon längst außer Sicht war... und<br />
vielleicht auch noch ein paar Augenblicke länger.<br />
Als könne das Winken noch einen kurzen Moment die unvermeidbare<br />
Tatsache hinausschieben, dass sie nun, nachdem sie sechzehn Jahre ihre<br />
Tochter großgezogen hatten, allein zurückblieben. Shan seufzte kurz und<br />
richtete ihre stumme Aufmerksamkeit dann wieder auf die Kontrollen.<br />
Ein Lächeln wuchs auf ihren Zügen. Jetzt begann der lustige Teil des<br />
Tages. Shan gab vollen Schub und das Schiff donnerte davon.
Als die Pax hinfort jagte, rief Matt ihr hinterher: „Ich kenne übrigens<br />
jeden Sicherheitsbeauftragen an der Akademie!“<br />
Aber natürlich konnte Shan die Warnung – den Appell -, sich zu<br />
benehmen, nicht mehr hören. Und vermutlich hätte seine Tochter ihn<br />
ohnehin ignoriert – eben ganz, wie ein waschechter Bartez. Nun<br />
erwartete sie die Welt der Spät-Jugendlichen - Mit allem, was<br />
dazugehörte: Alkohol... Partys... und Männer. Dieser Gedanke behagte<br />
Matt am wenigsten, denn er wusste genau, was auf der Akademie vor<br />
sich ging. Dort hatte er schließlich Kelly kennen gelernt. Und wenn sie<br />
sich nach dem Unterricht zum Lernen getroffen hatten, hatten sie eine<br />
ganze Reihe von Dingen getan, die allesamt nichts mit dem Studium zu<br />
tun gehabt hatten... Er senkte seufzend die Hand, während Kelly noch<br />
immer dem kleiner werdenden Fleck am Himmel hinterher winkte, und<br />
auch nicht damit aufhörte.<br />
Da ging ihr Baby. Von jetzt auf gleich erwachsen. Zack, Boom! Es<br />
war so schnell gegangen, so unglaublich schnell!<br />
Matt runzelte die Stirn. Shan flog aber auch erstaunlich schnell. Ihre<br />
viel zu hohe Geschwindigkeit war deutlich am Röhren des Antriebes zu<br />
hören. Darüber mussten sie bei Gelegenheit noch ein ernsthaftes<br />
Gespräch führen. Matt sah weiter in den Himmel. Im einen Augenblick<br />
war das Shuttle noch über ihnen geschwebt und im nächsten, nicht mehr<br />
größer als ein Penny. Nach wenigen Sekunden war es ganz<br />
verschwunden. Kelly winkte noch ein paar Sekunden, dann ließ auch sie<br />
den Arm herab.<br />
Matt schüttelte verzweifelt den Kopf. „Sechzehn Jahre, Kelly.“, sagte<br />
er „Sie kann doch unmöglich so schnell groß geworden sein.“<br />
„Wie es aussieht... ist sie es.“<br />
„Aber... es ist erst einen Moment her, wo ich geblinzelt habe... da war<br />
sie noch ein Baby und lag in meinen Armen.“<br />
„Die Zeit vergeht schnell.“<br />
„Ich werde nie wieder blinzeln.“, beschloss Matt.
Sortak<br />
Er saß alleine und zusammengesunken an der Theke, und hielt sich an<br />
einem Glas Synthehol fest, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie er<br />
sich fühlen, oder was er nun machen sollte. In der Bar war es<br />
erschreckend still - was weniger an der frühen Tageszeit und dem damit<br />
einhergehenden Mangel an zahlreichen Besuchern lag, als vielmehr an<br />
der Tatsache, dass es sich um ein vulkanisches Etablissements handelte.<br />
In seinem bisherigen Leben hatte Sortak alle möglichen Bars, Gaststätten<br />
und Tavernen überall in der Föderation besucht. Andorianische.<br />
Menschliche. Selbst ein Chakoom-Selbstbedienungsladen gehörte zu<br />
seinem Geschichten-Reportoir. Kurioserweise hatte er aber nie eine Bar<br />
seiner eigenen Volksleute betreten. Als er heute morgen<br />
gedankenverloren durch das Vulkanierviertel von Sausalito gewandert<br />
war, hatte sich ihm schließlich die einmalige Gelegenheit geboten,<br />
diesen Umstand zu ändern - zumal die Bar, die er entdeckt hatte, im<br />
ganzen vulkanischen Bereich die einzige zu sein schien. Und es hatte nie<br />
einen Tag gegeben, an dem er einen Drink bitter nötiger gehabt hatte, als<br />
an diesem.<br />
In dem Moment, als er eingetreten war, hatte er dann unverzüglich<br />
begriffen, warum er bisher nie einen Fuß in eine vulkanische Bar gesetzt<br />
hatte: weil sie vulkanisch war. Und wie alles vulkanische, zeichnete auch<br />
sie sich durch furchtbar sterile Effizienz aus und eröffnete dem Besucher<br />
so ziemlich gar nichts von der Atmosphäre, die einen überhaupt erst dazu<br />
verleitete, sich in eine Bar zu begeben und nicht etwa in ein Cafe, oder<br />
ein öffentliches Replimat.<br />
Die Bar hießt „Einheimisch“ und bot genau das: eine große Anzahl<br />
Einheimischer. Sortak hatte nicht einen einzigen Nicht-Vulkanier in den<br />
Nischen und an den Tischen ausmachen können. Dementsprechend blieb<br />
die obligatorische Geräuschkulisse von lauten Unterhaltungen, dezenter<br />
Musik, fröhlichem Lachen und Männern und Frauen, die miteinander<br />
flirteten, oder das Glas aufeinander erhoben, völlig aus. Stattdessen<br />
erwartete den geneigten Besucher Nüchternheit und enervierende Ruhe.<br />
Mit anderen Worten: vulkanische Langeweile.
Sortak machte den Anschein sein Glas zu den Lippen heben, verharrte<br />
aber auf halber Strecke in der Bewegung und starrte einfach vor sich hin,<br />
ehe er nach einer ganzen Weile erst realisierte, dass er noch keinen<br />
einzigen Schluck getrunken hatte. Er hielt das Glas einfach nur fest.<br />
Genauso gut hätte er es auch einfach in seiner Hand zerdrücken können.<br />
Das würde zwar nicht besonders gut aussehen, aber auch keine<br />
Verbesserung, oder Verschlechterung seines Gefühlslebens hervorrufen.<br />
Dann begann seine Hand zu zittern und er stellte das Glas lieber wieder<br />
ab, ehe er es noch fallen lies.<br />
Sortak seufzte und warf einen unauffälligen Blick durch die Bar. Es<br />
kam ihm so vor, als wären alle Augen auf ihn gerichtet. Alle starrten ihn<br />
an. Da. Dieser Vulkanier in der Nische. Ein Botschafter, seiner Kleidung<br />
nach zu urteilen. Der Mann bemühte sich – vermutlich aus seltener<br />
Höflichkeit -, Sortak nicht anzustarren, was ihm aber ordentlich<br />
misslang. Und das andere Spitzohr dort drüben. Auch er schaute alle<br />
dreiunddreißig Komma fünf Sekunden von seinem Datenblock auf, um<br />
Sortak einen abschätzenden Blick zuzuwerfen. Ganz ähnlich wie das<br />
ältere Ehepaar am Eingang, das stumm zusammensaß. Auch sie blickten<br />
regelmäßig zu ihm herüber. Sortak kannte keinen von ihnen, aber er<br />
wusste, dass sie ihn alle analysierten.<br />
Er wusste es aus Erfahrung, denn für die meisten Vulkanier war es<br />
ungewöhnlich, einen der ihren zu sehen, wie er in einer Art durch die<br />
Gegend schritt, die man nicht anders als lässig bezeichnen konnte. Und<br />
Lässig war nun wirklich kein Wort, das man mit einem gebürtigen<br />
Vulkanier in Verbindung brachte. Genauso wenig, wie man von einem<br />
Vulkanier beträchtlich emotionale Augen und daraus resultierende<br />
Gesichtszüge, die bei Sortak meistens abweisend oder feindlich – aber<br />
ganz eindeutlich emotional - ausfielen, erwarten würde.<br />
Sortaks Kleidung – eine schwarze Hose aus einem einfachen,<br />
lederartigem Stoff, und ein ebenso schwarzes, wie eng anliegendes T-<br />
Shirt, welches seine beeindruckend ausgebildeten Oberarme und die<br />
dazugehöre Tätowierung auf der rechten Seite entblößte, zählte ebenfalls<br />
nicht zum üblichen Erscheinungsbild eines Vulkaniers. Alleine aufgrund<br />
seines Äußeren, war er sich in jeder Lebenslage der Neugierde, oder<br />
Zurückweisung seiner eigenen Landsleute ausgesetzt und das war auch<br />
heute nicht anders.
Allerdings war dieses Verhalten Sortak schon seit langer Zeit völlig<br />
egal. Er störte sich nicht mehr daran. Im Gegenteil. Er provozierte solche<br />
Reaktionen sogar, in dem er sich möglichst unvulkanisch verhielt, mehr<br />
noch, als es seiner stark ausgeprägten Persönlichkeit ohnehin schon<br />
entsprach. Und genau das, dieses Rebellieren gegen sein eigenes Volk,<br />
war der Grund, warum es ihn heute in diese Bar verschlagen hatte. Oder<br />
eher gesagt: Warum er in seinem noch jungen Leben von gerade mal<br />
dreiundzwanzig Jahren bereits in arge Schwierigkeiten und in die<br />
Strafkolonie von Neuseeland geraten war, aus der man ihn kürzlich<br />
entlassen hatte. Er hatte in der Tat einiges hinter sich.<br />
Aber nun wollte Sortak eine neue Richtung einschlagen. Ein neues<br />
Leben anfangen. Das Ticket in dieses neue Leben, hielt er in der rechten<br />
Hand. Nur war er sich absolut nicht sicher, ob er es auch einlösen sollte.<br />
Es handelte sich um eine unterschriebene Annahmebestätigung zum<br />
Vorbereitungsprogramm der Sternenflottenakademie – auch genannt,<br />
dem Frischlingsommer. Ein sechswöchiger Kurs, bei dem Fähigkeiten<br />
ausgebildet und einem Auswahlkomitee die Ernsthaftigkeit des<br />
Kandidaten demonstriert werden sollte. Bei einem positiven Ergebnis,<br />
konnte der Bewerber die komplette Ausbildung von vier Jahren an der<br />
Akademie beginnen. Die Frage war nur... ob Sortak das überhaupt<br />
wollte. Ob er auf der Akademie richtig war und sich dort zwischen all<br />
den Spielzeugsoldaten überhaupt einfügen konnte.<br />
Sortak legte die Annahmebestätigung säuberlich neben sich und sah<br />
dann auf den Drink vor seiner Nase. Er schüttete ihn in einem Schluck<br />
runter. Dann raunte er: „Noch einen.“<br />
Der Barkeeper war ebenfalls Vulkanier und er mixte die Getränke mit<br />
ruhiger Effizienz. Nun bedachte er Sortak mit gehobener Braue, ohne<br />
seine Arbeit zu unterbrechen. „Das ist... unlogisch.“<br />
„So? Was denn?“<br />
„Sie haben das Getränk in 0,086 Sekunden verzehrt. Dadurch hatten<br />
sie nicht nur keine Zeit, den Geschmack zu kosten, sondern konnten<br />
auch unmöglich den traditionell prickelnden Effekt des Syntehols-“<br />
Sortak straffte seine Schultern und fuhr ihm dazwischen. „Welchen<br />
Teil von >noch einen< hast du nicht verstanden, mein Freund? Das<br />
>nocheinen
weiteren Scotch, dem er ihm nur 9,24 Sekunden später auf die Theke<br />
stellte. Sortak nahm ihn mit einem ironischen hochziehen der rechten<br />
Braue entgegen und hielt dann das Getränk feierlich in die Höhe. „Ah,<br />
Scotch.“, sagte er laut, aber an niemand speziellen gewandt. „Das<br />
offizielle Getränk für Leute, deren Leben total verhunzt ist.“<br />
„Das wusste ich nicht.“, sagte der Barkeeper.<br />
„Das war ein Scherz.“<br />
„Das wusste ich auch nicht.“<br />
Sortak seufzte und senkte das Glas, während der Barkeeper begann,<br />
die anderen Gläser zu reinigen. Er warf ihm nur noch einmal einen Blick<br />
zu, der Sortak irgendwie davon abhielt, den Scotch erneut in einem Zug<br />
runterzuschlucken. Stattdessen nahm er nur einen kleinen Schluck und<br />
sah durch die Fenster nach draußen. Ein paar Hundert Meter entfernt, am<br />
Ende der Straße, befand sich die Shuttlebusstation Sausalito. Das war der<br />
Ort, wo heute ein Schiff der Akademie landen würde, um die neuen<br />
Kadetten aus diesem Viertel einzuladen. Ein paar Bewerber hatten sich<br />
bereits eingefunden. Ihre Familien waren auch da, vermutlich um sie zu<br />
verabschiedeten, ihnen Glück zu wünschen und zu sagen, wie stolz sie<br />
auf ihre Kinder waren.<br />
Sortak beobachtete sie aus der Distanz. Er hatte keine Familie, die ihn<br />
verabschieden würde. Keine geliebten Personen, die gekommen waren,<br />
um ihm Glück zu wünschen. Da war nur sein Vater, der ihm schon vor<br />
Jahren den Rücken gekehrt hatte, was Sortak für einen kurzen Moment<br />
mit leisem Bedauern erfüllte. Aus diesem Bedauern wurde Enttäuschung,<br />
als Sortak sah, wie die jungen Leute lachten, fröhlich ihre Arme um die<br />
Eltern schlangen, oder Fotos von sich machen ließen. Niemand wollte<br />
ein Foto von Sortak machen.<br />
Jetzt werde bloß nicht melodramatisch, schalte er sich.<br />
Er sah wieder auf die Annahmebestätigung. Sternenflotten Akademie.<br />
Er und die Akademie. Das konnte doch eigentlich gar nicht klappen.<br />
Oder? Er war keiner von denen. Er verfügte weder über die nötige<br />
Disziplin, noch über den Willen, sich jemandem unterzuordnen. Es war<br />
eine blöde Idee gewesen, sich dort zu bewerben. Sortak wollte das Papier<br />
gerade in seiner Hand zerknüllen, als jemand neben ihm sagte: „Wenn<br />
man sich für eine von zwei Wegen entscheiden muss, sollte man immer<br />
den Weg wählen, den man noch nicht kennt.“
Sortak drehte den Kopf und starrte verwundert auf die spitzohrige<br />
Gestalt, die plötzlich neben ihm aufgetaucht war. Ein Vulkanier. Ein<br />
älterer Vulkanier, wie es schien. Früher mochte er vielleicht sogar einmal<br />
sehr attraktiv gewesen sein. Heute hingegen verriet sein faltiges Gesicht,<br />
dass er nach einem langen und ereignisreichen Leben in der Galaxis<br />
Grund genug gehabt hätte, die Logik über Bord zu werfen und sich dem<br />
Chaos hinzugeben... doch er hatte sich beharrlich geweigert, es zu tun.<br />
Der Mann war mit einer weiten Robe mit breiten Schultern bekleidet.<br />
Sortak hatte keine Ahnung, wo er hergekommen war. Er hatte ihn nicht<br />
bemerkt, es war, als wäre er einfach erschienen. Und er kam ihm<br />
irgendwie vertraut vor, doch er konnte dem Gesicht keinen Namen<br />
zuordnen, obwohl es ihm auf der Zunge zu liegen schien.<br />
„Wer sind Sie?“, fragte er daher.<br />
Die Gestalt schwieg eine Weile. Als er ein weiteres Mal sprach,<br />
geschah das in einer ruhigen und gleichmäßigen Art, in der ein Hauch<br />
von Ironie mitschwang. „Ich bin in diesem Etablissement ein Gast, genau<br />
wie Sie. Und Sie sind Sortak, vermute ich.“<br />
Sortak runzelte argwöhnisch die Stirn. „Woher wissen Sie das?“<br />
„Ihr Ruf hat sich weit verbreitet, junger Sortak. Es gibt nicht viele<br />
Vulkanier, die angeklagt und zu einer Haftstrafe in einem<br />
Erdengefängnis verurteilt werden.“ Er hielt kurz inne. „Darf ich fragen,<br />
warum Sie hier sind?“<br />
Sortak verzog die Mine und drehte sich wieder nach vorn, von dem<br />
Mann weg. Es lief also erneut auf dieselbe alte Leier hinaus, auf einen<br />
wissensdurstigen, fremden Vulkanier, der irgendwann, irgendwo in den<br />
Nachrichten Sortaks Geschichte aufgeschnappt hatte, sein emotionales<br />
Verhalten nicht nachvollziehen konnte und nun mit logischer Präzision<br />
nähere Informationen erfragen wollte. Sortak starrte angestrengt in sein<br />
Glas und lies die Flüssigkeit im Inneren schwenken. „Um zu überlegen,<br />
wie es jetzt, nach der Entlassung aus meiner Haftstrafe, weiter geht. Was<br />
ich machen kann. Welche Richtung diese Irrfahrt, die sich mein Leben<br />
schimpft, einschlagen soll.“<br />
„Sie sind also Orientierungslos, wenn ich Sie richtig verstanden habe.“<br />
„So könnte man sagen, ja.“<br />
Der Mann neigte den Kopf. „Sie sind Vulkanier. Vulkanier sind nicht<br />
Orientierungslos. Sie geben ihrem Leben eine klare Richtung.“
Sortak lächelte bitter. „Ich bin kein typischer Vulkanier.“ Er nahm<br />
kurzen einen Schluck und wusch sich den Mund mit dem Handrücken<br />
ab. „War ich nie. Werde ich nie sein.“ Er schüttelte den Kopf. „Warum<br />
erzähle ich Ihnen das überhaupt?“<br />
„Vermutlich“, entgegnete der Mann. „Weil ich momentan der einzige<br />
bin, den es interessiert.“<br />
Sortak blickte wieder zu ihm herüber. „Und warum sind Sie so<br />
interessiert an meiner Person?“<br />
„Eine Ahnung.“ Der alte hielt wieder inne. „Ich erkenne gewisse...<br />
Parallelen.“<br />
Sortak lachte auf. „Mit mir? Unmöglich.“<br />
„Sie stehen vor der Entscheidung, auf die Sternenflotten Akademie zu<br />
gehen, wie auch ich einst.“<br />
„Sie sind Offizier der Sternenflotte?“, fragte Sortak.<br />
Der Fremde vollführte erneut eine geringfügige Neigung seines<br />
Kopfes. „War.“, korrigierte er. „Aber diese Zeit... liegt viele Jahre<br />
zurück.“<br />
„Hm.“ Sortak sah wieder auf die Annahmebestätigung in seiner Hand.<br />
„Ich weiß nicht, ob ich da hingehöre. Vielleicht sollte ich mich irgendwo<br />
anders durchschlagen.“<br />
„Vielleicht.“, sagte der Fremde. Er klang neutral, aber in der Art, wie<br />
er mit Sortak sprach, lag eine Spur Gewissheit. Als ob er mehr wüsste,<br />
als Sortak selbst. „Wäre dieser Weg ein befriedigender für Sie?“<br />
Das war die Frage, die Sortak sich schon die ganze Zeit über stellte,<br />
ohne die leiseste Ahnung zu haben, wie die Antwort lautete. „Ich...“ Er<br />
hielt inne. Ja oder nein. Es war eine einfache Frage. Mit einfachen<br />
Antwortmöglichkeiten. Warum war die Beantwortung so schwer? „Ich...<br />
weiß es nicht.“, gab er zu.<br />
„Dann spielt es keine Rolle. Bisher scheinen Sie mit der Methode‚<br />
sich... einfach so durchzuschlagen, nicht besonders gut gefahren zu sein,<br />
wie die Menschen sagen würden. Und wie ich eingangs erwähnte, sollte<br />
man, wenn man vor zwei möglichen Richtungen steht, die wählen, die<br />
man noch nicht kennt.“<br />
„Toller Spruch.“, meinte Sortak sarkastisch. „Haben sie das aus einem<br />
Glückskeks.“ Er drehte sich wieder nach vorn, legte den Kopf in den<br />
Nacken und schüttete den Rest seines Getränks in sich hinein. Der
Scotch prickelte ihm die Speiseröhre hinab. Dann stellte er das leere Glas<br />
kopfüber auf die Theke und als er sich zu dem Fremden umdrehen<br />
wollte...<br />
....war er verschwunden.<br />
Er war einfach nicht mehr in der Bar. Und auch nicht auf der Straße<br />
vor der Bar. Sortak blinzelte verwirrt. Er sah zum Barkeeper, doch der<br />
war mit seinen Gläsern beschäftigt. Sortak blieb noch ein paar Sekunden<br />
verwirrt sitzen und dachte über die Worte des alten Mannes nach.<br />
Schließlich schwang er seinen schweren Seesack über die Schulter und<br />
verließ das Lokal. Die Annahmebestätigung nahm er mit.<br />
Sortak blickte nach rechts und nach links, um den antiken und<br />
berühmtem Straßenbahnen, den sogenannten Cable Cars, zu entgehen,<br />
die sich noch immer durch die Häuserschluchten von San Fransisco<br />
bewegten. Man machte das für die Touristen, die von überall aus dem<br />
Föderationsraum das politische Zentrum der Erde – also San Fransisco –<br />
besuchten.<br />
Außerdem erhielt man noch eine ganz andere Tradition aufrecht: man<br />
rehabilitierte Ex-Sträflinge, um die Touristen zu bestehlen. Auch das galt<br />
als Attraktion, um den Reisenden einen Eindruck zu verschaffen, wie die<br />
Stadt früher war. Das Geld wurde unmittelbar nach dem Diebstahl<br />
wieder zurückgegeben. Meistens jedenfalls.<br />
Sortak wich der letzten Bahn aus und erreichte die andere Straßenseite.<br />
Die Shuttlebusstation lag relativ ruhig, ja regelrecht verlassen, am oberen<br />
Barrier, mit Blick auf das große Strand-Stadtgebiet, mit seinen unzählig<br />
grotesk schönen Häusern und Promenaden. Man hatte einen herrlichen<br />
Blick auf das Meer und die gewaltige Golden Gate Bridge. Verrückt,<br />
dass die Sternenflotte diesen Teil Sausalitos ausgerechnet an die<br />
Vulkanier für ihre Siedlung vergeben hatte, immerhin vermochten sie<br />
diese Schönheit zweifellos am wenigsten zu schätzen. Auf der anderen<br />
Seite des Pazifiks, dort wo die Brücke in das Napa-Valley überlief, lag<br />
ihr Bestimmungsort. Die Akademie. Die Akademie der Sternenflotte.<br />
Sortak schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.<br />
Wenigstens, so dachte er, würde er nicht allein dort hin reisen, was man
von den anderen Rekruten offenbar nicht sagen konnte. Inzwischen<br />
waren die Familienangehörigen verschwunden, die Shuttlebusstation<br />
stand beinahe leer. Zurückgeblieben waren die Jugendlichen von vorhin,<br />
die ebenfalls zur Akademie unterwegs waren.<br />
Auffällig waren nur zwei davon. Eine große, junge Andorianerin, mit<br />
kurzgeschnittenem, weißem Haar, der für die Mitglieder ihres Volkes<br />
typisch dunkelblauen Hautfärbung und den beiden Fühlern an der<br />
Stirnseite ihres Kopfes. Obwohl zwischen Vulkaniern und Andorianern<br />
vor langer Zeit blutige Kämpfe ausgefochten worden waren, wusste<br />
Sortak nicht allzu viel über ihre Sitten und Gebräuche, mal abgesehen<br />
davon, dass sie sich einen Namen als ein Volk von Kriegern gemacht<br />
hatten. Sortak war einfach nie genug an ihnen interessiert gewesen, um<br />
sich näher mit der andorianischen Kultur zu beschäftigen. Nur die<br />
Tatsache, dass sie die einzige Spezies darstellten, die mit einem<br />
Exoskelett Charakteristika der Säugetiere und Insekten verbanden,<br />
faszinierte ihn geringfügig.<br />
Bei der anderen auffälligen Gestalt handelte es sich um einen<br />
rundlichen, schweineartigen Tellariten. Wie alle Mitglieder seines<br />
Volkes war er weitestgehend Humanoid. Seine unteren Gliedmaßen<br />
endeten in gespalteten Hufen. Er hatte kleine Augen mit großen<br />
schwarzen Pupillen, die tief in den Höhlen lagen. Dafür war seine<br />
steckdosenartige Nase um so größer. Seine Haut wies eine pinkbraune<br />
Färbung aus und er war dich behaart mit einer langen blonden Mähne,<br />
buschigen Augenbrauen und einem Bart, der ihm das Aussehen eines<br />
Weihnachtsmannes verlieh. Eines schweineartigen Weihnachtsmannes.<br />
Sortak stellte sich einen Meter entfernt von ihnen dazu, und nickte<br />
zunächst der Andorianerin einen Gruß zu „Hallo.“<br />
Sie erwiderte den Gruß wortlos.<br />
Auch der Tellarit machte sich gar nicht erst die Mühe etwas zu sagen.<br />
Er grunzte nur schroff. Sortak sah auf sein Chronometer. Sie würde<br />
gleich eintreffen. Er legte seinen Feldsack ab, kramte einen kleinen<br />
Handphaser, den man auch Rasierer nannte, aus seiner Tasche hervor<br />
und steckte sich eine Zigarette an. Der Qualm wurde vom frischen<br />
Morgenwind San Franciscos davongetragen. Aus den Augenwinkeln<br />
bemerkte er jedoch, dass die hochgewachsene, zarte Andorianerin ihn<br />
verwundert betrachtete. Er steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel,
um seine rechte Hand frei zu haben und streckte ihr die Hand entgegen.<br />
„Ich bin Sortak.“, sagte er.<br />
Der Blick der Andorianerin wanderte von dem qualmenden Ding in<br />
seinem Gesicht, zu seiner Hand und wieder zurück. Schließlich erwiderte<br />
sie den Gruß mit festem Händedruck. Als sie sprach, geschah das mit<br />
einer wohlmodulierten, fast sanften Stimme, die wirkungsvoll die<br />
Tatsache verbarg, dass die Andorianer zu den tödlichsten Kriegern der<br />
Föderation gehörten.<br />
„Tala Era'Noor sh’Aqbaar.“, sagte sie. Mehr nicht. Sortak ging einfach<br />
davon aus, dass es sich dabei um ihren Namen handelte, und nicht etwa<br />
um eine Beleidigung. Und damit war das Gespräch mit ihr auch schon<br />
beendet. Keine optimale Begrüßung, aber er konnte damit leben.<br />
Insgeheim bereitete er sich darauf vor, die nächsten Minuten dazustehen,<br />
zu Rauchen und unangenehme Blicke zu ertragen, doch dann hörte er,<br />
wie jemand hinter ihm übertrieben auffällig hustete. Sortak runzelte zwar<br />
ansatzweise die Stirn, drehte sich aber nicht um.<br />
Es vergingen ein paar Sekunden, dann erklang das Husten erneut.<br />
Diesmal lauter als zuvor, damit Sortak es auch ja nicht überhörte. Und<br />
als er immer noch nicht reagierte, tippte ihm jemand von hinten ganz<br />
leicht auf die Schulter.<br />
„Ent...- Koff. Koff... - Entschuldigen Sie bitte. Würde es Ihnen etwas<br />
ausmachen, ihr Rauchinstrument zu deaktivieren?“<br />
Sortak nahm einen langen Zug an seiner Zigarette und drehte sich um.<br />
Ganz ... langsam. Er rechnete damit, einem großen, arroganten Kerl in<br />
die Augen zu sehen, mit dem er sich schon bald prügelnd auf dem Boden<br />
wiederfinden würde, und freute sich beinahe schon darauf, einem<br />
Schnösel den Hintern zu versohlen. Doch das Individuum, das er hinter<br />
sich vorfand, schien alles andere als eine Bedrohung darzustellen. Es<br />
handelte sich um einen angemessen zurückhaltenden Vulkanier – und<br />
zwar um den winzigsten Vulkanier, den Sortak je gesehen hatte. Er war<br />
gut und gerne zwei Köpfe kleiner als er, aber einigermaßen normal<br />
gebaut. Das kurzes, dunkle Haar war von geradezu gewaltigen<br />
Geheimratsecken zerfräßt, die im deutlichen Kontrast zu seinen<br />
bemerkenswert jungenhaften Zügen standen. Dieser Bursche war seinem<br />
Äußeren nach zu urteilen kaum älter als Zehn Jahre. Allerhöchstens.<br />
Und er war entweder außerordentlich mutig, oder außerordentlich
naiv, denn als Sortak sich vor ihm aufbaute, legte der Bursche zwar seine<br />
spitzen Ohren ein wenig an, aber das war auch schon der einzige<br />
Indikator von Verunsicherung, den Sortak an ihm ausmachen konnte.<br />
Darüber hinaus lies er sich in keinster Weise einschüchtern. Er schien<br />
völlig von sich und der Richtigkeit seines Wunsches, Sortak möge doch<br />
bitte sein Rauchinstrument deaktivieren, überzeugt zu sein. Als Sortak<br />
ausatmete, blies er ihm einen Schwall Rauch ins Gesicht, woraufhin der<br />
kleine Vulkanier nun einen richtigen, und nicht nur einen vorgetäuschten<br />
Hustenanfall bekam.<br />
„Und warum sollte ich das tun?“, fragte Sortak, während sein<br />
Gegenüber noch damit beschäftigt war, wieder zu Atem zu kommen.<br />
„Weil die sensorischen Systeme ...Koff. Koff... meiner olfaktorischen<br />
Wahrnehmung einen schädlichen Duftstoff identifizieren, der... Koff.<br />
Koff... ungesund ist.“, erklärte der Junge sachlich. „Sowohl für Sie...<br />
Koff. Koff... als auch für ihre Mitwesen.“<br />
Sortak musterte ihn prüfend. Der Bursche hatte Mut, das musste er<br />
dem Kleinen lassen. Oder aber, er begriff nicht, in welcher Gefahr er<br />
schwebte, einen Mann wie Sortak anzusprechen. Vermutlich war er<br />
einfach nur so naiv anzunehmen, alle Lebewesen dieses Universums<br />
seien dicke Freunde. Vermutlich hatte er noch nie in seinem Leben um<br />
selbiges kämpfen müssen. Aber das wollte Sortak ihm nicht zum<br />
Vorwurf machen, denn dort, wohin er – wohin sie alle - unterwegs<br />
waren, war der Vulkanier mit seiner friedlich naiven Einstellung<br />
garantiert richtig aufgehoben.<br />
Sortak überlegte einen Moment, ob er den kleinen Kerl darauf<br />
aufmerksam machen sollte, dass diese Zigaretten schon seit<br />
Jahrhunderten keine schädlichen Elemente mehr enthielten, und lediglich<br />
zu einer ärgerlichen Angewohnheit wurden, sobald man ihnen einmal<br />
verfiel, entschied sich aber dagegen. Er verspürte kein Interesse an einer<br />
langen Debatte und nickte daher. „Hast ja recht, Junge.“ Er lies seine<br />
Zigarette auf den Boden fallen und trat sie mit der Schuhspitze aus.<br />
Das Gesicht seines Gegenübers erhellte sich und er war zweifellos<br />
beträchtlich stolz darauf, die Situation friedlich gemeistert zu haben. „Ich<br />
danke Ihnen vielmals.“, sagte er. „Sehr freundlich von Ihnen.“<br />
„Kannst ruhig du zu mir sagen.“<br />
„Nun... dann danke ich Ihnen, Du.“
Sortak starrte ihn einen Moment lang an. „Nein...“, sagte er dann.<br />
„Duzen. Du kannst mich duzen.“<br />
„Aha. Dann danke ich dir, Du.“<br />
„Soll ich ihn töten?“, flüsterte Tala leise. Der Tellarit stieß unterdessen<br />
ein schweinisch grunzendes Lachen aus. Sortak schloss für einen kurzen<br />
Moment die Augen und rieb sich den Nasenrücken, während er<br />
versuchte ruhig zu bleiben. Er spürte, dass er kurz davor stand, die<br />
Geduld zu verlieren. Doch er kämpfte dagegen an. Er hatte nie die<br />
Konzentration und Selbstdisziplin besessen, die einen Vulkanier<br />
normalerweise auszeichneten - und vermutlich war genau das der Grund,<br />
weshalb er in seinem bisherigen Leben immer nur in Schwierigkeiten<br />
geraten war. Weil er sich von seinen Emotionen leiten ließ – und die<br />
waren leider sehr mächtig und ohne Disziplin (die er nicht hatte) kaum<br />
kontrollierbar. Es lief darauf hinaus, dass Sortak versuchen musste –<br />
wenn er sich tatsächlich diesen Typen anschließen wollte -, etwas<br />
toleranter zu sein. Erst recht, wenn er es mit Leuten zu tun hatte, die ein<br />
wenig schwer von Begriff waren, denn die schienen immerhin in<br />
beträchtlicher Überzahl aufzutreten.<br />
Also griff er kurzentschlossen nach vorn, um die Hand des Vulkaniers<br />
in seine eigene zu legen. Dann übte er sanften Druck aus, führte die<br />
Hand seines Gegenübers wellenartig nach oben und nach unten, und sie<br />
begannen sich die Hände zu schütteln. „Sortak.“, erklärte er mit einem<br />
milden Lächeln, das hoffentlich überzeugend wirkte. „Mein Name... ist<br />
Sortak. Nicht >Du
Materietransporters den Seehandel überflüssig machte?“<br />
„Das ist korrekt.“<br />
„Und was ist an Hamburg dann so besonders?“<br />
„Nun...“ Yoko verfiel plötzlich in eine merkwürdige Starre, während<br />
er ganz offensichtlich über diese Frage nachdachte. Sortak glaubte fast<br />
zu hören, wie im Schädel des Vulkaniers ein paar staubige und seit<br />
langer, langer Zeit unbenutzte Zahnräder zu quietschten begannen.<br />
Leider schien der Mechanismus irgendwo zu hängen. Dann, nach einer<br />
gewissen Zeitspanne, erklärte Yoko, als hätte er plötzlich die letzten<br />
dreißig Sekunden vergessen: „Ich komme aus Hamburg. Warst du schon<br />
einmal in Hamburg? Das ist eine der wichtigsten Metropolen der Erde.<br />
Was sind deine Hobbys?“<br />
Sortak öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder.<br />
Tala schien nicht minder verblüfft zu sein. Sie musterte Yoko, als hätte<br />
er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Der Tellarit hatte seine Stirn noch<br />
mehr gerunzelt, als sonst.<br />
„Weißt du, was meine Hobbys sind?“, fuhr der kleine Vulkanier fort,<br />
den es anscheinend nicht interessierte, ob er eine Antwort auf seine<br />
vorherigen Fragen erhielt. Vielleicht hatte er sie schon wieder vergessen.<br />
„Ich höre sehr gerne Musik und schreibe seit sechs Jahren Bücher.“<br />
„So?“ Das konnte sich Sortak nur schwer vorstellen. „Und welche<br />
Bücher hast du geschrieben?“<br />
„Bisher noch gar keines.“<br />
Sortak starrte ihn an. „Gar ... keines.“, wiederholte er gedehnt.<br />
Yoko nickte.<br />
Eigentlich wollte es Sortak gar nicht wissen. Er war schlicht<br />
uninteressiert daran, dieses Gespräch auch nur für weitere zehn<br />
Sekunden fortzusetzen. Aber dennoch bewegte ihn eine an Wahnsinn<br />
grenzende Neugierde dazu, zu fragen: „Und warum nicht?“<br />
„Ich leide an einer Schreibblockade.“<br />
„Du... leidest also an einer Schreibblockade...“<br />
„Ja.“<br />
„Seit sechs Jahren...“<br />
„Ja.“<br />
„Und hast daher noch nie ein Buch geschrieben...“<br />
„Ja.“
„Sagst aber trotzdem, dein Hobby sei es, Bücher zu schreiben...“<br />
„Ja.“<br />
Sortak wandte dem Vulkanier den Rücken zu. und beschloss, ihn<br />
einfach zu ignorieren. Das war ziemlich brüsk, aber in dieser Situation<br />
das einzig vernünftige, wie er fand.<br />
Yoko lies sich davon aber kein bisschen beeindrucken. Er fragte: „Du<br />
bist ein V’tosh ka’tur, nicht wahr? Ein Vulkanier ohne Logik. Eine<br />
kleine Minderheit in der vulkanischen Bevölkerung, die ihren Gefühlen<br />
freien Lauf la-“<br />
Sortak wandte sich wortlos dem kleinen Vulkanier zu und packte ihn<br />
mit großen Händen an den Schultern. Er drehte ihn herum und gab Yoko<br />
einen kleinen Schubs, woraufhin er zu Tala stolperte.<br />
„Hallo.“, begrüßte er sie. „Ich bin Yoko. Ein paar Fakten zu-“<br />
„Ich warne dich, Vulkanier.“, knurrte Tala bedrohlich. „Ich stamme<br />
aus einer Kriegerfamilie, und Andorianer sind eine leidenschaftlich<br />
gewalttätige Spezies...“<br />
Der Tellarit murmelte etwas in schroffem tellaritisch. Es handelte sich<br />
wahrscheinlich um eine Obszöne Bemerkung und Sortak war froh, dass<br />
er nicht verstand, worum es ging. Tala schickte ihm einen kurzen, aber<br />
vernichtenden Seitenblick und wandte sich dann wieder dem kleinen<br />
Vulkanier zu. „... und diese Gewalt wenden wir am liebsten gegen<br />
Vulkanier an, die uns seit jeher unterdrückt, ausspioniert und bekämpft<br />
haben. Und das ... mögen wir ... gar nicht.“<br />
Yoko legte die spitzen Ohren an. Er verstand die Warnung, drehte sich<br />
sofort um und begrüßte stattdessen den Tellariten.<br />
„Hallo. Mein Name ist Yoko. Und Sie sind?“<br />
Der Tellarit beäugte Yoko von oben bis unten. „Durkin.“<br />
„Oh. Das ist ein sehr merkwürdiger Name für einen... uh... was sind<br />
sie noch gleich?“<br />
Durkin öffnete erstaunt den Mund und schloss ihn dann wieder. Einen<br />
Augenblick lang dachte er, Yoko wolle ihn veräppeln. „Machst du<br />
Witze, Vulkanier?“<br />
„Eigentlich nicht.“<br />
„Ich bin ein Tellarit! Es überrascht mich, dass du nicht von selbst<br />
darauf gekommen bist. Meine Spezies ist doch in der ganzen Galaxis<br />
bekannt!“
Tala murmelte „Ja, als Nervensägen“, aber die beiden hörten sie nicht.<br />
Was vermutlich besser war.<br />
Yokos Blick konzentrierte sich auf Durkin, als sehe er ihn jetzt zum<br />
erstenmal. „Ja, allerdings.“ Er dachte einen Moment nach. „Nun, Durkin<br />
ist ein sehr merkwürdiger Name für jemanden von Tellar.“<br />
Durkin beäugte ihn misstrauisch. „Warst du je auf Tellar?“<br />
„Nun... nein.“<br />
„Was weißt du dann darüber?“<br />
„Tellar.“, sagte Yoko, als würde er einen bestimmten Eintrag in einem<br />
Bibliothekscomputer abrufen, und begann zu plappern. „Laut<br />
vulkanischer Datenbank ein Planet, der innerhalb der Föderation bekannt<br />
ist für sein raues Klima. Die Bewohner beliefern viele private Konzerne<br />
mit wertvollen Industriegütern und sind fleißige Ingenieure, dafür aber<br />
auch in vielen unserer Schriften als schreckhaft, ja geradezu ängstlich<br />
beschrieben.<br />
„Schreckhaft, ja geradezu ängstlich?“, rief Durkin und wurde<br />
schlagartig äußerst bombastisch. „Schreckhaft, ja geradezu ängstlich?!<br />
Das ist ja wohl... das ist ja wohl...-“<br />
„Genau das, was in unserer Datenbank steht.“, sagte Yoko in<br />
unendlicher Geduld.<br />
„Unsinn! Du lügst!“<br />
„Vulkanier lügen nicht.”, sagte Tala mit einem verschlagenen Grinsen.<br />
„Wir sind nicht schreckhaft!“, plusterte sich Durkin auf. „Und erst<br />
recht nicht ängstlich!“<br />
„Durkin.“, sagte Sortak leidenschaftslos, wobei er aber darauf achtete,<br />
die Betonung besonders auf die zweite Silbe zu legen. Er hatte bereits<br />
ein wenig Praxis im Umgang mit Tellariten, was ihm nun zur Hilfe kam.<br />
„Yoko hat da was verwechselt. Was er meint sind keine Tellariten,<br />
sondern Tellurier.“<br />
Durkin starrte ihn verständnislos an.<br />
Sortak erklärte: „Wenn du kein Tellurier bist, dann trifft diese<br />
Beschreibung auch nicht auf dich zu.“ Sortaks Stimme war neutral und<br />
der Tellarit bemerkte den leichten Sarkasmus überhaupt nicht, weil<br />
menschlicher Sarkasmus für Tellariten ein Zeichen des Respekts war.<br />
„Gut.“, sagte Durkin. „Das ist für mich akzeptabel.“ Er schüttelte<br />
pikiert seine Mähne und wurde wieder ruhig. Die Situation war
entspannt.<br />
Yoko verspürte den Drang, sich zu entschuldigen. „Dann habe ich<br />
mich geirrt. Es scheint, als hätten wir es hier mit einem Fauxpas zu tun<br />
gehabt. Das kann passieren.“<br />
„Fopah!“, brüllte Durkin. Er wirbelte herum. „Du wagst es?! Du wagst<br />
es, mich einen Fopah zu nennen? Uns erst als schreckhaft, ja geradezu<br />
ängstlich bezeichnen und mich dann auch noch beleidigen?? Ist dir<br />
eigentlich klar, Vulkanier, dass du mir – meiner ganzen Spezies - mit<br />
diesem Wort den Krieg erklärt hast? Ich werde umgehend meine<br />
Regierung informieren!“<br />
„Was?!“ Yoko war sprachlos. Er schaute sich um. „Könnte bitte<br />
jemand...“<br />
Sortak sah ihn vorwurfsvoll an und hatte fast Mitleid. Er musste sich<br />
bemühen, trotz der ernsten Situation nicht die Augen zu verdrehten. „Es<br />
liegt an diesem Wort, Yoko.“<br />
„An welchem Wort? Was...“ Dann riss er die Augen auf, als er begriff.<br />
Sortak nickte und rief: „Durkin.“<br />
Der Tellarit eilte bereits in Richtung tellaritische Botschaft, dann<br />
wirbelte er auf dem Absatz herum und rief: „Was willst du, Vulkanier?“<br />
„Das Wort. Es entstammt aus der irdischen Sprache und wird F-A-U-<br />
X-P-A-S buchstabiert, nicht F-O-P-A-H. Es hat mit der obszönen<br />
tellaritischen Beleidigung, von der du geglaubt hast, Yoko hätte sie<br />
ausgesprochen, nichts zu tun. Man sagt es oft anstelle von Fehler.“<br />
„Was?“, sagte der verwirrte Tellarit. „Was?!“<br />
Yoko trat vor und nickte eifrig. „Es ist so, wie er sagt, Durkin. Es<br />
handelt sich lediglich um eine irdische Redewendung, die sich auf<br />
Lebewesen bezieht, die einen Irrtum begehen. Es hat nichts mit dem<br />
Wort zu tun, von dem du dachtest, dass ich es ausgesprochen habe – ich<br />
habe nicht einmal daran gedacht.“<br />
„Yoko hier bittet wegen seiner erneuten Tölpelhaftigkeit völlig<br />
zerknirscht in aller Form um Vergebung.“, erklärte Sortak und schlug<br />
dem kleinen Vulkanier leicht gegen den Hinterkopf. „Nicht wahr?“<br />
„Au.“, machte Yoko. „Also so war das ja nun auch wieder n...“<br />
„Sie sei ihm gewährt.“, grunzte Durkin. Er schüttelte erneut seine<br />
Mähne aus und kehrte hoch erhobenen Hauptes zu ihnen zurück, was<br />
Tala zu einem Kopfschütteln veranlasste.
„Ich freue mich, dass die Sache aus der Welt ist.“, sagte Yoko<br />
erleichtert. „Selbst in unserer fortgeschrittenen Zeit kann es bei der<br />
Kommunikation schon mal Zoff geben, wenn...“<br />
„Zoff!“, heulte der Tellarit und wirbelte erneut herum. „Wie kannst du<br />
es wagen....!“<br />
Tala verdrehte entnervt die Augen. Sortak legte seine Hand auf<br />
Durkins rechte Schulter, um ihn mit überraschend eiserner Kraft davon<br />
abzuhalten, wieder in Richtung vulkanische Botschaft zu stiefeln. „Bitte,<br />
Durkin.“, sagte er bemüht diplomatisch. „Wir sind doch alles erwachsene<br />
Wesen.“<br />
„Das.“, murmelte Tala „Wage ich zu bezweifeln.“<br />
Durkin warf ihr aus seinen Schweinsäuglein einen argwöhnischen<br />
Blick zu. „Selbstverständlich bin ich erwachsen.“, brummte er. „Ich bin<br />
schon sieben Jahre alt! Es behagt mir nur nicht, wenn man so respektlos<br />
mit mir spricht!”<br />
„Den Tellariten behagt nichts in dieser Galaxis.“, sagte Tala. „Was in<br />
etwa dem entspricht, wie die Galaxis die Tellariten sieht.“<br />
Aus Durkins Bauchhöhle kam ein Geräusch, dass sich anhörte, wie<br />
Steine, die in einem Wäschetrockner herumgeschleudert wurden –<br />
obwohl keiner der vier nicht-Menschen jemals einen Wäschetrockner<br />
gesehen, oder auch nur davon gehört hatte, sodass ihnen der Vergleich<br />
nicht viel gesagt hätte.<br />
Durkin grollte: „Sollte das etwa eine Beleidigung sein, Andorianerin?“<br />
Tala sah ihn mit böse funkelnden Augen an. „Es sollte keine sein, es<br />
war eine. Du gehst mir auf die Nerven! Deine unaufhörliche Streitlust<br />
kann auch die geistig gesündesten Wesen in den Irrsinn treiben.“<br />
„Tala...“, warnte Sortak.<br />
„Was verstehen denn die Andorianer von geistiger Gesundheit?”,<br />
fauchte Durkin. „Ihr mit eurem Etepetete und eurem Gelispel. Und ihr<br />
bezeichnet euch als Kriegervolk! Ihr würdet nicht einmal die ersten fünf<br />
Minuten eines tellaritischen Erwachsenenritus überleben!“<br />
„Durkin...“, warnte Sortak.<br />
Natürlich wurde er von beiden ignoriert.<br />
Tala zischte Durkin an: „Würdest du bitte in eine andere Richtung<br />
sprechen? Bei deinem Atem rollen sich meine Antennen ein.“<br />
Durkin krempelte wutschnaubend seine Ärmel hoch und stürmte sofort
los, wie übrigens auch Tala, die sich mit rasender Geschwindigkeit<br />
bewegte. Yoko stotterte überrascht etwas. Und in dem Moment, als sich<br />
die beiden Streithähne an den Kragen gehen wollten, traten sie auf die<br />
Bremse, um nicht in Sortak hineinzurennen, der plötzlich zwischen ihnen<br />
aufragte. Er war gut einen Kopf größer, doppelt so stark wie die beiden<br />
zusammen, und wirkte mit seinem breiten Kreuz wie eine Mauer. Er<br />
langte zu den Seiten, um eine Hand auf Durkins und die andere auf Talas<br />
Schulter zu legen.<br />
„Eigentlich sollte es mir ja egal sein, ob ihr beide euch hier<br />
auseinandernehmt, oder nicht. Eigentlich sollte sogar ich derjenige sein,<br />
der euch auseinander nimmt. Ich komme gerade aus einer Strafkolonie<br />
und dort ist solcher Umgang nicht selten. Aber ich versuche ein neues<br />
Leben anzufangen. Eines, in dem Gewalt keine vorherrschende Rolle<br />
spielt. Eines, in dem ich wohl oder übel mit Leuten wie euch<br />
koexistieren muss, auch wenn ich ihnen gerne die Antennen ausreißen<br />
würde. Wenn ich mich beherrschen kann, dann könnt ihr das auch.“<br />
Plötzlich verstärkten seine Hände ihren Druck auf Talas und Durkins<br />
Schultern, dann riss er beide herum, sodass sie sich ansehen mussten.<br />
„Wenn nicht, dann werde ich eure Dickschädel zusammenschlagen.<br />
Habe ich mich klar ausgedrückt?“<br />
„Vulkanier, du verstehst nicht, wie nervig dieser...“, begann Tala.<br />
Gleichzeitig sagte Durkin: „Ich werde nichts akzeptieren, nur weil...“<br />
Sortak schlug ihre Köpfe zusammen. Er tat es verhältnismäßig sanft;<br />
er hätte viel mehr Kraft einsetzen können. Aber das Geräusch, mit dem<br />
die Schädel zusammenprallten, war recht laut, wie er zufrieden<br />
feststellte. Mit dem beeindruckenden Schrei, den beide gleichzeitig<br />
ausstießen, war er gleichermaßen zufrieden. Tala war als erste wieder auf<br />
den Beinen, obwohl kein Zweifel bestand, dass sich für sie die<br />
Umgebung schwindelerregend drehte.<br />
Durkin rieb sich schielend die Nase und grummelte. „Ich möchte<br />
wissen, wie lange alle noch damit fortfahren wollen, Tellariten mit so<br />
wenig Respekt zu behandeln.“<br />
„Irgendwann wird auch dir auffallen, Durkin.“, sagte Sortak seufzend.<br />
„dass es ebenso aus dem Wald herausschallt, wie man hineinruft.“<br />
Durkin stierte ihn finster an, dann flog sein Kopf plötzlich herum.<br />
„Was war das?“, fragte er. Sein Blick war auf Yoko konzentriert, der
etwas gemurmelt hatte. Nun weiteten sich Yokos Augen. Die Tellariten<br />
hatten offenbar ein ebenso gutes Gehör, wie Vulkanier.<br />
„Was hast du da über mich gesagt?“, verlangte Durkin zu wissen.<br />
Yoko zögerte. „Ich sagte, du bist ... ein Esel.“<br />
Zunächst herrschte totenstille. Doch dann schien der Tellarit<br />
tatsächlich zu lächeln. Er machte sie groß und deutete mit seiner<br />
haarigen Pranke auf den kleinen Vulkanier und sagte mit ernstem<br />
Tonfall: „Ich danke dir.“<br />
Yoko blinzelte verblüfft. „Nicht der Rede wert... denk ich.“<br />
Durkin deutete auf ihn und sagte zu den anderen Anwesenden: „Hier<br />
ist endlich mal jemand, der weiß, wie man einem Tellariten mit Respekt<br />
begegnet!“ Er stiefelte zu seiner Tasche zurück und war offensichtlich<br />
stolz auf seinen Abgang.<br />
„Was habe ich denn gesagt?“, fragte Yoko leise an Sortak gewandt.<br />
„Du hast ihm ein Kompliment gemacht.“<br />
„Wirklich?“<br />
„Frag nicht...“<br />
In dem Moment zeigte Tala mit dem Finger in den Himmel und sagte:<br />
„Seht nur!“<br />
Die beiden Vulkanier und der Tellarit drehten sich in die Richtung, in<br />
die sie deutete.<br />
„Wo?“, fragte Durkin. „Ich sehe nichts!“<br />
„Natürlich siehst du nichts.“, zischte Tala. „Weil eure tellaritischen<br />
Augen genauso unterentwickelt sind, wie eure Umgangsformen.“<br />
Durkin wollte etwas bissiges erwidern, doch dann bemerkte auch er,<br />
dass sich ein Schiff näherte. Er hörte das Brüllen des Antriebes, lange<br />
bevor er etwas sah – was, wie er zugeben musste -, bei den Tellariten<br />
meistens der Fall war. Sie waren tatsächlich etwas kurzsichtig. Also kniff<br />
er die Augen zusammen und starrte angestrengt in den Himmel, dorthin,<br />
wo das Geräusch herkam. Doch so weit entfernt war alles unscharf. Da<br />
war nur ein verwaschener Punkt, dessen Umrisse deutlicher wurden, je<br />
näher er kam – zweifellos ein Raumschiff. Und das Schiff näherte sich<br />
schnell! Seine Geschwindigkeit war erschreckend. Im einem Moment<br />
war es noch ein kleiner Punkt am Himmel und im nächsten schwebte es<br />
einige Meter über ihren Köpfen, senkte sich langsam herab und wirbelte<br />
dabei Blätter auf. Aber nicht nur die Geschwindigkeit des Schiffes war
erschreckend, sondern auch... sein Äußeres.<br />
Durkin stierte das Schiff aus seinen Schweinsaugen an. Vor ihm<br />
landete etwas, dass aussah, wie eine misslungene Kreuzung aus einem<br />
Runabout-Shuttle, einem Wohnmobil und einem sehr erstaunten<br />
Goldfisch. Das Ding, das man nur wage als Schiff identifizieren konnte,<br />
schien aus unschönen Komponenten zusammengebaut zu sein, die von<br />
anderen Fahrzeugen abgefallen waren.<br />
„Das soll unsere Transportgelegenheit sein?“, fragte er mit schroffer<br />
Stimme.<br />
„Nein.“, entgegnete Sortak. „Das ist meine Transportgelegenheit.“<br />
Das Schiff landete auf der Straße und Augenblicke später wurde die<br />
Einstiegsluke an der Seite herabgelassen. Sortak setzte sich in Bewegung<br />
und lächelte munter, als Shan in der Tür erschien. Sie trug einen<br />
verschlissenen Rucksack, Stiefel und eine kurze Lederjacke. Ihr blondes<br />
Haar hing ihr zu den Schultern herab und war etwas kürzer als beim<br />
letzten Mal, als sie sich gesehen hatten. Gleichgeblieben war allerdings<br />
das für sie typische Grinsen, als sie mit freudestrahlend leuchtenden<br />
Augen hinab in seine Arme sprang, um ihn zu umarmen. Sortak hatte sie<br />
nicht mehr gesehen, seit man ihn vor fast zwei Jahren ins Gefängnis<br />
eingeliefert hatte.<br />
Eine halbe Ewigkeit, wenn man bedachte, wie sehr sie früher<br />
aneinander gehangen hatten. Sie waren praktisch zusammen<br />
aufgewachsen und ihre Beziehung ging über bloße Freundschaft weit<br />
hinaus. Zwischen ihnen herrschte ein so starkes Band und so viel<br />
Loyalität, dass man sie ebenso gut auch als Geschwister hätte bezeichnen<br />
können, und so ähnlich waren auch ihre Rollen verteilt. Denn als<br />
größerer Bruder war es stets Sortaks Aufgabe gewesen, auf seine kleine<br />
Schwester aufzupassen. Er erinnerte sich daran, wie ihre Eltern, ihn,<br />
immer bevor sie zum Spielen aufbrechen wollten, kurz zur Seite<br />
genommen und gesagt hatten, er müsse dafür sorgen, dass Shan<br />
zurechtkam und dass ihr nichts geschah, weil sie etwas wild war, und<br />
weil er einen positiven, beruhigenden Einfluss auf sie hatte – was zwar<br />
schwer vorstellbar war, aber den Tatsachen entsprach. Er hatte dann<br />
immer genickt und jeden verscheucht, der Shan auch nur schief<br />
angeschaut hatte, selbst, wenn es jemand aus einer viel höheren Klasse<br />
war. Zwar konnte Shan ganz gut auf sich selbst aufpassen, aber Sortak
wusste, dass sogar starke Menschen Kraft aus den Personen in ihrer<br />
Umgebung zogen. Also war er immer für sie da gewesen, um sie zu<br />
schützen, was sich erst durch seinen Zwangsaufenthalt im Gefängnis<br />
geändert hatte, wo ihm das erste Mal für längere Zeit voneinander<br />
getrennt waren. Und da er keinen Besuch hatte empfangen dürfen, war es<br />
ihnen nur möglich gewesen, den Kontakt über regen Brief- und<br />
Videoverkehr aufrecht zu erhalten.<br />
Jetzt zog er sich aus der Umarmung zurück, um Shan aufmerksam<br />
betrachten zu können. „Du bist groß geworden.“, stellte er fest. „Und<br />
dein Haar ist kürzer.“ Aber sie hatte noch immer das gleiche spöttische<br />
Lächeln und die aufmerksamen blauen Augen, mit denen sie die Welt<br />
analysierte - Die aufmerksamsten, neugierigsten Augen, die er je<br />
gesehen hatte. Sie und Sortak waren wie die positive und die negative<br />
Version des gleichen Bildes. Sie: strahlend und offen, er: dunkel und in<br />
sich gekehrt. Ein ungleiches paar. Aber es hatte immer funktioniert, sie<br />
hatten nie miteinander im Streit gelegen.<br />
„Du warst aber auch ganz schön fleißig, wie es aussieht.“,<br />
kommentierte sie seine eindrucksvollen Oberarme.<br />
„Woher hast du gewusst, dass ich mich doch dazu entschließe, die<br />
Herausforderung anzunehmen, und nicht einfach fortgehe?“<br />
„Instinkt.“ Sie tippte gegen ihre Schläfe. „Ich stand schließlich vor<br />
derselben Entscheidung.“<br />
„Kann’s kaum glauben, dass dich deine Eltern doch noch rumgekriegt<br />
haben.“<br />
Shan seufzte. „Erinnere mich nicht...“ Dann deutete sie zur Pax.<br />
„Bereit?“<br />
Sortak hob seinen Seesack auf. „Klar. Kann losgehen.“<br />
Shan nickte über seine Schulter hinweg zu den anderen dreien. „Hey,<br />
was ist mit euch?“, rief sie. „Seid ihr auch auf dem Weg zur Akademie?“<br />
Allgemeines Nicken.<br />
„Wie wär’s, ihr könnt mit uns fliegen. Ich habe kein Problem damit<br />
euch mitzuholen. Oder wollt ihr lieber im Schultransport abgeholt<br />
werden... wie die anderen Kinder?“<br />
Durkin plusterte sich auf. „Waaas? Wie kannst du es wagen?”<br />
Shan hob die Brauen und zeigte sich insgesamt recht wenig<br />
beeindruckt von seiner Empörung. „Willst du jetzt, oder nicht?“
Durkin schaute nach links, dann nach rechts und dann grunzte er laut.<br />
„Selbstverständlich will ich. Ich bin schließlich kein Kind. Ich bin sieben<br />
Jahre alt!“<br />
Er warf den Kopf in den Nacken und stolzierte mit hoch erhobener<br />
Nase in die Pax hinein, wo er sich als erstes ausgiebig über die<br />
Einrichtung beschwerte, die alt, unbequem, hässlich und einem<br />
Tellariten nicht würdig sei. Tala versuchte ihn bestmöglich zu ignorieren<br />
und entschied sich für den Sitzplatz ganz hinten im kleinen Steuerraum.<br />
Es war ein Reflex. Als Andorianerin hatte sie es sich bei der Teilnahme<br />
an einem Austauschprogramm im klingonischen Reich angewöhnt, in<br />
jedem Raum dort zu sitzen, wo sie am weitesten von der Tür entfernt war<br />
– und wenn möglich mit dem rücken zur Wand. Damit verhinderte sie,<br />
dass sich jemand anschleichen und sie von hinten angreifen konnte. Die<br />
Tatsache, dass sie an Bord dieses Schiffes kaum jemand angreifen<br />
würde, spielte dabei keine Rolle. Die Macht der Gewohnheit obsiegte.<br />
Und Vorsicht, war besser als Nachsicht.<br />
Direkt neben ihr, lediglich durch eine klapprige Konsole getrennt,<br />
setzte sich Yoko hin und blickte sich fasziniert um. Irgendwie erweckte<br />
er auf Tala den Anschein bemüht logisch zu sein. So, als sei er im<br />
Grunde gar kein Vulkanier, würde aber dennoch wie einer denken und<br />
handeln wollen - und dabei maßlos übertreiben.<br />
Shan schloss die Tür und rutschte hinter die Pilotenkontrollen, was<br />
Durkin dazu veranlasste, die Schweinsnase zu rümpfen. „Warum steuert<br />
denn die das Schiff?“<br />
Shan wandte sich im Pilotensitz zu ihm um. „Weil es mein Schiff ist<br />
und weil ich es steuern kann. Zumindest... wenn ich nicht gerade<br />
abstürzte.“<br />
„Waaas?“<br />
Sie schenkte ihm keine Beachtung und fuhr die Maschinen wieder<br />
hoch. Der Antrieb stotterte nur und erstarb. Shan seufzte. Sie betätigte<br />
die entsprechenden Kontrollen erneut. Auch diesmal erklang zunächst<br />
nur ein Stottern, doch dann sprangen die Antriebsreaktoren mit einem<br />
lauten Knall an.<br />
Durkins Schädel flog von links, nach rechts. „Wer schießt da? Wer hat<br />
es gewagt...?“<br />
Alle ignorierten ihn. „Warum dauert das denn so lange?“, quengelte
Durkin weiter. „Worauf wartet die denn?“<br />
„Auf den genauen Zeitpunkt, in dem sie den Knopf für den<br />
Schleudersitz drückt, der dich ins All hinaufschießt.“, murmelte Tala.<br />
Shan schüttelte stumm den Kopf. Es gab vielleicht misstrauischere<br />
Völker als die Tellariten, dachte sie, aber auf die Schnelle viel ihr keins<br />
ein. Sortak hatte auf dem Copilotensitz neben ihr platz genommen.<br />
Inzwischen waren alle Angeschnallt. Shan grinste schief. „Festhalten<br />
Jungs und Mädels. Das Baby hat einiges drauf.“<br />
„Waaas?“, brüllte Durkin. „Es ist ein Kind an Bord? Warum wurde ich<br />
nicht darüber in Kenntnis gesetzt?“<br />
Der Rest des Protests des Tellariten ging im Brüllen der<br />
Schiffsmotoren unter, als die Pax in die Wolken schoss.<br />
Starfleet Academy<br />
Die Pax schwirrte unter der Golden Gate Bridge hindurch, beschrieb<br />
eine Kurve und setzte dann sanft auf der offiziellen Landefläche der<br />
Sternenflotten Akademie auf. Selbstverständlich nicht sanft genug für<br />
Durkin, der sich lauthals beschwerte und Shan wissen ließ, dass ein<br />
schielendes Tellaritenkind eine bessere Landung vollbracht hätte. Shan<br />
sagte nichts. Stattdessen mahlte sie sich aus, wie sie die Pax auf Durkins<br />
Kopf landete.<br />
Sie legte veraltete Schalter um und deaktivierte die Maschinen. Mit<br />
einem Gurgeln erstarb der Antrieb. Shan atmete tief ein, als müsse sie<br />
Kraft sammeln, dann warf zögernd sie einen Blick durch die breite<br />
Frontscheibe nach draußen. Ihr Vater hatte ihr sooft von den zahlreichen<br />
Gebäuden, aus denen die Akademie bestand, erzählt, so oft betont, wie<br />
sehr er die Symmetrie der Gebilde und die harmonische Verschmelzung<br />
von Werkstoffen, die sowohl aus dem Weltraum, als auch von der Erde<br />
stammten, als junger Kadett bewundert hätte. Und, so ungern Shan das<br />
auch zugeben wollte, erwiesen sich all seine Schilderungen als<br />
zutreffend.
Es handelte sich um eine ganze Reihe sehr imposanter Gebäude,<br />
majestätisch in den weitläufigen, wunderschön gepflegten Gärten<br />
eingebettet, nahe an der Bucht des geschäftigen Gebietes Presidios, mit<br />
Blick auf die Golden Gate Bridge und das klare, blaue Wasser von San<br />
Francisco. Fast einer architektonischen Poesie gleich, die sich auf den<br />
Zusammenhang zwischen der Erde und den Sternen bezog, ragten die<br />
Gebäude in den wolkenlosen, blauen Himmel empor, eine fabelhafte<br />
Mischung aus Eleganz und Schlichtheit. Sie leuchteten weiß in der<br />
Mittagssonne und wirkten so makellos und neu, als wären sie erst am<br />
Vormittag und nicht bereits vor über zweihundert Jahren erbaut worden.<br />
Der gewaltige Komplex lag unmittelbar neben dem<br />
Sternenflottenkommando und dem Föderationsrat, weshalb nicht nur<br />
unzählige Kadetten, sondern auch berühmte Führungsoffiziere über das<br />
Gelände marschierten.<br />
Shan sah zu Sortak herüber, der sich auf dem Co-Pilotensitz nach vorn<br />
zu den Fenstern gebeugt hatte und ihr nun einen misstrauischen Blick<br />
schenkte. Er wusste auch nicht, was er von der Sache, die nächste Zeit<br />
innerhalb dieser Gebäude zu verbringen, halten sollte. Dann betrachtete<br />
sie ihre anderen drei Mitschüler. Tala hatte einen gewissen Glanz in den<br />
Augen, als sie das Gelände ehrfürchtig betrachtete. Shan wusste nicht<br />
ganz, wie sie das Mädchen einschätzen sollte. Sie war bisher still<br />
geblieben, freue sich aber unverkennbar über die Ankunft an der<br />
Akademie. Und die Tatsache, dass Andorianer von einer Eiswelt kamen,<br />
machte sie für Shan irgendwie unsympathisch.<br />
Durkin hingegen brummte selbstzufrieden und wippte mit seinem<br />
feisten Bauch, während Yoko stumm dasaß und anerkennend nickte.<br />
Alle drei schienen wenigstens zuversichtlich zu sein. Shan hingegen<br />
hatte sich bereits geistig dagegen gewappnet, im Schatten der sicherlich<br />
brillanten Karriere ihres Vaters leben zu müssen. Sie würde einfach ihr<br />
Bestes geben und das würde genügen müssen.<br />
Shan warf sich ihren Rucksack über die Schulter und verließ die Pax<br />
als erste. Eine warme Luft schlug ihr Entgegen, in San Francisco war es<br />
deutlich wärmer als in New New York, was sie überraschte. Sie atmete<br />
tief ein, aber irgendwie kam ihr die Luft nicht stofflich vor. Eher sehr<br />
Salzig - vermutlich vom Pazifik. In der Nähe sah sie viele andere<br />
Shuttles, die gerade landeten; die Schulshuttles, welche neue Rekruten
von überall aus der Föderation herbrachten, aber auch den ein oder<br />
anderen privaten Transporter. Ihre Passagiere betraten den Boden, über<br />
den schon Legenden wie Robert April, Saavik, oder Rachel Garrett<br />
geschritten waren.<br />
Shan fragte sich, ob ihr Vater auch hier gestanden hatte. Dann<br />
entschied sie, dass sie es eigentlich gar nicht wissen wollte.<br />
Finnegan<br />
Die Ankunft der neuen Rekruten des Jahrgangs 2396 glich einer<br />
Invasion. Der strahlend blaue Himmel über der Akademie wurde von<br />
einer nicht enden wollenden Armada an Shuttles und Raumfähren<br />
beherrscht, die in ihrem Kommen und gehen ein regelrechtes Ballett<br />
aufführten, während sie fließend und von der Flugleitzentrale<br />
genauestens koordiniert, unzählige neue exotische Lebensformen aus<br />
allen möglichen Regionen des Föderationsraums auf den Campus<br />
brachten.<br />
Während er sich mit seiner Hand die Augen vor der Sonne abschirmte,<br />
betrachtete Jett Finnegan diese zahlreichen Neuankömmlinge dort unten<br />
auf dem enormen Landeplatz mit einer Mischung aus Bestürzung und<br />
kategorischer Ablehnung.<br />
Eigenen Aussagen zufolge, war Jett ein gutaussehender, trainierter<br />
Vorzeige-Kadett, und zumindest seine optische Erscheinung wurde mit<br />
dem grauweißen Haar, dem irisch-runden Gesicht, und dem dazu<br />
passenden schlanken Körperbau, dieser Beschreibung einigermaßen<br />
gerecht. Seine rot-schwarze Kadettenuniform saß tadellos, und die<br />
Rangabzeichen an seinem Kragen, die ihn als einen Kadetten des dritten<br />
Jahres auswiesen, blinkten frisch gereinigt.<br />
„Na? Hält sich da wieder jemand vom bitterbenötigten Nachhilfekurs<br />
in Multidimensionales Kalkulieren fern?“<br />
Finnegan nahm nur kurz seine Aufmerksamkeit vom Spektakel am<br />
Himmel um über Schulter zu blicken, und zu sehen, wie sich sein guter<br />
Freund Moron näherte. Moron, dessen Haut im tiefsten Blau schimmerte,
das Jett je bei einem Benziten gesehen hatte, trug hinter seinem kleinen<br />
Atemgerät wie üblich das breite Dauerlächeln, das ihm offenbar schon<br />
bei seiner Geburt ins Gesicht getackert worden war. Die beiden waren<br />
seit dem zweiten Jahr praktisch unzertrennlich, obwohl sie<br />
unterschiedlicher nicht hätten sein können. Während Finnegan mit seiner<br />
aufbrausenden Art oft unüberlegt handelte, strahlte Moron eine so ruhige<br />
Aura aus, dass selbst einen Vulkanier eifersüchtig gemacht hätte.<br />
Finnegan lachte, langte herüber und gab Moron einen festen, wenn<br />
auch freundschaftlichen Klaps gegen seinen Oberarm. „Schaff’ du es erst<br />
mal durch den Sommer, mein Freund.“<br />
Lächelnd – immer lächelnd – entgegnete der Benzite: „Das werde ich<br />
schon. Mach dir da mal keine Gedanken.“<br />
Er folgte Finnegans Blick zum Landeplatz herab, wo viele Neulinge in<br />
kleinen Grüppchen, selten auch alleine, herumstanden und völlig<br />
verloren aussahen, während sie darauf warteten, von irgendjemand an<br />
die Hand genommen und eingewiesen zu werden.<br />
„Und?“, fragte Moron interessiert. „Wie sehen die neuen Rekruten<br />
aus?“<br />
„Von Jahr zu Jahr beschränkter.“<br />
„Waren wir je so jung und grün hinter den Ohren, Jett?“, frage Moron<br />
in einem Anfall beträchtlicher Nachdenklichkeit.<br />
Finnegan schüttelte heftig den Kopf. „Nee.“<br />
„Das beruhigt mich ungemein.“<br />
Sie beobachteten, wie immer mehr Shuttles landeten und ihre<br />
Passagiere abluden. Gleich nachdem die Kadetten das Gelände betraten,<br />
verströmten sie überall auf dem Landeplatz, wurden dann von<br />
verschiedenen Seniorstudenten - allesamt Kadetten des dritten, oder<br />
vierten Jahres -, die sich freiwillig gemeldet hatten, um neben ihrem<br />
Studium auch noch den Frischlingsommer vorzubereiten (was zwar kein<br />
Muss war, von der Akademieleitung aber stets mit einem positiven<br />
Vermerk in der Akte gewürdigt wurde), eingesammelt und nach einer<br />
kleinen Einführungsrede einzeln, oder in Gruppen durch die weitläufige<br />
Anlage zum Orientierungscenter gebracht, wo später die eigentliche<br />
Einweisung stattfinden sollte. Manche der Kadetten schienen dabei aber<br />
auch selbst die Übersicht verloren zu haben und nicht so recht zu wissen,<br />
wie es jetzt weitergehen sollte, während sie verzweifelt nach einer
Gruppe suchten, die sie begleiten konnten. Für Finnegan stand außer<br />
Frage, sich je für so einen Unsinn freiwillig zu melden. Die kleine<br />
Belobigung war es ihm nicht wert, sich um die neuen Rekruten zu<br />
kümmern. Es war eine Verschwendung von Material und Möglichkeiten.<br />
Ihn hatte damals, an seinem ersten Tag, niemand an die Hand nehmen<br />
und durch die Anlage begleiten müssen, wie einen senilen Vulkanier.<br />
Stattdessen hatte er die Dinge selbst in die Hand genommen, und war<br />
selbst zum richtigen Ort marschiert, um seine Anwesenheit bestätigen zu<br />
lassen.<br />
Mehr Shuttles kamen an. Finnegan entschied, es sei an der Zeit selbst<br />
aktiv zu werden.<br />
„Komm, Moron. Weisen wir die neuen mal auf unsere Art ein.“<br />
„Ach, Fin.“, seufzte Moron und sein Lächeln verblasste gerinfügig.<br />
„Warum willst du Ärger machen, hm?“<br />
„Weil das die Rekruten wissen lässt, wo genau sie stehen und wo<br />
genau wir stehen. Das ist wichtig. Absolut unerlässlich. Ich habe nämlich<br />
keine Lust, dass uns die Frischlinge in den nächsten Wochen auf der<br />
Nase herumtanzen, weil sie denken, ihnen gehöre die Akademie, nur<br />
weil viele in den Ferien sind.“ Er klopfte Moron auf den Rücken,<br />
vollführte eine ausschweifende Geste und sprach laut und auf eine<br />
Gestelzte Art, die an einen römischer Senator erinnerte, der den Senat<br />
auf höchst lyrische Art und Weise zur Durchführung eines Krieges<br />
überreden wollte. „Wir haben nicht wirklich eine Wahl, Lord Moron! In<br />
diesem Falle wird unser Vorgehen von einer ehrwürdigen Tradition<br />
bestimmt! Wir sind nicht dabei irgendwas zu starten. Vielmehr wurden<br />
wir auserkoren, an diesem wunderschönen Tag-“<br />
Moron schmunzelte. „Wenn ich dich begleite, hältst du dann den<br />
Mund?“<br />
„Selbstverständlich. Aber warum die Beschränkung als Begleitung?<br />
Möchtet ihr euch etwa nicht mit den Jungspunden amüsieren, mein<br />
Lord?“<br />
Morone hob abwehrend die Hände. „Ohh nein Fin. Das ist dein Ding.<br />
Aber ich feuere dich an, wenn es sein muss, weil ich weiß, dass du<br />
immer Publikum brauchst –egal bei was du machst.“<br />
„Für wahr, für wahr. Ihr seid in der Tat ein Offizier und Gentleman, oh<br />
großer Moron.“, verkündete Finnegan feierlich. Dann wandte er sich den
Weg zum Landeplatz hinab zu. Er grinste und rieb sich die Hände. „So<br />
lasset die Spiele beginnen.“<br />
Der Strom an Schiffen ließ allmählich nach. Als Finnegan und Moron<br />
näher kamen, hob gerade ein weiteres Shuttle ab, das Passagiere<br />
hergebracht hatte, und wurde nicht unmittelbar von einem weiteren<br />
ersetzt. Die Kadetten standen dort, ihre Taschen geschultert und sahen<br />
mit gemischten Gefühlen auf die weitläufigen Anlagen des Campus<br />
herüber. Manche quasselten fröhlich, andere waren nervös, und wieder<br />
andere ängstlich. Finnegan entdeckte ein halbes Dutzend von ihnen.<br />
Nein. Ein halbes Dutzend ... und eine ganz spezielle mehr. Keine Frage.<br />
Sie war die richtige. Moron sah sie zur gleichen Zeit wie er.<br />
„Die sieht reif aus.“<br />
„Ihr exzellentes Auge für besonders groteske Gestalten, ist nicht<br />
getrübt, verehrter Moron.“<br />
Die „eine mehr“ stand abseits der restlichen Kadetten, mit denen sie<br />
eingetroffen war. Sie hatten sich zusammengerottet und unterhielten sich<br />
aufgeregt über dies und das, während das von Moron und Fin erwählte<br />
Opfer schon jetzt die typischen Anzeichen einer ewigen Außenseiterin<br />
zur Schau stellte. Niemand kümmerte sich um sie und niemand wollte<br />
etwas mit ihr zu tun haben, was sie gar nicht mitbekommen zu schien.<br />
Sie stand einfach nur da und glotzte auf die Gebäude der Akademie, als<br />
ob sie nicht so recht wusste, um was es sich handelte. Eine Schule, ein<br />
Hauptquartier, eine Shuttlebasis, oder Frühstücksflocken.<br />
Offenbar hatte sie so etwas noch nie zuvor gesehen. Natürlich kannte<br />
Finnegan ihre Spezies. Es gab kaum jemanden, der die Pakleds nicht<br />
kannte – eine vergleichsweise enorm primitive Spezies, mit einfacher<br />
Sprache und noch einfacherer Kultur, aus stämmigen Humanoiden, die<br />
sich gelegentlich als listig und rücksichtslos herausgestellt hatten. Ihre<br />
technologischen Fähigkeiten verdankten sie weniger der eigenen<br />
technologischen Entwicklung, als eher der Tatsache, dass sie auf ihren<br />
Reisen durch das All auch nicht vor Piraterie zurückschreckten.<br />
Um ihre Position im Universum zu verbessern, versuchten sie alles zu<br />
erwerben, was sie stärker, mächtiger und klüger werden lies. In ihrem
verzweifelten Bestreben, trotz fehlender Intelligenz, mit dem Rest des<br />
Quadranten mithalten zu können, schreckten sie auch nicht davor zurück,<br />
auf ihren Schiffen Systemzusammenbrüche zu simulieren und dadurch<br />
hilfsbereite, ahnungslose Opfer anzulocken. Wenn sie dann die<br />
geforderte Hilfe, oder Technologe nicht bekamen, wurden sie zu<br />
ziemlich rabiaten Zeitgenossen. Meistens versuchten sie sich als<br />
Händler, schreckten aber auch in diesem Gewerbe selten vor Diebstahl<br />
zurück. Niemand mochte sie und das Föderationspersonal war inoffiziell<br />
angewiesen, sich von den Pakled fern zu halten.<br />
„Willst du ihre Story wissen?“, fragte Finnegan Moron, während sie<br />
einen blumengeschmückten, gewundenen Weg hinabschritten, der<br />
Finnegan irgendwie an die Lombard-Straße in San Francisco erinnerte,<br />
und sie zu genau dieser Gruppe mit der Pakled führen würde.<br />
Moron blickte ihn verwundert – aber lächelnd - an. „Du kennst ihre<br />
Story?“<br />
„Natürlich.“, bestätigte Finnegan und klopfte mit dem Zeigefinger an<br />
seine Schläfe. „Mein geschultes Auge sieht alles. Es verrät mir, dass<br />
dieses frische Exemplar dort auf einem Schrotthändlerplaneten aufwuchs<br />
– auf Pakled - vermutlich auf einer Farm, irgendwo in den äußeren<br />
Systemen. Sie wurde von jemandem empfohlen, hat das Eintrittsexamen<br />
bestanden – höchstwahrscheinlich geschummelt, erpresst, oder ein<br />
Freund der Familie hat nachgeholfen und bereitwillig weggesehen - und<br />
dann suchten ihre Eltern ihr ganzes Erspartes zusammen, um ihr den<br />
Flug hierher zu bezahlen, um ihrer dicklichen Tochter ein besseres<br />
Leben als das, was sie selbst führen, zu ermöglichen.“<br />
„Du kannst das alles erkennen, nur indem du sie nur ansiehst?“ Der<br />
Blick seines Freundes wanderte skeptisch zwischen Finnegan und der<br />
Pakled hin und her.<br />
„Klar. Schau sie dir doch an. Dieses dümmliche Gesicht. Ich wette die<br />
hat noch nie einen Sternenflottenoffizier gesehen. Vermutlich wird sie<br />
uns anbeten wie Götter.“ Er lächelte. „Und wenn nicht, dann bringen wir<br />
es ihr- Oh nein.“ Das Lächeln erstarrte zu einer Grimasse.<br />
„Was ist?“<br />
Er nickte zum Landeplatz. „Zaylie.“<br />
Moron beobachtete, wie eine der Jahrgangsälteren bei der Gruppe<br />
eintraf. Sie hielt einen Datenblock und gehörte zweifellos zu denjenigen,
die sich als erstes freiwillig gemeldet hatten, um den Frischlingsommer<br />
vorzubereiten. Nun wollte sie offenbar diese spezielle Gruppe begleiten.<br />
Ihr Name war Zaylie Burton und Moron musste nicht lange in seinem<br />
Gedächtnis kramen, um zu wissen, wo er sie einzuordnen hatte.<br />
„Deine Ex?“<br />
„Uh-huh.“<br />
„Sollen wir umkehren?“<br />
Jett schnaubte. „Unsinn.“<br />
Nach einer kurzen Pause fragte Moron: „Warum ist die Beziehung<br />
eigentlich zerbrochen?“<br />
„Ich schätze wir hatten ab einem gewissen Punkt einfach verschiedene<br />
Erwartungen.“, murmelte sein Freund düster.<br />
„Wie das?“<br />
Jett blickte ihn an. „Ich hatte keine...“<br />
„Verdammt.“, murmelte Zaylie, als sie Jett mit seinem ewig dümmlich<br />
grinsenden Anhängsel herannahmen sah. Sie war Jett schon seit<br />
geraumer Zeit nicht mehr begegnet und hatte eigentlich nicht vorgehabt,<br />
diesen Umstand so bald zu ändern. Vor ein paar Monaten hatten sie kurz<br />
was miteinander gehabt, aber die Beziehung war gescheitert, als sie<br />
erkannt hatte, was für ein Idiot er war – die Tatsache, dass er hinterher<br />
überall großkotzig herumerzählt hätte, dass er schlussgemacht hatte, was<br />
nicht der Wahrheit entsprach, war schon Beweis genug - und keiner von<br />
beiden war weiterhin interessiert gewesen die Gegenwart des anderen<br />
noch über ihr letztes Streitgespräch hinaus zu ertragen.<br />
Als sie ihn nun kommen sah, verzog sie das Gesicht in einer Art, wie<br />
sie es immer tat, wenn sie Probleme herannahen spürte, entschied sich<br />
aber einfach weiterzumachen und ihre Pflicht zu erfüllen, in der naiven<br />
Hoffnung Jett würde von selbst verschwinden.<br />
Sie strich sich eine widerspenstige Strähne ihres dunkelblauen Haares<br />
hinter das rechte Ohr und wandte sich den Neulingen zu, um sich vor<br />
ihnen aufzubauen. „Willkommen bei der Sternenflottenakademie.“,<br />
verkündete sie zeremoniell. Die Rekruten stellten ihre Gespräche ein, als<br />
sie Zaylie bemerkten, und nahmen Haltung an. „Ich bin Zaylie Burton,
Kadett des zweiten Jahres und ihre Orientierungshilfe am heutigen Tag.<br />
Ich gratuliere ihnen zum Bestehen der Aufnahmeprüfung, die sie hier<br />
hergerbacht hat. Ihnen allen wurde die Ehre zuteil, am Frischlingsommer<br />
teilzunehmen, der sechs Wochen andauert und sowohl Vorbereitung, als<br />
auch einen abschließenden Eignungstest darstellt, nach dessen Bestehen<br />
das erste Jahr beginnt. Bis dahin werden sie genug Zeit haben, sich mit<br />
dem Campus, den Fächern, den Dozenten und den übrigen Kadetten<br />
vertraut zu machen. Ihnen werden militärische Protokolle, Prozeduren<br />
und diverses Grundmissen vermittelt, damit sie sich anschließend, wenn<br />
das erste Jahr beginnt, für eine der zahlreichen Fachrichtungen<br />
entscheiden können.“ Sie bemerkte aus den Augenwinkeln heraus, wie<br />
Finnegan irgendwo hinter ihr stehen geblieben war, und sie nun<br />
beobachtete, was sie nervös machte.<br />
Mistkerl!<br />
Sie schloss die Augen für einen kurzen Moment und atmete tief ein.<br />
Ruhig, Zaylie. Ruhig.<br />
Als sie die Augen wieder öffnete, versuchte sich nichts anmerken zu<br />
lassen, und Finnegan ganz aus ihren Gedanken zu vertreiben. Stattdessen<br />
konzentrierte sie sich auf die Gruppe vor ihr und setzte ein fröhliches<br />
Lächeln auf. „Aber sie brauchen keine Angst zu haben. Wir gehen alles<br />
schön langsam an. Heute werden ihnen erst einmal Zimmer in den<br />
Baracken zugeteilt, die sie mit einem, oder in Ausnahmefällen, auch mit<br />
zwei anderen Kadetten bewohnen werden. Aber vorher machen wir<br />
einen kleinen Rundgang. Dann bringe ich sie zum Einsweisungscenter,<br />
wo die Formalitäten erledigt werden.“<br />
Sie klatschte fröhlich in die Hände. „Wir beginnen zunächst-“<br />
Das war der Moment, in dem Jett einschritt. Und von da an ging alles<br />
den Bach herunter.<br />
Eines muss man Zaylie lassen, dachte Jett. Das Weib gibt sich Mühe.<br />
Während seine nervige Exfreundin zur Gruppe sprach, beobachtete<br />
Finnegan die Reaktion der neuen und, sonnte sich in der Ehrfurcht, die<br />
sie ihnen entgegenbrachten. Natürlich hatten sie ihn und Moron ebenfalls<br />
bemerkt, und schielten ständig nervös zu ihnen herüber.
Finnegan konnte auch verstehen, warum. Sei beide waren durchaus<br />
beeindruckende Gestalten, erst recht mit den Rangabzeichen am Kragen<br />
ihrer Kadettenuniformen, und der sie als Dienstältere Kadetten auswies,<br />
als Zaylie eine war.<br />
Wir sind wie Götter, dachte er erneut. Es erfüllte ihn mit Befriedigung,<br />
den Respekt in den Augen dieser Küken zu sehen, und auch mit Stolz.<br />
Stolz auf das, was er erreicht hatte und Stolz auf das, wofür diese<br />
Uniform stand.<br />
Nur die Dumpfnase von der Pakled-Farmkolonie reagierte nicht. Sie<br />
war weiterhin damit beschäftigt mit großen Augen und dümmlichem<br />
Blick in der Gegend herumzuschauen. Jetzt starrte sie sogar auf die<br />
wenigen vorbeiziehenden Wolken, als hätte sie nie in ihrem Leben einen<br />
blauen Himmel gesehen. Sie schenkte Zaylie überhaupt keine<br />
Aufmerksamkeit, was ihn fürchterlich ärgerte. Irgendwann konnte er es<br />
einfach nicht mehr ertragen und gerade, als Zaylie die Gruppe abführen<br />
wollte, ging er dazwischen.<br />
„Ich übernehme ab hier, Zaylie.“<br />
Burton versuchte angestrengt ihr Lächeln zu bewahren, als er sich ihr<br />
in den Weg stellte: „Ich glaube, Mr. Finnegan, dass ihr Name nicht auf<br />
der Liste der Freiwilligen zur Betreuung der neuen steht.“<br />
„Stimmt. Aber...“ Er tippte kurz auf seine Rangabzeichen „vergiss<br />
nicht, dass ich im Rang höher stehe, als du, also sei artig und tritt<br />
beiseite.“ Zaylies Kaumuskulatur geriet sichtlich in Bewegung, aber sie<br />
war trotz ihres Zornes schlau genug, sich zu fügen - was Finnegan eine<br />
gewisse Genugtuung verschaffte, die er einen köstlichen Moment lang<br />
genoss.<br />
Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gruppe<br />
Rekruten, verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und begann wie<br />
ein Drill-Sargeant vor ihnen auf- und abzulaufen. „Ich dachte ich hätte<br />
wirklich schon alles gesehen, was man an Frischlingen zur Akademie<br />
schickt. Aber ihr seid mit Abstand der albernste Haufen von allen. Ganz<br />
besonders... du!“ Sein Tonfall änderte sich. „Du, Pakled. Augen nach<br />
vorn!“<br />
Näher dran, konnte Finnegan die Rekrutin, die seine Aufmerksamkeit<br />
von weiter oben bereits erweckt hatte, besser studieren. Es handelte sich<br />
tatsächlich um ein entfernt an eine Frau erinnerndes Wesen, auch, wenn
man zweimal hinsehen musste, um dies zu erkennen, da Pakleds<br />
irgendwie alle gleich aussahen.<br />
Ihre Kleidung war – den Gepflogenheit ihrer Heimatwelt entsprechend<br />
– weit, braun und bestand aus mehreren Schichten eines dick wattierten<br />
Materials – vermutlich auf primitive Art und Weise verarbeitetes<br />
Tierfell. Auf der Brust schillerten kleine Ornamente, die zweifellos keine<br />
richtige Bedeutung hatten. Sie trug Stiefel und schwere Handschuhe,<br />
obwohl es ein recht warmer Sommertag war. Wie es bei allen<br />
Mitgliedern dieser Spezies der Fall war, war auch diese Pakled ziemlich<br />
groß und molliger Natur. Genaugenommen war sie ziemlich fett. Das<br />
Pony ihres ansonsten schulterlangen Haares fiel ihr garstig ins Gesicht,<br />
war zerzaust und wirkte ölig. Ein bräunliches Muster zierte die Stirn<br />
darunter. An den Augen und der Unterlippe, befanden sich vorstehende<br />
Hautfalten, die entfernt an Kimen erinnerten. Durch die tief über den<br />
Augen hängenden, fleischigen Brauen, erweckte sie schon alleine von<br />
ihrer Physiologie her den Eindruck einer Lahmen, begriffsstutzigen<br />
Person. Und genau das schien auch der Fall zu sein, denn allein die<br />
tölpelhafte Art, wie sie sich – vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben<br />
- mit einem völlig unangebrecht knallroten Lippenstift geschminkt hatte,<br />
verriet Finnegan, dass sie tatsächlich aus den hintersten Hinterregionen<br />
des Quadranten stammen musste, und sich noch nie unter Menschen<br />
bewegt hatte, geschweige denn unter Sternenflotten-Angehörigen. Ihr<br />
gesamtes Erscheinungsbild schrie regelrecht nach einem geistig<br />
zurückgebliebenem Müllsammler.<br />
Ein erschütterndes Wesen. Natürlich nicht erschütternd genug, um<br />
einen Kadetten des dritten Jahres zu verwirren. Nein, es war ihre an<br />
Apathie grenzende Teilnahmslosigkeit, die Finnegan aufregte, dieses<br />
öffentliche Zurschaustellung geistig geringer Gehirnkapazität.<br />
Solche Individuen wurden doch nur aus einem Grund zur Akademie<br />
eingeladen: damit die Sternenflotte einige Mitglieder fremder, und am<br />
besten noch verfeindeter Spezies hatte, um sie PR-technisch vorzeigen<br />
zu können. Um zu beweisen, wie kultiviert und offen diese Organisation<br />
doch war. Die Antragprüfer drückten dann oftmals mehrere Augen zu<br />
und im Gegenzug erhöhten sie die Anforderungen an ihre menschlichen<br />
Kollegen, was Finnegan maßlos ärgerte. Ihr wurde es leicht gemacht,<br />
und er musste sich abrackern. Und dieses spezielle Exemplar hier, war
eindeutig von einem technologisch und kulturell rückständigem<br />
Planeten, daran bestand für Finnegan absolut kein Zweifel. Zweifellos<br />
hatte jemand Mitleid mit ihr gehabt, oder man wollte neue<br />
Handelsbeziehungen zu den Pakled aufnehmen, denn er konnte sich<br />
absolut nicht vorstellen, welche Bereicherung eine Pakled – vor allem<br />
diese Pakled - für die Flotte darstellen sollte. Sie war weder besonders<br />
aufmerksam, noch schien sie erwähnenswert gescheit zu sein. Offenbar<br />
hatten sie jetzt die Zulassungsbestimmungen komplett in den Papierkorb<br />
geworfen und nahmen jeden auf. Ein trauriger Tag und eine Schande für<br />
die Flotte.<br />
Finnegan straffte seine Schultern, um noch imponierender zu wirken.<br />
Die Pakled schien das nicht weiter zu bekümmern, was ihn ärgerte. Sie<br />
sah ihn unsicher an, wie eine Schale selbstdichtender Schaftbolzen.<br />
Entweder wollte sie frech sein... oder aber sie hatte tatsächlich keine<br />
Ahnung, wer da vor ihr stand und was von ihr erwartet wurde. Finnegan<br />
tippte auf letzteres. Zeit es ihr beizubringen.<br />
„Wie ist dein Name, du Klops?“<br />
Die Pakled sah ihn aus hilflosen Augen an und wusste offenbar nicht,<br />
wie sie reagieren sollte.<br />
„Dein Name.“, forderte er erneut, als er keine Antwort erhielt.<br />
Die Frau gab ein merkwürdig gurgelndes Geräusch von sich. Sie<br />
zögerte noch einen Moment, sah kurz zu Burton, die ihr aber auch nicht<br />
half, sondern unglücklich am Rande stand, und sagte dann zaghaft: „Ce...<br />
Cera. Cera Regonod.“<br />
Und sie lächelte plötzlich dümmlich, als würde sie eine Belohnung<br />
erwarten, ihren Namen richtig ausgesprochen zu haben. Finnegan verzog<br />
vor unverhohlenem Abscheu das Gesicht. Das Lächeln auf Ceras Gesicht<br />
verschwand, als sie nicht die erhoffte Reaktion erhielt und sie wurde<br />
wieder unsicher.<br />
„Was ist denn das für ein Name?“, fragte Finnegan mit gekräuselter<br />
Nase. Natürlich bekam er auch diesmal keine Antwort und sah deshalb<br />
kurz zu Moron herüber, um sich seine Abneigung bestätigen zu lassen,<br />
aber Moron blickte Klops einfach nur an, als sei er beunruhigt, das etwas<br />
total schief gehen könnte. Als würde er sich nicht mehr besonders wohl<br />
in seiner Haut fühlen. Selbst sein Lächeln war erblasst.<br />
Das konnte Finnegan kaum nachvollziehen. Immerhin waren sie
Kadetten es dritten Jahres! Zugegeben, die Pakled war groß, größer als<br />
er, sogar größer als Moron, hatte gewaltige, speckige Oberarme, und<br />
riesige Pranken, mit denen sie zweifellos eindrucksvoll zuschlagen<br />
konnte, sofern man das aggressive Gemüt für eine solche Tat besaß. Das<br />
hatte die Pakled aber ganz sicher nicht.<br />
Typisch Moron, dachte Finnegan. Kräftiger als die meisten, aber<br />
gleichzeitig machte er sich immer Sorgen um nichts. Finnegan stieß ihm<br />
in die Rippen, worauf Moron blinzelnd aus seiner Starre erwachte. Er<br />
wollte schon zu einer scharfen Erwiderung bezüglich der Pakled<br />
ansetzen, sah dann jedoch, dass Finnegan besänftigend abwinkte. Immer<br />
mit der Ruhe, alter Freund. Lass mich nur noch ein bisschen piesacken,<br />
schien er sagen zu wollen.<br />
„Ich hörte“, sagte Finnegan so laut, dass ihn auch alle anderen<br />
Rekruten in der Nähe verstanden. „wenn ein Pakled ins Wasser springt,<br />
wird er nicht nass. Das Wasser wird fett. Stimmt das?“<br />
Die Pakled reagierte immer noch nicht, sah ihn nur aus treudoofen<br />
Augen an. Andere Studenten, die den Wortwechsel aufgeschnappt<br />
hatten, kamen langsam näher. Cera fühlte sich äußerst unwohl in ihrer<br />
Haut. Sie wusste offenbar immer nicht, was sie machen sollte, sah sich<br />
erneut hilflos zu den anderen um, aber da sie keine Freunde an der<br />
Akademie hatte, und auch sonst niemanden hier kannte, stand ihr<br />
natürlich niemand bei.<br />
Finnegan trat näher an die Pakled heran. „Ich habe Ihnen eine Frage<br />
gestellt, Kadett.“<br />
„Jett, hör doch-“, stöhnte Burton gequält. Er brachte sie augenblicklich<br />
mit einem strengen Blick zum Schweigen. Seine Kontrolle über sie war<br />
nicht mehr großartig, aber noch immer vorhanden und Burton verstand<br />
und respektierte die Kommandostruktur wie jeder andere. Sie grummelte<br />
zwar, sagte aber nichts mehr. Finnegan wandte sich wieder zur Pakled.<br />
„Nun? Habe ich recht? Wird das Wasser fett? Gibt es überhaupt Wasser,<br />
da wo du herkommst?”<br />
Pakled sagte nichts. Sie sah sich nur unsicher und ängstlich um und<br />
scharrte mit den Füßen auf dem Boden.<br />
„Siehst du mich gefälligst an? Du hast deinen vorgesetzten Offizier zu<br />
respektieren, klar? Und in diesem Falle bin das ich.“ Er versetzte ihr<br />
einen kräftigen Stoß gegen die Schulter, woraufhin sie zurücktaumelte.
Und dann hörte er zu seiner Linken eine Stimme. „Gibt’s hier ein<br />
Problem?“<br />
Die Stimme war ihm nicht vertraut, der Tonfall hingegen schon.<br />
Überdies war er sich einigermaßen sicher, dass die Worte ihm galten. Er<br />
blickte drohend langsam über die Schulter. Weitere Neuankömmlinge.<br />
Ein blondes Mädchen in Begleitung zweier Vulkanier – der eine groß,<br />
der andere klein, eines Tellariten und einer Andorianerin, die sich aber<br />
eher im Hintergrund hielten.<br />
Finnegan runzelte die Stirn und warf dem Mädchen einen finsteren<br />
Blick zu, der sie aber nicht im geringsten zu stören schien. „Das hier<br />
geht dich nichts an, Kleines.“, schnappte er. „Mit dir hab ich keinen<br />
Streit. Ich rede mit Rekrut Regonod.“<br />
Er wollte sich wieder der Pakled zuwenden, aber das Mädchen lies<br />
nicht locker „Und ich rede mit dir! Und ich habe gefragt, ob es ein<br />
Problem gibt!“<br />
Sie hatte es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, sich einzumischen.<br />
Das sollte Finnegan nur recht sein. Er wandte sich ihr zu... und stockte<br />
einen Moment.<br />
Ihre Augen. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Sie hatte solch<br />
durchdringende blaue Augen, die ... nach dem besten Wege suchten, ihn<br />
zu töten. Da war er sich sicher. Das brachte ihn einen Moment aus dem<br />
Konzept, aber die Wut half ihm sich wieder zu konzentrieren. „Wie<br />
passend.“, höhnte er. „Jetzt hat der Klops auch noch eine Beschützerin,<br />
was? Fehlt nur noch die Leine. Du weißt wohl nicht, mit wem du gerade<br />
sprichst, Kleines. Überleg dir lieber ganz genau, auf wessen Seite du<br />
dich hier schlägst.“<br />
„Ich stehe ganz sicher nicht auf der Seite eines arroganten Grekker-<br />
Targ. Oh nein...!“ Sie hielt sich die Hand vor den geöffneten Mund und<br />
tat so, als hätte sie etwas sehr schlimmes getan, wobei sie ganz bewusst<br />
eine miserable Schauspielerische Leistung hinlegte. „Tut mir leid. Ich<br />
habe ein Wort mit mehr als einer Silbe benutzt. Wie dumm von mir!<br />
Brauchst du jetzt einen Universalübersetzer...?“<br />
Finnegans Mund öffnete sich und schloss sich wieder, ohne ein Wort<br />
gesagt zu haben. Einen Moment später, hatte er sich wieder gefangen,<br />
und schimpfte: „Ich kann nicht fassen, dass so etwas auf die Akademie<br />
gelassen wird. Jemand muss euch kleinen Scheißer wohl erst noch
Respekt beibringen!“<br />
„Und wer? Du?“ Das schien das Mädchen zu amüsieren. „Ich krieche<br />
sicher nicht zu Kreuze, nur weil du eine Uniform trägst. Und das sollte<br />
auch niemand sonst tun.“, wandte sie sich zur Gruppe. „Respekt verdient<br />
man sich. Den kann man nicht erzwingen, und man wird ihn ganz sicher<br />
nicht erhalten, in dem man andere schikaniert!“<br />
„Respekt, Kleines, ist, was der Rang mit sich bringt! Ein Offizier der<br />
Sternenflotte genießt ihn automatisch! Er muss nicht erst durch einen<br />
Reifen springen, um dein Ansehen zu erlangen. Du gibst ihm Respekt<br />
und bist froh darüber ihn zu geben. Hast du gehört?“<br />
„Nur das Geschwafel eines Idioten.“, entgegnete das Mädchen trotzig.<br />
„Eines Idioten, der Streit sucht.“<br />
Moron trat schnell dazwischen, ehe die Situation zu eskalieren drohte.<br />
Er kannte seinen Freund Jett und wusste seine Körpersprache zu deuten,<br />
die ihm nun unmissverständlich mitteilte, dass er innerlich kochte. „Wir<br />
suchen keinen Streit.“, sagte er schnell zu dem Mädchen. Und zu seinem<br />
Freund: „Komm, Jett. Gehen wir. Lass Zaylie weitermachen.“ Er nahm<br />
Finnegan fest am Arm, doch der wollte die Sache nur wiederwillig auf<br />
sich beruhen lassen. Zunächst lies er sich auch noch murrend wegführen,<br />
bis das Mädchen „Wer hängt jetzt an der Leine?“ sagte.<br />
Zaylie versuchte ein Kichern zu verbergen, was ihr nicht ganz gelang.<br />
Sie lachen zu hören, brachte Finnegans Kragen endgültig zum platzen!<br />
Er riss sich harsch von Moron los und stapfte mit geballten Fäusten<br />
zurück, auf das Mädchen zu. „Und dir fehlt ein Maulkorb!“, fauchte er.<br />
Mittlerweile hatten auch andere Kadetten mitbekommen, dass hier<br />
etwas ungewöhnliches vorging und scharten sich um sie. Die Reaktionen<br />
waren gemischt: manche bewunderten das Mädchen für ihre Nerven,<br />
während andere sie für völlig verrückt hielten, sich derart mit einem<br />
vorgesetzten anzulegen. Das Mädchen achtete nicht weiter drauf, aber<br />
Finnegan machte das enorm zornig. Die Reaktionen sollten nicht<br />
gemischt sein. Es sollte nur eine geben: Wut! Wut darüber, dass jemand<br />
so wenig Respekt vor ihm hatte, so wenig Ahnung vom Konzept der<br />
Sternenflotte. Sie untergrub seine Autorität vor versammelter<br />
Mannschaft und die anderen freuten sich auch noch darüber. Aber dann<br />
musste er ihnen eben in Erinnerung rufen, wer er war – und vor allem:<br />
wer sie waren!
„Vierzig Liegestütze, los!“, befahl er dem Mädchen.<br />
Sie tat nichts dergleichen. Stattdessen stemmte sie die Hände in die<br />
Hüften und musterte ihn geringschätzig.<br />
„Denkst du vielleicht ich mach Witze?“, fragte Finnegan. „Vierzig<br />
Liegestütze!“, wiederholte Finnegan, dessen Wut allmählich den<br />
Siedepunkt erreichte. Moron versuchte ihn erneut vom Landeplatz zu<br />
bringen, fort von dem Mädchen, der Pakled und dem ganzen Auflauf, der<br />
sich inzwischen gebildet hatte. „Fin, beruhige dich.“, flüsterte er. Aber<br />
Finnegan rührte sich keinen Stück, verharrte Stur auf der Stelle und lies<br />
sich nicht wegführen. Er war unbarmherzig. „Lass mich! Ich gehe erst,<br />
wenn ich fertig mit denen bin.“<br />
„Und ich gehe erst, wenn du dich bei ihr entschuldigt hast.“,<br />
entgegnete das Mädchen und deutete vage auf die Pakled. „Was ist<br />
überhaupt dein Problem, hm?“<br />
„Mein Problem? Ich werde dir sagen, was mein Problem ist! Mein<br />
Problem bist du! Du und der ganze unfähige Haufen hier. Mann, mann,<br />
mann! Mir war nicht bekannt, dass die Zulassungsanforderungen derart<br />
weit herabgesetzt wurden“, sagte er wütend. „Früher waren die<br />
Aufnahmebedingungen wenigstens noch hoch, fast unerreichbar hoch.<br />
Doch dann kam der Dominion-Krieg, und die Borg, und auf einmal<br />
fehlte aufgrund heftiger Verluste das Personal, sodass man alles etwas<br />
einfacher gestaltet hat, um einem breiteren Bewerberfeld das Studium zu<br />
ermöglichen. Das erklärt natürlich die Anwesenheit solcher Trottel wie<br />
euch.“<br />
„Wir haben alle das gleiche Recht hier zu studieren, wie du auch.“<br />
Finnegan schnaubte „Nur, weil niemand in der Sternenflotte so klug<br />
war >Nein< zu sagen. Es wäre wohl für alle Beteiligten das Beste, wenn<br />
du dein Schmuckkästchen wieder einpackst und dich von deinem Daddy<br />
zurück nach Hause bringen lässt.“<br />
Die Mine des Mädchens verfinsterte sich schlagartig. Was noch<br />
schlimmer wahr: ihr Blick wurde sogar noch stechender. „Du.“, knurrte<br />
sie bedrohlich. „Sprichst nicht von meinem Dad.“<br />
Finnegan beugte sich vor, näher an sie heran, so nahe, dass sich fast<br />
ihre Nasenspitzen berührten. „Ich rede von wem auch immer ich will und<br />
wann auch immer ich will. Du hast da nichts zu sagen, weil du eine<br />
Mikrobe bist, kleines Mädchen. Die Fehlfunktion im Transporter, die
Verunreinigung im Dilithiumkristall. Und du wirst das tun, was man dir<br />
befiehlt. Keine Fragen, keine Gedanken, nur simple Gehorsamkeit.<br />
Wenn du das nicht magst, dann schnapp dir deine kleinen Stofftiere und<br />
flieg nach Hause, wo du dir an Daddys Schulter die Augen ausheul-“<br />
Das war das letzte, woran sich Finnegan erinnerte, bevor er drei<br />
Stunden später in der Intensivstation erwachte.<br />
Shan trat über den bewusstlosen Finnegan hinweg, und schüttelte mit<br />
schmerzverzerrter Mine ihre rechte Hand. „Niemals Knochen auf<br />
Knochen.“, ermahnte sie sich. „Das sollte ich eigentlich wissen.“<br />
Sortak war sofort an ihrer Seite. Er hatte sich die ganze Zeit bereit<br />
gehalten, aber auf Shans Fähigkeiten vertraut, die Situation zu meistern<br />
- auf die ein oder andere Art. „Alles in Ordnung?“<br />
„Ja, ja.“, brummte Shan ärgerlich. „So ein Idiot!“<br />
In der Ferne sah sie, dass die ersten Offiziere aus dem Hauptgebäude<br />
gerannt kamen und auf den Landeplatz zuhielten. Vermutlich Sanitäter,<br />
oder ein paar Sicherheitsleute, die ein Protokoll aufnehmen wollten. Es<br />
würde noch ein paar Sekunden dauern, bis sie eintrafen, also machte<br />
Shan etwas Platz, damit sich der erschrockene Benzite um seinen am<br />
Boden liegenden Freund kümmern konnte. Zumindest grinste er nicht<br />
mehr. Die anderen Kadetten wandten sich rasch ab, als befürchteten sie<br />
plötzlich, ihre bloße Anwesenheit könne ausreichen, um sie von der<br />
Akademie zu werfen, bevor sie mit ihrem Studium überhaupt angefangen<br />
hatten.<br />
„Netter Schlag.“, sagte Tala anerkennend, als Shan zu ihren Leuten<br />
zurückkehrte.<br />
Yoko hingegen schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Ich bezweifle, dass<br />
es im Ideal der Sternenflotte ist, Fäusten den ersten Kontakt gestalten zu<br />
lassen.“<br />
Shan ignorierte ihn und sah Cera an, die noch immer dastand, und mit<br />
großen Augen auf Finnegan hinabblickte. „Ist... ist er tot?“<br />
„Wenn er nachher mit rasenden Kopfschmerzen aufwacht, wird er es<br />
sich wünschen.“<br />
„Wirst du... wirst du dafür keinen Ärger kriegen tun?“
„Wegen dem?“, Shan schnaubte. Sie ging eher davon aus, dass man ihr<br />
dafür einen Orden anheften würde. „Mach dir mal keine Sorgen.<br />
Vermutlich werden sie mir eher einen Orden anstecken.“, meinte sie<br />
scherzhaft. „Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, mir deswegen Ärger<br />
eingehandelt zu haben.“<br />
„Sie haben sich eine Menge Ärger eingehandelt!“<br />
Shan saß im Büro des Dekans und wurde gerade sowohl von ihm, als<br />
auch der Akademieleiterin in die Mangel genommen. Sie war noch auf<br />
dem Landeplatz vom Sicherheitsdienst aufgeschnappt und direkt hierher<br />
gebracht worden, und bisher hatte das Verhör noch nicht richtig<br />
begonnen.<br />
Commander Reginald Barclay, Dekan der Stundenten, sah von seinem<br />
Computerterminal auf und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Der<br />
Ausdruck auf seinem Gesicht ließ nicht den geringsten Zweifel daran,<br />
wie ernst sich die Lage darbot. Er war ein freundlicher, stets nervöser<br />
Mann, mit schütterem Haar und dünnen, aber zahlreichen Falten. Er bot<br />
Shan gelegentlich ein Glas Wasser an – vermutlich, weil er so nervös<br />
war, dass er selbst etwas zu trinken brauchte. Hin und wieder machte er<br />
ein bisschen Getue wegen des Computerterminals, schien dann zu<br />
denken, dass er Shan gegenüber arg kurz angebunden war, und lächelte<br />
freundlich. Und dann schien er zu glauben, dass er dadurch auch wieder<br />
übertrieben hatte, und blickte mit einem wegen des Terminals<br />
ärgerlichen Ausdruck zur Seite. Mit dieser kurzen Demonstration<br />
vollkommener sozialer Konfusion, offenbarte er sich als ein in höchstem<br />
Maße angenehmer und liebenswerter Mensch.<br />
Die Akademieleiterin hingegen, eine aus den Medien bekannte<br />
Persönlichkeit namens Kathryn Janeway, war eine eher kleine Frau mit<br />
grotesk weißem Haar, einem rundem Gesicht und sehr strengen Augen,<br />
die Shan das von Barclay überreichte Wasserglas sofort wieder<br />
wegnahm.<br />
Sie führten ständig dasselbe Theaterstück vor. Barclay schob Shan das<br />
Wasserglas immer mal wieder während des Gesprächs auf dem<br />
Schreibtisch herüber, und Janeway nahm es dann sofort wieder weg.
Was natürlich der klassischen Verhörmethode entsprach, die dem Zweck<br />
diente, das um Gnade winselnde Opfer an den Rand eines vollständigen<br />
seelischen Zusammenbruchs zu treiben. Dummerweise ging die Taktik<br />
nicht auf. Shan fing weder an um Gnade zu winseln, noch brach sie<br />
zusammen. Genaugenommen saß sie einfach nur störrisch da, auf der<br />
anderen Seite des Schreibtisches, hatte die Arme vor der Brust<br />
verschränkt, die Lippen geschürzt, und rührte sich nicht. Das schien zwar<br />
einerseits den Dekan noch nervöser zu machen, andererseits aber auch<br />
die Verärgerung der Akademieleiterin zu fördern.<br />
Janeway durchbohrte Shan mit stechenden Augen, während ihre<br />
Lippen zu einem finsteren Ausdruck der Missbilligung verzogen waren.<br />
Shan fragte sich, ob sie immer so aussah, oder zu diesem Anlass ein<br />
besonderes Gesicht aufgesetzt hatte. Da Barclay offenbar von der<br />
Vorstellung gelähmt wurde, Shan könne ihm etwas antun, übernahm<br />
Janeway die meiste Zeit das Reden.<br />
„Sie haben ihm den Kiefer zertrümmert.“, stellte sie fest.<br />
Shan sagte nichts.<br />
„Mit einem Schlag.“<br />
Immer noch nichts.<br />
Janeway und Barclay tauschten einen Blick. Shan schwieg beharrlich<br />
weiter.<br />
„Nun?“, hakte Barclay vorsichtig nach. „Haben Sie irgendetwas zu<br />
ihrer Verteidigung zu sagen?“<br />
„Ich habe ihn gewarnt.“<br />
Erneut der Austausch eines Blickes. Er schien darüber zu entscheiden,<br />
wer von den beiden fortfuhr. Die Ehre gebührte ganz allein Janeway, die<br />
prompt begann, um den Schreibtisch herumzuwandern, um Shan zu<br />
verunsichern. Was natürlich nicht auch nicht gelang.<br />
„Mrs Bartez...“, sagte sie, entschied sich aber für eine andere Taktik.<br />
„...Sha’Nyn.“<br />
Shan verzog das Gesicht, als sie die miserable Aussprache ihres<br />
Namens hörte. Die meisten Leute bekamen es nicht auf die Reihe. „Ich<br />
ziehe es vor, >Shan< genannt zu werden.“<br />
„Sha’Nyn.“, sagte Janeway erneut, diesmal frostiger. „Es liegt nicht an<br />
Ihnen, einen Kadetten wegen irgendwas zu warnen, und ihn<br />
anschließend mit einem kräftigen Faustschlag auf die Krankenstation zu
efördern. Es gibt keine Rechtfertigung für solch einen ... Missgriff, und<br />
egal welche Entschuldigung Sie anbieten, sie ist ohne Relevanz.“<br />
„Dieser Hur’qsohn hat angefangen!“, protestierte Shanyn.<br />
Janeway hob streng den Finger. „So etwas will ich nicht hören.“, sage<br />
sie energisch. „Das hier ist kein Schulhof, junge Dame. Das hier ist auch<br />
kein Spielplatz. Das hier ist die Sternenflottenakademie. Vielleicht ist<br />
Ihnen entgangen, dass sich auf dem Gelände kein Spielgerät befindet.<br />
Haben Sie das große Schild gesehen, auf dem >Sternenflottenakademie<<br />
steht? Allerdings haben Sie kein Schild mit der Aufschrift >Zu den<br />
Wippen und Rutschen< gesehen, nicht wahr? Das hätte Ihr erster<br />
Anhaltspunkt sein müssen.“<br />
Das ließ sie er mal im Raum schweben.<br />
„Soll ich jetzt wieder nach Hause fliegen?“, fragte Shan nach einer<br />
langen Stille. Sie war genervt.<br />
Janeway seufzte und tauschte mit Barclay erneut einen Blick aus. Sie<br />
stieß einen weiteren, diesmal längeren Seufzer aus, rollte die Augen,<br />
schüttelte den Kopf und warf frustriert die Arme in die Höhe. Das war<br />
für Barclay das Zeichen, ab hier zu übernehmen. Er spielte nervös mit<br />
seinen Fingern, legte sich die Worte sorgfältig im Geiste zusammen und<br />
faltete dann die Hände.<br />
„Misses Bartez, so schnell lassen wir niemanden gehen. Sehen Sie...<br />
ich glaube, Sie haben nicht so recht verstanden, was wir zu sagen<br />
versuchen. Sie sind hier, um Regeln zu lernen. Unsere Regeln. Regeln,<br />
die sich über Hunderte von Jahren bewährt haben. Regeln, ohne die die<br />
Sternenflotte nicht funktionieren würde.“<br />
„Lustig.“, entgegnete Shan. „Denn nach allem, was ich in der High<br />
School lernte, haben immer genau die Sternenflottenoffiziere den Tag<br />
gerettet, die regelmäßig gegen diese tollen, bewährten Regeln verstießen,<br />
nicht wahr?“<br />
Barclay öffnete den Mund, schloss ihn aber schon Sekunden später<br />
wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Er lehnte sich auf seinem Stuhl<br />
zurück, sah zu Janway auf, die Shan den Rücken gekehrt hatte und an<br />
den Tisch gelehnt war, und zuckte hilflos mit den Schultern. „Da hat Sie<br />
nicht ganz unrecht.“, musste er zugeben.<br />
Das war wiederum der Zeitpunkt, an dem Janeway das Gespräch<br />
weiterführte. Sie wandte sich zu der jungen Frau um, die einigermaßen
selbstgefällig dasaß und nun mit gehobener Augenbraue von einem zum<br />
anderen blickte.<br />
„In manchen Situationen“, erklärte Janeway vorsichtig „Ist es<br />
durchaus nötig, die Regeln… zu biegen, das gebe ich zu.“<br />
„Und wer bestimmt, welche Situationen das sind?“<br />
Janeway ging auf diesen Kommentar gar nicht erst ein. „Aber die<br />
Vorschriften sind dennoch wichtig, sie sind sogar Lebensnotwendig, und<br />
wenn Sie die Grundregeln nicht lernen möchten, Misses Bartez, oder sie<br />
aus irgendeinem Grund nicht gewillt sind auszuführen, dann ist die<br />
Sternenflotte nicht der richtige Ort für Sie.“ Sie machte eine<br />
Bedeutungsschwangere Pause. „Verstanden?“<br />
Shan schwieg.<br />
„Haben Sie dazu auch etwas zu sagen?“<br />
„Ja.“, bestätigte Shan und stand auf, zum Gehen bereit. „Dann bin ich<br />
hier eben nicht richtig. Ich will auch kein Teil einer Organisation sein,<br />
die solche Leute verteidigt. Finnegan hat sich einfach verhalten wie das<br />
letzte Ar-“<br />
„Glücklicherweise.“, fuhr Janeway ihr schnell dazwischen. „sprechen<br />
zwei Dinge zu Ihren Gunsten. Zwei gute Gründe, aus denen wir Sie noch<br />
nicht so einfach gehen lassen wollen. Erstens: die gewichtige Meinung<br />
von Zaylie Burton, einer feinen Kadettin des zweiten Jahres, die<br />
aussagte, dass Kadett Finnegan Sie und Ihre Gruppe provozierte habe,<br />
und - ich zitiere wörtlich - >er deswegen bekam, was er verdiente
prüfenden Blick. „Ich habe zu diversen Gelegenheiten mit Ihrem Vater<br />
Seite an Seite gedient, damals, als wir beide noch aktive Kommandanten<br />
waren.“<br />
Shan rollte die Augen, hielt aber den Mund.<br />
„Er war ein beeindruckender Mann.“<br />
„Das ist er immer noch.“, entgegnete Shan brummend.<br />
Janeway runzelte amüsiert die Stirn. Das erste und kaum<br />
wahrnehmbare Anzeichen dafür, das sie irgendeinen Aspekt dieser<br />
Situation amüsant fand. „Verzeihen Sie, Mrs Bartez. Ich wollte nicht in<br />
der Vergangenheitsform von ihm sprechen.“ Dann hielt sie kurz inne.<br />
„Haben Sie den Eindruck, dass meine Bekanntschaft mit Ihrem Vater<br />
ihnen irgendwelche Begünstigungen einbringen wird?“<br />
Nun blickte Shan überrascht auf. „Ich rechne fast damit.“<br />
„Ist aber nicht der Fall.“, versicherte Janeway. „Nichts desto trotz hilft<br />
mir diese Bekanntschaft, über Sie Urteilen zu können, Misses Bartez,<br />
denn ich erinnere mich noch sehr genau an diesen störrischen jungen<br />
Mann, der damals in mein Büro gestürmt kam, und ohne Wenn und Aber<br />
das Kommando über sein Raumschiff zurückverlangte, obwohl er nur<br />
kurze Zeit vorher öffentlich dem kompletten Föderationsrat den Teufel<br />
an den Hals gewünscht hatte. Er war fähig, keine Frage. Aber auch ein<br />
Dickkopf, Freigeist und eingeschworener Feind jedes Regelbuchs.“ Sie<br />
atmete schwer aus. „Und ich erkenne in Ihnen eine Menge von ihm<br />
wieder.“<br />
Shan murmelte etwas, das Janeway als >Das nehmen sie besser sofort<br />
zurück< zu verstehen glaubte, aber sie war sich nicht sicher und<br />
beschloss, lieber nicht darauf einzugehen. Stattdessen sah sie zu Barclay<br />
und gab ihm ein wortloses Zeichen, dass er nun wieder dran war, als<br />
hätten sie das Stück vorher schon eingeprobt.<br />
Barclay warf einen Blick auf den Computerbildschirm auf seinem<br />
Schreibtisch. „Wir haben hier Ihr psychologisches Profil.“, erklärter er.<br />
„Und im Grunde ahnten wir bereits, dass es im Laufe ihres Aufenthalts<br />
zu gewissen... Reibungspunkten kommen könnte.“ Er verschönte die<br />
Sachlage erheblich. Janeway war weniger zurückhaltend. „Es war für<br />
uns sehr wahrscheinlich, dass Sie Ärger machen, oder zumindest<br />
irgendwo anecken würden.“, erklärte sie.<br />
„Ich habe den Kampf nicht gesucht.“
„Aber Sie sind ihm auch nicht aus dem Weg gegangen.“<br />
„Nein.“<br />
„Hm.“, machte Janeawy und trommelte mit den Fingerspitzen auf die<br />
Schreibtischplatte.<br />
Shan schnaubte. „Es ist einfach, die psychologischen Profile von zwei<br />
Leuten zu betrachten und dann zu behaupten, die Auseinandersetzung sei<br />
unvermeidlich gewesen. Damit sprechen sie Finnegan von der<br />
Verantwortung frei, mich provoziert zu-“<br />
„Sehen Sie sich das Datum des Berichtes an.“, sagte Janeway. Sie<br />
drehte den Computer herum und Shan beugte sich ein wenig vor.<br />
„Der Bericht wurde vor einem Monat verfasst?“<br />
Janeway nickte langsam. „Was Ihnen spontan erscheint, haben wir<br />
schon kommen sehen, als wir Ihre Bewerbung akzeptierten. Wenn man<br />
ein guter Sternenflotten-Offizier werden will, muss man Situationen<br />
voraussehen, bevor sie eintreffen, und sich auf sie vorbereiten. Das ist<br />
neunundneunzig Prozent von dem, was Sie hier lernen... man muss<br />
vorbereitet sein. Wenn Sie durch das Leben gehen und einfach nur auf<br />
das reagieren, was Ihnen widerfährt, wird Sie früher oder später das<br />
Wahrscheinlichkeitsgesetz einholen und Sie werden von etwas<br />
überwältigt werden, mit dem Sie nicht gerechnet haben.“<br />
Shan sagte nichts. Unliebsame Erinnerungen an das ewige Eis kehrten<br />
zurück. Die Worte trafen zu, keine Frage.<br />
Janeway lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Haben Sie jemals von<br />
den >Kalten Gleichungen< gehört?“<br />
Als Shan ansatzweise den Kopf schüttelte, erklärte Janeway: „Das ist<br />
eine sehr berühmte Kurzgeschichte, die in den frühen Tagen der<br />
Raumfahrt spielt. Damals musste jedes einzelne Pfund, das ein<br />
Raumschiff befördert, genau berechnet werden, weil das Schiff nur über<br />
gerade genug Treibstoff verfügte, um einen dorthin zu bringen, wohin<br />
man gebracht werden musste. In dieser Geschichte schlich sich ein<br />
junges Mädchen an Bord eines kleinen, nur mit dem Piloten bemannten<br />
Transportschiffs, weil es ihren Bruder auf einer Kolonie besuchen<br />
wollte. Nachdem der Pilot das Mädchen entdeckt hatte, stellte er fest,<br />
dass ihr zusätzliches, nicht eingeplantes Gewicht den Treibstoff zu<br />
schnell verbrauchte. Die Folge wäre die Bruchlandung des Schiffes und<br />
der Verlust der Fracht gewesen ... einer Fracht, welche die Kolonisten
dringend benötigten. Dem Piloten blieb keine andere Wahl, als das<br />
Mädchen von Bord zu werfen. Es starb. Ende.“<br />
Shan blinzelte.<br />
„Das ist natürlich nur eine Geschichte und niemals passiert, doch es<br />
könnte unter den richtigen Umständen sehr schnell passieren. Ich will<br />
darauf hinaus, Mrs Bartez, dass der Weltraum eine unversöhnliche<br />
Umgebung ist. Er ist kalt. Er ist luftleer. Er ist lebensfeindlich und<br />
nimmt auf Dinge wie Intoleranz und Feindseligkeit keine Rücksicht.<br />
Dem Vakuum des Raums ist Ihre Hautfarbe völlig gleichgültig, oder Ihre<br />
politische Einstellung oder die Kraft in Ihren Armen oder die<br />
Gehirnzellen in Ihren Köpfen. Lediglich zwei Dinge können einen sehr<br />
schnellen und schmerzhaften Tod verhindern. Das erste ist die<br />
Unversehrtheit Ihrer Schiffshülle. Und das zweite sind Sie selbst und<br />
Ihre Kameraden.“<br />
Nun übernahm wieder Barclay. „Die Sternenflotte ist ein Ideal.“,<br />
erklärte er. „Ein Ideal von Erforschung und Kooperation. Das bedeutet,<br />
wir alle arbeiten zusammen. Und wir erreichen gar nichts, in dem wir<br />
Gewalt anwenden - erst recht nicht, wenn wir sie gegen unsere eigenen<br />
Kameraden einsetzen.“<br />
„Vor ein paar Wochen noch, hat mir rohe Gewalt das Leben gerettet.“,<br />
beteuerte Shan.<br />
Janeway schüttelte den Kopf. „Wo auch immer Sie herkamen, was<br />
auch immer Sie waren, bevor Sie die Tore der Akademie betraten, jetzt<br />
sind Sie ein Kadett des ersten Jahres. Die niedrigste Stufe der Leiter. Als<br />
solche, dürfen Sie nicht herumrennen und Vorgesetzten den Kiefer<br />
brechen. Einem höheren Offizier muss gehorcht werden.“<br />
„Finnegan soll über mir stehen?“<br />
„Im Rang, ja.“ Sie machte eine vage Geste. „Ist es möglich, dass Sie<br />
besser sind, als er? Vielleicht. Vielleicht nicht. Aber Sie kommen nie<br />
dazu, das zu beweisen, wenn Sie ihm den Kiefer zertrümmern. Das wird<br />
Sie nicht weiterbringen. Beim Maquis gegebenenfalls, aber nicht bei uns.<br />
Wenn jeder Befehl mit einer Faust kommentiert werden würde, bräche<br />
die komplette Kommandostruktur auf einer Sternenflotteneinrichtung<br />
zusammen und wir wären sofort bei den Klingonen. Wenn Sie jedoch der<br />
Kommandostruktur der Sternenflotte folgen wollen, dann müssen Sie<br />
andere Wege friedlicher Art finden, die Leute dazu zu bringen, Sie
anzuhören, oder sogar das zu tun, was Sie von ihnen verlangen. Ohne<br />
jemanden zu Foltern. Ist das klar?“<br />
„Ja...“<br />
Janeway schürzte die Lippen. „Es wäre auch nicht verkehrt, wenn Sie<br />
an ihre Vorgesetzten das Wort >Sir< adressieren würden, am Ende einer<br />
Aussage.“<br />
Shan runzelte die Stirn. „Warum?“<br />
„Es ist eine soziale Komponente innerhalb der Militärstruktur dieser<br />
Institution. Das >Sirdankebitte
Äußerst intensiv. Er mied daher ihren Blick und räusperte sich.<br />
„Jedenfalls sind wir sehr froh, dieses Missverständnis nun aus dem Weg<br />
geräumt zu haben.“ Er lächelte nervös. „Tja... die Einweisung haben sie<br />
jetzt wohl verpasst, hm. Und damit leider auch die Vorführung der vielen<br />
Spezialisierungen, für die sie sich nach dem Frischlingsommer<br />
entscheiden könnten. Um ehrlich zu sein, wenn man bedenkt, wie Sie<br />
Kadett Finnegan ausgeschaltet haben, glaube ich, würde Ihnen eine<br />
Karriere in der Sicherheitsabteilung am besten stehen, was meinen Sie?<br />
Oder vielleicht bei den Bodentruppen. Sie könnten mit denen-“<br />
„Piloten.“, sagte Shan.<br />
„Piloten?“<br />
„Ich will auf keinen Fall zur Sicherheit.“, sagte Shan feste und mit<br />
Überzeugung. „Da war mein Vater. Ich will zu den Piloten. Das wird mir<br />
am meisten nützen.“<br />
„A-am meisten nützen?“, wiederholte Barclay.<br />
Shan nickte nur.<br />
„Hm-hnm.“, machte Barclay. „Na schön. Wenn sie sich jetzt schon so<br />
sicher sind, könnte ich sie bereits für diverse Schnupperkurse<br />
einschreiben, sofern sie das möchten. Ich werde ein paar Hebel in<br />
Bewegung setzen und sehen, was sich einrichten lässt.“ Er kicherte<br />
nervös. „Sofern Sie niemanden mehr schlagen, in Ordnung?“<br />
„Ja.“ Sie stutzte. „Ist das... nun eine >Sir< Situation?“<br />
Barclay hob und senkte fröhlich die Schultern. „Es schadet nie, sich<br />
abzusichern, nicht wahr?“<br />
„Nun gut. Ja... Sir.“<br />
Barclay klatschte in die Hände und erhob sich, um zu signalisieren,<br />
dass sie fertig waren. „Dann verstehen wir uns.”<br />
„Ja, Sir.“ Auch Shan stand auf.<br />
„Exzellent. Nun dann...“ er legte ihr freundschaftlich eine Hand auf die<br />
Schulter. „Sie haben noch eine Menge Arbeit zu tun.“<br />
„Ja, Sir.“<br />
„Aber weiß, Sie schaffen das.“<br />
„Ja, Sir.“, bestätigte sie. „Genau wie ich.“<br />
„Dann würde ich sagen-“<br />
„Aber wenn Finnegan meinen Vater noch einmal erwähnt, werde ich<br />
ihm das nächste Mal etwas anderes, als nur seinen Kiefer zertrümmern.“
Barclay ließ sich zurück in den Stuhl fallen. „Setzen Sie sich, Kadett.“,<br />
sagte er seufzend. Shan setzte sich. Das Treffen würde länger dauern, als<br />
Barclay erwartet hatte.<br />
„Oh, Hallo. Du musst meine neue Zimmergenossin sein. Es ist mir<br />
eine außerordentliche Freude, dich kennen zu lernen.”<br />
Shan war sich nicht sicher gewesen, was sie erwarten sollte, als sie<br />
nach der Entlassung aus Dekan Barclays Büro beschlossen hatte, das ihr<br />
zugewiesene Quartier aufzusuchen. Auf jeden Fall hatte sie nicht damit<br />
gerechnet, von einem Tiger angesprochen zu werden.<br />
Das Tier lag mit seinem massivem Körper inmitten des Zimmers auf<br />
einem der beiden Betten und betrachtete sie mit einer Mischung aus<br />
wissenschaftlicher Neugierde und unverblümter Freude, während er in<br />
der Luft schnüffelte, um den Geruch der Besucherin aufzunehmen. Sein<br />
zweifellos weiches Fell war orange, mit schwarzen Streifen durchzogen<br />
und bedeckte den ganzen Körper. Er brachte ein merkwürdig echtes,<br />
beinahe menschlichen Lächeln zustande und wedelte aufgeregt mit<br />
seinem Schwanz. Er wirkte genau, wie ein Tiger, einzig mit dem<br />
Unterschied, dass er gerade zu ihr gesprochen hatte.<br />
Shan war in der Tür zur Salzsäule erstarrt und glotzte das Wesen aus<br />
verständnislosen Augen an. „Du ... bist ein Tiger.“, stellte sie fest.<br />
„Ein genetisch aufgewerteter Tiger, ja. Das ist korrekt.“, bestätigte das<br />
Tier. „Das Ergebnis eines illegalen Experimentes, könnte man sagen.“<br />
Shanny starrte ihn noch immer an. „Du... bist ein Tiger.“<br />
Das Tier neigte leicht seinen riesigen Kopf. Ebenfalls eine erstaunlich<br />
menschliche Reaktion. „Aber ja.“ Er kam auf alle viere, Schüttelte sein<br />
Fell aus, wie ein nasser Hund und sprang dann vom Bett herunter. Shan<br />
trat instinktiv einen Schritt in den Gang zurück, als der Tiger sich vor ihr<br />
aufbaute und auf die Hinterbeine stellte. Damit überragte er sie sogar.<br />
„Ich weiß, das könnte etwas verwirrend sein.“, erklärte er. „Mein letzter<br />
Zimmergenosse hat zunächst ganz ähnlich reagiert.“<br />
„Was... ist mit deinem letzten Zimmergenossen passiert?“<br />
„Er wurde gefressen.“<br />
Shan hob die Brauen. Der Tiger lachte – oder versuchte es -, als er ihre
Reaktion bemerkte. Ein merkwürdiges und in vielerlei Hinsicht<br />
beängstigendes Geräusch, dass sich eher wie ein Knurren anhörte. „Nicht<br />
von mir, natürlich. Er wurde auch nicht wirklich gefressen, wenn man es<br />
genau nimmt. Es war eine kleine Holodecksimulation. Eine der vielen<br />
Tests der Akademie. Leider lief etwas schief, die Sicherheitssperren<br />
reagierten nicht und er wurde bei einem Erstkontakt-Szenario getötet.“<br />
Der Tiger zuckte mit den Schultern. Mächtige Muskeln walzten, als er<br />
das tat. „Nun, das gibt uns beiden die Gelegenheit, was? Ich wollte schon<br />
immer mal mit einem Menschen zusammen wohnen.“ Er streckte ihr die<br />
Pfote hin. „Mein Name lautet übrigens Wotan. Und wer bist du?“<br />
Shan starrte ein paar Sekunden auf die ausgestreckte Pfote. Der Tiger<br />
hatte mächtige Pranken. Unschöne Erinnerungen an das Monster von<br />
Frigoria blitzten sekundenschnell vor ihren Augen auf, aber dennoch<br />
blieb ihr Gefahrensinn stumm. Shan machte einen vorsichtigen Versuch,<br />
die Hand ein Stück auszustrecken. „Shan. Shan Bartez.“, sagte sie<br />
gedehnt, während sie noch immer auf Wotans Klauen starrte und sich<br />
dabei alle möglichen Horrorvisionen ausmalte. Beide standen für einen<br />
Moment da, ihre Hände/Pfoten ausgestreckt, aber dennoch voneinander<br />
getrennt. Schließlich reichte Wotan rüber, nahm Shans rechte Hand mit<br />
seiner eigenen rechten und dann hob und schüttelte er sie sehr langsam,<br />
ohne ihr den Arm auszureißen. Genaugenommen war die Berührung<br />
sogar sehr sanft und angenehm.<br />
„Normalerweise.“, amüsierte sich Wotan. „denken alle, ich sei der<br />
Jenige, dem man erklären müsse, wie ein Händedruck funktioniert.<br />
Schön, die Situation einmal in der umgekehrten Variante zu erleben.<br />
Shan, ja? Das ist ein schöner Name. Wo stammt der her?“<br />
„Ist die Abkürzung von Sha’Nyn.“<br />
„Das klingt nicht menschlich“<br />
„Nein. Ist von den Tkon. Du kannst mich aber gerne Shan nennen,<br />
wenn das für dich leichter auszusprechen ist.“<br />
„In Ordnung, Shan.“, nickte Wotan. „Freut mich außerordentlich.“ Er<br />
drehte sich um, senkte seinen schweren Körper auf alle Viere hinab und<br />
sprang zurück auf das Bett, wo er begann mit seiner Schnauze diverse<br />
Dinge in einer kleinen Tasche zu verstauen.<br />
Shan stand noch einige Sekunden in der Tür und schüttelte schließlich<br />
den Kopf, als würde sie dadurch aus einem Traum erwachen. Dann trat
sie ein, damit sich die Tür schließen konnte, und Shan sah sich in ihrem<br />
neuen Zuhause um.<br />
Das zwei-Personen Quartier war eine spartanische Kombination aus<br />
Wohn- und Schlafzimmer. Mit einem stattlichen Tiger im Raum wurde<br />
es ziemlich eng. Abgesehen von einem großen Bild an der Wand, auf<br />
dem – wie könnte es auch anders sein – das ehemalige Schiff ihres<br />
Vaters, die USS Starfury abgebildet war, gab es kein Dekor. Die<br />
Einrichtung bestand lediglich aus den beiden Betten, einer kleinen<br />
Couch, einem Schreibtisch mit Computerterminal, und in der Wand<br />
eingearbeiteten Schränken für die Kleidung und persönlichen Dinge. Ein<br />
kleines Erkerfenster gewährte Tageslicht und zudem noch eine<br />
angenehme Aussicht auf die Akademieanlagen und die entfernten<br />
Gebäude der Metropole dahinter. Durch eine schmale Tür neben der<br />
Couch gelangte man ins Bad.<br />
Shan legte ihren Rucksack auf dem freien Bett ab und begann ihre<br />
Sachen auszupacken. „Tut mir leid, wegen meinem Zögern.“, sagte sie.<br />
„Ich wollte dir gegenüber nicht respektlos erscheinen und dich<br />
anglotzen. Ich... war nur etwas überrumpelt. Mit einem Tiger habe ich<br />
nicht gerechnet, verstehst du? Und vor kurzem machte ich keine guten<br />
Erfahrungen mit Raubtieren.“<br />
„Es besteht keine Notwendigkeit, sich zu entschuldigen, Liebes. Wir<br />
alle haben unsere Fehlerchen und ich mache dir deine überraschte<br />
Reaktion ganz gewiss nicht zum Vorwurf.“<br />
Shan maß ihn mit wissendem Blick. „Lass mich raten.<br />
Psychologiestudent?“<br />
Wotan neigte erstaunt den Kopf zur Seite. „Absolut richtig. Wie hast<br />
du das herausgefunden?“<br />
„Ausschlussverfahren.”<br />
„Nun, es stimmt. Ich habe ein Medizinstudium begonnen, als Internist,<br />
bis wir –meine Ausbilder und ich – begriffen, dass ich zum Halten der<br />
Instrumente einfach nicht das nötige Feingefühl besitze.“ Er hob eine<br />
seiner Pranken, als wollte er Pfötchen geben. „Leider sind meine Zehen<br />
etwas... nun, wie soll ich sagen? Grob. Also bin ich anschließend in die<br />
Psychologie gewechselt. Und für welche Studienrichtung hast du dich<br />
entschieden?“<br />
„Pilotentraining.“
„Aha. Das ist sehr interessant. Ich hörte das Training sei ziemlich<br />
fordernd. Aber die Akademie ist auf jeden Fall sehr gut ausgerüstet.<br />
Unterirdisch befinden sich riesige Hangars mit Flugsimulatioren und<br />
etlichen Schiffen für die Pilotenausbildung. Wird dir sicher gefallen.“<br />
Shan sah ihn schief an. „Wie kommt es eigentlich, dass du sprechen<br />
kannst?“<br />
„In meinem Hals ist ein Vocoder installiert. Ein kleines Wunderwerk<br />
der Biotechnologie, welches man als Gegenstück zu den menschlichen<br />
Stimmbändern bezeichnen könnte. Es ermöglicht mir, mich ganz normal<br />
zu unterhalten. Ziemlich kompliziertes Teil. Sehr ausgeklügelt. Manche<br />
behaupten ich würde zu häufigen Gebrauch davon machen.“ Er schien<br />
sich über seinen eigenen Scherz zu amüsieren.<br />
„Huh.“<br />
„Ja ja, so ist das.“<br />
Als Shan nichts erwiderte, sondern damit beschäftigt war, das Quartier<br />
zu begutachten, legte er ein Ohr an und stellte das andere auf. Ihm lag<br />
ganz offensichtlich noch etwas auf dem Herzen, er war aber unsicher,<br />
wie er seine Neugierde formulieren sollte. Wotan hatte ein bisschen<br />
Angst, zu aufdringlich zu sein. Dann entschied er sich aber dafür. Zu<br />
reden war schließlich die einzige Möglichkeit, an Informationen zu<br />
erhalten. „So… stimmt es, was alle sagen?” Er legte sich wieder in die<br />
Position, in der Shan ihn vorgefunden hatte und grinste sie an. „Hast du<br />
wirklich einen Kadetten des vierten Jahres mit einem einzigen Schlag<br />
außer Gefecht gesetzt?“<br />
Shan seufzte. Sie konnte nicht so recht nachvollziehen, warum jeder<br />
daraus ein solches Trara machte. Es war eine Konfrontation zwischen ihr<br />
und Finnegan gewesen und sonst ging das niemanden was an. Er hatte<br />
sich wie ein Idiot benommen und dafür die Rechnung kassiert. Nichts<br />
weiter.<br />
„Ja, hab ich.“<br />
„Erstaunlich.“<br />
„Scheint sich ja schnell rumzusprechen.“<br />
Wotan flatterte mit den Ohren. „Ich habe es eben von einem Kollegen<br />
aus der Medizin gehört. Er soll in die Notaufnahme eingeliefert worden<br />
sein, mit einem gebrochenen Kiefer. Der Kadett, nicht der Kollege aus<br />
der Medizin, meine ich. Selbst mit gerichtetem Knochen, wird er die
nächsten Tage höchstens aus den Mundwinkeln sprechen. Wirklich<br />
erstaunlich. Wie hast du das mit nur einem Schlag geschafft?“<br />
„Ich habe ihn getroffen.“, sagte sie einfach.<br />
„Hm.“ Wotan betrachtete sie aufmerksam. „Ich hoffe du wirst mir<br />
nicht auch weh tun.“<br />
Jetzt musste Shan lachen. „Eigentlich wollte ich dasselbe zu dir<br />
sagen.“<br />
„Oh, du hast nichts zu befürchten.“, winkte Wotan ab. „Ich habe meine<br />
wilde, animalische Seite vor Jahren abgelegt. Ich werde nicht länger von<br />
meinen Instinkten kontrolliert. Es war kein leichter Weg und ich musste<br />
hart an mir arbeiten und so manchen Rückschlag erleiden, aber<br />
schließlich habe ich es doch hierher geschafft, auf die<br />
Sternenflottenakademie. Als intelligentes, einfühlsames Wesen, und als<br />
überzeugter Pazifist.“<br />
Sie lächelte. „Nicht übel. Für einen Tiger.“<br />
Seine großen Augen leuchteten. „Kein normaler Tiger, wie gesagt.”<br />
„Und wie kam das?“<br />
„Das ist eine ziemlich lange und komplizierte Geschichte. Ich weiß<br />
nur, dass ich durch die Savanne Afrikas streifte, auf der Suche nach<br />
einem Beutetier, und plötzlich das äußerst unangenehme Pieksen eines<br />
Betäubungspfeiles am Hals spürte. Die Welt um mich herum begann sich<br />
zu drehen, zu verschwimmen, alles wurde neblig und ich verlor die<br />
Besinnung. Als ich erwachte, fand ich mich in einem Labor wieder, und<br />
war mir plötzlich meiner Existenz bewusst. Das war eine beträchtlich<br />
schwere und überwältigende Erfahrung, verstehst du? Die nachfolgenden<br />
Monate und Jahre waren nicht leichter. Es war ein erhebliches Training<br />
nötig, um meine animalische Seite unter Kontrolle zu bekommen. Aber<br />
nach einigen Rückschlägen ist es mir schließlich gelungen.“<br />
Shan war fasziniert. „Wow. Das muss... ahm, hart gewesen sein. Von<br />
heute auf morgen, gegen deinen Willen, deiner natürlichen Umgebung<br />
beraubt zu werden, meine ich.“ Wieder dachte sie an Frigoria. „Ein<br />
regelrechter Kulturschock, was?“<br />
Der Tiger seufzte laut. „Das stimmt. Aber das ist die Vergangenheit.<br />
Deswegen nennen sie es Vergangenheit. Weil es... na ja, weil es<br />
vergangen ist. Inzwischen bin ich sehr glücklich, und ich würde nicht<br />
wieder zurück in die Savanne wollen.“ Er betrachtete seine neue
Mitbewohnerin eingehend. „Und du bist also schon jetzt eine<br />
Campusbekannte Kriegerin, was? Kaum zu glauben, du wirkst so jung.“<br />
„Das Eis lässt einen schnell altern.“, meinte Shan. „Aber nein, ich bin<br />
keine Kriegerin. Nur vom Schicksal gezeichnet.“<br />
„Das bedeutet?“<br />
„Das bedeutet, ich komme aus einer Familie mit langer<br />
Sternenflottentradition. Die meisten meiner Leute haben auf Schiffen<br />
gedient. Mein berühmter Vater beispielsweise. Du hast sicher von ihm<br />
gehört – wer hat das nicht -, hat die Grez’An besiegt.“<br />
Sie starrte auf ihre Schuhe und rechnete automatisch mit den üblichen<br />
Reaktionen, die diese Worte hervorriefen. Wie: >ist nicht wahr!< oder<br />
>wow, das ist toll!< oder >kannst du mir ein Autogramm besorgen?
falsch, ihn darauf hinzuweisen. Es wäre gönnerhaft, oder gar<br />
herablassend, auch wenn man es ihr kaum verübeln konnte. Doch neben<br />
seiner Neigung zur Geschwätzigkeit, zeichnete ihn eine große Liebe zur<br />
Philosophie aus. Binnen weniger Minuten schwadronierte er über den<br />
Sinn des Leben, des Universums, und des ganzen Restes, nur um im<br />
Abschluss wieder auf scheinbar völlig unwichtige Themen zu kommen.<br />
Er plauderte über dies und über jenes. Erst als Shan einen überaus langen<br />
und scharfen Gegenstand auspackte, verstummte er. „Ist das... was ich<br />
denke, was es ist?“<br />
„Ich weiß nicht, was du denkst, was das ist.“, sagte Shan.<br />
„Eine Art Schwert?“<br />
„Dann ist es tatsächlich das, was du denkst, was es ist.“<br />
Mit einem metallenen Geräusch zog sie das Schwert aus der Scheide.<br />
Die Klinge blitzte im einströmenden Licht der Mittagssonne. Mit ein<br />
paar schnellen, aber eher ungeübten Bewegungen durchschnitt sie mit<br />
dem Schwert die Luft und steckte es dann wieder grinsend zurück, um es<br />
sicher über ihr Bett zu hängen.<br />
„Beeindruckend.“, sagte Wotan. „Ist das nicht ein Gardeschwert der<br />
Akademie?“<br />
„Ja.“<br />
„Bekommt man das nicht erst bei der Graduierung?“<br />
„Ist richtig.“<br />
„Nun... Was musstest du tun, um es jetzt schon zu erhalten?“<br />
Shan zögerte. Bilder des Gemetzels in der Eishölle schossen ihr durch<br />
den Kopf. Sie konnte das Gebrüll des Raubtieres beinahe hören. Ein<br />
Gebrüll, wie es Wotan vermutlich selbst vor wenigen Jahren noch von<br />
sich gegeben hatte. Sie sah den Tiger nicht an, als sie mit leiser Stimme<br />
sagte: „Ich glaube das willst du nicht wissen.“<br />
„Ah.“, machte Wotan. „Nun gut. Ich schätze ich vertraue in dieser<br />
Angelegenheit auf deine Weisheit.“<br />
„Ist besser so.“, nickte Shan und ging zum Schrank, um den Rest ihrer<br />
wenigen Sachen einzuräumen. Sie stellte fest, dass bereits mehrere<br />
Sternenflotten-Uniformen darin hingen. Sie schienen genau die richtige<br />
Größe zu haben. Shan schüttelte erstaunt den Kopf. Voraussicht... das<br />
konnte man laut sagen! Admiral Janeway hatte nicht nur genau gewusst,<br />
was sie tun würde, bevor sie es tat, sie war sich auch völlig sicher
gewesen, dass Shan, die Akademie trotz allem nicht verlassen würde.<br />
Sogar so sicher, dass sie angeordnet hatte, ihre Uniformen und den Rest<br />
der Ausrüstung in dieses Zimmer zu bringen. Ein Seufzen entfleuchte<br />
Shans Hals. Wie es den Anschein hatte, war ihr Leben bereits<br />
durchgeplant.<br />
Im Nebenraum zog sie sich um und legte die Kadetten-Uniform an.<br />
Damit setzte Shan die Tradition ihrer Familie fort, in der Sternenflotte zu<br />
dienen. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Wusste nicht, was<br />
sie von irgendwas auf dieser Akademie halten sollte. Sie würde einfach<br />
versuchen, ihr bestes zu geben und das würde genügen müssen. Als sie<br />
wieder um die Ecke trat, versuchte Wotan anerkennend mit den Pfoten<br />
zu klatschen, was aber überhaupt nicht funktionierte.<br />
„Sehr schön!“, lobte er dennoch. „Steht dir außerordentlich gut.“<br />
„Danke... denke ich.“<br />
„Aber die Stiefel sind nicht unbedingt nach Kleidervorschrift.“<br />
„Die bleiben an!“<br />
„So?“<br />
„Man sollte das Haus nie ohne festes Schuhwerk verlassen. Auch in<br />
diesem Falle, darfst du auf meine Weisheit vertrauen.“<br />
„Nun, da ich keine Schuhe trage, verlasse ich mich besser auch in<br />
diesem Falle auf deine Weisheit..“<br />
„Und wo ist deine Uniform?“<br />
Wotans Schnurbarthaare vibrierten. „Ich trage keine. Die Sternenflotte<br />
und ich kamen darüber ein, dass es ziemlich lächerlich aussehen würde,<br />
zumal ich auch jeden Stoff zerreiße, sobald ich mich bewege. Bis sie die<br />
geplanten Bioanzüge fertiggestellt haben, die wegen mir in Produktion<br />
gehen, und in ein paar Wochen einsatzbereit sein sollen, werde ich wohl<br />
ohne auskommen müssen.“<br />
Da er von Kopf bis Fuß mit Fell bedeckt war, schien Shan das<br />
vernünftig. Sie wandte sich zur Tür, um sich auf die Suche nach Sortak<br />
zu begeben, als jemand hereinkam. Shan wäre beinahe in die gewaltige<br />
Fleischmasse gerannt, die sich bei näherer Betrachtung als die junge<br />
Pakled-Frau Cera herausstellte.
„Uh.“, machte Shan. Sie sah auf... und auf.. und sah irgendwann in<br />
Ceras unbestimmtes Gesicht. „Hi.“<br />
Cera winkte blöde, obwohl Shan direkt vor ihr stand. „Hallo.“<br />
„Geht’s dir gut?“, fragte Shan.<br />
Cera schien die Frage zunächst nicht gehört, oder versanden zu haben,<br />
doch dann nickte sie plötzlich eifrig. „Besser... besser als... als ... dem<br />
Jungen.“<br />
„Finnegan?“<br />
Eine Pause entstand. Dann nickte Cera. „Ja, ja. Finnegan, ja.“<br />
„Selbst schuld.“, sagte Shan. „Für sein Verhalten gibt es keine<br />
Entschuldigung.“<br />
„Deswegen... deswegen wollte ich mich bei dir bedanken tun.“<br />
Plötzlich wirkte Cera sehr traurig. Sie schob die Unterlippe weit vor.<br />
„Mir hat ... mir hat noch nie einer geholfen getan. Oft ... oft sind alle<br />
gemein zu mir. Selbst hier. Selbst hier, ja.“<br />
Shan berührte die Pakled am Oberarm. Sie waren breit wie Warpkerne.<br />
„Ach, mach dir nichts draus, Cera.. du heißt doch Cera, oder?“<br />
Cera reagierte auch auf diese Frage nicht sofort. Erst nach einer<br />
gewissen Zeitspanne nickte sie, ganz so, als ob es immer eine Weile<br />
dauern würde, ehe Shans Worte ihr Oberstübchen erreichten. „Ja, ja.<br />
Cera mein Name, ja.“<br />
„Okay, Cera. Nimm dir das nicht so zu Herzen. Die Menschen denken<br />
manchmal ganz automatisch. Zahlreiche Vermutungen, zahlreiche<br />
eingebaute Mechanismen... Die Leute, die hier auf die Akademie<br />
kommen, sind nicht perfekt. Sie müssen erst viel von dem, was man uns<br />
aufgezwungen hat, wieder verlernen. Das reicht fast bis in die Zeit<br />
zurück, da unsere Vorfahren – oder zumindest meine Vorfahren – um die<br />
ersten Feuer kauerten und nervös zu den funkelnden Augen im Wald<br />
hinüberschauten. Und einer der grundlegendsten dieser eingebauten<br />
Mechanismen ist, dass die Leute Angst vor dem haben, was sie nicht<br />
kennen, oder zumindest mit Abweisung reagieren. Sie fürchten sich vor<br />
dem Unbekannten, weil sie glauben, es könne ihnen schaden.“<br />
„Hat... hat der Junge auch Angst?“<br />
„Ne, der hat einfach einen an der Waffel.“, erwiderte Shan verärgert.<br />
„Der Punkt ist, dass die Leute herkommen, um dort hinauf...“ sie deutete<br />
zur Decke „...zu gelangen.“
„In... in den zweiten Stock?“, fragte Cera verwundert.<br />
„Nein! Nein, nein. Nicht in den zweiten Stock. In den Weltraum.“<br />
„Ah.“<br />
„Aber wenn man da hin will, darf man keine Angst vor dem<br />
Unbekannten haben, sondern muss bereit sein, es zu umarmen. Sich von<br />
ihm anziehen zu lassen und es zu studieren. Sich von ihm anregen zu<br />
lassen und seine Wunder teilen zu wollen. Aber dieser Übergang ist<br />
bestimmt nicht leicht und wir befinden uns gerade auf einem Grund und<br />
Boden, wo er uns hoffentlich beigebracht werden soll. Wo wir eine... wie<br />
kann man es am besten Ausdrücken? – Wo wir eine neue Denkweise<br />
lernen sollen. Zumindest die von uns, die noch nicht gut erzogen worden<br />
sind. Ist zwar verwunderlich, dass einer im vierten Jahr das noch nicht<br />
geschnallt hat, aber überhebliche Trottel gibt es überall.“<br />
„Du... du bist kein überheblicher Trottel.“, erkannte Cera. „Du hast<br />
auch keine Angst vor mir. Oder... oder Abscheu.“<br />
Shan zuckte mit den Schultern „Warum sollte ich ängstlich sein? Du<br />
wärst kaum auf der Akademie, wenn man dich nicht vorher geprüft hätte.<br />
Also bezweifle ich, dass du eine Verrückte bist. Oder bist du eine?“<br />
Cera überlegte angestrengt. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein.“<br />
„Aber..?“<br />
„Ich bin... ich bin anders... als die anderen.“<br />
„Die lernen noch.“, rief Shanyn ihr ins Gedächtnis zurück. „Schon<br />
vergessen? Wir alle lernen noch. Na ja, so lange du hier bist, haben die<br />
Kadetten ja auch die Gelegenheit, aus erster Hand und allernächster<br />
Nähe zu erfahren, was eine Pakled so alles drauf hat, was?“<br />
„Nun...“<br />
„Also sorg dafür, dass die Trottel ihre Vorurteile überwinden, in dem<br />
sie dich kennen lernen. Damit sie dir mit dem Respekt, der Würde und<br />
der Ehre begegnen, die dir zusteht.“<br />
Wotan, der noch immer auf dem Bett lag und ihnen zugehört hatte,<br />
klatschte die Pfoten aufeinander. Es klang wie ein Kanonenschlag. „Sehr<br />
schön gesagt, Liebes. Einfach nur schön gesagt. Ich stimme dir in jedem<br />
Punkt zu.“<br />
Shan verbeugte sich anerkennend vor ihm. „Vielen Dank, Councellor.“<br />
Dann blickte sie wieder an Cera hoch. „Und wenn sie dich nicht mit<br />
Würde behandeln... dann verklopp sie einfach.“
Cera antwortete nicht darauf. Sie schien die Ironie der Worte nicht<br />
bemerkt zu haben, sondern sah sich misstrauisch im Quartier um, als sei<br />
sie gerade erst hereingekommen. Shan schnitt eine Grimasse. Cera war<br />
schon eine merkwürdige Person. Merkwürdiger als der Tiger. Wenn man<br />
mit ihr Sprach, hatte Shan mitunter den Eindruck, sie mit irgend etwas<br />
zutiefst beleidigt zu haben, und dann merkte sie einen Augenblick später,<br />
dass Ceras plötzliches Schweigen nur darauf zurückzuführen war, dass<br />
sie nicht so recht wusste, was sie als nächstes sagen sollte, oder was von<br />
ihr erwartet wurde, sodass sie einfach den Mund hielt.<br />
„Äh, ja.“, sagte Shan. „Du machst das schon.“<br />
„Danke für... für alles.“<br />
Shan zwinkerte. „Hey – dafür sind Freunde da.“ Sie trat an Cera vorbei<br />
und auf den Korridor hinaus.<br />
Die Pakled strahlte Wotan an. „Sie... sie hat mich >Freund< genannt.“<br />
Shan verließ das Zimmer und ging den Korridor entlang, um Sortak zu<br />
suchen. Dabei kamen ihr eine ganze Reihe orientierungsloser Kadetten<br />
entgegen, die alle freundlich grüßten. Shan nickte dann jedes mal knapp.<br />
Sie fühlte sich seltsam. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich mit der<br />
Tatsache abgefunden hatte, dass sie die nächste Bartez in den heiligen<br />
Hallen der Sternenfottenakademie sein würde. Aber ihre alles andere als<br />
glorreiche Ankunft, hatte sie nachdenklich gemacht. Gehörte sie hier<br />
überhaupt her? Oder musste sie sogar hierher, um Disziplin zu lernen?<br />
Wie konnte ein Freigeist wie sie nur einen Platz auf der Akademie<br />
finden? Sie wusste, dass sie solche Gedanken nicht mehr lange hegen<br />
durfte. Damit würde sie sich verrückt machen. Aber sie kam einfach<br />
nicht gegen den Zweifel an.<br />
„Shan!“<br />
Sie drehte sich um und sah, dass Sortak, der ebenfalls seine Kadetten-<br />
Uniform trug, hinter ihr herlief. Shan umarmte ihn. „Da bist du ja! Ich<br />
habe schon überall nach dir gesucht.“<br />
„Gleichfalls. Wie ist es gelaufen?“<br />
Shan streckte die Hand und wog sie hin und her: So lala.
„Zumindest hat man dich nicht rausgeworfen. Ich hätte auch nicht<br />
gewusst, wie ich deinen Eltern hätte erklären sollen, dass ich nicht genug<br />
aufgepasst habe. Übrigens: Du hast die Begrüßungsansprache und die<br />
Führung durch das Gelände verpasst.“<br />
„War es etwas besonderes?“<br />
„Ehrlich gesagt, hab ich sie auch verpasst. Sturak hielt die Rede. Das<br />
musste ich mir nicht unbedingt antun.“<br />
Shan zog eine traurige Mine. „Ihr solltet die Sache zwischen euch<br />
endlich klären, Sortak. So kann das nicht weitergehen.“<br />
„Erzähl das meinem alten Herren. An ihm ist kein Rankommen.<br />
Verdammte Eltern.“<br />
Shan rollte die Augen. „Wem sagst du das?“ Um das Thema zu<br />
wechseln fragte sie: „Welches Zimmer hast du bekommen? Wo hat man<br />
dich untergebracht?“<br />
„Hier im selben Kadettenheim wie du, zweiter Stock, Zimmer sieben.“<br />
Dann fügte er mit offensichtlicher Abneigung hinzu: „Sie haben mich<br />
mit dem Tellariten zusammengesteckt.“<br />
„Nein! Mit Durkin?“<br />
„Genau mit dem.“<br />
Shan schüttelte den Kopf. „Die Sternenflotte hat ja doch Sinn für<br />
Humor. Ich hatte gehofft, wir würden uns ein Zimmer teilen.“ Sie zuckte<br />
mit den Schultern. „Na ja, ist wohl wirklich besser als ganz<br />
rausgeworfen zu werden, würde ich sagen. Kommst du denn klar?“<br />
„Sicher. Und du? Wie ist dein Zimmergenosse?“<br />
„Pelzig.“<br />
Er runzelte die Stirn. „Kommst du denn klar?“<br />
„Ich werde durchhalten.“<br />
„Na schön. Komm, ich habe ein paar Leute auf meinem Zimmer, die<br />
ich dir vorstellen will.“<br />
„Ist ein Finnegan dabei?“<br />
„Nein.“<br />
„Ein Tiger?“<br />
„Nein.“<br />
„Dann geh voran.“
Sortak führte Sie zu seinem Quartier. Als er die Tür öffnete, fiel Shan<br />
zuerst auf, dass tatsächlich kein Tiger auf dem Bett lag. Irgendwie schien<br />
ihr das vernünftig zu sein, nicht in jedem Quartier genetische<br />
Experimente unterzubringen. Sie hörte auch mehrere Stimmen, die alle<br />
durcheinander sprachen, doch der Lärm verstummte abrupt, als Shan den<br />
Raum betrat. Mehrere der Insassen erkannte sie augenblicklich wieder.<br />
„Du bist noch hier.“, sagte die Andorianerin Tala überrascht.<br />
„Wie ein falscher Fünfziger, tauche ich immer wieder auf.“,<br />
entgegnete Shan mit einem schiefem Grinsen. Sie wollte sich schon<br />
innerlich für diesen durchaus guten Spruch gratulieren, als sie plötzlich<br />
realisierte, dass es der Standartspruch ihres Vaters war. Sofort verfluchte<br />
sie sich dafür. Jetzt benutzte Sie schon seine Sprüche! Das musste die<br />
verdammte Uniform sein!<br />
Tala runzelte die Stirn. „Was ist ein... Fünfziger?“<br />
„Zerbrich dir nicht die Antennen darüber.“, winkte Shan ab. „Sagen<br />
wir einfach, sie haben mir noch eine Chance gegeben.“<br />
„Es kommt mir wahrscheinlicher vor.“, erwiderte Tala. „dass sie die<br />
Tochter der Legende Matt Bartez nicht ausschließen wollten.“<br />
Shan runzelte die Stirn. Das war ein beunruhigender Gedanke. Aber<br />
ein unzutreffender, da war sie sich sicher. „Mein Vater ist einflussreich,<br />
aber nicht so einflussreich. Die Akademie hat strenge Regeln, die kann<br />
selbst er nicht brechen.“ Ein Umstand, der sie sehr glücklich machte.<br />
Vielleicht war die Akademie ja doch nicht so übel, wenn man sie<br />
wenigstens hier nicht bevorzugen würde, dann war das ein recht<br />
angenehmer Ort und er unterschied sich erheblich von den bisherigen<br />
Schulen, die sie besucht hatte.<br />
„>Das Grau< da drüben ist mein zweiter Zimmergenosse.“, sagte<br />
Sortak und deutete auf einen Außerirdischen, den man auch wirklich<br />
nicht treffender, als mit Außerirdisch beschreiben konnte. Auf der<br />
anderen Seite des Zimmer wuselte ein Wesen durch die Gegend, welches<br />
sich durch eine gewisse Hyperaktivität auszeichnete. Es rannte mal<br />
hierhin, dann mal dorthin und wieder zurück, wobei sein Kopf herumflog<br />
und ziemlich jede Kleinigkeit des Zimmers zu sondieren schien. Das<br />
Wesen war am ganzen Körper kahl, grau und etwa 1,20 groß. Seine<br />
geradezu lächerlich dünne Statur wirkte sehr zerbrechlich, ganz im
Gegensatz zu seinem ballonartigen Kopf, der auf Shan einen<br />
überproportional großen Eindruck machte. Zwei große schwarze Augen,<br />
die fast wie Billardkugeln glänzten, gaben seiner Mimik einen<br />
unheimlichen, stechenden Ausdruck. Davon abgesehen diente dem<br />
Fremden ein schmaler, horizontaler Schlitz als Mund. Über eine Nase<br />
verfügte er nicht.<br />
„Es ist ein Briori.“, erklärte Sortak. „Das erste in der Sternenflotte.<br />
Und ein ziemlich geniales Köpfchen.“<br />
„Es?“, echote Shan verblüfft.<br />
„Briori sind Geschlechtslos.“ Sortak zuckte mit den Schultern. „Grau<br />
isst nicht, Grau schläft nicht... Es hat nicht einmal Knochen. Auch keine<br />
Organe. Das Blut seines Körpers wird durch die Kontraktionen der<br />
Muskeln bewegt. Seine Sinne sind um ein vielfaches Schärfer als unsere.<br />
Die Augen sind viel größer und besitzen keine Iris in dem Sinne,<br />
wodurch es die Lichtmenge nicht richt steuern kann. Jedenfalls nicht wie<br />
wir. Die Hör- und Geruchsorgane sind miteinander verbunden, wodurch<br />
es Geräusche nicht nur hört, sondern auch noch riechen kann. Das<br />
gleiche gilt natürlich auch für Gerüche, es kann Gerüche hören.<br />
Verrückt, was? Sein Fachgebiet ist Computertechnik. Hey, Grau. Komm<br />
doch mal her, ich möchte dir jemanden vorstellen.“<br />
Grau, der bislang unentweckt umhergerannt war, blieb plötzlich stehen<br />
und drehte den Kopf zu Shan, als hätte er sie erst jetzt bemerkt. Er wurde<br />
plötzlich zu einem Schemen, als er herübergeflitzt kam, und im nächsten<br />
Augenblick stand er bereits vor ihr. Er bewegte sich mit unglaublicher<br />
Geschwindigkeit!<br />
„Das...“, sagte Sortak, der sich schon daran gewöhnt hatte. „Ist Shan<br />
Bartez. Shan, das ist Grau.“<br />
„Oh, uhm... hi.“, grüßte Shan.<br />
Grau blieb stumm. Shan wurde aus riesigen, liedlosen Augen<br />
angestarrt. Und irgendwas tat sich darin. Eine Art... eine Art Pulsieren.<br />
Shan runzelte die Stirn und beugte sich zu Grau herab, um sein Gesicht<br />
genauer in Augenschein zu nehmen. „Wie geht’s dir?“<br />
Grau beantwortete die Frage, doch er benutzte nicht die Sprache der<br />
Menschen, um sich mitzuteilen. Es war überhaupt keine verbale Sprache.<br />
Es äußerte sich in seiner natürlichen Sprache, ohne Ton, ohne Gestik,<br />
ohne Emotionen. Es begann in rasendem Tempo, als Grau mit Shan
kommunizierte, und zwar in einer Sprache, die aus Bildern und<br />
Sinneseindrücken bestand. Mit atemberaubender Geschwindigkeit nahm<br />
es Shan auf eine virtuelle Reise durch sein Gedächtnis mit. Der<br />
Informationsfluss war für Shans Synapsenaktivität zu schnell. Sie stürzte<br />
rücklings zu Boden, griff sich an die Schläfen und keuchte auf vor<br />
Schmerzen.<br />
Binnen weniger Sekunden raste sie durch Schlachten, die sich im<br />
Delta Quadranten zugetragen hatten, erfuhr, wie die Briori Planet um<br />
Planet erobert hatten, wie sie heuschreckengleich einen Ort nach dem<br />
anderen heimgesucht und die Ressourcen aufgebraucht hatten. Dann<br />
waren sie zu ihren Schiffen zurückgekehrt und zum nächsten<br />
Weidegrund weitergezogen, so lange, bis sie auf die Vadwauur getroffen<br />
waren, eine Spezies, die sich gegen die Briori wehrte – erfolgreich. Shan<br />
erlebte mit, wie die Briori immer mehr ihrer Weltenschiffe an die<br />
Vadwaaur verloren, bis sie beinahe völlig ausgelöscht worden waren.<br />
Das letzte, stark beschädigte Weltenschiff, hatte sich zu einem fernen<br />
Klasse L Planeten, jenseits der Reichweite der Vadwaaur geschleppt und<br />
war abgestürzt. Dank eines Subraumportals, dass sich in dem<br />
Maschinenkern des Weltenschiffes errichten lies, waren die Briori in der<br />
Lage, einen weit entfernten Planeten zu erreichen – die Erde. Sie<br />
entführten über 300 Menschen, um sie als Sklaven zu halten. Ohne<br />
Gnade, ohne Reue. Doch die Sklaven starteten eine Revolte und<br />
vertrieben die letzten Briori in einem verbitterten Kampf. Grau rettete<br />
sich auf die Erde, wo er bis vor wenigen Jahren unter Wasser verbrachte<br />
und sich jetzt erst zeigte. Und dann hörte der telepathische Kontakt auf.<br />
Shan lag schwer atmend am Boden und wusste nicht so genau, wie sie<br />
dorthin gekommen war. Sie versuchte noch immer ihre Eindrücke zu<br />
ordnen. Sie war benommen und desorientiert und der Schleier, der sich<br />
um sie gehüllt hatte, lichtete sich nur langsam. Ein Gesicht tauchte über<br />
ihr auf. Es war Sortak. Er wirkte besorgt und verlegen.<br />
„Tut mir leid, Shan. Das habe ich vergessen zu erwähnen. Grau hat<br />
keine Stimmbänder. Er kommuniziert nur durch Telepathie. Das kann...<br />
einen ganz schön umhauen, wenn man nicht drauf vorbereitet ist. Als<br />
Vulkanier komme ich damit besser zurecht als die meisten.“ Er reichte<br />
ihr einen Arm, um ihr hoch zu helfen. „Tschuldigung.“<br />
„Schon okay. Uff.“
Als Shan sich aufsetzte, hielt sie sich immer noch den schmerzenden<br />
Schädel. Grau war inzwischen wieder dabei, hin und herzurennen.<br />
Sortak erklärte: „Die Sternenflotte lässt gerade einen kleinen Apparat<br />
bauen, mit dem er seine Gedanken verbalisieren und auf gewöhnliche<br />
Art mit uns kommunizieren kann. Ist aber noch nicht fertig.“<br />
„Was du nicht sagst.“<br />
„Tala, Yoko und Durkin hier, kennst du ja schon.“<br />
Durkin machte sich gar nicht erst die Mühe, etwas zu sagen. Er<br />
grunzte nur, als Shan ihm knapp zunickte. Yoko war damit beschäftigt,<br />
sich auf einem Datenblock diverse Notizen zu machen.<br />
„Na schön.“, sagte Sortak. „Und das hier ist Galak Arsamandi, Talas<br />
Zimmergenosse.“<br />
Sortak trat beiseite und Shan machte direkter hinter ihm einen<br />
attraktiven, jungen Mann aus. Das erste, was Shan an ihm auffiel, war,<br />
dass er völlig nackt da stand. Einzig seine Lenden wurden durch eine Art<br />
bunt leuchtender Energieform verhüllt. Eine vielfarbene Wolke, aus<br />
fröhlich tanzenden Lichtkugeln, wie es schien, die höchstens erahnen<br />
ließen, was sich hinter ihnen verbarg. Sie erinnerten Shan an<br />
Glühwürmchen.<br />
Davon abgesehen war er gänzlich unverhüllt. Seinen Körper musste er<br />
aber auch wirklich nicht verstecken, denn beeindruckende Muskelstränge<br />
zeichneten seine Brust, seine Arme aus und sein Waschbrettbauch. Er<br />
war mit abstand der muskulöseste Junge, den Shan je gesehen hatte.<br />
Noch muskulöser als Sortak, aber trotzdem nicht übertrieben. Galak war<br />
aber auch insgesamt eine beeindruckende Gestalt. Seine Augen waren<br />
klein und er besaß zeitweise keine Pupillen. Stattdessen schien eine Art<br />
mystischer Nebel in seinen Augen zu wabern. Er hatte eine kleine Nase<br />
und da sein Kinn markant zulief, konnte man sein Gesicht am ehesten als<br />
ausgeprägt jungenhaft beschreiben. Sein Haar war lang, hellblau und hier<br />
und da mit weißen Rasterketten versehen. Obwohl in dem Quartier<br />
windstille herrschte, schienen die Haare beständig in einem rätselhaften<br />
und nur für Galak bestimmten Luftzug zu wehen, was ihm ein<br />
einigermaßen verwegenes Aussehen verlieh. Aber das faszinierendste<br />
blieben zweifellos die glühende Wolke aus bunten-<br />
„Sollen wir in dein Quartier gehen, oder in meines?“<br />
Shan sah auf. „Verzeihung?“
„Du hast auf mein Gemächt gestarrt.“, erklärte Galak. „Ich nehme an,<br />
du möchtest kopulieren.“<br />
„Was?!“<br />
Tala kicherte.<br />
„Nun, wir könnten natürlich auch gleich hier, sofern dich die<br />
Anwesenheit der anderen nicht-“<br />
„Whow, whow, whow.“ Shan hob rasch beide Hände, um ihn zu<br />
unterbrechen. „Langsam, Casanova. Schön langsam. Ich glaube hier liegt<br />
ein Missverständnis vor. Ein ganz gewaltiges sogar.“<br />
„Aber du hast-“<br />
„... kein Interesse an... was immer du auch denkst.“<br />
Galaks Blick wanderte für einen Moment verständnislos zu den<br />
anderen Personen im Raum, die sich das Lachen kaum verkneifen<br />
konnten, dann fixierte er wieder Shan und plötzlich erheiterten sich seine<br />
Züge. „Ah. Ich verstehe. Das ist eines der menschlichen Balzrituale,<br />
nicht wahr? Wo das Weibchen vorspielt, es sei nicht an einer Kopulation<br />
interessiert, um das Männchen anzuspornen, sie mit beeindruckenden<br />
Gesten und Geschenken zu überhäufen.“<br />
Shan tat so, als würde sie einen Moment darüber nachdenken. Dann<br />
antwortete sie mit einem langgezogenen: „Nnnnnein. Hör zu: du hast da<br />
was in den wirklich, wirklich, wirklich falschen Hals bekommen. Ich<br />
fand nur... diese... diese Lichtpunkte da unten so verwirrend. Nichts<br />
weiter. Ich habe ehrlich nicht das geringste Interesse an dir.“<br />
„Aber an meinen Lichtpunkten?“<br />
„Ja. Nein. Uh.“ Sie rieb sich mit den Fingern den Nasenrücken, und<br />
bemühte sich, die Worte genauer zurechtzulegen. „Ganz klar, nein. Nein<br />
zu dir, nein zu deinen Lichtpunkten, nein zu allem. Einfach... nein.“<br />
„Das meinst du doch nicht ernst, nicht wahr?“<br />
Sie tat so, als müsse sie darüber nachdenken. „Doch... doch, ja, ... ja,<br />
das meine ich ernst.“<br />
„Aber mich zurückzuweisen wäre eine Dummheit! Ich habe alle drei<br />
Dinge, die eine Frau haben will. Ich habe einen fantastischen Körper und<br />
ich bin reich.“<br />
Shan wartete einen Moment ab, ob da noch etwas kam. Dann kniff sie<br />
die Augen zusammen und beugte sich ein Stück zu Galak vor. „Das...<br />
uhm... waren nur zwei Dinge, Superhirn.“
Galak hob belehrend einen Finger. „Nein, >ein fantastischer Körper<<br />
zählt doppelt.“<br />
Shan rollte die Augen.<br />
„Außerdem...“, fuhr Galak fort. „bin ich eine Popularität.“<br />
„In welchem Spiegeluniversum?“<br />
„Wie meinst du das, in welchem Spiegeluniversum? In diesem<br />
Universum natürlich!“<br />
„Hör zu. Das ist wirklich nur ein Missverständnis. Du bist... um...<br />
nicht ganz mein Typ.“<br />
„Nicht ganz dein Typ?“ Galak musterte sie verwirrt. „Ich verstehe<br />
nicht.“<br />
„Du bist ein Schönling. Ein Snob. Um das zu wissen, braucht man<br />
dich nur anzusehen. Somit spielst du nicht in meiner Liga. Du spielst so<br />
was von nicht in meiner Liga, dass, wenn deine Liga explodieren würde,<br />
ich den Knall erst drei Tage später hören könnte. Hat das jetzt jeder<br />
begriffen, oder muss ich noch deutlicher werden?“<br />
„Selbst ich habe das verstanden.“, warf Yoko ein. „Und ich bin nicht<br />
einmal von diesem Planeten.“<br />
„Das ist unerhört!“, schnappte Galak. Er richtete sich zu seiner vollen<br />
– und durchaus beeindruckenden - Größe auf. „Ich bin Galak Arsamandi,<br />
Prinz des orsorianischen Reiches. Niemand würde eine solche Dummheit<br />
begehen und mich zurückweisen.“ Daran bestand kein Zweifel.<br />
Shan seufzte. „Ich muss dich enttäuschen, Galak Arsamandi, Prinz des<br />
orsiorianischen Reiches. Dummheiten zu begehen, ist mein Hobby.<br />
Andernfalls wäre ich nicht hier.“<br />
Doch Galak schnaubte nur empört. Er mochte es offensichtlich ganz<br />
und gar nicht, eine Zurückweisung zu erhalten. Seine Exzellenz musterte<br />
Shan von oben bis unten, und was er sah, schien auf einmal gar nicht<br />
mehr seinen hohen Ansprüchen zu genügen. „Pah!“, machte er. „Du bist<br />
eines Orsorianers auch nicht würdig, Mensch!“ Er wandte Shan<br />
demonstrativ den Rücken zu, verschränkte die Arme vor der Brust und<br />
hob die Nase zum Himmel.<br />
„Galak...“, begann Shan.<br />
„Sprich nicht mit mir!“<br />
„Nimm’s doch nicht so persönlich.“ Aber dieses Mal kam erst gar<br />
keine Reaktion mehr.
„Fein.“, zickte Shan. „Wenn eure Hoheit schmollen will... Ist mir<br />
völlig egal.“ Sie drehte im ebenfalls den Rücken zu und verschränkte die<br />
Hände vor der Brust. So ein Kerl! Aber sie hatte das Gefühl, dass sie sich<br />
über Galaks verwirrende Anwesenheit keine Sorgen machen musste. Bei<br />
seiner Arroganz, würde er wahrscheinlich innerhalb einer Woche wieder<br />
verschwunden sein. Oder sie würde innerhalb einer Woche<br />
verschwunden sein.<br />
Sortaks Blick wanderte zwischen Galak und Shan umher: „Seid ihr<br />
jetzt fertig?“<br />
„Und wie.“, bestätigte Shan.<br />
„Schön. Tala hier hat vorgeschlagen, eine Studiengruppe zu bilden.“,<br />
erklärte ihr Sortak „Bist du dabei?“<br />
Shan kam sich ein bisschen blöd vor. Seit ihrer Ankunft hatte sie es<br />
geschafft, sich auf einen Kampf einzulassen, beinahe von der Akademie<br />
geworfen zu werden und den Prinzen des orsorianischen Reiches zu<br />
beleidigen. In der gleichen Zeit hatte es Sortak geschafft, eine Gruppe zu<br />
organisieren, die sogar zusammen studieren wollte, und er hatte sich<br />
darauf vorbereitet, die wichtigsten Dinge zu klären. Shan konnte sich<br />
glücklich schätzen, ihn zu haben. „Ja, gerne. Was dagegen, wenn ich<br />
auch meinen Zimmerkameraden einlade?“<br />
„Für mich ist das nicht relevant.“, verkündete Durkin.<br />
Tala murmelte spitz: „Eigentlich hat dich auch niemand gefragt.“<br />
Durkin grunzte nur.<br />
Sortak zuckte mit den Schultern. „Nein, kein Problem.“<br />
„Die Pakled von der Landeplattform zu fragen, wäre vielleicht auch<br />
keine schlechte Idee. Ich denke sie könnte ein paar Freunde gut<br />
gebrauchen. Was meinst du?“<br />
„Sicher, warum nicht?“<br />
„Wisst ihr was!“, verkündete Durkin feierlich. „Wir gehen jetzt in die<br />
Mensa und essen! Dabei können wir unsere Kurspläne besprechen.“<br />
Niemand schien begeistert davon, da sich niemand in Bewegung<br />
setzte. Sie sahen ihn alle einen Moment lang an und drehten sich dann<br />
wieder weg.<br />
„Komm.“, sagte Sortak zu Shan. „Ich zeige dir, was du im Rundgang<br />
verpasst hast. Der Flugbereich unterhalb der Akademie wird dich sicher<br />
interessieren.“
„Ja, hab gehört, er soll ziemlich beeindruckend sein.“<br />
„Ach?“<br />
Sie zuckte mit den Schultern. „Man könnte sagen, ein Vöglein hat es<br />
mir gezwitschert.“ Und murmelnd fügte sie hinzu. „Zutreffender wäre<br />
aber wohl: ein Tiger hat es mir zugeknurrt.“<br />
Die Türhälften des Turbolifts glitten beiseite und gerade als Sortak<br />
eintreten wollte... verharrte er plötzlich mitten in der Bewegung. Sein<br />
Vater stand in der Kabine. Eine große Gestalt, mit buschigen Brauen,<br />
dunklen Augen und kantigem Gesicht. Er hatte die Hände hinter dem<br />
Rücken verschränkt und offenbar nicht damit gerechnet, seinem Sohn<br />
über den Weg zu laufen. Ihre Blicke trafen sich. Zunächst starrten sie<br />
sich einfach nur an. Sortak wollte etwas sagen, wollte sein Dasein<br />
erklären. Er war auf Zorn und Schmähungen gefasst, er war bereit, alles<br />
über sich ergehen zu lassen und Fragen, wo er herkam, und was er hier<br />
zu suchen hatte, zu beantworten, obwohl er gewillt war, die Antworten<br />
so vage wie möglich zu halten. Er war bereit für eiskalte, abschätzende<br />
Blicke, schmerzhafte Wutausbrüche, fassungslose Reaktionen, oder eine<br />
Fortsetzung ihres ewig andauernden Streits. Verdammt, er war sogar<br />
darauf gefasst, dass Sturak einen Phaser zog und auf ihn schoss. Es<br />
waren schon merkwürdigere Dinge geschehen. Ein Verbrechen aus<br />
Leidenschaft, so würde man es bezeichnen. Sturak würde ein bisschen<br />
seine Beziehungen spielen lassen und jedes Gericht des Universums<br />
würde ihn wegen vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit<br />
freisprechen. Er würde ungehindert seinen Dienst als Dozent für<br />
Wissenschaften fortsetzen und keineswegs, wie Sortak einst, in einem<br />
Gefängnis landen.<br />
Doch Sortak war überhaupt nicht auf diesen kühlen Blick vorbereitet,<br />
mit dem er begrüßt wurde. In Sturaks Augen war kein Spur einer<br />
Emotion. Das durfte man zwar von einem Vulkanier erwarten, aber<br />
Sturak war ebenso wenig ein traditioneller Vulkanier, wie Sortak. Er<br />
starrte seinen Sohn an, als sei er ein Fremder. Sortak erkannte, dass sein<br />
Vater sich darauf verlegt hatte, einfach abzuwarten, bis er den ersten<br />
Schritt machte. Sturak war ein Dickkopf, was er vermutlich an Sortak
vererbt hatte. Aber so kamen sie nicht weiter. Er würde etwas sagen<br />
müssen, sonst würden sie den Rest des Tages damit verbringen,<br />
herumzustehen und sich anzustarren. Also schob Sortak das Kinn vor:<br />
„Fein. Wir warten auf den nächsten.“<br />
Er trat einen Schritt zurück, damit sich die Tür wieder schließen und<br />
der Lift seinen Weg allein mit Sturak fortsetzen konnte, als er plötzlich<br />
von hinten in die Kabine geschoben wurde. Es war Shan, die drückte.<br />
„Der hier ist gut genug.“, sagte sie.<br />
Sie wusste, dass sie Sortak niemals hätte bewegen können, wenn er es<br />
nicht gewollt hätte. Und obwohl er eigentlich diesen Eindruck erweckte,<br />
kämpfte er nicht ernsthaft gegen sie an. Die Türen zogen sich hinter<br />
ihnen zu. Sie waren gemeinsam eingeschlossen. Die Kabine fuhr los. Als<br />
sich die Tür geschlossen hatte, hatte Shan die Arme weit ausgebreitet<br />
und rief erfreut: „Onkel Sturak!“ Sie fiel ihm um den Hals und umarmte<br />
ihn herzlich. Sturak, plötzlich die netteste und zuvorkommendste Person<br />
des Universums, lächelte ebenfalls und erwiderte die Umarmung. Er rieb<br />
Shans Oberarme mit seinen Händen und musterte sie ausgiebig. „Shan.<br />
Du bist aber groß geworden.“<br />
Sortak rollte verdrossen die Augen. Das war ausgerechnet dieselbe<br />
Reaktion, die auch er Shan bei ihrer Wiedervereinigung heute Morgen<br />
entgegengebracht hatte. Und das passte ihm überhaupt nicht.<br />
„Wie geht es dir?“, fragte Sturak Shan. „Ich habe von deinem Ausflug<br />
ins Eis gehört und empfinde Erleichterung, dich wohlauf<br />
wiederzusehen.“<br />
Shan grinste schief. „Ich bin unverwüstlich.“<br />
„Das liegt in deiner Familie.“<br />
„Ich habe dir auch etwas mitgebracht.“<br />
„So?“<br />
„Ein Artefakt. Von Frigoria.“<br />
„Und was für eines?“<br />
„Halt dich fest: Der heilige Urgon der Shangrilaner!“<br />
„Wirklich?“, fragte Sturak sichtlich beeindruckt. „Du hast die Stadt<br />
also gefunden?“<br />
„Nnnnnein.“, musste Shan eingestehen. „Nicht ganz jedenfalls.<br />
Eigentlich habe ich nur den Urgon gefunden. Aber er ist klasse. Wäre<br />
wirklich toll, wenn du mal ein spitzes Ohr dran hälst, ein paar
Untersuchungen machst und... na ja, was ihr Wissenschaftler eben so<br />
macht. Ich würde gerne ein bisschen mehr über das Ding herausfinden,<br />
als der Tricorder mir verrät. Ich bringe ihn dir später vorbei, ja? Er ist<br />
noch in meiner Tasche.“<br />
„Gewiss. Ich helfe gerne.“<br />
Sortak schnaubte, sagte aber nichts. Sturak schien ihn zum ersten Mal<br />
zu bemerken. Er bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick zur Seite,<br />
richtete den Blick aber sofort wieder nach vorn, als würde er erblinden,<br />
wenn er seinen Sohn eingehender betrachtete. „Sortak.“, sagte er<br />
förmlich. Er schien weder wütend, noch frustriert oder froh oder sonst<br />
etwas zu sein. Er hatte einfach nur Sortaks weitere Anwesenheit zur<br />
Kenntnis genommen. „Vater.“, entgegnete Sortak in einem bemüht<br />
neutralen Tonfall.<br />
Die nächsten Sekunden schwiegen alle. Vater und Sohn, Schulter an<br />
Schulter, hatten den Blick starr geradeaus gerichtet und würdigten sich<br />
keines Blickes. Shan stand daneben und schüttelte mental den Kopf. Die<br />
Kabine schien ewig unterwegs zu sein. Schließlich wurde Shan<br />
ungeduldig, sie stieß Sortak mit dem Ellenbogen in die Seite, da sie<br />
genau wusste, dass er das ganz und gar nicht mochte. Dort war er sogar<br />
ein kleines bisschen kitzelig. Das Ergebnis viel auch entsprechend aus –<br />
er zuckte zusammen und blickte ärgerlich zu ihr herab, woraufhin sie mit<br />
ihren Lippen stumm die Worte „na mach schon!“ formte. Aber Sortak<br />
schüttelte den Kopf. Shan sah ihn eindringlich an. Aber auch darauf<br />
reagierte er nicht, weshalb sie die Taktik änderte, sich auf die Unterlippe<br />
biss und möglichst mitleiderregend dreinschaute: Bitte!<br />
Dem konnte Sortak nicht wiederstehen. Es war ihm noch nie gelungen,<br />
Shan etwas abzuschlagen. Nicht, wenn sie so ein Gesicht zog. Und das<br />
wusste sie ganz genau. Sortak knurrte gepresst. Ihm lag überhaupt nichts<br />
daran, mit seinem alten Herren ein Gespräch anzufangen. Trotzdem<br />
schob er das Kinn vor und räusperte sich. „Was... machen die Gärten,<br />
Vater?“ Es war das beste, das ihm einfiel. Im Grunde rechnete er gar<br />
nicht mit einer Antwort, war darum umso erstaunter, als eine kam: „Ich<br />
bin sicher der Verwalter kümmert sich gut darum.“<br />
„Nicht doch!“, sagte Sortak spöttisch. „Du hast dich nicht persönlich<br />
von seiner Arbeit überzeugt? Wo du doch sonst immer alles prüfen und<br />
kritisieren musst...?“
Sturaks Blick wandte sich gefährlich langsam seinem Sohn zu. Sein<br />
Gesichtsausdruck war sehr ernst und hinter seinen Augen brodelte etwas,<br />
als wollte sich ein Gewitter zusammenbrauen. „Nein.“, sagte er bleiern.<br />
„Seit ich die Asche deiner Mutter dort verstreute, war ich nicht mehr<br />
Zuhause, auf Vulkan. Ich konnte es nicht... ertragen, alleine<br />
zurückzukehren. Und du warst ja... abkömmlich.“<br />
Sortak schloss einen Moment die Augen und verfluchte sich. Warum<br />
hatte er schon wieder den Mund so weit aufreißen müssen?<br />
Andererseits... warum sollte ihn das kümmern? Sturak hatte auch nie ein<br />
Blatt vor den Mund genommen. Sortak erinnerte sich sehr gut an die<br />
ständigen Erinnerungen daran, dass er den Maßstäben seines alten Herrn<br />
doch niemals gerecht werden könne. Ihm fehlten die Disziplin, hieß es,<br />
die Zielstrebigkeit, und vor allem die Intelligenz seines Vaters. Zwar<br />
räumte ihm sein Vater ein, eine gewisse vorandrängende Begabung in<br />
technischen Angelegenheiten zu haben, aber was nützte ihm diese?<br />
Nichts als Schwierigkeiten hatte sie ihm eingebracht. Und nun kochte die<br />
alte Wut wieder von neuem auf. „Glaubst du vielleicht, ihr Tot hätte nur<br />
dich getroffen? Du warst nicht der einzige, der gelitten hat.“<br />
„So?“, fragte Sturak. Er funkelte Sortak an. „Du hattest eine sehr<br />
merkwürdige Art zu... trauern.“<br />
Sortak hielt seinem Blick stand. „Du hattest deine Methoden damit<br />
umzugehen und ich meine.“<br />
„Ist Körperverletzung nun eine Art der Trauer? Soll ich deine<br />
Fehltritte nun auf diese Art interpretieren?“<br />
„Vielleicht hätte ich weniger Fehltritte unternommen, Sturak, wenn ich<br />
einen Vater gehabt hätte, der mir Rückhalt geboten, und sich nicht<br />
zurückgezogen und mich in meiner Trauer allein gelassen hätte.“<br />
„Vielleicht hätte ich dir Rückhalt geboten und mich nicht von dir<br />
abgewandt, Sortak, wenn ich einen Sohn gehabt hätte, der weniger<br />
Fehltritte unternimmt.“<br />
„So siehst du das also, Vater?“<br />
Sturak nickte. „So sehe ich das.“<br />
Der Lift erreichte sein Ziel und die Türen glitten auf. Sturak nickte.<br />
„Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen.“ Er trat auf den Korridor<br />
hinaus und ging die Stufen zum Hangar herab, ohne auf Shan zu warten.<br />
Sie folgte ihm einige Schritte auf den Korridor hinaus, aber er blieb nicht
stehen und verschwand hinter der nächsten Biegung. „Sortak! Sortak,<br />
warte... Sturak!“, sagte Shan gepresst und drehte sich zu dem Vulkanier<br />
um. „Geh ihm nach!“<br />
„Ich wüsste nicht wofür, Shan.“<br />
„Um eure Differenzen zu bereinigen, natürlich.“<br />
„Manche Abgründe sind zu breit, um sie zu überbrücken.“ Die<br />
Lifttüren glitten zu und die Kabine setzte ihren Weg nach oben fort.<br />
Shan blieb alleine im Gang stehen. „Das hätte besser laufen können.“,<br />
murmelte sie.<br />
Persönliches Logbuch,<br />
Sha’Nyn Bartez<br />
Hey, Dad,<br />
ich bin’s, deine aufmüpfige Tochter. Hmm-mm. Merkwürdiges Gefühl,<br />
mit der Luft zu sprechen. In meinem bisherigen Leben habe ich nie die<br />
Notwendigkeit empfunden, ein Logbuch zu führen. Aber uns wurde<br />
geraten, eines anzulegen, und nach den Ereignissen auf Frigoria kommt<br />
mir die Idee gar nicht so schlecht vor. Dort fand ich mich auch isoliert<br />
und allein wieder. Bis auf Mumien und Monster war niemand da, der mir<br />
hätte zuhören, geschweige denn antworten können. Also musste ich mich<br />
mit meiner eigenen Stimme zufrieden geben, was mir immerhin ein<br />
bisschen Trost gespendet hat. Hier ist die Lage ähnlich. Bin zwar nicht<br />
allein, aber größtenteils unter völlig Fremden. Und da es sich bei dir um<br />
denjenigen handelt, der Schuld daran trägt, dass ich mich auf der<br />
Akademie befinde, hielt ich es für angemessen, meine Aufzeichnungen an<br />
dich zu richten. Vielleicht traue ich mich ja sogar irgendwann, sie dir zu<br />
geben, damit dir klar wird, was du mir angetan hast...<br />
Ja, du hast richtig gehört. Ich bin auf der Akademie. Der<br />
Sternenflottenakademie. Wo ich nie – wirklich nie, nie, nie, hinwollte.<br />
Aber die Dinge entwickeln sich ja selten so, wie man denkt. Richtig?<br />
Offizier der Sternenflotte. Brrrr. Mich schüttelt es noch immer bei dem<br />
Gedanken daran. Die Worte klingen auch irgendwie hohl in meinen<br />
Ohren. Irgendwie... unwirklich. Als hätte ich noch gar nicht so richtig<br />
begriffen, wo ich eigentlich bin. Was ich bin. Mal ganz unter uns: mir<br />
fällt nicht ein einziger Grund ein, warum ich mich der Sternenflotte
anschließen sollte. Dafür fallen mir etwa tausend Gründe ein, warum ich<br />
sofort wieder verschwinden sollte. Gut für dich, dass ich eine zähe<br />
Kämpfernatur bin. Oder den Bartez’chen Sturkopf geerbt habe. Okeoke,<br />
wahrscheinlich liegt es nur an letzterem. Jedenfalls, habe ich nicht vor,<br />
so schnell aufzugeben. Und noch bereue ich meine Entscheidung nicht,<br />
auch wenn immer noch überrascht – oder enttäuscht? – bin, wie schnell<br />
ich mich überreden lies. Ein Moment der Schwäche und schon landet<br />
man hier. Werde ich mir merken.<br />
Meine Ankunft auf dem Campus war etwas... ahm... holprig. Du hast<br />
es vermutlich schon gehört – natürlich hast du es schon gehört. Wie<br />
könntest du so etwas auch nicht hören? Es ist schließlich in aller Munde.<br />
Ich muss dich also nicht mit den Details langweilen, die dazu führten,<br />
dass ich einem älteren Kadetten die Möglichkeit bot, sich die<br />
chirurgische Abteilung einmal näher anzusehen. Hat er aber auch<br />
verdient. Ich kann nicht glauben, dass es jemand mit so einer Einstellung<br />
bis ins dritte Jahr geschafft hat. Ihm ist wohl seine eigene Uniform zu<br />
Kopf gestiegen – was genau der Grund ist, dass ich Militäreinrichtungen<br />
verabscheue. Die Uniform mag in manchen das beste herausholen, das<br />
möchte ich nicht bestreiten. Aber ich bin sicher, es gibt genauso viele, in<br />
denen sie das schlimmste weckt. Ich werde nicht zulassen, dass man mit<br />
mir das Gleiche versucht, und ich werde sicher nicht wegsehen, wenn ich<br />
wieder Zeuge einer solchen Ungerechtigkeit werde – ganz gleich, wie die<br />
Konsequenzen aussehen mögen.<br />
Was die anderen Kadetten betrifft, die ich bisher kennen gelernt<br />
habe... Ein zotteliger Tiger, der den Hobbypsychologen mimt, dabei<br />
geschwätziger als der Plapperkäfer von Trall ist, und sich auf allen<br />
Vieren fortbewegen muss, weil er sonst nicht durch die Tür passt, ein<br />
Vulkanier, der... ja, was mit Yoko ist, kann ich überhaupt nicht sagen. Er<br />
scheint die meiste Zeit verwirrt und mit seinen Gedanken in anderen<br />
Sphären. Somit wirkt er auf mich fast noch merkwürdiger als Das Grau,<br />
ein kleiner Briori, der mein Gehirn fast zum explodieren gebracht hätte,<br />
nur weil ich fragte, wie es ihm ginge. Tala und Durkin sind noch<br />
einigermaßen vernünftig, sofern man das von zwei Streithähnen, die<br />
miteinander im Dauerclinch liegen, behaupten kann. Andererseits passt<br />
das auch wieder zu ihren Spezies, die sich nie besonders gut leiden<br />
konnten. Mit der Pakled Cera hat es wiederum eine ganz eigene
Bewandnis. Eine große, etwas begriffsstutzige Bewandnis. Ehrlich<br />
gesagt weiß ich nicht so ganz, wie sie die Akademie schaffen will. Und<br />
Galak? Meine Güte, er ist so... so... so... argggh. Ich bin wirklich froh,<br />
Sortak zu haben. Er ist der einzige, der mich davon abhält, den Verstand<br />
zu verlieren. Keine Ahnung, was ich ohne ihn tun würde. Wir sind alle<br />
ziemlich verschieden. Emotional, physisch, ja sogar biologisch. Und<br />
eines ist völlig klar: Ich weiß nicht, wie meine Zukunft als Kadett<br />
aussieht, aber meine Gegenwart liegt ganz offenbar in einem Zirkus...<br />
Ich habe nie in meinem Leben eine so große Ansammlung<br />
Außerirdischer getroffen. Sie sind über den ganzen Campus verteilt. Und<br />
der ist enorm! Man muss aufpassen, sich nicht zu verlaufen. Ein Großteil<br />
der Anlage erstreckt sich unterirdisch, ständig hallen Durchsagen durch<br />
die weiten und dicht bevölkerten Gänge. Durch die nähe zum<br />
Flottenkommando, läuft man dauernd ranghohen Offizieren über den<br />
Weg. Bin fast sicher, dir irgendwann auch über den Weg zu laufen.<br />
Aber... das kann ruhig später, als früher zu sein. Im Moment genieße ich<br />
es, von Zuhause weg zu sein. Nicht falsch verstehen. Ich bin nur<br />
enthusiastisch, mein Leben nun selbst in die Hand zu nehmen. Nun...<br />
zumindest teilweise. Wenn ich mir die Kurse so ansehe, die<br />
Flugeinrichtungen und Traingssimulatoren... ich habe das Gefühl, den<br />
anderen bereits voraus zu sein. Zumindest das Überlebenstraining wird<br />
bei mir sicher keine Wirkung mehr zeigen.<br />
So, nun bist du auf dem neuesten Stand. Damit will ich diesen Eintrag<br />
auch beenden, denn ich muss gleich zum Frühsport. Mein Stundenplan<br />
ist ziemlich voll. Aber ich werde versuchen von Zeit zu Zeit zuhause<br />
vorbeizusehen. Grüße Mom, von mir. Hab euch lieb.<br />
Shan.<br />
Unterricht<br />
Unterrichtsfach war die Erste Direktive – Theorie und Praxis. Es war<br />
einer der Grundkurse, die alle Kadetten belegen mussten, und er<br />
beinhaltete zahlreiche Fallstudien und Szenarios, die oft zu lebhaften, ja
sogar verbitterten Debatten zwischen den Studenten führten. Die Erste<br />
Direktive war das erste Gesetz von Starfleet. Sie besagte, dass eine<br />
Einmischung in die Angelegenheiten und die Entwicklung anderer<br />
Planeten und Zivilisationen verboten war. Und sie war das Fundament,<br />
auf dem alle anderen Aspekte der Erforschung des Weltraums aufbauten.<br />
Und es war Shans erster Kurs.<br />
Als sie das Auditorium betrat, herrschte ein allgemeines<br />
Stimmengewirr. Die Kadetten unterhielten sich angeregt miteinander.<br />
Shan machte auf ihren Gesichtern alle möglichen Regungen aus, von<br />
äußerster Nervosität bis zu absolutem Selbstvertrauen. Der Hörsaal fiel<br />
nach unten ab, und auf beiden Seiten führten Treppen zum Dozentenpult.<br />
Viele der Plätze weiter oben waren bereits besetzt; die Studenten<br />
befolgten den uralten Brauch, so weit wie möglich von dem Dozenten<br />
entfernt zu sitzen. Dort, so hofften sie, würde er sie nicht sehen können.<br />
Diese Strategie ging nie auf, was die Studenten aber nicht daran hinderte,<br />
es auch weiterhin zu versuchen. Daher musste Shan eine beträchtliche<br />
Strecke zurücklegen, bis er zu einer Reihe gelangte, in der noch ein<br />
Sitzplatz frei war. Und als sie an den Reihen der Studenten vorbeiging,<br />
stellte sie unwillkürlich fest, dass deren Gespräche abrupt verstummten...<br />
...und sofort von einem leisen Flüstern ersetzt wurden. Shan warf<br />
ihnen keinen einzigen Blick zu, wusste jedoch, dass sie über die<br />
Schlägerei sprachen.<br />
„Das ist Faustschlag-Shan.“, hörte sie unter anderem aus dem<br />
Getuschel heraus.<br />
„Hab sie mir größer vorgestellt.“<br />
„Das dachte ich über ihren Vater auch.“<br />
„Schau mal, wie grimmig die schon guckt.“<br />
Schließlich konnte sie der Versuchung nicht mehr widerstehen und sah<br />
zu ihnen hinüber, und, ja, sie warfen ihr in der Tat verstohlene Blicke zu.<br />
Es war eine dieser Situationen, in denen die Leute unbedingt hinsehen,<br />
aber nicht dabei ertappt werden wollen. Daher bemühten sie sich,<br />
feinfühlig vorzugehen, benahmen sich dabei aber höchst auffällig. Sie<br />
ging weiter. Zufällig entdeckte sie Sortak, der in der Mitte der dritten<br />
Reihe von vorn saß. Die anderen, Tala, Yoko, Galak, Wotan, Grau und<br />
Durkin waren auch dort. Als Sortak sie bemerkte, bedeutete er Shan, zu<br />
ihm zu kommen und sich neben ihn zu setzen. Er hatte ihr einen Platz
freigehalten. Shan war sehr froh, dass sie ihn hatte. Wenigstens einer, auf<br />
den sie sich verlassen konnte. Sie nahm neben ihm platz.<br />
„Alle reden über mich.“, flüsterte sie ihm zu.<br />
Sortak zuckte mit den Schultern. „Na und? Lass sie doch denken, was<br />
sie wollen.“<br />
Er schnaubte, wie er es immer tat und schlug Shan liebevoll auf die<br />
Schulter. Sie fühlte sich schon viel besser. Dann hörte sie Galak neben<br />
sich murmeln: „Schätze in der Akademie sind Frauen die sich schlagen,<br />
eher selten. Das ist auch nicht besonders feminin.“<br />
„Ich bin sehr feminin und ich verprügle jeden, der etwas anderes<br />
behauptet!“<br />
Galak wollte etwas erwidern, kam aber nicht mehr dazu. Die Tür auf<br />
der gegenüberliegenden Seite des Hörsaals wurde geöffnet und einer der<br />
Lehrer kam herein. Er war Vulkanier, dunkelhäutig, mit kantigen<br />
Gesichtszügen und strengem Blick. Das war Commander Tuvok, und<br />
sein Ruf war legendär. Tuvok hatte als Sicherheitschef zu Janeways<br />
berühmter Voyager Besatzung gehört, jener Crew, die sieben Jahre lang<br />
im Delta-Quadranten gestrandet war. Auch so lange Zeit nach ihrer<br />
Rückkehr, war die Popularität dieser Besatzung kein bisschen gesunken.<br />
Tuvok ging zum Pult, drehte sich um und betrachtete die Studenten mit<br />
einem so durchdringenden Blick, daß er damit einen Deflektorschild<br />
hätte zusammenbrechen lassen können. Das leise Flüstern war<br />
augenblicklich verstummt. Das einzige Geräusch, das man nun im<br />
Hörsaal vernehmen konnte, war nervöses Schlucken. Shan blieb jedoch<br />
teilnahmslos sitzen. Tief in ihrem Inneren war sie bereits überzeugt, dass<br />
sie es nicht durch die Akademie schaffen würde. Zu viele Faktoren<br />
sprachen dagegen. Das bedeutete nicht, dass sie nicht ihr Bestes geben<br />
würde. Schließlich gab eine Shan Bartez nicht von selbst auf, das hatte<br />
sie auf Frigoria bewiesen. Andererseits würde es sie kaum überraschen,<br />
wenn die Sternenflotte letztlich zum Schluss kam, noch nicht bereit für<br />
die Tochter vom Matthew Bartez zu sein. Und sollte sie wirklich<br />
scheitern, würde sie diesen Umstand einfach akzeptieren, vielleicht sogar<br />
begrüßen.<br />
Commander Tuvok hatte einen elektronischen Datenblock vor sich<br />
liegen, auf dem die Namen der Studenten verzeichnet waren. „In all<br />
meinen Kursen für das erste Semester“, verkündete Tuvok, „richte ich zu
diesem Zeitpunkt die folgenden Worte an meine Studenten: Wenn eine<br />
Reise endet, beginnt automatisch eine neue. Dies trifft auf das Leben im<br />
Allgemeinen und auch auf die Sternenflottenakademie im Speziellen zu.<br />
Die erste Hürde genommen, die Wende geschafft, werden automatisch<br />
die nächsten Herausforderungen auf Sie warten. Dem UMUK-Prinzip<br />
folgend höchstwahrscheinlich Schwieriger als die vorige und<br />
möglicherweise mit einem Scheitern verbunden. Sollten Sie während<br />
Ihres Studiums entmutigt sein, vergessen Sie niemals, den Weg, den Sie<br />
bereits hinter sich gebracht, die Hürden, die Sie bereits erklommen<br />
haben, um hierhin, in die Hallen der Sternenflotte und umgeben von den<br />
Besten der Besten zu gelangen. Vergessen Sie nicht die Freuden, die Sie<br />
gesehen, und auch nicht die Erfahrungen, die Sie gemacht haben.<br />
Erinnern Sie sich an all die guten Dinge. Zweifeln Sie niemals an sich<br />
selbst. Und wenn Sie einmal am Boden liegen – und das werden Sie<br />
zweifellos -, vertrauen Sie auf ihre Kameraden und denken Sie daran,<br />
dass Sie jederzeit wieder auf die Beine kommen und es erneut versuchen<br />
können, weil Sie hier sind, um Fehler zu machen und weil Sie aus diesen<br />
Fehlern lernen werden. Mehr, als wenn Sie bereits beim ersten Mal alles<br />
richtig machen würden. Niemand macht immer alles richtig. Nicht<br />
einmal Vulkanier.“<br />
Diesen Worten waren vereinzelt zögerliches Gelächter anzuhören,<br />
doch Tuvok schenkte dem keine Beachtung, oder zeigte es zumindest<br />
nicht. „Trotzdem geht das Leben immer weiter. Das ist die Lektion, die<br />
Sie hier lernen werden. Und das ist auch der Grund, warum Sie niemals<br />
aufgeben dürfen. Weder die Hoffnung, noch den Glauben an sich selbst<br />
und ganz besonders nicht ihre Träume und Ziele. Wenn Sie also vor<br />
einer Hürde stehen, dann denken Sie an ihre Vergangenheit, denken Sie<br />
daran, was Sie bereits geschafft haben und rufen Sie sich in Erinnerung,<br />
dass, wenn Sie diese Hürde nicht nehmen... es niemand anderer für Sie<br />
tun wird.“<br />
Er gab seinen Worten ein paar Sekunden, um die gewünschte Wirkung<br />
zu entfalten. Die bestand darin, dass die Kadetten schwiegen. Bei<br />
manchen sah er ein Nicken. Aber bei allen hatte er einen Punkt getroffen,<br />
hatte er irgendwas berührt. Bei allen... bis auf Durkin. Der zog die<br />
Brauen zusammen und fragte: „Was in Ghus Namen ist denn... UMUK?“<br />
Er hatte weder aufgezeigt, noch um Erlaubnis gebeten, frei sprechen
zu dürfen. Falls Tuvok verärgert war, zeigte er es nicht. Er wollte gerade<br />
Durkins Frage erläutern, als ein anderer Kadett dazwischen fuhr,<br />
ebenfalls, ohne aufzuzeigen. „Das ist eine irdische Definition, die Tuvok<br />
nutzte.“, erklärte Yoko.<br />
Tuvok sah ihn an. „Kadett, wie ist Ihr Name?“, verlangte er zu wissen.<br />
„Yoko.“<br />
„Kadett Yoko. Zwar ist der Inhalt ihrer knappen Ausführung so weit<br />
korrekt; aber nicht die Art, wie Sie ihn vorgetragen haben. Sie sprechen<br />
ihre Lehrer nicht einfach mit dem Namen an, sondern mit dem Rang,<br />
dem Studienposten, oder – wie beispielsweise in meinem Fall – mit<br />
einem >Mister< vor dem Namen. Ich bin ihr vorgesetzter Offizier. Ihr<br />
Lehrer. Sie werden mich daher als solchen ansprechen.“<br />
Yoko nickte. „In Ordnung... Solchen.“<br />
Im Auditorium erklang erneut Gelächter. Tuvok hob eine Braue. Die<br />
Kadetten hatten offensichtlich nichts dagegen, sich auf Yokos Kosten zu<br />
amüsieren. Tuvok hingegen konnte nur schwer glauben, dass ein<br />
Vulkanier absichtlich derart respektlos war und warf daher einen Blick<br />
auf den elektronischen Datenblock vor sich. Dort gab es tatsächlich<br />
einen Vermerk Kadett Yoko betreffend, der von einem der anderen<br />
Lehrer eingegeben und augenblicklich zu ähnlichen Geräten aller<br />
Kollegen an der Akademie weitergeleitet wurde. Dort hieß es, dass<br />
Kadett Yoko vor einiger Zeit eine Gedankenverschmelzung mit einem<br />
phylosianischen Beamten des öffentlichen Dienstes durchgeführt hatte,<br />
und seither noch immer an den Spätfolgen litt, die nur langsam<br />
abklangen. Tuvok wollte ihm das nicht zum Vorwurf machen. „Das<br />
Akronym UMUK“, sagte er. „geht auf einen vulkanischen Begriff<br />
zurück. Es ist für die meisten Nicht-Vulkanier eine günstige Methode, in<br />
ihrer Sprache das zusammenzufassen, was eigentlich eine Vorstellung<br />
ist, die vulkanische Philosophen seit Jahrhunderten diskutieren.“<br />
„Typisch.“, schnäubte Durkin geringschätzig. „Die Erdlinge müssen<br />
für alles eine griffige Abkürzung finden.“<br />
Tuvok musterte den Tellariten mit leichter Verblüffung, was sich an<br />
einer hochgezogenen Braue zeigte. „Würde dies stimmen, Kadett...“<br />
„Durkin.“<br />
„...Kadett Durkin, hätte sich die erste Direktive der Föderation nie<br />
entwickelt. Gäbe es eine leichtere Lösung für Probleme, als sich einfach
auf die überlegene Technik und Feuerkraft zu verlassen? Doch genau das<br />
verbietet die oberste Direktive streng, worauf ich in diesem Kurs auch zu<br />
sprechen kommen möch-“<br />
Durkin lachte. „Die oberste Direktive hat Ihrer Föderation mehr<br />
Kopfzerbrechen bereitet, als das gesamte romulanische Imperium. Gibt<br />
es denn eine einfache Lösung? Ja. Ich will Ihnen sagen, welche es gibt:<br />
Das Problem ignorieren. Ihm den Rücken zukehren. In dem man sagt,<br />
ich bin nicht in Not, also mische ich mich nicht ein. Das, mein<br />
vulkanischer Gefährte, ist die einfachste Methode mit irgendwas fertig<br />
zu werden. Man geht einfach.“<br />
„Falsch Kadett Durkin.“, sagte Tuvok. „Dies wäre in jedem Falle das<br />
schwierigste, was man tun kann. Es gibt noch eine andere<br />
Erdenphilosophie. Der sogenannte Quäker, beziehungsweise der<br />
Gesellschaft der Freunde. Ein Grundpfeiler des Glaubens ist, dass man,<br />
wenn man Zeuge eines Problems wird, helfen muss, es zu lösen. Wenn<br />
es um Einmischung oder Nichteinmischung geht, haben alle<br />
Philosophien individuelle Anforderungen.“<br />
Durkin nickte leicht. „Da haben Sie recht.“<br />
Shan fand Durkins Einstellung erstaunlich. Obwohl er sich ständig bis<br />
zur Unerträglichkeit aufplusterte, schien er doch ein äußerst interessierter<br />
Charakter zu sein, wenn es um Dinge ging, die zu seinem<br />
Interessensgebiet gehörten, etwa fremde Gesellschaftsformen und deren<br />
Entwicklung. Es war für alle eine Erleichterung – denn bis dato hat es so<br />
ausgesehen, als sei Durkin nichts weiter als ein Hindernis.<br />
„In Zukunft“, ermahnte Tuvok. „werden sie aber darauf warten, dass<br />
ich ihnen freies Sprechen gewähre.“<br />
Durkin und Yoko nickten. Die Kadetten begannen sich in dem Kurs<br />
wohl zu fühlen. Nun dachten sie Tuvok sei der nachsichtigste Mann der<br />
Welt. Und dann sagte er ohne jede weitere Einleitung: „Wenden wir uns<br />
nun dem Fall Eminiar VII zu.“<br />
„Kadett...“ Er warf einen Blick auf den Datenblock und pickte einen<br />
beliebigen Namen heraus. „Kadett Regonod.“<br />
Ausgerechnet Cera, dachte Shan. Sie beugte sich vor, um an Tala, die<br />
neben ihr saß, vorbeisehen zu können, und erblickte genau das, was sie<br />
befürchtet hatte: Cera blieb sitzen und sah Tuvok teilnahmslos an.<br />
„Kadett Regnonod.“, wiederholte Tuvok.
Cera reagierte immer noch nicht. Die Kadetten begannen zu tuscheln.<br />
Shan flüsterte: „Cera. Cera!“<br />
Die Pakled hörte sie beim dritten Mal und drehte den Kopf zu ihr.<br />
Shan gestikulierte, dass sie sich erheben sollte, doch Cera verstand nicht.<br />
Also machte es Shan kurzerhand vor, woraufhin nun auch Cera endlich,<br />
aber nicht ohne ein letztes Zögern aufstand.<br />
Tuvok hob eine Braue. „Ah. Schwestern, vermute ich.“<br />
Im Hörsaal erklang erneut Gelächter.<br />
Shan setzte sich, und Cera blieb glücklicherweise stehen.<br />
„Eminiar VII.“, wiederholte Tuvok.<br />
Cera sagte nichts.<br />
„Kadett Regonod.“, sagte Tuvok geduldig. „Wir warten. Würden Sie<br />
uns bitte etwas über Eminiar VII erzählen? Das war die Pflichtlektüre<br />
vor Beginn dieses Kurses. Haben Sie den Fall nachgelesen, Kadett?“<br />
Cera sah sich hilflos nach Shan um.<br />
„Angenommen, Sie befinden sich in einer Situation“, sagte Tuvok am<br />
Rednerpult. „in der es um Leben und Tod geht, Kadett, und brauchen<br />
einen Sternenflotten-Präzedenzfall, der Ihnen helfen kann, eine<br />
Entscheidung zu treffen, was Sie tun müssen. Glauben Sie, Sie können<br />
das Geschehen dann zum Stillstand bringen, während Sie bei anderen<br />
Personen nach der richtigen Antwort fragen? Der Weltraum ist<br />
unerbittlich, Miss Regonod. Er erlaubt Ihnen keine Verschnaufpause. Sie<br />
müssen augenblicklich wissen, worum es geht, sonst kann es Sie oder<br />
ihrer Mannschaft das Leben kosten. Haben Sie das verstanden?“<br />
Cera nickte heftig. Sie schwitzte und Shan sah, dass ihre Hände<br />
zitterten. Sie hatte Angst im Rampenlicht. Den Blicken aller anderen<br />
ausgesetzt zu sein... So weit war sie einfach noch nicht. Shan verdeckte<br />
ihren Mund mit der Faust und tat so, als hätte sie sich verschluckt, wobei<br />
sie das Wort >Kirk< in einem Husten versteckte. Es war nicht viel, aber<br />
der kleine Anstoß genügte Cera.<br />
„Kirk.“, sagte sie plötzlich. „Er tat... er tat zu dem... zu dem Planeten<br />
fliegen tun. Zu Eminiar. Die Welt... die Welt befand sich im... im Krieg<br />
mit... mit der Nachbarwelt, ja.“<br />
Tuvok nickte anerkennend. „Und was geschah dann?“<br />
Cera sah sich wieder nach Shan um, aber natürlich erlöste Tuvok sie<br />
nicht. „Dann... dann...“, sagte Cera langsam. Sie hatte keine Ahnung und
war furchtbar nervös.<br />
Shan hielt das nicht mehr aus. Ohne groß darüber nachzudenken,<br />
sprang sie auf. „Captain Kirk und seine Mannschaft flogen auf einer<br />
diplomatischen Mission nach Eminiar VII. Eminiar war in einen<br />
computersimulierten Krieg mit der Nachbarwelt Vendikar verstrickt.<br />
Computergenerierte Todesfälle wurden durch den freiwilligen<br />
Selbstmord der Bürger, die zu Verlusten erklärt wurden, in echte<br />
Todesfälle umgewandelt.“<br />
„Ich habe nicht mit Ihnen gesprochen, Miss Bartez.“, sagte Tuvok. Der<br />
Fakt, dass er ihren Namen bereits kannte, ohne auf einen Datenblock zu<br />
sehen, oder bei ihr nachzufragen, behagte Shan nicht sonderlich, aber sie<br />
blieb äußerlich dennoch unbeeindruckt. „Nein, Sir.“, sagte sie. „Aber ich<br />
habe mit Ihnen gesprochen.“<br />
Mehrere Kadetten atmeten hörbar ein. Shans Antwort kam einer<br />
Aufsässigkeit gefährlich nahe, und nach dem Vorfall mit Finnegan,<br />
besaß sie keinen Ermessungsspielraum mehr, was Frechheiten anging.<br />
Aber sie hatte ihre Stimme so neutral, ja sogar so respektvoll gehalten,<br />
wie es ihr nur möglich gewesen war. „Frei nach dem sogenannten<br />
Quäker.“, fügte sie hinzu. „Der Philosophie der Freunde, und des >nicht<br />
Wegsehens
seine Mannschaft getötet wurde, zerstörte Captain Kirk die Computer<br />
von Eminiar VII und beendete damit den Krieg.“<br />
„Und damit hat er das richtige getan, nicht wahr?“<br />
„Ja, Sir.“<br />
„Das ist falsch.“<br />
Der Einwurf überraschte Shan. „Sir...?“<br />
„Überprüfen Sie den Vorfall, Misses Bartez.“, sagte Tuvok. „Eminiar<br />
versuchte die Enterprise zu warnen. Der Planet funkte Code Sieben-<br />
Zehn, was bedeutet, dass eine Kontaktaufnahme untersagt war. Captain<br />
Kirk jedoch handelte eigenmächtig, ignorierte die Warnung und flog<br />
Eminiar VII an – was ein klarer Verstoß gegen die Erste Direktive<br />
darstellt. Dieser Verstoß führte zur theoretischen Vernichtung seines<br />
Schiffes und seiner Mannschaft. Um das zu verhindern, zerstörte er die<br />
gesamte Lebensweise Eminiars... ein noch viel verheerender Bruch der<br />
Ersten Direktive. Hätten Sie auch so gehandelt?“<br />
Nun war es Shan, die sich nach Cera umsah, aber nicht hilfesuchend.<br />
„Ja, Sir.“<br />
Die Kadetten schüttelten vorwurfsvoll den Kopf, doch Tuvok nickte<br />
nur. „Das wäre die falsche Entscheidung gewesen.“<br />
„Die falsche Entscheidung?!“, wiederholte Shan. „Wie kann das die<br />
falsche Entscheidung gewesen sein? Er hatte keine Wahl, er musste in<br />
die Lebensweise Eminiars eingreifen, um seine Leute zu schützen,<br />
andernfalls wäre jeder an Bord der Enterprise in einem sinnlosen,<br />
virtuellen Krieg umgekommen. Kein Mensch kann guten Gewissens so<br />
etwas zulassen. Damit blieb ihm nur diese eine Wahl.“<br />
„Er hatte eine Wahl. Er hätte das System nicht anfliegen dürfen.“<br />
Tuvok richtete kurz einen Blick auf Cera. „Weil es ohne sein Eingreifen<br />
in eine alltägliche und nur von außen grausam erscheinende<br />
Vorgehensweise, keine Probleme gegeben hätte.“ Tuvok schwieg einen<br />
geraumen Augenblick. Dann sagte er: „Wenn Sie noch einmal ohne<br />
Aufforderung das Wort ergreifen, Miss Bartez, wird es sich in Ihren<br />
Noten bemerkbar machen. Setzen Sie sich.“<br />
Shan tat wie geheißen. Sie hatte die Botschaft verstanden.<br />
„Gehen wir das Eminiar VII-Szenario Schritt für Schritt durch.“, sagte<br />
Tuvok. „und stellen wir fest, wo man die mögliche Katastrophe noch<br />
hätte verhindern können. Kadett Kenny. Beginnen wir mit Ihnen...“
Keiner aus der Gruppe hatte es so richtig glauben können. Die<br />
Legende von Das Grau war schnell ins Riesenhafte gewachsen, nachdem<br />
es im Navigations-Grundkurs zum erstenmal den Mund geöffnet hatte.<br />
Die Dozentin war der Ansicht gewesen, Grau wäre eine leichte Beute für<br />
sie. Die anderen Studenten hatten starr vor Aufmerksamkeit auf ihren<br />
Plätzen gesessen und nur mit begrenztem Erfolg versucht, die<br />
Grundbegriffe der Astronavigation zu begreifen. Grau hatte den<br />
Eindruck erweckt, als wäre es ganz woanders. Es hatte in der zweiten<br />
Reihe gesessen, mal hierhin, mal dorthin geschaut, seine Finger geknetet<br />
und in ruckartigen Bewegungen mit dem Kopf gezuckt.<br />
Die Dozentin war sicher, dass Grau ihr nicht die geringste<br />
Aufmerksamkeit schenkte. Sie trug ein langes, kompliziertes Problem<br />
vor, und sämtliche Studenten griffen nach ihren Tricordern, um es in den<br />
Griff zu bekommen. Sie versuchten verzweifelt mitzuhalten, während die<br />
Dozentin eine Variable nach der anderen einwarf. Freie Neutrinos, ein<br />
Quasar, ein unerwartet auftretendes Wurmloch – eben alle möglichen im<br />
Weltall auftretenden Phänomene, die man berücksichtigen musste, wenn<br />
man einen Kurs ausarbeitete. Und während ihre Finger über die<br />
Tastaturen huschten, saß Grau einfach da und knetete weiterhin seine<br />
Finger, während es den Kopf hin und her warf, den Hals reckte und<br />
verdutzt zusah, was denn die anderen da bloß machten.<br />
„... und deshalb“, kam die Dozentin zum Ende, „müssen Sie Ihr Ziel in<br />
genau drei Tagen, neunzehn Stunden und zweiundvierzig Minuten<br />
erreichen. Mit welchem Warp-Faktor - bis auf die dritte Stelle hinter dem<br />
Komma - müssen Sie also fliegen... Grau!“ krähte sie triumphierend.<br />
Und wie aus der Pistole geschossen erwiderte Grau durch seinen neuen<br />
Translator: „Warp. Vier. Komma. Sieben.“<br />
Der Mund der Dozentin klaffte auf. Studenten, die ihre Tricorder<br />
benutzten, benötigten wenigstens weitere zehn Sekunden, um auf die<br />
Antwort zu kommen, die Grau gerade im Kopf errechnet hatte. Das<br />
Briori sah die Dozentin an, als bemerke es sie in diesem Augenblick zum<br />
erstenmal.
„Ich. Bitte. Um. Verzeihung.“ Übersetzte sein Übersetzter mit<br />
leichtem Bedauern. „Sie. Wollten. Dritte. Stelle. Hinter. Komma. Dann.<br />
Warp. Vier. Komma. Sieben. Drei. Sechs. Acht.“<br />
Die Dozentin nickte langsam und überprüfte erstaunt ihre eigene<br />
Berechnung. „Grau... wie in aller Welt haben Sie das nur gemacht?“<br />
Grau neigte den Kopf. Der Stimmprozessor leuchtete. „Was.<br />
Gemacht.“ fragte es durch den Translator und in seinen Augen spiegelte<br />
sich ehrliche Verwirrung.<br />
Die Gerüchte besagten, die Dozentin habe später, überzeugt davon,<br />
dass Grau geschummelt hatte, seine Akten studiert. Man hörte zufällig,<br />
wie sie einem Kollegen sagte: „Seit vor über einem Dutzend Jahren<br />
dieser Androide mit dem goldenen Gesicht hier studiert hat, bin ich von<br />
keinem mehr dermaßen aus der Fassung gebracht worden.“<br />
Seit diesem Vorfall waren zwei Tage verstrichen. Grau schien auch<br />
weiterhin nicht zu begreifen, wie lustig und einzigartig seine Leistung<br />
während dieser Vorlesung gewesen war. Sogar die Mitglieder seiner<br />
Studiengruppe brauchten eine Weile, um dahinter zu kommen, wie<br />
Graus Verstand funktionierte. Es gab zahlreiche Fächer, in denen Grau<br />
bestenfalls durchschnittlich war, obwohl es dem, was man allgemein ein<br />
Genie nannte, wohl noch am nächsten kam. Da es aber aus einer völlig<br />
anderen Welt stammte, hatte es nichts für tiefgehende philosophische<br />
Diskussionen übrig. Sein Volk kannte schlicht keine Moral. Körperlich<br />
war es nicht besonders beeindruckend, und die Kurse, in denen<br />
Selbstverteidigung gelehrt wurde, gerieten für es fast jedes mal zur<br />
Katastrophe. Es hatte Grundlegende Kenntnisse von Politikwesen, mehr<br />
aber auch nicht.<br />
Doch wenn es das Reich der Zahlen betrat, wäre die Behauptung, der<br />
Unterricht fiele Grau leicht, eine Untertreibung gewesen. Es fiel Grau<br />
sogar viel zu leicht. Graus neurotones Gehirn konnte mit einer<br />
Geschwindigkeit, die nicht einmal von den modernsten<br />
Biocomputerkernen erreicht wurde, Kurse festlegen, Berechnungen<br />
durchführen, Diagnosen erstellen und Schiffe steuern. Dabei verfügte es<br />
nicht einmal über menschliche Intuition, die ihm seine Aufgabe
erleichterte. Da ihm die Sache einfach so zufiel, widmete es dem<br />
Unterricht nie die volle Aufmerksamkeit oder Konzentration, sondern<br />
sah aufgeregt mal hierhin, dann wieder dorthin und verbrachte die Zeit<br />
damit, seine Mitschüler zu studieren.<br />
Wenn die Dozenten es in diesem Zustand sahen, hatten sie zuerst stets<br />
den Eindruck, dass es nichts von dem mitbekam, was sie den Schülern zu<br />
vermitteln versuchten. Dass es sogar sehr absichtlich, weil vollkommen<br />
offensichtlich, die Teilnahme am Unterricht verweigerte. Sie begriffen<br />
nicht, dass es genauso aufmerksam war, wie alle anderen Teilnehmer der<br />
Kurse, wenn nicht sogar noch aufmerksamer. Die Qualität und nicht die<br />
Quantität der Aufmerksamkeit stand zur Debatte. Und wenn es um<br />
Qualität ging, konnte niemand Grau das Wasser reichen.<br />
Nun flitzte es in der Bibliothek herum, rannte – wie üblich - mal<br />
hierhin und mal dorthin, während der Rest der Studiengruppe an einem<br />
langen Tisch zusammensaß und den Unterricht der vergangenen Tage<br />
durchging. Wenn es bei der Zusammenarbeit mit Grau eine<br />
Schwierigkeit gab, dann die, dass es nicht so einfach erklären konnte,<br />
wie es tat, was es tat. Zum einen, weil ihm die verbale Kommunikation<br />
noch immer schwer fiel und es sich nicht richtig ausdrücken konnte,<br />
weshalb es lieber wenig, bis gar nichts sagte. Es tat es einfach und hatte<br />
keine große Erfahrung darin, sein Vorgehen zu analysieren. Und zum<br />
anderen, weil es auch viel zu unruhig war und ständig irgendwo in der<br />
Gegend herumflitzte. Der Metabolismus eines Briori arbeitete fast<br />
zweimal so schnell wie der menschliche, was Grau schnellere Reflexe<br />
und eine höhere geistige Gewandtheit gab. Er passte sich rasch<br />
entwickelnden Situationen mit einer übernatürlichen Schnelligkeit an,<br />
die ihn auch sonst auszeichnete. Nach menschlichen Maßstäben erschien<br />
es deswegen hyperaktiv und ruhelos. Nach briori Maßstäben erschienen<br />
die Menschen schwerfällig und geistig träge. Es war, als hätte man eine<br />
Spieluhr zu stark aufgezogen und nun spielte sie in dreifacher<br />
Geschwindigkeit.<br />
Irgendwann war Durkin so genervt von Graus hyperaktivem hin- und<br />
hergerenne gewesen, dass er, als Grau das nächste mal an ihm vorbei
kam, den Briori gepackt, geschüttelt und anschließend wie einen<br />
Waschlappen ausgewrungen hatte. Alle Kadetten waren geschockt<br />
aufgesprungen und hatten geschrieen, dass Durkin ihn umbringen würde,<br />
und hatten sofort versucht die beiden auseinander zu bringen. Aber Grau<br />
hatte die recht arglose Behandlung Durkins nicht viel ausgemacht. Es<br />
besaß keine Knochen, die man hätte brechen können. Es besaß auch<br />
keine inneren Organe, die man hätte zerstören können. Es war so<br />
elastisch, wie Gummi und genauso hatte Grau sich auch biegen lassen.<br />
So hatte Durkin ihn nach einer Weile mit einem frustrierten Geheule<br />
herabgelassen und seither flitzte der Briori wieder durch die Gegend, als<br />
sei nichts passiert -sehr zum Verdruss des Tellariten. Durkin hatte darauf<br />
den Kopf auf die Hand gestemmt und trommelte mit den dicken Fingern<br />
seiner anderen Pranke auf dem Tisch herum, während sich über ihm eine<br />
düstere Gewitterwolke zusammengezogen hatte.<br />
Inzwischen war sein Frust aber wieder etwas verraucht, vermutlich,<br />
weil er zu erschöpft war, um sich weiterhin zu ärgern. Sie alle saßen nun<br />
schon seit geschlagenen vier Stunden über ihre Bücher gebeugt.<br />
Schließlich lehnte Shan sich zurück und deaktivierte den Datenblock.<br />
„Mein Schädel steht kurz vor der Explosion.“<br />
„Das ist unmöglich, Liebes.“, entgegnete Wotan, noch immer seinen<br />
medizinischen Text studierend. „Die biochemischen Reaktion in deiner<br />
Großhirnhälfte sind gar nicht dazu in der Lage eine Kaskadenexplosion<br />
der Synapsen zu...“<br />
Er bemerkte, wie Durkin, Tala und Galak ihn anstarrten. Shan, die sich<br />
längst an Wotans Schrulligkeiten gewöhnt hatte, legte lediglich den Kopf<br />
in den Nacken, presste die schmerzenden Augen zusammen und<br />
massierte ihre Schläfen.<br />
„Andererseits...“, deaktivierte nun auch Wotan seinen Datenblock. „ist<br />
eine Pause vielleicht eine recht gute Idee, um auf neue Gedanken zu<br />
kommen.“<br />
„Also ich für meinen Teil“, bemerkte Yoko „komme sehr gut voran.“<br />
„So?“ Tala schielte auf seinen Datenblock. „Da steht nichts, außer<br />
>Inhalt folgt später
Tala sah ihn verwirrt an. „Den Text optimieren?“, fragte sie. „Dang!<br />
Du musst erst mal einen Text schreiben, ehe du ihn optimieren kannst!<br />
Warum machst du das nicht jetzt?“<br />
„Ich muss erst den Kopf freibekommen.“<br />
Tala wollte zu einem spitzen Kommentar ansetzen, aber Wotan hielt<br />
sie mit einem strengen Blick davon ab. „Sag... nichts.“<br />
„Aber...“<br />
„Bitte. Schluck es einfach runter.“<br />
Die Andorianerin starrte dem Tiger in die Augen. Schließlich murrte<br />
Tala zwar, fügte sich aber „Kay...“ Sie verschränkte die Hände vor der<br />
Brust und schüttelte beleidigt den Kopf. „Kein Wunder, dass deine<br />
Spezies den Krieg verloren hat.“<br />
„Krieg?“ Wotan konnte ihr nicht ganz folgen. „Wir... Tiger haben nie<br />
einen Krieg geführt.”<br />
„Yeah, große Überraschung.“<br />
Shan deutete auf ihren Datenblock. „Warum müssen wir hier diesen<br />
Kram überhaupt lernen? Ich meine... temporale Mechanik? So ein<br />
Blödsinn. Als ob jeder Sternenflottenoffizier früher oder später in seiner<br />
Karriere eine Zeitreise machen würde. Hab ich jedenfalls nicht vor, wenn<br />
ihr mich fragt.“<br />
Yoko überlegte. „Ein Billardspiel, wie mir einige Kadetten heute<br />
morgen vorschlugen, wäre eine gute Idee, um sich abzulenken, was<br />
meint ihr? Um auf andere Gedanken zu kommen. Das erhöht die Reflexe<br />
und reinigt den Geist. Eine solche Aktivität erscheint mir logisch.“ Er<br />
kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Wer von euch möchte uns<br />
begleiten? Wir brauchen noch mindestens einen Mitspieler.“<br />
Tala betrachtete ihn mit gehobenen Brauen. „Damit ihr zwei seid?“<br />
Yoko schien ihren Kommentar überhört zu haben. „Wir könnten sonst<br />
auch etwas essen gehen.“<br />
Durkin schlug mit seiner haarigen Pranke auf den Tisch und bellte:<br />
„Eine hervorragende Idee!“ Er stand auf, drehte sich auf der Stelle um,<br />
und verließ ohne ein weiteres Wort die Bibliothek Richtung Mensa.<br />
Yoko mitzunehmen hatte er dabei ganz vergessen.<br />
Wotan sah dem Tellraiten erstaunt hinterher. „Das war plötzlich.“
„Typisch.“, sagte Tala, die wieder ihren Text durchlas. „Tellariten sind<br />
eine launige Spezies. Leider schwanken ihre Launen nur zwischen<br />
absoluter Hochstimmung und bodenloser Empörung.“<br />
„Sei nett zu ihm.“, sagte Wotan zu ihr.<br />
Tala sah ihn an und hob eine Braue hoch. „Das sollte wohl ein Scherz<br />
sein, nicht wahr?“<br />
„Nein.“<br />
„Dang! Ich werde ganz sicher nicht zu einem Tellariten nett sein.“,<br />
erwiderte Tala und packte ihrerseits ihre Sachen wieder zusammen. „Da<br />
wäre ich auch die erste.“<br />
„Worin liegt eigentlich diese Feindschaft zwischen euren Völkern<br />
begründet?“, wollte Wotan wissen.<br />
„Kann ich dir sagen. Nach unserem Erstkontakt mit denen wollten wir<br />
die Hand der Freundschaft reichen und unsere Delegierten zeigten ihnen<br />
unsere heiligen Schriften von colAndor.... die sie dann nicht<br />
zurückgeben wollten.“<br />
„Ernsthaft?“<br />
Tala schwang ihre Tasche um die Schulter. „Ernsthaft.“<br />
„Nun...“, beteiligte sich Yoko an der Diskussion. „Es ist bekannt, dass<br />
Tellariten nahezu jede Situation nutzen, um Debatten zu erzeugen.<br />
Vielleicht wollten sie nur genau das tun: ein Streitgespräch entfachen,<br />
und die andorianische Delegation verstand ihre Intention falsch.“<br />
„Und das von einem, der einen Tellariten kaum von einem Tellurier<br />
unterscheiden kann.“, murmelte Tala. Sie befand sich bereits auf dem<br />
Weg zur Tür und drehte sich noch einmal um. „Oh, und der wichtigste<br />
Grund, sie zu hassen: sie stinken!“<br />
„Gehst du heute noch weg?“, rief Galak, der ihr Zimmergenosse war,<br />
und sich rein gar nicht für das Thema interessierte, ihr hinterher: „Ich<br />
werde noch bis zwanzig Uhr achtundvierzig Lernen, dann meinen<br />
Schönheitsschlaf halten und die Tür von einundzwanzig Uhr bis<br />
einundzwanzig Uhr dreißig verriegeln. Und ich möchte nicht gestört<br />
werden.“<br />
„Du hast dein Leben aber wirklich bis ins kleinste Detail geplant,<br />
was?“, sagte Shan. „Das ist ziemlich erstaunlich.“<br />
Galak hob beleidigt die Nase. „Für mich ist erstaunlich, dass jemand<br />
sein oder ihr Leben nicht bis ins kleinste Detail plant.“
„Mach dir keine Sorgen“, rief Tala. „Ich werde dich nicht stören. Habe<br />
selbst was vor nachher und es wird spät.“<br />
Shan riet laut: „Der dunkelhaarige Bajoraner, mit dem ich dich gestern<br />
gesehen habe?“<br />
Tala steckte ihren Kopf noch einmal durch die Tür und grinste. „Die<br />
haben nicht nur auf der Nase Riffel, musst du wissen.“<br />
Das entlockte Shan ein unsicheres Lachen. So genau hatte sie es<br />
eigentlich gar nicht wissen wollen. „Seid ihr... ahm... zusammen?“<br />
„Ne, ist nur Sex. Bin gegenwärtig an keiner langfristigen Beziehung<br />
interessiert.“<br />
Galak richtete sich plötzlich steif auf, sagte aber nichts.<br />
„Und ich will ja den Schönheitsschlaf unseres Prinzen nicht stören.“,<br />
fügte Tala hinzu. Und dann war sie in der Tür verschwunden.<br />
Zurück blieben Wotan, Galak, Yoko und der irgendwo in der Gegend<br />
herumwuselnde Grau. Eigentlich war auch Cera noch anwesend,<br />
zumindest körperlich, doch sie saß nicht bei der Studiengruppe. Seit dem<br />
Vorfall in Tuvoks Kurs, saß sie selten bei ihnen und wenn sie es tat, dann<br />
sagte sie kein Wort. Es war nicht so, dass sie nicht mehr interessiert<br />
daran wäre, mit ihnen zusammenzusein, wie Shan zunächst befürchtet<br />
hatte. So war es tatsächlich nicht. Cera lächelte in ihrer typischen<br />
Unsicherheit, sobald sie jemanden von den anderen sah und dann zog sie<br />
sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück. Das war alles, was geschah.<br />
Sie sagte nichts, sie unternahm nichts. Sie war einfach da. Still wie ein<br />
Mauerblümchen und Schüchtern wie eine tarkanianische Wüstenmaus.<br />
Und wann immer Shan sie antraf, war sie über einen Computermonitor<br />
gebeugt und starrte auf verschiedene Texte. Sie las auf dieselbe Art, wie<br />
sie alles andere machte: behäbig und etwas blöde. Tatsächlich war es so,<br />
dass, wenn sie las, sie niemanden sonst zu bemerken schien. Shan hatte<br />
scherzhaft zu Sortak gesagt, dass sie ihre Kleider abstreifen und es wie<br />
die Karnickel treiben könnten, Cera würde es so lange nicht bemerken,<br />
wie sie einen ihrer Texte vor sich hatte.<br />
Nun überlegte Shan, ob sie zu Cera herübergehen und mit ihr reden<br />
sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie war müde und nicht<br />
besonders geduldig heute. Es war vermutlich besser, Cera in diesem<br />
Zustand nicht zu einem Gespräch zu bewegen. Also packte auch sie ihre<br />
Sachen, fing den Blick von Wotan auf und deutete mit einer leichten
Neigung des Kopfes zu Cera herüber. Sie flüsterte: „Bleibst du noch ein<br />
bisschen und passt auf?“<br />
Wotan legte die Stirn kraus, doch dann verstand er. Finnegan sollte<br />
bald aus der Intensivstation entlassen werden und nach Shans<br />
Einschätzung gehört er nicht zu den Menschen, die leicht aufgaben. Ihre<br />
Instinkte sagten ihr, dass es früher oder später Ärger geben könnte, auch<br />
wenn sie das nicht hoffte.<br />
„Aber natürlich.“, sagte Wotan sanft. „Mach dir keine Gedanken, ich<br />
passe schon auf.“<br />
„Okay, gut. Ich habe nämlich auch noch was vor.“<br />
„Und was?“<br />
Shan lächelte. „Eine Verabredung mit der Vergangenheit.“<br />
Sturak betrachtete den Urgon von allen Seiten und schüttelte voller<br />
Erstaunen den Kopf. „Bemerkenswert.“, sagte er nun schon zum dritten<br />
Mal. „Einfach bemerkenswert.“<br />
Für Shan war sein Erstaunen absolut verständlich, da sie den Urgon<br />
selbst ganz beachtlich fand. Und irgendwie war er die Strapazen, die sie<br />
hatte durchmachen müssen, um ihn in die Finger zu bekommen, absolut<br />
wert gewesen. Nun hatte sie endlich Zeit gefunden, den Urgon zu Sturak<br />
ins Labor zu bringen und obwohl der Vulkanier dem Anschein nach<br />
allerhand zu tun hatte, lies er sich genügend Zeit den Urgon sorgfältig<br />
von allen Seiten zu begutachten und machte sich anschließend einige<br />
Notizen in seinen wissenschaftlichen Tricorder.<br />
„Und?“, fragte Shan ungeduldig. „Denkst du, etwas mehr über den<br />
Urgon herausfinden zu können? Wie lange wird es dauern?“<br />
Sturak lachte. „Immer mit der Ruhe, Shan. Wir haben es mit einem<br />
sehr, sehr alten Relikt zu tun. Das müssen wir umsichtig handhaben. Die<br />
Dauer einer wissenschaftlichen Untersuchung lässt sich nie auf einen<br />
festen Zeitraum einschränken. Wir studieren, forschen und testen, bis wir<br />
die Antworten haben, die wir suchen, ganz gleich, wie lange es dauern<br />
mag.“<br />
„Geduld ist nicht unbedingt meine Stärke.“, seufzte Shan.
„Die wirst du noch erlernen.“ Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch<br />
und deutete auf die zahlreichen Kisten, die überall im Labor<br />
herumstanden. Es sah aus, wie bei einem Wohnungsumzug. „Da ich eine<br />
Menge anderer Objekte zur Untersuchung von der vulkanischen<br />
Wissenschaftsakademie geschickt bekommen habe, wird deine Geduld<br />
gleich einer ersten Prüfung unterzogen.“<br />
„Eh.“, machte Shan und wirkte enttäuscht. „Wird also lange dauern,<br />
nicht wahr?“<br />
„So ist es.“, bestätigte Sturak und wog den Urgon erneut in seinen<br />
Händen. „Aber ich widme mich dem diesem kleinen Prachtstück, sobald<br />
ich dafür Zeit habe.“ Er bedeutete Shan ihm zu folgen und ging rüber ins<br />
Hauptlabor. Auch dort standen unzählige Kisten durcheinander auf dem<br />
Boden verteilt und immer mal wieder kamen Lieferanten vorbei, um<br />
neue Behälter hereinzubringen. Andere Wissenschaftler waren nicht<br />
zugegen. Die archäologische Abteilung der Akademie war zum<br />
gegenwärtigen Zeitpunkt stark unterbesetzt, wie Sturak ihr gestanden<br />
hatte.<br />
Über ein breites Panoramafenster konnte man in die Haupthalle<br />
hinabsehen, in der die wirkliche wissenschaftliche Arbeit vollbracht<br />
wurde. Shan entdeckte ein halbes Dutzend Forscher, die zwischen<br />
komplizierten Geräten umhereilten und fragwürdige Experimente<br />
durchführten. Sturak trat an dem Fenster vorbei und sagte mit Blick auf<br />
den Urgon: „Vielleicht ist das hier ein wichtiger wissenschaftlicher<br />
Durchbruch. Ich bin sicher, nicht wenige Wissenschaftler werden sehr<br />
neugierig auf deine Entdeckung sein.“<br />
„Wirklich?“<br />
„Wirklich.“<br />
Er stellte den Urgon in ein Regal hinter ein Sicherheitskraftfeld und<br />
machte eine Notiz für die Kollegen. „Weißt du“, sagte er gedehnt.<br />
„Hinter diesen Relikten steckt oft mehr, als es zunächst den Anschein<br />
hat. Wir können nie genau wissen, welche Wunder sie uns offenbaren<br />
und welche Geheimnisse sie uns verraten werden.“ Seine Stimme bekam<br />
einen merkwürdig unheimlichen Ton und seine Mine wurde erstaunlich<br />
ernst. „Oder welches Unheil und Verderben sie heraufbeschwören<br />
mögen.“
Shan starrte ihn an. Wollte er sie etwa erschrecken? Und dann<br />
klatschte er in die Hände, um einen Themenwechsel zu signalisieren.<br />
„So.“, sagte er. „Ich habe gehört, du terrorisierst Mister Tuvoks Klasse.“<br />
„Meine Meinung zu äußern ist keine terroristische Aktion.“<br />
„Genauso, wie du deine Meinung zu Kadett Finnegan geäußert hast?<br />
Nebenbei bemerkt: Seine Kieferoperation verlief ausgezeichnet – falls<br />
dich das interessiert.“<br />
Shan grinste schief. „Da sind bestimmt auch Stellen an seinem Körper,<br />
die nicht so schnell heilen würden...“<br />
„Ach Shan...“<br />
In dem Moment trat Sortak durch die Tür.<br />
Sturaks Stimme wurde augenblicklich kälter. „Sortak.“, sagte er.<br />
„Vater.“, erwiderte Sortak genauso kühl. „Hi Shan.“<br />
„Hey.“, sie winkte ihm knapp zu, was Sturak veranlasste, sie zu<br />
fragen: „Ist er wegen dir hier?“<br />
Sie zuckte mit den Schultern. „Nein.“<br />
Also fragte Sturak Sortak: „Was machst du hier?“<br />
„Nun... ich hörte, du suchst einen Laborassistenten.“<br />
„Was machst du dann hier?“<br />
„Ich wollte mich freiwillig dazu melden, um... um...“ Sortak zögerte.<br />
Er schien nicht so recht über seinen Schatten springen zu können. Oder<br />
zu wollen. Dann jedoch seufzte er. „Um die Dinge zwischen uns zu<br />
klären. Wir haben einiges zu bereden und das hier ist vielleicht die beste<br />
Möglichkeit etwas Zeit miteinander zu verbringen.“ Er zog die Schultern<br />
hoch. „Hör zu, ich... es tut mir leid, okay? Es tut mir leid, was ich im<br />
Turbolift zu dir sagte. Das war nicht richtig. Und ich möchte mich<br />
entschuldigen.“<br />
Sturak hob eine Braue. Shan befürchtete schon das schlimmste, lies die<br />
angehaltene Luft aber mit einem kaum hörbaren „Puh“ entweichen, als<br />
Sturak sich leicht verneigte. „Ich nehme die Entschuldigung an.“<br />
„Danke, Vater.“<br />
„Deine Dienste als Laborassistent werden jedoch nicht nötig. Ich habe<br />
mich bereits gründlich nach Hilfe umgesehen und bin auf einen<br />
zuverlässigen jungen Mann gestoßen, der mir... ah, da ist er ja.“
Das >ah, da ist er ja< war eine Reaktion auf Galak Arsamandis<br />
eintreffen. Er hatte einige Datenblöcke dabei, vermutlich um<br />
Bestandsaufnahmen zu machen.<br />
„Der?“, wollte Sortak wissen. „Der soll dein Assistent sein?“ Er<br />
konnte es nicht fassen. „Du machst Witze, oder?“<br />
„Nein.“, beantwortete Sturak die Frage. Er war völlig ruhig. „Mister<br />
Arsamandi hat sich als erstes gemeldet, Sortak.“<br />
„Dann melde ihn ab. Du bist der Abteilungsleiter. Du hast jedes Recht<br />
dir einen anderen Helfer zu suchen.“<br />
„Das kann ich nicht, und das will ich nicht.“<br />
„Du ziehst diesen Schnösel deinem eigenen Sohn vor?“<br />
Nun neigte Sturak den Kopf. „Ich wusste nicht, dass ich einen Sohn<br />
habe.“<br />
Das traf Sortak. Das traf ihn mehr, als alles andere. Einen Augenblick<br />
stand er nur da, starrte Sturak an. Shan konnte nicht einmal raten, was in<br />
diesem Moment in ihm vorging. Am ehesten kam es noch einem<br />
Machtkampf zwischen seinen stärksten Emotionen – Hass und<br />
Enttäuschung – nahe. Dann drehte er sich auf dem Absatz herum und<br />
marschierte zur Tür hinaus. Nicht jedoch, ohne Galak den finstersten<br />
aller Blicke entgegenzufeuern. Dann war er hinaus. Sturak war plötzlich<br />
auch mieser Laune – über sich selbst, wie Shan vermutete. Er knurrte<br />
und ging zurück in sein Büro. Shan hörte die Tür zugleiten.<br />
Galak blickte zunächst Sortak, dann Sturak verwirrt hinterher. Er<br />
schien nicht so ganz zu begreifen, was da gerade passiert war. Aber er<br />
konnte sich glücklich schätzen, dass er überhaupt noch lebte. Noch<br />
jedenfalls. Denn so wie Shan Sortak kannte, würde er das nicht auf sich<br />
beruhen lassen.<br />
„Warum machst du das, Galak?“, zischte Shan möglichst leise, damit<br />
Sturak sie nicht hörte.<br />
„Warum mache ich was?“<br />
„Warum bist du hier?“<br />
Er schien verwirrt. „Um Kontakte zu knüpfen.“<br />
„Um dich einzuschleimen.“<br />
„Um... Kontakte zu knüpfen. Nur so kommt man im Leben weiter,<br />
Shan. Das ist der einzige Grund, warum ich auf dieser Akademie bin!“
Sie hob die Hände und verkrampfte die Finger, ganz so, als ob sie<br />
jemand unsichtbaren würgen würde. „Du bist so... so... so...“<br />
„Charmant?“, half er ihr auf die Sprünge. „Anziehend?“<br />
„Unwillkommen!“<br />
„Du wolltest unwiderstehlich sagen, nicht wahr?“<br />
„Arggh!“ Sie verkrampfte noch einmal die Finger, rollte gleichzeitig<br />
die Augen und trat dann kopfschüttelnd an Galak vorbei, hinaus auf den<br />
Korridor. Sie verschwand um die Ecke und Galak murmelte: „Menschen.<br />
Können einfach keine Komplimente machen...“<br />
Mensa<br />
Als Shan am nächsten Tag mit einem Tablett und ihrem Mittagessen<br />
durch die Mensa ging, gehörte sie zu den ganz wenigen, deren Teller<br />
tatsächlich gefüllt waren. In der Tat musste sie feststellen, dass die<br />
Mensa erstaunlich leer war. Üblicherweise musste man sich durch ein<br />
ziemliches Gedränge kämpfen, doch heute fehlte mindestens die Hälfte<br />
der Kadetten, und die Anwesenden waren allesamt recht Blass um die<br />
Nase herum.<br />
Shan führte das auf den Pflichtkurs zurück, an dem sie heute morgen<br />
teilgenommen hatten. >Galaktische Etikette< hieß er und musste von<br />
jedem einzelnen belegt werden. Nicht nur von den Diplomaten, sondern<br />
auch von denen, die sich in der Technik, der Sicherheit und sogar der<br />
Navigation eingeschrieben hatten. Was sich anhörte wie eine pikierte<br />
Veranstaltung mit feinem Essen und netter Gesellschaft, hatte sich für<br />
die meisten Kadetten also totale Katastrophe entpuppt. Man hatte ihnen<br />
frische Rohrmaden von Ferenginar und klingonisches Gagh vorgesetzt –<br />
lebendige Aale, die man am besten schnell verspeiste, ehe sie vom Teller<br />
glitschen konnten. Die Aufgabe der Kadetten war es gewesen, die<br />
dargebotenen Mahlzeiten zu essen, um auf Situationen vorbereitet zu<br />
werden, in denen sie den Anstand bewahren mussten, und ihre Gastgeber<br />
unter keinen Umständen beleidigen durften – selbst, wenn sie dafür<br />
gezwungen waren, etwas zu verzehren, das man nicht anders, als
widerlich und ekelerregend bezeichnen konnte. Niemand war begeistert<br />
gewesen. Die Kadetten hatten das Gewürm auf ihren Tellern mit<br />
äußerster Abscheu betrachtet, und manche hatten sich bereits übergeben,<br />
noch bevor sie überhaupt etwas davon in den Mund genommen hatten.<br />
Es war eine fürchterliche Kotzerei gewesen und nur zwei Kadetten hatte<br />
es nichts ausgemacht.<br />
Shan war eine davon. Sie war zwar weder vom Anblick, noch vom<br />
Geschmack des sich windenden Essens sonderlich begeistert gewesen,<br />
aber im Vergleich zu den Maden, die sie auf Frigoria hatte essen müssen,<br />
hatten sich die Rohrmaden und das Gagh als geradezu als kulinarische<br />
Delikatessen erwiesen. Die anderen Kadetten hatten sie nur fassungslos<br />
angestarrt und nicht begreifen können, wie jemand derart Mühelos ein<br />
solches Zeugs runterschlucken konnte. Da die Welt der Gerüchte ihren<br />
eigenen physikalischen Gesetzen gehorchte, waren recht schnell<br />
allerhand Gerüchte über ihre Nahrungsvorlieben auf dem ganzen<br />
Campus im Umlauf und deswegen war Shan beim Essen neuerdings<br />
nicht gerade eine gerngesehene Kameradin. Wo gestern noch jemand<br />
aufgestanden war und gerufen hatte „Komm her, Shan, setz dich zu<br />
uns.“, lies man sie heute in Ruhe.<br />
Der andere Kadett, der das Zeug problemlos verputzt hatte, war<br />
Durkin gewesen. Er hatte sich die feuchten Lippen mit seiner borstigen<br />
Zunge abgeleckt, sich den Bauch gerieben, und es kaum erwarten<br />
können, endlich etwas anständiges serviert zu bekommen, denn diese Art<br />
Mahlzeiten gehörte auf seiner Heimatwelt zum Alltag. Die Replikatoren<br />
erzeugten seine Nahrung zwar zufriedenstellend, aber der Geschmack<br />
stimmte einfach nicht.<br />
Eine Zeitlang hatte Kadett Cartman abzunehmen versucht. Also hatte<br />
er darauf bestanden, seine Mahlzeiten immer in Durkins Nähe<br />
einzunehmen. Wenn er Durkins Essen betrachtet hatte, war ihm auf der<br />
Stelle der Appetit vergangen und nach drei Tagen wog er bereits sechs<br />
Kilo weniger. Nachdem er jedoch das gewünschte Gewicht erreiht hatte,<br />
zog er es wieder vor, wieder mit Kadetten zu essen, die keine lebenden<br />
Mahlzeiten zu sich nahmen. Also aß Shan normalerweise mit Durkin,<br />
Tala und den anderen aus ihrer Studiengruppe. Sie alle waren zwar von<br />
Durkins Essgewohnheiten nicht gerade begeistert, aber zumindest damit<br />
vertraut
„Hey, Sortak.“ Shan stellte ihr Tablett neben dem ihres Freundes ab.<br />
„wie geht es dir?“, fragte sie, ohne ihn richtig anzusehen. Doch als sie<br />
keine Antwort bekam und ihn schließlich anschaute, blinzelte sie<br />
überrascht. Sortak stützte sein Kinn auf dem linken Arm und starrte in<br />
Gedanken versunken zu den Fenstern hinaus, hinter denen sich die<br />
weitläufigen Gartenanlagen des Campus erstreckten. In der anderen<br />
Hand hielt er eine Gabel mit der er geistesabwesend in seinem Rührei<br />
herumstocherte. Er machte den Eindruck, als sei er mit seinen Gedanken<br />
an einem völlig anderen Ort. Das entsprach überhaupt nicht seinem<br />
Naturell. Für gewöhnlich war Sortak ein sehr aufmerksamer, geradezu<br />
paranoid umsichtiger Geselle.<br />
Shan wiederholte leise seinen Namen, ohne dabei irgendeine Reaktion<br />
auszulösen. Allmählich machte sie sich ein wenig Sorgen. Sortak starrte<br />
noch immer ins Leere. Shan wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht<br />
herum und flüsterte mit größerem Nachdruck: „Sortak!“ Als noch immer<br />
keine Reaktion kam, stieß sie ihm in die Seite. Sortak fuhr leicht<br />
zusammen, und sah sich verwirrt um.<br />
„Was...?“ Er versuchte hektisch, sich etwas aus den Augen zu<br />
wischen, von dem Shan fast überzeugt war, dass es sich um ... um<br />
Feuchtigkeit handelte? Tränen? Sie war sich nicht sicher, ob sie<br />
überhaupt etwas derartiges gesehen hatte, aber wenn, dann sah das<br />
Sortak aber erst recht nicht ähnlich!<br />
„Hey, ist alles in Ordnung mit dir?“<br />
Er räusperte sich und zog wieder die typisch unwirsche Mine, die seine<br />
Person auszeichnete. „Natürlich.“, brummte er. „Wie kommst du darauf,<br />
dass etwas nicht in Ordnung ist?“<br />
„Na ja...“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Chaos in<br />
seinem Teller. „Hast du die Eier bestellt, um sie zu essen, oder um darin<br />
herumzustochern?“<br />
Sortak starrte sie einen Moment lang an, blickte danach auf seinen<br />
Teller herab und seufzte schwer, als würde ihm jetzt erst bewusst, was er<br />
die ganze Zeit über mit der Gabel gemacht hatte. Er legte sie ab und<br />
schob das ganze Tablett von sich weg. Im Grunde verspürte er überhaupt<br />
keinen Appetit. „Ich habe ... nur zu lange gelernt und ... und noch nichts<br />
geschlafen. Ich bin müde. Das ist alles.“<br />
Shan sah ihn misstrauisch an. „Länger gelernt, hm?“
„Ja. Ganz recht.“<br />
„Und warum?“<br />
Jetzt grummelte er verärgert. „Es gibt da ein paar Dinge, die ich nicht<br />
kapiert habe, okay? Einen ... einen... einen Warpsinus, den ich nicht auf<br />
Anhieb verstanden habe, klar? Das ist alles.“<br />
Shan neigte den Kopf. „Du bist ein miserabler Lügner.“ Und dann<br />
setzte sie leiser hinzu: „Wenn es wegen deinem Dad ist-“<br />
„Shan.“, unterbrach Sortak sanft. „Bitte. Lass es einfach.“ Er lächelte<br />
unsicher. Es war nur ein äußerst bemühtes Lächeln. Aber es genügte.<br />
Shan verstand, dass er gegenwärtig nicht darüber reden wollte und<br />
seinen Freiraum brauchte. Das konnte sie gut verstehen. „Oki-doki. Aber<br />
wenn was ist, kannst du immer mit mir reden, das weißt du.“<br />
„Natürlich. Ich weiß deine Sorge zu schätzen. Danke.“<br />
„Wir passen aufeinander auf.“<br />
Er lächelte – diesmal richtig. „Das machen wir.“<br />
Eine Weile aßen sie einfach. Dann fragte Shan ihn stirnrunzelnd.<br />
„Kommst du wirklich mit diesem Warpsinus nicht klar? Du hast mit<br />
keiner Silbe angedeutet, dass du...“<br />
„Ich wollte die anderen nicht aufhalten.“, sagte Sortak schnell. „Jetzt<br />
habe ich es kapiert. Mir ist ein Licht aufgegangen. Wir brauchen keine<br />
Worte mehr zu verlieren, okay?“<br />
„Na gut, Sortak.“, sagte Shan lahm. Sie wollte ihn nicht kränken. „In<br />
Ordnung.“<br />
Shan bekam mit, wie Galak, der ihr gegenüber saß, verächtlich<br />
schnaubte. Er war mit seiner Mahlzeit bereits fertig, saß nun in der für<br />
ihn typisch blasierten Art mit vor der Brust verschränkten Händen da,<br />
und hatte die Unterhaltung zweifellos belauscht. Er hatte Shan die ganze<br />
Zeit über angestarrt und blickte nun, als sie das bemerkte, schnell in eine<br />
andere Richtung. Vorzugsweise nach oben. Shans Besteck klapperte, als<br />
sie Messer und Gabel auf dem Teller ablegte. „Worauf hast du<br />
gestarrt?“, verlangte sie zu wissen.<br />
Galak sah sie wieder an. „Auf nichts.“<br />
„Auf mich.“<br />
„Auf nichts.“<br />
„Uh, Uh. Versuch nicht dich rauszureden, Mr. Persönlichkeit. Du hast<br />
gegafft!“
„Gegafft? Ich?! Pah! Ganz gewiss nicht!” Galak zog die Nase wieder<br />
ein Stückchen höher, um zu signalisieren, wie abwegig ihre Behauptung<br />
war, und, dass eure Prinzschaft nicht wünschte, das Gespräch<br />
fortzusetzen. Dann jedoch überlegte er es sich plötzlich anders und<br />
beugte sich über den Tisch zu ihr vor. „Lass mich dir eine Frage stellen,<br />
Shan Bartez. Hast du deine Uniform etwa absichtlich zwei Nummern zu<br />
eng schneidern lassen, damit dich ja keiner ansieht?“<br />
Shan verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Nein. Ich mag es,<br />
wenn man mich ansieht. Ich mag es nur nicht, wenn du mich ansiehst.“<br />
„Falls du dich damit besser fühlst, Sha’Nyn; du bist nicht mein Typ.“<br />
„Oh, gut. Warum?“<br />
„Warum?”<br />
„Ja, weißt du, ich betreibe Konversation. Also: warum?”<br />
„Du redest zu viel. Du bist überheblich. Du bist stur, sarkastisch,<br />
zickig und körperlich schwach. Dein Hintern ist zu schmal und deine<br />
Brüste zu klein.“<br />
Der ganze Tisch schwieg. Niemand wagte es, etwas zu sagen. Shan<br />
starrte ihn an. Sie öffnete und schloss mehrmals ihren Mund, ohne etwas<br />
zu sagen, und es dauerte eine geschlagene halbe Minute, ehe sie in der<br />
Lage war, ihrer Empörung mit einem gefährlichen Knurren Ausdruck zu<br />
verleihen. Dann zeigte sie auf ganz schön bedrohliche Weise mit dem<br />
Finger auf Galak. „Hey! Willst du auch hören, warum du absolut nicht<br />
mein Typ bist?“<br />
Galak stand auf. „Nein.“ Er drehte sich einfach herum und hatte die<br />
Mensa verlassen, ehe Shan auch nur einziges Wort hinzufügen konnte.<br />
Dabei hatte er nicht einmal eine besondere Eile an den Tag gelegt. Zwei,<br />
drei Sekunden oder so waren alle ganz still. Dann lachte Durkin plötzlich<br />
laut auf, wobei sein feister Bauch auf eine Weise wippte, die ihn wie<br />
einen Weihnachtsmann aussehen lies. „Brüste zu klein! Haha!“<br />
Shans Kiefer mahlte.<br />
„Weißt du, was noch witzig ist?“, fragte Tala Durkin.<br />
„Nein, was?“<br />
Sie schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Nicht feste,<br />
aber es klatschte gehörig. Durkin war sofort auf den Beinen. Sein Stuhl<br />
kippte zu Boden und er wirbelte erbost herum. Aber natürlich hatte Tala<br />
ihre Hand längst wieder weggezogen.
„Wer war das?“, schäumte Durkin und stierte dabei die Kadetten am<br />
Nachbartisch an. „Wer hat es gewagt...?“<br />
Die Kadetten, von denen heute kein einziger in der Verfassung war,<br />
sich mit einem erbosten Tellariten anzulegen, standen alle rasch auf und<br />
setzten sich vorsichtshalber an einen anderen Tisch. Durkin brummte,<br />
richtete seinen Stuhl auf und nahm ebenfalls wieder platz. „Feiglinge.“<br />
„Richtig.“, stellte Tala spöttisch fest. „Die haben alle Angst vor dir.“<br />
Sie schüttelte den Kopf und aß weiter, als ein Schatten auf sie fiel.<br />
„Darf ich mich zu euch setzen?“<br />
Shan und Sortak schauten auf und sahen, dass Yoko mit einem Tablett<br />
vor ihnen stand. Shan rutschte sofort ein Stück und Yoko nahm Platz.<br />
Dann sah er Tala und Durkin auf der anderen Seite der Tischplatte<br />
durchdringend an. „Ist euch schon einmal aufgefallen.“, fragte er. „dass<br />
sich kein Wort auf Orange reimt?“<br />
Tala stöhnte auf und rieb sich die Schläfen. „Wie bist du eigentlich auf<br />
die Akademie gekommen, Yoko?“<br />
„Mit einem Shuttle.“, erklärte er geduldig. „Eine freundliche Gruppe<br />
von Rektruten hat mich mitgenommen.“<br />
Die anderen tauschten bestimmte Blicke. Es war kein verstecktes<br />
Kompliment gewesen. Er hatte das völlig ernst gemeint.<br />
Tala beugte sich über den Tisch und sagte langsam. „Yoko... ich weiß<br />
das. Ich war dabei, erinnerst du dich?“<br />
Yoko blinzelte überrascht. „Dich haben sie auch mitgenommen?“<br />
Einen Moment lang starrte Tala ihn einfach nur an. Dann sagte sie:<br />
„Nein. Nein, vergiss, was ich gesagt habe. Ich bin hergeflogen. Ich habe<br />
meine Flügel ausgebreitet und bin nach San Francisco geschwirrt wie ein<br />
Atlirith.“<br />
„Tatsächlich? Ich wusste gar nicht, dass Andorianer so etwas können.<br />
Beeinduckend.“<br />
Vor allem beeindruckte ihn die Tatsache, dass Tala ihre Flügel ganz<br />
formidabel verstecken konnte. Verwirrt war er nur, als ihre Stirn<br />
plötzlich auf die Tischplatte knallte... und wieder... und wieder... und<br />
wieder. „Ist alle in Ordnung, Tala?“<br />
„Sprich... nicht... mit... mir.“ Bei jedem Wort schlug sie ihre Stirn<br />
wieder auf die Platte. Das ganze Besteck schepperte und klapperte.<br />
„Ich glaube.“, warf Wotan vom Nebentisch ein. „Es interessierte Tala
mehr, warum du dich für eine Karriere in der Sternenflotte entschieden<br />
hast.“<br />
Der Vulkanier sah zu ihm herüber. Normalerweise aß Wotan immer<br />
am Nebentisch, weil er eine ganze Bank für sich alleine beanspruchte<br />
und anderen nicht viel Platz ließ. Um überhaupt einen Tisch zu<br />
bekommen, und nicht auf dem Boden liegen zu müssen, fand er sich<br />
daher meist als erstes in der Mensa ein. Dabei bewegte er sich<br />
üblicherweise auf allen Vieren fort, da er in seiner vollen Größe zu<br />
furchteinflößend auf die meisten Mitschüler wirkte, und leider auch nicht<br />
durch alle Türen passte.<br />
„Es erschien mir ... logisch.“, antwortete Yoko einfach.<br />
„Logisch?“ Shan legte die Stirn in falten. „Die Frage ist doch eher, ob<br />
es einen glücklich macht, hier zu sein, oder nicht?“<br />
„Ganz gewiss.“ Für Yoko bestand da offenbar kein Zweifel. Und er<br />
setzte hinzu: „Wie jemand schlaues einmal sagte: >Glück ist nicht die<br />
Hauptsache, sondern das Nebenprodukt eines sinnvollen Lebens. Zu tun,<br />
was einem entspricht, sich auf andere Wesen beziehen, nicht nur auf sich<br />
selbst, und ständig dazulernen – das sind die Grundbedingungen für ein<br />
glückliches Leben>.“<br />
Wotan kramte in seinen Erinnerungen. „John Mayfield?“<br />
„Rene Barz.“, erklärte Yoko.<br />
„Ah. Nie von gehört.“<br />
„War kein erfolgreicher Autor.“<br />
„Das würde ich annehmen.“<br />
Nun hob Tala ihren Kopf wieder und bedachte Yoko mit einem<br />
verdrossenen Gesichtsausdruck. Anschließend verzog sie die Mine zu<br />
einem Schmerzhaften Ausdruck. „Au.“ Ihre Stirn war dort, wo Tala sie<br />
auf die Platte geschlagen hatte, ganz weiß geworden, aber die blaue<br />
Färbung kehrte bereits langsam wieder zurück. Durkin rieb sich<br />
unterstützend den Hinterkopf. „Mir tut mein Kopf auch weh.“<br />
„Das.“, erklärte Tala. „Ist dein Verstand, der seine eigene Blödheit zu<br />
begreifen versucht.“<br />
Der Tellarit stierte sie an, doch ehe er etwas erwidern konnte, fragte<br />
Yoko Tala: „Und warum bist du auf der Akademie, Tala?“<br />
„Ist das nicht offensichtlich? Um Karriere zu machen, natürlich. Ich<br />
will mein eigenes Kommando. Mehr noch. Ich will die Enterprise!“
„Die Enterprise?“<br />
„Ja. Egal welche. Ich will eines Tages das Flaggschiff kommandieren.<br />
Im Grunde kam ich auf die Akademie, um mit den Besten der Besten zu<br />
arbeiten, aber... Nun ja. Das war der Plan. Seht euch stattdessen an, wen<br />
ich in den letzten Tagen kennen gelernt habe...! Moronen, Idioten,<br />
und...“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Durkin. „Den hier.“<br />
Shan hob stumm die Hand und Tala schlug ein.<br />
„Aber im Ernst. Ich denke meine Zhavey war meine Hauptinspiration.<br />
Ich will ihr nacheifern.“<br />
„Zhavey?“, fragte Yoko verwirrt.<br />
Shan wusste, was das Wort bedeutete. „Mutter“, übersetzte sie.<br />
Wotan nickte. „Deine Zhavey gehört auf jeden Fall zu den Personen,<br />
die ich gerne einmal kennen lernen würde, Tala. Es ergibt sich nicht<br />
jeden Tag, die berühmteste Romantik-Holoroman Autorin der Galaxie zu<br />
treffen. Erm.. nicht, dass ich Romantik Holoromane lesen würde...“<br />
Shan hob überrascht die Brauen. „Das ist deine Mutter, Tala? Die<br />
Autorin von >Verwoben im tholianischen Netz der Liebe
grinste auf eine Art, die Shan rätseln ließ, ob die Andorianerin es ernst<br />
meinte, oder sich einen Scherz erlaubte. Ernster fügte sie hinzu: „Aber<br />
meine Zhavey ist nicht nur eine erfolgreiche Romanautorin, sie war auch<br />
ein recht bekannter und hochangesehener Sternenflottenoffizier vor<br />
ihrem Karrierewechsel. Ein Sternenflottenoffizier, der Maßgebliches für<br />
die Friedensverträge zwischen der Föderation und den Romulanern<br />
beitrug. Nicht ganz so spektakulär, wie das, was dein Vater vollbracht<br />
hat, Shan, aber ich kann dennoch nachvollziehen, in welcher Lage du<br />
dich befindest.“<br />
„Danke, Tala.“ Shan wusste ihr Mitgefühl wirklich zu schätzen.<br />
„Ja ja, die lieben Eltern...“, seufzte Sortak. „Manchmal können sie<br />
schon nerven, oder?“<br />
„Wenn sie nicht stören, sind sie tot – tellaritische Weisheit.“<br />
„Wenigstens“, sagte Shan und schob sich ein Brötchen in den Mund.<br />
„Sind wir hier vor ihnen sicher.“<br />
Und dann rief ein Kadett im vierten Jahr laut: „Kadetten!“<br />
Diesen Tonfall kannten sie mittlerweile ganz genau. Sie sprangen auf<br />
und standen stramm. Shan stand etwas weniger stramm als die anderen,<br />
aber immerhin spielte sie mittlerweile mit. Admiral Janeway betrat die<br />
Mensa und ging zur vorderen Wand. Die Kadetten blieben stehen und<br />
sahen starr geradeaus. Janeway erreichte die Theke und drehte sich zu<br />
ihnen um.<br />
„Rühren!“ sagte sie mit fester Stimme. Die Kadetten nahmen<br />
augenblicklich wieder Platz, blieben reglos sitzen und warteten geduldig<br />
darauf, dass Janeway das Wort an sie richtete.<br />
„Admiral Parker“, sagte sie mit bemüht emotionsloser Mine, „hat<br />
einen Shuttle-Unfall erlitten. Zum Glück gab es keine Todesopfer, doch<br />
der Admiral wird in den nächsten Wochen keinen Unterricht geben<br />
können.“<br />
„Er sollte uns in Kampfstrategie unterrichten“, flüsterte Shan Yoko zu,<br />
weil der mal wieder nicht wusste, worum es ging.<br />
„Daraus wird nun wohl nichts“, erwiderte Tala ebenso leise.<br />
„Ich bitte um Ruhe.“, sagte Janeway streng und bedachte Shan mit<br />
einem vernichtenden Blick. Shan ärgerte sich darüber, dass sie<br />
unterschätzt hatte, wie scharf die Ohren des Admirals noch waren.<br />
Janeway fuhr fort: „Allerdings sieht Admiral Parker keinen Anlass,
Ihnen freizugeben, und ich stimme ihm zu. Daher werden Sie in der Zeit,<br />
in der sein Kurs stattfinden sollte - und auch in Ihrer Freizeit - eine<br />
Prüfungsarbeit über das folgende Thema vorbereiten: Berühmte<br />
Schlachten, bei denen der Faktor Glück eine maßgebliche Rolle spielten.<br />
Sie haben die Aufgabe, zwanzig bedeutende Schlachten in der<br />
Geschichte der Sternenflotte auszuwählen, die in diese Kategorie fallen.<br />
Dann werden Sie ausarbeiten, wie diese Schlachten anders hätten<br />
verlaufen können, wären keine günstigen Umstände eingetreten. Das ist<br />
alles. Sie werden ihre Fragen dann jemandem stellen können, der sich in<br />
diesem Bereich besonders gut auskennt: Captain Matthew Bartez. Er<br />
wird Admiral Parkers Klassen übernehmen.“<br />
Ohne ein weiteres Wort drehte Janeway sich um und verließ die<br />
Mensa. In dem Augenblick, da sie durch die Tür ging, begannen die<br />
Kadetten, sich leise miteinander zu unterhalten und Vorschläge zu<br />
machen, über welche Schlachten sie schreiben konnten.<br />
Nur Shan nicht.<br />
Sie saß da, starrte an den Fleck, an dem eben noch Janeway gestanden<br />
und die Unheilsnachricht verkündet hatte, und verlor jegliche<br />
Gesichtsfarbe. Was aufgrund der Tatsache, dass sie üblicherweise schon<br />
recht blass war, einen gruseligen Effekt hervorrief.<br />
„Das ist das Ende.“, sagte sie monoton.<br />
„Ts, ts, ts.“, schüttelte Wotan tadelnd den Kopf. „Meine Liebe, das ist<br />
nicht die richtige Einstellung. Ich möchte ein wenig mehr Optimismus<br />
von dir hören.“<br />
„Das ist das Ende!“<br />
„Schon besser...“<br />
Sie erhob sich steif und ging Richtung Ausgang.<br />
Durkin stierte ihr hinterher. Er begriff überhaupt nicht, was mit der<br />
Erdenfrau los war. „Kann ich irgendwie helfen?“, fragte er.<br />
„Rede mit Shan.“<br />
Durkin richtete seinen Blick zur Tür, die gerade von Shan garstig<br />
aufgetreten wurde und sah dann wieder zu Wotan. „Kann ich auf andere<br />
Art Helfen?“<br />
„Lass gut sein.“, sagte Sortak. „Ich mach das schon.“<br />
„Vielleicht sollten wir Galak schicken.“, flüsterte Tala frech lächelnd.<br />
„Warum?“, fragte Yoko überrascht.
„Yoko. Muss dir jemand ein Brett über den Schädel ziehen?“<br />
Yoko sah sie verwirrt an. „Hoffentlich nicht. Warum?“<br />
„Dang! Galak, Yoko. Ist dir noch nie aufgefallen, wie er Shan ansieht?<br />
Und wie sie ihn ansieht?“<br />
Yoko runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht ganz...“<br />
„Sie sind verrückt aufeinander. Jeder weiß es. Nur sie selbst offenbar<br />
nicht. Sie sind so sehr damit beschäftigt, sich anzufauchen, dass sie es<br />
überhaupt nicht mitbekommen.“<br />
„Genug davon.“, raunte Sortak säuerlich und deutete mit dem Finger<br />
auf Tala. „Du erzählst Unsinn.“<br />
„Denkst du?“<br />
„Shan hat nicht das Geringste für diesen Schnösel übrig. Er ist ein<br />
Vollidiot.“<br />
Tala zuckte mit den Schultern. „Ich finde ihn ganz süß.“<br />
Sortak erhob sich und fasste sie finster dreinblickend an der Schulter.<br />
„Dann kannst du ja auf deine lange Liste kleiner Stelldicheins setzen.<br />
Aber hör auf so einen Blödsinn über Shan zu erzählen. Galak... ist<br />
bestenfalls ein Objekt für sie. Ein Objekt, an dem sie ihre<br />
Schlagfertigkeit kultivieren kann. Das ist alles. Ich werde nicht zulassen,<br />
dass du Lügen verbreitest. Und sollte Galak auch nur einen falschen<br />
Gedanken hegen, werde ich ihn aus ihm herausprügeln.“<br />
Damit drehte er sich um und verließ ebenfalls die Mensa.<br />
Mueller<br />
Shan hatte das Gefühl, allmählich den Verstand zu verlieren.<br />
Normalerweise hatte sie keine Schwierigkeiten mit dem Einschlafen,<br />
aber in dieser Nacht fand sie einfach keine Ruhe. Genaugenommen war<br />
es sogar eine der unruhigsten Nächte, die sie je erlebt hatte. Vielleicht<br />
war sie ja ab und zu für ein paar Minuten eingeschlafen, aber den<br />
größten Teil der Nacht verbrachte sie damit, sich von Links nach Rechts<br />
zu wälzen, oder sich das Kissen auf die Ohren zu pressen, während sie<br />
versuchte, Wotans ohrenbetäubendes Schnarchen zu ignorieren – was ihr
selbstverständlich nicht gelang. Aber wie hätte man auch das Sägen<br />
eines ausgewachsenen dreihundert Kilo schweren Tigers überhören<br />
können. Es wäre ihr vor einer Weile beinahe gelungen, dieses penetrant<br />
entsetzliche Geräusch auszublenden, aber dann hatte Wotan auch noch<br />
angefangen zu jaulen, zu fiepen, gelegentlich sogar zu knurren und um<br />
sich zu treten.<br />
Er war feste am Träumen und es war zweifellos ein ereignisreicher<br />
Traum, aus dem er sich beharrlich zu erwachen weigerte. Dabei hätte<br />
man meinen müssen, dass ihn sein eigens verursachter Lärm weckte. Es<br />
war Shan völlig unbegreiflich, wie er solch einen Krach veranstalten,<br />
gleichzeitig aber dabei schlafen konnte. Auf eine subtile oder aber<br />
aufdringliche Art und Weise laut zu sein, gehörte ganz offensichtlich zu<br />
Wotans Stärken. Als er am Abend aus der Bibliothek ins Quartier<br />
zurückgekehrt war, hatte er gegessen, getrunken, sich gereinigt, und das<br />
alles, ohne den Mund zu halten. Shan, die versucht hatte, sich mit ein<br />
paar wissenschaftlichen Texten von der Ankunft ihres Vater abzulenken,<br />
hatte ihn mehrere Male aufgefordert, etwas anderes zu tun, als zu reden,<br />
und er hatte sich jedes Mal mit aller gebotenen Höflichkeit einverstanden<br />
erklärt, seine Redseligkeit einzuschränken. Doch in recht kurzer Zeit war<br />
er stets in seine alten Gewohnheiten zurückgefallen, bis er endlich<br />
ermüdet und eingeschlafen war. Und dann hatte das Schnarchen<br />
eingesetzt.<br />
Nun drehte sich Shan auf den Rücken und sah sich in der Dunkelheit<br />
ihres Zimmers um. Draußen, am sternenbehangenen Himmel schien der<br />
Mond und warf einen matten Schein durch das Fenster. Deshalb konnte<br />
sie recht gut erkennen, wie Wotan sich im zerwühlten Laken seines<br />
Bettes befand, merkwürdig verbogen auf dem Rücken lag und alle viere<br />
von sich gestreckt hatte. Aus seinem Mundwinkel lief Speichel. Das<br />
ganze Kopfkissen war besabbert. Gerade trat er wieder um sich, und<br />
knurrte. Gleichzeitig jedoch wedelte er mit dem Schwanz.<br />
„Wotan.“, zischte Shan, in der Hoffnung, er würde aufwachen, oder<br />
zumindest die Schnauze halten. Natürlich wurde diese Hoffnung nicht<br />
erfüllt. Also versuchte sie es ein wenig lauter.<br />
„Wotan!“<br />
Aber auch auf diesen zweiten Versuch bekam sie keine Reaktion.<br />
Selbst, als sie ihm ihr Kissen überwarf, bewegte sich der Tiger nur ein
wenig, wachte aber nicht auf. Shan wälzte sich genervt herum, warf<br />
einen Blick auf das Chronometer und stöhnte leise. Es war erst kurz nach<br />
Drei Uhr und die Nacht fand einfach kein Ende. Sie wusste, dass es<br />
völlig aussichtslos war, noch einmal zu versuchen, die Augen zu<br />
schließen, denn sobald sie das tat und Wotans Krach in den hintersten<br />
Regionen ihres Bewusstseins verbannen zu vermochte, zwangen sich ihr<br />
alle möglichen Gedanken und Ängste auf, die sie erst recht am<br />
Einschlafen hinderten. Mögliche Implikationen, mögliche<br />
Komplikationen und vor allem die Tatsache, dass bald ihr Vater hier<br />
auftauchen würde. Ausgerechnet. Ausgerechnet er! Von allen Lehrern an<br />
der Akademie, von allen Akademien im Quadranten, musste er ja<br />
ausgerechnet hier auftauchen. Bei ihr.<br />
Shan gruselte sich bei der Vorstellung, wie er in den Klassenraum<br />
kommen würde, ihr zuzwinkernd, und bei jeder gestellten Frage als aller<br />
erstes seine Tochter aufrufen würde, ganz gleich, ob sie sich nun<br />
meldete, oder nicht...<br />
Shan wollte lieber nicht weiter darüber nachdenken. Also stieg sie aus<br />
dem Bett und wankte in der Dunkelheit in Richtung Bad. Natürlich nicht,<br />
ohne laut aufzustapfen, als sie an Wotans Bett vorbeikam.<br />
Selbstverständlich wurde er davon nicht wach. Shan hingegen, die mit<br />
schroffer Mine ihren Blick nur auf den Tiger gerichtet hatte, versäumte<br />
es, in der Dunkelheit den Schreibtisch vor sich auftauchen zu sehen,<br />
weshalb sie sich heftig das Knie stieß, stolperte, und scheppernd und<br />
fluchend, auf - oder vielmehr in - Wotans Fressnapf landete. Sie machte<br />
einen höllischen Lärm, und jagte noch die ein oder andere Obszönität<br />
hinterher, aber auch das brachte Wotan nicht um dem Schlaf. Er<br />
schnarchte einfach weiter. Während Shan ihr schmerzendes Knie rieb,<br />
fragte sie sich ernsthaft, ob es überhaupt etwas gab, das ihn je wieder<br />
wecken würde. Vermutlich hätte er auch weitergeschlafen, wenn eine<br />
Lawine über seinem Schädel hinweggefegt wäre.<br />
Sie humpelte ins Bad, fand beim dritten Versuch den Lichtschalter und<br />
spritzte sich über dem Waschbecken ein wenig Wasser ins Gesicht. Als<br />
sie sich ein frisches T-Shirt über den Kopf streifte, bemerkte sie plötzlich<br />
im Spiegel, wie straff sie um den Bauch herum aussah. Das war ihr<br />
bisher nie richtig aufgefallen. Aber seit ihrer Rückkehr aus Frigoria hatte<br />
sich an ihrem Körper einiges verändert. Und nicht nur am Bauch, wie sie
emerkte. Auch ihre Schultern machten auf sie irgendwie den Eindruck<br />
breiter zu sein. Kräftiger. Auch ihre Oberarme. Ihre Beine. Das Klettern<br />
an den Steilwänden, und das Marschieren durch den Schnee, hatte<br />
Spuren hinterlassen, und in den Tagen der Genesung und des höllischen<br />
Muskelkaters, musste ihr Körper für zukünftige Kletterpartien vorgesorgt<br />
und entsprechend Muskelmasse aufgebaut haben. Shan war ein bisschen<br />
erschrocken darüber. Aber angenehm erschrocken, und auch nur, weil es<br />
bisher ihrer Aufmerksamkeit entgangen war. Es war ein schönes Gefühl,<br />
nach all den Anstrengungen in der Eishölle nun das bemerkenswerte<br />
Resultat zu sehen. Sie fühlte sich gut. Genaugenommen fühlte sie sich so<br />
vital und kräftig, wie noch nie zuvor.<br />
Shan spannte probeweise den Bizeps an. Na ja. Verbesserungswürdig.<br />
Was hatte Galak gesagt? Ihr Körper sei schwach? Sie fragte sich, ob sie<br />
in der Eishölle auf weniger Probleme und Schwierigkeiten gestoßen<br />
wäre, wenn sie in der Vergangenheit ihren Körper etwas mehr aufgebaut<br />
und sich dementsprechend besser auf unvorhergesehene Strapazen<br />
vorbereitet hätte. Wenn sie mehr Kraft gehabt hätte. Aber das konnte sie<br />
ja nachholen. In dieser Nacht würde sie ohnehin keine Ruhe mehr<br />
finden, also zog Shan ihren Trainingsanzug an und machte sich auf den<br />
Weg zur Sporthalle.<br />
Da sie nicht damit gerechnet hätte, zu solch später Stunde noch<br />
jemanden in der Sporthalle anzutreffen, reagierte Shan entsprechend<br />
Überrascht, als sie den Eingangsbereich betrat, und es dort ebenso<br />
geschäftig zuging, wie am Tag. Ihr schlugen die zackig gehetzten<br />
Kommandos mehrerer Zero-G-Racquettball-Mannschaftsmitglieder<br />
entgegen, gemischt mit dem obligatorischen Gequietsche von<br />
Sportschuhen, die auf blank poliertem Hallenboden rutschten. In den<br />
entsprechenden Räumen, hinter Plexiglas getrennt, beharkten sich<br />
mehrere Spieler in Schwerelosigkeit, während sie sich in schneller Folge<br />
gegenseitig den Ball abluchsten und dabei eine Ernsthaftigkeit an den<br />
Tag legten, als hinge ihr Leben davon ab.<br />
Daneben wurde Cyber-Tennis und Parrises Squares gespielt und ein<br />
Blick auf die Kontrollmonitore verrieten Shan, dass sogar die
Holokammern besetzt waren. In einer ließ jemand ein Programm zum<br />
Hydrosegeln laufen, in der anderen fand ein Reitturnier oder so etwas auf<br />
sechsbeinigen Tieren statt. Die übrigen Sportarten waren so exotisch,<br />
dass Shan nicht einmal sagen konnte, worum es sich überhaupt handelte.<br />
Offensichtlich war sie nicht die einzige, die in dieser Nacht keinen<br />
Schlaf fand.<br />
Während sich eine verschwitzte, aber glücklich erscheinende Gruppe<br />
auf dem Weg zu den Schallduschen an ihr vorbeischob, blieb Shan etwas<br />
unsicher im Eingangsbereich stehen und folgte dem Schauspiel des Zero-<br />
G-Raquettballturniers. Die Spieler bewegten sich mit solchem Geschick,<br />
und solcher Geschwindigkeit, dass man kaum nachkam, den Punktestand<br />
im Auge zu behalten. Das Spiel war zweifellos sehr spannend und<br />
manche Kadetten, die mit ihrem Training wohl bereits fertig waren,<br />
hatten sich auf den kleinen Bänken an den Außenwänden eingefunden,<br />
und verfolgten den weiteren Verlauf des Spiels.<br />
Doch darauf hatte Shan keine Lust. Ihr stand jetzt mehr der Sinn<br />
danach, etwas für ihre Arme und Kondition zu tun. Einen Moment<br />
überlegte sie, ob sie nicht auf der Bank platz nehmen und solange warten<br />
sollte, bis eine der Holokammern frei werden würde. Dann könnte sie<br />
eine Kletterwand erzeugen und dort etwas üben. Doch dann erspähte sie<br />
hinter einer der offenen Türen einer scheinbar leeren Nebenhalle einige<br />
Sandsäcke. Das entsprach schon eher ihren Vorstellungen, also setzte sie<br />
sich in Bewegung.<br />
Beim Betreten der Halle stellte Shan fest, dass sie doch nicht so leer<br />
war, wie vermutet. Genaugenommen fand Shan ein Schlachtfeld vor und<br />
inmitten dieses Schlachtfeldes kämpfte gnadenlos eine einzelne Frau,<br />
von der Shan sofort mehr als beeindruckt war. Sie war groß, mit breiten<br />
Schultern und der Aura enormer Überlegenheit. Ihr Körper war schlank<br />
und kräftig und die Formen zeichneten sich deutlich unter dem engen<br />
Sportanzug ab. Sie hatte das blonde, lange Haar zu einem strengen Dutt<br />
zusammengebunden. Ihre Augen waren kobaldblau und unglaublich<br />
stechend, sogar noch stechender als Shans. Aber ihr bemerkenswertestes<br />
Merkmal, war etwas völlig unerwartetes. Sie hatte eine Narbe. Sie war
dünn, aber lang und zog sich über die gesamte linke Wange. Allein die<br />
Tatsache, dass sie diese Narbe offen zur Schau trug, statt sie sich durch<br />
eine einfache medizinische Prozedur von zwei, vielleicht drei Minuten<br />
Länge entfernen zu lassen, sprach Bände.<br />
Selbstverständlich wusste Shan sofort um wen es sich handelte. Vor<br />
ihr stand niemand geringeres, als Captain Katerina Mueller, eine in jeder<br />
Hinsicht derart beeindruckende, selbstsichere und unabhängige Frau,<br />
dass selbst Shan, die sich normalerweise nicht für Sternenflottenoffiziere<br />
begeistern konnte, sofort von ihr gefesselt worden war, als sie in der<br />
Grundschule das erste Mal von Mueller gehört hatte. Ihre Trident-<br />
Missionen in Sektor 221-G waren berühmt.<br />
Trident-Missionen... Shan fragte sich, ob Mueller noch immer dieses<br />
alte Schiff der Galaxy-Klasse befehligte, oder ob sie vielleicht sogar zum<br />
Lehrpersonald des Campus gehörte? Diente sie überhaupt noch in der<br />
Sternenflotte? Shan war sich nicht sicher.<br />
Von Mueller einmal abgesehen war die Halle leer und Mueller hatte<br />
deswegen Shans Ankunft zweifellos bemerkt, verschwendete aber keine<br />
Sekunde damit, nach ihr zu sehen. Stattdessen konzentrierte sie sich<br />
völlig auf ihre Gegner. Mueller stand inmitten eines großen Ringes – ein<br />
holographischer Bilderzeuger, der ihr regelmäßig neue Gegner schickte.<br />
In schwere Rüstungen gehüllte Krieger, mit spitzen Zähnen und<br />
buschigen Mähnen – Chalnoth-Schergen -, und die große, blitzende Äxte<br />
schwangen, Äxte, die dazu in der Lage waren, ihren Gegner mit nur<br />
einem Schlag in der Mitte zu spalten. Sobald einer von ihnen<br />
ausgeschaltet wurde, erschien sofort ein neuer, um noch wilder, noch<br />
lauter brüllend, auf Mueller loszugehen. Mueller lies sich davon wenig<br />
beeindrucken, vielleicht war sie sogar noch wilder als ihre Opponenten<br />
selbst. Sie führte ihr eigenes Schwert, lies die Klinge so unfassbar<br />
schnell die Luft zerschneiden, dass sie zu einem Schemen wurde. Und<br />
Mueller war unaufhaltsam!<br />
Sie hatte bereits Level achtunddreißig erreicht, vermutlich trainierte<br />
sie schon seit einer ganzen Weile, doch ihre Aufmerksamkeit hatte<br />
offensichtlich kein bisschen nachgelassen. In ihren Augen loderte nicht<br />
nur das Feuer der Wut, sondern auch die größtmögliche Konzentration.<br />
Shan sah, dass plötzlich einer der Krieger hinter Mueller auftauchte und<br />
die Klinge schwang. Doch Mueller besaß auf einmal Augen im
Hinterkopf, wirbelte herum und erdolchte ihn, ehe der Chalnoth ihr<br />
gefährlich werden konnte. Flackernd löste sich das Hologramm auf und<br />
Mueller bekam einen weiteren Punkt zugeschrieben. Shan konnte sich<br />
nur schwer von dem Schauspiel losreißen. Sie versuchte sich nicht allzu<br />
stark irritieren zu lassen, als sie sich zu einem der Sandsäcke begab. Sie<br />
begann ein bisschen drauf los zu boxen, landete hin und wieder einen<br />
guten Schlag, aber der Kampfeslärm hinter ihr war einfach zu anziehend.<br />
Sie warf immer mal wieder einen Blick über die Schulter, sagte sich<br />
selbst, sie wolle nur mal kurz nachsehen, was Mueller da mache und<br />
starrte dann doch eine ganze Weile gebannt auf das Schauspiel, ohne<br />
dem Sandsack die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Es war nur noch<br />
eine Alibiaktion: hin und wieder mal einen unmotivierten Boxhieb<br />
landen, dann wieder möglichst unauffällig zu Mueller sehen.<br />
Zwei Männer attackierten sie gerade von den Seiten. Mueller bewegte<br />
sich an Ort und Stelle, knallte ihnen ihre Ellenbogen in die Mägen, jagte<br />
das Schwert von links nach rechts und die Angreifer gingen zu Boden.<br />
Es geschah so schnell, dass Shan kaum realisieren konnte, was sie da<br />
gerade gesehen hatte, als auch schon ein dritter Chalnoth auf sie<br />
zustürmte. Mueller tauchte geschickt unter dem Axthieb durch, und lies<br />
ihr Schwert gleiten. Die Klinge bohrte sich durch den Brustkorb des<br />
Chalnoth und noch während sie ihn aufgespießt hatte und er langsam auf<br />
die Knie sank, fragte sie plötzlich mit einem leicht deutschen Akzent:<br />
„Willst du nur da rumstehen, oder machst du endlich mit?“<br />
Shan brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass sie gemeint<br />
war. „Ahm... Verzeihung?“<br />
Der Chalnoth rutschte Mueller von der Klinge, ging zu Boden und<br />
verschwand. Level vierzig erreicht. Der Computer wartete mit der<br />
nächsten Runde ein paar Sekunden, die Mueller nutzte, um den Kopf zu<br />
Shan zu drehen. Ihre kobaltblauen Augen starrten sie so durchdringend<br />
an, dass Shan das Gefühl hatte, von ihrem Blick durchbohrt zu werden.<br />
„Du hast die ganze Zeit herübergestarrt.“, sagte sie. „Vielleicht willst du<br />
dich nützlich machen. Dein Sandsack scheint dich ja nicht gerade zu<br />
fordern.“<br />
„Oh, ich… ich weiß nicht. Ich habe das Spiel nie gespielt.“<br />
„Ist kein Spiel.“, entgegnete Mueller sofort. „Eher Arbeit. Sport. Um<br />
Fit zu bleiben.” Sie klopfte sich deutlich stolz auf ihren straffen
Waschbrettbauch. Ihr Körper bestand nur aus Muskeln. „Also, kommst<br />
du jetzt, oder nicht?“<br />
Shan überlegte kurz, ob sie nicht lieber ablehnen sollte, entschied sich<br />
dann aber dagegen. Was hatte sie schon zu verlieren? Etwas mit Katerina<br />
Mueller zu unternehmen, war auch einfach zu verlockend, obwohl Shan<br />
plötzlich erhebliche Unsicherheit spürte. Und das geschah selten! Sie<br />
wollte vor der Frau nicht dumm da stehen, also musste sie sich<br />
anstrengen. In dem Moment, als Shan sich in Bewegung setzte, hätte sie<br />
schwören können, einen amüsierten Ausdruck über Muellers Mine<br />
huschen zu sehen, doch er verschwand beinahe sofort wieder. Mueller<br />
brachte ihre Schuhspitze unter das Schwert eines Gegners und beförderte<br />
den Griff mit einer schnellen Bewegung ihres Fußes in ihre Hand. Sie<br />
warf Shan das Schwert zu. Die fing es ungeschickt auf und beide Frauen<br />
gingen in Position.<br />
Der Computer startete Level vierzig. Mehrere Opponenten erschienen,<br />
kreisten sie ein. Knurrend und brüllend, kamen sie langsam näher. Shan<br />
testete das Gewicht ihres Schwertes, lies es ein paar Mal durch die Luft<br />
gleiten, um ein Gefühl dafür zu bekommen.<br />
„Du hast bereits Erfahrung damit.“, stellte Mueller fest, ohne sich zu<br />
ihr umzudrehen.<br />
„Ein wenig. Woher wissen Sie das?“<br />
„Die Art und Weise, wie du das Schwert führst. Es testest. Du hast<br />
dich bereits mit einer Klinge verteidigt, nicht wahr? Und getötet.“<br />
„Woher...“<br />
„Man sieht es in deinen Augen.“<br />
„Ich bin nicht stolz darauf.“<br />
Mueller hob und senkte leicht die Schultern. „Wer ein Schwert in die<br />
Hand nimmt, muss bereit sein, Leben zu nehmen. Andernfalls hat er die<br />
falsche Waffe. Und wer mit der falschen Waffe der Gefahr entgegentritt,<br />
wird selbst getötet. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, du, oder der Feind.<br />
War er stark?“<br />
„Wer?“<br />
„Dein Feind.“<br />
„Ja, ziemlich. Ein großes Raubtier.“<br />
„Stärker als du?“, fragte Mueller.<br />
„Das würde ich sagen, ja.“
„Dann sei stolz auf deinen Sieg.“<br />
Ehe Shan etwas erwidern konnte, fuhr das Programm fort und<br />
holographischen Chalnoth griffen an. Shan konnte nicht wissen, dass<br />
Mueller die Sicherheitsvorrichtungen des Programms deaktiviert hatte,<br />
sodass sie wirklich in Gefahr schwebte und selbst von einer<br />
holographischen Schwertklinge ernsthaft verletzt, wenn nicht sogar<br />
getötet werden konnte. Ohne dieses Wissen zeigte Shan wenig Angst,<br />
stürmte vor und zerschnitt ihren ersten Gegner mit einem eher<br />
uneleganten Schwerthieb, bei dem sie auch noch ins Stolpern geriet.<br />
Dadurch gelangte sie in die Reichweite eines anderen Widersachers, der<br />
seine Chance nutzte und die Axt niedersausen lies, so schnell, das Shan<br />
den Schlag nicht mehr abwehren konnte. Das tat Mueller. Ihre Klinge<br />
stoppte die Axt wenige Zentimeter vor Shans Gesicht. Die kräftigen<br />
Muskelreihen ihres Armes spannten sich an, als Mueller nur mit einer<br />
Hand ihr Schwert hochriss, den Gegner dadurch zurückkatapultierte und<br />
ihm mit einem schnellen Schlag den Schädel spaltete. Das Hologramm<br />
verschwand. Andere tauchten auf.<br />
„Sorry.“, entschuldigte sich Mueller. „Der war eigentlich dir.“<br />
„Ich werd’s überleben.“<br />
Und dann ging der Kampf weiter. Es war eine Symphonie aus<br />
schneidenden Klingen, durch die Gegend fliegenden Körperteilen, und<br />
rinnendem Schweiß. Die Melodie war in Muellers Hieben elegant, in<br />
Shans Schlägen plump. Irgendwie schien Mueller einfach keine<br />
Probleme zu haben, sie geriet nicht ein einziges Mal in arge Bedrängnis.<br />
Shan dafür andauernd. Sie war ständig in Bewegung, schlug mal hierhin,<br />
dann wieder dorthin, sprang zwischen den Gegnern herum, und während<br />
sie all das machte, bewegte sich Mueller kaum einen Zentimeter von der<br />
Stelle. Es war, als hätte sie einen größeren Aktionsradius, als könne sie<br />
ihre Arme beliebig dehnen, ihr Schwert an jede gewünschte Stelle<br />
bringen, während Shan laufen musste. Dementsprechend ließen ihre<br />
Kräfte bald nach, sie atmete keuchend, aber ans Aufgeben dachte sie<br />
keinen Moment lang. Die Blöße wollte sie sich nicht geben. Nicht vor<br />
Katarina Mueller. Denn trotz aller Anstrengung, fand Shan allmählich in<br />
das Spiel rein und war schon fast gewillt zu glauben, dass sie ganz gut<br />
klar käme, als Mueller plötzlich feststellte: „Du bist Matt Bartez’<br />
Tochter.“
Shan blieb einfach stehen, sah sie aus großen Augen an. „Was?“ Und<br />
dann knallte ihr ein Gegner in die Seite. Er rammte seine Schulter mit<br />
ganzer Kraft in sie hinein. Shan wurde von den Füßen gerissen und<br />
schlug hart auf dem Ringboden auf. Die Luft wurde ihr aus den Lungen<br />
gepresst. Mueller spießte den Chalnoth einfach auf. Es war eine so<br />
routinierte, fast nebensächliche Bewegung, wie wenn jemand nach dem<br />
Lichtschalter tastete. Der Chalnoth verschwand und Mueller ordnete eine<br />
Programmpause an. Shan keuchte und hustete schwer. Ihr ganzer Körper<br />
schmerzte. Sie stemmte sich schwerfällig auf die Ellenbogen und<br />
versuchte wieder Luft zu schnappen. Als sie nach oben sah, stand<br />
Mueller mit erhobener Braue über ihr. „Alles was ich tun muss um dich<br />
aus dem Konzept zu bringen, ist, deinen Vater zu erwähnen?“<br />
„Das ist nicht wahr.“, hustete Shan. „Ich war nur... ich hab den<br />
Chalnoth nur nicht bemerkt. Das ist alles.“<br />
Mueller neigte wortlos den Kopf.<br />
„Okay, okay.“, gab Shan zu. „Sie haben meinen wunden Punkt<br />
erwischt.“<br />
„Und warum ist dein Vater dein wunder Punkt?“<br />
Shan schnaubte. „Standen Sie schon einmal im Schatten einer<br />
lebenden Legende?“<br />
Mueller neigte erneut den Kopf, diesmal zur anderen Seite, was<br />
entfernt an Wotans Gestik erinnerte. Sie hielt von Shans Kommentar<br />
zweifellos gar nichts. Jeder wusste, von Muellers Abenteuern mit dem<br />
berühmten Mackenzie Calhoun und Elizabeth Shelby.<br />
Shan seufzte. „Tut mir leid. Ich nehm’s zurück.“<br />
Sofern sie Mueller beleidigt hatte, lies es sich die Frau nicht anmerken.<br />
„Unterschätze niemals deinen Wert. Niemals. So etwas machen Frauen<br />
nicht. Nicht einmal die, die im Schatten einer Legende stehen. Das<br />
machen nur Männer.“<br />
Shan runzelte andeutungsweise die Stirn.<br />
„Wir sind weit gekommen in den letzten vierhundert Jahren.“, erklärte<br />
Mueller und ging vor ihr in die Hocke. Ihre Augen hatten etwas<br />
durchdringendes, beschwörendes. Als wenn sie Shan gerade<br />
hypnotisieren wollte. „Kriege, Hungersnöte, Unterdrückungen... das<br />
haben wir alles weit hinter uns gelassen, wofür wir uns auch stolz auf die<br />
Schultern klopfen. Aber an einer Universalkonstante, die du in so gut
wie jeder Rasse, jeder Spezies antriffst, hat sich in all den Jahrzehnten,<br />
oder Jahrtausenden nichts, überhaupt gar nichts geändert – dem<br />
männlichen Ego. Sie wollen ihre Raumschiffe kommandieren, sie wollen<br />
ihre Gegner eliminieren, sie wollen besser sein als alle anderen. Aber vor<br />
allem wollen sie eines: Anerkennung. Die wollen nicht einfach da raus<br />
fliegen, in die unendlichen Weiten, um fremde Welten zu entdecken und<br />
neue Zivilisationen. Sondern um dafür in die Geschichtsbücher<br />
eingetragen zu werden. Um bewundert und angebetet zu werden. Das ist<br />
ihr Antrieb. Das ist ihre Schwäche. Nutze sie aus.“ Sie drückte Shan mit<br />
dem Zeigefinger leicht auf die Brust. „Denn wir sind besser.“<br />
Shan grinste und sah Mueller mit schiefem Blick an. „Haben Sie ein<br />
Problem mit Männern?“<br />
„Ein Problem? Nein, nicht im Geringsten.“, entgegnete Mueller und<br />
sah nachdenklich auf ihre Schwertklinge. „Mit den meisten Männern<br />
komme ich eigentlich sehr gut zurecht. Ich provoziere sie gerne, das ist<br />
alles. Aber ich lasse keinesfalls zu, dass einer zwischen dem<br />
Selbstbewusstsein einer Frau steht.“ Sie richtete den Blick wieder auf<br />
Shan. „Ich kenne deinen Vater, er ist oft genug in den Medien. Er lässt<br />
sich feiern für seinen zugegebenermaßen wohlverdienten Sieg in Rontar<br />
Minor. Im Pferdekopfnebel. Was macht deine Mutter.“<br />
„Meine Mutter?“ Die Frage überraschte Shan.<br />
„Genau, deine Mutter. War sie nicht auch damals in der Schlacht<br />
dabei?“<br />
„Doch, klar. Sie war der erste Offizier meines Dads und hat das Schiff<br />
in der Schlacht geführt, während er auf dem Planeten kämpfte. Warum<br />
fragen sie?“<br />
„Und was macht deine Mutter heute?“<br />
„Sie arbeitet im Föderationsrat.“<br />
„Politik also. Eine anstrengende Arbeit.“, wusste Mueller.<br />
„Ich denke schon.“, erwiderte Shan achselzuckend.<br />
„Und dein Vater? Was macht dein Vater heute?“<br />
„Er... er unterrichtet hin und wieder. Taktik und Strategie.“<br />
„Hin und wieder sagst du? Aha. Er unterrichtet also hin und wieder<br />
eine Klasse, ruht sich ansonsten auf seinem Sieg aus, für den er sich auch<br />
nach wie vor bejubeln lässt, während deine Mutter klammheimlich<br />
weitergegangen ist, ein Kind zur Welt brachte, es – wie ich mal annehme
-, zum großen Teil aufzog, den Haushalt schmeißt und nebenher auch<br />
noch in der Politik arbeitet. Ist das soweit richtig?“<br />
„Nun...“<br />
„Siehst du? Das machen nur Frauen. Wir brauchen keine<br />
Aufmerksamkeit. Wir brauchen keine Gratulanten. Wir tun einfach das,<br />
was wir tun müssen. Ohne zu jammern. Ohne zu meckern. Ohne<br />
Schwächen.“<br />
Shan war beeindruckt. Einfach beeindruckt. Ihr gefiel Muellers Art<br />
außerordentlich gut. Die Frau wusste wer sie war, was sie wollte und lies<br />
sich offenbar von niemandem etwas sagen.<br />
Mueller stand auf und half auch Shan auf die Beine. „Mach dir keine<br />
Gedanken um andere.“, sagte sie. „Oder um deinen Vater. Du bist gut,<br />
ansonsten wärst du gar nicht erst auf der Akademie. Und du kämpfst<br />
ausgezeichnet.“<br />
Shan lächelte schief. „Ja klar. Ich bin fix und fertig.“<br />
„Mag sein, aber du hast nicht aufgegeben. Außerdem trainiere ich<br />
regelmäßig, mein Körper ist es gewohnt, zu dieser Tageszeit<br />
Höchstleistungen zu bringen. Du dagegen treibst zu ungewohnter Stunde<br />
einen ungewohnten Sport. Wenn du nicht fix und fertig wärst, müsste ich<br />
mir ernsthafte Sorgen machen.“<br />
„Wollen Sie mir einreden, ich solle auch stolz darauf sein, dass ich<br />
verliere?“<br />
Mueller sah sie irritiert an. „Du hast doch gar nicht verloren. Wir sind<br />
auf Level fünfundvierzig, keiner ist verletzt, keiner ist angeschlagen. Ein<br />
bisschen Müde vielleicht, das ist auch schon alles. Davon abgesehen bist<br />
du auf dem richtigen Weg es so weit zu bringen, wie ich. Das<br />
Rohmaterial ist vorhanden, aber der Diamant gehört geschliffen. Du<br />
musst noch deutlich trainieren, viel üben. Aber ich erkenne Potential.“<br />
„Wow, danke.“<br />
„Bedank dich nicht für etwas, das selbstverständlich ist. Du musst<br />
selbstsicherer werden, weniger an dir zweifeln. Lass dich nicht ablenken.<br />
Denke nicht an andere. Wenn du kämpfst, bist du alleine. Lass dich<br />
völlig von deinen Instinkten leiten, auf die kalte Konzentration in deinem<br />
Bauch, und blende alles andere aus. Somit erzeugst du einen mentalen<br />
Kreis um dich herum, und du konzentrierst dich einzig und allein auf die<br />
Individuen, die diesen Kreis betreten. Die außerhalb, die ignorierst du.
Die innerhalb, begrüßt du mit deinem Schwert. So einfach ist das. Du<br />
verlierst das Gefühl für Zeit, du verlierst das Gefühl für dich selbst und<br />
du hörst erst auf, wenn die aufhören.“<br />
Mueller hob Shans Schwert vom Boden auf und gab es ihr zurück.<br />
Shan betrachtete die Waffe nachdenklich. „Aber wenn der andere besser<br />
ist...“<br />
Mueller schüttelte den Kopf. „Nein, denk gar nicht an so etwas. Sperr<br />
das aus. Wenn du einen Kampf betrittst, wenn du den mentalen Kreis um<br />
dich errichtet hast, gibt es nur noch eine Möglichkeit: Gewinnen. Das ist<br />
das ganze Geheimnis.“<br />
„Gewinnen?“<br />
„Richtig. Du musst dir des Sieges sicher sein. Dann wirst du auch<br />
siegen.“ Sie legte Shan eine Hand auf die Schulter und sah ihr feste in<br />
die Augen. „Du kannst alles schaffen. Wenn du es nur willst.“<br />
Shan starrte sie an. „Wow. Ich... weiß nicht, was ich sagen soll.“<br />
Mueller stellte sich zur nächsten Runde auf und Shan folgte ihr gut<br />
gelaunt. Sie fühlte sich toll. Mit wenigen, aber kernigen Sätzen, war es<br />
Mueller gelungen, Shan wieder völlig aufzubauen. Und diesmal schlug<br />
sie sich deutlich besser als in den vorherigen Runden. Sie konnte es<br />
natürlich noch immer nicht mit Mueller aufnehmen – absolut nicht -,<br />
aber während die Chalnoth auf sie einstürmten, beobachtete sie die Frau<br />
nun etwas aufmerksamer und erkannte, was es mit ihrer scheinbaren<br />
Bewegungslosigkeit auf sich hatte. Es war eher so, dass sie mithilfe einer<br />
Kombination von Geduld, Übung und Instinkt vorhersehen konnte, wie<br />
die Gegner angreifen würden. Sie wartete einfach, lies den Kampf zu<br />
sich kommen, anstatt vorzustürmen, wie es Shan tat, sondern begab sich<br />
in eine günstige Position und schlug dann blitzschnell zu. Shan versuchte<br />
also ihren Stil zu imitieren. Das gelang ihr zwar bei weitem nicht so<br />
geschickt wie Mueller, aber sie konnte sich schon wesentlich besser zur<br />
Wehr setzen, als noch vorhin, sodass sich die holographischen Gegner<br />
deutlich mehr Mühe geben mussten.<br />
Das schien auch Mueller nicht zu entgehen. „Sehr gut.“, lobte sie,<br />
während sie einem Chalnoth den Kopf vom Hals abtrennte. „Du lernst,<br />
in dem du mich beobachtest. Ausgezeichnet.“<br />
Sie kämpften noch eine Weile weiter und zwischen den Runden gab<br />
Mueller ihr immer kurze Tipps, etwa, wie sie stehen, oder das Schwert
halten sollte. Schon bald war Shan völlig schweißbedeckt, die<br />
Sportkleidung klebte an ihrem Körper. Ihr Herz schlug wild und sie<br />
realisierte, dass sie den Kampf genoss. Sie wollte sogar noch mehr. Mehr<br />
Gegner, mehr physische Herausforderungen. Sie fühlte sich lebendiger,<br />
als je zuvor. Sie hatte eine Holoeinrichtung noch nie für so etwas<br />
verwendet. Nur gelegentlich für Holoromane, Spaziergänge, oder<br />
Gymnastikstunden.<br />
Rücken an Rücken mit Mueller, in einem Ring von Gegnern, mit<br />
grimmigem Gesicht und dem Schwert in der Hand, fühlte sie sich aber<br />
viel wohler. Das Feuer in ihrem Herzen brannte so stark, dass sie auf<br />
gleich zwei Chalnoth los ging. Sie parierte die Axtschläge der beiden<br />
einigermaßen gekonnt, trat dem einen mit dem Schuh in den Magen und<br />
rammte dem anderen die Klinge in die Brust. Die Figur löste sich<br />
flackernd auf. Inzwischen kam der erste wieder auf sie zu, wütender als<br />
zuvor. Er schmetterte seine Axt so heftig nieder, dass er Shan das<br />
Schwert aus der Hand schleuderte. Aber sie dachte nicht daran<br />
aufzugeben. Der Rausch des Kampfes war zu übermächtig. Sie ballte die<br />
Faust, holte aus...<br />
„Computer, Programm Pause.“<br />
Mueller gab den Befehl. Der Chalnoth vor Shan stoppte in der<br />
Bewegung. Shan wirbelte zu Mueller herum. „Warum haben sie das<br />
Programm angehalten?“ Ihr Herz klopfte wahnsinnig, in ihren Augen<br />
stand eine unbändige Wildheit. Mueller ließ sich davon nicht<br />
beeindrucken. „Du stehst falsch.“, sagte sie. „Dein Schlag wird nicht<br />
sitzen.“<br />
„Was?!“ Shan befand sich direkt vor dem Chalnoth, sein Gesicht war<br />
frei. Es war völlig ausgeschlossen, daneben zu schlagen.<br />
Mueller deutete mit einem Kopfnicken auf den Chalnoth. „Sieh genau<br />
hin. Sieh ihm in die Augen. Errate seinen nächsten Zug. Warum steht er<br />
dort. Warum offenbart er dir sein Gesicht?“<br />
Shan drehte den Kopf. Sie sah den Chalnoth an und realisierte jetzt<br />
erst mit was für einem Gegner sie es zu tun hatte. Rund drei Köpfe<br />
größer als sie selbst, das Gesicht war ein einziger Knochen. Und dann<br />
sah sie, dass er in der anderen Hand plötzlich ein Messer hielt. Er musste<br />
es gezogen haben, als sie ihm den Tritt verpasst und sich mit dem<br />
anderen Chalnoth beschäftigt hatte.
„Er hat mir sein Gesicht als Zielscheibe dargeboten.“, erkannte sie.<br />
„Weil er genau wusste, dass ihm der Schlag nichts ausmachen würde.“<br />
Mueller nickte. „Genau. Du wärst einen Moment lang beschäftigt und<br />
abgelenkt. Genug Zeit, um dich abzustechen. Mehr braucht er nicht. Du<br />
schlägst zu, wunderst dich plötzlich, warum dein Gegner überhaupt nicht<br />
wankt und im nächsten Moment spürst du das Messer in deiner Seite. In<br />
der Realität kannst du die Zeit nicht anhalten. Da musst du innerhalb<br />
eines Sekundenbruchteils den Schlag deines Gegners vorhersehen und<br />
deinen eigenen planen. Im wirklichen Leben hättest du verloren, weil du<br />
übermütig wurdest. Kalte Konzentration.“, betonte Mueller. „Davon<br />
musst du dich leiten lassen. Von deinen Instinkten und dem Gefühl in<br />
deinem Bauch. Nicht von Wut. Die kannst du als Antrieb benutzen,<br />
genau wie Schmerz. Aber von diesen Dingen darfst du dich niemals<br />
leiten lassen, nur antreiben, verstanden?“<br />
Shan nickte. Ihre Gestalt sackte ein bisschen ein. Sie kam sich<br />
furchtbar blöde vor. Mit puren Fäusten auf einen Chalnoth loszugehen.<br />
Was hatte sie sich nur dabei gedacht?<br />
Mueller schien ihre Gedanken zu erraten. „Es war keine schlechte<br />
Idee, nur falsch ausgeführt.“ Sie sah sich in der Halle um, um sich zu<br />
versichern, dass sie alleine waren. Dann senkte sie die Stimme. „Es gibt<br />
einen Trick, einen bestimmten Schlag, mit dem du selbst so einen Kerl<br />
überwältigen kannst. Also pass gut auf. Offiziell bringen wir euch den<br />
nicht bei. Offiziell ist er kein Bestandteil des Lehrplans. Aber es ist unser<br />
Job euch nicht nur darauf vorzubereiten, in den Weltraum zu fliegen,<br />
sondern dass ihr auch in einem Stück zurück kommt. Dieser Schlag...<br />
diese Technik... ist nur für die Verteidigung und sollte nur im Notfall<br />
eingesetzt werden. Der wird aber häufiger eintreten, als du denkst. Wenn<br />
es heißt, du, oder dein Gegner, und du bist unbewaffnet, oder in solcher<br />
Bedrängnis, dass du deine Waffe nicht mehr rechtzeitig einsetzen kannst,<br />
dann solltest du dir gewisse.. Schwächen in der Biologie außerirdischer<br />
zu Nutze machen. Nicht jede Technik klappt bei jedem Kontrahenten,<br />
aber diese hier zeigt bei über siebzig Prozent von allen<br />
Föderationsbekannten Lebensformen Wirkung, und zwar die, seinen<br />
Atmungsapparat innerhalb weniger Sekunden auszuschalten. Je nach<br />
Kraft, die du in den Schlag einbringst, kann die Technik auch den Tod<br />
innerhalb weniger Sekunde erwirken.“
Mueller stellte sich neben Shan und zeigte ihr genau, was sie tun<br />
sollte. „... und jetzt, deine Finger auf diese Art biegen. Lass deine Hand<br />
wie einen Speer nach vorne, direkt auf diesen Punkt unterhalb der Brust<br />
schießen, als wäre dein gesamter Arm eine Waffe. Fertig?“<br />
Shan ging in Position, vor den Chalnoth. Sie nickte.<br />
Mueller hob die Stimme. „Computer, Programm fortfahren.“<br />
Auf einmal geriet der Chalnoth wieder in Bewegung, brüllte Shan an.<br />
Die schlug zu. Wie Mueller es ihr gezeigt hatte. Der Schrei blieb dem<br />
Chalnoth in der Kehle hängen. Er wurde zurückgeschleudert, als sei eine<br />
Abrissbirne gegen ihn geprallt. Er schlug auf, brach zusammen und<br />
rührte sich nicht mehr. Das Programm war abgeschlossen, der letzte<br />
Opponent besiegt. Der holographische Ring deaktivierte sich<br />
automatisch. Shan stand eine ganze Weile einfach da, mit großen Augen,<br />
und starrte auf ihre Hand, als sei ihr ein sechster Finger gewachsen.<br />
„Wow.“<br />
„Ja, wow.“, sagte Mueller und trat wieder neben sie. Sie hatte ihre<br />
Sachen zusammengepackt und sich ihre Sporttasche über die Schulter<br />
geworfen.<br />
„Ob ich in der Realität auch so gut klar komme?“<br />
„Kommst du.“, versicherte Mueller. „Die Sicherheitsvorkehrungen<br />
waren deaktiviert. Das hier... war die Realität.“<br />
Shan sah sie nur an.<br />
„Bau deinen Körper auf.“, instruierte Mueller. „Schaff dir ein paar<br />
Muskeln an und trainiere deine Reflexe. Es liegt ein langer Weg vor dir,<br />
aber ich zweifle nicht daran, dass du da draußen klar kommen wirst.<br />
Aber erst musst du mit dir selber klar kommen. Dein Vater, deine<br />
Freunde - wer auch immer. Die spielen dabei keine Rolle. Denn lass dir<br />
eines gesagt sein: Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner – und ganz sicher<br />
kein Mann.“ Dann lächelte sie. „Es war mir eine Freude, dich kennen zu<br />
lernen, Shan Bartez.“<br />
„Mir ebenso, Sir. Mir ebenso.“<br />
Mueller drehte sich um und marschierte Richtung Ausgang. Shan<br />
stand da und sah ihr nach. Ihr Herz pochte noch immer heftig in ihrer<br />
Brust und sie hatte noch lange nicht genug von dem Kampf. Irgendetwas<br />
war in ihr geweckt worden. Von allen Menschen, denen Shan je<br />
begegnet war, so dachte sie, war Katerina Mueller wahrscheinlich die
ungewöhnlichste. Sie war fast traurig, weil sie höchstwahrscheinlich<br />
nicht mehr mit ihr zu tun bekommen würde. Eine solche Frau wäre die<br />
ideale Mentorin und Shan nahm sich vor, sie zu ihrem Vorbild zu<br />
machen. Wenn es jemand verdiente, dann Mueller.<br />
„Kat?“ Mueller blieb vor dem Ausgang stehen und drehte sich noch<br />
einmal um.<br />
„Ja?“<br />
„Warum haben Sie eigentlich damit angefangen? Mit dem Training<br />
hier, meine ich.“<br />
Mueller dachte einen Moment nach. „Um sexuelle Spannungen<br />
abzubauen.“ Sie zwinkerte. Und im nächsten Moment hatte sie die Halle<br />
verlassen. Shan sah ihr grinsend nach. Sie fragte sich, ob sie je eine solch<br />
toughe Frau werden könnte.<br />
Als er um vier Uhr Morgens vom energisch läutenden Türmelder aus<br />
dem Bett geholt worden war, und vor der Tür eine verschwitzte und<br />
nicht minder energisch den Türmelder betätigende Shan Bartez in<br />
Sportklamotten vorgefunden hatte, hätte Dekan Reginald Barclay nicht<br />
überraschter reagieren können. Nun blickte er verdutzt auf die Junge<br />
Frau herab, die, im Gegensatz zu ihm, vor Energie nur so sprühte,<br />
während er noch versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu blinzeln.<br />
„S-sie w-wollen ihre Fächer auf den Studiengang >Sicherheit<<br />
konzentrieren?“, wiederholte er, was sie gerade gesagt hatte.<br />
„Das ist korrekt.“, bestätigte Shan.<br />
„Haben Sie eine Ahnung, wie-“<br />
„Wie spät es ist? Ja, Sir, das weiß ich.“<br />
„Kann das denn nicht-“<br />
„Bis morgen warten? Nein, nein, ich will das jetzt erledigen.“<br />
„Kadett.“, sagte Barclay erschöpft. „Ich bin wirklich-“<br />
„Müde? Ich werde Ihre Zeit nicht lange beanspruchen.“<br />
„Sie sollten wirklich aufhören, meine Sätze zu vervollständigen.“<br />
„Sprechen Sie schneller, Sir.“<br />
Barclays ohnehin schon recht klapprige Gestalt sackte ein wenig<br />
zusammen. Er lies die Schultern hängen und unterdrückte ein Gähnen.
„Es ist nur ein paar Tage her, d-da versicherten sie mir, dass sie ihr<br />
Studium keinesfalls auf den Sicherheitsbereich konzentrieren wollten.“<br />
„Ich habe meine Meinung geändert.“<br />
„D-das sehe ich. W-was ist mit ihrem Pilotentraining? Ich dachte das<br />
würde sie so interessieren.“<br />
„Die Standartausbildung im Navigations- und Steuerbereich wird<br />
genügen, Sir. Ich brauche keine Extraflugstunden, die besorge ich mir<br />
auch so. Das Sicherheitstraining wird meinen Zwecken dienlicher sein.“<br />
„I-ihren Zwecken...?“<br />
„Ja, Sir.“<br />
„Dienlich?“<br />
„Ja, Sir.“ Mehr sagte Shan nicht. Offenbar war sie nicht gewillt, näher<br />
auf diesen Punkt einzugehen. Barclay unterdrückte ein Gähnen. „Ich<br />
habe wirklich e-einige Gefallen für sie einfordern müssen, um ihnen die<br />
Teilnahme in diesen Schnupperkursen zu ermöglichen.“<br />
„Ich weiß, Sir. Dafür bin ich Ihnen auch sehr dankbar. Aber jetzt will<br />
ich etwas anderes. Ich habe mich entschieden, und ich akzeptiere kein<br />
Nein.“<br />
„Hm-mhm.“, machte Barclay. „I-ich sehe, Sie sind entschlossen.“<br />
„Das bin ich, Sir.“<br />
Er rieb sich seufzend die kleinen Augen. „Na schön, ich will mal<br />
sehen, was sich tun lässt, aber ich kann nichts garant-“<br />
„Danke, Sir.“ Shan drehte sich auf dem Absatz herum und joggte den<br />
Korridor hinunter. Barclay trat auf den Korridor hinaus und sah ihr<br />
stirnrunzelnd nach. Binnen weniger Sekunden war sie um die Ecke<br />
verschwunden.<br />
„Gern geschehen.“, rief Barclay ihr nach. Erst, als ihn ein<br />
vorbeimarschierender Kollege von oben bis unten musterte und frech<br />
grinste, realisierte Barclay, dass er nur mit einem Bademantel und<br />
Schlappen bekleidet, im Hauptgang stand. Er wurde bleich und<br />
schauderte. „G-g-gern g-geschehen.“<br />
Selbstverteidigung
Captain Arthur J. Flemming war einer der bekanntesten Experten der<br />
Sternenflotte, was den Nahkampf betraft. Er bewegte sich mit einem<br />
Selbstvertrauen und einer Zuversicht, für die Shan unwillkürlich<br />
Bewunderung empfand. Die Kadetten trugen weit sitzende<br />
Trainingsmonturen. Sie saßen in der Lotus-Position in einem Kreis auf<br />
dem Boden, während Flemming, die Hände locker auf dem Rücken<br />
verschränkt, um den Kreis herum ging.<br />
Er war ein eher unscheinbarer Mann. Mittelgroß, mit glattem braunen<br />
Haar, das durch feine, graue Strähnen durchzogen wurde, und erweckte<br />
insgesamt den Eindruck eines nicht allzu steifen, aber erwartungsgemäß<br />
korrekten Briten. Shan beobachtete ihn aufmerksam und prägte sich jede<br />
seiner Bewegungen ein. Gegenüber von ihr, auf der anderen Seite des<br />
Kreises, saß Galak. Er suchte einen Moment lang den Augenkontakt zu<br />
ihr, aber Shan bemühte sich, ihn keines Blickes zu würdigen. Sie war<br />
schon ablenkend genug, dass sie ihn während dem Lernen die ganze Zeit<br />
anschauen musste.<br />
„Bislang.“, sagte Flemming. „haben wir nur die Grundlagen des<br />
unbewaffneten Nahkampfes trainiert. Heute werden wir einen Schritt<br />
weiter gehen. Sie dürfen nicht zulassen, dass sie von den Phasern<br />
abhängig werden - insbesondere diejenigen von Ihnen nicht, die sich auf<br />
den Sicherheitsdienst spezialisieren wollen. Sie müssen in der Lage sein,<br />
Gegner auch ohne die Hilfe einer Strahlenpistole zu entwaffnen und<br />
auszuschalten. Stimmen wir in dieser Hinsicht überein?“<br />
Überall im Kreis nickende Köpfe.<br />
„Wir haben uns für den Angriff bislang auf die Grundlagen des<br />
Taekwondo konzentriert, da Ihnen bei diesem Kampfsport der Einsatz<br />
der Beine eine größere Reichweite ermöglicht. Und für die Verteidigung<br />
haben wir uns auf Aikido konzentriert, da Sie damit die Körperkraft<br />
Ihres Gegners zu Ihrem Vorteil einsetzen können. Es gibt in der Galaxis<br />
viele verschiedene Lebensformen... und viele von ihnen verfügen über<br />
wesentlich höhere Körperkräfte als ein durchschnittlicher Terraner, oder<br />
gar ein Andorianer.“<br />
Durkin brummte zustimmend. Tala sagte zwar nichts, rümpfte aber<br />
übertrieben die Nase.<br />
„Es gibt auch zahlreiche Waffen“, fuhr Flemming fort, „mit denen Sie
sich vertraut machen müssen. Man kann nie wissen, wann man sich auf<br />
einen Nahkampf einlassen muss. Und es gibt sogar Gelegenheiten, bei<br />
denen ein solcher Nahkampf in der Gesellschaft, die man gerade besucht,<br />
eine rituelle Bedeutung hat und obligatorisch ist. Die Erste Direktive<br />
weist uns an, den örtlichen Gepflogenheiten zu folgen, wann immer dies<br />
möglich ist. Sie werden sich nicht tagtäglich auf Duelle und dergleichen<br />
einlassen müssen, müssen aber stets auf solche Möglichkeiten<br />
vorbereitet sein. Dieser Aspekt der Selbstverteidigungskurse wurde von<br />
Admiral James Tiberius Kirk persönlich eingeführt, als er hier an der<br />
Akademie lehrte. Bei seinen Reisen musste er eine Vielzahl von Waffen<br />
handhaben. Zum Glück lernte der Admiral schnell, und dieser Umstand<br />
hat ihm bei zahlreichen Gelegenheiten das Leben gerettet. Aber er glaubt<br />
daran - wie wir auch -, dass es am besten ist, stets auf alles vorbereitet zu<br />
sein. Und genau das ist unser Job hier, Ladies und Gentleman. Sie<br />
vorzubereiten.“<br />
Flemming ging zu einem Schrank hinüber und holte zwei lange Stäbe<br />
hinaus. Einfache Holzstöcke, aber trotzdem sahen sie irgendwie<br />
gefährlich aus.<br />
„Bei einer Reihe von Waffen, die in der gesamten Galaxis verwendet<br />
werden, handelt es sich um Variationen des antiken terranischen<br />
Kampfgeräts, das man lapidar als Stock bezeichnet. Die Vulkanier haben<br />
zum Beispiel den Lirpa, der am einen Ende wie ein Knüppel geformt ist<br />
und am anderen über eine ziemlich gefährliche Klinge verfügt. Die<br />
Panonianer haben den Syzke, an dessen beiden Enden zerrissene<br />
Stofftücher befestigt sind. Das klingt vielleicht absurd, bis man begreift,<br />
dass man damit einem Gegner kurzzeitig die Sicht nehmen kann. Und<br />
wenn man im Nahkampf seinen Gegner auch nur einen Moment lang aus<br />
den Augen verliert, könnte dies zu einem schnellen Ende des Kampfes<br />
führen... und, im schlimmsten Fall, auch zu dem des Unterlegenen.“<br />
Aus den Augenwinkeln bemerkte Flemming, dass Shan den Eindruck<br />
machte, als wolle sie etwas sagen. „Ja, Mrs Bartez?“<br />
Shan dachte an den Schwert ihres Vaters, die Gardewaffe der<br />
Akademie. Damit hatte sie sich gegen die Tiere in der Höhle gewehrt.<br />
Zuerst hatte Shan ihren Einsatz gefürchtet – besonders, weil man sich<br />
mit der scharfen Klinge geradezu lächerlich einfach ein Bein<br />
abschneiden konnte. Nach ihrer Rettung von der Eiswelt, hatte die Waffe
aber einen merkwürdigen Reiz auf sie ausgeübt. Besonders das bösartige<br />
Zischen, mit dem die Klinge die Luft durchschnitte. Sie wollte eine<br />
entsprechende Bemerkung über das Gardeschwert der Akademie<br />
machen, war aber plötzlich gehemmt. Wenn sie auf ihre Erfahrung mit<br />
der Waffe hinwies und davon erzählte, wie sie mit Blut besudelt in der<br />
Höhle gestanden hatte, würden sie vermutlich sofort alle als Freak<br />
deklarieren.<br />
„Ahm... Nichts, Sir.“, sagte sie. „Hab nur mein Gewicht verlagert.“<br />
„Ich verstehe.“ Flemming richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf<br />
die anderen Studenten. „Wenn Sie die Grundlagen des Kampfs mit dem<br />
Stock verstehen, wird Ihnen das eine wertvolle Hilfe in einer Situation<br />
sein, in der Sie eine ähnliche Waffe benutzen müssen.“<br />
Er nahm einen Stab in beide Hände und hielt ihn waagerecht vor sich<br />
hin. „Sie fassen ihn hier an“, sagte er und deutete auf zwei Punkte in der<br />
Nähe der Stabmitte. „Halten Sie ihn nicht zu fest. Um jetzt ein Ende zu<br />
heben, belassen Sie eine Hand an Ort und Stelle und schieben die andere<br />
nach innen, etwa so...“ Nach fünfzehn Minuten hatte Flemming ihnen die<br />
wichtigsten Grundbegriffe des Kampfes mit einem Stab erklärt.<br />
Dann betrachtete er den Kreis der Studenten. „Kadett Bartez, Sie<br />
werden mein erstes Opfer sein. Hoffentlich haben Sie Ihr Gewicht so oft<br />
verlagert, dass Sie jetzt ganz locker sind...“<br />
Shan erhob sich und trat in den Kreis. Die anderen Kadetten rutschten<br />
zurück, um ihnen mehr Platz zu schaffen. Shan hob den anderen Stock<br />
auf, balancierte ihn zuversichtlich aus, verlagerte ihr Gewicht auf die<br />
Ballen ihrer nackten Füße und trat Flemming gegenüber, wo sie auf das<br />
Startzeichen wartete.<br />
Es gab kein Startzeichen.<br />
Flemming ging sofort in den Angriff über und versuchte es mit einer<br />
Finte. Shan setzte zu einer geringfügigen Bewegung an, um<br />
vorzutäuschen, sie glaube, die Finte sei der richtige Angriff. Als<br />
Flemming dann das andere Ende seines Stabes hob, um den richtigen<br />
Angriff einzuleiten, war Shan darauf vorbereitet und konnte ihm<br />
problemlos mit einem Schritt zur Seite ausweichen. Flemming war zu<br />
zuversichtlich gewesen und verfehlte sie. Er verlor kurzzeitig das<br />
Gleichgewicht, und Shan hob ihren Stab und rammte ihn in Flemmings<br />
Magengrube. Flemming stieß laut die Luft aus und brach keuchend auf
die Knie zusammen.<br />
Der Kampf hatte keine fünf Sekunden gedauert. Genauso lange<br />
dauerte es, bis die Studenten begriffen hatten, was passiert war. Shan<br />
musste grinsen, stellte aber fest, dass ihr niemand irgendeine Art von<br />
Begeisterung entgegenbrachte. Nur Verblüffung, die aber im Drang, ihre<br />
eigene Reputation zu retten, unterging. Automatisch traten die anderen<br />
Kadetten vor, um Flemming zu helfen, und sich artig um sein<br />
Wohlbefinden zu erkundigen, doch der winkte mühsam ab. Shan rollte<br />
die Augen und wollte ihm ebenfalls auf die Beine helfen, aber Tala hielt<br />
sie am Arm zurück. „Was tust du da?“, fragte sie und betrachtete Shan<br />
mit gelinder Überraschung.<br />
„Ahm... ihm helfen?<br />
„Dang! Warum solltest du so etwas tun?“<br />
„Helft ihr Andorianer euch etwa nicht auf?“<br />
„Selbstverständlich nicht.“, sagte sie sachlich. Es wäre ihr zweifellos<br />
niemals in den Sinn gekommen, Flemming auf die Füße zu helfen.<br />
„Wenn ein Kämpfer am Boden liegt, gilt es als Zeichen schlechter<br />
Manieren, ihm die Hand zu reichen. Daraus folgert man doch nur, dass<br />
der Besiegte zu schwach und nicht imstande ist, sich selbst zu helfen.<br />
Das einzig Richtige ist es, völlig reglos dazustehen. Darauf zu warten,<br />
dass der niedergeschlagene Gegner sich zusammenreißt und erklärt, dass<br />
er weitermachen kann, anstatt zu jammern.“<br />
„Vielen Dank, für Ihr Mitgefühl, Miss Era’Noor.“, keuchte Flemming,<br />
der mittlerweile seine Stimme wiedergefunden hatte. „Ihre Mutter war<br />
zuweilen ein wenig... humaner.“ Er kam mühevoll auf die Beine. „Ich<br />
bin in Ordnung, Leute. Vielen Dank.“, fuhr er knirschend fort,<br />
„Anscheinend bin ich seit den guten alten Tagen und Trainingseinheiten<br />
mit meinem Kollegen Borok ein wenig nachlässig geworden - und Sie<br />
haben mir das nicht durchgehen lassen, Kadett Bartez. Gut für Sie. Sie<br />
sind ein Naturtalent.“<br />
Sie grinste. „Danke, Sir.“<br />
Dann bemerkte Flemming, das Galak eine geringschätzige<br />
Handbewegung vollführte.<br />
„Kadett Arsamandi, sind Sie der Ansicht, dass Sie gegen Kadett Bartez<br />
besser bestehen können?“<br />
Galak neigte selbstgefällig den Kopf. „Aber selbstverständlich.“
Shan rümpfte die Nase, sagte aber nichts.<br />
Flemming bedeutete ihm, sich zu erheben, und Galak tat wie geheißen.<br />
Der Ausbilder gab ihm den Stab, setzte sich dann stöhnend zwischen die<br />
Studenten und kümmerte sich um seinen arg schmerzenden Magen.<br />
Galak wog den Stab mit unerschütterlicher Zuversicht in seiner Hand.<br />
Er pfiff leise die 1812-Ouvertüre vor sich hin, dann hielt er inne und<br />
drehte sich zu Shan um. „Du hattest reines Glück.“, sagte er gerade so<br />
laut, dass nur Shan ihn hören konnte. „Nichts weiter. Gegen einen alten,<br />
langsamen Mann magst du vielleicht bestehen. Aber gegen die<br />
Schnelligkeit und Überlegenheit, eines Orsorianers wirst du unterliegen,<br />
kein Zweifel.“<br />
„Bin sicher, Finnegan hat dasselbe gedacht...“<br />
Flemming horchte auf. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. An jenem<br />
ersten Tag des neuen Semesters, als diese ominöse Kadettin von denen<br />
alle gesprochen hatten, einen sehr viel höheren Kadetten nach Strich und<br />
Faden verprügelt hatte, war er nicht anwesend gewesen. Aber man hatte<br />
ihm die Geschichte natürlich aufgetischt. Nach allem, was er gehört<br />
hatte, war sie einer Naturgewalt gleich, über den unglücklichen Finnegan<br />
gekommen. Es hatte offenbar wirklich böses Blut zwischen den beiden<br />
gegeben, und sie schien auch mit einem ihrer Kameraden Probleme zu<br />
haben, doch Flemming hatte nur aus zweiter Hand davon gehört. Das<br />
war vor ein paar Tagen gewesen, er hatte einfach nicht mehr daran<br />
gedacht und auch gar nicht gewusst, um wen es sich genau bei dieser<br />
fragwürdigen Kadettin gehandelt hatte, aber nun bestand gar kein<br />
Zweifel mehr. Es war ein außerordentlich schlechter Zug, nun dieses<br />
Kampfnaturtalent Shan mit Waffen auf die untrainierten und vermutlich<br />
unterlegenen Kadetten loszulassen. Er wollte sie schnell dazu auffordern,<br />
den Ring wieder zu verlassen.<br />
Aber es war zu spät.<br />
Die Waffen prallten aufeinander.
Die anderen Kadetten feuerten die beiden Kämpfer auch noch so laut<br />
und energisch an, dass der noch immer atemlose Flemming sich nicht<br />
verständlich machen konnte. Er versuchte verzweifelt auf die Füße zu<br />
kommen, aber seine Beine gaben unter ihm nach und er plumpste zurück<br />
auf den Po, während Shan und Galak im Ring einen wilden Tanz<br />
aufführten. Der erste Schlagabtausch erfolgte so schnell, dass außer den<br />
beiden Kämpfenden niemand ihn nachvollziehen konnte. In der Luft<br />
hallten die schnellen Schläge von Holz auf Holz und Flemming war sich<br />
beinahe sicher, dass sie sich nun gegenseitig zerfleischen würden.<br />
Shan lies gerade ihren Stab niedersausen. Als Galak parieren wollte,<br />
täuschte Shan geschickt an und stieß von unten zu. Galak parierte erneut<br />
und ließ seine Waffe vom Anprall gegen Shans rechten Oberarm<br />
zucken... aber Shan erwiderte den Anstoß, berührte mit dem unteren<br />
Stabende sein nacktes Bein. Ihre Stöcke lösten sich, beide traten einen<br />
Schritt zurück. Die ersten Stöße waren ausgetauscht ohne Verletzungen.<br />
Flemming atmete erleichtert auf. Die Kadetten krakeelten. Shan und<br />
Galak umkreisten sich langsam.<br />
In den ersten Augenblicken des Gefechtes schätzte Shan in aller Ruhe<br />
ihren Gegner ein. Galak war erstaunlich schnell und seine Schläge<br />
besaßen erwartungsgemäß um einiges mehr Wucht, als ihre. Sicher. Er<br />
war ja auch weitaus muskulöser – immerhin das musste man ihm lassen.<br />
Und die Muskeln dienten offenbar nicht nur der Dekoration. Außerdem<br />
besaß er den Vorteil einer höheren Reichweite, da er immerhin gut zwei<br />
Köpfe größer war als sie. Aber er war mal wieder zu sehr von sich selbst<br />
überzeugt, und lies seine Deckung offen. Andernfalls hätte Shan<br />
vermutlich keine Chance gegen ihn gehabt. So entblößte er aber<br />
immerhin eine Schwachstelle und Shan sah ihre Chance. Kat Mueller<br />
hatte absolut Recht gehabt – alle Männer waren gleich. Galaks Ego war<br />
erwartungsgemäß so groß, dass es zwischen ihm und einem Sieg über sie<br />
stand. Also galt es weiter an jenem Ego zu kitzeln, um ihn aus der<br />
Reserve zu locken, bis er sich einen Fehler zu viel leisten würde.<br />
„Komm schon, Galak.“, spottete sie frech grinsend, während sie sich<br />
weiterhin umkreisten, wie Wölfe auf der Lauer, nur auf die nächstbeste
Schwachstelle des Opponenten wartend. „War das etwa schon alles, was<br />
der große, starke Orsorianer zu bieten hat?“<br />
Galak schnaubte gönnerhaft. „Meine liebe Shan. Ich habe nicht einmal<br />
angefangen.“<br />
„Sieht für mich eher danach aus, als ob der Kampf längst beendet<br />
wäre, mein lieber Mister Arsamandi. Vermutlich hast du doch nicht so<br />
viel drauf, wie du glaubst...“<br />
Und damit köderte sie ihn erfolgreich. Aber anders als erwartet. Galak<br />
warf eingebildet den Kopf zurück, so als wolle er sich imaginäre Haare<br />
aus der Stirn werfen – nur, um im nächsten Moment unvermittelt<br />
anzugreifen. Dabei schien er sich völlig auf seine Größe und Kraft zu<br />
verlassen, um den Kampf für sich zu entscheiden. Er wirbelte den Stab,<br />
verteilte eine Serie schneller Stöße und Shan ließ sich zurücktreiben.<br />
Dann duckte sie sich unter einem besonders heftigen Schlag hinweg, hob<br />
blitzschnell ihren Stab und rammte ihn Galak in den Magen. Der<br />
Orsorianer schwankte leicht und blinzelte verblüfft.<br />
„Sorry.“, sagte Shan gleichmütig. „Das tut mir furchtbar leid...“<br />
„Ich werde es ... überleben.“, erwiderte Galak, keuchend. Auch das<br />
war wieder ein Ablenkungsmanöver. Aber eines, das diesmal wesentlich<br />
besser funktionierte. Er erholte sich tatsächlich viel schneller, als Shan<br />
erwartet hatte. Im einen Moment, hielt er sich noch den Magen und im<br />
nächsten stürmte er wieder vor und Shan konnte den nächsten Hieb nur<br />
mit Mühe und Einsatz ihrer ganzen Kraft abblocken, ohne an Boden zu<br />
verlieren.<br />
Sie standen einen Augenblick lang schwer atmend da, schoben und<br />
drückten, und niemand wollte zurückweichen. Während Shan aber alle<br />
Mühe hatte, ihre Position zu halten, und schon gefährlich mit den Füßen<br />
auf der Matte rutschte, hatte sie den Eindruck, dass Galak nicht einmal<br />
die Hälfte seiner Kraft einsetzte. Er schien sie gar zu schonen und sich<br />
nur dahingehend zu bemühen, dass er sich nicht zurückdrängen lies. Sein<br />
selbstsicheres, geradezu ärgerlich arrogantes Lächeln war ein<br />
untrügliches Zeichen, was aber nur Shans Aggressivität förderte.<br />
„Du hast dir die falsche Frau zum roh werden ausgesucht.“, presste sie<br />
hinter zusammengebissenen Zähnen hervor, und hatte dabei alle Mühe,<br />
diesen Kampf der Willensstärke nicht zu verlieren.<br />
Galak hingegen hatte keinerlei Mühe. Er sagte: „Nur, weil du
wunderschön bist, heißt das noch lange nicht, dass dir jeder alles<br />
durchgehen lässt.“<br />
Shan blinzelte überrascht. „W-was?“<br />
Statt eine Antwort zu geben, drehte sich Galak plötzlich zur Seite,<br />
wodurch Shans Stab abrutschte und sie das Gleichgewicht verlor. Sie<br />
rannte völlig verblüfft und unvorbereitet ins Leere, während Galak<br />
herumwirbelte und versuchte die Gunst des Augenblicks zu nutzen, um<br />
den Kampf zu beenden, in dem er seinen Stab im großen Bogen<br />
hinabsausen lies. Shan blieb der Bruchteil einer Sekunde, um darauf zu<br />
reagieren und es gelang ihr, sich zur Seite zu drehen, und mit ihrem<br />
eigenen Stab einen Teil der Wucht des Schlages abzuleiten. Dennoch<br />
kam sie arg ins Schleudern und konnte sich nur mit einem weiten Hieb<br />
etwas Luft verschaffen.<br />
Wieder umkreisten sie sich.<br />
Die Kadetten johlten und brüllten – doch keiner der beiden<br />
Kontrahenten schenkte ihnen Aufmerksamkeit. Sie waren zu sehr<br />
aufeinander konzentriert, schnaufend und verschwitzt. Shans Herz<br />
hämmerte und sie realisierte, dass es ihr gefiel. Sie wollte mehr. Mehr<br />
Kampf, mehr Herausforderung. Mehr physische Forderung. Sie fühlte sie<br />
lebendiger, als je zuvor.<br />
Beiden stand der Schweiß ins Gesicht und die Konzentration in den<br />
Augen geschrieben. Galak gab sich alle Mühe, keine Anstrengung zu<br />
zeigen, in Wahrheit jedoch hatte er mehr Probleme, als er sich<br />
einzugestehen wagte. Shan dagegen schnaufte unverblümt. Sie war<br />
völlig außer Atem. Er hingegen schien bemerkenswert ruhig, obwohl<br />
auch auf seiner Haut der Schweiß glänzte. Und wie er glänzte.<br />
Genaugenommen hatte er einen bemerkenswerten Körper. So Muskulös,<br />
so...-<br />
Shan blinzelte erneut. Sie durfte sich nicht noch einmal ablenken<br />
lassen, aber es fiel ihr schwer Galaks Körperbau nicht anzustarren. Sie<br />
hatte es nie bemerkt, aber plötzlich, übten die angespannten und feuchten<br />
Muskeln einen merkwürdigen Reiz auf sie aus. Sie versuchte sich zu<br />
konzentrieren und ihm in die Augen zu sehen. Sie fragte: „Hast du eben<br />
etwa gesagt, ich sei hübsch?“<br />
Galak zuckte die Schultern. Seine Stimme klang fest und<br />
unbeansprucht. Tatsächlich hörte es sich so an, wenn er sprach, als ob er
mit ihr in der Kantine saß. „Wenn du nicht gerade abweisend allem und<br />
jedem gegenüber bist, dann ist deine Erscheinung sehr erregend.“<br />
„Ich bin nicht abweisend. Ich bin genervt.“<br />
„Ja. Ja, das kann ich sehen. Welch Schande. Ein so hübsches Gesicht.<br />
Immer mit diesem >stör mich und ich töte dich< Schriftzug auf der Stirn.<br />
Ein Lächeln würde dir um einiges besser stehen. Damit würdest du die<br />
Leute mehr überraschen, als mit deinen Angriffstaktiken.“<br />
„Du vergisst, es ist mir egal was andere denken.“<br />
„Nein, ist es nicht.“<br />
„Doch, ist es. Man muss nicht immer derjenige sein, der sie wollen,<br />
der du bist, verstehst du? Ein eigener Geist stünde dir auch gut. Dann<br />
würdest du deinen Gegnern keine Gelegenheit bieten, an einem Ego zu<br />
kitzeln.“<br />
„So groß ist mein Ego gar nicht.“<br />
Jetzt lachte Shan. „In diesem Raum ist kaum genug Platz für dich und<br />
dein Ego.“<br />
Galak hob eine Braue. „Glücklicherweise bin ich nicht der einzige, mit<br />
einer massiven Persönlichkeit, nicht wahr?“<br />
„Was willst du damit sagen?“<br />
„Ich will damit sagen, dass deine Augen bemerkenswert hübsch sind.“<br />
Shan stutzte. „Meine... Augen? Was willst du dami-“<br />
Und wieder war sie auf ihn hereingefallen. Galak hatte die Taktik<br />
einfach herumgedreht, in dem er Shans einzige Schwachstelle nutzte.<br />
Die Attacke kam ein weiteres Mal völlig überraschend für Shan. In dem<br />
einen Moment stand Galak noch einigermaßen lässig da und im nächsten<br />
wirbelte er mit unglaublicher Geschwindigkeit auf sie zu. Als sein Stab<br />
über Shans Kopf die Luft bogenförmig, einem Schemen gleich<br />
durchtrennte, riss Shan Instinktiv ihre eigene Waffe hoch, was sie<br />
vermutlich vor größeren Verletzungen bewahrte. Der Stoß warf sie<br />
zurück und sie sank mit einem verblüfften Keuchen auf die Knie wieder,<br />
kam aber sofort wieder hoch. Im nächsten Moment stieß Galak das<br />
andere Ende des Stabes gegen ihre Oberschenkel. Bevor Shan begriff,<br />
was ihm da wiederfuhr, zog Galak den Stab quer zurück und benutzte<br />
ihn als Hebel. Er riss Shans Füße vom Boden und sie stürzte mit dem<br />
Rücken so schwer auf die Matte, dass ein richtiger Knall erfolgte.<br />
Schnell wie der Blitz war Galak auf ihr, sodass sie nicht mehr
hochkam. Er warf seinen Stab beiseite und drückte Shans Hände auf die<br />
Matte, damit sie keine Dummheiten anstellen konnte. Nun war sie<br />
wehrlos. Galak lächelte zufrieden. Zwar versuchte sie noch ein paar<br />
Sekunden, gegen ihn anzukämpfen, aber darüber konnte Galak nur müde<br />
lächeln. Er bekam ihre Hände mühelos heruntergedrückt, ohne sich<br />
großartig anstrengen zu müssen. Schließlich gab sie auf.<br />
„Gibst du jetzt auf?“<br />
Shan schnaufte. Aber schließlich, so bemerkte Galak, schien sie<br />
einzusehen, dass er ihr einfach überlegen war. Sie beendete jede<br />
Gegenwehr, sah ihn aus funkelnden Augen an und hauchte kaum hörbar:<br />
„Ich muss dir etwas gestehen, Galak.“<br />
Er senkte ebenfalls die Stimme und beugte sich ein wenig näher zu ihr<br />
herab. „Was denn?“<br />
Shan warf einen kurzen Seitenblick nach rechts, und dann nach links,<br />
zu den begeisterten Kadetten, die inzwischen schon sehr viel leiser<br />
geworden waren.<br />
Sie konnten problemlos hören, was die beiden zu bereden hatten.<br />
„Noch näher.“, flüsterte Shan daher.<br />
Galak kam näher. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. Er konnte<br />
ihren warmen, guten Atem auf seiner Haut spüren. Ihre Lippen waren<br />
jetzt ganz nah.<br />
„Ja, Shan...?“<br />
In dem Moment verpasste sie ihm eine Kopfnuss. Vermutlich tat sie<br />
sich selbst dabei genauso weh, wie ihm, reagierte aber gefasster, da das<br />
Überraschungsmoment eindeutig auf ihrer Seite lag. Sie stieß völlig<br />
unvermittelt zu, sodass Galak überhaupt nicht wusste, wie ihm geschah,<br />
als hinter seiner Stirn auf einmal ein explosionsartiger Schmerz pochte.<br />
Er wusste nur, dass er dadurch Shans Handgelenke locker lies und diese<br />
Unaufmerksamkeit war alles, was sie benötigte. Noch immer Sterne<br />
sehend, spürte Galak, wie sich die Welt um ihn herum auf einmal drehte<br />
und als die roten, blauen und gelben Lichtflecken vor seinen Augen<br />
langsam verblassten, fand er sich auf dem Rücken liegend wieder. Als<br />
nächstes lichtete sich der Schleier der Benommenheit so weit, dass er<br />
Shans Gesicht erkannte. Sie saß nun rittlings auf ihm und drückte<br />
wiederum seine Arme herab. Sie hatten recht erfolgreich die Position<br />
gewechselt.
„Nun...“, stellte er fast. „Das ist eine Position, die ich weitaus mehr<br />
bevorzuge. Leider kann ich es nicht erlauben, dir den Eindruck eines<br />
Sieges zu gewähren.“<br />
Er hob ruckartig seinen Torso, wodurch Shan für einen kurzen<br />
Moment in die Luft katapultiert wurde, während er sie noch immer<br />
festhielt. Noch in der gleichen Bewegung schaffte es Galak irgendwie,<br />
sich zusammenzurollen, seine Beine anzuwinkeln, und die Füße unter<br />
ihren Bauch zu bekommen. Nun war nichts weiter nötig, als sich ein<br />
Stück nach hinten zu rollen.<br />
Genau das tat er, wodurch er die völlig verblüffte Shan über sich<br />
hinwegschleuderte. Sie landete mit einem lauten Knall hinter ihm mit<br />
dem Rücken auf der Matte. Und diesmal blieb sie liegen. Während Galak<br />
geschickt auf die Beine sprang, lag Shan einfach da, Arme und Beine<br />
weit ausgestreckt, während sich ihr Brustkorb zügig hob und senkte.<br />
Die Kadetten jubelten und Pfiffen. Galak reckte ihr eine Hand<br />
entgegen. Zerknirscht und wiederwillig schlug Shan ein und lies sich auf<br />
die Beine helfen. Ihr Selbstvertrauen hatte einen argen Tritt bekommen.<br />
„Du hast gut gekämpft.“, bemerkte Galak.<br />
Shan rechnete ganz automatisch mit einer blöden Bemerkung, oder<br />
zumindest einer Anspielung. „Für eine Frau, eh?“<br />
Galak überlegte einen Moment. „Nein. Du hast gut gekämpft.“<br />
Er zwinkerte ihr zu und so sehr sie sich dafür auch hasste... musste<br />
Shan einfach lächeln, denn sie hatte erschreckend viel Spaß gehabt. So<br />
brutal es auch ausgesehen haben mochte, war der Kampf schon fast zu<br />
einem Spiel geworden. Einem Spiel das beide wesentlich mehr genossen<br />
hatten, als sie sich einzugestehen bereit waren. Flemming sackte<br />
erleichtert zusammen. Shan und Galak grinsten erfreut. Die Kadetten<br />
jubelten...<br />
... und konnten daher nicht hören, wie Sortak in der letzten Reihe saß<br />
und mit den Zähnen knirschte.<br />
Bibliothek
„Sollte ich mir über euch beide Sorgen machen?“<br />
Shan sah in der von ihrem Lehrtext über postnukleare Biosphären auf.<br />
Es war später Nachmittag. Die untergehende Abendsonne fiel in die<br />
Bibliothek ein und tauchte den Raum in ein orange-rötliches Licht. Shan<br />
und Sortak waren im Moment die einzigen, die sich noch hier aufhielten<br />
und den Stoff für die nächsten Tage durchgingen. Bislang war sie in<br />
ihren Text vertieft gewesen. Nun bemerkte Shan, dass Sortak sie mit<br />
durchdringenden Augen anstarrte.<br />
„Pardon?“, fragte sie. „Wir beide?“<br />
„Ihr beide. Du und Galak.“<br />
Sie starrte ihn an, als sei ihm ein zweites Paar spitze Ohren gewachsen.<br />
„Ich ... und Galak?“ Sie blinzelte einmal. „Was ist mit mir und Galak?“<br />
„Nun... für mich sah das heute nach mehr, als einem simplen Kampf<br />
aus. Ich habe mich nur gewundert...“<br />
Shan konnte es kaum glauben. „Oh mein Gott.“, lachte sie . „Ich<br />
meine... oh mein Gott. Galak? Unser Prinz Ego? Sortak! War ich heute<br />
beim Nahkampftraining wirklich so schlecht?“<br />
„Darum geht es nicht. Du warst sogar sehr gut.“<br />
„Ich weiß.“<br />
„Es ist nur...“ Er kniff die Augen zusammen, als wollte er mehr sagen,<br />
lies es aber bleiben. „Ach, vergiss es. Du hast recht. Du und Galak... es<br />
ist absurd. Einfach absurd.“<br />
„Nun... gut. Also werden wir das nicht mehr diskutieren, ja?“<br />
„Nicht ein Wort.”, versicherte Sortak.<br />
„Ganz sicher?“<br />
„Absolut sicher.“<br />
„Gut.“ Shan schüttelte leicht den Kopf und widmete sich wieder ihrem<br />
Text.<br />
„Du liebst ihn, nicht wahr?“<br />
Als Shan diesmal den Kopf hob, starrte Sortak sogar noch<br />
durchdringender. Sie seufzte. „So viel zu, >wir reden nicht mehr<br />
drüber
leiseste Bisschen Sympathie für ihn empfinde.“ Sie spreizte die Finger<br />
der gehobenen Hand und begann nacheinander aufzuzählen. „Er ist<br />
arrogant, er ist überheblich, er ist unfreundlich, er ist herablassend, er...<br />
er...“<br />
„...ist halbnackt?“<br />
Shan grummelte. „Ja, das ist er auch.“<br />
„Gib es zu, er geht dir nicht mehr aus dem Kopf.“<br />
„Wie kannst du das sagen? Wie kommst du nur immer wieder auf so<br />
einen Schwachsinn?”<br />
Er tippte mit dem Finger an seine Schläfe. „Weil wir Seelenverwandt<br />
sind, schon vergessen? Shan. Du bist das unabhängigste und cleverste<br />
Mädchen, das ich kenne. Für gewöhnlich traue ich deiner<br />
Urteilsfähigkeit ohne auch nur eine Sekunde zu zweifeln. Aber... –wie<br />
drücke ich es am Taktvollsten aus? Ah! Dein Verstand neigt dazu, sich<br />
ins nächste Shuttle zu setzen und ganz weit fortzufliegen, sobald es um<br />
Männer geht. Du hast einen fürchterlichen Geschmack und fällst ohne<br />
Unterlass auf die falschen Typen rein.“<br />
„Von welchen Typen redest du?“<br />
„Tonna Obner.“<br />
„Tonna Obner?“, wiederholte Shan.<br />
Sortak nickte. „Tonna Obna.“<br />
„Uhm... Sortak... das war in der Grundschule.“<br />
„Du hast für ihn geschwärmt, das wusste jeder.“<br />
„Und was ist so verkehrt daran?“<br />
„Er hatte nicht einmal einen Kopf...“<br />
Shan zog ein verdrossenes Gesicht. „Das... das ist... das... Sortak! Das<br />
war in der Grundschule. Da habe ich auch noch für Toby den Targ<br />
geschwärmt! Was ich“, behauptete sie. „auch nicht mehr tue! Und dies<br />
hier ist nicht die Grundschule, und Galak ist nicht Obna. Inzwischen bin<br />
ich erwachsen, klar?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie kommst du nur<br />
immer auf so etwas?“<br />
„Ich sehe es an deinen Augen.“<br />
„Was seht ihr nur alle in meinen Augen, was ich nicht sehe?“<br />
Nun begann wiederum Sortak an den Fingern abzuzählen. „Du bist<br />
abgelenkt. Du vergisst Sachen. Deine Laune ist Sprunghaft –<br />
sprunghafter als üblich-“
„Meine Laune ist nicht sprunghaft!“, keifte sie. Kaum waren ihr die<br />
Worte entschlüpft, folgte ein tiefes Seufzen. „Bitte verzeih mir, ich<br />
wollte dich nicht anschnauzen.“<br />
„Siehst du? Emotional Sprunghaft. Gib es doch einfach zu, Galak geht<br />
dir nicht mehr aus dem Kopf! Du zeigst die typischen Muster. Er kommt<br />
daher, groß, muskulös...“<br />
„Halbnackt.“, warf sie ein.<br />
„...halbnackt, richtig, und er wagt es, dir die Stirn zu bieten. Dir zu<br />
Widersprechen, und dir ununterbrochen vor den Kopf zu stoßen. Er sagt<br />
dir ohne Schein seine Meinung und das wagt sonst so gut wie niemand,<br />
weil für gewöhnlich alle um ihr Leben bangen, wenn sie dir<br />
widersprechen. Doch er nicht. Er ist anders. Er ist frech. Und diese<br />
Frechheit ist es, die dich automatisch anzieht.“<br />
„Blödsinn! Tala, Durkin und du - ihr seid mindestens genauso frech.<br />
Drum bin ich trotzdem noch lange nicht, an einer denobulanischen<br />
Quadrobeziehung interessiert.“<br />
„Du kannst es noch so sehr abstreiten, ich weiß, dass mehr dahinter<br />
steckt. Das bereitet mir Sorgen, und ich sehe es als meine Aufgabe dich<br />
davor zu bewahren, einen Fehler zu begehen. Galak ist ein Idiot! Und ich<br />
kann nicht begreifen, wie du-“<br />
„Okay, das reicht.” Shans Stuhl quietschte, als sie sich erhob. „Ich<br />
muss zum Xenokurs. Bin ohnehin schon zu spät.“ Bevor sie ging, lehnte<br />
sie sich über den Tisch zu Sortak herüber. „Hör zu: Da ist nichts!<br />
Ehrlich. Du musst dir das einbilden. Ich bin ganz sicher nicht eine von<br />
den Mädchen, die ihren Verstand über Bord werfen, nur weil ein<br />
muskulöser Prinz um die Ecke kommt und einmal kurz mit seinen<br />
Hüften wackelt. Ich versichere dir, ich bin nicht weniger emotional<br />
Sprunghaft als üblich und auch ganz sicher nicht unkonzentriert,<br />
verstanden? Ich und Galak... pfff... der Gedanke ist absolut Ticketyboo.“<br />
Sie drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand erhobenen<br />
Hauptes um die Ecke.<br />
Sortak streckte den Arm aus, griff Shans Datenblock vom Tisch und<br />
hielt ihn in die Höhe, ohne ein Wort zu verlieren. Ein paar Sekunden<br />
später kam Shan um die Ecke zurückgestapft. Ihr Mund war geöffnet,<br />
bereit etwas zu sagen, aber als sie sah, dass Sortak einfach dasaß, mit
gehobener Braue, als würde er sagen wollen „naaaaa?“, und ihren<br />
Datenblock in die Luft hielt, war ein gurgelnder Laut alles, was ihre<br />
Kehle verließ. Sie wog ihren Kopf anerkennend zur Seite, nahm den<br />
Datenblock an sich und eilte anschließend wieder nach draußen. Sortak<br />
wartete, bis sie die Bibliothek verlassen hatte und schüttelte dann<br />
schnaubend den Kopf.<br />
Und er wusste genau, dass der Gedanke eben nicht Tickety-boo war.<br />
Akademie-Feier<br />
Hätte Shan geahnt, dass sich die Akademiefeier zum katastrophalsten<br />
Desaster in der Geschichte der Sternenflottenakademie entwickeln<br />
würde, wäre sie nicht hingegangen.<br />
Inzwischen waren vier Wochen seit ihrer Ankunft auf dem Campus<br />
vergangen. Die Kadetten hatten genug Zeit gehabt, sich mit der<br />
Umgebung, den Lehrstunden und den Regeln vertraut zu machen, und<br />
sich ein wenig an das Leben auf der Akademie zu gewöhnen. Von<br />
einkehrender Routine konnte zwar keine Rede sein, da sich die<br />
Sternenflotte ständig neue Dinge ausdachte, um die Studenten auf Trab<br />
zu halten, aber nachdem nun die meisten organisatorischen Dinge<br />
abgeschlossen waren und sich auch die Einführungsstunden und<br />
Rundgänge dem Ende neigten, kehrte zumindest ein gewisser Grad an<br />
Normalität in den Akademiealltag ein.<br />
Die Kadetten des ersten Jahres lauschten für gewöhnlich mit großen<br />
Rehkidsaugen und äußerst gebannt ihren Lehrern, während die zweiten<br />
Jahr von allen die größte Klappe besaßen. Die im dritten Jahr waren –<br />
Kadett Finnegan einmal ausgenommnen – schon um einiges reifer, fast<br />
erwachsen, und die im vierten, schienen sich mehr auf ihre ersten<br />
richtigen Sternenflottenkarrieren zu konzentrieren und sonst auf nichts.<br />
An diesem Abend jedoch, waren sie alle Kreuz und Quer in der<br />
ausladenden Haupthalle versammelt, lachend und trinkend, wo sonst nur<br />
Formale Feiern abgehalten wurden. Präsentationen, Verleihungen,<br />
Zeremonien und diese Dinge. Heute jedoch wurde die erfolgreiche
Bewältigung der ersten vier Wochen des Frischlingsommers gefeiert.<br />
Als Shan sich durch das Gedränge kämpfte, hielt sie nach vertrauten<br />
Gesichtern Ausschau. Sie war spät eingetroffen und hatte sich<br />
vorgenommen, nicht allzu lange zu bleiben. Außerdem hatte sie sich auf<br />
dem Weg hierher vorgenommen, sich nicht von der Tradition des Festes<br />
beeindrucken zu lassen. Sie hatte immer wieder vor sich hergesagt, dass<br />
nichts besonderes dabei war, nur eine dumme Sternenflottenfeier, mit<br />
lauter Sternenflottenspielzeugsoldaten. Sie hatte es sich sooft gesagt, bis<br />
die Worte dafür gesorgt hatten, dass sie gar nicht beeindruckt werden<br />
konnte. Dementsprechend konnte sie es auch riskieren, an der Feier<br />
teilzunehmen – wenn auch nur kurz.<br />
Und Auftauchen musste sie, auch wenn sie anfangs gar nicht hingehen<br />
wollte. Alleine ihrem Vater zu Liebe, denn ihre Familie war schließlich<br />
auch sehr traditionsreich und auch, wenn Shan dies absolut egal war, so<br />
konnte sie ihm ihre Abwesenheit nicht antun. Ihr einziger Trost lag<br />
darin, dass ihre Studiengruppe auch hier irgendwo sein musste und dass<br />
sie den Abend mit einem von ihnen verbringen konnte. Doch dazu<br />
musste sie sie erst einmal finden. Einen Moment lang dachte sie schon,<br />
Cera entdeckt zu haben, aber wie sich herausstellte, handelte es sich<br />
doch nur um einen Hurrrl, der von hinten immerhin gewisse<br />
Ähnlichkeiten mit der Pakled aufwies.<br />
Shan murrte. Wo war Cera nur? Sie hatte die Pakled in letzter Zeit<br />
kaum gesehen, und wenn doch, dann war sie noch immer nur über ein<br />
Computerterminal gebeugt und las. Sie las hier, sie las dort, sie las<br />
überall. Sie las stumm, bewegte aber ihre Lippen. Das war scheinbar<br />
alles, was sie tat. Shan ging davon aus, dass sie einfach eine Menge<br />
lernen musste, um im Unterricht mitzuhalten. Tala und Durkin<br />
verpassten sich weiterhin böse Spitzen, während Wotan und Grau sich<br />
normal verhielten. So normal, sich ein geschwätziger Tiger und ein<br />
hyperaktiver Briori eben verhalten konnten. Mit Sortak hatte Shan in den<br />
vergangenen drei Tagen nicht viel gesprochen. Jedes mal, wenn sie ihn<br />
ansah, starrte er sie mit diesen durchdringenden, tadelnden Augen an,<br />
und Shan hatte diesem Blick irgendwann nicht mehr standgehalten,<br />
sodass sie beschlossen hatte, ihm ein paar Tage aus dem Weg zu gehen,<br />
bis ihn die Erkenntnis überfiel, dass er sich bezüglich sie und Galak<br />
geirrt hatte.
Galak.<br />
Pfff.<br />
Lächerlich!<br />
Andererseits...<br />
....es mochte Einbildung sein, aber es kam Shan so vor, als ob sie ihm<br />
fast dreimal sooft über den Weg laufen würde, wie den anderen<br />
Kadetten. Selbst häufiger, als sie Sortak über dem Weg lief. Und den<br />
kannte sie immerhin seit frühester Kindheit. Vielleicht lag es aber auch<br />
nur daran, dass Sortak sie derart verwirrt und gekränkt hatte, dass sie<br />
Galak plötzlich jedes Mal bewusst registrierte, was bei den anderen nicht<br />
der Fall war. Es war im Grunde das gleiche Phänomen das auftrat, wenn<br />
man von jetzt auf Gleich einer Randgruppe angehörte. Als Hundebesitzer<br />
sah man überall Hunde, wo man früher keine wahrgenommen hatte, als<br />
Schwangere rollten einem ständig andere Menschen über den Weg, die<br />
ein Kind erwarteten. Die Psyche spielte einem Streiche. Vielleicht, so<br />
dachte sie, – und diesen Gedankengang vollführte sie nur wiederwillig –<br />
fiel Galak ihr aber auch nur deshalb besonders auf, weil sie jedes Mal,<br />
wenn sie zusammen waren, auf eine Reaktion von ihm hoffte. Dass er<br />
irgendetwas besonderes zu ihr sagte, oder eine Bewegung machte. Ein<br />
flüchtiges Lächeln, oder Zwinkern.<br />
Stattdessen behandelte er sie wie sonst auch. Wie alle anderen. Er trug<br />
seine Nase zum Himmel, akzeptierte ihre Präsenz, und machte dann mit<br />
seiner Arbeit weiter. Das war alles. Es ärgerte Shan, dass er nichts zu ihr<br />
sagte. Und es ärgerte sie, dass es sie ärgerte, dass er nichts sagte.<br />
Eigentlich sollte es ihr völlig egal sein. Mochte er doch zum Teufel<br />
gehen, der Herr Prinz. Shan würde das ganz sicher nicht kümmern.<br />
Schließlich hatte sie, seit ihrem Wechsel in die Sicherheitsabteilung,<br />
ohnehin genug zu tun. Genug, um nicht an Galak zu denken.<br />
Zumindest versuchte sie sich das einzureden, als plötzlich das Gesicht<br />
ihres Vaters vor ihr auftauchte. Shan war derart in Gedanken versunken,<br />
dass sie ihn gar nicht bemerkt hatte. Shan erschrak. Sie verlor das<br />
Gleichgewicht, stürzte gegen ihren Vater...<br />
... und durch ihn hindurch. Es handelte sich lediglich um ein<br />
Hologramm, eine Projektion aus Licht und Photonen und daher war dort<br />
rein gar nichts, was ihr auch nur ansatzweise einen Halt hätte geben<br />
können. Shan geriet ins Straucheln, schaffte es aber irgendwie, sich auf
dne Beinen zu halten und der Schmach eines Sturzes zu entgehen. Sie<br />
atmete tief durch und ignorierte das sporadische Lachen der wenigen<br />
Kadetten, die sie beobachtet hatten.<br />
Das Hologramm ihres Vaters flackerte einen Moment und<br />
verschwand. Ein paar Minuten später, tauchte es wieder für ein paar<br />
Sekunden auf, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden. Shan sah<br />
sich nun aufmerksamer in der Halle um und entdeckte diese<br />
Hologramme überall verteilt, jedes stellte eine andere<br />
Sternenflottenlegende dar und alle aktivierten sich von Zeit zu Zeit für<br />
einige Sekunden. Sie identifizierte solch Berühmtheiten wie Christopher<br />
Pike, Jean Luc Picard, Sadie Hawkins (nach der sogar ein Tanz benannt<br />
war) und Alister Connelly. Alles Helden der letzten paar Jahrhunderte.<br />
Männer und Frauen, die ihr Leben gaben, oder zumindest riskierten –<br />
nicht nur, um die Galakie zu erforschen, sondern auch, um sie ein gutes<br />
Stück sicherer zu machen. Zumindest, wenn man den Geschichtsbüchern<br />
glauben konnte – und die Begeisterung teilte, die dort zu entfachen<br />
versucht wurde. Und ausgerechnet ihr Vater war einer dieser Legenden.<br />
Ausgerechnet er.<br />
Shan seufzte und verpasste dem deutlich sichtbaren Holoprojektor im<br />
Boden einen halbherzigen Tritt, woraufhin das Holobild ihres Vaters ein<br />
für alle Mal erlosch.<br />
„Uh.“<br />
Sie zog eine Grimasse, überprüfte, ob sie jemand beobachtet hatte und<br />
entfernte sich dann schnell, aber unauffällig von dem defekten Projektor.<br />
Die Halle füllte sich von Minute zu Minute mit noch mehr Studenten und<br />
Lehrern. Ein paar von ihnen kannte sie vom ersten Tag auf der<br />
Landeplattform wieder, als sie nervös, ängstlich und eingeschüchtert<br />
ganz frisch auf dem Akademiegelände eingetroffen waren. Jetzt war von<br />
dieser anfänglichen Scheu nichts mehr zu merken. Nach nur vier<br />
Wochen, hatte sie ihre Ängste abgelegt und eine neue, erstaunliche<br />
Selbstsicherheit erlangt. Es liegt an der Uniform, dachte Shan. An dem<br />
Gemeinschaftsgefühl. Sie machte aus normalen Menschen Herdentrottel.<br />
In der Gruppe fühlten sich alle wohl und groß und stark. Sie empfanden<br />
sich als etwas besonderes. Die meisten waren wohl vernünftig genug, mit<br />
diesem Gefühl normal umzugehen, aber bei Idioten wie Finnegan weckte<br />
die Uniform das schlimmste. Passend dazu, erinnerte sich Shan an ein
Zitat des Humoristen Mark Twain. „Kleider machen Leute; Nackte<br />
Menschen haben wenig, oder gar keinen Einfluss auf die Gesellschaft.“<br />
Eine alte Weisheit. Alt, aber zutreffend, vor allem hier in der Flotte.<br />
Hier in der Flotte.<br />
Wie furchtbar sich das anhörte. Hier. In der Flotte. Von der sie selbst<br />
nun auch ein Teil war. Furchtbar! Aus einer Familie mit einer Geschichte<br />
zu kommen, war eine Sache. Teil dieser Geschichte zu werden,<br />
gemeinsam mit galaxieweiten Legenden, aber eine ganz andere. Sie hatte<br />
sich ihr ganzes junges Leben lang dagegen gesträubt und dann war es<br />
ihrem Vater doch noch gelungen, sie auf der Akademie unterzubringen.<br />
Umgeben von holographischen Helden und Kadetten, denen bedenklich<br />
viel Selbstvertrauen eingeflößt wurde. Das war aber noch nicht das<br />
Schlimmste! Das Schlimmste war, dass die Akademie im Grunde gar<br />
nicht so übel war. Jedenfalls nicht so schlimm, wie sie sich immer<br />
vorgestellt hatte. Oder eingeredet, so wie sie es auch mit dieser Party<br />
getan hatte. Denn letztendlich war es doch eine recht nette Party.<br />
So sehr sie sich auch dagegen sträubte und sich zu wehren versuchte –<br />
langsam gewöhnte sie sich an das Campusleben. Sie hätte es niemals im<br />
Leben laut ausgesprochen, - nicht einmal unter dem Einsatz<br />
schrecklicher Folter -, aber sie mochte einen Großteil der Lehrer und der<br />
Stoff, den man hier den Kadetten vermittelte, war ganz sicher nützlich.<br />
Zumindest war er interessant. Es war den Leuten nützlich gewesen, die<br />
hier Karriere gemacht und Geschichte geschrieben hatten. Und sie fragte<br />
sich: in dreißig, vierzig, oder fünfzig Jahren, würde dann vielleicht ein<br />
holographisches Bild von ihr, Shan Bartez, die Kadetten erschrecken und<br />
zum Stolpern bringen? Der Gedanke weckte zwielichtige Gefühle in ihr.<br />
Einerseits fand sie ihn amüsant, andererseits aber auch wieder<br />
erschreckend. Sie fürchtete, einer Art Gehirnwäsche zu unterliegen, die<br />
von ihrem Vater in Auftrag gegeben und bislang von ihren Lehrern<br />
ausgeführt worden war.<br />
Shan schüttelte sich, als hätte sie etwas besonders widerliches berührt.<br />
Letztendlich wusste sie nur eines: Sie würde einfach ihren Weg gehen -<br />
wo immer der auch hinführen mochte. Aber… konnte kaum verkehrt<br />
sein, hier auf der Akademie erst mal ein paar grundlegende Dinge zu<br />
lernen. Bestmögliche Vorbereitung war entscheidend. Wenn sie eines in<br />
der Eishölle von Frigoria gelernt hatte - dann das. Irgendwann würde
sich dann schon zeigen, ob ihre Zukunft in dieser Spielzeugorganisation<br />
lag. Ob man sich an sie Erinnern, oder sie einfach vergessen würde. Oder<br />
schlimmeres. Aber eines wusste sie genau: Sie würde nie wieder<br />
irgendwo auf einem fernen Planeten stranden...!<br />
„Na sieh mal einer an, wen wir hier haben, Tala. Bist du also doch<br />
noch aufgekreuzt, Liebes. Sehr schön.”<br />
Es war Wotan, der auf einmal neben ihr auftauchte. Er sah zu ihr auf,<br />
und streckte Shan dann das linke Ohr hin, damit sie ihn kraulte. Tala<br />
befand sich ebenfalls in seiner Begleitung. Von Galak fehlte jede Spur.<br />
Im Grunde war Shan sogar froh darüber. Es ärgerte sie nur schon wieder,<br />
dass sie sich überhaupt gefragte hatte, wo er denn jetzt wieder steckte...<br />
Tala zupfte an Shans Abendgarderobe – eine Ausgehuniform, die fast<br />
alle Kadetten trugen. „Hast dich schick gemacht, Faustschlag. Sieht toll<br />
aus.“<br />
„Danke... Frosty.“, erwiderte Shan mit einem Murren. „Ich bin in<br />
Abendgarderobe, Ich habe Gel in den Haaren, ich habe kaum geschlafen<br />
und ich bin in der Stimmung zu töten.“<br />
Tala zuckte fröhlich mit den Schultern. „Kurz gesagt, du bist in<br />
Partystimmung. Dann probier das hier mal. Das wird dich erst recht zum<br />
Glühen bringen.“<br />
Tala hielten zwei Drinks in der einen und ein kleines Käsehäppchen in<br />
der anderen Hand. Sie warf sich den Happen gekonnt in den Mund, um<br />
die Hand frei zu haben und reichte Shan damit eines der beiden Gläser.<br />
In dem Moment, wo Shan das Getränk hielt, veränderte sich<br />
augenblicklich die Farbe der Flüssigkeit von einem dunkelblauen, zu<br />
einem hellroten Ton.<br />
„Erstaunlich.“<br />
„Eine Kaskadenreaktion.“, erklärte Tala. „Man muss das Glas<br />
berühren, um eine Veränderung der Farbe zu bewirken.“ Sie zwinkerte.<br />
„Wie bei Männern.“<br />
„Was bedeutet rot?“<br />
„Genervt.“<br />
„Stimmt. Deins war grün. Was bedeutet das?"<br />
„Sexuell erregt.“<br />
„Aha? Kann ich fragen, wer diesmal der oder die Glückliche ist?“<br />
Tala grinste. „Fragen kannst du.“
Darüber hinaus machte sie keine Anstalten, ihr eine Antwort zu geben.<br />
Das konnte Shan akzeptieren. Sie roch vorsichtig an dem Gesöff. Bei<br />
dem Geruch, der sich ihr darbot, rollte sich ihre Nase beinahe nach<br />
innen. Süß. Enorm süß! „Eww. Das riecht ja scheußlich!“<br />
„Ist harmlos.“, versicherte Tala. „Probier ruhig.“<br />
„Alkohol?“<br />
„Syntheol. Alkohol ist auf solchen Partys verboten.“<br />
Shan seufzte. „Zu schade.“ Sie wappnete sich und schütte das Gesöff<br />
in einem Zug ihre Kehle hinunter. Einen Moment geschah gar nichts.<br />
Dann, ungefähr nach einer Sekunde oder so, passierte immer noch<br />
nichts. Dann jedoch hatte Shan plötzlich das Gefühl, als würde ihr<br />
jemand mit einem Barren in Gold gepresstes Latinum, das Hirn aus dem<br />
Kopf dreschen. Das Getränk bestand aus purem Zucker! Es war so süß,<br />
dass es ihr die Zehen aufrollte. Shan taumelte überrascht und bekam<br />
einen heftigen Hustenanfall. Tala lachte gut gelaunt und klopfte ihr ein<br />
paar Mal auf den Rücken, bis es vorbei war.<br />
Shan rang nach Atem. „Großer Vogel...!“<br />
„Ja, der andorianische Gredlahr ist bekannt dafür, einem die Socken<br />
auszuziehen.“<br />
„Bwah. Wo hast du dieses Zeug bloß her?“<br />
„Von der Bar dort drüben.“, entgegnete Tala und deutete auf einen<br />
Bereich nahe eines Ausgangs. Shan folgte ihrem Blick. An der Bar hielt<br />
sich kaum jemand auf, was nicht verwunderlich war, wenn sie nur solche<br />
Getränke servierten. Eigentlich saß dort nur ein einziger Kadett, ein<br />
Kasvagorianer, zusammengesunken und hielt sich an seinem Glas fest.<br />
Er wirkte ziemlich bedrückt und schien die Party hinter ihm auch gar<br />
nicht zu bemerken.<br />
„Was ist denn mit dem?“<br />
„Ach, Kasvagorianer rühmen sich für die Fähigkeit, Humanoide<br />
Spezies, die sich rein äußerlich nicht unterscheiden, durch pures<br />
Ansehen zu identifizieren. Du weißt schon. Menschen von Beta-Zoiden,<br />
Beta-Zoiden von El-Aurianern... Blah, Blah, Yada Yada. Das übliche<br />
Gewäsch eben.“<br />
„Ist doch nützlich, so eine Fähigkeit.“<br />
„Ja, wenn man sie denn auch wirklich besitzt. Konnte nur noch<br />
niemand beweisen. Normalerweise sind Kasvagorianer nicht sehr
gesprächig. Eher... prügeln sie sich. Aber was will jemand auch von<br />
einem erwarten, der Zehn Jahre in einem andorianischen<br />
Sklavenlaborcamp war?“<br />
„Ist nicht wahr?“<br />
Tala zuckte mit den Schultern. „Ist zumindest das, was mir zu Ohren<br />
kam.“<br />
Shan machte große Augen. Sie bekam mit, wie der Kasvagorianer mit<br />
dem Barkeeper stritt: „Eine Horta von einem Excalbianer zu<br />
unterscheiden ist leicht. Aber einen Excalbianer von einem Athariten –<br />
das benötigt das kasvagorianische Auge!“<br />
„Quatsch.“, entgegnete der Barkeeper. „Die kann man nicht durchs<br />
Ansehen unterscheiden. Dafür braucht man einen Tricorder.“<br />
„Kann’s machen!“<br />
„Kannst du nicht!“<br />
„Kann’s machen!“<br />
„Kannst du nicht!“<br />
Und so ging das Gespräch weiter. Shan verlor das Interesse und lies<br />
den Blick weiter schweifen. Schließlich erweckte das üppige Buffet<br />
gegenüber der Bar ihre Aufmerksamkeit. Man hatte eine ansehnliche<br />
Auswahl an Nahrungsmitteln und Getränken aus der gesamten<br />
Föderation für die Party aufgetischt und Durkin hatte es sich offenbar zur<br />
Aufgabe gemacht, von allem etwas zu naschen. Selbstverständlich<br />
entsprach keines der dargebotenen Gerichte seinem tellaritischen<br />
Geschmack, und er zögerte auch nicht, dies lautstark jedem mitzuteilen,<br />
der sich in seiner Nähe befand, auch wenn die fragliche Person das gar<br />
nicht wissen wollte.<br />
Tala begann neben Shan ein wenig zum Takt der Musik zu tanzen, was<br />
Shan verwunderte. „Wie kannst du dazu tanzen?“<br />
„Wie kannst du dazu stillstehen? Kein Fan von Warpdrive?“<br />
Shan verzog das Gesicht. „Doch, früher mal. Ein ziemlich großer<br />
sogar. Die hatten tolle Lieder, Judith D’Agostas Stimme ist fantastisch.<br />
Aber seit die vierarmige Bassspielerin auch noch mitsingt, haben ihre<br />
Songs deutlich an Pepp verloren, wie du gerade hören kannst.“<br />
„Sooo schlecht finde ich sie gar nicht.“<br />
„Ich bitte dich! Ihr Gesang hört sich so an, als würde man ein<br />
sterbendes Schwein mit voller Wucht und immer und immer wieder
gegen eine Tonne schlagen.“<br />
„Das...“, musste Tala einräumen. „Könnte hinhauen, ja.“<br />
„Da steckt keine kreative Energie mehr dahinter. Zumindest wurden<br />
die Liedtitel und Texte von Song zu Song bescheuerter. Ich meine<br />
>Cycle RaceBlond ValkyrieShenandoah under<br />
Water
viel besseres!“ Er nahm eine leere Obstschüssel vom Tisch, stellte sie auf<br />
den Boden ab, und goss den Inhalt seiner Flasche hinein. „Trink!“,<br />
forderte er Wotan fröhlich auf. „Na los, Freund. Trink!“<br />
Der Tiger schnüffelte zunächst nur. Dann sah er zu Shan, zu Tala, zu<br />
Durkin und dann wieder zur Schüssel. Er streckte vorsichtig die Zunge<br />
aus, bis er die Flüssigkeit mit berührte... und blinzelte. „Hm.“, machte er<br />
und begann gierig zu trinken. „Hm. Schmeckt... schmeckt gut.“, sagte er<br />
zwischen zwei Zügen. „Richtig gut. Hmmmm. Was ist das?“<br />
„Vattras.“, verkündete Durkin feierlich. „Wird gewonnen aus dem<br />
Speichel der tellaritischen Nacktschnecke.“<br />
Wotan spuckte alles aus. Er schüttelte sich am ganzen Körper, wobei<br />
sich sein Fell sträubte. Seine Zunge hing aus dem Mund, als sei es ihm<br />
zu widerlich, sie einzurollen.<br />
„Hah!“, machte Durkin. „Ich wusste doch, dass er für die Härten des<br />
Lebens zu schwächlich ist. Es ist eine Schande, dass ihr nicht alle wie<br />
wir Tellariten gebaut seid. Wisst ihr, was ihr dann wärt?“<br />
„Nervensägen?“, fragte Tala.<br />
„Stärker!“<br />
„Oje. Dann würde man auch länger leben, was?“<br />
Durkin richtete seinen Blick auf Tala. „Wir Tellariten gehören zu den<br />
robustesten Rassen der Galaxie! Weißt du, was es braucht, uns<br />
umzubringen?“<br />
„Einen Blick in den Spiegel?“<br />
„Nein.“, sagte Durkin gefährlich. „Mehr Mumm, als du aufweisen<br />
kannst.“<br />
„Ich kann mehr aufweisen.“<br />
Durkin plusterte sich herausfordernd auf. „Achjaaaaa?“<br />
Wotan sah, noch immer mit herabhängender Zunge, zu Shan auf, doch<br />
die nahm die Streiterei der beiden überhaupt nicht wahr. Ihr Blick war<br />
auf das andere Ende des Saals gerichtet, wo sie in der Menge Cera<br />
entdeckt hatte. Die Pakled stand einfach da, mit hängenden Schultern<br />
und niedergeschlagener Mine, abseits der anderen. Sie zupfte an ihrer<br />
Ausgehuniform und machte durch und durch einen deplazierten und<br />
verlassenen Eindruck. Was der Wahrheit entsprach. Niemand kam zu ihr<br />
herüber, um mit ihr zu reden, und sie schien sich auch nicht zu trauen,<br />
auf jemanden zuzugehen und in ein Gespräch zu verwickeln. Sie stand
noch einen Moment da und verließ dann die Halle durch ein Tür nach<br />
draußen.<br />
Wotan, der von alledem nichts mitbekam, setzte sich nun hin und<br />
schüttelte den Kopf. „Ist euch beiden eigentlich bewusst“, fragte er an<br />
Tala und Durkin gerichtet. Beide waren sich so nahe, dass sich ihre<br />
Nasenspitzen fast berührten. „dass man mit der Energie, die ihr für eure<br />
Sticheleien aufwendet, ein Schiff fast bis nach Nydaris bringen könnte?“<br />
Durkin stierte ihn an. „Fast?“<br />
Wotan richtete seinen Blick auf Tala. „Er hat wohl keine Antenne für<br />
Sarkasmus, was?“<br />
„Er hat für nichts ne Antenne.“<br />
Durkin plusterte sich auf. „Waaas? Ich habe eine riiiiesige Ant-“<br />
„Hey, ihr beiden.“, fuhr Shan schnell dazwischen. „Ahm... wenn ihr<br />
herausfinden wollt, wer von euch am meisten Alkohol verträgt... da<br />
hinten ist eine Bar. Warum testet ihr es nicht aus?“<br />
Durkin schlug mit der Faust auf den Tisch. Teller und Gläser<br />
klapperten. „Eine hervorragende Idee! Auf zur Bar!“ Er drehte sich auf<br />
dem Huf herum und stolzierte los.<br />
„Na der wird sein blaues Wunder erleben.“, murmelte Tala und folgte<br />
ihm. Wotan tauschte mit Shan einen Blick. „Ich gehe besser mal mit den<br />
beiden mit.“, sagte er. „Ehe sie sich noch etwas antun. Was ist mit dir?<br />
Kommst du auch?<br />
„Ahm... nein. Geht ruhig schon einmal vor, ich komme nach. Aber<br />
vorher schaue ich lieber mal nach Cera.“<br />
Sie fand die Pakled draußen in der überraschend kühlen und ruhigen<br />
Nachtluft, auf einer Bank inmitten der Gärten sitzend, nur wenige Meter<br />
von dem Saal entfernt. Es war nur ein kleiner Teil der weitläufigen<br />
Grünanlage, aber nicht minder paradiesisch wie die anderen Gärten, die,<br />
wie Shan gehört hatte, von einem Mann namens Boothby gepflegt<br />
wurden. Und das machte er verdammt gut!<br />
Der Legende nach, hatte es Boothby und seinen Garten schon lange<br />
vor dem Akademiekomplex gegeben und sie hatten später die einzelnen<br />
Gebäude einfach um beide – also Boothby und seinen Garten - herum
errichtet. In dieser Nacht gab es nicht die geringste Spur auf diesen<br />
ominösen Boothby. Überhaupt hatte Shan ihn noch nie gesehen.<br />
Vielleicht war er auch nur ein Mythos. Die einzige Person weit und breit<br />
war Cera. Sie saß zusammengesunken auf der Bank und starrte traurig<br />
auf ihre Stiefelspitzen.<br />
„Hey, Cera.“<br />
Als sie bemerkte, dass sich Shan näherte, winkte sie zaghaft und<br />
erwiderte sanft: „Hal... Hallo, Shan.“<br />
„Was machst du hier draußen so alleine?“<br />
Sie hob und senkte langsam die massiven Schultern. „Nur ... Nur<br />
sitzen. Nur sitzen.”<br />
„In letzter Zeit hast du dich ziemlich rar gemacht. Ich war schon<br />
besorgt.“<br />
Nun sah Cera sie mit einem Ausdruck aufrichtigen Erstaunens an.<br />
„Ehrlich? Du warst... du warst besorgt?“<br />
„Natürlich.“, sagte Shan. Sie nahm ebenfalls auf der Parkbank platz.<br />
„Weißt du da drin wartet eine Party auf dich.“<br />
Nun sackte Ceras Gestalt ein wenig ein. „Ich mag... ich mag keine<br />
Partys.“<br />
„So? Und warum nicht?“<br />
Wieder das Schulterzucken.<br />
Shan winkte ab. „Ach, mach dir nichts draus.“, sagte sie. „Ich kann mit<br />
dir mitfühlen. Kein vernünftiger Mensch, der noch ein bisschen Grips<br />
hat, geht gerne auf diese antiquierten Balzrituale.“<br />
„Ich würde... ich würde schon gerne dort hin gehen, aber keiner mag<br />
mich begleiten tun.“ Es klang fast herzerreißend.<br />
„Ach, was redest du da?“, erwiderte Shan. „Hast du wirklich Interesse<br />
daran, dich aufzutakeln, nur damit ein arroganter Idiot dich abfüllen und<br />
ausnutzen kann, während du nicht nur seinen anödenden Anekdoten,<br />
sondern auch noch einer Band lauschen musst, die im Bestfall<br />
langweilt?“<br />
Erneut zog Cera die Schultern hoch. „Weiß ... nicht.“<br />
„Cera. Die wahre Liebe findest du bestimmt nicht auf einer Feier. Die<br />
wartet irgendwo da draußen. Im normalen Leben.“<br />
„Nicht auf ... nicht auf mich.“<br />
Shan starrte sie einen Moment an und schüttelte dann seufzend den
Kopf. „Du bist wirklich der klassische‚ >das Glas ist halbleer’-Typ
Cera nickte schwerfällig.<br />
Nun, eigentlich war das gar nicht so ungewöhnlich, dachte Shan.<br />
Viele antike Kulturen hatten genauso begonnen, unter anderem die<br />
Ägypter. Aber dass es so etwas in ihrem fortgeschrittenen Jahrhundert<br />
noch gab, war ihr nie in den Sinn gekommen.<br />
„Ich habe... ich habe mir die Lerntexte besorgt, ja. Ja. Und ich mache<br />
Fortschritte. Aber es gibt noch viel zu lernen. Viel zu lernen.“<br />
„Kann ich mir gut vorstellen.“, sagte Shan verwundert. „Ich... das...<br />
das ist wirklich beeindruckend, Cera. Du bringst dir das alles selber<br />
bei?“<br />
Die Pakled nickte.<br />
„Es muss dir sehr wichtig sein, hier auf der Akademie zu studieren.“<br />
„Meinen... meinen Eltern ist es wichtig sein.“, erklärte Cera. „Weißt<br />
du... weißt du... mein Volk ist sehr arm. Sehr rückständig. Und nicht sehr<br />
klug. Es gibt nicht viele... nicht viele Perspektiven. Viele von uns werden<br />
böse Menschen. Böse Menschen. Weil sie stehlen wollen. Technologie<br />
und... und andere Dinge, die für unser Volk... für unser Volk wichtig<br />
sind tun. Aber sie werden auch böse ihrem eigenem Volk gegenüber,<br />
immer... immer wenn sie Waffen finden. Ständig gibt es irgendwo auf<br />
meinem Planeten kämpfe, irgendwo Krieg. Sie kämpfen um die Macht<br />
auf Pakled. Meine Eltern wussten, dass es nicht besser würde sein. Nur<br />
schlimmer würde sein. Sie lebten bereits in Knechtschaft auf. Mir<br />
wollten sie eine bessere Zukunft ermöglichen. Besser als kämpfe und<br />
Krieg. Daher... daher sparten sie, um mich auf die Akademie zu<br />
bringen.“ Sie lies die Schultern hängen. „Aber ich... aber ich tu viele der<br />
Dinge hier nicht verstehen tun. Alles ist schwer. Wenn ich versage, dann<br />
ist alles, wofür meine Eltern gekämpft haben tun, umsonst sein.“<br />
„Ach Cera. Warum hast du denn nichts gesagt?“<br />
„Ich wollte... ich wollte niemandem zur Last fallen tun.“<br />
„Ich bitte dich! Du fällst niemandem zur Last. Und ich beweise dir das<br />
auch. Komm, wir lernen jetzt.“<br />
Ceras Augen weiteten sich. „Du... du willst mir helfen tun? Ehrlich?“<br />
„Natürlich.“<br />
„Aber was... aber was ist mit der Party sein?“<br />
Shan winkte ab. „Freunde sind wichtiger als hirnlos auf der Tanzfläche<br />
zu stehen. Na los. Zeig mal her.“
Die beiden Mädchen steckten ihre Nasen in die Datenblöcke und<br />
bemerkten daher nicht, wie sie aus dem Schatten heraus beobachtet<br />
wurden.<br />
Man konnte eigentlich nicht sagen, dass Durkin auf einem Barhocker<br />
saß – er hatte sich mehr oder weniger über ihm ergossen. Er lehnte ein<br />
paar Plätze neben dem zusammengesunkenen Kasvagorianer an der<br />
Theke und hielt die Flasche noch in der Hand.<br />
Wotan zog sie aus seinen kraftlosen Pranken und musterte sie<br />
überrascht. „Er hat nur...“ Er schätzte den restlichen Inhalt mit<br />
Expertenblick ab. „...etwa anderthalb Gläser Punch getrunken. Tellariten<br />
können aber wirklich nicht viel vertragen.“<br />
„Hat etwa ernsthaft jemand daran gezweifelt?“, meinte Tala<br />
selbstgefällig. „Die Widerstandskraft der Tellariten war schon immer<br />
lächerlich gering. Alles, was an ihnen beachtlich ist, ist ihr Mundwerk.“<br />
„Hm.“, machte Wotan. Er stupste Durkin probeweise mit der Schnauze<br />
an, woraufhin der Tellarite rülpste. Dabei verließen kleine<br />
Blubberblässchen seinen Mund, die er voller Verzückung betrachtete, als<br />
hätte er nie in seinem Leben etwas tolleres gesehen.<br />
„Schööön.“<br />
Er war zweifellos völlig besoffen. Er saß da, nur noch halb bei<br />
Bewusstsein und wirkte mit sich und der Welt – und besonders mit den<br />
Blubberblasen – äußerst zufrieden. Was sich vermutlich ändern würde,<br />
sobald sein Rausch vergangen war, und ihn brummende Kopfschmerzen<br />
aufsuchten.<br />
„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Wotan und sah zu Tala hoch.<br />
Sie angelte sich von einer vorbeihuschenden Kellnerin ein weiteres<br />
Käsestück und zuckte mit den Schultern. „Was wohl? Wir genießen die<br />
herrliche Stille. Jetzt, wo der Tellarite endlich mal die Klappe hält, ist<br />
das die einzig vernünftige Vorgehensweise.“<br />
„War des edwa gejen misch grischded?“, lallte Durkin. Er deutete mit<br />
einer pelzigen Pranke auf eine der drei Talas vor ihm. „Isch habs gnau<br />
gehöat! Willst duuuu edwa sagn, dass isch net still sein kann? Un ob isch<br />
still sein kann! Isch kann de Mund halden! Isch verfüje über ewensoviel
Selbstkontroll, wie jeder annere! Aber isch kann et net ausstehä, wenn<br />
jemand...“<br />
Tala bewegte sich so schnell, dass Durkin gar nicht wusste, wie ihm<br />
geschah. Angesichts der fortwährend nachgiebigen Ausstrahlung der<br />
Andorianer kam es völlig unerwartet. Die Ausstrahlung diente jedoch<br />
auch dazu, die Wildheit der Andorianer zu vernebeln, wenn sie gereizt<br />
waren. Durkin wusste nur eins: Plötzlich knallte etwas von der Seite<br />
gegen seinen Schädel und hinter seinen Augen explodierten Sterne. Dann<br />
lag er mit dem Gesicht auf dem Boden und wusste nicht genau, wie er<br />
dorthin gekommen war. Das war das letzte, was ihn bewegte, bevor er<br />
die Besinnung verlor.<br />
Niemand half ihm auf. Wotan, der die Szene mit staunendem Blick<br />
maß, sagte: „Das war ein bisschen drastisch... aber eigentlich nicht<br />
unverdient.“<br />
Alle anderen schienen es nicht einmal bemerkt zu haben. Die Kadetten<br />
tanzten fröhlich weiter zur Musik, während der Kasvagorianer an der<br />
Theke ihnen sowieso keine Beachtung schenkte und weiter mit dem<br />
Barkeeper stritt.<br />
„Kann’s machen!“<br />
„Kannst du nicht!“<br />
„Kann’s machen!“<br />
„Kannst du nicht!“<br />
Tala warf sich geschickt das Käsestück in den Mund, kaute genüsslich<br />
und grinste Wotan zu. „Ah. Diese herrliche Stille.“ Sie zwinkerte. Der<br />
Abend wurde vielleicht doch noch angenehm.<br />
Der Abend war schrecklich. Sortak seufzte mit Verdruss. Er hatte<br />
anfangs die Absicht gehabt, mit finsterer Mine in einer Ecke zu stehen,<br />
und allen klar zu machen, dass er sich absolut nicht wohl fühlte und von<br />
niemandem gestört werden wollte. Doch der äußerst leudselige Yoko<br />
schien sich vorgenommen zu haben, ihn aus seinem Kokon zu holen. Er<br />
plapperte über dies und über jenes, ohne wirklich etwas zu sagen. Es<br />
war, als würde er einfach nur irgendetwas sagen wollen.<br />
Sortak schenkte ihm keine große Beachtung. Sein Blick ruhte
stattdessen auf Galak, der zusammen mit einigen Leuten – vor allem bei<br />
einigen Frauen aus dem vierten Jahrgang - stand und herzhaft lachte.<br />
Worüber lachte der Kerl nur? Vermutlich machte er schmutzige<br />
Bemerkungen über Shan. Natürlich gab es dafür keinen Beweis. Aber<br />
den brauchte Sortak auch nicht. Alleine der Gedanke genügte. Und er<br />
machte ihn wahnsinnig. Eigentlich war Sortak ja nur aufgekreuzt, um<br />
Shan und die anderen zu suchen. Doch dann war ihm Galak aufgefallen,<br />
wie er sich an ein Mädchen nach dem anderen ranmachte. Also war<br />
Sortak ihm bis zur Galerie hinauf gefolgt und sah sich das Schauspiel<br />
nun schon eine ganze Weile aus der Entfernung an. Da Vulkanier über<br />
ein überdurchschnittliches Gehör verfügten, musste er nicht einmal<br />
besonders nahe ran, um Galak zu belauschen. Stattdessen konnte er von<br />
dem Orsorianer unbemerkt in der Entfernung stehen, an seinem<br />
Punchglas nippen, und seinen Blick unauffällig schweifen lassen. Von<br />
hier oben aus hatte man einen hervorragenden Ausblick auf den ganzen<br />
Saal. Nur hin und wieder sah er zu Galak herüber – der Blick kalt, wach<br />
und taxierend.<br />
Natürlich war Galak, allein aufgrund der Tatsache, dass er so gut wie<br />
nackt war, ein Augenfang und Thema des Abends. Egal wo er<br />
aufkreuzte, ihm gehörte sämtliche Aufmerksamkeit. Und diese<br />
Aufmerksamkeit machte er sich zu nutze. Um wertvolle Kontakte bei<br />
Vorgesetzten zu schließen und natürlich, um bei der Damenwelt zu<br />
punkten. Sein ganzes Verhalten entsprach genau dem Bild, das Sortak<br />
von reichen Leuten hatte, und er fragte sich insgeheim, ob das Klischee<br />
der feinen Gesellschaft nun daher kam, dass diese Leute wirklich so<br />
waren – oder ob sie sich so benahmen, weil sie versuchten, möglichst<br />
genau dem Bild zu entsprechen, das sich Leute wie Sortak über sie<br />
machte. Was auch immer zutreffen mochte, in jedem Falle konnte Sortak<br />
diese Leute nicht leiden. Sie stellten sich zumeist selbst auf ein hohes<br />
Podest, naiv wie sie waren, und wagten es, über andere zu richten, und<br />
sich urteile zu fällen, ohne auch nur die kleinste Ahnung zu haben, was<br />
in der Welt vor sich ging. Sortak wusste, was in der Welt vor sich ging.<br />
Er wusste wie hart das Leben sein konnte und wie undankbar. Ihm war<br />
nie etwas geschenkt worden. Alles, was er erreicht hatte, hatte er sich<br />
hart erarbeiten müssen.<br />
Ganz im Gegensatz zu den reichen, denen zumeist alles einfach in den
Schoß viel. Er mochte sie einfach nicht. Er mochte Galak nicht. Und<br />
heute, an diesem Abend, herrschte seine Abneigung aus irgendeinem<br />
Grund sogar noch sehr viel schlimmer als üblich. Sortak konnte es sich<br />
kaum erklären, aber die Wut, die tief in seinem Innern loderte, wurde<br />
durch irgendetwas angeheizt. Eine Wut über sehr viele Dinge in seinem<br />
Leben, die schief gelaufen waren, und die fokussierte sich nun – ohne,<br />
dass er das so richtig begriff, ganz allein auf Galak. Und als der<br />
Orsorianer erneut einen Witz machte und die ganze Gruppe um ihn<br />
herum in fröhliches Gelächter ausbrach, konnte Sortak einfach nicht<br />
mehr innehalten. Er stellte sein Champagnerglas auf dem Tablett einer<br />
vorbeihuschenden Bardame ab, raunte Yoko ein „entschuldige mich“<br />
entgegen und setzte sich mit finsterer Mine in Bewegung. Richtung<br />
Sortak.<br />
Ganz...<br />
...langsam.<br />
„...woraufhin er sagte >der Clown kann bleiben, aber der Ferengi in<br />
dem Gorillakostüm soll verschwinden.
würde und ein zukünftiger Machtinhaber, der sicher irgendwann große<br />
Macht und großen Einfluss sein eigen nennen konnte.<br />
Und jeder wollte ein Stück von diesem Kuchen haben.<br />
Schließlich war Galak nicht der einzige, der Beziehungen knüpfen<br />
wollte. Die Kadetten – zumindest die der oberen Jahrgänge – waren nicht<br />
dumm. Sie wussten, dass Bekanntschaften von Heute sich in der Welt<br />
von Morgen bezahlt machen konnten. Und Galak spielte die Rolle, die<br />
sie von ihm erwarteten, mit Bravour, spielte wie ein Virtuoser, wie ein...<br />
geübter. Und das war er auch! Aufgrund seiner Erfahrungen wusste er,<br />
dass es innerhalb aller Lebensformen eine fundamentale Wahrheit gab:<br />
Jeder mochte es, sich gegenüber anderen überlegen zu fühlen. Dadurch<br />
fühlten sie sich wohl. Dadurch fühlten sie sich sicher. Und das beste von<br />
allen: Dadurch wurden sie schlampig und eröffneten Situationen, die<br />
Galak nutzen konnte. Für sich. Für sein Volk. Für seinen Vater. Es war<br />
nichts was er gerne tat, aber musste Kontakte knüpfen, die seinem Volk<br />
helfen konnten und die redseligen, beeinflussbaren Menschen mochten<br />
ihm irgendwann helfen können.<br />
„Das war ein großartiger Witz, Galak!“, applaudierte ein<br />
Neuankömmling und als Galak den Kopf wandte, sah er wie Kadett<br />
Gleason Benteen mit schneidigem Lächeln und Begleitung die illustre<br />
Runde um Galak erreichte. Galak mochte Gleason nicht. Er war<br />
unterkühlt, zielfixiert und aalglatt. Ein Kartenspieler und ein guter noch<br />
dazu. Aber Galak durchschaute sein Blatt seines Pokerfaces mühelos –<br />
vielleicht, weil er selbst ein herausragender Spieler war. Aber Gleason<br />
kam aus einer einflussreichen Sternenflottenfamilie. Vor allem seine<br />
Mutter, eine Admiralin, war hochangesehen.<br />
„Danke, Gleason!“, erwiderte Galak fröhlich, auf perfekte Art und<br />
Weise Gleasons Enthusiasmus imitierend. „Es ist schön dich zu sehen,<br />
mein Freund.“<br />
„Und dich auch, Galak.“ Er deutete auf die beiden Damen, die ihn<br />
begleiteten. Die zu seiner rechten war ebenfalls menschlich, eine große,<br />
kräftig gebaute Frau, deren aufreizende Kurven unter der Uniform<br />
deutlich hervorstachen. Die andere gehörte einer Spezies an, die Galak<br />
nicht identifizieren konnte, aber das graue Haar, die Wülste in ihrem<br />
Gesicht und der viel zu zierliche, regelrecht dürre Körperbau, machten<br />
sie unattraktiv und dadurch für Galak uninteressant. „Das sind Shaya
Dale und Krasna.“, stellte Benteen sie vor. „Und das meine Lieben, ist<br />
Galak Arsamandi, Prinz des mächtigen, orsorianischen Reiches.“<br />
„Des ehemals mächtigen orsorianischen Reiches, fürchte ich.“,<br />
entgegnete Galak, und gab Shaya einen perfekten Handkuss, was sie<br />
erröten lies. Krasna schenkte er nur eine höfliche Verbeugung. Zu seiner<br />
Verwunderung schien sie gebildeter sein, als es ihr äußeres vermuten<br />
lies. „Ich bin mit der Situation deiner Spezies vertraut, Galak.“, sagte sie.<br />
„Soweit ich mich entsinne, ersucht die orsorianische Botschaft seit<br />
Monaten Hilfe von allen verfügbaren medizinischen Forschungsstätten<br />
des Quadranten.“<br />
„Das stimmt.“, erwiderte Galak einigermaßen verblüfft. „Wir haben<br />
ein kleines...“ Er drehte den Kopf zu Shaya und schmunzelte. „...<br />
Populationsproblem. Es gibt zu wenige Frauen auf meiner Welt.“<br />
„Zu wenig Gebährfähige?“, fragte Krasna.<br />
Galak gefiel das Wort nicht. Noch immer Shaya anlächelnd korrigierte<br />
er: „Zu wenig Fähige.“<br />
„Ach tatsächlich? Und die orsorionischen Männer sind im Gegensatz<br />
viel... leistungsfähig, ja?“, fragte Shaya und tippte ihm verspielt gegen<br />
die Brust.<br />
„So leistungsfähig wie der Warpkern eines Raumschiffes.“, bestätigte<br />
Galak charmant. „Es gäbe noch andere Vergleiche mit einem Warpkern,<br />
aber ich will es bei diesem einen belassen.“<br />
Shaya biss sich auf die Unterlippe. Kein Zweifel: sie wollte ihn. Galak<br />
kannte sie erst seit einigen Momenten, hatte sie aber schon genau da, wo<br />
er sie am liebsten hatte. Er wollte sie gerade dazu einladen, ihn auf sein<br />
Quartier zu begleiten, als sich erneut Krasna meldete. Offenbar sie nichts<br />
von dem zu bemerken, was zwischen Galak und Krasna vor sich ging.<br />
Vermutlich, weil sie keine Ahnung von diesen Dingen hatte, denn wie so<br />
viele der Sternenflottenstreber, kannte sie offenbar nur Diskussionen,<br />
Diskussionen und nochmals Diskussionen. „Und waren ihre<br />
Bemühungen dieses... Problem zu lösen, inzwischen von Erfolg<br />
gekrönt?“<br />
Galak seufzte. „Nun, wir müssen das nicht hier und heute erörtern,<br />
während der Feier einer Institution, die so große Stücke auf ihre<br />
sogenannte oberste Direktive hält.“<br />
„Bitte, Galak, sag, was du sagen willst.“, drängte ihn Gleason Benteen.
„Nun gut. Es erscheint mir, dass die oberste Direktive korrumpiert<br />
wird. Das Reglement wird befolgt, aber der Geist verletzt.“ Er bemerkte,<br />
dass einige andere Kadetten auf ihn aufmerksam geworden waren und<br />
sich nun, durch seine Worte neugierig zeigten. Superb. Je größer das<br />
Publikum, desto besser. „Fakt ist, die oberste Direktive wurde speziell<br />
kreiert, damit fortschrittliche Spezies keinen Schaden in weniger<br />
hochentwickelten Kulturen verursachen. Leider begegnen wir zu vielen<br />
Situationen in denen diese Direktive als Grund ausgelegt wird, diesen<br />
Spezies nicht zu helfen. Die Sternenflotte steht daneben, beobachtet, wie<br />
sie stolpern und macht lediglich Notizen, während sie von versteckten<br />
Anlagen aus beobachten. Denkt meine Freunde. Stellt euch<br />
beispielsweise ein Kind vor.“ Und seine Stimme begann verletzt zu<br />
klingen. „Ein kleiner Junge, der an einer Krankheit stirbt, während das<br />
Heilmittel in den Händen derer liegt, die lediglich und unbemerkt von<br />
oben auf ihn herabsehen. Aber helfen sie? Produzieren sie Medikamente,<br />
die diesen Jungen retten würden? Nein... nein, meine Freunde, das tun<br />
sie nicht. Sie sehen nur zu und vermerken den Todeszeitpunkt vielleicht<br />
in ihrem Logbuch. Und wer weiß, ob dieser kleine Junge nicht vielleicht<br />
zu einem der größten Denker, Philosophen, oder Führer seiner Spezies<br />
gewachsen wäre? Zu einem Mann, der sein Volk in ein goldenes<br />
Zeitalter hätte führen können... all diese Möglichkeiten... einfach<br />
abgeschnitten in seiner Jugend. Wem hätte es schon weh getan... diesem<br />
Kind zu helfen? Und welch überragenden Gewinn, das hätte bringen<br />
können! Wer von euch kann einem solchen Szenario beiwohnen... und<br />
daran glauben, dass es irgendeinem größeren Ziel nutzt?“<br />
Es herrschte ein paar Sekunden lang ein bedrücktes Schweigen in der<br />
kleinen Gruppe, die Galak umgab, während der Rest weiterfeierte.<br />
Schließlich sagte Krasna: „Eine sehr gute Beobachtung, Galak. In ihrem<br />
Kern mag sogar ein überdenkenswerter Punkt sein. Nichtsdestotrotz....<br />
Intervention beinhaltet Missbrauch. Es war ein Mensch, der sagte, dass<br />
Macht auch Korruption hervorruft... und absolute Macht korrumpiert<br />
absolut. Für all die Szenarien die du dir ausdenken kannst, bin ich sicher,<br />
ganz leicht wichtige Gegenargumente bringen zu können, die für die<br />
Einhaltung der obersten Direktive sprechen.“<br />
Nun wusste Galak, warum er die junge Frau nicht leiden konnte.<br />
„Was Krasna meint“, ergänzte Gleason. „ist, dass es zwei Seiten der
Münze gibt. Der kleine Junge hätte ebenso gut ein Kriegsverbrecher<br />
werden können. Ist es daher nicht sogar besser auf der Seite der Vorsicht<br />
zu bleiben?“<br />
„Vor zweihundert Jahren vielleicht.“, entgegnete Galak. „Das<br />
versichere ich euch. Aber was nützt einem Erfahrung, wenn man sie<br />
nicht nutzt? Es gibt Leute da draußen, die Hilfe benötigen. Mein Volk<br />
beispielsweise. Dennoch wird diese Hilfe verwehrt, weil die<br />
Sternenflotte... die Föderation... zu vorsichtig ist. Zu ängstlich. Weil sie<br />
sich hinter ihrer Direktive verstecken. Warum? Ist es nicht sogar eine<br />
solche... Einmischung seitens der Vulkanier gewesen, welche die<br />
Menschheit erst reifen lies? Ich fordere nicht, die oberste Direktive<br />
aufzugeben. Aber vielleicht ist es an der Zeit, sie einer Reform zu<br />
unterziehen und die Intentionen der Sternenflotte zu überden-“<br />
„Du Heuchler.“ Die Stimme kam völlig unerwartet und die Worte<br />
waren in einem rauen, harten Tonfall verpackt. Als sich alle in Hörweite<br />
drehten, sahen sie einen Vulkanier in zerknitterter Galauniform, von dem<br />
eine deutliche Fahne ausging und der Galak anstarrte. „Du bist wirklich<br />
ein Fall für sich, Arsamandi. Wirklich ein Fall für sich.“<br />
Galaks Blick verdüsterte sich. Diesen Kerl konnte er jetzt überhaupt<br />
nicht brauchen. „Sortak... darf ich fragen, was du hier machst?“<br />
„Deinem Gewäsch zuhören. Deiner vorgespielten Bestürzung. Und<br />
dem herzergreifenden Beispiel mit diesem kleinen, unschuldigen<br />
Jungen... die du dieser extrem wichtigen Versammlung hier vorlegst.<br />
Vor allem denen hier...“ und er deutete mit einer knappen Geste zu den<br />
jungen Frauen, vor allem zu Shaya. „... deinen auserkorenen<br />
Beutefrauen.“<br />
„Vielleicht hast du zu tief ins Glas geschaut, Sortak.“, bemerkte Galak.<br />
Und er sagte schnell zu den anderen versammelten: „Das hier tut mir<br />
außerordentlich leid. Sortak hat wohl zu viel getrunken. Ich bin sicher, er<br />
wollte uns gerade wieder verlassen und lieber den Rausch ausschlafen<br />
gehen.“<br />
„Oh, wollte ich das?“ Sortak hob die Brauen. „Kann mich nicht dran<br />
erinnern, einen derartigen Wunsch geäußert zu haben. Und betrunken bin<br />
ich ganz sicher nicht. Bei Synthehol ist das überhaupt nicht möglich.<br />
Nein. Nein, du bist es, der lieber gehen sollte. Ganz weit fort.“<br />
Er wankte ein paar Schritte auf Galak zu, bis sie sich
gegenüberstanden. Obgleich seiner Behauptung, wurde allen<br />
Anwesenden schnell klar, dass er tatsächlich den ein oder anderen Drink<br />
zu viel intus hatte – wo auch immer er Alkohol auf dieser von den<br />
Offizieren überwachten Party gefunden haben mochte. „Mach keinen<br />
Fehler, Galak.“, drohte der Vulkanier leise. „Du drehst dich mit dem<br />
Wind. Zu deinem Vorgesetzten und denen, die dir nützen könnten -.<br />
Beruflich, oder als Bettgespielinnen -, sagst du, was immer du glaubst,<br />
was sie hören wollen. Und den Rest behandelst du als wären sie<br />
Ungeziefer. Das ist es was wir für dich sind. Und ich habe dich<br />
durchschaut. Ich sehe den Feigling hinter der Fassade. Den Betrüger.<br />
Den Manipulator. Den versnobten Sohnemann. Ich werde nicht zulassen,<br />
dass du Shan zu deinem nächsten Opfer erwählst.”<br />
Galak wurde wütend. Er spürte die Blicke der anderen auf sich ruhen.<br />
„Und ich sehe...“, zischte er. „Einen Exsträfling. Einen Kerl aus der<br />
Gosse, der selbst von seinem eigenen Vater gehasst wird, weil er ein<br />
unkultivierter Taugenichts ist!“<br />
Das war genug für Sortak. Er schnaubte und verpasste Galak einen<br />
kräftigen Stoß, der ihn gegen das Geländer der Galerie stoßen lies.<br />
„Na gut, das reicht! Du spinnst doch! Als ob ich Shan etwas antun<br />
wollte. Sicherheitsdienst!“, bellte Galak. Er griff nach Sortaks Arm.<br />
„Sicherheitsdienst, nehmen sie diesen Mann in gewahr-“<br />
Was Galak nicht verstand, war die Tatsache, dass der Sicherheitsdienst<br />
und die möglichen Konsequenzen einer Konfrontation für Sortak<br />
überhaupt keine Rolle spielte. In dem Augenblick, als Galak Sortaks<br />
Vater erwähnt hatte, vernebelte unbändiger Zorn das Gehirn des<br />
Vulkaniers, der alle Worte Galaks verschluckte. Er hörte nur noch, wie<br />
der verhasste Galak Shan erwähnte. Und er hörte, wie er den Kosenamen<br />
in den Mund nahm, mit dem Sortak, und nur Sortak sie seit frühester<br />
Kindheit angesprochen hatte. Mehr hörte er nicht. Alles weitere wurde<br />
von seiner aufkochenden Wut hinweggefegt, als er sich auf Galak<br />
stürzte.<br />
Katarina „Scotty“ Scott war sehr mit sich zufrieden. Für gewöhnlich<br />
war die Kadettin überaus trinkfest. Es war ihr sogar einmal gelungen
eine klingonische Schnapsdrossel, der in Trinkwettbewerben als<br />
unbesiegbar gegolten hatte, unter den Tisch zu saufen. Doch an diesem<br />
Abend, dem Abend der Feier, war sie bereits früh weggetreten. Zur<br />
Hälfte weggetreten. Sie schaffte es selbstverständlich noch immer<br />
aufrecht zu stehen, auch wenn sie seit einigen Minuten vorsichtshalber<br />
an einer der Säulen oben in der Nähe der breiten, geschmückten Treppe.<br />
Die Welt um sie herum hatte sich vorhin ein klein wenig zu drehen<br />
begonnen und Scotty hatte entschieden, dass es wohl das klügste sei, sich<br />
eine Weile irgendwo anzulehnen. Es war ja nur für ein paar Momente.<br />
Immerhin war sie nur zur Hälfte weggetreten. Allerhöchstens. Vielleicht<br />
sogar nur zu einem dreiviertel. Nichts desto trotz war sie sehr zufrieden.<br />
Mit sich und mit der Welt. In der Hand hielt sie noch immer die Flasche<br />
Scotch. Es befanden sich nur noch ein paar Schluck des guten Gesöffs<br />
drin, welche Scotty nun zügig leerte.<br />
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab und sah dann mit<br />
trübem Blick, aber breitem Lächeln, auf die Kadetten herab. Auch wenn<br />
die Bewegungen der Masse für ihr Gehirn irgendwie zu viel waren, um<br />
sie völlig zu begreifen, entging ihr nicht, wie einer der jungen Burschen<br />
des ersten Jahres, abseits der anderen taumelte. Er griff nach einem Glas<br />
auf einem der Tische, verfehlte sein Ziel und kippte um wie ein gefällter<br />
Baum. Scotty kicherte. Der Kadett war nicht der einzige, der bereits arg<br />
wankte. Denn was die Feiernden nicht wussten, war, dass Scotty ihnen<br />
etwas in den Punch getan hatte. Genaugenommen in alle Getränke,<br />
inklusive des Syntehols und des Wassers.<br />
Es war kein leichtes unterfangen gewesen in der Nacht zuvor den<br />
Alkohol – echten, wohlschmeckenden schottischen Scotch - in die<br />
Getränkeaufbereitungsanlagen zu schmuggeln. Aber sie hatte es<br />
tatsächlich geschafft das Sicherheitsschloss der entsprechenden Räume<br />
zu knacken, unbemerkt einzudringen und den genialen Plan ihres kleinen<br />
Streiches durchzuführen.<br />
Sie wollte damit die Feier etwas auflockern. Dass die Organisatoren<br />
echten Alkohol verboten, hatte sie nicht nachvollziehen können. Was<br />
war schon gegen eine kleine Menge einzuwenden? Für Scotty bestand<br />
kein Zweifel, dass die Party dadurch ernstlich in Gefahr lag öde zu<br />
werden. So etwas durfte nicht geschehen! Also hatte sie die Sache selbst<br />
in die Hand genommen.
Was Scotty wiederum nicht wusste, war, dass sie nicht die einzige mit<br />
dieser Idee gewesen war. Der andere Kadett, der zu demselben<br />
Entschluss gelangt war wie sie, und den synthetischen Champagner mit<br />
echtem, russischem Vodka angereichert hatte, lehnte direkt neben ihr an<br />
der Säule, da er auch schon mächtig einen in der Krone hatte. Sein Name<br />
war Andrej Chekov. Er war in der Nacht zuvor genau fünf Minuten,<br />
nachdem Katarina Scott ihr Werk vollbracht hatte und gegangen war, in<br />
die Lagerstätte der Getränke eingebrochen. Und als er gegangen und<br />
nach vollbrachter Tat vergessen hatte die Tür zu schließen... war heute<br />
früh – wie sollte es auch anders sein? - einer der Organisatoren der Feier<br />
schulterzuckend in die Anlage marschiert und hatte ein wenig, aber<br />
durchschlagskräftiges, romulanisches Ale hinzugeschüttet, damit diese,<br />
seine Party nicht zu der langweiligen Zusammenkunft wurde, zu der sie<br />
zu werden drohte. Immerhin hatte er einen Ruf zu verlieren.<br />
So kam es, dass drei verschiedene Kadetten, ohne von den jeweils<br />
anderen beiden zu wissen, ordentlich Zunder in die Getränke gegeben<br />
hatten. Als sich nahe des Eingangs eine junge Frau übergab, zuckte<br />
Scotty mit den Schultern. „Scheinen nich’ viel zu vertragen, die Orioner.<br />
Haben wohl keinen Alkohol.“<br />
„Natürlich niacht.“, säuselte Chekov neben ihr. „Alkohol ist immerhin<br />
eine russische Erfindung.“ Er begrüßte Scotty, die ihn erst jetzt<br />
bemerkte, mit einem knappen Nicken. „Sie virken aber auch niacht mehr<br />
taufrisch, meine Liebe.“ Ein kleines Kichern konnte er sich nicht<br />
verkneifen. „Liegt vialleicht am... na ja...“ Er sah sich schnell<br />
verschwörerisch um, beugte sich zu Scotty herüber und flüsterte dann<br />
weiter: „Liegt vialleicht am Vodka, den ich in die Getränke gegeben<br />
habe.“ Grinsend zwinkerte er.<br />
„Nah.“, winkte Scotty fröhlich ab. „’S braucht schon ’n bisschen mehr,<br />
um ’ne Schottin umzuhauen. Außerdem kannse’ keinen Vodka in die<br />
Getränke gegeben haben...“<br />
„So?“ Der Russe stutzte. „Und varum niacht?“<br />
„Weil ich schon Scotch reing’schüttet hab’, natürlich.“<br />
Sie zwinkerte ihrerseits und grinste blöde...<br />
...und Chekov grinste blöde und erhob sein kleines Fläschen...<br />
...und dann wurden beide schlagartig nüchtern, als sie begriffen, was<br />
sie getan hatten. Ihre Köpfe flogen herum und sie sahen sich aus großen
Augen an. „Was hast du nur angestellt?!“, riefen sie gleichzeitig. Und in<br />
diesem Moment flogen zwischen Galak und Sortak die Fäuste und dann<br />
brach die Hölle los.<br />
Zwei Minuten vorher, und draußen, auf der Parkbank, waren Shan und<br />
Cera noch immer über den Datenblock gebeugt und tasteten sich<br />
gemeinsam an die Erdensprache heran, als plötzlich hinter ihnen jemand<br />
höhnte: „Oh, seht nur. Ist das nicht ein entzückendes Bild? Die kleine<br />
Dicke und die kleine Bartez lernen unsere Sprache.“<br />
Shan drehte sich stirnrunzelnd, um die Quelle des Neuankömmlings<br />
auszumachen, und sah ein halbes Dutzend Kadetten auf sie zukommen.<br />
Cardassianer, Ferengi, Menschen. Sie grinsten, aber es war absolut kein<br />
freundliches Grinsen. Zunächst wusste Shan nicht, was das zu bedeuten<br />
hatte – sie kannte keinen einzigen von denen -, doch dann trat jemand<br />
zwischen den Kadetten hervor, den sie sehr wohl wiedererkannte und<br />
plötzlich war ihr klar, dass Ärger anstand.<br />
Finnegan war zurück.<br />
Und er hatte Freunde dabei. Viele Freunde.<br />
„Woher wusste ich nur, dass ich euch beide hier draußen vorfinden<br />
würde, hm?“<br />
Shan sagte ironisch an Cera gewandt, aber ohne den Blick von<br />
Finnegan und seinen Leuten zu nehmen: „Siehst du, Cera? Er ist<br />
Hellseher, wie ich gesagt habe. Das ist der ultimative Beweis.“<br />
Cera hingegen sagte nichts. Shan bemerkte, wie sie langsam von der<br />
Bank aufstand. Irgendetwas im Blick der Pakled hatte sich verändert.<br />
Diesmal waren ihre sonst sehr treuen, harmlosen Augen von einer Kälte<br />
erfüllt, die Shan einen Schauer über den Rücken jagte. Und sie wusste<br />
instinktiv, dass das nichts gutes zu bedeuten hatte.<br />
Shan stand ebenfalls auf, ihre Schultern gestrafft, ihr Blick wachsam.<br />
Sie wollte vorbereitet sein, aber sie versuchte sich an Janeways Worte zu<br />
erinnern. Versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, dass dies die<br />
Sternenflottenakademie war, kein Schulhof. Wenn es diesmal Ärger<br />
geben sollte, würde niemand mehr darüber hinwegsehen. Keine<br />
Frischlingsboni mehr. Nicht für Cera und erst recht nicht für Shan.
Finnegan waren kurz vor der Bank stehen geblieben. Seine Begleiter<br />
hatten eine bedrohliche Kesselformation um Shan und Cera<br />
eingenommen, und ihnen damit den Rückweg versperrt.<br />
„Bartez.“, raunte Finnegan nun mit geneigtem Kopf. „Shan Bartez.<br />
Wir hatten ja bereits das Vergnügen.“<br />
Shan erwiderte nichts, beobachtete ihn einfach nur.<br />
Finnegan rieb sich den Kiefer. „Gute Arbeit, eh? Ich durfte aus erster<br />
Hand erfahren, dass die medizinische Einrichtung der Akademie ihrem<br />
guten Ruf durchaus gerecht wird. Man merkt überhaupt nicht, dass der<br />
Kiefer je gebrochen war.“<br />
„Ich weiß es aber.”, sagte Shan. „Ich brach ihn.“<br />
„Ja. Ja, das hast du in der Tat. Ein hinterhältiger Glückstreffer, als ich<br />
gerade nicht hinsah.“<br />
Shan runzelte die Stirn. „Ist es das, was du deinen Freunden hier<br />
erzählt hast? Und die glauben dir das auch noch? Dann sind sie dümmer<br />
als sie aussehen.“<br />
Eine Bajoranerin, die einen Kaustein von einer Wange zur anderen<br />
Schob, grinste Shan von oben bis unten an. „Ganz schön vorlaut, die<br />
Kleine.“<br />
Shan warf ihr einen düsteren Blick zu. „Nenn mich noch einmal kleine<br />
und ich verpass dir eine neue Nasenrille!“<br />
Finnegan ging dazwischen. „Kadett Bartez, mir gefällt ihr Ton nicht.“<br />
Und dann grollte er: „Hör zu, Kleines. Vielleicht wäre es besser, wenn<br />
du niemals den Mund aufgemacht und mich angegriffen hättest. Erst<br />
recht nicht, wo ich mit ihr, der breiten Masse dort, beschäftigt war.“ Er<br />
deutete auf Cera. „Ja, genau, Dickerchen. Dich meine ich. Also wirklich,<br />
mich wundert es überhaupt nicht, dass du hier draußen ganz alleine sitzt.<br />
Wundert euch das etwa, Leute?“<br />
Seine Freunde verneinten alle. Besonders der Ferengi schüttelte heftig<br />
den Kopf. „Mit der würde ich mich auch nicht abgeben.“<br />
Ein anderer pflichtete ihm bei. „Höchstens, wenn wir die letzten<br />
beiden Lebewesen im Universum wären und es keine Schafe mehr<br />
gäbe...“<br />
Zwei seiner Klassenkameraden musterten ihn argwöhnisch, aber die<br />
anderen lachten hämisch über Cera und nickten zustimmend.<br />
„Was macht die überhaupt hier?“, sagte jemand. „Jemand wichtigerem
den Studienplatz wegnehmen, nicht wahr? Kann ja nicht mal unsere<br />
Sprache richtig. Als die vom Baum der Blödheit gefallen ist, hat sie aber<br />
auch wirklich jeden Ast erwischt.“<br />
Und wieder lachten sie.<br />
Shan merkte aus den Augenwinkeln, dass Cera immer wütender<br />
wurde. Man konnte es ihr nicht wirklich ansehen, denn die Mine der<br />
Pakled war nie besonders Aussagekräftig. Aber Shan spürte ganz<br />
deutlich, dass es in Cera brodelte. Sie war kurz davor Finnegan<br />
anzugreifen. Shan konnte sehen, dass ihre Fäuste geballt waren, jeder<br />
Muskel an ihrem schweren Körper befand sich im kritischen Zustand.<br />
Das war nicht gut. Finnegan provozierte sie, er hatte nichts aus ihrer<br />
ersten Begegnung gelernt. Gar nichts! Und Shan hatte Cera auch noch<br />
geraten, ihn auseinander zu nehmen, wenn er sie ärgern tun sollte. Sie<br />
hatte das im Scherz gesagt, aber nun war sie sich nicht mehr sicher, ob<br />
Cera ihre Bemerkung nicht doch falsch aufgefasst haben mochte.<br />
Shan ahnte bereits, in welche Richtung sich die Situation bewegte.<br />
Früher oder später, würde Cera – so ruhig und gutmütig ihr Gemüt auch<br />
sein mochte – explodieren und gerade die stillen Wasser waren tief.<br />
Gerade die Leute, denen man es nicht zutraute, auf denen immer<br />
herumgehackt wurde, waren gefährlich, das wusste sie. Denn wenn die<br />
einmal rot sahen, dann war das kein helles Rot sondern ein sehr, sehr<br />
dunkles. Und wenn Cera der Geduldsfaden riss und sie etwas dummes<br />
tat, dann würde sie auf jeden Fall von der Akademie fliegen. Vielleicht<br />
erwartete sie sogar schlimmeres.<br />
Shan wollte nicht, dass der Pakled so etwas widerfuhr. Sie wollte<br />
nicht, dass ihr überhaupt etwas passierte. Es war unfair. Einfach unfair.<br />
Jemand, der so hart daran arbeitete hier zu sein, auf diesem Campus,<br />
jemand, der nicht in der goldenen Wagschale aufgewachsen, dem nicht<br />
die Erziehung und die Ausbildung gewährt worden war, wie allen<br />
anderen, der hatte es nicht verdient, auf diese Art und Weise zu enden.<br />
Finnegan grinste. Es bestand kein Zweifel, dass er auf eine physische<br />
Konfrontation aus war. Shan hätte ihm am liebsten sein hämisches<br />
Grinsen aus dem Gesicht gerissen und es so lange in ihren Rucksack<br />
gesteckt, biss sich nicht einmal mehr Kinder davor ängstigten. Nun baute<br />
sich Finnegan baute vor ihr auf. „Und was wirst du jetzt tun, Kadett?“,<br />
fragte er. „Wirst du dich endlich entschuldigen, für das, was du getan
hast, oder erzählst du deinem Daddy, dass-“<br />
Auch diesmal bekam Finnegan keine Gelegenheit, seinen Daddy-Satz<br />
zu vollenden. Ein weiteres Mal sah er die Faust nicht kommen. Finnegan<br />
wusste nur, dass das Mädchen im einen Moment noch vor ihm gestanden<br />
hatte, und einen Augenblick später fand er sich auf dem Boden wieder.<br />
Auch Moron, der sich direkt neben Finnegan befunden hatte, blieb keine<br />
Zeit zu realisieren, was passiert war, da Shan plötzlich herumwirbelte<br />
und ihm einen Stiefel in den Magen trat. Er krümmte sich schmerzerfüllt<br />
vornüber, nur um von Shan einen Aufwärtshaken unter das Kinn geknallt<br />
zu bekommen, der ihn mit ausgebreiteten Armen zurück warf.<br />
Finnegan rappelte sich auf. Er spuckte Blut. „Schnappt euch das<br />
Miststück!“, brüllte er.<br />
Und im nächsten Moment gingen alle auf Shan los.<br />
Niemand wusste so genau, wer oben auf der Galerie zuerst zuschlug.<br />
Selbst Galak und Sortak nicht. Im einen Augenblick stritten sie noch, die<br />
Gesichter lediglich Zentimeter voneinander entfernt. Und im nächsten<br />
Moment prallten sie aufeinander, rangen, schoben und zerrten.<br />
Unten hatte sich Tala gerade ein weiteres Käsebällchen in den Mund<br />
werfen wollen, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, wie über ihr, auf<br />
der Galerie, ein heftiges Handgemenge zwischen den beiden entbrannte.<br />
Sortak landete auf dem Orsorianer, holte aus und schlug so kräftig zu,<br />
wie er konnte. Die ganze Halle verstummte vor Schreck, die Band hörte<br />
auf zu spielen. Kadetten allerorts erstarrten und warfen die Köpfe herum,<br />
auf die ersten fliegenden Fäuste.<br />
Sortaks Schlag blieb nicht ohne Wirkung. Einen Augenblick lang<br />
schien Galak benommen zu sein, doch dann erholte er sich wieder und<br />
schlug zurück. Sortak flog praktisch durch die Luft und prallte gegen<br />
zwei andere Kadetten, die nun ineinander rasselten und offenbar auch<br />
nicht besonders gut auf sich zu sprechen waren, da sie plötzlich anfingen<br />
sich gegenseitig zu beschimpfen. Im nächsten Moment hatte sich Galak<br />
bereits aufgerappelt und ging nun seinerseits auf Sortak los, der sich aber<br />
recht geschickt aus seinem Griff wand und den Schlägen auswich. Er<br />
holte mit den Beinen aus, erwischte den Orsorianer an den Knöcheln und
Galak ging zu Boden. Sortak warf sich auf ihn und sie wälzten sich<br />
herum, brüllten sich an und prügelten drauf los.<br />
Und niemand ging dazwischen. Die Kadetten standen wie angewurzelt<br />
da, starrten auf die Streithähne... und begannen plötzlich zu Jubeln.<br />
Wotan, der das Unglück im selben Moment wie Tala gesehen hatte,<br />
versuchte sich verständlich zu machen, hatte aber nicht den geringsten<br />
Erfolg damit.<br />
„Sortak, um Himmels willen...“, rief er, doch seine Stimme war<br />
lediglich eine von vielen und ging in dem Chaos unter. Als nächstes<br />
tönte ein erneutes Raunen durch die überraschte Menge und als Tala den<br />
Kopf drehte, um der Ursache auf den Grund zu gehen, sah sie, wie auch<br />
draußen eine zweite Schlägerei begann. Und Shan und Cera waren<br />
mittendrin, zwei gegen sieben. Im ersten Moment sah es nicht einmal so<br />
aus, als hätte Shan Probleme sich gegen diese Übermacht zur Wehr zu<br />
setzen.<br />
Eine Bajoranerin stürzte sich kreischend auf sie und es gelang der<br />
jungen Frau sogar, einige von Shans Schlägen abzublocken und selber<br />
einen schweren Treffer zu landen. Im nächsten Moment riss Shan aber<br />
ihr Knie hoch und rammte es ihr mit voller Wucht in den Magen, nur um<br />
eine Sekunde später, dem nächsten Angreifer die Faust auf das Kinn zu<br />
setzen. Das genügte, um die Aufmerksamkeit einiger anderer Kadetten<br />
aus dem vierten Jahr zu erwecken – Freunde von Finnegan, ihrem<br />
Gesichtsausdruck nach zu urteilen. Sie setzten sich in Bewegung, um,<br />
die Halle zu verlassen und draußen mitzumischen. Tala war klar, dass sie<br />
Shan und Cera auseinander nehmen würden und das durfte sie nicht<br />
zulassen. Freunde hielten zusammen. Egal in welcher Situation. Wer<br />
davonrannte, war ein Feigling. Darüber hinaus begrüßte die andorianerin<br />
jeden Kampf.<br />
Sie stellte sich den Drittklässlern in den Weg und als der erste Kadett<br />
sie mit einem geraunten „Mach Platz!“ zur Seite stoßen wollte, wirbelte<br />
sie wie ein Blitz herum und duckte sich, während sie nach vorn sprang.<br />
Ihre Schulter knallte in den Magen des Jungen und bei dem Aufprall<br />
grunzte er auf. Er stürzte mit rudernden Armen nach hinten und prallte in<br />
einen Kadetten, der wiederum in einen anderen hineinfiel. Wie<br />
Dominosteine stürzten fast fünf Leute gleichzeitig zu Boden.
In einer Verkettung äußerst unglücklicher Missverständnisse,<br />
kombiniert, mit der heimlich in die Getränke gegebenen Menge<br />
Alkohols, gerieten nun auch diese Kadetten aneinander. Zunächst<br />
schubsten sie sich nur, doch nur wenige Augenblicke später entstand<br />
eine handfeste Keilerei. Und dann geschah alles gleichzeitig.<br />
Kadettin Zaylie Burton, die sich für die Organisation der Feier<br />
verantwortlich zeichnete, und gerade ihre gesamte Arbeit den Bach<br />
heruntergehen sah, kreischte, ebenso wie ein Großteil der anderen<br />
Schüler, die erschrocken aufsprangen und in alle möglichen Richtungen<br />
davonzulaufen versuchten, entweder um Hilfe zu holen, oder um sich in<br />
Sicherheit zu bringen. Dabei rempelten sie sich gegenseitig über die<br />
Tanzfläche, und gerieten ihrerseits in äußerst unglückliche<br />
Missverständnisse mit der anderen Hälfte der Anwesenden Kadetten, die<br />
bereits so betrunken waren, dass sie sofort fröhlich mitmischten, oder<br />
sich weniger fröhlich mit allem und jedem in die Wolle bekamen, was in<br />
Reichweite war.<br />
Binnen weniger Sekunden flogen Fäuste und der Ballsaal wurde<br />
auseinandergenommen. Schreie, das Umkippen von Gläsern und Stühlen<br />
und durcheinanderstürzenden Menschen, schufen ein Chaos, wie es in<br />
Pandoras Büchse nicht anders hätte sein können.<br />
Tala fand sich plötzlich in einer handfesten Massenschlägerei wieder,<br />
vergeudete aber keine Zeit damit, ihr schlimmes Werk zu betrachten. Sie<br />
grinste erfreut, holte mit einer schnellen Drehung ihres trügerisch<br />
schlanken Oberkörpers aus und warf einem anderen von Finnegans<br />
Leuten ihre Faust entgegen, die er geschickt mit dem Kinn auffing.<br />
Ein paar Meter neben Tala, brachte sich Kadett Yoko mit einer<br />
geringfügigen, aber exakt berechneten Neigung seines Kopfes aus der<br />
Wurfbahn eines gläsernen Geschosses. Die Flasche sauste dicht an<br />
seinem Schädel vorbei und zersplitterte mit einem Knall an der Wand.<br />
Und dann hob Yoko sein Glas Wasser um 36,4 Zentimeter an, um dem<br />
Kadetten Platz zu machen, der gerade an ihm vorbeigeworfen wurde. Als<br />
Pazifist, hatte Yoko selbstverständlich keinerlei Ambitionen an der<br />
Keilerei teilzunehmen. Genauso wenig wollte er die Halle aber auch
verlassen, immerhin war der Abend als gesellschaftlicher Anlass gedacht<br />
und die Schlägerei – so wenig die Menschen auch zu verstehen waren –<br />
bot eindeutig ein gewisses kulturelles Zusammenkommen, denn<br />
inzwischen waren alle Anwesenden beteiligt – gewollt, oder ungewollt.<br />
Die Musikgruppe begann wieder zu spielen, so als fange das Fest erst<br />
richtig an. Was der Wahrheit entsprach.<br />
Yoko betrachtete das Chaos und kam zu dem Schluss, dass sein<br />
Aufenthalt in der Akademie, intensive Meditationen erfordern würde, um<br />
bei Verstand zu bleiben...<br />
Shan hatte es irgendwie geschafft, sich aus dem aufgebrachten<br />
Kadettenknäuel, welches wie eine Flutwelle über ihr sprichwörtlich<br />
zusammengeschlagen war, zu befreien. Sie konnte nicht genau sagen,<br />
wie ihr das gelungen war, aber es blieb auch gar keine Zeit, darüber<br />
nachzudenken, denn Finnegans Leute waren fest entschlossen, sie zu<br />
lynchen, und es wurden irgendwie immer mehr, also hielt Shan es für<br />
eine gute Idee, nachdem sie so lange durchgehalten hatte, einen<br />
kurzfristigen Rückzug anzutreten, bis ihr etwas schlaues einfiel, um mit<br />
Finnegans Leuten fertig zu werden. Sie drehte sich um, rannte auf den<br />
Saal zu...<br />
... und kam verblüfft ins Stocken, als sie sah, dass in dem ganzen Saal<br />
eine gewaltige Massenschlägerei ausgebrochen war. Fäuste, Stühle,<br />
Gläser, Kadetten, ja ganze Tische – alles flog durch die Gegend. Shan<br />
war derart überrascht über den Anblick, der sich ihr darbot, dass sie<br />
einen Moment nicht aufpasste, wohin sie rannte, sodass sie mit dem<br />
Schuh in einer Wurzel hängen blieb und das Gleichgewicht verlor. Sie<br />
schlug der Länge nach hin.<br />
Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen. Und sofort stürzte<br />
sich die Meute wieder auf sie. Shan hatte nicht einmal Zeit aufzustehen.<br />
Für einen kurzen Moment, vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde,<br />
sah sie ein paar Kadetten des ersten Jahres in einiger Entfernung in den<br />
Gärten, aber sie standen einfach nur da, tatenlos, und beobachteten<br />
kopfschüttelnd das Geschehen. Sie dachten nicht einmal daran<br />
einzugreifen.
Und Shan dachte nicht einmal daran, um Hilfe zu rufen. Vermutlich<br />
würden sie ihr auch gar nicht helfen können. Richtige Hilfe – der<br />
Sicherheitsdienst - war bestimmt längst unterwegs. Und wenn nicht,<br />
dann war es ihr auch recht. Dann sollte sie mit wehenden Fahnen<br />
untergehen. Shan spürte, wie jemand sie am Bein packte und dann wurde<br />
sie bäuchlings über die Erde zurückgezerrt. Sie schaffte es, sich auf den<br />
Rücken zu drehen und holte mit dem freien Bein aus. Ihr Stiefel – Gott<br />
sei dank trug sie welche – erwischte ihren Gegner äußerst schmerzhaft<br />
am Knie und der größere Kadett ging zu Boden.<br />
Shan kam wieder auf die Beine... und fing sich sofort einen rechten<br />
Haken ein, als zwei von Finnegans Freunden herankamen. In ihrem Kinn<br />
explodierten Photonentorpedos. Der pulsierende Schmerz raubte ihr fast<br />
das Bewusstsein.<br />
Für einen kurzen Moment geriet Cera in ihr Sichtfeld, wie sie mit<br />
einem anderen Kadetten rang. Das machte Shan wütend. Sie schlug<br />
blindlings zurück und traf eine Kellnerin, die ihr zu Hilfe gekommen<br />
war, nun aber mit gebrochener Nase zusammensackte.<br />
Shan hatte keine Zeit, ihre Tat zu bereuen, denn sie wurde von Achtern<br />
hoch- und herumgerissen. Das brachte ihre Beine wieder in den<br />
Einflussbereich des Ferengis. Shan zögerte keinen Augenblick und trat<br />
ihm mit ganzer Kraft gegen das rechte Ohr, dort, wo bei seiner Spezies<br />
die Empfindungen am größten war. Der Ferengi brüllte auf und taumelte<br />
nach hinten, wo er über einen seiner bewusstlosen Kollegen stolperte<br />
und stürzte.<br />
Einer noch.<br />
Der Typ, der sie fest im Griff hatte. Und ihr allmählich die Luft<br />
abdrückte. Er hatte gewaltige Arme, jeder dicker, als Shan und er presste<br />
die Arme wie einen Schraubstock um sie zusammen. Die Schmerzen<br />
wurden schier unerträglich, es war nur noch eine Frage von Sekunden,<br />
ehe Shan Rippen brechen hörte. In ihrer Verzweiflung stieß sie mit dem<br />
Kopf nach hinten. Sie traf einen Kiefer. Sofort löste sich der Griff und<br />
der Kerl hinter ihr jaulte auf. Shan wollte ihm keine Zeit geben, sich zu<br />
erholen, wirbelte herum und schlug mit der Faust aus. Zu ihrer eigenen<br />
Verwunderung traf sie sogar. Und wie sie traf! Ihre Faust schleuderte so<br />
hart, dass sie vor Schmerz aufkeuchte.<br />
Ihr Gegner tat nichts der gleichen. Erst jetzt sah Shan, dass es sich um
den knapp Zwei Meter großen Benziten, namens Moron handelte. Diese<br />
Spezies war für ihre Robustheit bekannt. Genauso gut hätte sie auch<br />
gegen eine Wand schlagen können. Seelenruhig richtete er sich auf und<br />
maß Shan mit einem Blick, in dem sich Verachtung und hämische<br />
Schadenfreude mischten. Ein dünner Blutstrom rieselte aus seiner Nahe.<br />
Er machte sich nicht einmal die Mühe, ihn wegzuwischen.<br />
Keine Chance, dachte Shan. Jetzt bist du erledigt.<br />
Doch dann erinnerte sie sich an Kats Worte. Du kannst alles schaffen.<br />
Und sie erinnerte sich an den Trick, den Kat ihr gezeigt hatte. Also<br />
kreuzte sie die Finger, und schlug zu, wie es ihr gezeigt worden war, ehe<br />
sich der Riese revangieren konnte. Und es funktionierte! Sie schlug<br />
gegen seinen Brustkorb und hörte ein leises Knacken. Sehr viel lauter<br />
war eine halbe Sekunde später Morons Schrei, als er platschend mit weit<br />
ausgebreiteten Armen im Teich landete, gute zwei Meter von Shans<br />
Position entfernt.<br />
Sie betrachtete ihre Faust, verwundert über sich selbst, und hätte fast<br />
zuversichtlich gegrinst, als sie aus den Augenwinkeln sah, wie sich fünf<br />
andere Kadetten näherten.<br />
Als sie sich alle auf sie stürzten, blieb Shan ihr kurzer Anflug von<br />
Enthusiasmus, im Halse stecken.<br />
Tala war enthusiastisch. Sie schleuderte gerade einen Kadetten auf<br />
einen Antigravitationsservierwagen und stieß mit dem Stiefel zu. Durch<br />
den Schwung sauste das Gefährt durch die sich prügelnde Menge auf das<br />
Podium zu, wo der Kadett mitsamt Wagen in das Schlagzeug krachte.<br />
Er wollte aufstehen, doch die Leadsängerin Judy D’Agosta packte ein<br />
längliches Musikinstrument, das aussah, wie eine zu lang geratene Flöte<br />
und hieb dem muskulösen Störenfried damit nieder. Er landete auf der<br />
Tanzfläsche, wo noch mehr Kadetten wild durcheinander rannten, oder<br />
sich prügelten. Es war eineinziges Chaos!<br />
„Dang, ich liebe das!“, rief Tala berauscht. Sie bewegte sich mit der<br />
Geschwindigkeit einer Katze und rammte ihre blanke Faust in den<br />
Magen eines anderen Opponenten. Wotan hingegen hatte deutlich<br />
weniger vergnügen. Er duckte sich, da gerade ein Kadett mit rudernden
Armen über ihn hinwegsegelte und dabei in eine andere Meute prallte.<br />
„Schön, wenn sich wenigstens einer Amüsiert.“<br />
„Ach komm schon, Wotan.“, erwiderte Tala, als dem Kadett, den sie<br />
gerade in der Mangel hatte, augenblicklich ein Trupp Helfer<br />
herbeistürmte. In ihrer Verzweiflung warf sie ein Tablett wie einen<br />
Frisbee in Richtung der Wachen und traf auch tatsächlich einen. Der<br />
unglückselige Kerl sackte bewusstlos auf dem Boden zusammen. Mit<br />
den anderen beiden geriet sie in ein Handgemenge.<br />
„Wir müssen auch mal Dampf ablassen.“, setzte sie ächzend das<br />
Gespräch fort. „Und dazu gibt es nun wirklich nichts besseres als eine<br />
Kneipenschlägerei.“<br />
„Das hier ist aber keine Kneipe!“<br />
Tala verpasste gerade einem, selbst für seine Spezies erstaunlich<br />
hässlichen Nausicaaner, einen hervorragend platzierten Kinnhaken.<br />
„Seine Mutter hat keinen Dampf abgelassen“, rief sie. „und nun schau dir<br />
an, was aus ihm wurde!“<br />
„Ich bin ein Tiger, Tala.“, rief Wotan verzweifelt. „Ein ehemals wildes<br />
Tier! Ein Jäger! Ich habe Angst vor meiner Dunklen Seite und den<br />
animalischen Instinkten, die noch immer in mir schlummern. Als ich sie<br />
noch nicht kontrollieren konnte, sind schreckliche Dinge passiert,<br />
verstehst du? Schreckliche Dinge!“<br />
Tala entgegnete nichts, sondern tauchte unter einem weiten Schlag des<br />
Nausicaaners hindurch. Er war jetzt richtig wütend, brüllte und spuckte,<br />
aber Tala hatte keine Probleme seinen viel zu langsamen Attacken zu<br />
entgehen.<br />
Während sie geschickt mal hierhin und mal dorthin auswich, sah Tala,<br />
wie Kadett Yoko nicht weit von ihr entfernt seelenruhig durch die um<br />
sich schlagenden Kadetten wanderte. Es schien völlig unmöglich, aber er<br />
blieb von allem unberührt. Keiner kümmerte sich um ihn. Niemand<br />
schien ihn auch nur zu beachten. Während um ihn herum Tische und<br />
Stühle und Kadetten durch die Luft segelten, spazierte er ohne besondere<br />
Eile mit einer erstaunlichen, an Mystik grenzenden Unantastbarkeit<br />
durch die chaotische Menge und streckte den Arm aus, als er in<br />
Reichweite des nächstbesten Kadetten war.<br />
Tala glaubte einen Moment lang, dass er tatsächlich beabsichtigte, den<br />
Kadetten zu erdrosseln. Hätte er dies getan, hätte Tala dem Typen keine
Träne nachgeweint. Natürlich hätte sie es lieber persönlich getan, aber es<br />
bereitete ihr keinen besonderen Kummer, wenn jemand anderes diese<br />
Aufgabe übernahm. Aber Yoko würgte den Kadetten nicht. Stattdessen<br />
reagierte der auf die Berührung mit Yokos Hand, die sich auf seine<br />
Schulter legte. Instinktiv riss der Kadett die Hände hoch, um den Angriff<br />
abzuwehren, doch, als sich sein Finger um den Arm des Jungen krallten,<br />
war es bereits zu spät. Er verdrehte die Augen und sank dann zu Boden,<br />
ohne einen Laut von sich zu geben. Dann marschierte Yoko zum<br />
nächsten und wiederholte die Prozedur.<br />
„Vulkanischer Betäubungsgriff.“, murmelte Tala, während sie dem<br />
Nausicaaner mit einer Serie schneller Tritte zusetzte. „Pah! Ich zeige<br />
euch mal, was ein andorianischer Betäubungsgriff ist!“ Sie holte aus und<br />
klatschte mit der Faust auf den Nasenrücken ihres Widersachers. „Das<br />
ist ein richtiger Nervengriff! Siehst du, Wotan?“, rief sie durch den<br />
Lärm. „Selbst unser steifer Vulkanier da drüben hat Spaß.“<br />
Yoko, der aufgrund seiner hervorragenden Ohren jedes einzelne Wort<br />
gehört hatte, hob eine Braue, während er den nächsten Opponenten mit<br />
dem berühmten Nackengriff außer Gefecht setzte. „Ich habe keinen ...<br />
Spaß.“, entgegnete er. „Ich versuche vielmehr das Chaos in Grenzen zu<br />
halten, in dem ich die Anzahl der Opponenten limitiere.“<br />
Tala schnaubte verächtlich und wandte sich wieder ihren eigenen<br />
Problemen zu. „Yeesh, er kämpft sogar langweilig.“, murmelte sie und<br />
geriet plötzlich in arge Bedrängnis.<br />
Der Kadett, den sie als erste niedergeschlagen hatte, kam brüllend auf<br />
die Beine. Tala wandte sich um, und stellte sich ihm entgegen. Leider<br />
drehte sie dabei einem anderen den Rücken zu, der die Sache endlich<br />
beenden wollte und dabei fies genug war, einen Barhocker zu Hilfe zu<br />
nehmen. Er hielt ihn, wie einen Baseballschläger fest und wog das<br />
Gewicht. Dann lies er den Hocker zwei, dreimal spielerisch durch die<br />
Luft pfeifen, packte ihn mit aller Kraft, schleuderte, und dann sauste der<br />
Hocker auch schon durch die Luft, direkt auf Tala zu. Die<br />
Zielgenauigkeit des Kadetten, war aufgrund des Alkoholgehalts in<br />
seinem Blut jämmerlich, das Ergebnis aber dafür umso schrecklicher.<br />
Tala konnte dank ihrer Antennen und der dadurch überlegenen Sinne,<br />
zwar den Hocker im letzten Moment herannahen spüren, und es gelang<br />
ihr sogar, sich noch rechtzeitig zu ducken, aber dafür flog der Hocker
nun unerbittlich auf den Kasvagorianer zu.<br />
Bisher hatte er noch immer unbeteiligt und von allem unberührt an der<br />
Theke gesessen und vor sich hergemurmelt. „Einen Galadrian von einem<br />
Jurakki unterscheiden? Kein Problem... Einen Knellt von einem<br />
Romulaner unterscheiden? Kein Problem. Eine-“<br />
WHAM!<br />
Der Hocker flog mit unfassbarer Wucht gegen seinen Schädel...<br />
...und zerschellte einfach. Der fürchterliche Krach des Aufpralls fuhr<br />
wie eine Schockwelle durch den Saal und augenblicklich hielten alle,<br />
aber auch wirklich alle Anwesenden in der Bewegung inne und drehten<br />
entsetzt die Köpfe zu dem Kasvagorianer, der sich nun von seinem<br />
Hocker erhob und zu seiner vollen, beeindruckenden Größe aufrichtete.<br />
Alle sahen das drohende Unheil kommen und niemand wagte es, sich zu<br />
rühren. Es war, als sei die ganze Schlägerei plötzlich zu einem Standbild<br />
degradiert worden. Selbst Galak und Sortak, die sich oben auf der<br />
Gallerie an der Gurgel hatten, hielten inne und starrten entsetzt in Halle<br />
herab. Draußen steckte Shan im Schwitzkasten, von Finnegans Leuten,<br />
aber sogar die hielten inne und wandten ihre Köpfe zu dem Unwetter,<br />
dass sich da drin gerade zusammenbraute.<br />
Der Kasvagorianer drehte sich ganz ... langsam... um.<br />
Tala schluckte.<br />
Sie hatte bisher nicht geglaubt, dass es Kasvagorianer gab, die größer<br />
werden konnten, als drei Meter. Aber es gab sie und einem davon stand<br />
sie jetzt gegenüber. Die Schultern des Burschen waren dreimal so breit<br />
wie ihre eigenen, und die Muskelstränge auf seinen nackten Oberarmen<br />
waren dicker, als Talas Arme. Sein Gesicht war länglich und knochig,<br />
mit großen, nach oben gewölbten Reißzähnen in seinem<br />
Überbissgeplagten Unterkiefer. Seine Hände sahen aus, als zerschlüge er<br />
Warpkerne zum puren Zeitvertreib. Oder auch Köpfe.<br />
Tala blieb wie angewurzelt stehen – alle blieben wie angewurzelt<br />
stehen - , als sich der Riese umdrehte und nach dem Versender des<br />
Hockers umsah. Und offenbar schien er Tala für die Verantwortliche zu<br />
halten. Sie konnte spüren, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich und sie<br />
so blass wurde, wie eine Aenar. Er sah sie mit einem bösen Funkeln in<br />
den Augen an. Gleichzeitig stieß er einen knurrenden Laut aus, der sich<br />
fast wie das Grollen eines zornigen Ochsen anhörte, und er ballte die
Fäuste, die nicht viel kleiner, als Talas Kopf waren.<br />
„O verdammt.“, murmelte sie. Der Kasvagorianer war kein Riese,<br />
dachte Tala erschüttert. Er war ein Berg von einem Kerl! Ein Berg, der<br />
sich nun anschicken würde, sie zu zermalmen. Aus den Augenwinkeln<br />
sah sie, wie Wotan, der sich ebenfalls zu seiner vollen, aber im Vergleich<br />
zu dem Kasvagorianer völlig lächerlichen Größe aufgerichtet hatte,<br />
wieder auf alle Viere sinken lies, und sich mit angelegten Ohren<br />
heimlich davonstahl. Er zog sprichwörtlich den Schwanz ein.<br />
Tala konnte es ihm insgeheim nicht verübeln, auch wenn sie das<br />
niemals gesagt hätte, denn für einen Andorianer war solch ein Rückzug<br />
die schlimmste aller Sünden. Aber wäre sie vor Schreck nicht völlig<br />
gelähmt gewesen, hätte sie vermutlich auch sofort die Beine in die Hand<br />
genommen. Stattdessen hatte sie den starren Gesichtsausdruck von<br />
einem Kaninchen auf einer nächtlichen Straße, das glaubte, die beste Art,<br />
mit näherkommenden Scheinwerfern fertig zu werden, sie, sie zu<br />
hypnotisieren. Sie hörte hinter sich entsetztes Getuschel.<br />
„Jemand sollte den Notfallkoffer holen.“<br />
„Jemand sollte alle scharfen Gegenstände verstecken.“<br />
„Jemand sollte mich verstecken.“<br />
Der Kasvagorianer fletschte die Zähne. In seinen Augen schäumte die<br />
Wut eines brandenden Ozeans. Er setzte sich in Bewegung und trat über<br />
den leblosen Tellariten Durkin hinwegtreten, um Tala zu packen und in<br />
der Luft zu zerreißen.<br />
Das war genau der Moment, den sich Durkin zum Aufwachen<br />
ausgesucht hatte, und als er mit rasselnden Kopfschmerzen, aber völlig<br />
nüchtern, zu sich kam, war er nicht besonders guter Laune. Seine haarige<br />
Faust zuckte hoch und traf den Kasvagorianer genau dort, wo es auch bei<br />
dieser Spezies am längsten schmerzte. Der Hüne verdrehte vor Schmerz<br />
die Augen, presste die Knie aneinander und fasste sich in den Schritt.<br />
Dann schwankte er nach hinten... nach vorne... dann wieder nach<br />
hinten... und dann kippte er endgültig um. Durkin rollte sich rechtzeitig<br />
zur Seite, um nicht unter dem gewaltigen Körper begraben zu werden,<br />
und rappelte sich auf. Er schäumte noch immer vor Wut, die Wildheit<br />
der Schlacht, in deren Mitte er aufgewacht war, hatte ihn erregt. „Wer<br />
mich geschlagen?“, schnaufte er. „Wer hat mich bewusstlos geschlagen?<br />
Wer hat es gewagt...“
Tala deutete auf einen zur Bewegungslosigkeit erstarrten und völlig<br />
unschuldigen Kadetten: „Der war’s!“<br />
Durkin brüllte los, stürzte sich auf den jungen Mann, und von einem<br />
Sekundenbruchteil auf den anderen, ging die Schlägerei weiter. Lärm<br />
und Geschrei schlugen erneut wie eine Woge über der Halle zusammen.<br />
Hocker, Flaschen, Gläser und Kadetten wirbelten durch die Luft. Die<br />
Prügelei wurde immer gewaltiger und gewaltiger. Es war sozusagen das<br />
Gegenteil eines Schwarzen Lochs.<br />
Statt ins Nichts gesogen zu werden und für immer zu verschwinden,<br />
breitete sich die Schlägerei immer weiter aus, und mehr und mehr<br />
Kadetten gerieten hinein und aneinander und auch die Band legte mit<br />
dem rockigeren „Shake, Rattle and Roll“ nach. So ging es weiter, bis<br />
irgendwann die Sicherheitsleute eintrafen. Immerhin konnten sie alle<br />
hinterher voller Stolz behaupten, dass sie bei diesem historischen<br />
Ereignis dabei gewesen waren.<br />
Nämlich bei der größten Massenschlägerei, in der Geschichte der<br />
Sternenflottenakademie...<br />
Danach<br />
Sie saßen ramponiert in Janeways Büro und warteten auf den<br />
Richterspruch, mit anschließender Exekution. Die gesamte<br />
Studiengruppe war versammelt und jeder einzelne von ihnen sah so aus,<br />
als hätte man ihn rückwärts durch eine Hecke gezerrt, während die<br />
Hecke gleichzeitig rückwärts durch einen Mähdrescher gezerrt worden<br />
war. Ihre zerrissenen Uniformen waren eine farbenfrohe Mischung aus<br />
Grasflecken, brauner Erde, Blut und den Überresten des Buffets, für<br />
dessen Zusammenstellung sich Kadettin Zaylie Burton besonders viel<br />
Mühe gegeben hatte.<br />
Shan und Cera saßen in der ersten Reihe, Tala, Yoko, Wotan und<br />
Durkin in der zweiten und Galak und Sortak dahinter. Die Arme<br />
verdrossen vor der Brust verschränkt, die Beine ausgestreckt, waren sich<br />
vor allem diese beiden Streithähne zumindest in ihrem Gebaren recht<br />
ähnlich. Mit dieser Vorstellung war Sortak nicht besonders glücklich –
mit dem Gedanken, etwas mit Galak gemeinsam haben zu können, und<br />
sei es auch nur die Körpersprache. Also veränderte er seine Haltung und<br />
schlug die Beine übereinander. Seltsamerweise hatte Galak gerade<br />
beschlossen, genau das Gleiche zu tun. Als sie begriffen, dass sie jetzt<br />
schon wieder gleich saßen, rückten beide ihre Stühle voneinander weg<br />
und Sortak drehte sich nach links, während sich Galak nach rechts<br />
wandte – wodurch sie zwar schon wieder in der völlig gleichen Position<br />
dasaßen, aber das wenigstens nicht sehen konnten. Auf diese Weise<br />
saßen sie anscheinend eine Ewigkeit reglos da. Sie sprachen nicht<br />
miteinander und die anderen schwiegen auch alle. Doch schließlich ging<br />
die Stille Galak zu sehr auf die Nerven... besonders, nachdem sich das<br />
Bild hinzugesellt hatte, das er sich im Kopf von seinem enttäuschten<br />
Vater gemacht hatte.<br />
„Ich hoffe du bist jetzt glücklich.“, zischte er.<br />
„Bin ich.“<br />
Galak gab ein Geräusch des Abscheus von sich. Wenn der Vulkanier<br />
irgendein Spielchen mit ihm treiben wollte, hatte er nicht die geringste<br />
Absicht, daran mitzuwirken. Doch nun, da das Schweigen gebrochen<br />
war, ließ sich Galak zu einem weiteren Kommentar hinreißen: „Jetzt<br />
werden Sie dich von der Akademie werfen.“<br />
„Dich aber auch.“, entgegnete Sortak gepresst. „Und das war es mir<br />
absolut wert.“<br />
„Haltet die Klappe!“, zischte Tala. Ihr Anblick bewies eindrucksvoll,<br />
dass selbst Andorianer so etwas wie ein blaues Auge haben konnten.<br />
„Die werden uns alle rauswerfen.“<br />
Zuerst wollte Sortak etwas darauf erwidern, doch dann sah er den<br />
vernichtenden Blick, den Tala ihm über die Schulter hinweg zuwarf.<br />
Ähnlich wie Shan, hatte sie auch ein recht berühmtes Elternteil in der<br />
Flotte vorzuweisen, doch Tala hatte ganz bewusst in ihre Fußstapfen<br />
treten wollen. Nun sahen ihre Chancen auf eine glorreiche Zukunft in der<br />
Flotte aber alles andere als rosig aus. Also hielt Sortak lieber den Mund.<br />
Er und Galak hatten sich ohnehin nichts mehr zu sagen. Daher verfielen<br />
wieder alle in erdrückende Stille.<br />
„Also...“, gestand Durkin nach einer Weile. „mir hat’s Spaß gemacht.“<br />
Alle drehten sich finster zu ihm.<br />
„Was denn?“, fragte er unschuldig.
Und dann glitten die Türhälften am anderen Ende des Zimmers<br />
beiseite. Admiral Janeway und Dekan Barclay traten ein. Mehr aus<br />
Höflichkeit denn aus Pflichtgefühl – schließlich argwöhnten alle in dem<br />
Raum, dass ihre Sternenflotten-Karrieren beendet waren, bevor sie<br />
richtig angefangen hatten - erhoben sie sich und standen stramm.<br />
Jedenfalls, sofern ihre Verletzungen dies zuließen. Janeway musterte sie,<br />
einen nach dem anderen, und bedachte sie bei dieser Gelegenheit mit<br />
einem Blick, der noch viel finsterer war, als jener, den sie Shan bei ihrer<br />
ersten Begegnung zugeworfen hatte. Er war schlichtweg vernichtend und<br />
wahrscheinlich ihre schlimmste aller Waffen.<br />
Der Blick.<br />
Der Umstand, dass Barclay neben der Tür stehen blieb und in der<br />
Anhörung offenbar nichts sagen würde, machte allen Kadetten klar, dass<br />
sie keinerlei Gnade zu erwarten hatten.<br />
„Beschämend!“, donnerte Janeway. „In all den Jahren, in denen ich<br />
nun in der Sternenflotte tätig bin, habe ich nie ein derart abscheuliches<br />
Ereignis erlebt, wie diesen Vorfall. Ich habe die Bücher vergeblich nach<br />
einer angemessenen Strafe abgesucht, aber da es eine solche Katastrophe<br />
noch nie in diesen Hallen gegeben hat, muss ich mit einer eigenen<br />
Lösung aufwarten. Das nächste, was mir angemessen erscheint, wäre<br />
Kielholen! Aber die Sternenflotte würde das kaum unterstützen. Ich<br />
hingegen ziehe diese Maßnahme ernsthaft in Betracht... Ohhh, ich weiß,<br />
was sie alle jetzt denken. Sie waren unwissend angetrunken. Sie waren<br />
auf einer Feier. Außer Dienst. Sie sagten Dinge, die Sie nicht meinten,<br />
und Sie taten Sachen, die Sie nicht wollten. Diese Entschuldigungen,<br />
werden Sie nicht retten! Dies ist die Sternenflottenakademie, kein<br />
Kindergarten!“<br />
„Wer auch immer den Alkohol in den Punch schmuggelte – und ich<br />
schwöre Ihnen, die Ermittlungen laufen und wir werden es herausfinden<br />
und entsprechende Maßnahmen ergreifen - er lies tief verborgene<br />
Gefühle und Antipathien in ihnen allen durchbrechen. Gefühle, für die<br />
wir hier auf der Akademie, einer zivilisierten, erwachsenen Einrichtung<br />
mit langer, langer, ehrwürdiger Tradition, keinen Platz haben. Wir<br />
müssen aufeinander zählen können, wenn wir überleben wollen. Der<br />
Kälte des Alls ist es völlig egal, ob Sie weiß, schwarz, grün, blau,<br />
Terraner, Pakled, oder Tellarit sind! Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Die Kadetten schwiegen. Keiner von ihnen traute sich, auch nur ein<br />
Wort zu sagen. Es schien, als wagten sie es nicht einmal, zu atmen.<br />
Janeway rieb sich die Schläfen, während sie sich einen Moment lang<br />
ernsthaft fragte, warum in aller Welt sie sich dazu entschlossen hatte, die<br />
Sternenflottenakademie zu leiten. Dann sagte sie streng: „Kadett<br />
Wotan... Kadett Yoko... Kadett Regonod... Sind meine Informationen<br />
korrekt, dass Sie drei zwar ebenfalls an der Schlägerei teilgenommen, sie<br />
aber nicht angefangen haben?“<br />
Cera sah zu Shan. Die sah Cera eindringlich an und nickte kaum<br />
merklich, woraufhin Cera an den Admiral gewandt sagte: „Ja, Sir.“<br />
Auch Wotan und Yoko bestätigten. „Ja, Sir.”<br />
„Gut.” Janeway deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Tür.<br />
„Raus. Alle drei.“<br />
„Sir?” Wotan war verdutzt.<br />
„Ich würde Sie nur zu gerne lynchen.“, zischte Janeway. „Wenn ich<br />
aber jeden einzelnen der Akademie verweisen würde, der an der<br />
Schlägerei in irgendeiner Form beteiligt war, dann wäre der Campus<br />
morgen leer. Also müssen wir andere Maßnahmen ergreifen.“ Sie<br />
schüttelte den Kopf, unfähig, das ganze Ausmaß ihres Missfallens zu<br />
artikulieren. Cera und Wotan wurden immer kleiner.<br />
„Sie drei werden genau wie alle anderen Mittäter Strafdienst leisten<br />
und so viele Hausaufgaben aufgebrummt bekommen, bis Ihnen der<br />
Schädel explodiert. Ihre freien Wochenenden sind für die nächsten paar<br />
Monate gestrichen. Für die nächsten Jahre! Für die nächsten<br />
Jahrtausende! Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen.“<br />
Keiner von ihnen rührte sich. Cera, weil sie nicht so recht zu wissen<br />
schien, was sie tun sollte, Wotan, weil er arge Schuldgefühle dabei hatte,<br />
seine Herde bereits in der Schlägerei alleine gelassen und nicht<br />
unterstützt zu haben, und Yoko, weil er sich den anderen aus einem<br />
merkwürdigen Gefühl heraus verpflichtet fühlte. „Bei allem Respekt,<br />
Sir.“, sagte der vulkanier mutig. „Wir sind eine Gruppe. Ein Team.<br />
Freunde. Wir halten zusammen. Wir...”<br />
Janeways Mine verdunkelte sich und als sie ihren Blick auf ihn<br />
richtete, geschah das auf solch bedrohliche Weise, dass Yoko das<br />
Gefühl hatte, dass rote Strahlen aus ihren Augen schießen und ihn<br />
verdampfen würden, wenn er ihr nun in die Augen sah.
„...werden jetzt besser gehen, Sir.“, entschied er.<br />
„Sehr weise. Das zeigt große Voraussicht. Ebenso, sich rauszuhalten.“<br />
„Ist uns nicht leicht gefallen.“, versicherte Wotan.<br />
Tala schnaubte und murmelte so leise, dass nur Wotans feines Gehör<br />
sie verstehen konnte: „Pussy-Cat!“<br />
Wotan warf ihr einen kurzen Blick zu. Dann wandte er sich ab.<br />
„Komm, Cera.“<br />
Der Tiger gab ihr einen kleinen Schubs mit der Schnauze und ale drei<br />
setzten sich in Bewegung. Dann sah er noch einmal zu den anderen<br />
zurück, ganz so als wäre dies das letzte mal, dass er sie lebendig sehen<br />
würde, und fiebte hilflos.<br />
Als sich die Tür hinter ihnen schloss, ließ Janeway das unsichtbare<br />
Damoklesschwert noch ein paar Sekunden über den Köpfen der Kadetten<br />
hängen. Dann trat sie, ohne Shan eines Blickes zu würdigen, zu Tala,<br />
Durkin, Sortak und Galak. Sie betrachtete sie, als wolle sie in just diesem<br />
Moment eine Entscheidung fällen, was sie in dieser Angelegenheit<br />
unternehmen wollte. Natürlich waren sich die Kadetten ziemlich sicher,<br />
dass sie schon lange, bevor sie den Raum betreten hatten, gewusst hatte,<br />
was sie mit ihnen allen anstellen würde. „Sortak... Arsamandi…Sehen<br />
Sie sich an.“<br />
Der Vulkanier und der Orsorianer betrachteten einander mit düsteren<br />
Minen.<br />
„Meine Herren.“, sagte Janeway. „Sie sehen Ihren neuen<br />
Zimmergenossen.“<br />
Es dauerte einen Augenblick, bis die beiden begriffen, was sie gerade<br />
gesagt hatte, und dann sprachen beide gleichzeitig.<br />
„Frau Admiral, mit allem gebührenden Respekt...“<br />
„Das wird nicht gut gehen...“<br />
„Ich kann mich nicht entsinnen, Ihnen eine Wahl gelassen zu haben“,<br />
schäumte sie. „Es gibt natürlich zwei Fragen. Die erste lautet: Wie stark<br />
ist Ihr Wunsch, in der Sternenflotte zu bleiben? Und die zweite... da ich<br />
davon ausgehe, dass Sie beide die Situation eines gemeinsamen<br />
Quartiers für unerträglich halten...“<br />
Beide nickten im Einklang.<br />
„In diesem Fall kommt es lediglich darauf an, wer von Ihnen als erster<br />
aufgeben wird. Sobald einer von Ihnen die Akademie verlassen haben
wird, wird der andere es viel einfacher haben... ganz davon zu<br />
schweigen, dass er dann ein Zimmer für sich allein haben wird. Also...<br />
wer von Ihnen will uns verlassen?“<br />
Der Satz hing wie ein Geier in der Luft. Keiner der beiden jungen<br />
Männer wusste, wie er reagieren sollte.<br />
„Ich werde die Akademie nicht verlassen“, sagte Galak dann fest.<br />
„Ich habe auch nicht die Absicht“, brummte Sortak.<br />
Janeway wandte sich an Tala und Durkin. „Tala, Durkin... für Sie<br />
beide gilt dasselbe.“<br />
„Was?“<br />
„Waaaaaaas?“, plusterte sich Durkin auf. „Sie wagen es-“<br />
„Das ist ein Angebot, das ich Ihnen allen nur einmal mache, und auch<br />
nur aufgrund besonderer Umstände. Ich rate Ihnen also ganz dringend, es<br />
ohne Wiederworte und mit Handküssen anzunehmen. Andernfalls<br />
fliegen Sie nicht nur hochkant aus der Akademie, sondern auch aus<br />
meinem Bürofenster. Haben wir uns verstanden?“<br />
Tala schnaubte.<br />
Durkin grunzte.<br />
Aber beide nickten wiederwillig.<br />
„Na also!“ sagte Janeway. „Dann sind wir jetzt anscheinend ja eine<br />
große, glückliche Familie.“ Ihr Blick verdüsterte sich. „Doch sollte es<br />
noch einmal zu einem solchen Ausbruch kommen, wie wir ihn jüngst<br />
ertragen mussten, werden Sie beide von der Akademie verwiesen. Mir<br />
sind Spezies, Kriegsgeschichten und dergleichen völlig egal. Wegtreten.“<br />
Sie drehten sich um und gingen zur Tür.<br />
Blieb noch Shan.<br />
Janeway wandte sich zu ihr um, wie eine heranrollende Gewitterfront.<br />
„Und nun zu Ihnen, Kadett.“<br />
„Schon gut.“, hob Shan die Hände. „Sie brauchen nichts zu sagen.<br />
Jedes weitere Wort wäre überflüssig. Mein Rucksack ist in fünf Minuten<br />
gepackt. Wenn sie mir Startfreigabe erteilen, werde ich die Pax nehmen<br />
und sofort-“<br />
„Mr. Finnegan.“<br />
Shan sah sie verwirrt an. „Mr. Finnegan?“, wiederholte sie. Sie wollte<br />
fragen, was sie meinte, doch die Frage erübrigte sich, als Finnegan<br />
eintrat. Er sah schlimmer aus, als Shan, was erstaunlich war, wenn man
edachte, dass er es nur mit einer einzigen Kadettin zu tun gehabt hatte,<br />
Shan hingegen mit einer ganzen Gruppe, die sie alle hatten<br />
auseinandernehmen wollen. Sein Haar war zerzaust, und sowohl sein<br />
rechtes Auge, als auch seine linke Wange geschwollen. Sein rechter Arm<br />
befand sich in einer elektronischen Richtungseinheit und seine Uniform<br />
war an mehreren Stellen gerissen. Mit anderen Worten: Er sah genauso<br />
aus, wie jemand, der in einen Kampf geraten war und dabei den kürzeren<br />
gezogen hatte.<br />
Shan sagte nichts.<br />
Und Finnegan sagte nichts.<br />
Es gab im Grunde auch nichts zu sagen. Vielleicht höchstens noch ein<br />
paar Schläge auszutauschen, bevor Shan die Akademie endgültig<br />
verlassen würde...<br />
„Mr. Finnegan...“, sagte Janeway langsam. „übernimmt die volle<br />
Verantwortung für den Zwischenfall außerhalb der Halle.“<br />
Shan hob verwundert die Brauen. Sie hätte jetzt mit allem gerechnet.<br />
Sogar, dass er versuchen würde ihr die Schuld aufzuladen. Aber ein<br />
Schuldeingeständnis von seiner Seite aus kam völlig überraschend. Das<br />
einzige Wort, das sie zustande brachte, war ein schlichtes: „Warum?“<br />
„Weil er ein Sternenflottenoffizier ist, Bartez.“, antwortete Janeway.<br />
„Das ist Grund genug.“<br />
Finnegan ließ einen langen Seufzer entweichen. „Schau... die Pferde<br />
sind mit mir durchgegangen. Oder eher gesagt: mein Ego. Ich war so<br />
sehr damit beschäftig euch Frischlingen in die Schranken zu weisen, dass<br />
ich vergaß, dass manchmal auch Kadetten des dritten Jahres in die<br />
Schranken gewiesen werden müssen. Dass du mich mit einem einzigen<br />
Schlag niedergestreckt hast, hat mir nicht gerade gefallen.“<br />
„Ich dachte es sei nur ein Glückstreffer gewesen...“<br />
Finnegan zog eine Grimasse. „Ich auch. Zumindest habe ich mir das<br />
immer wieder selbst gesagt. Bisher war ich nämlich ziemlich stolz auf<br />
meine Selbstverteidigungsfähigkeiten.“<br />
„Ich hoffe du hast noch andere Talente.“<br />
Shan bereute ihren Kommentar in dem Moment, in dem sie ihn<br />
ausgesprochen hatte. Weder Janeway, noch Finnegan lachten.<br />
Glücklicherweise hielten sie ihr auch nichts vor.<br />
„Der Punkt ist.“, fuhr Finnegan fort. „Ich habe realisiert, dass mein
Ego mich blind machte. Alle haben sich über mich lustig gemacht, weißt<br />
du? Die ganze Akademie. >Faustschlag-Shan trifft Großmaul-Fin
mit langfristigem Nutzen abwiegen müssen. Nur Sie können diese<br />
Entscheidungen treffen, Shan. Manchmal sind sie schwer, manchmal...<br />
manchmal nicht. Aber immer werden sich Konsequenzen aus Ihrem<br />
Handeln ergeben. Glauben Sie mir. Ich kann davon ein Liedchen singen,<br />
wirklich.“<br />
Shan nickte langsam. Sie hatte nicht die Absicht, wegzusehen, sofern<br />
jemand litt und Hilfe benötigte, aber vielleicht musste sie sich in Zukunft<br />
an anderer Stelle mehr zurückhalten. „Was wird jetzt mit Jett passieren?“<br />
„Wir haben bereits Disziplinarmaßnahmen eingeleitet.“, sagte<br />
Janeway.<br />
Finnegan neben ihr seufzte. „Ich werde ein Jahr zurückgestuft.“<br />
„Wenigstens schmeißt man dich nicht raus, hm?“<br />
Janeway sah von einem zur anderen. „Ich schätze das ist ein<br />
hervorragender Moment, sich die Hände zu schütteln.“<br />
Was die beiden dann auch taten.<br />
„He, Bartez, eins würde ich gerne wissen: Was muss ich tun, um so<br />
kämpfen zu können, wie du?“<br />
Shan grinste schief, als sie an Katarina Mueller dachte. „Wissen, dass<br />
du gewinnst.“<br />
„Das kann aber keiner vorher wissen.“, meinte Finnegan. „Es gibt<br />
immer Variablen und unvorhergesehene...“<br />
„Du kannst alles schaffen. Wenn du es nur willst.“<br />
Langsam nickte Finnegan. „Wissen, dass du gewinnst. Hab<br />
verstanden.“ Er hob und senkte ihre Hände noch einmal. „Ach, und nur<br />
damit du es weißt... Ich mag dich immer noch nicht besonders.“<br />
„Damit kann ich leben.“, versicherte Shan mit einem dünnen Grinsen.<br />
Finnegan nickte, drehte sich auf dem Absatz herum und salutierte vor<br />
Janeway. Die erwiderte den Salut und gab ihm damit die Erlaubnis<br />
wegzutreten. Nachdem er gegangen war, wollte Janeway selbst zur Tür<br />
treten, wandte sich aber noch einmal zu Shan um.<br />
„Damit haben Sie all ihre guten Karten ausgespielt, Kadett.“ Sie<br />
seufzte. „Sie sind eine Löwin, Shan. Fähig, aber auch gefährlich. Ich bin<br />
davon überzeugt, dass irgendwo, ganz tief in Ihnen drin, ein<br />
hervorragender Offizier stecken könnte. Meine Geduld, darauf zu<br />
warten, dass er endlich an die Oberfläche kommt, ist aber erschöpft.<br />
Noch mal so ein Zwischenfall – ganz egal wie klein und wer ihn
egonnen hat – und ich werde Sie höchstpersönlich zur Tür begleiten.<br />
Haben Sie das Verstanden?“<br />
„Ja, Sir.“<br />
„Gut.“<br />
Die Tür schloss sich zischend, nachdem Janeway gegangen war und<br />
Barclay schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, während er sich hinter den<br />
Schreibtisch begab. Shan entging nicht, dass er dabei möglichst viel<br />
Abstand von ihr hielt, als hätte er Angst, dass sie ihn als nächstes<br />
verprügeln könnte. „Sie h-haben eine Menge Glück gehabt, Kadett.“<br />
„Glück?“, echote Shan. „Ich wurde schon wieder in eine Schlägerei<br />
verwickelt. Ich wurde schon wieder ermahnt. Ich fühle mich nicht<br />
besonders glücklich...“<br />
„Och d-doch, sie h-hatten Glück. Glück, dass Finnegan genug Klasse<br />
b-besitzt, die volle Verantwortung zu übernehmen. Er glaubt an die<br />
Ideale der Akademie, auch wenn er sie für einen Moment vergessen hhaben<br />
mag. Aber er glaubt an sie. D-das sollten Sie sich für die Zukunft<br />
merken.“<br />
„Ja.“ Sie sah zu ihm auf. „Ich gedenke sie zu ändern.“<br />
„P-Pardon?“<br />
„Ich möchte an den Kursen der Kadetten des diplomatischen Corpses<br />
teilnehmen, sobald der Frischlingsommer vorbei ist.“<br />
Barclay starrte sie über den Schreibtisch hinweg an. „S-sie w-wollen...<br />
w-was ist... was ist mit ihrem Sicherheitstraining?“<br />
„Überflüssig. Kämpfen kann ich, wie man sieht. Ich steige aus dem<br />
Sicherheitstraining aus. Ich muss viel lieber lernen, wie man Kämpfe<br />
vermeidet, anstatt zu lernen, wie man sie führt. Denken Sie nicht auch?“<br />
„A-aber, Sie haben schon zwei Mal die Hauptfächer gewechselt.“<br />
Shan bedachte ihn mit einem bedrohlichen Blick. „Was wollen Sie<br />
damit sagen?“<br />
„N-Nichts. Ich will damit gar nichts sagen.“ Barclay hob abwehrend<br />
seine Hände und verbarg sich dahinter. „Bitte schlagen Sie mich nicht.“<br />
Shan rollte die Augen.<br />
Als sie nach draußen auf den Korridor trat, war Shan alleine. Die
anderen hatten nicht auf sie gewartet. Wotan nicht und auch nicht Cera.<br />
Niemand hatte gewartet. Die Botschaft war unmissverständlich: sie<br />
wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben.<br />
Shan fühlte sich schrecklich isoliert und zurückgelassen. In solchen<br />
Zeiten gab es für gewöhnlich nur noch einen auf den sie sich verlassen<br />
konnte. Shan schickte die anderen gedanklich zum Teufel und begab sich<br />
auf die Suche nach Sortak.<br />
Unterwegs grüßte sie niemand. Im Gegenteil, man drehte sich sogar<br />
nach ihr um und warf ihr abschätzende Blicke entgegen, was Shan nicht<br />
verborgen blieb. Sie wich jedoch nicht vom Weg ab, der zu Sturaks<br />
Labor führte. Doch schon bald wurde sie langsamer, den sie hörte den<br />
Klang lauter Stimmen. Die eine erkannte sie augenblicklich als Sturaks.<br />
Die andere identifizierte sie kurz darauf als die ihres Freundes Sortaks.<br />
Die Stimmen waren leicht gedämpft, aber wirklich nur leicht, was darauf<br />
hindeutete, dass da drin ein ganz schönes Gebrüll vonstatten ging.<br />
„Wann bekommst du es endlich in deinen vulkanischen Sturkopf?“,<br />
brüllte Sortak gerade. „Ich habe ein Recht hier zu studieren, Vater!“<br />
„Das Recht!“ erwiderte Sturak. „Ausgerechnet du sprichst über<br />
Rechte. Ein Strafgefangener! Ich spreche über Geschichte, wenn ich<br />
sage, dass du ein Versager bist. Du warst es immer und du wirst es<br />
immer sein. Ich will nicht länger, dass du Schande über mich und deine<br />
Familie bringst!“<br />
„Bemerkenswert Eitel für einen gottverdammten Vulkanier, der ja ach<br />
so aufgeschlossen sein möchte. Unfassbar, wie sehr du dir einbildest, ein<br />
toleranter Vater zu sein.“<br />
„Es ist genauso bemerkenswert, dass du dir einbildest, du könntest von<br />
vorne beginnen.“<br />
„Mir ist egal, was du sagst. Du kannst mich nicht vertreiben.“<br />
„Das glaube ich, Sortak! Du hast bereits schmerzlich klargestellt, dass<br />
du auch weiterhin deine unerwünschte Anwesenheit aufzwingen wirst,<br />
ganz gleich, was alle anderen sagen. Oder stimmt das etwa nicht?“<br />
„Ach, du kannst mich mal!“
Mittlerweile hatte Shan das Zimmer erreicht, aus dem das Gebrüll<br />
stammte und überlegte, ob sie auf den Türmelder drücken sollte. Doch<br />
dann hörte sie, dass laute Schritte von der Tür näherten. Aus<br />
irgendeinem Grund kam sie sich wie ein Spitzel vor und trat zurück und<br />
drückte sich gegen die Wand, damit man sie nicht sofort sah. Die Tür<br />
öffnete sich zischend und Sortak stürmte heraus. Er hatte die Hände zu<br />
Fäusten geballt und das Kinn vorgeschoben. Er zitterte am ganzen Leib<br />
und Shan wurde klar, dass er sich mit aller Kraft bemühte, nicht die<br />
Beherrschung zu verlieren und einen Fehler zu wiederholen, der ihn<br />
schon einmal ins Gefängnis gebracht hatte.<br />
Er sah sie nicht einmal, als er sich nach rechts wandte und den<br />
Korridor entlang eilte.<br />
„Meinetwegen brauchst du gar nicht erst zurückzukommen!“, rief<br />
Sturak ihm hinterher. Die Tür schloss sich zischend wieder und Shan<br />
musste sich zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden: Sie konnte<br />
Sortak folgen. Sein Zimmer betreten. Mit ihm sprechen. Oder einfach<br />
davongehen und so tun, als hätte sie von dem Streit nichts<br />
mitbekommen. Sie entschied sich für die dritte Möglichkeit und stürmte<br />
in das Labor. Die Tür öffnete sich wieder, damit sie eintreten konnte,<br />
und schloss sich dann.<br />
Sturak saß zusammengesunken hinter seinem Schreibtisch und<br />
bemerkte sie erst, als sie direkt vor ihm stand und die Hände in die<br />
Hüften stemmte. Er sah zu ihr hoch und versuchte ein freundliches<br />
Lächeln zustande zu bringen. Es war wackliger, als ein Kartenhaus.<br />
„Shan.“, sagte er. „Es freut mich, dich zu-“<br />
Sie deutete zur Tür. „Warum hasst du ihn so sehr?“<br />
„Halte dich bitte daraus. Das geht dich nichts an.“<br />
„Nichts angehen?“, fragte Shan. „Nichts angehen? Ihr seid beide<br />
Familie für mich. Du... mein Onkel. Kein Blutsverwandter, aber<br />
Seelenverwandt. Sortak ist mein bester Freund. Mehr noch. Er ist für<br />
mich wie ein Bruder. Wenn ihm etwas zu schaffen macht, macht es auch<br />
mir zu schaffen.“<br />
„Ich weiß, dass du ihn magst...“<br />
„Und du hasst ihn.“<br />
„Shan, das ist persönlich. Eine... komplexe vulkanische<br />
Angelegenheit.“
Sie rollte mit den Augen. „Ach bitte. Weder du, noch Sortak - keiner<br />
von euch hat besonders viel mit einem normalen, logischen Vulkanier<br />
gemein. Ihr lasst Gefühle zu, wie jeder verdammte Mensch. Was hat er<br />
denn so schlimmes getan?“<br />
Sturak dachte lange über eine Antwort nach. Aber sie lies ihn erst gar<br />
keine formulieren. Shan hockte sich auf die Kannte seines<br />
Schreibtisches, wo auch der Urgon stand. „Wusstest du, wie ernst die<br />
Lage auf Frigoria für mich war?“, fragte sie ihn.<br />
„Natürlich. Ich war zutiefst besorgt.“<br />
„Ich auch, Sturak. Ich auch. Ich dachte ernsthaft ich würde in dieser<br />
Eishölle sterben. Es gab Momente.. in denen ich absolut davon überzeugt<br />
war, dass ich Mom... Dad... dich... Sortak... dass ich keinen von euch<br />
jemals wiedersehen würde. Das hat mir vor Augen geführt, wie<br />
gefährlich der Weltraum ist und wie schnell es vorbei sein kann.“<br />
„Das ist eine ... schwere Erfahrung, die du gemacht hast.“<br />
„Ich schätze vor allem ein Sternenflottenoffizier macht sie früher oder<br />
später, was? Man sollte meinen, dass man mit diesem Wissen im<br />
Hintergrund versucht, jeden Tag versucht, mit seinem Umfeld und<br />
seinen Mitmenschen im Reinen zu bleiben. Sich nicht mit jemandem zu<br />
zerstreiten, niemanden zu beleidigen...“<br />
„...niemanden zu verprügeln?“<br />
Sie ignorierte seinen Kommentar. „...denn, wenn es einen plötzlich<br />
erwischt, wird man keine Gelegenheit mehr haben, sich zu<br />
Entschuldigen und die Dinge zu klären. Dabei fehlt doch oft nur so<br />
wenig zu Versöhnung. Ein erklärendes Gespräch. Eine Entschuldigung.<br />
Ein Bitte. Ein Danke.“<br />
Sturak hob eine Braue. „Warum habe ich das Gefühl, dass du von mir<br />
sprichst, nicht von dir?“<br />
Shan zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, warum du das meinst.<br />
Schlechtes Gewissen?“<br />
Sturak dachte einen Moment über ihre Worte nach. Er wusste natürlich<br />
ganz genau, worauf Shan hinaus wollte. Dann spitzte er trotzig die<br />
Lippen. „Nein. In Anbetracht der Geschehnisse, halte ich es für<br />
angebracht und für gerechtfertigt, durchaus... ärgerlich zu sein. Es ist<br />
mein gutes Recht.“
„Hier geht es aber nicht um Recht und Unrecht, sondern das, was<br />
richtig ist! Er hat einen Fehler gemacht, Sturak. Schön. Fein. Haben wir<br />
jetzt alle kapiert. Jeder schießt mal besonders großen Bockmist.“<br />
„Er hat mich belogen.“<br />
„Um dich zu schonen.“<br />
„Ich hätte es verkraftet.“, behauptete Sturak.<br />
„Wirklich? Verkraftest du es denn jetzt?“<br />
Daraufhin gab der Vulkanier keine Antwort.<br />
Sie betrachtete ihn einen Augenblick lang, als sie überlegte, ob sie<br />
fortfahren solle, oder nicht. Doch nachdem sie bereits so weit gegangen<br />
war, konnte sie wohl kaum noch zurück. „Ich verstehe ja, dass du sauer<br />
auf ihn bist, weil er T’Puls Krankheit wusste und du nicht. Du machst<br />
ihm Vorwürfe, weil er dir die Wahrheit nicht anvertraute, gib es zu. Aber<br />
ihren physischen Zustand vor dir geheim zu halten war nicht seine<br />
Entscheidung. Es war ihre.“<br />
„Vielleicht hätte ich aber ein Heilmittel finden können und-“<br />
„Es war ihre Entscheidung! Ihre ausdrückliche Bitte.“<br />
Sturak seufzte. „Ich weiß.“, sagte er zerknittert und leise. „Ich weiß es<br />
ja. Sie wollte mich schonen. Wollte nicht, dass ich mir Sorgen mache.<br />
Also verschwieg sie mir ihr Leiden. Dabei waren die Anzeichen da. Ich...<br />
ich sah sie nur nicht... bis es zu spät war. Und ich nur noch um sie<br />
trauern konnte.“ Er atmete tief ein. „Ja, vielleicht hätte ich ihm nicht zum<br />
Vorwurf machen sollen, dass er nichts sagte. Er wollte ihren Wunsch<br />
respektieren – ob ich das gut finde, oder nicht. Aber das ist noch lange<br />
keine Entschuldigung für das, was Sortak danach getan hat. Er hätte<br />
diese Wachmänner fast umgebracht! Einer hat so irreparable Schäden am<br />
Rückenmark davongetragen, dass er noch immer auf einen Rollstuhl<br />
angewiesen ist.“<br />
„Eine Entschuldigung ist es gewiss nicht, nein. Aber vielleicht eine<br />
Erklärung. Sortak hat ein Ventil gebraucht, Sturak. Um seine Wut und<br />
Verzweiflung irgendwie zu verarbeiten. Über sich, über den Tod, über<br />
die Unfähigkeit der Medizin... und über dich. Du kennst ihn doch, er<br />
frisst für gewöhnlich alles in sich hinein, bis irgendwann die Pferde mit<br />
ihm durchgehen. Vielleicht ist daran auch der Vater schuld, der sich<br />
weigerte ihn nach vulkanischer Tradition großzuziehen, hm?“
Sturak warf ihr einen finsteren Blick zu. „Ich wollte, dass er seinen<br />
eigenen Weg geht. Selbst entscheiden kann, ob er irgendwann das<br />
Kohlinar durchführen möchten oder nicht. Hätte ich geahnt, dass er<br />
ausgerechnet diesen Weg nimmt...“<br />
„Hast du überhaupt eine Ahnung.“, fuhr sie fort. „Warum er damals in<br />
die Laboratorien eingebrochen ist? Hm? Ich wette nicht. Du hast ihn ja<br />
kaum noch wahrgenommen. Ich sag dir, was er dort wollte. Er war nicht<br />
auf der Jagd nach geldbringenden Forschungen, um wieder über Wasser<br />
zu kommen, wie die Justizabteilung später behauptete. Für sie war er ja<br />
nur ein herumlungerndes Straßenkind. Ein Rowdie. Leider wehrte er sich<br />
ja nicht einmal gegen diese Vorwürfe. Er sagte gar nichts vor Gericht,<br />
wie du vielleicht weißt. An diesem Abend war er in das Labor<br />
eingebrochen, um Dampf abzulassen. Purer Vandalismus. Er hatte die<br />
Wissenschaftler angefleht, als T’Puls Krankheit im Endstadium war,<br />
aber sie hatten ihm nicht helfen können und irgendwie war er an diesem<br />
Abend wohl so weggetreten, dass er rot sah. Aus Wut über die<br />
Wissenschaftler. Aus Wut über sich. Eine dumme Aktion – ja. Ich will’s<br />
gar nicht verherrlichen und schönreden. Aber er hatte seine Gründe.“<br />
Sie hielt inne, damit ihre Worte Eindruck machen konnten. „Ich habe<br />
mitbekommen wie ihr euch auseinandergelebt habt, Sturak. Und ehrlich<br />
gesagt... du hast ihn in dieser schlimmen Phase ganz schön allein<br />
gelassen. Ich meine, jedes Mal, wenn ich bei euch in der neuen<br />
Wohnung zu besuch war... Nach T’Puls Tod hast du nur noch in deinem<br />
Arbeitszimmer gelebt, unablässig über alte Folianten und Relikte<br />
gebeugt. Die Vergangenheit war für dich lebendiger gewesen, als die<br />
Gegenwart, gib es zu. Man hat sich ja nur eure Wohnung ansehen<br />
müssen. Aber sie hat nicht nur dir gefehlt. Jedes Zimmer bewies:<br />
nirgends ein Hauch von Weiblichkeit. Nichts weiches, keine Farben. Nur<br />
elektronische Bücher, und Altertümer, wohin man blickte. Sauber<br />
gemacht hat so gut wie niemand. Sortak hatte das Gefühl, du hättest dein<br />
Leben auf deine Arbeit beschränkt.“<br />
„Willst du auf etwas Bestimmtes hinaus?“, fragte Sturak und bemühte<br />
sich, geduldig zu klingen. Shan fuhr fort, als hätte er nichts gesagt: „Gib<br />
es zu ohne T’Pul fehlte die Brücke zwischen euch beiden. Nach ihrem<br />
Tod habt ihr keinen Weg mehr zueinander gefunden. Wann immer<br />
Sortak sie erwähnte, oder irgendetwas, das mit ihr in Verbindung stand,
hättest du ihm nur einen eisigen Blick zugeworfen und das Thema<br />
gewechselt. Oder ihm eine Menge Arbeit aufgetragen, die er nicht<br />
bewältigen konnte. Und Sortak war zu stolz um zu stöhnen. Um zu<br />
schluchzen, oder ein >bitte hilf mir!< zu jammern. Er hielt sich<br />
stattdessen mehr und mehr auf der Straße auf und verwickelte sich in<br />
Schlägereien, weil er keinen anderen Weg, mit seiner Trauer fertig zu<br />
werden, kannte. Und nun, Sturak... vergleiche seine Unfähigkeit mit<br />
T’Puls Tod umzugehen, mit deiner. Du sprichst davon, wie schwer es für<br />
dich war. Wie sehr du gelitten hast. Aber was ist mit Sortak? Er hat nicht<br />
nur seine Mom in jener Nacht verloren... sondern auch seinen Dad.“ Sie<br />
lies einen Moment der Stille einkehren. Dann sagte sie: „Willst du<br />
wissen, was ich sehe, wenn ich euch beide nun betrachte? Ich sehe zwei<br />
Vulkanier, die verdammt noch mal zu stur sind, um ihre Prinzipien auf<br />
ihr eigen Fleisch und Blut anzuwenden.“<br />
Sturak atmete tief an. „Das ist weder der richtige Ort, noch die richtige<br />
Zeit.“<br />
Shan rollte die Augen. „Sturak, vielleicht bin ich ja bloß eine naive<br />
Bruchpilotin, aber eines weiß ich mit medizinischer Gewissheit – Fleisch<br />
und Blut leben nicht ewig. Wenn du zu lange wartest, um Frieden mit<br />
ihm zu schließen, werdet ihr die Möglichkeit verpassen. Und das wird<br />
jeder von euch beiden bedauern, da bin ich mir sicher. Er ist jetzt hier. Er<br />
sucht einen Weg zu dir durchzudringen. Gib ihm eine Chance. Gib ihm<br />
Gelegenheit sich zu beweisen. Vielleicht... wird es die letzte sein.“<br />
Sturak sagte nichts.<br />
Shan glitt vom Schreibtisch und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen<br />
und drehte sich zu ihm um. „Ich werde dir jetzt nicht sagen, was du zu<br />
tun hast, Sturak. Aber wenn ich du wäre, würde ich es Sortak ein wenig<br />
einfacher machen... nur ein wenig. Denn sehen wir den Tatsachen ins<br />
Auge: Er ist hier. Er hätte überall hinrennen können, aber er ist hier. Er<br />
versucht sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Und gegen alles,<br />
was er durchgemacht hat, ist das doch nur eine Kleinigkeit.“<br />
Dann ging sie hinaus und lies Sturak mit seinen Gedanken alleine.<br />
Persönliches Logbuch,
Sha’Nyn Bartez<br />
Nachtrag<br />
Hey, Dad,<br />
Ich vermisse euch. Im Augenblick... vermisse ich euch sogar sehr. Ich<br />
muss gestehen, dass es mir nicht besonders gut geht und ich wollte mir<br />
einfach ein paar Dinge von der Seele reden. Außer diesem Logbuch hört<br />
mir keiner mehr zu. Was passiert ist, fragst du? Nun, die Dinge sind<br />
etwas aus dem Ruder gelaufen. Etwas... Genaugenommen ist es sogar<br />
ein richtiges Desaster. Ich habe wirklich daneben gehauen, diesmal.<br />
Nun, nicht ganz daneben gehauen... aber... Uh. Ich erspare dir die<br />
Details, du wirst es sowieso hören, oder längst gehört haben. Und<br />
vermutlich auch noch auf einer merkwürdigen Art und Weise Stolz sein.<br />
Ich bin jedenfalls nicht stolz. Ich meine, ich will mich nicht rechtfertigen<br />
– sicher nicht. Dazu besteht kein Grund. Ich habe getan, was ich für<br />
richtig hielt und das tue ich jederzeit wieder. Dennoch wünschte ich, die<br />
Konfrontation mit Finnegan wäre anders gelaufen.<br />
Als ich trotz vermeintlicher Ursache der Schlägerei nicht aus der<br />
Akademie entlassen wurde, hatte ich fast eine Welle des Protests<br />
erwartet. Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Anscheinend sind die<br />
meisten Sternenflottenkadetten aus einem anderen Holz geschnitzt. Oder<br />
aber die zusätzliche Arbeit, die uns allen als Strafe aufgebrummt wurde,<br />
hat die meisten Gedanken an Rebellion erstickt. Andererseits begegne<br />
ich auch keinerlei Versuchen mir zu zeigen, ich sei weiterhin an der<br />
Akademie willkommen. Viele drehen die Köpfe nach mir um und tuscheln<br />
hinter meinem Rücken, wenn ich an ihnen vorbeikomme. Es wird auch<br />
mit dem Finger auf mich gezeigt. Zwar immer nur dann, wenn sie<br />
denken, ich würde es nicht merken, aber andererseits geben sie sich<br />
auch nicht besonders viel Mühe ihre Antipathien zu verbergen.<br />
Als ich gestern in der Mensa war, hatte Cartman über seiner Mahlzeit<br />
am Tisch gesessen und nur kurz aufgeschaut. „Oh. Noch hier?“, hatte er<br />
gefragt. Er schien weder wütend, noch frustriert, oder froh, oder sonst<br />
was zu sein. Er hatte einfach nur meine Anwesenheit zur Kenntnis<br />
genommen. Und ganz ähnlich verhält es sich mit dem Rest der Kadetten.<br />
Stets scheint dieses „Oh. Noch hier?“ in der Luft zu schweben. Niemand<br />
wirft direkt mit Steinen nach mir, aber andererseits reicht mir auch
keiner mehr die Hand. Lieber gehen sie mir aus dem Weg. Vermutlich<br />
aus Angst, ich könnte sie in Schwierigkeiten bringen. Ironischerweise<br />
verhält es sich mit unserer Lerngruppe – den Leuten, die mich immerhin<br />
ein bisschen besser kennen sollten – auch nicht anders. Wo ich erwartet<br />
hätte Unterstützung zu finden – da wir ja nun alle die Ausgestoßenen<br />
sind -, finde ich mich auch nur alleine wieder. .<br />
Sie nennen uns den Punch-Squad – die Faustschlagtruppe -, weil wir<br />
uns offenbar gerne prügeln. Leider kann man von einer Gruppe nicht<br />
mehr sprechen. Seit der Massenschlägerei und Janeways Standpauke,<br />
haben wir uns kaum noch versammelt – weder zum Lernen, noch zum<br />
Essen, oder für andere Aktivitäten. Und wenn doch, dann nur in kleinen<br />
Grüppchen, und die Stimmung war jedes Mal derart im Keller, dass sich<br />
alle schon nach kurzer Zeit ankeiften, und schnellstens wieder getrennte<br />
Wege gingen. Jeder gibt dem anderen die Schuld an dem Vorfall. Jeder<br />
ist auf jeden wütend... und vor allem scheint jeder wütend auf mich zu<br />
sein. Nun... ich kann’s ihnen nicht einmal verübeln.<br />
Cera ist die einzige, die sich noch normal zu mir verhält.... - Wenn<br />
man es als normal ansieht, dass sie wie eine Klette an mir klebt. Seit ich<br />
sagte, ich würde ihr bei ihren Aufgaben helfen, kommt sie wegen jedem<br />
Problem angerannt. Selbst die einfachsten Aufgaben begreift sie nicht.<br />
Ich will nicht gemein sein und erst recht nicht arrogant klingen, aber im<br />
Moment nervt mich Cera mit ihrer Begriffsstutzigkeit fürchterlich. Hätte<br />
besser meinen Mund gehalten. Aber wie konnte ich auch wissen, dass sie<br />
so viel Hilfe braucht? Ich komme mit meinen eigenen Aufgaben kaum<br />
hinterher. Wie soll ich welche für zwei erledigen?<br />
Von Wotans Seite kann ich auch keine Unterstützung erwarten. Seit<br />
der Schlägerei ist er zu nichts mehr gebrauchen. Er fühlt sich schuldig<br />
und schäbig, weil er Tala im Moment größter Not alleine ließ. Für<br />
Andorianer ist solch ein davonstehlen von der Schlacht das Schlimmste<br />
überhaupt. Dass Tala ihn dann auch noch dauernd auf - wie ich finde -<br />
bösartige Weise mit diesem Pussy-Cat-Spruch aufzieht, trägt nicht dazu<br />
bei, seine Laune zu bessern. Die meiste Zeit lässt er die Ohren hängen<br />
und fiebt und mäupst erbärmlich. Und reichlich. Im Gegenzug spricht er<br />
kaum noch. Ich hätte zwar nie gedacht, dass ich sein Geplapper<br />
vermissen würde, aber es ist so.<br />
Yoko und Grau machen sowieso einen Bogen um mich. Bin wohl nicht
Sternenflottig genug für die beiden.<br />
Durkin benimmt sich noch verhältnismäßig normal. Aber was immer<br />
sie ihm in den Kursen der Diplomaten beizubringen versuchen – sie<br />
reden ganz offensichtlich gegen eine Wand! Seit er sich mit Tala ein<br />
Zimmer teilt, liegen sie sich jedenfalls ständig in den Haaren – sogar<br />
noch schlimmer als üblich. Zumindest haben sie es bisher geschafft, sich<br />
nicht gegenseitig umzubringen.<br />
Galak lebt auch noch, obwohl er sich ein Zimmer mit Sortak teilen<br />
muss, aber seit der Schlägerei habe ich ihn kaum gesehen. Geht er mir<br />
nun etwa aus dem Weg, weil Sortak ihn verprügelte? Wegen mir, wie ich<br />
hörte? Oder hat das einen anderen Grund? Ich weiß nicht. Aber<br />
irgendwie... irgendwie vermisse ich seine Gegenwart.<br />
...<br />
Computer, letzten Satz streichen.<br />
...<br />
Und Sortak? Heh – ich habe es tatsächlich geschafft, die einzige<br />
Person im Universum, auf die ich mich verlassen kann zu verärgern.<br />
Nun... nicht ich allein, sein Vater ist wohl der Hauptgrund. Aber ich<br />
komme einfach nicht mehr an Sortak ran. Er wird aufgefressen von Wut<br />
und Frustration. Er hat sich komplett von uns anderen zurückgezogen<br />
und lässt niemanden durch seine Schutzschilde. Ich habe versucht mit<br />
ihm zu sprechen. Ich habe versucht mit den anderen zu sprechen.<br />
Zwecklos. Es ist, als würde ich Fremden begegnen.<br />
Alles ist auf einmal anders, weißt du? Das ist das Problem mit<br />
Veränderungen. Sie kommen immer abrupt. Ich meine, ich bin kein Kind<br />
mehr. Technisch gesehen schon, aber ... du weißt, was ich meine. Und<br />
ich weiß, dass es im Leben um Veränderungen geht – um gute und um<br />
schlechte. Darüber zu heulen, bringt nichts. Veränderungen passieren<br />
einfach, ob wir wollen, oder nicht. Am Ende kommt es nur darauf an, mit<br />
den neuen Begebenheiten umzugehen und sich anzupassen. Es ist nur...<br />
Freundschaften werden geschlossen, Freundschaften fallen<br />
auseinander... und es ist verdammt unfair.<br />
Ich vermisse meine alte Schule. Ich vermisse mein altes Leben.<br />
Shan.
Wendepunkte<br />
Als Captain Matthew Bartez fünf Tage nach der geschichtsträchtigen<br />
Massenschlägerei den Klassenraum betrat, und den Unterricht der jungen<br />
Kadetten aufnahm, brachen die Schüler in ohrenbetäubenden Applaus<br />
aus. Alle erhoben sich von ihren Sitzen und jubelten der lebenden<br />
Legende, von der sie bereits so viel gehört hatten, begeistert zu. Alle, bis<br />
auf Shan. Sie blieb mit verdrossener Mine sitzen, wo sie war, und kochte<br />
ungestört vor sich hin, während die anderen mit an Wahnsinn<br />
grenzendem Elan in die Hände klatschten. Ein paar pfiffen sogar.<br />
Vermutlich weil sie annahmen, dass sich das positiv auf ihre Noten<br />
auswirken würde, was, wie Shan ihren (etwas) selbstverliebten Vater<br />
kannte, gar keine dumme Einschätzung war.<br />
Matt winkte mit roten Wangen ab und versuchte den Anschein zu<br />
erwecken, dieser Ausdruck von Respekt sei doch gar nicht nötig. In<br />
Wirklichkeit war er aber sehr geschmeichelt und man sah ihm deutlich<br />
an, wie sehr er das Rampenlicht genoss, in dem er nun wieder stand.<br />
„Aber, aber.“, sagte er dennoch. „Das ist doch nicht nötig.“<br />
„Doch, Sir.“, sagte ein Kadett aus der ersten Reihe, der besonders<br />
enthusiastisch applaudierte. „Das ist es.“ Sein Name war Jubal, Sohn<br />
eines hohen Admirals. Er hatte – wie die meisten – große<br />
Karriereambitionen und auch er tat alles, um Beziehungen zu schließen<br />
und die Weichen für eine glorreiche Karriere zu stellen – und dieses Ziel<br />
verfolgte er sogar noch weitaus härter als Galak. Genaugenommen war<br />
Galak gegen ihn sogar ein zurückhaltendes Mauerblümchen. Kurz<br />
gesagt: jeder auf dem Campus kannte Jubal als schrecklichen<br />
Arschkriecher. Matt schien davon nichts zu bemerken.<br />
Jubal beteuerte: „Um ehrlich zu sein, Sir, in dieser Klasse gibt es<br />
einige Leute, die ihre Großmutter verkaufen würden, nur um Ihren<br />
Geschichten eine Stunde lang zu lauschen. Ach, was rede ich da? Nicht<br />
nur bezüglich Ihrer Abenteuer sind wir – allen voran ich natürlich – sehr<br />
neugierig, sondern auch über Sie selbst. Sie hatten eine furchtbar<br />
beeindruckende Karriere.“<br />
„Sie war... interessant.“, gab Matt zu.
„Sie sind zu bescheiden, Sir.“<br />
„Oh ja. Zu bescheiden.“, pflichtete ein anderer Kadett ihm bei.<br />
Shan rollte die Augen.<br />
Als sie vor drei Wochen erfahren hatte, dass ihr Vater Belars Kurs<br />
übernehmen würde, war sie nicht besonders begeistert gewesen. Sie hatte<br />
mit überschwänglicher Begeisterung seitens der anderen Kadetten<br />
gerechnet und sich während schlafloser Nächte fürchterliche Dinge<br />
ausgemalt. Und wie sich nun herausstellte, traf das alles ein. Den meisten<br />
Kadetten merkte man die Aufregung, von einer solch berühmten Person<br />
unterrichtet zu werden, deutlich an. Ob es sich nun um eine kurzfristige<br />
Vertretung handelte, oder nicht. Die einzigen, die weniger euphorisch<br />
reagierten, waren die übrigen Mitglieder aus Shans ehemaliger<br />
Lehrgruppe, was aber vermutlich daran lag, dass sie alle viel zu sehr<br />
damit beschäftigt waren, sich gegenseitig anzugiften. Da war Wotan, der<br />
versuchte Talas spitzen Bemerkungen aus dem Weg zu gehen, da war<br />
Durkin in der ersten Reihe, der jede freie Minute dazu nutzte, sich von<br />
seiner gemeinsamen Zeit mit Tala zu erholen und da waren Cera, Yoko<br />
und Grau, die sich gegenseitig ignorierten.<br />
Und da war Sortak in der letzten Reihe.<br />
Shan drehte den Kopf zu ihm um. Sie hatte Sortak seit einigen Tagen<br />
nicht gesehen. Er war nicht mehr zu ihren üblichen gemeinsamen<br />
Mahlzeiten erschienen und hatte gesagt, er ziehe es vor, auf seinem<br />
Zimmer, oder überhaupt nicht zu essen. Er war ihr und den anderen aus<br />
dem Weg gegangen und hatte Erschöpfung vorgeschoben und behauptet,<br />
ihm stecke vermutlich eine Grippe in den Knochen. Er war ein schlechter<br />
Schwindler. Shan wusste, dass er sich –welch Ironie - in die Arbeit<br />
gestürzt und viele Stunden lang immer wieder verschiedene Texte<br />
gelesen hatte. Vermutlich, um sich von seinem Vater abzulenken, davon<br />
war Shan überzeugt. Denn eigentlich hatte jemand wie Sortak es sicher<br />
nicht nötig, diese relativ einfachen Texte, immer und immer wieder<br />
durchzugehen. Andererseits, dachte sie, war er sie auch schon vorher<br />
immer wieder durchgegangen...<br />
Dennoch, nachdem sie Sortak eine Zeitlang nicht mehr gesehen hatte,<br />
empfand sie nun eine gewisse Besorgnis. Irgendwie wirkte er nicht mehr<br />
so robust wie früher. Seine Augen schienen etwas eingefallen zu sein, als<br />
hätte er in letzter Zeit nicht mehr besonders gut geschlafen. Er hatte
eindeutig abgenommen. Er sah zwar nicht gerade krank aus, doch diese<br />
subtilen Veränderungen, die jedem anderen, nur Shan nicht, entgangen<br />
wären, reichten aus, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie hätte ihm<br />
gerne zur Seite gestanden, doch einerseits war ihr klar, dass sie nicht an<br />
ihn rankam, wenn er das nicht wollte, und andererseits, hatte sie genug<br />
eigene Probleme zu bewältigen. Und das größte davon stand momentan<br />
am Lehrerpult.<br />
Der Applaus legte sich allmählich und Matt räusperte sich. „Einen<br />
schönen guten Tag, Kadetten. Die meisten werden es wohl schon wissen,<br />
mein Name ist Matthew Bartez. Aber es reicht, wenn Ihr mich Matt<br />
nennt. Und das dort drüben in eurer Mitte“, fügte er hinzu. „ist meine<br />
bezaubernde Tochter Shan.“ Matt gestikulierte, als würde er eine<br />
königliche Hoheit vorstellen. „Hallo, Liebling. Deine Mom lässt dich<br />
herzlich grüßen.“<br />
Shan stöhnte und duckte sich so tief sie nur konnte, ohne unter den<br />
Tisch zu krabbeln.<br />
„Ich werde Admiral Belar vertreten, bis der gute wieder auf den<br />
Beinen ist, von der Grenze abgezogen werden und hier herkommen kann<br />
– was eine Weile dauern könnte. Mit etwas Glück, werden wir das ganze<br />
nächste Semester zusammen verbringen.“<br />
Das war der Zeitpunkt, an dem Shans Kehle ein noch viel lauterer<br />
Seufzte entsprang. Einige Kadetten kicherten boshaft, während andere<br />
mit Erstaunen reagierten. Sie konnten Shans offenkundige Abneigung<br />
nicht verstehen, wo es doch eine solche Ehre war, jemanden wie Matt<br />
Bartez zum Vater zu haben. Matt schien dem keine Beachtung zu<br />
schenken. Lediglich ein kurzer Moment, in dem er die Mundwinkel zu<br />
einem verständnisvollem Lächeln hob, offenbarte, dass er sehr wohl<br />
verstand. Aber der Moment war so kurz bemessen und verschwand so<br />
schnell wieder, dass kaum jemand davon etwas mitbekam, zumal die<br />
Aufmerksamkeit der Kadetten in diesem fraglichen Moment ohnehin<br />
eher auf Shan ruhte, als auf ihm.<br />
„Ich weiß, wie es euch Kindern geht.“, leitete er eine kleine Rede ein,<br />
darauf achtend, seine Tochter nicht direkt anzusehen. „Hier an der<br />
Akademie ist alles sehr aufregend und verwirrend. Ja sogar anstrengend.<br />
Es gibt tausend Dinge die euch im Kopf rumspuken. Gleichzeitig spielen<br />
eure Hormone verrückt und ganz nebenbei gilt es auch noch den
Unterricht zu meistern. Ich sag euch: Teenager zu sein ist wie in einem<br />
Krieg zu kämpfen. Im einen Moment kriecht man noch geblendet über<br />
den Boden, auf der Suche nach seinem Gewehr, und im nächsten<br />
Moment verliert man seinen Kopf, nur um kurz darauf völlig perplex<br />
nackt in einem Bett aufzuwachen, und sich zu fragen, was zur Hölle man<br />
da letzte Nacht getan hat. Und vor allem: wie oft man es getan hat.“<br />
Gelächter erfolgte. Jubal jubelte am lautesten – und am künstlichsten.<br />
Offenbar schien er kein bisschen zu bemerken, wie lächerlich er sich<br />
machte.<br />
„Ernsthaft: das Leerpersonal weiß, was in euch vorgeht. Wir waren<br />
alle mal jung. Und diese Zeit haben wir sicher nicht vergessen.<br />
Verdrängt vielleicht, aber nicht vergessen. Dennoch wird der Unterricht<br />
von nun an stetig härter und ihr müsst, um mitzukommen, doppelt so<br />
schnell laufen wie bisher. Also versucht euch zu konzentrieren und gut<br />
aufzupassen. Habt keine Angst, ein Schwamm zu sein. Saugt alles auf,<br />
was ihr kriegen könnt. Also.“, sagte er und lehnte an den Lehrerpult. „Ihr<br />
habt alle hart trotz Admiral Belars Ausfall gelernt, ja?“<br />
Fast alle Kadetten nickten. Jubal - wie sollte es auch anders sein - am<br />
eifrigsten.<br />
„Gut. Dann brauche ich mir jetzt keine Ausreden wie >ich habe<br />
nichts davon gehört< oder >mir hat keiner was gesagt< oder andere<br />
solcher Verschwendungen von Atem, Zeit und Glaubwürdigkeit<br />
anzuhören.“<br />
Fast alle Kadetten schüttelten den Kopf. Jubal... ihr wisst schon.<br />
„Sehr gut. Also, berühmte Schlachten, die anders ausgegangen wären,<br />
hätte der Faktor Glück keine erhebliche Rolle gespielt. Wer möchte seine<br />
Fallstudie als erster vortragen?“<br />
Ein Dutzend Finger gingen hoch. Auch Jubal hob augenblicklich die<br />
Hand und sah noch einmal auf seinen elektronischen Datenblock, um<br />
sich zu vergewissern, dass er seine Informationen auch richtig<br />
zusammengestellt hatte. Dann warf er einen erwartungsvollen Blick zu<br />
Matt, der durch die Gesichter sah. „Hmmm.... Shan.“<br />
Shan, die mehrere Reihen hinter und rechts von ihm saß, schaute<br />
verwirrt auf. „Dad! Ich hab nicht aufgezeigt!“<br />
„Aber ich habe dich aufgerufen. Also?“<br />
Nun richteten alle Kadetten im Raum ihre Aufmerksamkeit von Matt
auf Shan. Die spürte die kollektiven Blicke auf sich ruhen und bedachte<br />
im Gegenzug ihren Vater mit einem giftigen Blick. So etwas konnte sie<br />
nun absolut nicht gebrauchen. Es waren ohnehin schon alle schlecht auf<br />
sie zu sprechen. Das würde sich garantiert nicht ändern, wenn Matt<br />
Bartez, ihr Vater, sie bevorzugte.<br />
„Schön.“, sagte sie mit geschürzten Lippen. „Du willst eine Schlacht,<br />
die uns als Warnung, denn als Nachahmung dienen soll? Fein. Ich hab<br />
eine Schlacht ausgewählt, in der jemand ziemlich berühmtes etwas völlig<br />
idiotisches getan hat.“<br />
Shan erhob sich und Matt ahnte, was nun kommen würde. Er behielt<br />
recht.<br />
„Die Schlacht, die ich ausgewählt habe“, sagte sie. „ist das<br />
Eingekreist-Gefecht aus dem Jahr 2388. Die USS Starfury, unter dem<br />
Kommando eines gewissen...“ Sie tat so, als müsse sie auf ihren<br />
Datenblock sehen, um sich zu vergewissern. „...Matthew Bartez, stellte<br />
sich auf ihrer Flucht vor der Sternenflotte dem Flaggschiff USS<br />
Enterprise-E, unter dem Kommando von Jean-Luc Picard.“<br />
Angesichts von Shans unmissverständlicher Aufmüpfigkeit, schien<br />
die Temperatur im Klassenzimmer um mindestens zwanzig Grad zu<br />
fallen. Die Kadetten drehten sich langsam zum Pult, um Matts Reaktion<br />
darauf zu sehen. Seine Mine blieb unlesbar. „Fahr fort.“<br />
„Die Schlacht.“, begann Shan „fand statt, weil die Crew der Starfury<br />
hinter die Machenschaften einer Geheimorganisation namens Sektion 31<br />
zu kommen drohte. Als Reaktion darauf, belastete Sektion 31 die<br />
Führungsoffiziere der Starfury, um sie innerhalb der Sternenflotte in<br />
Ungnade fallen zu lassen. Den Führungsoffizieren gelang jedoch, ehe sie<br />
in Gewahrsam genommen und mundtot gemacht werden konnten, die<br />
Flucht mitsamt Schiff und die ganze Flotte wurde mobilisiert, um sie<br />
wieder einzufangen, allen voran die Enterprise-E. Es gelang der Crew,<br />
die Starfury recht schnell aufzuspüren, ihnen den Rückweg<br />
abzuschneiden und sie zu stellen.“<br />
Es wurde still in der Klasse. Matt sah seine Tochter eine ganze Weile<br />
an. Dann lächelte er plötzlich. „Sehr gut, Spätzchen.“<br />
Shan blinzelte verwirrt. „Sehr gut?“ Das hatte sie nicht erwartet.<br />
„Du hast ein ausgezeichnetes Beispiel gewählt. Diese Schlacht ist ein<br />
Paradebeispiel dafür, dass Glück oftmals eine erhebliche Rolle spielt.
Nicht nur was ihren Ausgang betrifft, sondern auch ihren Anfang, da es<br />
im Weltraum für einen Suchtrupp sehr schwer ist ein Schiff aufzuspüren,<br />
das um jeden Preis verborgen bleiben will. Wie konnte die Enterprise<br />
uns also erst finden? Wer kann mir das sagen?“<br />
Erneut reckten die Kadetten ihre Hände.<br />
„Hm... Shan.“<br />
Selbstverständlich hatte sie auch diesmal nicht aufgezeigt. „Dad!“<br />
Er blockte ihren Protest mit einem sanften Lächeln ab. „Deine<br />
Antwort, Schatz?“<br />
Shan spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, einfach zu<br />
sagen, sie wisse es nicht. Dann jedoch, beschloss sie eine andere, viel<br />
bessere Taktik. Und zwar, eine falsche Antwort zu geben.<br />
„Die Yridianer gaben ihnen den entscheidenden Hinweis?“<br />
„Das ist richtig.“<br />
„Was?! Das war überhaupt nicht richtig! Die Enterprise hat euch nur<br />
zufällig gefunden, weil Picard mehr oder weniger deine Taktik<br />
durchschaut hat.“<br />
Matt lächelte gewinnend. „Siehst du? Du weißt es also doch.“<br />
Shan grummelte etwas.<br />
„Was hast du gesagt?“<br />
„Nichts.“, brachte sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor.<br />
Ein paar der Kadetten kicherten.<br />
„Die Schlacht gegen die Enterprise-E“, griff Matt den Faden wieder<br />
auf. „war aussichtslos. Wir hatten ein viel kleineres Schiff.<br />
Waffentechnisch weit unterlegen. Meine Crew war müde, angespannt<br />
und angeschlagen. Wir hatten eine Menge hinter uns. Und noch mehr vor<br />
uns. Im Kampf für die Föderation und deren Ideale, sahen wir uns nun<br />
mit unseren eigenen Leuten konfrontiert. Durch die Bemühungen der<br />
Sektion 31 hielten sie uns für die Feinde.“ Er machte eine Pause, die<br />
Kadett Jubal nutzte, um sich in den Vordergrund zu spielen. „Aber wie<br />
wir alle wissen“, sagte er. „gehört Captain Picard zu einem der größten<br />
Männer der Flotte. Soweit ich gehört habe war er gewillt sie anzuhören<br />
da er selbst misstrauisch war, was die Anklagepunkte betraf.“<br />
„Ja, er war tatsächlich gewillt sich unsere Version der Geschichte<br />
anzuhören.“, erwiderte Matt. „Die Sache ist nur so... ich war nicht bereit<br />
auf sein Angebot einzugehen. Das Risiko war mir zu groß. Wir wussten
nicht, wie weitreichend die Verschwörung innerhalb der Flotte war. Wir<br />
konnten niemandem trauen. Auch Picard nicht. Ich beschloss also, dass<br />
wir uns den Weg freikämpfen würden.“<br />
Ein leises Raunen ging durch die Klasse.<br />
Matt nickte. „Den Befehl das Feuer auf eines unserer eigenen Schiffe<br />
zu eröffnen, war der schwerste, den ich je gegeben habe.“<br />
„Aber... Sie schafften es doch, nicht wahr? Sie gewannen ganz<br />
offensichtlich.“<br />
„Falsch, Jubal. Wir unterlagen. Haushoch sogar. Sicher, wir wehrten<br />
uns so gut wir konnten, und schafften es mithilfe einiger unschöner<br />
Tricks sogar, die Enterprise beinahe Manövrierunfähig zu feuern. Am<br />
Ende jedoch kam es auf einen Bluff an – auf einen Bluff, der nicht<br />
aufging. Ein Schuss der Enterprise hätte gereicht, um uns endgültig zu<br />
erledigen. Wir stahlen uns langsam aus ihrer Reichweite. Um Zeit zu<br />
gewinnen, lies ich unsere eigenen Torpedorohre öffnen, obwohl das<br />
Feuerleitsystem zerstör war. Ich hatte gehofft, Picard würde darauf<br />
hereinfallen. Ich hatte gehofft, er würde das Feuer nicht eröffnen, um<br />
selbst nicht zerstört zu werden. Tja. Ich hatte mich verschätzt. Und hier<br />
ist die Lektion dabei: es war dennoch die richtige Entscheidung. Denn im<br />
letzten Moment kam uns die Voyager zu Hilfe, fing den Torpedo auf,<br />
den Picard abfeuern lies und der für uns bestimmt war und bewahrte uns<br />
dadurch vor der Inhaftierung durch die Enterprise. Uns gelang die<br />
Flucht, wir deckten die Machenschaften von Sektion 31 auf und heute<br />
stehe ich hier und kann ihnen davon erzählen. Wissen sie, die<br />
Entscheidung die sie treffen, ist nicht halb so wichtig wie die Tatsache,<br />
dass sie eine treffen. Richtig oder falsch - bleiben sie bei der<br />
Entscheidung. Wenn sie zögern, schwammig erscheinen, die<br />
Unsicherheit zeigen die immer irgendwo mitschwingt, dann entmutigen<br />
sie ihre Mannschaft.“<br />
Jubal rutschte auf seinem Stuhl herum. „Wollen sie damit sagen Sir,<br />
dass sie manchmal Angst haben?“<br />
„Ich würde das niemals sagen.“, grinste Matt.<br />
„Wotan hier würde das auch niemals sagen.“, rief Tala aus der letzten<br />
Reihe.<br />
„Tatsächlich?“<br />
„Oh ja, Sir. Er lacht der Gefahr ins Gesicht... und versteckt sich dann,
is sie vorbei ist.“<br />
Ein paar Kadetten schmunzelten, was Wotan dazu brachte, beschämt<br />
zu Boden zu blicken.<br />
Matt fuhr unbeeindruckt fort. „Vor ein paar hundert Jahren, teilte<br />
Benjamin Franklin mit der Welt das Geheimnis seines Erfolges. >Was<br />
du heute kannst besorgenverschiebe nicht auf morgen.< Das<br />
war der Mann, der die Elektrizität auf der Erde entdeckte. Man könnte<br />
meinen, mehr von uns würden seine Worte beherzigen. Leider ist dem<br />
nicht so. Ich weiß nicht, warum wir Dinge vor uns herschieben, aber<br />
wenn ich raten müsste, würde ich sagen, es hat mit Angst zu tun. Angst<br />
vor Fehlern. Angst vor Schmerzen. Angst vor Ausstoßung. Manchmal<br />
hat man davor Angst, was passiert, wenn man sich irrt. Was, wenn man<br />
einen Fehler begeht, den man nicht mehr rückgängig machen kann?<br />
Wovor wir uns auch immer fürchten, eine Sache bleibt immer gleich.<br />
Dass, mit der Zeit, der Schmerz, dass wir etwas nicht tun größer wird, als<br />
die Angst davor, es zu tun.“ Er zuckte mit den Schultern. „>Der Frühe<br />
Vogel fängt den Wurm. Der, der zögert verliert. Wir können nicht<br />
verhindern, wovon wir nichts wissen.< Wir haben diese Sprichwörter<br />
schon alle in der ein oder anderen Form gehört, hörten die Philosophen,<br />
hörten unsere Großeltern, die vor verschwendeter Zeit warnten, hörten<br />
die verdammten Poeten, wie sie uns drängen, die Zeit zu nutzen, weil sie<br />
wie ein Raubtier sei, in dem wir verbrennen. Trotzdem müssen wir das<br />
alles von Zeit für Zeit für uns selbst herausfinden. Wir müssen unsere<br />
eigenen Fehler machen und unsere eigenen Lektionen lernen, bevor wir<br />
verstehen, was Benjamin Franklin und alle anderen, wirklich meinten.<br />
Dass Wissen besser ist, als sich zu wundern, dass Wachsein besser ist,<br />
als schlafen. Und dass selbst der größte Fehler... besser ist, als etwas<br />
niemals zu versuchen.“ Er lies seine Worte ein paar Sekunden lang<br />
wirken. Die Kadetten strahlten begeistert.<br />
Shan strahlte nicht. Sie war wütend. Es bestand kein Zweifel, dass ihr<br />
Vater mit seiner kleinen Rede etwas ganz bestimmtes bezweckte. Er<br />
spielte ganz offenbar auf ihre Entscheidung an, sich der<br />
Sternenflottenakademie anzuschließen. Unfassbar! Matt platzte hier<br />
herein, lies sich feiern, und nutzte den Unterricht für seine Zwecke, um<br />
Shan auch ja in ihrer Entscheidung, hier zu bleiben, zu bekräftigen. Hätte<br />
sie auch nur einen Funken verstand im Schädel gehabt, wäre sie jetzt auf
ihr Zimmer gegangen, um ihrem Vater zu zeigen, dass er einfach kein<br />
Recht dazu hatte, so etwas zu machen.<br />
„Du brauchst das nicht tun.“, grollte sie stattdessen.<br />
„Tun?“, fragte Matt ahnungslos. „Was tun?“<br />
„Mir deine kleinen Botschaften zukommen zu lassen.“<br />
„Shan, ich weiß nicht, wovon du-“<br />
„Ich bin sechzehn, Dad. Ich brauche niemanden, der mir gut zuredet.“<br />
Matt runzelte die Stirn. Dann jedoch, zuckte er mit den Schultern.<br />
„Schätze, man ist nie zu alt, um in einem Feuer... oder im ewigen Eis<br />
umzukommen, nicht wahr?“<br />
Shan stand augenblicklich auf, nahm ihren Datenblock und ging zum<br />
Ausgang. „Schatz? Ich habe dir nicht die Erlaubnis erteilt, zu gehen.“<br />
Shan blieb an der Tür stehen und drehte sich um. „Ich habe nicht um<br />
deine Erlaubnis gebeten.“<br />
Ihr Blick traf sich kurz mit Galaks. Großartig, dachte sie. Kadetten,<br />
die sie hassten, Kadetten, die ihr aus dem Weg gingen, aus Angst, sie<br />
könnte ihnen die Nase brechen, ein bester Freund, der niemanden mehr<br />
an sich ran ließ, ein Vater, der ihr ständig ins Leben pfuschte, und um<br />
dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen: Galak, der sie anstarrte! Es<br />
war zum Schreien und Shan musste raus, ehe sie begann, auf<br />
Gegenstände und Personen einzuschlagen.<br />
Hätte sich die Tür nicht rechtzeitig geöffnet, Shan hätte sie<br />
aufgetreten.<br />
Im Klassenraum folgte ein langes Schweigen, nachdem Shan<br />
hinausgestürmt war. Kadetten sahen einander an, größtenteils verwirrt,<br />
einige grinsten verstohlen – unter ihnen Kadett Jubal.<br />
Matt grinste nicht. Wütend schien er aber auch nicht zu sein –<br />
zumindest zeigte er es nicht, als er sich der Klasse zuwandte und in die<br />
Runde fragte: „Wo will sie denn hin?“<br />
Tala aus der letzten Reihe rief: „Deltaner treffen. Voll mit Sperma.“<br />
Matt bedachte sie mit einem schiefen Blick. „Witzig.“<br />
Es handelte sich um einen jener Witze, die ein Vater niemals im Leben<br />
hören wollte...
Bei Sonnenuntergang lehnte Shan außerhalb der Akademie über eine<br />
Brüstung und beobachtete, wie die große, glühende Kugel langsam<br />
hinter der Golden Gate Bridge unterging, den Himmel rot färbte und<br />
dabei lange Schatten auf die Bay warf. Es war später Abend und frisch.<br />
Die Luft war ziemlich kühl und vom Ozean wehte eine steife Brise. Sie<br />
erfüllte die Region mit dem Geruch des Meeres und für einen<br />
Augenblick lang fühlte Shan sich mit Forschern vergangener<br />
Jahrhunderte verwandt. Mit jenen, die nicht den Sternen in großen<br />
Metallschiffen getrotzt hatten, sondern den Meeren in solchen, aus<br />
ächzendem Holz, das von antiquierten, selbstdichtenden Schaftbolzen<br />
zusammengehalten wurden, die man damals noch >Nägel< nannte.<br />
Was für Menschen mussten diese Abenteuer gewesen sein? Obwohl<br />
von den Geheimnissen des Weltraums noch so viele unbekannt<br />
geblieben waren, gab es doch auch zahlreiche, von denen man bereits<br />
wusste. Aber das war kaum zu vergleichen, mit jenen ersten Forschern,<br />
die in einer Gesellschaft aufgewachsen waren, die sie gelehrt hatte, die<br />
Welt sei flach und an den Rändern lebten Drachen, die jeden<br />
unvorsichtigen Seefahrer verschlingen würden, der sich ihnen näherte.<br />
Wie mussten sie gewesen sein, diese Forscher? Wie hatten sie sich<br />
gefühlt, als sie einfach davon gesegelt waren, und alles Vertraute hinter<br />
sich gelassen hatten? Freunde... Familie...<br />
... den Bekanntheitsgrad des Vaters...<br />
„Was machst du hier draußen?“<br />
Noch bevor er sich neben sie an das Geländer stellte, wusste Shan<br />
irgendwie, dass sich Galak ihr genähert hatte. Sie konnte nicht<br />
ergründen, wie sie das ahnen konnte. Sie hatte es einfach.<br />
„Ich beobachte die Schiffe.“, sagte sie.<br />
„Schiffe?“ Er sah angestrengt auf den Pazifik hinaus. Die See war leer.<br />
„Ich sehe keine Schiffe.“<br />
„Deswegen bin ich auch nicht besonders gut darin.“<br />
Shan warf ihm müde lächelnd einen Blick zu. Sie mochte die Art, wie<br />
seine Haut im Lichte der untergehenden Sonne glänzte. Ein frischer<br />
Wind ließ seine blaue Mähne auf heldenhafte Art flattern.
„Sag mal, ist dir nicht kalt?“, fragte Shan mit einem Frösteln.<br />
Galak blickte verdutzt an seinem nackten Körper herab. „Warum?<br />
Sieht man das etwa?“ Und als er wieder aufsah, zwinkerte er lächelnd.<br />
„Quatschkopf.“ Shan schüttelte den Kopf, grinsen musste sie aber<br />
dennoch - auch wenn ihr das nicht so ganz behagte. Aber es tat gut. Sie<br />
hatte schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gelächelt. Seit der<br />
Schlägerei...<br />
„Es tut mir übrigens leid.“, sagte sie.<br />
„Was denn?“<br />
„Dass dich Sortak auf der Akademiefeier verprügelt hat, meine ich.<br />
Nimm’s bitte nicht persönlich.“<br />
„Ach das.“ Galak winkte ab. „Neeee, das habe ich nicht persönlich<br />
genommen. Eher mit meinem Kinn. Und mit meinem Bauch... und dem<br />
Auge... und mit allen anderen Stellen meines Körpers, die er mit seinen<br />
bemerkenswert kräftigen Fäusten bearbeitet hat – was etwa allen Stellen<br />
meines Körpers entspricht.“<br />
Shan lachte. „Er kann gründlich sein.“<br />
„Er hat wohl was gegen die Oberschicht, der gute.“<br />
„Sein Leben war nicht leicht.“<br />
„Und er fühlt sich für dich verantwortlich, hm?“<br />
„Ja, denke schon. Sortak ist für mich wie ein großer Bruder, weißt du?<br />
Er passt auf mich auf. Das war schon immer so. Auch wenn das<br />
eigentlich gar nicht nötig ist.“<br />
„Du wirkst auf mich auch nicht wie jemand, der beschützt werden<br />
muss. Er macht das vermutlich einfach, weil du eine Frau bist.“<br />
„Oh ja.“ Sie rollte die Augen. „Du hast Recht. Das ergibt Sinn. Ich<br />
meine... es ist die einzig logische Erklärung. Weil ich eine Frau bin!<br />
Natürlich! Warum bin ich nicht von selber darauf gekommen?“<br />
„Das weiß ich nicht.“<br />
„Arsamandi!“, stöhnte Shan frustriert, während sie mit ihren Händen<br />
so tat, als wolle sie ihn würgen. „Das war Sarkasmus! Oder... Ironie. Ich<br />
bringe das immer durcheinander.“<br />
„Ironie“, erklärte Galak. „findet dann statt, wenn bei einer<br />
Unterhaltung zwischen zwei Leuten, einer von den beiden nicht bemerkt,<br />
dass der andere das Gesagte nicht ernst meint. Sarkasmus hingegen ist<br />
offensichtlicher, leichter zu durchschauen und generell viel
oberflächlicher.“<br />
„Nun, vielen Dank für die Aufklärung, Professor Ich-kenne-mich-sogut-mit-menschlichen-Gepflogenheiten-aus.“<br />
„Für Sarkasmus muss man sich kürzer fassen, Shan...“<br />
„Oh, wie interessant!“<br />
„Siehst du? Das war Sarkasmus...“<br />
„Halt die Klappe.“<br />
„Und das war einfach taktlos.“<br />
Shan rollte erneut die Augen, unterließ es aber, einen<br />
Gegenkommentar von sich zu geben. Stattdessen sah sie wieder auf den<br />
Ozean hinaus. Die untergehende Abendsonne lag wie ein Laken auf dem<br />
glitzernden Wasser. Eine ganze Weile schwiegen beide. Die Sonne<br />
verschwand langsam hinter dem Horizont und die ersten Sterne<br />
begannen deutlich über ihnen zu funkeln, während Stück für Stück die<br />
Nacht hereinbrach und einige Grillen ihren abendlichen Chor begannen.<br />
Schließlich lag der Campus unter einem sternenreichen Nachthimmel,<br />
erhellt vom satten Vollmond.<br />
Galak deutete auf einige Worte, die über dem Haupteingang der<br />
Akademie eingraviert war. „Das da drüben, auf dem Schild. Das ist nicht<br />
eure Sprache, oder? Ich war nicht in der Lage die Schriftzeichen zu<br />
übersetzen.“<br />
Shan drehte sich um, und sah in die Richtung in die er zeigte. Dann<br />
lächelte sie auf eine Weise, als wäre das, wonach er gefragt hatte, etwas<br />
süßes, oder charmantes. „Das ist Latein. Es heißt >Ex astris scientiaVon den Sternen wissen.Latein
dass man sie auch aus dieser Entfernung noch gut erkennen konnte, und<br />
in einer heldenhaften Pose reckte sie den Arm zu den Sternen. Shan<br />
reckte ihren Hals, um zu sehen, wen er meinte.<br />
„Das?“, fragte sie. Es war doch selbstverständlich, dass jeder diese<br />
Person kannte „Das ist Zefram Cochrane.“<br />
„Ach, tatsächlich? Der Erfinder des Warpantriebes? Hm. Auf dem<br />
Holofoto, das man uns im Basiskurs Warptheorie zeigte, sah aber ganz<br />
anderes aus.“<br />
Shan nickte. „Zu der Zeit, als das Foto gemacht wurde, war Cochrane<br />
schon auf Alpha Centauri.“, erklärte sie. „Hat sich dort sehr verändert,<br />
der Mann.“<br />
„In der Tat. Er sah dort viel frischer aus.“<br />
„Ja. Scheint eine verjüngende Wirkung zu haben, wenn man einfach<br />
alles hinter sich lässt und irgendwo in Ruhe und Frieden leben kann,<br />
ohne von Bewunderern genervt zu werden.“<br />
Galak rückte ein wenig näher an sie heran. Shans ganze Körpersprache<br />
sagte ihm, dass etwas nicht stimmte. Ihr Blick richtete sich häufiger nach<br />
Innen, in ferne Sphären, und offenbar war sie zu müde, sich verbal mit<br />
ihm anzulegen, wie sonst.<br />
„Was bedrückt dich, Shan?“<br />
„Warum denkst du, dass mich etwas bedrückt?“<br />
„Nun, der Fakt, dass dich etwas bedrückt, lässt mich denken, dass dich<br />
etwas bedrückt.“, entgegnete Galak. „Komm schon. Es geht um deinen<br />
Vater, nicht wahr? Ist kein Geheimnis, dass dir seine Popularität zu<br />
schaffen macht. Jeder sieht es. Und ich... nun, ich verstehe es. Weil wir –<br />
so ungern ich es auch zugebe - in diesem Falle tatsächlich etwas<br />
gemeinsam haben.“<br />
Shan wurde ungeduldig. „Ich... ich glaube ich sollte langsam auf mein<br />
Zimmer zurückkehren.“ Sie sah übertrieben auffällig auf das<br />
Chronometer. „Es ist schon spät und wir müssen die nächsten Tage lange<br />
im Laborbereich schuften, um unsere Strafe abzuarbeiten.“<br />
Sie wollte sich zum Gehen abwenden, aber Galak hielt sie sanft am<br />
Oberarm fest und lachte. „Du zeigst es nie, oder?“<br />
Shan drehte sich um und sah ihn vorsichtig an. Alarmstufe Gelb,<br />
Schilde hoch! „Ich hab nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.“<br />
„Fällt dir wirklich schwer, dich zu öffnen, habe ich recht, Shan Bartez?
Du agierst immer so furchtbar tough, um ja niemanden näher an dich<br />
heranzulassen. Dir gefällt die Vorstellung, unantastbar zu sein. Shan, die<br />
Starke. Shan, die Heroin. Shan allein gegen alle. Du würdest lieber allem<br />
und jedem den Rücken kehren und auf der Stelle gehen, als auch nur<br />
einmal Schwäche zu zeigen, nicht wahr? Aber tief in deinem Innersten<br />
brüllen Emotionen, die nur darauf warten, rausgelassen zu werden.“<br />
Sie starrte zum Meer hinüber.<br />
„Schöner Mond.“, sagte sie.<br />
„Ich habe dich etwas gefragt.“<br />
„Und ich will nicht antworten.“<br />
Er lächelte. „Weil’s stimmt.“<br />
„Das ist lächerlich!“ Sie spürte deutlich, wie sich Risse in der Fassade<br />
bildeten. Schilde versagen, Shan! Alle Mann auf Kampfstationen. Also<br />
ergriff sie schnell Sarkasmus-Gegenmaßnahmen, um größeren Schaden<br />
zu vermeiden. „Oder kannst du noch melodramatischer sein?“<br />
„Du hast Angst vor Intimität.“<br />
„So viel dazu...“<br />
„Es ist fast drollig. Du wehrst dich dagegen so sein zu wollen wie dein<br />
Vater und dennoch verhälst du dich genau wie er.“<br />
Volltreffer. Hüllenbruch auf allen Decks. „Du verbringst zu viel Zeit<br />
mit Wotan.“ Obwohl sie verärgert war, fehlte es ihren Worten an Pepp<br />
und irgendwie klangen sie hohl.<br />
Galak legte ihr in der ihr in der Dunkelheit die Hand auf die Schulter,<br />
und Shan spürte ein Prickeln, das ihren ganzen Körper erfasste und in<br />
den Fingerspitzen endete. Auf diese Weise empfand sie in letzter Zeit<br />
ständig, wenn er sie berührte, wenn er sie auch nur ansah, oder ihr sein<br />
seltsam arrogantes, in einer merkwürdigen Art und Weise aber auch<br />
verwegenes Lächeln schenkte.<br />
„Weißt du“, sagte Galak. „mein Vater ist ebenfalls dafür<br />
verantwortlich, dass ich mich hier, in dieser... Institution... befinde. Und<br />
wenn er von der Schlägerei erfährt, und meinem Anteil an dem Desaster,<br />
dann werde ich wünschen, dass ich sie nie mehr verlassen müsste –<br />
obwohl ich nicht besonders gerne hier bin.“ Für eine kurzen Moment –<br />
nur für einen ganz kurzen -, schienen seine Augen vor Bitterkeit und<br />
Resignation über die Bürde, die man ihm auferlegt hatte, aufzuschreien,<br />
und ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht. Aber dieser tiefe
Blick in sein Gefühlsleben verschwand so schnell wieder, dass Shan sich<br />
nicht einmal sicher war, ob sie überhaupt etwas derartiges gesehen, oder<br />
es sich nur eingebildet hatte.<br />
„Dieser ganze Austauschkram ist eine Katastrophe für mich. Ich<br />
meine... ihr seid nicht einmal nackt! Trotzdem kann ich nicht<br />
zurückgehen, ohne meinen Vater maßlos zu enttäuschen – auch wenn<br />
das kaum noch möglich sein sollte. Du hast wenigstens einen Vater, der<br />
dich liebt, und den du liebst, Shan, das hat man dir angesehen – trotz<br />
dieser leichten Spannungen, die da in der Luft zu hängen scheinen.<br />
Meiner...“ Er sah auf seine Zehenspitzen und schüttelte den Kopf. „Na<br />
ja. Eltern... Sie können einen manchmal ganz schön zum heulen bringen,<br />
stimmt’s?“<br />
„Galak, ich...“<br />
„Also... wenn du mit jemandem reden möchtest, dann komm zu mir.“<br />
Shan bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. „Warum tust du<br />
das, hm?“<br />
„Warum tue ich was?“<br />
„Warum... warum bist auf einmal du so nett zu mir?<br />
Er zuckte mit den Schultern. „Weil du gar nicht so furchtbar bist, wie<br />
du denkst, weißt du das?“<br />
Sie sah ihn schief an. „Und du bist gar nicht so ein arrogante Grekka-<br />
Targ, wie du immer tust.“<br />
Galak lachte, woraufhin auch Shan lächeln musste. Er drückte mit<br />
seinem Zeigefinger leicht gegen ihre Schulter. „Whew, wie Schlagfertig.<br />
Da hat wohl jemand eine zu enge Unterhose angezogen.“<br />
„Denk nicht einmal für nur eine Minute, du hättest irgendeinen Effekt<br />
auf mein Unterhose.“<br />
„Auf was habe ich dann für einen Effekt?“<br />
„Von meinem Brechreiz abgesehen? Auf nichts.“ Sie sagte das mit<br />
einem Lächeln, das von Galak erwidert wurde. Einen Moment sahen sie<br />
sich nur in die Augen. Und dann berührte Galak plötzlich ihre Wange.<br />
„Ich mag dein Lächeln.“, sagte er. „Du bist süß. Und sexy. Und sehr<br />
anziehend - für einen Menschen. Tatsächlich denke ich, dass du der<br />
wundervollste Mensch bist, der auf diesem Planeten wandelt.”<br />
Shan starrte ihm nur in die Augen. Sie wollte ihn nicht mögen. Sie war<br />
sogar daran gewöhnt ihn zu hassen, weil sie beschlossen hatte, ihn zu
hassen. Und doch...<br />
... und doch mochte sie sein blaues Haar, wie es immerzu zu wehen<br />
schien, selbst in Windstillen Räumen. Sie mochte seine merkwürdigen<br />
Augen – solch hypnotische Augen hatte sie nie zuvor gesehen. Sie<br />
mochte seine breiten Schultern und starken Arme. Shan konnte es nicht<br />
fassen: Von allen Männern an der Akademie – immerhin den Besten der<br />
Besten - , fühlte sie sich ausgerechnet zu ihm hingezogen. Und er zu ihr.<br />
Dabei war sich Shan durchaus darüber im Klaren, dass sie alles andere<br />
denn eine Dame war. Sie war hin und wieder nicht einmal eine<br />
besonders angenehme Person. Ihr Sarkasmus war bissig und ihre<br />
Umgangsformen ziemlich rüde – milde ausgedrückt. Sie sagte, was sie<br />
dachte und nicht, was andere hören wollten und darauf war sie immer<br />
stolz gewesen. Sie hatte eben ihren eigenen Kopf und wenig bis gar kein<br />
Interesse an den Dingen, mit denen sich die meisten Mädchen in ihrem<br />
Alter beschäftigten – auch nicht an Jungs. Zumindest... war das bis jetzt<br />
der Fall gewesen.<br />
Und trotzdem machte ihr Galak den Hof. Sie wusste einfach nicht<br />
warum. Mit seinem Aussehen, hätte er doch jede auf dem Campus haben<br />
können. Jede! Warum ausgerechnet also sie? Bisher hatte sich Shan nie<br />
mit anderen Mädchen verglichen, aber ganz plötzlich sah sie die<br />
Angelegenheit aus dem Blickwinkel der Rivalität. Da waren eine Menge<br />
Frauen hier – vor allem die im dritten oder vierten Jahr -, die fantastisch<br />
aussahen. Erwachsen und mit schönem Haar. Was fand Galak nur an ihr?<br />
Sie entgegnete langsam: „Du bist verdammt selbstsicher, hat dir das<br />
schon mal jemand gesagt?“<br />
„Aber natürlich. Ich sage das jeden Tag zu mir selbst.“<br />
Shan presste die Lippen aufeinander. „Ich dachte mir, dass du so etwas<br />
in der Art sagen würdest.“<br />
„So bin ich.“<br />
Ja, so war er, dachte sie. Galak Arsamandi: Anziehend und Abstoßend<br />
zu gleich – welch merkwürdige Kombination. Shan schüttelte den Kopf.<br />
„Mann, du bist der frustrierendste Kerl, den ich kenne.“<br />
„Ich?“<br />
„Ja.“<br />
„Dann solltest du mehr Männer kennen lernen.“<br />
„Und du weniger Frauen...“
„Ich kenne nicht wirklich viele Frauen. Eigentlich... kenne ich kaum<br />
jemanden richtig.“<br />
„Huh? Du erweckst auf mich eher den Anschein eines Playboys, denn<br />
eines einsamen Kerls.“<br />
„Hey! Du denkst, ich sei nie einsam, weil ich unfassbar süß und<br />
populär bin?“<br />
„So in etwa...“<br />
„Das ist leider falsch. Ich kann umgeben sein von Leuten und mich<br />
dennoch vollkommen alleingelassen fühlen. Soll ich dir sagen, was für<br />
uns Orsorianer lebenswichtig ist?“ Ohne abzuwarten, dass sie „ja“ sagte,<br />
fuhr er fort: „Gemeinschaft. Wir brauchen sie. Wir suchen sie.<br />
Alleinsein... Isolation... das ist für uns wie Gift. Wir glauben an Mengen.<br />
An Banden und Sippen. Je mehr, desto besser. Was denkst du, warum<br />
ich trotz kleinerer gegenseitiger Antipathien ständig bei der Lerngruppe<br />
bin? Ich brauche die Gesellschaft. Wenn ich allein bin, fühle ich mich<br />
krank. Auf Orsoria war ich nie allein. Das Problem ist... mein Volk... wir<br />
sind so sehr darauf bedacht, unsere Sucht nach Gesellschaft zu<br />
befriedigen, dass wir über die Jahre anspruchslos wurden, was unser<br />
Umfeld betraf. Wir wollen einfach nur mit jemandem zusammen sein –<br />
egal mit wem. Ich habe viele Bekanntschaften. Viele Leute, die ständig<br />
um mich herum sind. Aber die Wahrheit ist... es gibt niemanden, der mir<br />
wirklich nahe steht. Der mir wirklich etwas bedeutet. Keiner von denen<br />
kennt mich. Ich weiß nicht einmal, ob sie mich überhaupt leiden können,<br />
oder Witze machen, sobald ich ihnen den Rücken kehre. Wenn ich den<br />
Mund aufmache, sind sie die meiste Zeit so sehr damit beschäftigt mir<br />
beizupflichten, dass ich den Eindruck habe, sie hören, oder verstehen,<br />
nicht ein Wort von dem, was ich sage.“<br />
Shan wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie hatte mit allem<br />
möglichen gerechnet, aber nicht mit so etwas. Galaks Offenheit<br />
überraschte sie über alle Maßen. Und alles was er sagte ergab Sinn.<br />
Hinter dieser fürchterlich oberflächlichen Art steckte tatsächlich ein<br />
ernster, ja sogar tragischer Hintergrund. Mit einem Mal veränderte sich<br />
alles und sie sah ihn schlagartig in einem ganz anderen Licht.<br />
„Ich... ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Das... konnte ich<br />
nicht wissen, Galak. Und ich möchte mich für die Prinz Ego-Sprüche<br />
entschuldigen.“
„Nein. Nein, du sollst dich nicht entschuldigen. Im Gegenteil. Ich<br />
finde es sogar recht erfrischend. Tala, Durkin, du... ihr sagt, was ihr<br />
denkt. Ihr nehmt kein Blatt vor den Mund. Von allen Leuten die ich<br />
kenne, seid ihr vielleicht das, was Freunden am nächsten kommt.“<br />
„Nun, das... kam unerwartet.“, gestand Shan.<br />
Galak erwiderte sanft: „Ich bin mindestens genauso erschrocken<br />
darüber wie du.“ Wieder eine Pause. Er zuckte nach einer Weile mit den<br />
Schultern. „Hättest du Lust, heute Abend ... na ja... mit zu mir zu<br />
kommen? Sortak ist nicht, da und ich dachte mir, wir könnten<br />
vielleicht...“<br />
„Miteinander schlafen?“<br />
„Ich wollte >etwas zusammen unternehmen< sagen, aber dein<br />
Vorschlag passt auch ganz gut.“<br />
„Ich... ich weiß nicht, Galak. Ich denke, das ist keine gute Idee.“<br />
„So?“, fragte er. „Warum nicht?“<br />
„Weil... weil...“ Sie suchte nach den richtigen Worten. Und fand sich<br />
nicht. „Komm schon, wir wissen beide, worauf du hinauswillst.“<br />
„Genau. Diese Entwicklung zwischen uns kündigt sich doch schon<br />
länger an, oder etwa nicht?“<br />
Shan wusste nicht genau, welche Bemerkung sie von Galak erwartet<br />
hatte, aber bestimmt nicht diese. „Wie ist das gemeint?“<br />
„Hast du es nicht gemerkt, Shan? Die Chemie zwischen uns stimmt<br />
einfach. Oder wie würdet ihr Menschen noch gleich sagen? Es ballert<br />
gewaltig zwischen uns.“<br />
„Es funkt gewaltig zwischen uns.“<br />
„Siehst du? Du stimmst mir zu.“<br />
„Nein, ich habe dich nur korri...- vergiss es.“<br />
„Wir sind uns sehr ähnlich, weißt du?“, behauptete er.<br />
Jetzt lachte Shan auf. „Das stimmt überhaupt nicht! Wir sind sogar<br />
außerordentlich verschieden. Schon alleine aufgrund deines kulturellen<br />
Hintergrundes. Ich meine - ja, ok. Du hast mir einen neuen Einblick<br />
eröffnet. Ich kann dich jetzt besser verstehen. Ich sehe dich sogar<br />
plötzlich ganz anders und diese Informationen muss ich berücksichtigen.<br />
Aber du bist nicht der Typ Mann, den ich mir wünschen würde – nichts<br />
für ungut.“<br />
Das schien ihn wiederum zu amüsieren. „So?“, fragte er lächelnd.
„Und was für einen Typ Mann würdest du dir wünschen?“<br />
„Nun, jemanden... jemanden... vielleicht brauche ich jemanden, mit<br />
dem ich mich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag in Rivalität befinde.<br />
Jemanden, dem etwas an mir liegt, der mich nicht als Objekt der<br />
Bedürfnisbefriedigung sieht. Jemand sensibles. Einfaches. Jemand, der<br />
sich für mich interessiert. Dem mehr an meinen Hoffnungen und<br />
Träumen liegt, als an meinem Körper. Ich will... ich will...“<br />
Und plötzlich küsste er sie. Galak trat einen Schritt vor, fasste Shan am<br />
Kinn und hob es empor. Sie keuchte, als seine Lippen ihre verschlossen.<br />
Sein Mund schmeckte nach Mandarinen. Der angenehme Duft von Seife<br />
auf seiner Haut stieg ihr in die Nase. Einen kurzen Moment lang wollte<br />
sie sich instinktiv wehren, doch dann schien sie einfach nur in seinen<br />
Armen dahinzuschmelzen, als sie sich gierig küssten, als sie sich einer<br />
Anziehungskraft überließen, die von Anfang in ihren Köpfen pulsiert,<br />
deren Existenz jedoch keiner von beiden freiwillig zugegeben hatte. Sie<br />
zog sich von ihm zurück. Ihr Brustkorb hob und senkte sich heftig. Er<br />
hielt sie noch einen Augenblicklang fest, dann lies er sie los. Shan<br />
schwankte, stieß an das Geländer und hielt sich fest, als würde sie<br />
ansonsten das Gleichgewicht verlieren. Und sie sah ihn an, als würde sie<br />
ihn zum ersten Mal sehen.<br />
„Was... was zum Teufel war das?“, fragte sie. Ihre Stimme zitterte und<br />
sie bemühte sich, gleichmäßiger zu atmen.<br />
Galak schien selbst etwas überrascht. Ganz erheblich überrascht sogar!<br />
Tatsächlich hatte er nicht gewusst was er tun würde, bevor er es getan<br />
hatte – was strenggenommen noch kein Grund zur Beunruhigung war.<br />
Sie war bei weitem nicht das erste Mädchen, dass er geküsst hatte – auch<br />
nicht spontan -, aber er hatte niemals etwas annähernd vergleichbar<br />
intensives gefühlt, wie in diesem Moment. Er war verwirrt, vielleicht<br />
sogar verwirrter als Shan, aber er mochte es besser zu verbergen, obwohl<br />
seine Stimme merkwürdig hoch war, als er erwiderte: „Ich... ich denke,<br />
das ist es, was du brauchst. Oder? Es... war auf einmal da... einfach so.“<br />
„Galak...“ Sie nahm einen weiteren tiefen Atemzug, um sich zu<br />
beruhigen, und als sie die Luft wieder ausstieß, zitterte ihre Stimme<br />
immer noch ein wenig. „Sieh mal, ich...“<br />
„Hat... hat es dir nicht gefallen?“<br />
„Was?! Doch! Ich meine... Nein! Ich meine...“ Sie seufzte. Tatsächlich
hatte sie sich noch nie zuvor derart desorientiert gefühlt. „Es liegt nicht<br />
an dir, es ist nur...“<br />
„Du bist noch nicht bereit für diesen Schritt?“<br />
Ihre Gestalt sackte ein wenig ein. „Ja... genau. Ich bin... mir gehen zur<br />
Zeit sehr viele Dinge im Kopf herum... Die Akademie... Mein Vater... –<br />
vor allem mein Vater! Ich kann förmlich seine Stimme hören. In diesem<br />
Moment. Wie er auf meiner Schulter sitzt und immer wieder sagt; Mach<br />
keinen Blödsinn! Mach keinen Blödsinn! Und keine Jungs!“<br />
„Bist du so sehr auf ihn getrimmt?“ Galak war enttäuscht.<br />
Shan feuerte ihm einen giftigen Blick entgegen, worauf er schnell die<br />
Hände hochnahm. „Okeoke, das war überflüssig. Ich nehm’s zurück.<br />
Vergiss es am besten. Tut mir leid.“<br />
Sie trug es ihm nicht nach und legte ihre Hände auf seine Schultern.<br />
Auf seine unglaublich breiten, muskulösen-<br />
Konzentrier dich, Mädchen!<br />
„Ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit, okay?“<br />
„Sicher.“<br />
„Kannst du das verstehen?“<br />
„Absolut.“<br />
„Gut zu wissen, denn ich...“<br />
Als er sie diesmal küsste, war sie etwas besser darauf vorbereitet. Nun<br />
dauerte es länger und es war viel intensiver, von beiden Seiten, voller<br />
Leidenschaft und Hingabe, und als sie sich trennten, hatten sie es nicht<br />
so eilig wie vorher, sich voneinander zu entfernen.<br />
„Galak...“, sagte sie und glättete ihre Uniform. „Das... wird<br />
irgendwann lächerlich. Du hast gesagt, du würdest...“<br />
„Ich weiß. Alles klar. Tut mir leid.“<br />
„Dass du mich zwei mal geküsst hast...“<br />
„Du hast mich auch geküsst!“<br />
„Nein, habe ich nicht.“<br />
„Doch, Shan, das hast du. Ich weiß es. Ich war dabei.“<br />
„Ich habe nichts derartiges getan.“<br />
„Meiner Erfahrung nach, sind zum Küssen sind aber zwei Personen<br />
erforderlich. Es sei denn, ich habe das mein Leben lang falsch gemacht.“<br />
„Galak, ich...“ Sie schloss die Augen. „Es ist zu früh. Ich bin noch<br />
nicht so weit.“
„Okay. Das akzeptiere ich.“<br />
„Wirklich?“<br />
„Ja, ich ... denke schon, ich... ich...“ Er hatte keine Ahnung, was er<br />
dachte. Da waren auf einmal Tausende von Gedanken, die um seine<br />
Aufmerksamkeit buhlten, und kein einziger, den er erfassen konnte. Die<br />
Situation war ihm sehr unangenehm.<br />
„Ich will dich nicht drängen.“, entschied er.<br />
„Gut.“<br />
„Ja... gut.“<br />
„Ich mache jetzt Feierabend.“<br />
„Okay... okay. Umm... wenn du es dir anders überlegst, weißt du, wo<br />
ich bin.“<br />
„Klar. Sicher.“ Shan machte den Eindruck, als wollte sie noch etwas<br />
sagen, entschied sich dann aber dagegen. Stattdessen ging sie ein paar<br />
Schritte rückwärts, wobei sie ihn nicht aus den Augen lies, als würde sie<br />
befürchten, dass er sie von hinten anspringen würde. Oder als müsse sie<br />
dringend Abstand zwischen sich bringen, ehe sie es sich anders<br />
überlegte. Nachdem sie dadurch, dass sie nicht sah, wo sie eigentlich<br />
hinlief, vom Weg abkam, und in ein Betunienfeld stolperte, hob sie zum<br />
Zeichen des Abschieds eine Hand, wand sich ab und eilte zurück zu den<br />
Gebäuden.<br />
„Lass dir... lass dir nicht zu viel Zeit!“, rief Galak ihr nach, aber Shan<br />
war bereits zu weit entfernt. Er stand noch eine Weile da, unter dem<br />
klaren Nachthimmel, in einer sanften Brise, und staunte, was da eben<br />
geschehen war. Zu seiner Verärgerung stellte er fest, dass seine Hand<br />
zitterte. Er konnte noch immer Shans Lippen auf seinen schmecken.<br />
„Ich glaube ich verliere allmählich den Verstand.“, murmelte er.<br />
Shan verließ hastig den Park, und sobald sie die Kadettenunterkünfte<br />
betreten hatte, sackte sie in sich zusammen, an eine Wand neben der<br />
Eingangstür gelehnt. Was zum Teufel war da eben geschehen? Wie<br />
konnte sie nur...? Wie hatte sie derart die Kontrolle verlieren können?<br />
Um ein Haar wäre sie in seinen Armen völlig dahingeschmolzen. Und –<br />
viel wichtiger: warum in alles in der Welt hatte sie sich dagegen
gewehrt?!<br />
War es für sie wirklich ein solcher Kampf, ihn zu küssen? Jemanden<br />
auch nur ein bisschen an sich heranzulassen? Oder war es tatsächlich die<br />
Stimme ihres Vaters in ihrem Schädel, der sie vom Glücklichsein<br />
abhielt? Glücklich sein... War das überhaupt mit jemandem wie Galak<br />
möglich? Allein der psychologische Hintergrund seiner Spezies sprach<br />
dagegen. Sie waren Gesellschaftssüchtig. Brauchten Pomp, Ruhm und<br />
Medien. Shan hingegen sah sich als eine Einzelgängerin, die sich aus all<br />
diesen Dingen nicht viel machte. Tatsächlich fühlte sie sich am wohlsten,<br />
wenn sie alleine war. Sie beide eigneten sich nicht für eine längerfristige<br />
Beziehung – mal ganz davon abgesehen, dass sie darin auch überhaupt<br />
keine Erfahrung hatte. Ihr stand auch nicht der Sinn danach, das zu<br />
ändern. Bisher hatte sie so etwas noch nicht einmal in Betracht gezogen.<br />
Es war schlicht und einfach kein Teil ihres bisherigen Lebens gewesen.<br />
Aber jetzt...?<br />
Der Moment, den sie geteilt hatten, war atemberaubend gewesen. Sie<br />
hatten sich emotional verbunden und Shan hatte eine Nähe verspürt, die<br />
ihr ansprechend und unangenehm zugleich war. Verdammt! Wovor zum<br />
Teufel fürchtete sie sich nur? Vor einer Zukunft, in der noch jemand in<br />
ihrem Leben eine Rolle spielte? In der sie ihr Leben mit jemandem teilen<br />
musste? War sie derart frostig und auf emotionaler Abgrenzung anderen<br />
gegenüber bemüht? Selbst wenn sie keine Zukunft teilen, keine<br />
Beziehung eingehen wollten – sie waren jung! Warum die Dinge nicht<br />
einfach genießen?<br />
Aber mit Galak? In den vergangenen sechs Wochen hatte sie sich<br />
fürchterlich über ihn geärgert. Sie hatten sich gegenseitig das Leben<br />
schwer gemacht und nun fragte sich Shan, ob es sich dabei tatsächlich<br />
um eine Art verschrobenes Balzritual gehandelt hatte. Hatte sie ihm etwa<br />
Signale gegeben? Sie war sich nicht sicher. „War das nicht abzusehen“,<br />
hatte er gesagt.<br />
War es das?<br />
Verdammt!<br />
Von seiner Seite hatten kein Zweifel daran bestanden, dass er<br />
zumindest körperlich an ihr interessiert war. Aber sie hatte das für ein<br />
Getue gehalten, um sie zu ärgern.<br />
Männer waren fürchterlich komplizierte Kreaturen! Sie sagten das
eine... und meinten das dann auch noch so! Es blieb nur eine einzige<br />
Schlussfolgerung: der Fehler lag bei ihr. Shan wusste einfach nicht, was<br />
sie im Leben wollte. Ihr Geist lehnte sich auf einmal zurück, um das<br />
vollständige Bild dessen, was sie gerade gedacht und entdeckt hatte, zu<br />
betrachten.<br />
Sie wusste einfach nicht, was sie im Leben wollte.<br />
Das war es! Das war das ganze Problem. Shan hatte keine Ahnung,<br />
was sie wollte. Weder beruflich, noch privat. Dort war immer das Bild<br />
ihres Vaters im Hinterkopf: Karrieremann, Familienmensch, und sie<br />
glich jede ihrer Entscheidungen mit seinen ab, versuchte immer nur so<br />
weit zu gehen, dass sie nicht völlig in seiner Kerbe, seine Richtung<br />
einschlug. Und deshalb war sie bei allem unentschlossen. Wenn sie auch<br />
nur ein bisschen Selbstständigkeit verfügt hätte, sie hätte sich auf dem<br />
Absatz herumgedreht und wäre zu Galak gegangen!<br />
Tu es!<br />
Shan drehte sich zur Tür. Nur wenige Schritte und sie wäre bei ihm.<br />
Tu es, verdammt!<br />
Sie wollte zu Galak aber ... aber... verdammt! Sie konnte einfach nicht.<br />
Frustriert schlug sie gegen die Wand. „Gut, fein! Triff halt keine<br />
Entscheidung, wenn es dich glücklich macht.“<br />
Natürlich machte es Shan ganz und gar nicht glücklich. Und<br />
allmählich fragte sie sich, ob sie jemals irgendetwas glücklich machen<br />
würde.<br />
Auf dem Weg zu ihrem Quartier war Shan so sehr in Gedanken<br />
versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie sie direkt in eine Falle lief.<br />
Die Türhälften glitten beiseite und ohne Vorwarnung, fand sich Shan im<br />
Eingang wieder, wie sie mit leichtem Schock auf ihren Vater starrte, der<br />
am Arbeitstisch saß und zweifellos auf sie gewartet hatte. Er war allein.<br />
Von Wotan fehlte jede Spur, was Shan ein wenig überraschte, da der<br />
Tiger um diese Urzeit keine Kurse belegt hatte und die Zeit meistens<br />
nutzte, um im Quartier den Stoff des Tages durchzugehen. Andererseits<br />
war es auch wieder nicht verwunderlich. Vermutlich hatte Matt ihn<br />
weggeschickt.
„Überraschung.“, sagte er.<br />
„Dad, was-“ Shan stoppte mitten im Satz, als ihr der Duft frisches<br />
Hasperad-Soufflets in die Nase stieg. Erst jetzt bemerkte sie den Antigravitations-Serviertisch<br />
neben Matt, der mit silbernem Besteck und<br />
diversen Servierplatten beladen war. Matt lächelte milde und begann<br />
Besteck für zwei Personen auf dem Tisch zu verteilen.<br />
„Dad, was soll das?“<br />
„Abendessen.“, erwiderte er gut gelaunt. „Wonach sieht’s denn sonst<br />
aus?“ Sein Gesichtsausdruck änderte sich zu einem alarmierten. „Sag mir<br />
nicht, dass du schon gegessen hast.“ Dann winkte er seine Hand in einer<br />
abweisenden Geste ab. „Na und wenn schon. Den Pricketts wirst du<br />
sicher trotzdem nicht widerstehen können. Nach unserem kleinen...<br />
Missverständnis... in der Klasse gestern, dachte ich, das mindeste, was<br />
ich tun könnte, wäre, dir ein anständiges Abendessen zu servieren. Ich<br />
kann mich noch zu gut an das repliziere Essen in der Mensa erinnern.“<br />
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und blickte sich flüchtig in dem<br />
Quartier um. „Und an die Zimmer hier. Es sollte ein Gesetz geben, dass<br />
es euch verbietet, in Umkleideschränken zu leben... Komm, Schatz.<br />
Probier die Brötchen.“<br />
Wie ein Roboter bewegte Shan mit gerunzelter Stirn ihren Arm zu<br />
dem Brötchen. Ihre Fingerkuppen berührten das gebackene Mehl. Warm.<br />
Das Aroma war köstlich. So köst-<br />
Shan zog den Arm schnell wieder weg, als hätte sie sich an etwas<br />
verbrannt. Sie blinzelte, als würde sie aus einer Hypnose erwachen. Er<br />
hätte sie fast gekriegt. „Es war kein Missverständnis, Dad! Es war ein<br />
Statement! Und den Versuch mich mit Essen zu bestechen, kannst du dir<br />
sparen. Ich bin keine zehn mehr!“<br />
„Nein, das bist du nicht mehr.“, seufzte Matt, als würde ihn dieser Fakt<br />
bedrücken. „Shan, glaub nicht, ich hätte nicht bemerkt, dass du meine<br />
Anrufe ignorierst. Ich bin seit ein paar Tagen auf dem Campus und<br />
trotzdem gehst du deinen Angelegenheiten nach, als würde ich nicht<br />
existieren. Da wir uns meiner Erinnerung nach nicht im Streit getrennt<br />
haben, denke ich, dass wir beide uns dringend unterhalten sollten.“ Er<br />
griff nach einem Stuhl neben der Arbeitsablage, stellte ihn vor die<br />
Antigrav-Platte und nahm dann auf dem anderen platz. „Setz dich.“<br />
Shan starrte einige Sekunden lang auf den Stuhl, unschlüssig, wie sie
eagieren sollte – ob wütend, oder mit einem Lachen. Sie entschied sich<br />
für die Variante in der sie beinahe explodierte.<br />
„Ich werde nichts dergleichen tun!“ Daran bestand kein Zweifel. Alles,<br />
woran Shan denken konnte, war Galak. „Wie kannst du es wagen, hier<br />
einfach einzudringen, mit all diesen... diesen...-“ Shan gestikulierte<br />
hilflos auf das Frühstück. Bei den Sternen, was, wenn jemand ihren<br />
Vater damit hatte hereinkommen sehen? Wahrscheinlich flogen bereits<br />
die ersten Witze über den Campus, über die Kadettin dessen Vater-der-<br />
Lehrer Abendessen in ihr Quartier lieferte!<br />
„Um Gottes Namen!“, raunte Matt mit leichter Verärgerung. Er warf<br />
eine Serviette auf den Tisch. „Ich versuche nur, es dir leichter zu<br />
machen.“<br />
Shan zögerte verwirrt. „Leichter? Was leichter machen?“<br />
„Dich zu entschuldigen, natürlich. Denkst du, ich könnte einfach so<br />
darüber hinwegsehen, dass du gestern den Klassenraum verlassen hast?“<br />
Shan starrte ihn an. „Du ... erwartest ernsthaft von mir .... mich zu<br />
entschuldigen.“ Kein Androide der Galaxis wäre in der Lage gewesen,<br />
monotoner zu klingen.<br />
Matt vollführte mit der rechten Hand eine kleine Geste, während er mit<br />
der linken ein Prikett auf seinen Teller beförderte. „Das ist es, was<br />
Töchter normalerweise tun, wenn sie ihren Vater in der Öffentlichkeit<br />
bloßstellen.“<br />
„Ich habe dich bloßgestellt? Ich habe dich bloßgestellt?“, echote Shan.<br />
„Das glaube ich einfach nicht.“<br />
„Ich ja auch nicht. Du bist keine zwei Monate von zuhause weg und<br />
boom, fliegen deine Mannieren aus dem Fenster.“<br />
Es war alles, was Shan tun konnte, ohne auszurasten; Ihre Fäuste<br />
ballend, durchschritt sie den Raum zwei mal, und entschied dann, sich<br />
lieber zu setzen, bevor die wütende Energie, die durch ihren Körper<br />
raste, sie etwas dummes tun lies, wie zum Beispiel eine<br />
Antigravitationsplatte aus dem Fenster zu werfen, direkt hinter ihre<br />
Manieren her...<br />
„Was machst du hier auf der Akademie, Dad? Du hast mir<br />
versprochen, du würdest dich von mir fernhalten, du würdest keine<br />
meiner Kurse übernehmen und mir meinen Freiraum lassen. Und erzähl<br />
mir nicht, du hättest das vergessen.“
„Vergessen sicher nicht.“, erwiderte Matt sanft. „Aber auch wenn<br />
meine Dienste als Vater nicht gewünscht werden..., die als vorgesetzter<br />
Offizier werden es ganz sicher.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin<br />
hier, um dir zu helfen.“<br />
„Mir zu helfen?“ Shan starrte ihn an. „Ich brauche deine Hilfe nicht!“<br />
„Ach wirklich? Dann erklär mir mal, warum du dich bereits zwei mal<br />
geprügelt hast und erklär mir ferner, warum du nach erheblichen<br />
Fehltritten, die jeden anderen Kadetten von der Akademie<br />
ausgeschlossen hätten, noch immer diese Uniform trägst.“<br />
Shan rutschte auf ihrem Stuhl nach hinten. „Nein.“, flüsterte sie. Ein<br />
Gefühl des Versagens quetschte die Selbstsicherheit aus ihr heraus.<br />
„Nein, Dad... ich dachte, ich... Nein! Sag mir nicht, dass du deine Finger<br />
da im Spiel hattest.“<br />
„Natürlich hatte ich meine Finger im Spiel!” Matt schob das Gebäck<br />
in seinen Mund und zuckte mit den Schultern. „Schon nach deiner<br />
glorreichen Ankunft hier, bat mich Janeway um Hilfe. Nach der<br />
Schlägerei auf der Akademiefeier rief sie mich erneut an, völlig<br />
aufgebracht, und fragte mich, was zur Hölle sie mit dir machen sollte,<br />
und wie feste sie zutreten müsse, damit du direkt zum Mond fliegst. Du<br />
weißt gar nicht, was für Hebel ich umlegen musste, um deinen<br />
Rausschmiss zu verhindern.“ Er richtete seine fleischgeladene Gabel auf<br />
Shan. „Du brauchst mich, Schatz. Wenn du mit deinem Bartez’chen<br />
Sturkopf so weitermachst, brauchst du Rückendeckung.“ Und er schob<br />
das Fleisch in seinen Mund, übertrieben kauend.<br />
All die Unabhängigkeit, die Shan seit ihrer Ankunft auf der Akademie<br />
zu spüren begonnen hatte, stürzte wie ein Kartenhaus um sie herum ein.<br />
„Hör auf damit!“, schrie sie. Der Stuhl stürzte mit einem lauten Knall<br />
um, als sie energisch aufsprang. „Was auch immer du mir für eine Hilfe<br />
gibst, hör einfach auf! Ich werde nie auf meinen eigenen Beinen stehen,<br />
wenn du mich nicht lässt!“<br />
Matt zuckte nicht zusammen, aber die Überraschung über Shans<br />
heftige Reaktion war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Du stehst<br />
doch bereits auf eigenen Beinen.“<br />
„Nein! Nein, tue ich nicht, Dad. Soll ich dir sagen, wo ich stehe? Ich<br />
stehe in deinem Schatten. In deinem gewaltigen, alles absorbierenden,<br />
mein Leben verschluckenden Schatten. Im Schatten der Legende. Und
das ist kein Ort, an dem ich sein will!“<br />
„Und du denkst, du kommst daraus, in dem du dich prügelst?“<br />
Fehltritt! Matt schloss die Augen. Er wünschte, er könnte die Worte<br />
irgendwie rückgängig machen, sie wie mit einem Lasso einfangen und<br />
wieder zurück befördern, da, wo sie hergekommen waren, aber es war<br />
bereits zu spät.<br />
„Das war’s!” Shan griff nach einigen Datenblöcken auf dem Tisch,<br />
bedachte ihren Vater mit einem vernichtenden Seitenblick, und warf<br />
dann ihren Rucksack über die Schulter.<br />
„Shan, was hast du vor?“<br />
„Ich gehe, Dad. Ich werde mein eigenes Leben leben, ob du es willst,<br />
oder nicht, und ich werde dir zeigen, dass ich deine Hilfe nicht brauche.<br />
Wenn du mich jetzt entschuldigst... ich muss noch lernen.“ Sie schlug<br />
auf den Öffnungsmechanismus und die Türhälften glitten rasch beiseite,<br />
scheinbar, um Shan nicht die Gelegenheit zu bieten, ihre Finger in den<br />
Mittelschlitz zu schlagen und die Tür einfach aufzustemmen. Ohne sich<br />
noch einmal umzudrehen, oder ein weiteres Wort zu verlieren, stürmte<br />
Shan auf den Korridor hinaus und die Tür glitt hinter ihr wieder zu.<br />
Matt blieb alleine zurück, starrte mit großer Überraschung dorthin, wo<br />
eben noch seine Tochter gestanden hatte, und beschloss, dass er das<br />
nächste Mal die Tür verriegeln müsse. Ihm war nämlich nicht entgangen,<br />
dass sie, bei jedem ihrer Streitgespräche, mit dem Knallen einer Tür<br />
verabschiedete, ehe sie die Sache hatten ausdiskutieren können.<br />
„Ich frage mich, von wem sie diesen Drang zur Dramatik hat...“,<br />
murmelte er.<br />
Und obwohl er sein Spiegelbild im Fenster sah, fiel ihm einfach<br />
niemand ein.<br />
Das Wetter in San Fransisco war oft kalt und ungemütlich, besonders<br />
zu dieser Jahreszeit. Im Vergleich zu dem Klima in New New York bot<br />
es Vor- und Nachteile: zwar brachten die Winter keine eisige Kälte, aber<br />
dafür gab es jede Menge Nebel. An diesem Tag jedoch hüllte die<br />
aufgehende Sonne San Francisco in einen goldenen Glanz.<br />
Shan saß auf einer Bank im Park hinter der Akademie und genoss die
angenehme Wärme, während sie sich auf den Datenblock in ihrer Hand<br />
zu konzentrieren versuchte. Was ihr aber nicht im Geringsten gelang.<br />
Während sie zwar mit den Augen über die Zeilen las, wanderte ihr Geist<br />
ständig in eine gänzlich andere Richtung. Zu ihrem Vater. Und zu Galak.<br />
Er war schuld! Er hatte sie mit diesen Küssen... diesem Überfall...<br />
dermaßen verwirrt und verärgert, dass sie nicht mehr Herr ihres<br />
Verstandes war. Hätte er das doch nur niemals getan.<br />
„Verdammter Kerl.“, murmelte sie.<br />
Neben ihr fragte jemand: „Wer ist verdammt?“<br />
Shan zuckte unwillkürlich zusammen. Sie hatte gedacht, vollkommen<br />
allein zu sein, dementsprechend überrasche es sie, direkt neben der<br />
Parkbank einen alten Mann in den Blumenbeeten knien zu sehen, der<br />
sich gerade um die singende Lirpapflanze kümmerte, die schon die ganze<br />
Zeit leise vor sich hin schnurrte.<br />
Er trug ein weißes Hemd und eine braune, an den Knien schmutzige<br />
Latzhose. Das weiße Haar, war kurz und schüttern. Sein Gesicht war ein<br />
wenig mager und vornehm, sorgenvoll, doch nicht unfreundlich - eben so<br />
ein Gesicht, dem man ohne weiteres sein ganzes Geld anvertrauen<br />
würde. Shan blinzelte erstaunt. „Wo sind Sie hergekommen?“<br />
„Mars.“, brummte der alte Mann rüde. „Wir sind für gewöhnlich<br />
unsichtbar auf dem Mars. Ich habe mir eine Schattenuniform der Peng<br />
Lai übergestreift und mich dann angeschlichen, um Sie zu erschrecken.“<br />
Als Shan ihn einfach anstarrte, die Stirn gerunzelt, brummte der alte<br />
Mann erneut. „Junge Dame, Sie waren so sehr in Gedanken versunken,<br />
dass eine Herde Elefanten in rosa Röcken an Ihnen hätte vorbeiziehen<br />
können, ohne von Ihnen bemerkt zu werden.“<br />
„Wer sind sie?“<br />
„Boothby.“, antwortete der alte Mann. „Ich bin der Platzwart hier.“<br />
Mit einem kleinen Gartenwerkzeug, dass aussah, wie eine Schaufel,<br />
deutete er auf die Pflanzen am Wegesrand. „Und sehr beschäftigt, seit<br />
einige Kadetten der Meinung waren, sich in meinen Blumen raufen zu<br />
müssen.“<br />
„Oh.“, machte Shan. Sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte,<br />
zumal es sich bei ihr um die fragliche Person handelte, die sich in<br />
Boothbys Anlage geprügelt hatte. „Sie sind das also, über den alle<br />
sprechen. Ich dachte Sie seien nur eine Erfindung der älteren Kadetten.
Hab Sie noch nie in den Gärten gesehen.“<br />
„Doch, haben Sie.“, erwiderte Boothby. „Sie haben mich vorher nur<br />
nie wahrgenommen.“<br />
Shan neigte ungläubig den Kopf. „Ich bin ein sehr aufmerksamer<br />
Mensch, Mister Boothby. Ich hätte Sie garantiert wahrgenommen.“<br />
Das fand Boothby sichtbar amüsant. „Junge Dame, ich kann nicht<br />
einmal mehr aufzählen, wie oft Sie schon direkt an mir vorbeikamen und<br />
durch mich durchsahen, als sei ich tatsächlich unsichtbar.“<br />
„Oh... uhm... wirklich?“<br />
„Wirklich.“<br />
Shan spürte, wie sie errötete. „Tut mir leid. Das war ... nicht sehr nett<br />
von mir, was?“<br />
„Nein, das war es tatsächlich nicht.“ Aber dann winkte er ab, Boothby<br />
war dem Anschein nach nicht nachtragend. „Ich schätze, Sie hatten<br />
genug zum Grübeln.“ Er machte eine vage Geste. „Das ist das schöne an<br />
den Gärten. Sie öffnen einem den Geist.“ Boothby richtete sich<br />
umständlich auf, wobei seine Knie geräuschvoll knackten und setzte sich<br />
dann, ohne von Shan dazu eingeladen worden zu sein, neben sie auf die<br />
Bank. Aber was hätte sie auch dagegen sagen soll? Als Platzwart und<br />
Gärtner war dies schließlich sein Territorium und nicht Shans. Da sie<br />
keine Ahnung hatte, was sie noch sagen sollte, schloss sie die Sache mit<br />
einem geistigen Schulterzucken ab und widmete sich wieder ihrem<br />
Datenblock.<br />
„Wenn Sie sich wirklich um Nettikette scheren“, fuhr Boothby die<br />
Unterhaltung fort. „sollten Sie wissen, dass es auch nicht besonders<br />
höflich ist, einem alten Mann keine Antwort zu geben, wenn er Ihnen<br />
eine Frage stellt.“<br />
Shan sah wieder auf. „Frage? Welche Frage?“<br />
Boothby blies geräuschvoll Luft durch seine Lippen und schüttelte den<br />
Kopf. „Die bringen euch Kadetten nicht sehr viel bei, wenn ihr schon<br />
nicht mehr in der Lage seid, eine Konversation länger als dreißig<br />
Sekunden in eurem Kopf zu behalten.“<br />
Zunächst hatte Shan keine Ahnung, wovon er überhaupt sprach, doch<br />
dann ging ihr plötzlich ein Licht auf. „Oh, richtig. Sie haben gefragt, wer<br />
verdammt ist.“ Sie nickte. Und dann schüttelte sie wieder den Kopf.<br />
„Niemand, Mister Boothby. Nur mein ... hm … mein Freund.”
War er das? War er ihr Freund? In welcher Hinsicht? Platonisch? Oder<br />
waren sie jetzt, nach diesen intimem Momenten etwa mehr? Shan hatte<br />
keine Ahnung.<br />
„Ihr Freund ist nichts? Ich sehe, diese Beziehung baut auf einem festen<br />
Grund auf...“<br />
„Nein, Sie missverstehen das. Es keine Beziehung. Und ... ich bin auch<br />
nicht wirklich wütend auf ihn ... denke ich. Nein, bin ich nicht. Er hat<br />
nichts getan. Es war nicht sein Fehler.“<br />
„Hm.“, machte Boothby. „Sie sind nicht wütend auf ihn, wegen etwas,<br />
dass er nicht getan hat.” Er schüttelte den Kopf. „Bringen die euch hier<br />
eigentlich etwas über Physik bei? So etwas wie Ursache und Wirkung?<br />
Es ist offenbar etwas passiert, was Ihnen nicht gefällt und Sie sind damit<br />
beschäftig, abzustreiten, dass es Ihnen nicht gefällt. Habe ich das richtig<br />
verstanden?“<br />
„Nun...“<br />
„Ich frage mich, ob ihr zwei, Sie und ihr Freund, überhaupt<br />
miteinander kommuniziert.“<br />
„Hey!“ Shan deutete mit dem Finger auf ihn. Wer auch immer er war,<br />
er ging zu weit. So etwas lies sie sich nicht gefallen. „Bei allem Respekt,<br />
Mister, was bilden Sie sich eigentlich ein, so ein Urteil zu fällen? Sie<br />
kennen mich nicht einmal.“<br />
„Heh.”, schnaubte Boothby. Er fand das ganz offensichtlich witzig.<br />
„Junge Dame, das ist eines der Vergnügen, die ich habe, hier zu arbeiten.<br />
Man lernt jeden kennen. Oh, sicher, die Namen ändern sich. Aber die<br />
Kadetten selbst, die Dinge, die sie sagen und fühlen... das ist von Jahr zu<br />
Jahr so ziemlich das Gleiche. Und das beste daran ist, dass jeder denkt,<br />
seine Situation sei einzigartig.“<br />
„Glauben Sie mir, meine ist einzigartig.“<br />
„Sehen Sie?“<br />
Jetzt hatte er sie in eine Sackgasse manövriert. Boothbys Logik war<br />
wasserdicht.<br />
„Alles klar.“, sagte Shan und wandte sich ihm nun ganz zu, ihren<br />
Datenblock beiseite legend. Er wollte sie herausfordern? Schön. Shan<br />
lief vor keiner Herausforderung davon. „Mein Vater ist die vielleicht<br />
größte, lebende Legende der Föderation. Er hat nicht nur den gesamten<br />
Quadranten vor dem Untergang gerettet, nein, das wäre ja auch zu
gnädig, sondern – als wäre das nicht schon fantastisch genug -, die ganze<br />
Milchstraße.“<br />
Boothby starrte sie einfach an. „Sie kommen also aus einer recht<br />
berühmten Familie und auf Ihren Schultern lastet ein enormer<br />
Erfolgsdruck. Da sing große Fußspuren, die sie auszufüllen versuchen.“<br />
„Nein.“<br />
Sie starrten sich einen Moment an.<br />
„Nun... doch. Darin haben Sie Recht.”<br />
„Eh.“, winkte er ab. „Schon tausendmal da gewesen.“<br />
„Nein, garantiert nicht mit meinem Hintergrund.“<br />
„Auf den Hintergrund kommt es nicht an, junge Dame.“, erwiderte<br />
Boothby barsch. „Verschiedene Umstände? Es gibt immer verschiedene<br />
Umstände. Das ist die Natur meiner Erfahrung, und die Erfahrung, das<br />
ist alles, was zählt. Merken Sie sich das. Das ist etwas, was die euch hier<br />
nicht beibringen. Nun, eigentlich schon. Sie sagen euch nur nicht, dass<br />
sie es machen, und die meisten Kadetten haben nicht genug Grips, es zu<br />
realisieren.“<br />
Shan betrachtete ihn schief. „Sie scheinen nicht viel von den Kadetten<br />
der Akademie zu halten.“<br />
„Eine Menge von euch scheinen ja auch nicht viel von sich selbst zu<br />
halten. Vor allem die, die während der Sonnenaufgänge auf den<br />
Parkbänken sitzen und so gedankenverloren sind, dass sie nicht einmal<br />
die knackenden Gelenke eines alten Mannes näherkommen hören.“ Er<br />
machte eine rasche Bewegung mit der rechten Hand, als würde er eine<br />
Fliege neben seinem Kopf verjagen wollen. „Und ich darf dann die Reste<br />
von euch aufsammeln, und versuchen, alles wieder zu reparieren. Das<br />
stand nicht unbedingt in der Jobbeschreibung. Aber selbst wenn es noch<br />
Geld in der Föderation gäbe, könnten die mich gar nicht genug dafür<br />
bezahlen.“<br />
Shan verschränkte die Arme vor der Brust und nahm eine abweisende<br />
Haltung ein. „Ich habe Sie nicht um Hilfe gebeten.“<br />
Das schien ihn nicht zu stören. „Tut ihr nie.“<br />
Jetzt war es Shan, die brummte. An diesem Punkt des Gesprächs<br />
konnte sie ihm entweder sagen, dass er verschwinden sollte, oder sie<br />
konnte aufstehen und selber gehen. Stattdessen blieb sie, wo sie war,<br />
obwohl sie selbst nicht genau wusste, warum. Aber Boothby schien es
irgendwie zu wissen. Und er schien noch viel mehr zu wissen. Trotzdem<br />
fragte er: „Sie haben mir immer noch nicht gesagt, weswegen Sie so<br />
wütend auf ihn sind.“<br />
„Bin ich ja nicht.“<br />
„Dann verdammen Sie also jeden, auf den Sie nicht wütend sind? Heh.<br />
Dann will ich nicht wissen, was Sie mit denen machen, die Ihnen auf die<br />
Füße treten.“<br />
Zurücktreten, dachte Shan. Oder... zurückschlagen. Bevorzugt in ihren<br />
Gärten.<br />
Laut sagte sie: „Das ist es ja nicht.“<br />
„Was ist es dann?“<br />
„Ich ... ach, ich weiß es nicht.“<br />
„Doch. Das tun Sie.“, erwiderte er schlicht. Boothby wusste genau,<br />
dass sie es abzustreiten versuchte, aber da mussten sie sich jetzt<br />
durchkämpfen. Sie war bereit, dem alten Mann die Antworten zu geben,<br />
die er akzeptieren würde, nur, damit diese Konversation endete. Also<br />
beschloss er die Sache etwas ins Rollen zu bringen. „Es ist nicht ihr<br />
Freund, der Sie bedrückt, nicht wahr?“<br />
„Nein.“, gab sie leise zu. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er.. und<br />
ich... Es ist...“ Ja was denn? Was zur Hölle ging nur in ihr vor? Sie fühlte<br />
sich irgendwie verloren und warf einen Blick über die Schulter zum<br />
Akademiegebäude. „Ich weiß nicht einmal, warum ich überhaupt hier<br />
bin. Auf der Akademie. Wahrscheinlich, weil mein Vater es wollte.“<br />
„Sie sehen mir nicht aus, wie jemand, den man zu irgendwas zwingen<br />
könnte, was Sie nicht wollen.“<br />
„Nein, es stimmt ja. Ich will in den Weltraum. Aber... alleine. Ich<br />
meine, was soll ich hier? Mein Vater hat so viel getan. Furchtbar viel<br />
erreicht. Das Universum ist friedlich. Er hat so viel bewirkt, dass...“ Ihre<br />
Stimme wurde leiser. „...dass...“<br />
„Dass es in dieser friedlichen Welt keinen Platz mehr für Sie gibt, sich<br />
zu beweisen?“, vollende er ihren Gedanken.<br />
Shan sah auf. Plötzlich realisierte sie, dass sie in dem Versuch, alles zu<br />
sagen, was die Konversation zu einem Ende bringen würde, ganz gleich,<br />
ob richtig, oder nicht, Boothby auf die genaue Wahrheit der Sache<br />
gebracht hatte. Eine Wahrheit, die sie jetzt erst so richtig einzugestehen<br />
bereit war, wo er sie laut ausgesprochen hatte. Sie fühlte sie überrumpelt,
schaffte es aber zu nicken. Dafür traf sie die nächste Frage völlig<br />
unvorbereitet.<br />
„Brauchen Sie denn die Akademie?”<br />
Sie starrte ihn an. „Was meinen Sie?“<br />
„Lustige Sache.“, sagte Boothby. „Ich bin viel zu alt, um noch etwas<br />
anderes zu meinen, als das, was ich sage. Tun Sie? Die Akademie<br />
brauchen?“<br />
Gute Frage. Shan dachte an Frigoria. Die Kälte. Diese eisige Kälte.<br />
Sie konnte sie noch immer deutlich spüren. Auf ihrer Haut. In ihren<br />
Knochen. Es war so vieles schief gelaufen auf ihrem Ausflug. Alles, weil<br />
es ihr an guter Vorbereitung, Disziplin und Wissen gefehlt hatte. Und es<br />
hätte weitaus schlimmer kommen können. Sie antwortete nur sehr leise<br />
und zögernd. „Das... nehme ich an.“<br />
„Das nehmen Sie an? Junge Dame, wenn Sie mit dieser<br />
Überzeugungsfähigkeit je in den Kommandobereich wechseln sollten,<br />
können sie froh sein, wenn man Ihnen nicht den Kopf von den Schultern<br />
reißt.“<br />
„Okay. Fein. Ich brauche sie.“, gab sie zu - aber nicht, ohne ein<br />
„Schätze ich.“, hinzuzufügen.<br />
„Schätzen Sie.“<br />
Sie zog ein gequältes Gesicht. „Es ist nicht so leicht.“<br />
„Das sollte es aber sein.“<br />
„Es ist nicht so, dass ich ohne die Akademie nicht existieren könnte.<br />
Ganz bestimmt nicht.“ Sie schnaubte. „Wie würde es sich auch anhören,<br />
wenn ich so etwas sage?“<br />
„Wie eine junge Frau, die weiß, was sie vom Leben will, bestimmte<br />
Ziele hat und alles daran setzt, sie zu erreichen. Im Gegensatz zu einer<br />
jungen Frau, die so sehr daran gewöhnt ist, gegen alles und jeden zu<br />
rebellieren, was mit ihrem Vater zu tun hat, sodass sie schon gar nicht<br />
mehr in der Lage ist, ihrem Leben eine Richtung zu geben.“<br />
Sie starrte ihn an. „Es... ist nicht so einfach.“<br />
„Das sagten Sie bereits. Und ich sagte, es sollte aber einfach sein.<br />
Aber vielleicht sind Sie noch zu jung, um zu wissen, wer Sie eigentlich<br />
sind und wo sie hingehören. Und vielleicht schaffen Sie es so lange, über<br />
die Richtung, die ihr Leben einschlagen soll unschlüssig zu sein, dass Sie<br />
am Ende überhaupt keine einschlagen und sagen, es sei eben nicht so
einfach.“ Er beugte sich zu ihr vor. „Es ist einfach. Sie sind hier. Auf der<br />
Akademie. Das wären Sie nicht ohne Grund. Nehmen Sie, was Sie<br />
brauchen und gehen sie Ihren Weg. Ganz einfach. So wie ich jetzt zurück<br />
zur Arbeit gehe.“<br />
„Ja, das sollten Sie.”, zickte Shan leicht verärgert, und drehte sich weg,<br />
um sich wieder ihrem Datenblock zu widmen. Sie würde Boothby<br />
einfach ignorieren. Immerhin gab es andere Dinge, um die sie sich<br />
kümmern musste. Die Diplomatenkurse, waren schließlich nicht gerade<br />
spannend. Im Grund ödete sie der ganze Lehrplan schrecklich an.<br />
Vielleicht sollte sie das Hauptfach erneut wechseln, um... um...<br />
Shan verzog das Gesicht, als sie realisierte, was sie da eigentlich<br />
dachte. Vielleicht hatte Boothby recht. Sie versuchte sich so sehr gegen<br />
die Flotte zu wehren, dass sie sich einfach nicht für einen bestimmten<br />
Weg entscheiden wollte. Man konnte es ihr gar nicht recht machen.<br />
Weder die Flotte, noch Galak noch sonst wer. Der alte Mann hatte den<br />
Nagel wirklich auf den Kopf getroffen. Und sie sah ein, dass sie endlich<br />
Entscheidungen treffen musste und Hilfe benötigte. Shan drehte sich zu<br />
Boothby um.<br />
Er war weg.<br />
Sie blickte sich überall um, auf der Suche nach irgendeiner Spur von<br />
ihm. Nichts. Shan runzelte die Stirn. Vielleicht war er wirklich vom<br />
Mars und konnte sich unsichtbar machen.<br />
In der Bibliothek betrachtete Cera angestrengt die Hausaufgaben auf<br />
dem Computerbildschirm. Das tat sie nun schon seit geraumer Zeit, aber<br />
sie wollte einfach nicht begreifen, was dort stand. Mathematik war noch<br />
nie ihre Stärke gewesen und an diesem Warpsinus hier, verzweifelte sie<br />
absolut. Sie verstand ja nicht einmal die Aufgabenstellung richtig und<br />
noch viel weniger, welche Formeln sie anwenden musste, um auf die<br />
richtige Lösung zu kommen. Es war zwecklos. Die Zahlen begannen<br />
bereits zu tanzen, zu fliegen und sich über sie lustig zu machen.<br />
Nach einer Weile lehnte sich Cera zurück und seufzte. Alleine würde<br />
sie an dieser Aufgabe verzweifeln, daran gab es nichts zu rütteln. Sie<br />
brauchte mal wieder Hilfe, so viel war klar. Doch wen konnte sie fragen?
Vorsichtig schielt die Pakled über ihren Monitor. Der Raum war auch so<br />
früh am Morgen schon gut besucht. Überall saßen Kadetten über ihren<br />
Aufgaben gebeugt, kauten auf Stiften herum, tippten Datenreihen in ihre<br />
Computerterminals, oder zogen ein ähnlich verzweifeltes Gesicht wie<br />
Cera.<br />
Die Pakled blickte lahm durch die Reihen, aber es war niemand da,<br />
den sie kannte. Sie kannte kaum jemanden. Die meisten hielten sich von<br />
ihr fern. Vielleicht mochten sie sie nicht. Oder sie hatten Angst vor ihr.<br />
Cera war sich nicht sicher. In jedem Fall, war sie zu schüchtern, sich<br />
ihnen zu nähern. Hier würde sie keine Hilfe bekommen. Also packte sie<br />
sorgfältig ihre Sachen zusammen und zählte noch einmal durch, nur um<br />
sicherzugehen, dass sie nichts vergessen hatte. Zwei Datenblöcke, ein<br />
Datenstift, ein Tricorder. Alles da. Dann spürte sie zweifel. Hatte sie<br />
nicht doch noch etwas vergessen? Also ging sie die Sachen noch einmal<br />
durch. Datenblöcke, Stift, Tricorder. Nein, sie hatte an alles gedacht.<br />
Oder nicht? Sie überlegte, ob sie noch einmal ihre Sachen überprüfen<br />
sollte, entschied sich dann aber dagegen. Dadurch verlor sie nur<br />
wertvolle Zeit, die sie ganz sicher bei den Aufgaben benötigen würde.<br />
Wenn sie etwas vergessen würde, konnte sie das später immer noch<br />
holen.<br />
Also watschelte sie zum Ausgang und begab sich zu den<br />
Kadettenunterkünften. Sie überlegte, wen sie um Hilfe bitten konnte. Ihr<br />
erster Gedanke viel auf Shan. Aber sie hatte Shans Hilfe schon sooft in<br />
Anspruch genommen... sie wollte sich nicht aufdrängen. Es war Cera<br />
unangenehm. Und sie wollte Shan nicht verärgern. Die Freundschaft zu<br />
ihr war ihr zu wichtig. Während sie sich durch das Gebäude bewegte, fiel<br />
also die Entscheidung, einen der anderen Aufzusuchen. Vielleicht Yoko.<br />
Oder Durkin. Bisher hatte Cera mit denen so gut wie nichts zu tun<br />
gehabt. Aber sie schienen nett zu sein. Zumindest waren sie nicht<br />
gemein. Neutral. Ja, neutral waren sie. Und neutral war gut. Wo sie<br />
näher darüber nachdachte, kam ihr in den Sinn, dass Wotan noch sehr<br />
nett war. Der Tiger hatte ihr ab und an Mut zugesprochen. Genau wie<br />
Shan. Vielleicht sollte sie einfach ihn aufsuchen. Andererseits, bewohnte<br />
er dasselbe Quartier wie Shan. Und ihr wollte sich Cera heute nicht<br />
aufdrängen. Also doch Yoko. Ja, das war eine gute Idee, dachte Cera und<br />
änderte entsprechend ihre Richtung.
Die Unterkünfte waren zu dieser Tageszeit gefüllt, aber sie befanden<br />
sich alle hinter geschlossenen Stunden und lernten. Das Frühstück lag<br />
hinter ihnen und der Morgensport würde erst in einer Stunde anfangen.<br />
Die freie Zeit dazwischen nutzten die Leute immer, um sich auf den<br />
Stoff des Tages vorzubereiten. Die leeren Korridore machten Cera klar,<br />
wie groß das Gebäude war. Wie groß die ganze Akademie war.<br />
Geradezu gewaltig! Sie war nur eine einzelne, unter Tausenden. Und<br />
diese Erkenntnis, lies sie sich furchtbar klein fühlen. Auf Pakled lebte<br />
man nicht in so großen Gruppen zusammen, sondern in kleinen<br />
Stämmen. Sie bog in einen Seitentang, erreichte Yokos Quartier und<br />
betätigte den Türmelder. Niemand antwortete. Niemand öffnete. Sie<br />
betätigte den Melder ein weiteres Mal, mit demselben Ergebnis. Je<br />
länger sie wartete, desto länger unterließ es die Tür, sich zu öffnen.<br />
Offenbar war der Vulkanier nicht in seinem Quartier. Als nächstes<br />
suchte sie Durkins Raum auf, doch auch dort öffnete niemand. Sowohl<br />
er, als auch Tala schienen ausgegangen zu sein. Cera seufzte.<br />
Dann konnte ihr wirklich niemand mehr helfen, außer Shan. Ob sie die<br />
Schlauheit des Mädchens noch einmal in Anspruch nehmen sollte?<br />
Schließlich zuckte sie mit den schweren Schultern und setzte sich in<br />
Bewegung. Was war schon dabei...?<br />
In seinem Quartier lag Galak ausgestreckt auf dem Bett und<br />
registrierte mit mildem Interesse, dass sein Atem sich langsam wieder<br />
beruhigte. Der Sex war spektakulär gewesen, wie üblich. Aber irgendwas<br />
war heute anders. Nachdenklich, aber befriedigt, verschränkte er die<br />
Arme hinter dem Kopf, sah zur Decke und begann eine Melodie zu<br />
summen, während er mit den Zehen wackelte.<br />
„Sei nicht so selbstzufrieden.“, tadelte eine Stimme neben ihm. Sie<br />
klang nicht besonders glücklich. Galak lies sich daran nicht stören. „Was<br />
ist denn mit dir, meine Liebe? Du scheinst heute gar nicht gut gelaunt zu<br />
sein.“<br />
Er drehte den Kopf zu Tala, die sich neben seinem Bett befand und<br />
wieder in ihre Uniformhose schlüpfte. Ihr nackter Oberkörper war noch<br />
immer von einem leichten Schweißfilm bedeckt, das weiß-blonde Haar
hing zerzaust herab. Obwohl sich Galak alle Mühe gegeben hatte, um ihr<br />
Vergnügen zu bereiten, wirkte sie nicht sehr glücklich.<br />
„Bin ich auch nicht.“, beteuerte sie knapp. Tala griff nach ihrer Jacke<br />
und streifte sie schnell über. Aber sie schloss sie nicht, sondern blickte<br />
kopfschüttelnd zu Galak herab. „Dang! Was du mir da eben erzählt<br />
hast... was machen wir denn jetzt nur, Galak?“ In ihren Augen blitzte<br />
Verzweiflung. „Ich kann immer noch nicht glauben, was du getan hast.<br />
Was du ihr angetan hast. Und in welcher Zwickmühle ich nun<br />
deinetwegen stecke. Alles deinetwegen!“<br />
Galak erwiderte ihren Blick mit ausdrucksloser Mine. „Bleib ruhig,<br />
Tala. Ich werde es ihr sagen.“<br />
„So wie du es mir mitgeteilt hast? Dang! Das hättest du vorher machen<br />
müssen!“<br />
„Dann werde ich das eben nachholen.“<br />
„Sie wird dich umbringen!“<br />
„Dann werde ich besser den Mund halten.“<br />
Tala schüttelte verzweifelt den Kopf und knabberte mit angestrengtem<br />
Blick auf ihrer Unterlippe herum. Sie wirkte tatsächlich außerordentlich<br />
unglücklich, was ihn sehr überraschte. Scheinbar fühlte sie sich schuldig<br />
für das, was geschehen war, und das konnte er ganz und gar nicht<br />
nachvollziehen. Auf Orsoria fühlte man sich nicht... schuldig. Nicht für<br />
eine völlig natürliche Sache. Trotzdem fragte er: „Bereust du etwa, was<br />
wir getan haben?“<br />
„Huh?“ Sie dachte nach. „Nein... im Grunde nicht.“<br />
„Dann war es auch nichts Verkehrtes.“<br />
Eine Weile sagte niemand mehr etwas.<br />
„Und was geschieht jetzt?“, fragte Tala irgendwann. Sie sprach sehr<br />
leise, fast so, als fürchte sie die Antwort auf ihre Frage. „Gehst du jetzt<br />
zu ihr? Willst du auch mit ihr...“<br />
Sein Blick glitt ins Leere. „Ich denke nicht, dass sie bereit dazu ist.<br />
Das hat sie ausdrücklich klar gemacht. Sie hatte ihre Chance.“ Tala sagte<br />
nichts. Galak runzelte die Stirn. „Das ist doch nur etwas körperliches.“,<br />
sagte er. Die nächste Frage, die sie an ihn richtete, traf ihn aber völlig<br />
unvorbereitet: „Und was war das mit mir?“<br />
Er war davon ausgegangen, das hätten sie geklärt. „Tala... du wusstest,<br />
worauf du dich einlässt.“
Sie sah ihm in die Augen. „Ja. Ja, das wusste ich.“<br />
„He.“ Er umschloss ihr Handgelenk und zog sie sanft zu sich herab.<br />
„Komm schon. Wir hatten doch Spaß, hm?“<br />
Sie lächelte leicht. Es war ein bitteres Lächeln, aber immerhin ein<br />
Lächeln. Darauf konnte er aufbauen. „Siehst du? Ich liebe dich.“<br />
„Tust du nicht.“<br />
„Ich liebe Teile von dir...“<br />
Tala brummte und riss ihre Hand los. Er konnte es ihr nicht ganz<br />
verübeln. Bis zum gestrigen Tag noch, hatte er geglaubt, dass er Tala<br />
tatsächlich liebte... in gewisser Weise. Er liebte schließlich alle seine<br />
Freundinnen. Aber der Kuss mit Shan... Das war irgendwie etwas<br />
anderes gewesen. Etwas neues. Es hatte zum ersten Mal so richtig...<br />
geprickelt. Ein unbeschreibliches Gefühl! Ein Gefühl, dass ihn furchtbar<br />
verwirrte und Galak wollte nicht verwirrt sein. Er war durch das Gelände<br />
spaziert, und hatte sich die halbe Nacht lang den Kopf darüber<br />
zerbrochen, was nur mit ihm los war.<br />
Und was das besondere an dieser Erdenfrau war, die ihm derartig den<br />
Kopf verdreht hatte. Mit einem Kuss. Mit einem einzigen Kuss!<br />
Vielleicht lag es daran, dass sie sich nicht so leicht erobern lies. Für<br />
gewöhnlich musste sich Galak nicht anstrengen, um die Objekte seiner<br />
Begierde zu erobern. Ein nettes Wort hier, ein Kompliment dort... es fiel<br />
ihm immer verschämt einfach. Nicht so mit Shan. Sie hatte ihn<br />
abgewiesen. Und das war... so... anders! Je mehr er darüber nachdachte,<br />
desto mehr hatte ihn die Tatsache aber auch verärgert. Er wollte es nur<br />
ungern zugeben, aber er fühlte sich in seinem Ego verletzt. Mit<br />
Zurückweisungen kam er nicht besonders gut klar. Für gewöhnlich<br />
reagierte er sehr ungehalten. Aber nicht einmal richtig böse sein, konnte<br />
er ihr. Er war wirklich wahnsinnig durcheinander gewesen letzte Nacht.<br />
Er wusste, dass er zu Shan hätte gehen sollen. Er hätte den Mut<br />
aufbringen müssen, ihr sein Herz auszuschütten, mit ihr zu ernsthaft zu<br />
reden und ihr zu beteuern, dass er gewillt war, sich für sie zu ändern.<br />
Aber er wollte sich keine Blöße geben. Irgendwie hatte er das Gefühl,<br />
dass er dadurch in ihrer Achtung sinken würde. Dieses Risiko wollte er<br />
auf keinen Fall eingehen. Wie konnte sie ihn bewundern und wollen,<br />
wenn sie ihn so schwach erlebte? Das war nicht der Galak Arsamandi,<br />
den sie kannte, nicht das, was sie von ihm erwartete. Sie brauchte. Er
auchte.<br />
Also war er zu Tala gegangen. Zwischen ihnen war schon seit einiger<br />
Zeit etwas am Laufen. Sie war allein, er war allein – warum also nicht?<br />
Er hatte kein Wort sagen müssen. Das war das Wunderbare an ihr. Er<br />
hatte sie geküsst, um Shan aus seinem Kopf zu bekommen und nicht<br />
mehr länger verwirrt zu sein. Und sie hatte nichts gesagt. Kein Wort.<br />
Bis er ihr vorhin gestanden hatte, dass er Shan geküsst hatte, und das<br />
dieser Kuss irgendwie anders war. Sie war nicht begeistert gewesen und<br />
Galak konnte nicht recht nachvollziehen, warum. Vielleicht fühlte sie<br />
sich schuldig, weil sie nun das Gefühl hatte, Shan in den Rücken gefallen<br />
zu sein? Er wusste es nicht. Im Grunde war es auch unwichtig. Es ging<br />
schließlich nur um Sex...! Nun betrachtete er Talas aufregenden Körper<br />
und lächelte. Er war sehr dankbar für die Ablenkung, die sie ihm bot.<br />
Dafür, dass sie ihn auf andere Gedanken brachte.<br />
„Wir haben noch ein bisschen Zeit, bis Sortak von seiner Strafarbeit<br />
zurückkehrt.“, sagte er. „Wenn es uns gelingt leise zu sein, könnten wir<br />
die nächsten Minuten für etwas besseres nutzen, als zu streiten...“<br />
Tala drehte sich herum zu ihm. „Ach, Galak...“<br />
„Na komm schon. Lass uns nicht streiten. Dafür ist das, was wir<br />
haben, viel zu schön.“ Er berührte sie wieder am Arm und zog sie ein<br />
weiteres Mal herab. Tala wehrte sich nicht. Ihre Lippen näherten sich.<br />
Natürlich suchte sich die Tür ausgerechnet diesen Moment, um beiseite<br />
zu gleiten, und Shan den Einlass in das Quartier zu gewähren. „Galak,<br />
ich habe meine Meinung geändert. Wir müssen uns über unsere Zukunft<br />
unter...“<br />
Ihre Stimme verblasste, bei dem Anblick, der sich ihr darbot. Nämlich<br />
Tala, mit offener Uniformjacke, den Großteil ihrer Kleidung über den<br />
Raum verteilt, während sie über Galak gebeugt war, der deutlich<br />
verschwitzt auf dem Bett lag. Und wenn man bedachte, wo sich seine<br />
Hände befanden, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis auch Tala<br />
wieder sichtlich verschwitzt auf dem Bett lag.<br />
Alle drei erstarrten einen quälend langen Moment lang genau dort, wo<br />
sie waren. Man hätte den trommelfellzerreißenden Klang einer fallenden<br />
Stecknadel hören können. Shans Gehirn hatte Probleme, das zu<br />
verarbeiten, was ihre Augen ihr mitteilten, aber Tala und Galak sahen<br />
schließlich die Erkenntnis, die Shan mit der Macht, einer Subraumbombe
traf. Sie fühlte sich, als würde ihre Haut einfrieren, als ihr Blut das<br />
Gesicht evakuierte und für einen kurzen Moment, schwankte der Raum.<br />
All die Gefühle und Empfindungen, die plötzlich zu Tausenden auf sie<br />
einströmten, versuchten an ihr zu reißen, jede einzelne, sie in eine<br />
bestimmte Richtung zu drängen. Ihr schossen Millionen Gedanken im<br />
Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, aber nicht ein einziger klarer<br />
Gedanke. Anschließend kam der Schock und dann der Zorn, Zorn, der<br />
Mark und Bein auf unvorstellbare Weise durchschlug.<br />
„Shan!“, rief Tala erschrocken und nahm ihre Hände ruckartig von<br />
Galak, als würde sie sich andernfalls an seinem Körper verbrennen.<br />
„Bitte... du solltest jetzt nicht überreagieren.“<br />
Galak richtete sich übereilt auf und pflichtete ihr eifrig nickend bei.<br />
„Es ist nicht so ... wie du denkst!“<br />
„Ich denke ihr habt miteinander geschlafen.“<br />
„Dann... ist es doch so, wie du denkst.“, musste er einräumen. „Ich<br />
kann nur erahnen, was jetzt in deinem Kopf vorgeht...“<br />
Shan mobilisierte ihren Atem, um ihre Stimme hart klingen zu lassen.<br />
Das war nicht sonderlich schwer. „Nein, Galak. Das kannst du nicht.“<br />
Sie starrte ihm direkt in die Augen, wünschte sich, dort irgendetwas zu<br />
finden, was ihr Hoffnung gab, Hoffnung, dass das alles gar nicht<br />
passierte. Aber natürlich wusste sie längst, dass sie sich nur etwas<br />
vormachte.<br />
„Es tut mir leid, Shan.“, sagte Tala vorsichtig. „Du musst mir glauben,<br />
dass ich dich nicht verletzten wollte.“<br />
Nun sah Shan ihr erstmals in die Augen. Die Wellen der Wut, die Tala<br />
entgegenschlugen, raubten ihr fast den Atem. „Du hast es gewusst,<br />
oder?“, fragte Shan. „Du hast gewusst, dass ich etwas für ihn empfinde.“<br />
Tala ließ ihre Fühler sinken. Sie nickte wortlos.<br />
„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“, schnappte Shan. „Du hattest<br />
kein Recht das zu tun! Du bist meine Klassenkameradin! Meine<br />
Freundin! Du kannst mir nicht derart in den Rücken fallen, erst recht<br />
nicht, wenn du wusstest, dass wir-“<br />
„Genaugenommen....“, sagte Galak. „War sie zuerst da.“<br />
„Was?!“<br />
„Tala und ich, wir... wir waren schon vorher involviert, Shan. Vor dir.“<br />
Er zuckte mit den Schultern. „Es ist aber nur eine Sexgeschichte. Nichts
weiter. Sie bedeutet mir nichts. Überhaupt nichts.“<br />
Tala schleuderte ihm einen finsteren Blick zu. „Danke, wie nett...!“<br />
Shan stolperte einen Schritt zurück, als hätte sie jemand gestoßen. Ihre<br />
Augenbrauen fuhren auf verzweifelte Art und Weise nach oben. „O mein<br />
Gott.“<br />
Und plötzlich begriff sie.<br />
„Das… ist eine komplizierte Situation.”, sagte Tala, nun wieder an sie<br />
gewandt. „Wir sollten darüber reden.“<br />
Shans Hände ballten sich zu Fäusten. Die Knöchel an ihren Fingern<br />
traten weiß hervor. „Was gibt es da noch zu reden?“<br />
„Galak... hätte dir von uns erzählen sollen. Und was er von dir will.“<br />
Der Orsorianer zuckte mit den Schultern. „Ich nahm an, sie wüsste das<br />
längst, Tala. Ich habe doch nie ein Geheimnis draus gemacht, was ich<br />
wirklich will.“<br />
„Ja. Aber sieh sie dir an.“, meinte Tala mit vorwurfsvoller Stimme.<br />
„Schau in ihre Augen. Du hast sie zutiefst verletzt!“<br />
„He, du bist auch nicht unschuldig.“<br />
Sie ignorierte seinen Kommentar. „Hör zu, Shan, das ist alles ein<br />
Missverständnis. Ich weiß, wie sehr dich das treffen muss und ich...“<br />
„Sag mir nicht, wie ich mich fühle, Tala!“<br />
„...werde daher deinem Wunsch nach dem Ushaan entsprechen.“<br />
„Ushaan?“, wiederholte Galak und stand vom Bett auf. „Was ist ein<br />
Ushaan?“<br />
Sie machte eine vage Geste. „Dabei handelt es sich um eine alte<br />
andorianische Tradition. Ein Kampf, auf Leben und Tod zwischen zwei<br />
Kontrahenten, die nur mit dem Ushaan-tor bewaffnet sind, einem<br />
Werkzeug unserer Eisarbeiter. Der Ritus wird meistens angewendet, um<br />
einen Toten zu rächen, aber man kann ihn auch anwenden, um einen<br />
Sexualpartner zu kämpfen und-“<br />
„Ich weiß, was ein Ushaan ist, verdammt!“, fauchte Shan.<br />
Tala nickte förmlich. „Gut. Das ist die einzige Möglichkeit, ehrenvoll<br />
aus dieser Situation zu kommen.“<br />
Shans Nasenflügel flatterten. „Du willst einen Kampf“, grollte sie. „Du<br />
willst tatsächlich kämpfen? Du sollst deinen Kampf haben!“<br />
Sie war wütend. Machte einen Schritt auf Tala zu...<br />
... und dann doch wieder einen zurück. Shan schloss einen Moment die
Augen und schüttelte den Kopf. „Nein.“, sagte sie fest. „Nein, ich gehe<br />
jetzt.”<br />
„Was?“, fragten Tala und Galak zeitgleich. Sie hatten nicht genau<br />
gewusst, welche Reaktion sie nun erwartet hatten. Vermutlich die, von<br />
einem blonden Wirbelwind auseinandergerissen zu werden. Shans<br />
Rückzug kam jedoch unerwartet.<br />
„Ich sagte, ich gehe jetzt.“ Shan machte einen Schritt auf Tala zu und<br />
auch, wenn ihre Stimme stabil klang, sah man ihr deutlich an, dass sie<br />
sich erheblich zusammenreißen musste, nicht die Beherrschung zu<br />
verlieren. „Lass dir eins gesagt sein, Tala. Wenn ich davon überzeugt<br />
wäre, Galak wäre mein... wenn ich davon überzeugt wäre, dass er mit<br />
mir zusammensein und eine ernsthafte Beziehung aufbauen wollte...<br />
Würde ich mit dir kämpfen. Und glaub mir, ich weiß wie du kämpfst. Du<br />
würdest mich vermutlich in der Mitte durchbrechen, aber ich würde dir<br />
trotzdem gegenübertreten, Auge um Auge, und sie müssten meine Zähne<br />
aus deinem, Hals schneiden, um uns beide voneinander zu trennen. Wie<br />
gesagt, wenn ich davon überzeugt wäre, dass Galak und ich füreinander<br />
bestimmt wären. Aber dem ist nicht so, nicht wahr? Also ... also kann ich<br />
gehen.“<br />
Um ein Blutbad zu vermeiden, hielt Galak lieber den Mund. Das war<br />
nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, über seine wahren<br />
Empfindungen zu sprechen.<br />
„Shan...“, began Tala.<br />
„Nein. Spar dir das! Halt einfach den Mund, bevor ich deine Fühler<br />
verknote! Bevor ich etwas wirklich, wirklich dummes tue! Ich will nicht<br />
noch einmal in Janeways Büro hocken und ihre Predigten über mich<br />
ergehen lassen. Die letzte war mehr als genug. Wenn ich eines gelernt<br />
habe in den vergangenen Wochen... dann, dass wir auf dem Weg sind,<br />
erwachsen zu werden. Und das wir uns auch langsam so verhalten<br />
sollten, wie erwachsene, stolze Leute. Ohne rituelle Zweikämpfe. Ohne<br />
Schlägereien. Ohne Verletzungen. Zumindest... ohne körperliche. Und<br />
deswegen gehe ich jetzt.”<br />
Sie blickte Tala tief in die Augen und sah, dass sich die Andorianerin<br />
wirklich schämte. Dann wandte sie sich Galak zu und betrachtete ihn mit<br />
einer erschütternden Mischung aus Enttäuschung und Wut. Der Schmerz<br />
war ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Sie schüttelte vorwurfsvoll den
Kopf, ohne den Blick von ihm zu nehmen und sagte leise: „Du bist<br />
absolut nicht der, für den ich dich gehalten habe.“<br />
„Shan... Ich habe das schlecht gehandhabt.“<br />
„Oh ja.”, stimmte sie zu. „Das hast du.“<br />
„Aber du kannst auch meinen Hintergrund nicht vergessen. Wir<br />
Orsiorianer sind eben so. Wir... brauchen unsere vielen Weibchen. Das<br />
liegt einfach nicht in unserer Natur. Wir männlichen Orsorianer müssen<br />
unser Genom verbreiten. Dabei sind wechselnde Partnerinnen – oder<br />
mehrere Partnerinnen auf einmal – etwas völlig normales und wir<br />
möchten genießen, was das Leben zu bieten hat.“ Er lächelte schief. „He.<br />
Wenn du willst, können wir ja zu dritt-“<br />
Shans Hand klatschte ihm ins Gesicht. Die Backpfeife traf ihn nicht<br />
nur mit voller Wucht, sondern auch absolut unvorbereitet. Galak hatte<br />
das mehr aus Spaß gesagt, doch Shan nahm seinen Kommentar<br />
offensichtlich ernst und fühlte sich angegriffen. Was ... sie nun dazu<br />
verlitten hatte, ihn anzugreifen. Er hielt sich stirnrunzelnd die Wange.<br />
Shans Kiefer mahlte. „Ihr habt euch gegenseitig verdient.“ Und damit<br />
drehte sie sich um und verließ das Quartier.<br />
Shan stürmte den Korridor entlang und stieß alle Kadetten beiseite, die<br />
ihr zufällig in den Weg gerieten. Als sie Shans wütenden<br />
Gesichtsausdruck sahen, unterdrückten sie sofort ihre erste Reaktion auf<br />
die unsanfte Behandlung und hielten klugerweise den Mund. Shan lief<br />
durch die einzelnen Sektionen der Kadettenunterkünfte und bewegte sich<br />
so schnell, dass den Türen kaum Zeit blieb, sich für sie zu öffnen. In der<br />
Stimmung, in der sie jetzt war, wäre sie wahrscheinlich einfach durch die<br />
Türen gerast, hätten sie sich nicht rechtzeitig geöffnet.<br />
Sie wurde erst langsamer, als ihr nur noch wenige Leute entgegen<br />
kamen und als sie schließlich sicher war, dass sich niemand in<br />
unmittelbarer Nähe befand und ihre Schwäche sehen konnte, blieb sie<br />
stehen. Shan lehnte sich an die Wand, wo sie zu weinen begann. Es<br />
waren zwei, höchstens drei Tränen, die sie sich gestattete, aber diese<br />
wenigen genügten schon.<br />
Shan wusste nicht, worüber sie wütender sein sollte. Über den Verrat
ihrer sogenannten Freunde, oder über sich selbst. Freunde. Pah! Allein<br />
der Gedanke war lächerlich. Die beiden waren nie ihre Freunde gewesen.<br />
Weder Galak noch Tala. Und Shan hatte ihnen auch noch vertraut! Galak<br />
hatte sie sogar - wenn auch unfreiwillig und ungewollt - ihr Herz<br />
gegeben, und das nur, um anschließend einen Scherbenhaufen<br />
zurückzuerhalten. Wie er sie angeschaut hatte, aus seinen höhnischen<br />
Augen. Unfassbar! Mit ein paar miesen Phrasen hatte er klaffende<br />
Löcher in ihr Hirn gestochen. >Wir können ja zu dritt...
„Shan.“, rief sie und hielt einen Datenblock in die Höhe. „Kannst du ...<br />
kannst du mir hierbei helfen tun?“<br />
Shan stöhnte innerlich auf. Das hatte sie jetzt wirklich noch gebraucht.<br />
„Cera, es ... ist jetzt nicht so günstig.“<br />
Aber die Pakled war bereits neben ihr, hielt ihr den Datenblock unter<br />
die Nase und deutete mit großen Augen darauf. Auf dem Display waren<br />
Matheaufgaben. Einfach, der Viertklässler lösen konnten. Cera hatte alle<br />
Rechnungen verbockt, das sah Shan schon bei einem kurzen Überflug.<br />
„Kannst du ... kannst du mir helfen tun?“<br />
Sie schien nicht einmal zu bemerken, dass Shan etwas bedrückte,<br />
dabei sah man ihr die roten Augen zweifellos an. Aber niemand<br />
bemerkte es jemals, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte. Niemand. Sie<br />
kamen immer nur, um Shan ihre eigenen Probleme auf die Schultern zu<br />
laden, aber kümmerten sich überhaupt nicht, wenn es ihr einmal schlecht<br />
ging. Vielleicht hatte sie sich das selbst eingebrockt, da sie immer die<br />
Starke spielte.<br />
„Cera...“<br />
„Ich ... ich verstehe die Aufgaben leider nicht.“<br />
Shan drückte den Datenblock weg und wollte sich wegdrehen, doch<br />
Cera drehte sich mit ihr und deutete auf den Block. „Schwere Aufgaben.<br />
Schwer, ja. Ja.“<br />
Langsam wurde Shan wütend. „Cera!“<br />
Die Pakled stutzte. „Bist du ... bist du wegen irgendwas wütend?“<br />
Also das...! Das war ja wohl die Höhe! Shan platzte entgültig der<br />
Kragen. „Ja!“, schrie sie Cera an. „Ja, du hast verdammt recht, ich bin<br />
wütend!“<br />
Cera zuckte sichtlich zusammen und wich erschrocken einen Schritt<br />
zurück. Sie starrte Shan aus großen Augen an, als wäre sie zu einem<br />
Drachen mutiert und hatte plötzlich Angst vor ihr. Shan brodelte.<br />
Dennoch schaffte es Cera vorsichtig zu fragen: „Wo... worüber?“<br />
„Über alles!“, schrie Shan. „Über meinen Vater! Die Akademie!<br />
Meine sogenannten Freunde! Über… über mich!”<br />
„Das wusste ich nicht...“<br />
„Natürlich wusstest du das nicht!“, keifte Shan. „Woher auch? Du hast<br />
dir ja nicht einmal die Mühe gemacht, zu fragen, wie es mir überhaupt<br />
geht. Niemand macht sich die Mühe. Stattdessen wollen immer alle
etwas von mir. Immer nur nehmen, nehmen, nehmen, aber niemals<br />
geben.“<br />
Cera wusste offenbar nicht, was sie tun sollte und sah auf den<br />
Dateblock in ihrer Hand, was Shan noch wütender machte. Sie holte aus<br />
und Schlug Cera den Block aus der Hand. Er flog durch die Luft und<br />
zerbrach an der Wand. Shan wusste, dass es verkehrt war, aber das<br />
kümmerte sie in diesem Moment nicht, denn sie war in voller Fahrt und<br />
hoffte, dass Cera endlich – endlich – die Botschaft verstanden hatte. All<br />
der angestaute Frust, der sich angestaut hatte, musste entladen werden<br />
und Cera hatte das unzweifelhafte Vergnügen, zur falschen Zeit am<br />
falschen Ort aufgekreuzt zu sein. Einmal in fahrt, konnte der Vulkan<br />
Shan nicht mehr aufgehalten werden und sie walzte nun alles nieder, was<br />
ihr in den Weg kam.<br />
„Du musst diesen Scheiß auch mal alleine machen, Cera! Das sind<br />
Aufgaben, die jeder Grundschüler beherrscht, aber jeder Grundschüler<br />
scheint auch mehr Grips zu haben, als du. Du kannst doch nicht immer<br />
zu mir gerannt kommen! Wenn du diesen Blödsinn nicht beherrscht, bist<br />
du eindeutig zu blöd für die Akademie!“<br />
Shan schnaufte heftig. Jetzt war alles raus. Alles entladen. Einen<br />
Moment lang starrten sie sich an. Ceras Lippen bebten. Auf einmal<br />
schossen ihr die Tränen in die Augen und Shan verspürte ernsthafte<br />
Gewissensbisse. Zu hart, dachte sie. Viel zu hart.<br />
„Cera...“<br />
„Du hast ... du hast leicht reden!“, brüllte Cera schluchzend. Sie war<br />
aufgebracht und spuckte. „Dir fällt alles in die Hände! Du bist schlank<br />
und hübsch. Alle tun sich nach dir umdrehen! Du hast ja keine Ahnung,<br />
wie es für mich ist! Keine Ahnung!“<br />
„Cera.“<br />
Doch sie wollte nicht mehr hören. Cera versetzte ihr einen kräftigen<br />
Stoß, der Shan auf den Hintern beförderte. Die Pranken der Pakled<br />
öffneten und schlossen sich, einen Moment lang, schien sie gewillt zu<br />
sein, Shan anzugreifen. Doch stattdessen drehte sie sich abrupt um und<br />
rannte weinend davon.<br />
Shan richtete sich auf. „Cera...“, rief sie ihr hinterher. „Cera, es tut mir<br />
leid. Cera... bitte.“<br />
Aber es war zu spät. Cera kam nicht wieder zurück. Und jetzt
ealisierte Shan est nach und nach, was sie eigentlich gesagt hatte. Sie<br />
wusste nicht, was passiert war. Es kam ihr so vor, als hätte eine andere<br />
Shan aus ihr gesprochen. Eine böse, dunkle Shan, die sie niemals<br />
wiedersehen durfte. Aber es war zu spät und nun brach alles auseinander.<br />
Sie war gescheitert. Endgültig. In jeder Hinsicht. Die Akademie sollte<br />
das beste aus den Leuten holen. Aber sie hatte das schlechteste aus Shan<br />
geholt. Was für einen Sinn hatte es, sich irgendwo reinzuhängen, dass<br />
solche Reaktionen in ihr hervorrief?<br />
Shan zog die Konsequenzen.<br />
Eine Stunde später war sie damit beschäftigt, ihre Sachen zu packen.<br />
Sie rechnete nicht damit, dass es lange dauern würde, viel hatte sie nicht<br />
mitgenommen. Wotan kauerte niedergeschlagen auf seinem Bett und<br />
beobachtete sie dabei. Zu seiner Enttäuschung, hatte er kein Glück darin,<br />
Shan davon zu überzeugen, ihr Vorhaben noch einmal zu überdenken.<br />
Sie war fest entschlossen.<br />
„Liebes. Meinst du nicht, du bist zu hart zu dir?“<br />
„Ich bin nicht einmal ansatzweise hart genug zu mir.“, meinte Shan,<br />
ohne aufzusehen. Sie stopfte ein paar ihrer Hemden in den Rucksack und<br />
räumte dann die Hosen aus dem Schrank. „Was ich Cera angetan habe,<br />
ist unverzeihlich.“<br />
„Es geschah aus einem Affekt. Du warst wütend...“<br />
Shan hielt einen Moment inne und starrte Wotan ernst an. „Mag sein.“,<br />
sagte sie mit harter Stimme. „Aber es hätte niemals so weit kommen<br />
dürfen.“<br />
Wotan seufzte schwer. „Arme Shan. Du hast dich in Galak verliebt<br />
und er hat dich mit deiner besten Freundin betrogen.“<br />
Shan brummte. Sie musste nicht ständig daran erinnert werden.<br />
„Und?”<br />
“Das ist die traurigste Geschichte in der Welt.”<br />
„Ist meine eigene Schuld. Weißt du was? Ich hatte eine Chance und<br />
habe sie nicht genutzt. Ich hätte Galak gleich ansprechen können. Vom<br />
ersten Moment an. Aber ich habe meinen eigenen Rat nicht befolgt. Und<br />
hier bin ich. Am Ende der Linie.“
„Aber schau doch nur, wie weit du schon gekommen bist, hm? Was<br />
wir alle geschafft haben. Und jetzt willst du abbrechen?“<br />
„Wotan... Ich war nie dazu bestimmt, hier irgendetwas zu schaffen.<br />
Das wusste ich von Anfang an.“<br />
„Wirklich?“ Wotan neigte misstrauisch den Kopf. „Und du denkst<br />
nicht, dass es sich dabei um so eine Art selbsterfüllende Prophezeiung<br />
handelt? Dass du dir so lange das Scheitern eingeredet hast, bis du<br />
unterbewusst darauf hingearbeitet hast und diesen Vorfall nun als<br />
willkommenen Ausrede vorschiebst?“<br />
Sie begann wieder ihre Sachen einzupacken. „Diese...<br />
Prophezeiung...“, sagte sie. „hätte sich so oder so erfüllt. Glaub mir.“<br />
„Nun... ich muss sagen, Liebes, dass du für jemanden, der so<br />
überzeugt von seinem Scheitern war, eine Menge getan hast, eben jenes<br />
Scheitern zu verhindern. Das ist nicht wirklich typisch für jemanden, der<br />
denkt, er versage sowieso.“<br />
Shan erwiderte nichts.<br />
„Weißt du, was ich denke? Ich denke, du hast dich gar nicht vor dem<br />
Scheitern gefürchtet. Ich denke du hast vielmehr den Erfolg gefürchtet“<br />
„Den Erfolg?“, wiederholte sie stirnrunzelnd. „Warum sollte ich<br />
Erfolg fürchten?“<br />
Wotan deutete mit einer Pranke auf sie. „Weil das bedeuten würde,<br />
dass du deinem Vater gleichkommst.“<br />
Shan verdrehte die Augen. „Nicht schon wieder die alte Leier.“<br />
Aber Wotan fuhr unbeeindruckt fort. „Sehen wir der Tatsache ins<br />
Auge, Shan. Du würdest nun lieber gehen und dich selbst bedauern, aus<br />
Angst, du könntest hier auf der Akademie etwas erreichen. In der Flotte.<br />
Denn da draußen wärst du auf jeden Fall etwas anderes als dein Vater.<br />
Das Problem ist nur.. du kannst nicht vor seinem Ruf davonlaufen. Auch<br />
da draußen wirst du mit ihm verglichen. Automatisch.“<br />
Shan warf ihm einen zornigen Blick von der Seite zu. „Wer bist du?<br />
Mein Psychologe?“<br />
„Ja.“<br />
Einen Moment hing eine bleierne Stille zwischen ihnen. Und dann<br />
sagte Shan schnell: „Du kennst mich nicht.“<br />
„Oh, ich kenne dich inzwischen gut genug.“, entgegnete Wotan und<br />
richtete sich auf. Er tappte zur Bettkante, duckte sich ein Stück und
sprang dann an Shan vorbei auf ihr Bett, wo er sich neben ihren<br />
Rucksack setzte, um ihr in die Augen sehen zu können. „Ich kenne dich<br />
sogar sehr gut. Und ich weiß, du könntest eine der Besten sein.“<br />
Shan seufzte schwer. „Ach Wotan...“ Sie war fast gewillt zu sagen >es<br />
ist kompliziert
einfach bereitwillig geben. Um sie irgendwann selbst zu erhalten. So<br />
funktioniert die Welt.“<br />
Shan schnaubte und deutete mit einer vagen Geste auf den Raum. „Ja.<br />
Diese Welt hier. Die Welt der Sternenflotte. Nicht meine. In meiner<br />
überlebt man, wenn man alleine bleibt. Andernfalls bereitet man allen<br />
Kummer. Das Recht des Stärkeren. Wer sich nicht selbst helfen kann, ist<br />
verloren. Du als Tiger solltest das am ehesten verstehen. So.“ Sie schlug<br />
sich auf die Oberschenkel und stand auf. Als nächstes warf sie ihren<br />
Rucksack über die Schulter und nahm das Schwert von der Wand. Damit<br />
hatte sie alles bei sich, womit sie gekommen war. Wotan fiebte und lies<br />
die Ohren hängen. Er wusste, das alle Mühe vergebens war. Shan wollte<br />
gehen und nichts konnte sie von ihrer Entscheidung abbringen. Dann<br />
hallte eine Glocke durch das Gebäude. Der nächste Kurs stand an, die<br />
Kadetten mussten sich in ihren Aufgabenbereichen einfinden. „Basiskurs<br />
Warptechnologie bei O’Brian?“, fragte Shan.<br />
Wotan verneinte. „Professor Sturak hat uns zu Wartungsabreiten in das<br />
verlassene Gebäude am Rande des Geländes beordert.“<br />
„Ah. Dieses alte Ding? Da waren wir noch nie drin.“<br />
„Wir müssen dort unsere Strafe abarbeiten. Wegen der Schlägerei. Du<br />
weißt schon.“<br />
„Nur zu gut. Siehst du? Noch eine Sache, die ich verbockt habe. Dank<br />
mir darf nun die halbe Akademie nachsitzen.“<br />
„Ach, Liebes...“<br />
In dem Moment glitt die Tür auf und Durkin stand im Korridor, um<br />
Wotan abzuholen. Seine Schweinsäugen stierten zu Shan und dann zu<br />
Wotan. „Hast du es geschafft?“<br />
Der Tiger lies noch immer den Kopf hängen. „Sie will gehen.“<br />
Durkin lies ebenfalls die Schultern hängen. Shan konnte sich nicht<br />
einmal erklären, warum. Immerhin hatten sie kaum miteinander zu tun<br />
gehabt. Sie waren keine Freunde. Und die anderen waren es auch nicht.<br />
Shan wandte sich wieder an Wotan. „Sag Sortak nichts. Er wird es noch<br />
früh genug erfahren.“<br />
Wotan blickte zu ihr auf. „Ich bin nicht glücklich damit, dich gehen zu<br />
lassen.“<br />
Shan steckte sich das Schwert an den Gürtel, um die Hände<br />
freizuhaben. Sie hockte sich vor Wotan hin, kraulte ihm hinterm Ohr, wo
er es besonders mochte, und sah ihm tief in die Auge. „Ist okay. Ich<br />
danke dir für alles, Wot. Machs gut.“ Sie streichelte ihn ein letzte mal<br />
über den Kopf, dann trat sie nach draußen. Im Vorbeigehen klopfte sie<br />
Durkin auf die Brust. „Bye, Durk.“<br />
„Bye, Shan.“<br />
Und damit war sie gegangen. Durkin sah ihr ein paar Sekunden<br />
kopfschüttelnd nach. „Pah! Menschen.“, grunzte er. „Die und ihre<br />
Paarungsrituale.“ Er spuckte das Wort regelrecht aus. „Wir Tellariten<br />
beschnuppern einfach unsere Genitalregion und wissen, was Sache ist!“<br />
„Das... ist in der Tat einfacher“, musste Wotan eingestehen. „Aber bei<br />
Menschen läuft das etwas anders, Durkin. Für einige wenige Minuten der<br />
Liebe zahlen sie mit Stunden des Hasses.“<br />
„Anscheinend der übliche Weg menschlicher Emotionen. Wie gut,<br />
dass wir keine Menschen sind!“<br />
„Genau.“<br />
„Und nicht lieben.“<br />
„Genau.“, nickte Wotan. Glücklich, fühlte er sich trotzdem nicht.<br />
Strafarbeiten<br />
Tala überprüfte den Plasmafluss im Energiesystem und schüttelte den<br />
Kopf. Einerseits handelte es sich um eine ziemlich langweilige Prozedur,<br />
die sie im Rahmen ihrer Strafe ausführen musste. Andererseits verlief sie<br />
wenigstens einigermaßen glatt. Es gab kleinere Abweichungen im<br />
Plasmafluss. Unter einem Prozent der Norm nur, aber das reichte schon,<br />
sodass sie nun die nächsten Stunden damit verbringen durfte, der<br />
Ursache auf die Spur zu kommen. Mit den Diagnoseprogrammen –<br />
selbst denen, dieses baufälligen Gebäudes -, wäre dies eine Sache von<br />
Sekunden gewesen, aber Tala war dazu verdonnert worden, die<br />
Messungen auf die gute alte Art vorzunehmen, vermutlich, um sie zu<br />
quälen. Denn diese Arbeit war furchtbar langweilig und zog sich wie<br />
Kaugummi.
„Sie alle kennen die Ihnen zugeteilten Aufgaben.“, hatte Commander<br />
Sturak gesagt, als sie heute früh zur Strafarbeit erschienen waren. „Eine<br />
gründliche Überprüfung aller Anlagen dieses Gebäudes, sowie die<br />
Reinigung der Transporter- und Energieleitungssysteme mit veralteter<br />
Ausrüstung. Und das bis spätestens 0900 Uhr, wo die nächste<br />
Unterrichtsstunde im Auditorium beginnt. Es gibt sechs Etagen, sie sind<br />
acht Kadetten und werden neben mir die einzigen Personen in diesem<br />
Gebäude sein. Sie können sich also selbst ausrechnen, dass sie ihre<br />
Aufgabe in Rekordzeit erledigt haben sollten. Ich wünsche über alles<br />
was sie finden detaillierte Berichte. Falls es ein Problem geben sollte,<br />
befinde ich mich im Überwachungsraum auf der oberen Etage. Sind ihre<br />
Kommunikatoren eingeschaltet?“<br />
Ein jeder hatte auf diese Frage seinen Insignienkommunikator berührt.<br />
Bei allen war das bestätigende Piepsen erklungen, woraufhin sie alle<br />
nickten. „Ausgezeichnet. Also an die Arbeit, Kadetten. Ich hoffe das war<br />
ihnen die Schlägerei wert.“ Und damit hatte er sie alleine gelassen.<br />
Tala schob nun die Wandverkleidung wieder zurück und drehte sich in<br />
dem Moment um, als Sortak zu ihr kam.<br />
„Was ist los?“, fragte er schroff.<br />
Tala deutete mit dem Kinn zur Energieleitung. „Die Spulen sind intakt.<br />
Fragt sich nur für wie lange noch. Das ganze Energiesystem ist so<br />
empfindlich, wie ein nackter Tellarit auf Tarsus drei. Aber ich sehe die<br />
Ursache nicht. Möglicherweise liegt es am-“<br />
„Ich meinte nicht das Energiesystem.“ Sortak umschloss ihre<br />
Oberarme mit festem Griff. „Ich will wissen, warum Shan sich nicht mit<br />
uns hier eingefunden hat. Wo ist sie?“<br />
„Ich... ich weiß nicht genau.“<br />
„Du weißt nicht genau?“<br />
„Ja, ich... ich habe sie... seit heute früh nicht mehr gesehen. Ich weiß<br />
wirklich nicht, wo...“<br />
Sortak starrte ihr mit durchdringendem Blick in die Augen. Sie hielt es<br />
nicht mehr länger aus und sah zur Seite.<br />
„Sag schon, Tala!“<br />
„Es hat ein kleines Missverständnis gegeben.“<br />
„Ein Missverständnis?“<br />
Sie nickte. „Zwischen mir... ihr... und Galak.“
„Galak also, ja?“ Er brummte wütend, nahm aber den stechenden<br />
Blick nicht von ihr. „War ja klar.“<br />
Plötzlich klickte ihr Kommunikator. „Tala.“ Es war Wotans Stimme.<br />
Er hatte den Auftrag erhalten, in der dritten Etage die Redundanz der<br />
Langreichweitenmonitore, die das ganze Areal überwachten zu<br />
überprüfen. Tala tippte auf den Kommunikator. „Was ist, Pussy-Cat?“<br />
Da er sich aus der Schlägerei herausgehalten und keine Stellung für<br />
seine Freunde bezogen hatte, war Tala noch immer nicht besonders gut<br />
auf den genetisch aufgewerteten Tiger zu sprechen. Für Andorianer gab<br />
es keinen schlimmeren Vertrauensbruch. Selbst der Tellarit hatte mehr<br />
Mut gezeigt. Und da Tala genau wusste, wie sehr es Wotan verletzte,<br />
wenn sie ihn Pussy-Cat nannte, lies sie keine Gelegenheit aus, ihn mit<br />
diesem speziellen Spitznamen zu benennen und ihn an seinen Akt der<br />
Feigheit zu erinnern. Sie hoffte, dass er auch jetzt ganz schön geknickt<br />
sein würde, doch wenn es so war, dann lies er es sich dieses eine Mal<br />
nicht anmerken. Tatsächlich klang er ungewöhnlich besorgt. „Hättest du<br />
einen Moment Zeit, um hochzukommen? Ich würde gerne wegen einer<br />
Sache deine Expertise hören.“<br />
„Kann das nicht warten?“<br />
„Ich würde dich nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre. Du musst<br />
diese Daten hier überprüfen. Ich kann mit dem Kauderwelsch, den der<br />
Computer mir ausspuckt, nicht viel anfangen und du hast mehr<br />
technische Kurse belegt, als die meisten von uns. Bitte.“<br />
Tala atmete geräuschvoll aus. Sortak starrte sie noch immer an.<br />
Äußerlich ließ er sich kaum eine Regung anmerken, fixierte sie einfach,<br />
aber Tala spürte regelrecht, wie er brodelte.<br />
„Okay.“, sagte sie.<br />
„Danke sehr. Galak weiß nämlich auch nicht weiter.“<br />
Sortak fragte: „Galak ist bei dir?“<br />
„Ja. Sicher.“<br />
Ohne weitere Diskussionen drehte sich Sortak auf dem Absatz herum<br />
und lief den Gang entlang.<br />
„Ich bringe Sortak mit.“, kündigte Tala an.<br />
„Ausgezeichnet. Aber beeilt euch.“<br />
Sie murmelte: „Mach den Erste Hilfe-Koffer schon mal auf.“ Aber<br />
Wotan hatte den Kommunikationskanal bereits geschlossen.
Tala musste regelrecht laufen, um mit Sortaks energischem Schritt<br />
mitzuhalten. Sie stiegen in den Turbolift, fuhren zwei Etagen hinauf und<br />
verließen ihn wieder in der dritten Etage. Wotan wartete bereits im<br />
Korridor auf sie. „Schön, dass ihr gekommen seid. Ich könnte eure-“<br />
Sortak marschierte schnurstracks an Wotan vorbei, ohne ihm auch nur<br />
eines Blickes zu würdigen. Im nächsten Moment war er in der<br />
Ortungszentrale verschwunden. Tala und Wotan tauschten einen Blick<br />
und eilten ihm anschließend schnell hinterher.<br />
Galak war mit Durkin allein und gerade über ein Terminal gebeugt,<br />
um die Instrumente abzulesen. Eigentlich dachte er an nichts böses. Es<br />
hatte ein wenig Ärger zwischen ihm und Tala gegeben, nachdem Shan<br />
gegangen war, aber er sah nicht ein, sich darüber den Kopf zu<br />
zerbrechen. Orsorianer brachen sich wegen so etwas nicht den Kopf. Bei<br />
ihnen gab es schlicht keine Beziehungskisten über die man sich sorgen<br />
machen müsste. Warum sollte er also jetzt damit anfangen? Als er<br />
jemanden eintreten hörte, blickte er noch rechtzeitig auf, um zu sehen,<br />
wie ein äußerst aufgebrachter Sortak ihn angriff. Galak war überhaupt<br />
nicht darauf vorbereitet. Es ging alles fürchterlich schnell! Galak hatte<br />
nicht einmal die Chance, irgendetwas anderes zu sagen, außer „Urks“.<br />
Im einen Moment war Sortak noch am Ende des Raumes gewesen und<br />
dann, in der nächsten Sekunde oder so, hatte er Galak mit einer Hand am<br />
Hals gepackt und katapultierte ihn scheinbar mühelos aus seinem Stuhl<br />
heraus.<br />
Galaks Beine baumelten in der Luft und er spürte, wie sich Sortaks<br />
kräftige Hände um seinen Hals schlossen und ihn zu würgen begannen.<br />
Er war aus irgendeinem Grund – den sich Galak denken konnte - äußerst<br />
wütend und hatte es sich offenbar in den Kopf gesetzt, ihn entschlossen<br />
und rasch zu töten. Galak rang nach Atem. „Sortak!“, keuchte er.<br />
„Sortak, du bringst mich noch um!“<br />
„Das ist meine Intention, ja.“
„Aber ich habe mich noch gar nicht erklärt...“<br />
„Ist nicht nötig. Shans Abwesenheit genügt mir als Grund.“<br />
Die Welt vor Galaks Augen begann bereits zu verschwimmen.<br />
Irgendwie bekam er noch mit, wie Wotan und Tala im Türrahmen<br />
erschienen. „Yo! Tala!“ Seine Stimme war nicht mehr, als ein leises<br />
röcheln. „Willst du mir nicht helfen?“<br />
Tala machte sich gar nicht erst die Mühe, ihm zu antworten, sondern<br />
drehte sich auf der Stelle zu Wotan um. „Weswegen hast du uns<br />
gerufen? Wo ist das Problem?“<br />
Der Tiger reagierte nicht sofort, sondern betrachtete mit Entsetzen das<br />
Geschehen. Er war unschlüssig, was er tun sollte.<br />
„Pussy-Cat! Warum hast du uns gerufen?“<br />
Wotan begriff nicht, wie Tala so ruhig bleiben konnte und kam zu dem<br />
Schluss, dass dies vielleicht ihre Taktik war: Sortak von seinem Abhaben<br />
abzubringen, in dem sie ganz normal weitermachte. Das erschien ihm<br />
zwar nicht sonderlich logisch, andererseits viel ihm auch keine andere<br />
Taktik ein, weswegen er sich stumm einverstanden erklärte. „Äh...<br />
überprüfe das Subroutinensystem A. Energiefluss. Sag mir, was du<br />
siehst.“<br />
Tala trat neben ihn und beobachtete, wie seine großen Tatzen sich über<br />
die Anzeigen bewegten. „Das ist ein Echozeichen.“, erkannte sie.<br />
„Irgendein... irgendein ungewöhnlicher Energiefluss...?“<br />
Sortak verzog das Gesicht zu einem Stirnrunzeln. „Ein nicht<br />
autorisierter Energieabzug?“ Er lies überraschend von Galak ab und trat<br />
einen Schritt zurück. Galak stürzte auf alle Viere und schnappte nach<br />
Luft. Er japste und keuchte fürchterlich, aber er war okay, ihm fehlte<br />
nichts. Sortak bedachte ihn mit einem Kopfschütteln, und trat dann an<br />
ihm vorbei und interessiert zu Tala und Wotan an die Konsole, wo er<br />
selbst einen Blick auf die Anzeigen warf. „Vielleicht eine Fehlfunktion?“<br />
„Nein, sieht nicht danach aus. Zumindest kann ich keinen Fehler<br />
sehen.“<br />
„Ich sage dir, was ich sehe...“, begann Galak mit erstickter Stimme.<br />
„Niemand hat dich gefragt.“, fauchte Sortak. „Wir sind noch nicht<br />
fertig miteinander. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, klar?“ Und an<br />
Tala gewandt fragte er: „Wer hat das Autorisiert?“<br />
„Niemand. Ich schätze, das hat bisher nicht einmal jemand entdeckt.“
„Und wohin wird die Energie geleitet?“<br />
Die Andorianerin befragte die Sensoren. „In das Laborgebäude, am<br />
anderen Ende des Campus.“<br />
Sortak runzelte die Stirn. Er war mehrmals in dem Laborkomplex<br />
gewesen, hatte dort sogar versucht seinem Vater zu assistieren, bis er<br />
Galak seinem Sohn vorgezogen hatte. Viele ihrer Lehrer arbeiteten dort,<br />
experimentierten und führten die Schüler an die wissenschaftlichen<br />
Geräte heran. Aber Sortak konnte sich nicht erinnern, dass dort etwas vor<br />
sich ging, was mehr Energie verbrauchte, als die Generatoren des<br />
Gebäudes erzeugten. Vielleicht ein außer Kontrolle geratenes<br />
Experiment einiger Schüler? Wotan schien seine Gedanken zu lesen.<br />
„Sagen wir es Sturak?“<br />
„Was sollen wir ihm denn sagen, Wotan?“, schnaubte Galak und erhob<br />
sich schwerfällig auf die Knie. „Es kann sich um keine Fehlfunktion<br />
handeln. Die primären Ortungsfelder hätten das schon längst gemeldet.<br />
Gäbe es eine Fehlfunktion, würden die Alarmglocken hier so laut<br />
Leuten, dass man sie bis nach Nydaris hören könnte. Wir sind vielleicht<br />
einfach nur zu blöde, die Anzeigen abzulesen. Es gibt deutlich fähigeres<br />
Personal auf der Akademie. Jemandem wäre ers aufgefallen, wenn etwas<br />
vor sich ginge.“<br />
Sortak stutzte. „Vielleicht handelt es sich um einen Computerfehler.<br />
Die Geräte in diesem Gebäude sind so alt, dass die Anzeigen falsch sein<br />
könnten.“<br />
„Holen wir Grau her.“, schlug Tala vor. „Mit Computern kennt sich<br />
keiner so gut aus, wie er.“<br />
„Grau ist ein Computer.“, mischte sich Durkin naserümpfend in die<br />
Unterhaltung ein.<br />
„Richtig. Grau.“ Wotan tippte auf seinen Kommunikator. „Grau?“<br />
Keine Antwort.<br />
„Grau.“, wiederholte er.<br />
Die anderen sahen sich besorgt an. „Grau, wo bist du?“, fragte Wotan.<br />
„Ich. Bin. Da.“<br />
Sie fuhren zusammen und drehten sich dann um. Grau stand direkt<br />
hinter ihnen, als wäre er aus heiterem Himmel dort aufgetaucht. Er sah<br />
von einem zum anderen, während er seine Finger knotete. Der<br />
Sprachumwandler flammte erneut auf und erklärte mit monotoner,
lecherner Stimme: „Ich. Gekrochen. Durch. Jeffries. Röhre.“<br />
Wotan deutete auf die Instrumente. „Wir empfangen etwas auf den<br />
Sensoren. Einen Fehler im Energiesystem, irgendwas scheint Energie<br />
von den Generatoren in der ganzen Akademie abzuziehen.“<br />
„Entweder das, oder das System ist kaputt.“, sagte Tala. „Wir haben<br />
einen Primär-Check vorgenommen. Alle Werte scheinen normal.“<br />
Graus Kopf ruckte. „Dann. Vielleicht. Überprüfungssystem. Defekt.“<br />
„Hm.“, machte Tala und betrachtete nachdenklich die Konsole, als<br />
würde sie ihr dadurch mitteilen, was mit ihr nicht stimmte.<br />
„Vielleicht sollten wir einen richtigen Techniker heraufholen.“, schlug<br />
Wotan vor. „Nur zur Sicherheit.“<br />
„Warum rufen wir nicht alle her.“, sagte Galak sarkastisch. Er rieb sich<br />
noch immer den Hals. „Und feiern eine kleine Party?“<br />
„Papperlapapp! Macht mal Platz da.“, brummte Durkin und trat zur<br />
Konsole. „Tellariten kennen sich mit solchen Dingern aus.“<br />
„Mit Schrott?“, fragte Tala. „Wundert mich nicht...“<br />
Durkin ging nicht auf ihren Kommentar ein. „Das ist die primäre<br />
Ortungsstation, oder?“<br />
„Ja genau.“, nickte Wotan.<br />
„Und ging etwas merkwürdiges vor sich, würde sie Alarm auslösen,<br />
nicht wahr?“<br />
„Ja!“, sagte Tala gepresst. Sie wurde allmählich ungeduldig.<br />
„Aber da es keinen Alarm gegeben hat“, fuhr Durkin fort, als käme er<br />
einem großen Geheimnis auf die Spur. „gibt es entweder keine Gefahr...<br />
oder dieses Ding hier ist kaputt.“<br />
„Richtig...“, warf Wotan ein. Selbst der gutmütige Tiger schien wegen<br />
Durkins Beschränktheit etwas verblüfft zu sein.<br />
„Hmm.“ Durkin betrachtete die Konsole genau, bückte sich dann und<br />
schaute unter sie.<br />
Tala rollte die Augen. „Das ist doch Zeitverschwendung.“<br />
Und dann zog Durkin langsam und bedächtig seine Pranke zurück,<br />
ballte sie zur Faust...<br />
... und schlug auf die Konsole. Augenblicklich heulte ein greller, lauter<br />
Alarm los, der in dem gesamten Gebäude erklang. Die Kadetten sahen<br />
sich verwirrt an – alle bis auf Durkin, der ungewöhnlich zufrieden<br />
wirkte. „Repariert!“, sagte er.
Commander Sturaks Stimme erklang gleichzeitig aus den<br />
Deckenlautsprechern. „Was ist da unten los?“<br />
Überall um sie herum blitzten plötzlich Instrumente auf. Jedes<br />
Ortungsgerät in dem Gebäude spuckte wie wild Daten aus.<br />
„Commander, hier spricht Tala. Wir messen einen extremen<br />
Energieanstieg, ausgehend vom Laborgebäude. Von überall aus der<br />
Akademie wird Energie dorthin umgeleitet.“ Sie sah auf. „Und es wird<br />
schlimmer.“<br />
Draußen auf dem Landefeld hinter der Akademie, begab sich Shan zu<br />
ihrem geparkten Schiff, der Pax, ihr Rucksack auf dem Rücken, ihr<br />
eingepacktes Schwert in der Hand. Sie hatte sich bei Barclay nach langer<br />
Diskussion abgemeldet und war nun mit geschulterter Tasche bereit zum<br />
Abflug – wohin auch immer.<br />
Als sie ihr kleines Schiff erreichte, war die Sonne hinter<br />
tiefhängenden, dunklen Wolken verschwunden. Der ganze Campus war<br />
in sanftes, rötliches Licht getaucht. Von den höher gelegenen<br />
Landeplattformen auf dem das Schiff stand aus, hatte sie einen<br />
großartigen Ausblick über das Gelände. Der Campus wirkte dunkel, still<br />
und leer. Die Kadetten waren wohl alle in den Vorlesungshallen.<br />
Irgendwo im Norden grollte Donner. Die Luft wurde kühler, fühlte sich<br />
elektrisiert an. Während die Eintrittsschleuse der Pax herabfuhr, sah<br />
Shan skeptisch zum Himmel. Es sah nach Gewitter aus. Regen war um<br />
diese Jahreszeit nicht ungewöhnlich. Die Wetterkontrollstationen ließen<br />
ihn regelmäßig für die Pflanzen zu, oder erzeugten sogar künstlichen<br />
Niederschlag. Aber Gewitter waren etwas ungewöhnliches. Erneut<br />
grollte Donner.<br />
Die Schleuse berührte mit einem sanften Knall der von Endgültigkeit<br />
zeugte den Boden und brachte Shan ins Hier und Jetzt zurück. Das<br />
Mädchen seufzte. Obwohl erst ein paar Wochen vergangen waren, seit<br />
sie auf genau diesem Landefeld eingetroffen war, kam es ihr in gewisser<br />
Hinsicht so vor, als wäre es erst gestern gewesen. Sie konnte kaum<br />
glauben, dass ihr in so kurzer Zeit so viel zugestoßen war. Und sie<br />
konnte kaum glauben, dass es nun vorbei sein solle. Es ärgerte Shan,
dass sie so lange durchgehalten hatte, nur um jetzt, so kurz vor dem Ziel,<br />
doch noch zu scheitern.<br />
Aber ihr blieb keine andere Wahl. Seit ihrer Ankunft hatte sie nur<br />
Probleme bereitet. Der Zank mit Finnegan war eine Sache, aber die<br />
Nerven zu verlieren und eine gute Freundin unverdientermaßen derart<br />
anzufahren, wie sie es mit Cera getan hatte, war inakzeptabel. So wollte<br />
sie nicht sein. Wenn es das war, was das einengende Leben auf der<br />
Akademie aus ihr machte, eine entnervte Furie, dann wollte sie lieber<br />
rechtzeitig die Notbremse ziehen und gehen, ehe man sie hinauswarf. Sie<br />
wollte niemandem schaden. Und erst recht wollte sie nicht vorgeben<br />
etwas zu sein, dass sie nicht war.<br />
Sie erlaubte sich einen kurzen Blick zu dem alten Energiegebäude, in<br />
dem ihre Studiengruppe nun Strafarbeit leistete.<br />
Ihre Studiengruppe?<br />
Shan berichtigte sich stumm. Es war nicht mehr ihre Studiengruppe.<br />
Es waren nur irgendwelche Leute, die in ihrem weiteren Leben wohl<br />
keine Rolle mehr spielen würden. Fremde. Wiederstrebend wandte Shan<br />
ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Schiff zu. Die Kontrollen im<br />
Steuerraum fuhren automatisch hoch, lockten, versprachen Abenteuer,<br />
für die sie vielleicht nicht bereit war.<br />
Was soll’s? Finde ich eben auf die harte Tour raus, wer ich bin und<br />
was ich kann.<br />
Bevor sie eintrat und der Akademie endgültig den Rücken kehrte, gab<br />
es nur noch eine Sache zu erledigen. Sie nahm ihren Kommunikator von<br />
der Brust und wollte ihn gerade mit aller Kraft fortschleudern – schon<br />
alleine der Symbolik willen -, als er plötzlich piepte.<br />
„Shan? Sturak hier. Kannst du ins Energiegebäude kommen?“<br />
Shan nahm den Anruf entgegen und hielt sich den Kommunikator vor<br />
den Mund. „Nein. Kann ich nicht. Womit auch immer du es versuchst,<br />
du bekommst mich nicht dazu überredet, meine Entscheidung zu<br />
überdenken, oder gar zu ändern, Sturak.”<br />
„Entscheidung?” Sturak klang verwirrt. „Welche Entscheidung? Ich<br />
weiß nicht, wovon du sprichst. Shan, hör zu. Ich brauche deine Hilfe. Es<br />
ist ein Notfall.“<br />
Shan zuckte leichthin die Schultern. „Melde dich wieder, wenn’s ne<br />
Katastrophe ist.“
Zu ihrer Überraschung erwiderte Sturak: „Es ist vielleicht eine.<br />
Jedenfalls, wenn meine Vermutung korrekt ist. Es geht um den Urgon.<br />
Er zieht unkontrolliert Energie ab. Da braut sich was zusammen.“ Shan<br />
runzelte die Stirn. Sturak scherzte nicht. Das war ernst!<br />
„Komm zum Energiegebäude. Schnell!“ Dann schloss er den Kanal.<br />
Shan drehte sich zum Campus. Der Himmel hatte sich nun völlig<br />
verdunkelt, am Horizont blitzte es. Kein Donner diesmal. Die Ruhe vor<br />
dem Sturm. Shan sah zum Einstieg ihres Schiffes. Alles, alles, was sie<br />
tun musste, war einsteigen, die Maschinen starten und das alles hier<br />
hinter sich zu lassen. Sie schloss die Augen und hörte Kats Stimme<br />
durch ihren Geist hallen.<br />
„Grozit!” Shan schlug gegen den Verriegelungsmechanismus und die<br />
Tür fuhr langsam wieder zu. Als sie endlich einrastete, war Shan bereits<br />
zum Gebäude unterwegs.<br />
Zwei Minuten später drängten sich alle um die Kontrollmonitore im<br />
Überwachungsraum und versuchten aus der chaotischen Fülle an<br />
Informationen, die der Computer ausspuckte, schlau zu werden. Sturak<br />
nahm den Blick von den Anzeigen und sah Shan über die Arbeitskonsole<br />
in der Mitte des Raumes hinweg an.<br />
Seine Mine war ernst. „Es liegt eindeutig an deinem Artefakt, soweit<br />
ich das beurteilen kann.“, sagte er. „Es zieht irgendwie Energie aus allen<br />
Systemen ab. Irgend etwas geht vor sich.“<br />
„Der Urgon? Sicher?“ Shan konnte sich darauf keinen Reim machen.<br />
„Aber wie ist das möglich? Das ist doch nur ein Relikt.“<br />
„Offenbar ist es mehr als das. Ein Gerät. Eine Maschine. Ein<br />
Technoartefakt. Ich weiß nicht genau.“<br />
„Hast du es nicht untersucht?“<br />
Sturak verneinte. „Ich kam noch nicht dazu. Die Untersuchung war für<br />
morgen früh angesetzt. Der Urgon befindet sich bereits in einer<br />
Harmonikkammer, die über den heutigen Tag hinweg Sondierungen<br />
durchführen und Informationen sammeln sollte, die ich morgen<br />
auszuwerten gedachte. Wir haben das tausendmal bei ähnlichen<br />
Artefakten gemacht. Ich nahm an, es sei ungefährlich. Aber jetzt....“ Er
deutete auf die Energiespitzen, die sich oberhalb der Skala befanden und<br />
schüttelte den Kopf. Unbemerkt studierte er aus den Augenwinkeln die<br />
anderen Kadetten. Ihm entging nicht, dass sie sehr unterschiedlich auf<br />
den Tumult reagierten. – Yoko und Durkin bewahrten ein kühles<br />
Verhalten, fast professionell – während andere, wie Wotan und Grau<br />
sehr aufgeregt waren. Der Tiger wirkte sogar außerordentlich nervös.<br />
Tala, Sortak und Galak hingegen, schienen den Ernst der Lage nicht zu<br />
begreifen und ihre Bemühungen darauf zu richten, sich hin und wieder,<br />
wenn sie glaubten, Sturak würde nicht aufpassen, giftige Blicke<br />
zuzuwerfen. Shan, offenbar Quell ihrer Differenzen, wie Sturak aus<br />
kleinen Gesten herauslas, war hingegen ganz auf ihr gegenwärtiges<br />
Problem konzentriert – wahrscheinlich, um nicht mit den anderen reden,<br />
oder sie gar ansehen zu müssen. Es herrschte zweifelsohne noch immer<br />
dickes Blut unter den Kadetten. Ihre Differenzen schienen sich nicht<br />
gelegt, sondern sogar noch verstärkt zu haben.<br />
Nun legten sich dunkle Schatten auf ihre Gesichter, als draußen die<br />
Sonne von drohenden Gewitterwolken verschluckt wurde. Donner grollte<br />
und kam immer näher. Die Luft schien sich förmlich aufzuladen. Sturak<br />
richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Shan.<br />
„Irgendwelche Theorien?“<br />
Sie starrte noch immer auf die verwirrenden Daten, die über den<br />
Bildschirm rollten und schüttelte langsam den Kopf.<br />
„Über Frigoria, vielleicht? Shangri-La?“<br />
Es dauerte einige Sekunden, ehe Shan aufblickte. Sie sprach sehr leise.<br />
„Es wird dir nicht gefallen.“<br />
„Versuch es.“<br />
„Beim Raumhaften von Frigoria habe ich versucht mehr Informationen<br />
zusammenzutragen, habe mir angehört, was die Frachterkapitäne und die<br />
Einheimischen sich darüber erzählen. Ich konnte nicht viel mehr in<br />
Erfahrung bringen, als das, womit du mich bereits neugierig gemacht<br />
hattest. Dass die es sich der Legende nach bei dem mythologischen<br />
Reich der Shangri-Laner um eine Hochkultur gehandelt haben sollte.<br />
Heilige Wesen, die vom Rest des Universums und auch der Zeit getrennt<br />
lebten und erblühten. Der Himmel auf Erden. Doch irgendwann, von<br />
jetzt auf gleich, ging die Kultur einfach unter, aufgrund vom Zorn<br />
Gottes, oder so etwas.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Der Ort ist derart
legendär, dass die meisten ihn sowieso nur als Mythos abtaten. Keiner<br />
nahm die widersprüchlichen und bruchstückhaften Erzählungen ernst.<br />
Die meisten, denen ich begegnete, lachten mich aus, bis auf...“<br />
Sturak neigte den Kopf. Ihm war nicht entgangen, dass Shan nervös<br />
ihr Gleichgewicht von einem Bein zum anderen verlagerte. „Ja?“<br />
„Na ja, da war so ein alter Mann, der mich durch die verschiedenen<br />
Geschäfte verfolgte. Er versuchte mich von meinem Vorhaben, die Stadt<br />
zu suchen, abzubringen. Faselte immer wieder etwas von einem Fluch,<br />
der über der Stadt lag, und all jene heimsuchen würde, die es wagten, die<br />
Ruhe der Stadt zu stören.“<br />
„Hm.“<br />
„Komm schon.“ Shan lächelte unsicher. „Du glaubst das doch nicht,<br />
oder? Zorn der Götter und so was. Es war nur ein alter irrer. Er wollte<br />
mich ängstigen, nichts weiter.“<br />
„Die meisten Überlieferungen enthalten einen Funken Wahrheit, den<br />
wir Archäologen entschlüsseln müssen. Wenn Sternenflottenoffiziere auf<br />
einen Planeten mit primitiverer Kultur beamen würden und in eine<br />
Situation gerieten, in der sie ihre Phaser abfeuern müssten, würde in<br />
späteren Überlieferungen dieser Kultur zweifellos von Göttern die Rede<br />
sein, die aus der Luft kamen, und Blitze schickten. Letztendlich ist alles<br />
eine Sache der Interpretation.“<br />
„Selbst wenn - Ich habe nur den Urgon gefunden, nicht aber die Stadt.<br />
Und in dieser Höhle war sonst nichts. Nur die Leiche eines Schatzjägers<br />
und das Monster, dass mich angriff.“<br />
Sturak atmete geräuschvoll ein. „Weißt du, Shan...“, begann er<br />
langsam. „Da gibt es ein paar Dinge, die ich dir nicht erzählt habe, weil<br />
ich dich nicht ängstigen wollte. In den Überlieferungen heißt es nämlich<br />
weiterhin, dass die Grenzen der Stadt von verschiedenen Wächtern<br />
beschützt wurden, die Eindringling fernhielten. Dressierte Tiere, nehme<br />
ich an. Als die Shangri-Laner schließlich ihre Götter erzürnten, schickten<br />
diese magische Statuen in die Stadt. Die Wächter wandten sich plötzlich<br />
gegen die Bewohner... und vernichteten die Bevölkerung... Die Götter<br />
taten ihr übriges und begruben die Stadt, das Vermächtnis der Shangri-<br />
Laner für alle Zeit – inklusive der Statuen und der Wächter.“<br />
Shan starrte ihn an.<br />
Yoko studierte die Anzeigen und dachte nach. „Und nun lädt sich das
einzige verbleibende Artefakt der Shangri-Laner mit Energie auf.“<br />
„Aber wie?“, fragte Tala. Es war ihr unbegreiflich. „Und wieso?“<br />
Durkin beschlich ein unschöner verdacht. „Könnte es sich um eine<br />
Bombe handeln? Ein Explosivgerät?“<br />
„Mach dich nicht lächerlich, Tellarit! Es ist nur eine Statue.“<br />
Shan konnte bereits sehen, in welche Richtung Sturaks Gedanken<br />
gingen.<br />
„Nein.“, keuchte sie. „Sag mir nicht, dass ich den >Zorn der Götter<<br />
oder so etwas ins Herz der Sternenflottenakademie gebracht habe.“<br />
„Könnte sein. In diesem Falle ist es besser, je eher wie dieses Ding<br />
abschalten. Grau?“<br />
Der Briori war sofort zur Stelle. „Ja. Sir.“<br />
„Sie begleiten mich, Kadett. Wir gehen rüber ins Labor und trennen<br />
das Artefakt von der Energieversorgung.“ Grau vollführte eine knappe<br />
Verbeugung und flitzte sofort voraus. Sturak folgte ihm. Unterwegs zur<br />
Tür drückte er Yoko einen Tricorder in die Hand. „Halten sie die Daten<br />
damit im Auge, insbesondere den Energieanstieg. Geben sie mir<br />
nennenswerte Veränderungen oder Schwankungen sofort durch.“<br />
„Natürlich, Sir.“<br />
„Warten Sie!“ Tala trat einen Schritt vor: „Was sollen wir anderen<br />
machen?“<br />
Sturak hielt vor der Tür inne. Nach einem kurzen, künstlichen Zögern<br />
drehte er sich ein letztes Mal zu den Kadetten um. Keiner schien<br />
begeistert, dass er sie nun alleine lassen würde. Sturak zuckte leichthin<br />
mit den Schultern. „Versucht euch nicht gegenseitig umzubringen.“ Und<br />
damit ließ er sie zurück.<br />
Shan konnte sich an keinen Zeitpunkt erinnern, an dem die Stimmung<br />
innerhalb der Lerngruppe je derart unangenehm gewesen war. In den<br />
vergangenen Tagen hatte es zwischen ihnen einige Probleme und<br />
unschöne Momente gegeben, aber es war nie so unerträglich gewesen. In<br />
den ersten Minuten, nachdem Sturak und Grau sie verlassen hatten,<br />
schwiegen sie sich einfach nur an und das war fast schlimmer, als jedes<br />
gesprochene Wort. Auf der anderen Hand jedoch, konnte man auch nie
wissen, was die Leute zu einem sagen würden. Dennoch, die Stille wurde<br />
schier unerträglich.<br />
Draußen hatte sich der Himmel verdunkelt. Ein starker Wind war<br />
aufgekommen, und irgendwie war die Stimmung unheimlich, obgleich<br />
sich Shan weigerte, an derartige Dinge zu glauben. Auch nicht an<br />
Sturaks Vermutung über das Artefakt, das sie als Schauermärchen abtat.<br />
Dennoch - Es schien sich ein schweres Unwetter zusammenzubrauen.<br />
Genau wie zwischen der Lerngruppe. Es war nun ein Gefecht der Blicke<br />
und Shan war nicht gewillt, dieses Gefecht zu verlieren. Ihre stahlblauen<br />
Augen bohrten sich in Galaks hinein. Noch hielt er stand.<br />
Sag es, dachte Shan zu sich selbst. Sag all die Dinge, zu diesem<br />
schleimigen, arroganten Grekka-Targ, die du sagen willst. Lass den<br />
Schmerz raus, den Betrug... lass ihn Wissen, dass, wenn er etwas<br />
derartiges noch mal versuchen sollte, dann wirst du ihn drei Köpfe<br />
kürzer machen. Aber du wirst ihn nicht noch einmal davon kommen<br />
lassen und den Rückzug antreten. Sag ihm, dass er dein Vertrauen<br />
missbraucht hat. Sag ihm, dass er in der Hölle schmoren wird. Sag ihm,<br />
es sei alles seine Schuld. Sag ihm...<br />
„Es tut mir leid, Shan.“<br />
Yup. Man weiß nie, was die Leute zu einem sagen werden.<br />
„Denkst du, es ist so einfach?“, fragte Shan. „Ein >es tut mir leid< und<br />
schon ist alles wieder wie vorher?“ Sie schnaubte. „Ich kann immer noch<br />
nicht glauben, dass du mich geküsst und betrogen hast und ich brauche<br />
mehr als nur eine Entschuldigung.“<br />
Sortak wurde hellhörig. „Er hat was getan? Er hat was getan?“<br />
Niemand ging auf ihn ein.<br />
„Komm schon Shan. Hör auf, auf Galak rumzureiten.“<br />
Shan feuerte Tala einen kalten Blick zu. „Nur wenn du auch damit<br />
aufhört.“<br />
„Uh, der war zu gut. Jetzt bin ich zu stolz, um böse zu sein.“<br />
„Was soll ich denn tun?“, fragte Galak. „Weinen? Dir Geld geben?“<br />
Dieser Kommentar machte Shan nicht glücklich. Und wenn sie sich<br />
unglücklich fühlte, machte sie ihrem Zorn normalerweise Luft, in dem<br />
sie auf etwas schlug... normalerweise auf einen unbelebten Gegenstand.<br />
Aber es war keiner in der Nähe, und der Orsorianer stellte allmählich<br />
eine schreckliche Versuchung dar. Das war jedenfalls keine Art, sich bei
jemandem zu entschuldigen.<br />
Sortak schien ihre Gedanken zu lesen. Er ballte die Fäuste, machte mit<br />
finsterer Mine einen Schritt auf Galak zu. „Soll ich ihn töten, Shan?“<br />
„Vergiss das!“, wich Galak zurück. „Shan, sag ihm, dass du nicht<br />
amüsiert bist.“<br />
„Nun, das bin ich aber. Ein bisschen. Ich finde seinen Vorschlag sehr...<br />
verlockend.“<br />
„Verlockend? Verlockend? Er hat mich schon einmal angegriffen! Ich<br />
sollte die Sicherheit...“ Er dreht sich zu Sortak und zeterte: „Ich sollte die<br />
Sicherheit alarmieren! Das ist es, was ich tue, wenn du mir zu nahe<br />
kommst, also bleib bloß da stehen, wo du bist!“<br />
„Ist das deine Art auf eine Herausforderung zu reagieren,<br />
Arsamandi?“, fragte Sortak. „Dich hinter anderen zu verstecken?“<br />
„Völlig richtig! Ich bin ein Mitglied des orsorianischen Adels, Sortak.<br />
Wenn mir jemand an den Kragen will, dann informiere ich für<br />
gewöhnlich die imperiale Garde, und lass sie die Scheiße aus demjenigen<br />
für mich herausprügeln!“<br />
„Leute...?“ Es war Yoko, der nun sprach. Er hatte die ganze Zeit<br />
seinen Tricorder im Auge behalten und nun offenbar etwas<br />
merkwürdiges auf den Anzeigen entdeckt. Leider schenkte ihm niemand<br />
Beachtung. Alle waren viel zu sehr beschäftigt, Drohungen auszustoßen.<br />
„Ich hatte keine andere Antwort von dir erwartet.“, sagte Sortak zu<br />
Galak. „Nimm eine Herausforderung bloß nicht wie ein Mann, sondern<br />
wie eine Memme.”<br />
„Meine Antwort?“, fragte Galak. „Du willst eine Antwort hören?<br />
Meine Antwort ist, dass du ein kompletter Idiot bist! Falls es dir<br />
entgangen sein sollte, wir haben uns bereits geprügelt und der Kampf<br />
ging relativ unentschieden aus, was lediglich daran lag, dass du auf<br />
unfaire Tricks zurückgegriffen hast, vermutlich im Knast aufgesammelt,<br />
möchte ich wetten.“<br />
„Okay!“, kochte Sortak. „Das war’s! Finito! Aus, Ende! Du bist<br />
erledigt! Ein für allemal erledigt!“ Er ballte die Fäuste, genau wie Galak,<br />
bereit zum Kampf.<br />
Und in diesem Moment trat Yoko zwischen sie, den Blick streng auf<br />
die Anzeigen des Tricorders in seiner Hand gerichtet. „Ich hab was!“<br />
Galak und Sortak stoppten. Alle Blicke richteten sich auf Yoko.
„Was?“, wollte Sortak wissen. „Was hast du?“<br />
„Ich bin nicht sicher. Die ansteigenden Energiewerte verwirren die<br />
Anzeigen. Ich habe Schwierigkeiten etwas neben den ausschlagenden<br />
Energieindikatoren zu messen. Es könnte sein, das- Wartet!“ Er riss die<br />
Augen auf.<br />
Die Kadetten erstarrten. Draußen grollte Donner.<br />
„Was ist es?“, flüsterte Wotan.<br />
„Lebenszeichen. Ganz in der Nähe. Sechs. Vielleicht Sieben.“<br />
„Aber außer uns sollte sich heute niemand in diesem Gebäude<br />
aufhalten.“, erinnerte sich Durkin. Für ihn gab es nur eine einzige<br />
Schlussfolgerung. Er hob die Fäuste und drehte sich zur Tür, als würde<br />
er eine anrückende Armee erwarten. „Feinde, kein Zweifel.“<br />
„Mach dich nicht lächerlich!“, schnaubte Tala. „Ein kleines Gewitter,<br />
ein harmloser Energieanstieg und schon sehen Tellariten Gespenster,<br />
huh? Dang! Wir haben hier keine Feinde.“<br />
„Nein.“, erwiderte Durkin ruppig. „Keine Feinde. Nur den halben<br />
Campus, der wegen der Strafarbeiten sauer auf uns ist und – auch wenn<br />
sie es nicht offen zeigen – am liebsten jeden einzelnen der hier<br />
anwesenden aufknöpfen würden.“<br />
„Vielleicht ist das die Sicherheit und sie sind hinter Sortak her.“, warf<br />
Galak verdrossen ein. „Sie haben herausgefunden, dass er beinahe<br />
jemanden gekillt hat...“<br />
Sortak riss den Kopf herum. „Woher weißt du das?“<br />
Galak zuckte selbstgefällig mit den Schultern.<br />
„Yoko, rede mit uns.“, sagte Shan sachlich. Sie hatte kein Interesse<br />
daran, dass die Situation eskalierte – nicht, wenn möglicherweise Gefahr<br />
von Außen drohte. In diesem Falle hatten sie alle ihre persönlichen<br />
Differenzen zurückzusetzen und verdammt noch mal professionell zu<br />
sein! „Sag mir was der Tricorder ausspuckt. Um wen handelt es sich, wo<br />
sind sie?“<br />
„Kann ich nicht genau sagen. Ich- Moment. Ich bekomme genauere<br />
Biowerte. Es handelt sich um... huh? Das ist merkwürdig.“<br />
„Was?“<br />
„Fast alles Zweibeiner. Sechs humanoide und ein...“ Seine Stimme<br />
wehte fort.<br />
„Und ein Tiger, wolltest du sagen?“, fragte Shan augenrollend.
Yoko murmelte: „Tut mir leid.“<br />
„Dang!“, stöhnte Tala.<br />
„Was ist passiert? Werden wir angegriffen?“ Durkin schien verwirrt zu<br />
sein. Tala drehte sich zu ihm herum und schlug mit der Hand gegen<br />
seinen Hinterkopf. „Das waren nur wir, du Trottel. Er hat unsere eigenen<br />
Lebenszeichen gemessen. Meine Güte, ich wollte mit den Besten der<br />
Besten arbeiten und der da kann nicht einmal einen Tricorder bedienen.“<br />
„Ich habe einen Fehler gemacht.“, gestand Yoko. „Bitte verzeiht. Es ist<br />
wirklich schwer neben diesen Energiewerten etwas zu lesen.“<br />
Talas einzige Erwiderung bestand in einem Grunzen.<br />
„Es ist okay, Yoko.“, sagte Shan. „Hätte jedem passieren können.”<br />
„Es wäre mir lieber gewesen, wenn es einem anderen passiert wäre.“,<br />
gab Yoko zu und justierte an den Feineinstellungen seines Tricorders<br />
herum, als das Gerät plötzlich piepte. „Dadurch hätte ich nicht- Wartet!“<br />
„Was ist es diesmal?“, stöhnte Tala. Ihre Geduld war fast am Ende.<br />
„Die Energieindikatoren schlagen aus.“<br />
„Das haben sie auch eben schon getan.“<br />
„Aber jetzt zeigen sie...“ Er blinzelte verwundert. „Die Werte sind fast<br />
doppelt so hoch. Verblüffend!“<br />
„Jenseits der Skala?“, fragte Shan.<br />
Yoko nickte. Er drehte sich im Kreis, den Blick noch immer starr auf<br />
die Anzeigen gerichtet. „Es kommt direkt vom... vom Labor. Immer<br />
noch.“ Er sah auf. Draußen war es merkwürdig still. „Ich glaube wir<br />
haben ein Problem.“<br />
„Yoko!“ Tala trat mit energischen Schritten ans Fenster und deutete in<br />
übertriebenen Gesten auf das Laborgebäude in der Ferne. „Hör auf uns<br />
irre zu machen! Da ist nichts! Sturak und Grau sind vermutlich gerade<br />
dabei das Artefakt zu entfernen. Und sonst geht absolut nichts vor sich.<br />
Es gibt nicht den geringsten Grund beunru-“<br />
In dem Moment explodierte das Laborgebäude.<br />
Es geschah innerhalb einer dreiviertel Sekunde. Sortak und die<br />
anderen sahen alle den Blitz, der einen Großteil des Glasdaches des<br />
Labors zerfetzte, und sie sahen die gleißende Energiesäule, die in den
Himmel schoss, während unmittelbar darauf die Eruption erfolgte und<br />
den Boden erzittern lies. Das alte Lagerhaus schien zu schwanken und<br />
riss sie alle von den Füßen. Sortak prallte zu Boden und Tala fiel auf ihn.<br />
Durch den Lärm der Schreie und Explosionen hörten sie plötzlich<br />
Sturaks Stimme aus, die aus den Kommunikatoren kam. „Artefakt...<br />
außer Kontrolle... Schilde...“<br />
Sortak drückte auf seinen Kommunikator. „Vater!“, rief er. „Vater,<br />
komm da raus!“ Er rappelte sich auf, stieß Tala beiseite und rannte zum<br />
Fenster. Draußen, unter den pechschwarzen Gewitterwolken, war die<br />
Luft erfüllt von Feuerranken, die aus dem zerstörten Dach des Labors<br />
fegten, von Energiespitzen, die in den Himmel emporschossen, von<br />
Lohe, die das Firmament versenkte. Weißes Licht gleißte aus sämtlichen<br />
Fenstern des Labors, weiß, grellrot, blau, das ganze Gebäude schien für<br />
einen Moment zu glühen, ja zu summen. Und dann kam die<br />
Flammensäule.<br />
Eine schäumende Springflut von Dunkelheit und Feuer, wie das erste<br />
Licht des Schöpfungstages, eine Gischt aus purer Energie, strahlend und<br />
sprühend peitschte aus dem Labor hinauf, schlug in den Wolken ein und<br />
verbrannte den Himmel... und gleichzeitig hörten sie die Schreie. Sie alle<br />
hörten sie durch ihre geöffneten Kommuniaktionsverbindungen – die<br />
Schreie, die im Labor erklangen. Es waren Sturak und Grau. Und über<br />
ihre Kommunikationsverbindung hörten sie auch das brausen und<br />
dröhnen eines unfassbaren Höllensturmes, und wie die Schreie abrupt<br />
abschnitten, bevor sie ihre volle Lautstärke erreicht hatten. Und dann<br />
nichts mehr.<br />
Sturak hatte die Augen weit aufgerissen. Hinter ihm sahen sich die<br />
anderen Kadetten an. Sie waren kreidebleich geworden. Jeder wusste,<br />
was der Abbruch der Kommunikation zu bedeuten hatte.<br />
„Oh Gott.“, flüsterte Tala. „Sturak ist tot.“<br />
Die Explosion entging niemandem. In der Mensa unterhielten sich die<br />
Kadetten während des Essens über den Unterricht, und in der nächsten<br />
Sekunde hörten sie den dumpfen Knall einer Detonation und spürten das<br />
Rumpeln des Bodens. Geschirr klapperte, Bildschirme fielen aus,
panische Rufe erfolgten. Überall auf dem Campus, in den Unterkünften,<br />
in den Lehrräumen, in den Sportanlagen, rannten die Kadetten zu den<br />
Fenstern und starrten nach draußen.<br />
Die Flammensäule sahen sie alle.<br />
Er wuchs aus den Überresten dessen, was sie einst als das<br />
Laborgebäude gekannt hatten, schäumte und tobte. Er stand am Himmel<br />
wie der Schatten Gottes, ein brennender, lohender Schatten nicht aus<br />
Dunkelheit, sondern aus grellem Licht. Er stand da, zugleich<br />
erschreckend und herrlich, und blendete alle, die auf ihn blickten.<br />
Der Himmel schien zu rotieren, als er von seiner Macht ausgefüllt<br />
wurde. Die Wolken wurden schwärzer, verkohlten förmlich. Im ersten<br />
Moment sah es so aus, als würde sich direkt über dem Labor, dort, wo<br />
die Flammensäule auf den Himmel traf und ein Loch hineinriss, ein<br />
Tornado bilden, doch der Finger Gottes blieb aus, Stattdessen stülpte<br />
sich der Himmel ein Stück gen Boden, wie ein umgedrehter Abfluss. In<br />
den Wolken begann Energie zu zucken, elektrische Ladungen, die sich in<br />
alle Richtungen ausbreiteten.<br />
Und dann kamen die Blitze und alles rannte und schrie.<br />
Als der erste Blitz mitten im Park in den Boden schmetterte, standen<br />
im Lagerhaus alle an den Fenstern und starrten dorthin, wo sich eben<br />
noch das Laborgebäude befunden hatte, unfähig zu begreifen, was sie<br />
dort sahen. Die Entladung war so heftig, dass sie alle zusammenzuckten.<br />
Dort, wo der Blitz einschlug, ließ er nur verbrannte Asche zurück. Dann<br />
kam ein zweiter, dann ein dritter, sie schlugen überall auf dem Gelände<br />
ein, spalteten Bäume, zerstörten die Schiffe auf den Fluganlagen. Überall<br />
Blitze, immer mehr und mehr, verwüsteten und zerstörten alles in<br />
rasendem Zorn, den nichts zu lindern schien.<br />
Das Lager wurde getroffen, an zwei Stellen gleichzeitig. Ein<br />
grässlicher Donner hallte durch das Gebäude, Konsolen überluden und<br />
explodierten, und große Teile der Decke regneten herab. Shan riss<br />
Durkin gerade noch rechtzeitig beiseite; im nächsten Augenblick<br />
schlugen dort, wo er gerade noch gestanden hatte, schwere Trümmer auf.<br />
Der Rest der Decke rumorte, jeden Moment konnte alles einstürzen.
Draußen heulte eine Sirene auf, sie hörten dumpfe Schreie, überall<br />
Panik.<br />
„Vater ist tot.“, sagte Sortak. Er stand noch immer am Fenster. In<br />
seinem Gesicht war nicht mehr die geringste Farbe. „Er ist tot! Er ist<br />
tot!“<br />
Der Boden schwankte unter ihm.<br />
„Wir müssen hier raus!“, rief Galak und stürmte zur Tür. Sie öffnete<br />
sich nicht. Die Systeme waren ausgefallen. Galak war hysterisch und er<br />
schrie: „Wir stecken in der Falle! Wir stecken in der Falle!“<br />
„Halt die Klappe!“, rief Tala..<br />
„Wir stecken in der Falle!“<br />
Tala scheuerte ihm eine. „Beruhig dich!“ Das schien fürs erste zu<br />
genügen. Er blinzelte, als sei er gerade aus einem Traum erwacht und<br />
hielt sich die schmerzende Wange.<br />
„Ich kann die Türverriegelung nicht deaktivieren.“, sagte Yoko mit<br />
erstaunlicher Ruhe. Seine Finger flogen präzise über das Tastenfeld einer<br />
Konsole. In dem Augenblick, in dem er erkannt hatte, dass sie in<br />
Schwierigkeiten steckten, war seine Zerstreutheit verschwunden. „Durch<br />
den Blitzeinschlag sind alle Systeme ausgefallen.“<br />
„Durkin, du blöder Tellarit! Jetzt!“, brüllte Tala dem Tellariten zu, der<br />
augenblicklich verstand. Er setzte sich in Bewegung und rammte seinen<br />
massigen, schweren Körper der Schulter voraus gegen die Tür. Der<br />
Aufprall genügte, um sie ein Stück zu öffnen, und Galak konnte die<br />
Finger in den Spalt schieben. Er stöhnte und zog mit aller Kraft, und<br />
dann half ihm auch schon Shan. Ein paar Sekunden, die eine Ewigkeit zu<br />
währen schienen, geschah gar nichts. Dann löste die Tür sich plötzlich<br />
aus der Verankerung und es gelang den Kadetten die Türhälften beiseite<br />
zu schieben. „Raus! Alle raus!“, rief Shan.<br />
Überall um sie herum entzündeten sich beschädigte Geräte, und die<br />
Flammen nagten an den uralten Wandverkleidungen. Wotan war als<br />
erstes draußen.<br />
Tala knurrte. „Schon mal was von Ladys First gehört, Pussy Cat?“<br />
Shan packte sie an der Schulter. „Quatsch nicht!“ Sie schob die<br />
Andorianerin nach draußen, wartete, bis auch Galak, Durkin und Yoko<br />
an ihr vorbei waren. Einer fehlte.<br />
Sortak rührte sich nicht. Er stand noch immer am Fenster, schüttelte
ungläubig den Kopf, als wolle er einfach nicht begreifen, was geschehen<br />
war. Shan schirmte sich das Gesicht mit ihrem Arm ab, als sie durch die<br />
bröselnde Decke zu ihm rannte. „Es tut mir leid, Sortak, es tut mir<br />
wirklich leid! Aber wir müssen jetzt gehen!“<br />
Er drehte sich langsam zu ihr um. Lächelte sanft, irgendwie<br />
merkwürdig. „Geh nur, Shan. Rette dich.“<br />
Sie starrte ihn einen Moment lang an. „Machst du Witze? Komm<br />
schon, verdammt!“<br />
Shan riss Sortak beinahe von den Füßen, rannte mit ihm durch dne<br />
Raum und stieß ihn hinaus. Dann folgte sie selbst, und im nächsten<br />
Augenblick stürzte die Decke ein.<br />
Auf dem Korridor versuchten alle wieder zu Atem zu kommen,<br />
keuchten und schwitzen. Sie waren sehr aufgeregt und verängstigt.<br />
Draußen heulten die Sirenen, ständig grollte Donner. Sie hörten entferne<br />
Explosionen, noch immer schlugen überall Blitze ein. Alle drängten um<br />
Shan.<br />
„Das ist schrecklich.“, sagte Tala. „Schrecklich!“<br />
„Wie konnte das nur so schief gehen?“, fragte Wotan.<br />
Galaks Stimme war panisch. „Was passiert hier, nur, was passiert hier<br />
nur?“<br />
„Ich... ich...“, Shan zögerte.<br />
„Es ist dein Artefakt gewesen! Was hat es angerichtet? Was hat es<br />
getan?“<br />
„Ich weiß es nicht, okay!? Ich weiß es nicht! Es... es... vielleicht...“<br />
„Ach!“ Galak winkte wütend ab, drehte sich um und lief energisch den<br />
Korridor hinab.<br />
Tala sah ihm nach. „Wo willst du hin?“<br />
„Hier raus natürlich! Zu den Evakuierungsfahrzeugen, oder etwas<br />
ähnlichem. Irgendjemand wird uns schon in Sicherheit bringen. Wenn<br />
ihr unbedingt hier bleiben wollt, bis das ganze Gebäude zu Asche zerfällt<br />
– bitte. Ich halte euch nicht auf!“<br />
Er erreichte das Ende des Ganges, schob das Schott zum Notschacht<br />
beiseite und-
Etwas großes, weiß-pelziges, und extrem wütend dreinschauendes,<br />
brüllte ihm direkt ins Gesicht. Die anderen schnappten erschrocken nach<br />
Luft. Und obwohl es nur so ähnlich, aber nicht genauso aussah, erkannte<br />
Shan das Tier auf der Stelle wieder. Es war das Monster, dass sie in der<br />
Höhle auf Frigoria angegriffen hatte. Nun, nicht genau das Monster...<br />
aber zweifellos ein sehr naher Verwandter. Galak schlug das Schott zu<br />
und sperrte das Biest aus – für den Moment. Er drehte sich zu den<br />
anderen und sagte: „Wir haben ein Problem.“<br />
„Bei Munipors Mond!“ Durkin wirbelte zu ihnen herum. Er hatte sich<br />
am Ende des Korridors zu dem Panoramafenster begeben. „Seht euch<br />
das an!“<br />
Es geschah überall auf dem Akademiegelände. Die Blitze hatten<br />
bereits weite Teile des Geländes zerstört, Wiesen verbrannt und Bäume<br />
gespalten. Aber es gab noch eine andere Art Blitz, einen, der keinen<br />
Schaden anrichtete. Diese Blitze waren seltener und sie brachten etwas<br />
her, von dem Durkin überzeugt war, dass es sich um den Krognig-<br />
Dämon handelte – eine Kreatur der tellaritischen Mythologie. Diese<br />
Kreatur war ihre Version des Teufels, ein Wesen, beschrieben als<br />
Vierbeiner, mit zotteligem, weißen Fell und scharfen, schrecklichen<br />
Zähnen, in einer langen Schnauze.<br />
Und genau diese Wesen befanden sich plötzlich überall auf dem<br />
Campus, und alle kamen auf die gleich Art an: Der Blitz raste herab,<br />
geräuschlos, und dort, wo er den Boden leckte, stand von einem zum<br />
anderen Moment ein Krognig-Dämon. Und sie befanden sich auf der<br />
Jagd. Durkin und die anderen beobachteten vom Fenster aus mit<br />
Entsetzen, wie die Akademie von den Wesen angegriffen und überrannt<br />
wurde. Überall schrieen Kadetten. Sie rannten panisch umher, einige zu<br />
den Schiffen, die aber genau wie die Verteidigungssysteme – als stecke<br />
Präzision hinter ihnen – von Blitzeinschlägen funktionsuntüchtig<br />
gemacht worden waren. Andere versuchten sich in die Parks zu retten.<br />
Aber kaum einer entrann seinem Schicksal. Gleich nach ihrer Ankunft<br />
brüllten die Tiere, eröffneten die Jagd auf die hilflosen Menschen. Der<br />
Angriff erfolgt mit Brutalität und verblüffender Schnelligkeit.
Ungehindert stürmten sie knurrend und brüllend über das Gelände und<br />
streckten einen wehrlosen Besucher der Akademie nach dem anderen<br />
nieder. Durkin zählte zwanzig, vielleicht dreißig. Und immer mehr<br />
kamen an.<br />
„Nein, das sind keine Dämonen.“, sagte Shan steif. Durkin hatte seine<br />
Gedanken laut ausgesprochen.<br />
„Das sind Tiere.“<br />
„Du kennst sie, Shan?“, fragte Tala.<br />
„Ja. Ja, ich kenne sie. Ich bin einem von ihnen in der Eishölle von<br />
Frigoria begegnet.“ Sie sah Tala ernst an. „Bei dem Artefakt. Es sah ein<br />
wenig anders aus. Die hier sind kleiner, die Körperform stimmt nicht<br />
ganz und die Schnauze ist zu lang. Aber die Ähnlichkeit ist dennoch<br />
verblüffend.“<br />
Durkin schüttelte den Kopf. „Was geht denn hier vor?“<br />
Neben ihm lies Yoko den Tricorder sinken und runzelte nachdenklich<br />
die Stirn. „Wir werden ausgelöscht.“ Er klappte den Tricorder zusammen<br />
und drehte sich zu den anderen. „Ich denke, ich habe jetzt genug Daten<br />
für eine fundierte wissenschaftliche Hypothese. Ich glaube, wir sind<br />
Zeuge der Rache der Götter. Ich glaube, das Urgon ist die frigorianische<br />
Version von Pandoras Büchse.“<br />
Galak blinzelte und starrte den Vulkanier an. „Erklär das.“<br />
„Zuerst, zieht das Artefakt geraume Energiemengen zusammen.<br />
Genug Energie, um in unserer mittleren Atmosphäre einen Wettereffekt<br />
zu erzeugen, der dem eines Blizzards gleicht, um Blitze hervorzurufen,<br />
die nur keine gewöhnlichen Blitze mehr sind, sondern – wie ich vermute<br />
– auf irgendeine Weise interspaziale, oder interdimensionale Portale<br />
öffnen, aus denen die Tiere dort unten hervortreten. Eine andere Theorie<br />
wäre, dass das Artefakt irgendeinen Programmcode in diesen<br />
Wettereffekt geladen hat, und die Blitze öffnen keine Durchgänge in<br />
Parallelwelten, sondern erzeugen selbst diese Tiere. Ich bin mir nicht<br />
sicher. Meiner Einschätzung nach, wird der gesamte Campus in wenigen<br />
Minuten von Horden dieser Wesen überflutet werden und wie es<br />
aussieht, scheinen sie aus einem bestimmten Zweck hier zu sein:<br />
Eroberung. Eine Eroberung, an der auch die Stadt Shangrila zugrunde<br />
ging.“<br />
„Was nicht bedeuten muss, dass hier das gleiche geschieht.“, erwiderte
Tala skeptisch. Sie strauchelte, als der Boden erneut erzitterte. „Es<br />
könnte sonst was sein. Vielleicht haben diese Tiere überhaupt nichts mit<br />
Shans Artefakt zu tun.“<br />
Yoko dachte einige Sekunden darüber nach und schüttelte dann den<br />
Kopf.<br />
„Unwahrscheinlich. Es muss eine Verbindung zwischen der verlorenen<br />
Stadt, dem Urgon, dem Tier aus Shans Erzählung und diesen Wesen hier<br />
geben.“<br />
Hinter ihnen pocht das Monster gegen die Tür. Es kam gleich durch.<br />
Wotan starrte Yoko an. „Was sollen wir jetzt tun?“<br />
Für Durkin, den Tellariten gab nur eine vernünftige Antwort: Selbst<br />
zum Angriff übergehen. „Krognig-Dämonen hin oder her: Ich sage, wir<br />
vernichten sie! Wir besorgen uns Waffen, sammeln uns, oder schließen<br />
uns dem nächsten Sicherheitsteam an und töten sie. Einen nach dem<br />
anderen!“ Er drehte den Kopf zu Sortak, der noch immer leichenblass<br />
war. „Bist du dabei, Sortak?“<br />
Sortak sah ihn lange an. „Bin ich.“, sagte er. „Bin ich auf alle Fälle.“<br />
„Gut! Was ist mit dir, Andorianerin?“<br />
„Ich unterstütze dich lieber moralisch.“<br />
Das schien ihm zu genügen. „Von mir aus! Dann bleiben mehr Gegner<br />
für uns übrig!“<br />
„Halt!“ Yoko sah sie energisch an. „Das könnt ihr nicht tun.“<br />
„Nicht tun, Yoko? Nicht tun?“ Durkin knurrte. „Vielleicht kann ein<br />
schwächlicher Vulkanier wie du das nicht tun, aber ich, als Tellarit,<br />
werde diesen grundlosen, abscheulichen Angriff gebührend beantworten!<br />
Einer der unsrigen ist tot und dieser Verlust schreit nach Rache! Grau<br />
schreit nach Rache! Sturak schreit nach Rache!“ Er hob die Faust.<br />
„RACHE! RACHE!“ In dieser Stimmung wollte er sich Richtung Luke<br />
bewegen, wo noch immer das Tier gegen das Schott hämmerte. Aber<br />
Yoko stellte sich ihm entschlossen in den Weg.<br />
„Yoko.“, knurrte Durkin. „Ich sag’s nur einmal: mach die Bahn frei!“<br />
„Ich kann das nicht zulassen. Ihr dürft sie nicht töten. Es handelt sich<br />
um intelligente Wesen. Die Sternenflotte existiert zu einem einzigen<br />
Zweck: Brücken zwischen intelligenten Lebewesen aufzubauen. Wir<br />
dürfen das Fremde nicht bekämpfen. Wir müssen versuchen, einen<br />
Kontakt herzustellen. Irgendwie mit ihnen zu kommunizieren! Was auch
immer sie wollen – vielleicht können wir sie davon überzeugen, uns in<br />
Ruhe zu lassen.“<br />
Durkin jaulte „Aber es sind bloß Tiere.“, protestierte er. „Tiere sind<br />
nicht intelligent.“<br />
„He!“, machte Wotan.<br />
„Anwesende natürlich ausgeschlossen.“<br />
„Richtig.“, warf Tala ein. „Die sind nur feige.“<br />
Wotan bedachte sie mit einem bösen Blick, zog sich aber mit<br />
hängenden Ohren wieder beschämt zurück.<br />
„Wir müssen unsere toten rächen, und nicht reden!“, brüllte Durkin,<br />
woraufhin selbst Yoko erstaunlich energisch zurückargumentierte. Dann<br />
fauchten sich plötzlich alle gegenseitig an, schrieen durcheinander,<br />
beleidigten und drohten.<br />
Shan hörte kaum hin. Nur für den Moment eines Herzschlages – und<br />
aus Gründen, die sie nicht verstand -, erlebte sie einen klaren Moment.<br />
Einen Moment, in dem sie nicht mehr während der Katastrophe im<br />
Korridor des Lagerhauses stand. Einen Moment, in dem sie in ihrer<br />
Vergangenheit war und ihre Ausbilder, ihren Vater, ja sogar Gärtner<br />
Boothby zu sich sprechen hörte. Und einen Moment in dem sie begriff.<br />
„Zweifeln sie niemals an sich selbst.“, warnte Tuvok vorne am Pult.<br />
„Und wenn sie einmal am Boden liegen – und das werden sie zweifellos<br />
-, vertrauen sie auf ihre Kameraden.“<br />
„Du kannst alles schaffen.“, Mueller legte ihr eine Hand auf die<br />
Schulter. „Wenn du es nur willst.“<br />
Und sie hörte ihren Vater: „Wissen Sie, die Entscheidung, die Sie<br />
treffen, ist nicht halb so wichtig, wie die Tatsache, dass sie eine treffen.<br />
Egal ob richtig oder falsch – bleiben sie bei der Entscheidung. Wenn sie<br />
zögern, schwammig erscheinen, die Unsicherheit ziegen, die immer<br />
irgendwo mitschwingt, dann entmutigen sie ihre Mannschaft.“<br />
Aber vor allem sah sie...<br />
...sich selbst. Wie sie älter war. Entschlossener. Besser. Die Frau, diese<br />
anmutige Frau, blickte auf sie herab, erwachsen und stark.<br />
„Du musst es ja doch machen.“, sagte sie. „Also mach es gleich... und<br />
mach es richtig.“<br />
Sie lächelte, verblasste... verblasste... und dann war Shan plötzlich<br />
zurück - in die Realität geschleudert durch Durkins barsches Gebrüll:
„RACHEEE! RACHEEE!“<br />
Und Yoko sagte: „Ich kann das nicht zulassen!“<br />
Und Durkin blaffte: „Ist mir egal, versuch doch mich aufzuhalten!“<br />
Und Galak jammerte: „Wir werden hier sterben!“<br />
Und Tala schrie: „Wie willst du das bewerkstelligen, du tellaritischer<br />
Trottel? Dang! Keine Waffen, keine Verstärkung, keine Hoffnung. Was<br />
für Mittel haben wir denn noch?“<br />
„Mich.“<br />
Es war Shan, die das gesagt hatte. Alle drehten die Köpfe zu ihr<br />
herum. Sie waren so sehr mit Zanken beschäftigt gewesen, dass sie Shan,<br />
die einzige, die sich nicht beteiligte, vergessen hatten. Nun trat sie einen<br />
Schritt vor, mit beachtlicher Entschlossen- und Selbstsicherheit. „Wir<br />
werden weder einen Rachefeldzug starten, noch blindlings auf diese<br />
Tiere zugehen, in der Hoffnung, dass sie uns zuhören, anstatt uns zu<br />
zerfleischen. Nein, wir werden etwas anderes tun: Wir werden diese<br />
interdimensionalen Risse, oder was es auch immer sein mögen, schließen<br />
und retten, was zu retten ist! Du willst kämpfen, Durkin?“ Sie richtete<br />
ihren Blick auf den Tellariten. „Viel Glück! Du wirst keine zehn<br />
Sekunden überleben. Ich war bereits mit diesen Tieren konfrontiert. Sie<br />
sind schnell, gerissen und brutal. Einen Tellariten wie dich verspeisen sie<br />
zum Frühstück.“<br />
Durkin schäumte. Er wollte eine passende Antwort krakeelen, aber<br />
Shan wandte sich einfach von ihm ab und Yoko zu. „Yoko, du sagtest,<br />
das Artefakt würde seine Energie aus der Akademie beziehen.“<br />
„Aus den Energiegeneratoren, ja.“<br />
„Wenn wir diese Generatoren also abschalten würden... wäre es dann<br />
vorbei?“<br />
Der Vulkanier dachte einen Moment nach. „Möglich, ich bin nicht<br />
sicher. Die Energiesäule in den Himmel jedoch, weist darauf hin, dass<br />
sie von Nöten ist, um den Blizzard zu kontrollieren und aufrecht zu<br />
erhalten. Wenn die Energiezufuhr abbricht, besteht die Möglichkeit, dass<br />
sich die Atmosphäre wieder normalisiert und die Vorgänge stoppen.<br />
Doch es gibt ein Problem: Die Generatoren müssen manuell abgeschaltet<br />
werden, denn die Automatik ist zerstört.“<br />
„Wie viele Generatoren? Wo sind die?“<br />
„Es müsste genügen die beiden Hauptgeneratoren zu deaktivieren, die
Hauptsromversorger des Akademiegeländes. Einer liegt unterirdisch, in<br />
der Nähe der Flughalle. Der andere befindet sich hinter der Akademie in<br />
unmittelbarer Nähe der Cochrane-Statue.“<br />
„Klingt für mich nach einem Plan.“<br />
„Warte Shan“, warnte Yoko. „Da ist noch etwas. Das Artefakt hat<br />
schon einmal einen Weg gefunden, unbemerkt Energie anzuziehen und<br />
zu horten. Wer weiß, wie groß der Energiespeicher noch ist, und welche<br />
Möglichkeiten diese Technologie besitzt. Vielleicht reagiert es sogar<br />
äußerst empfindlich, wenn es... einfach den Strom abgestellt bekommt.<br />
Es könnte explodieren und den ganzen Campus vernichten. Vielleicht<br />
ganz San Francisco.“<br />
Galak starrte ihn an. „Du willst das Teil also... was? Zerstören? Aus<br />
der Sensorkammer entfernen, damit es San Francisco nicht in Schutt und<br />
Asche legt? Du willst du mir einen Bären aufbinden, oder?“<br />
„Ich sehe keinen logischen Grund, ein wildes Tier an deinen Körper zu<br />
fesseln.“, erklärte Yoko stirnrunzelnd.<br />
„Shan, das kann doch unmöglich dein Ernst sein.“<br />
„Doch, Galak.“, antwortete sie. „Das ist mein Ernst.“<br />
„Das ist Wahnsinn! Lass es andere tun! Warum willst du das<br />
unbedingt selbst machen?“<br />
Shan prüfte, ob ihr Schwert richtig saß, dann sah sie ihn an. „Weil die<br />
anderen vielleicht auch alle sagen: lass es andere machen? Und dann<br />
macht es niemand. Wir sind hier, wir haben das Wissen, wir haben den<br />
Plan, wir haben eine Chance.“<br />
„Bist du verrückt? Du musst verrückt sein! Du kannst nicht zwei<br />
Generatoren ausschalten und dann auch noch das Artefakt zerstören. Auf<br />
der anderen Seite des Campus! Das zu schaffen ist unmöglich. Die<br />
Blitze, die Tiere...“<br />
„Deswegen brauche ich auch eure Hilfe. Von jedem einzelnen. Wir<br />
werden das gemeinsam tun.“<br />
Alle starrten sie an, als hätte Shan den Verstand verloren.<br />
Sie sog die Luft geräuschvoll ein, sah einen nach dem anderen an.<br />
„Egal wie sehr wir uns alle verkracht haben, jetzt müssen wir zusammen<br />
halten! Das ist es doch, worum es in der Sternenflotte geht, oder nicht?<br />
Die Ressourcen verschiedener Welten zu einigen, um ein gemeinsames<br />
Ziel zu erreichen. Hier ist unsere Chance dazu! Ihr seit mehr, als nur eine
Gruppe wandelnder Uniformen. Jeder einzelne von euch ist etwas<br />
besonderes, mit einzigartigen Fähigkeiten und der Möglichkeit ein Held<br />
zu sein. Die Sache ist nur, selbst Helden fürchten sich. Glaubt nicht, mir<br />
würde die Vorstellung gefallen, erneut gegen diese Wesen anzutreten.<br />
Ich habe Angst. Ich habe sogar sehr große Angst. Ich hatte auch auf<br />
Frigoria Angst, aber diese Angst hat mich nicht davon abgehalten,<br />
trotzdem zu tun, was erforderlich war!<br />
Ihr müsst jetzt auch mehr sein. Ihr dürft keine Furcht zulassen. Ihr<br />
dürft nicht eine Sekunde lang an euch zweifeln. Jeder von euch muss<br />
sich vorstellen, dass wir dies hier schaffen und überleben. Stellt es euch<br />
vor, und haltet an diesem Gedanken fest. Benutzt ihn als eine Quelle der<br />
Stärke, um über die Ängste, die ihr empfindet, oder zu empfinden glaubt,<br />
zu triumphieren.<br />
Und bedenkt folgendes: Wir sind hier, um in die Fußstapfen unserer<br />
Helden und Vorbilder zu treten, vielleicht sogar unserer Eltern. Und<br />
diese Legenden, haben durch die Jahrhunderte immer wieder in<br />
Situationen gekämpft, in denen die Chancen beträchtlich gegen sie<br />
standen. In denen sogar die Götter gegen sie standen. Die der Menschen,<br />
die der Andorianer, selbst die der Tellariten. Und dennoch haben sie am<br />
Ende den Sieg davon getragen und wurden zu den größten und<br />
epischsten Helden, die je existierten. Anstatt sich zu fürchten, solltet ihr<br />
euch bewusst machen, dass wir alle zusammen und gemeinsam die Ehre,<br />
das Privileg und die pure Pflicht besitzen, an dem Ort, wo solche Helden<br />
ihren Weg beginnen – der Akademie -, in ihre Fußstapfen zu treten und<br />
etwas besonderes zu werden. Und ihr werdet sagen können >Ich war da.<br />
Ich habe etwas bewegt. Ich habe keinen dummen Alleingang hingelegt,<br />
sondern mit diesen Leuten gekämpft. Ich stehe nicht mehr länger in<br />
jemandes Schatten.
Er sah sie lange an, und obwohl er nichts sagte, nur nickte, schenkte er<br />
ihr den größten aller Vertrauensbeweis: Er salutierte.<br />
„Ich bin auch dabei.“, sagte Yoko als nächster, was Tala insgeheim<br />
sehr erstaunte. Sie hatte den kleinen Vulkanier nie als mutigen Mann<br />
gesehen. Eher als maskuline Frau. So wie Shan. Zu ihrer Verwunderung<br />
machte selbst Wotan diesmal keinen Rückzieher und war gewillt zu<br />
helfen, denn er nickte. Wenn auch schwerfällig.<br />
„Galak?“, fragte Shan den letzten.<br />
Der Orsorianer besaß weniger vertrauen in sie als die anderen. „Ich bin<br />
nur halb so ein Idiot, wie ein solches Unterfangen verlangt! Zehn Prozent<br />
deines Plans ist Wahnsinn, fünfzig Prozent deiner Zuversicht sind nicht<br />
genug, und hundert Prozent tot ist tot. Ich will nicht sterben, Shan.“<br />
„Ich auch nicht, Galak. Ich auch nicht. Und ich will dass wir alle<br />
diesen Plan überleben. Bist du dabei oder nicht?“<br />
Er seufzte. „Was soll ich machen? Wo ihr alle ja sagt, kann ich ja<br />
kaum einen Rückzieher machen. Wie würde das denn aussehen?“<br />
„Gut! Tala, Durkin, ihr begebt euch zum östlichen Generator. Galak,<br />
Sortak, ihr übernehmt den anderen.“<br />
„He!“, protestierte Galak. „Warum muss ich mit ihm-“<br />
„Weil du weißt, wo die Statue ist.“<br />
„Sollte ich nicht lieber mit Tala-“<br />
„Nein! Ich habe nicht vergessen, was ihr getan habt, und wenn das hier<br />
vorbei ist, werde ich einen von euch umbringen. Im Moment brauchen<br />
wir uns jedoch. Ihr geht getrennt. Ich übernehme das Artefakt.“<br />
Wotan staunte nicht schlecht. „Du bist verdammt mutig.“<br />
„Nein, Wotan.“, erwiderte Shan. „Aber es gibt jetzt wichtigeres als<br />
sich zu ängstigen.“<br />
„Du hast recht. Und ich werde dich begleiten.“<br />
Sie stutzte. „Bist du sicher? Das wird nicht schön werden. Diese Tiere<br />
sprechen eine gewalttätige, starke Sprache. Erwachseneninhalt.“<br />
„Ich war, wie du weißt, selbst mal ein Raubtier und ich habe keine<br />
Neigung weiterhin die Pussy-Cat zu sein. Ich komme mit dir.“<br />
Yoko nickte beipflichtend. „Ich begleite euch ebenso. Wenn wir die<br />
Tiere stoppen können, ohne sie zu verletzten, dann bin ich dabei.<br />
Außerdem... im Falle einer Krise halten Außenseiter zusammen. Das ist<br />
nur... logisch.“
Shan lächelte. Sie ging zu einer Tür, die zu einem anderen Notschacht<br />
führte, zog ihr Schwert und rammte die Klinge in den Türschlitz. Sortak<br />
war sofort zur Stelle und half, die Tür zu öffnen. Beide sahen hinein. Der<br />
Schacht glühte rot. Kein Monster da. Shan wandte sich wieder den<br />
anderen zu. „Wir glauben an uns. Wir werden triumphieren. Keine<br />
Zweifel. Keine Unsicherheit. Keine Verluste!“ Sie lies die Worte noch<br />
einmal wirken und nickte dann. „Okay, jeder weiß, was zu tun ist. Viel<br />
Glück.“<br />
„Euch auch.“<br />
Sie kletterten die Leiter herab und dann trennten sich ihre Wege.<br />
Während Shan, Yoko und Wotan zum Ausgang rannten, und Galak und<br />
Sortak die unterirdischen Korridore nach links verfolgten, nahmen Tala<br />
und Durkin die Abzweigung in die andere Richtung. Alles war still und<br />
verlassen. Die Beleuchtung war matt, der Alarm glühte.<br />
„Nette Rede!“, bemerkte Tala, während sie durch die Korridore eilten.<br />
„Ein Tick zu viel Yankee-Doodle, aber durchaus beeindruckend.“<br />
Durkin brummte. „Typisch Menschen. Müssen immerzu Predigen<br />
halten.“<br />
„Ach so? Machen das Tellariten etwa nicht um ihre Leute zu<br />
ermutigen, bevor sie in die Schlacht ziehen?“<br />
„Selbstverständlich nicht!“, erwiderte Durkin. „Wir setzen sie einfach<br />
unter Drogen.“<br />
„Oh.“, machte Tala. „Nun... das hätte sicher auch funktioniert, schätze<br />
ich.“<br />
Was habe ich nur dabei gedacht? Die Frage pulsierte durch Shans<br />
Geist, als sie mit Yoko und Wotan im Ausgang stehen blieben und das<br />
ganze entmutigende Ausmaß der Katastrophe sahen. Ihr wurde<br />
schmerzlich bewusst, dass Tapfer klingen und sich tapfer fühlen, zwei<br />
völlig verschiedene Dinge waren.<br />
Überall um sie herum herrschte Chaos, als die Bewohner der<br />
Akademie, die nur wenige Minuten zuvor noch friedlich ihrem Alltag<br />
nachgegangen waren, nun kreuz und Quer rannten, kreischten, Befehle<br />
blafften und von den endlosen Blitzeinschlägen zu Boden gerissen
wurden. Vom Sternenflottenkommando, gegenüber des Campus, war fast<br />
nichts übrig geblieben. Das Gebäude war von mehreren Blitzen getroffen<br />
worden und in einer finalen, Ohrenbetäubenden Explosion in tausend<br />
Stücke gesprengt worden. Niemand wusste, wie viele bereits tot waren,<br />
aber es bestand kein Zweifel, dass die Zahl mit jeder verstreichenden<br />
Sekunde drastisch stieg.<br />
Verantwortlich dafür waren die Tiere. Abgerichtete Wächter, als<br />
Kampfmaschinen gezüchtet, rücksichtslos und unbestechlich. Immer<br />
mehr von ihnen trafen ein, jagten die Hilflosen Kadetten und Offiziere<br />
brutal durch die Anlage und streckten alles nieder, was in die Reichweite<br />
ihrer Fänge und Klauen geriet. Die Menschen an der Akademie hatten<br />
nicht die geringste Chance. Der Angriff kam für sie völlig überraschend<br />
und erfolgte in verblüffender Schnelligkeit. Welle um Welle trafen<br />
immer neue Tiere ein. Für sie sind wir nur Schlachtfieh, dachte Shan.<br />
Eine fremde Art, für die sie kein Empfinden haben, auszurottende<br />
Schädlinge. Für die Tiere war es unerheblich, aus welchen Gründen sie<br />
hergebracht wurden, und warum sich Menschen an diesem Ort befanden.<br />
Sie töteten nicht, um sich Nahrung zu beschaffen, sich zu verteidigen,<br />
oder ihre Jungen zu schützen – sie töteten, weil man sie dazu abgerichtet<br />
hatte. Und ausgerechnet Shan hatte ihnen ermöglicht, ihrer Pflicht<br />
nachzukommen. Im Zentrum der Föderation.<br />
Was habe ich getan? Was habe ich getan? Wieder und wieder<br />
schossen diese Worte durch ihren Geist. Sie zwang den Aufruhr in ihrem<br />
Kopf zur Ordnung. Konzentrier dich! Dafür ist später noch Zeit.<br />
Wotan neben ihr knurrte nur und betrachtete fassungslos das<br />
Geschehen, genau wie Yoko. Schreie drangen an ihre Ohren und von<br />
irgendwo eröffneten mutige Sicherheitsoffiziere, die sich diszipliniert<br />
und schnell gesammelt hatten, den Beschuss aus ihren Gewehren. Das<br />
Mündungsfeuer verklang genauso schnell wieder, wie es erschallte, als<br />
die Tiere über sie herfielen. Es folgte ein Knurren, ein Gurgeln und dann<br />
nichts mehr. Die Offiziere waren tot. Der Gegenangriff vernichtet, bevor<br />
er richtig begonnen hatte. Woanders heulten Sirenen los. All das und<br />
unzählige tragische Schicksale mehr, spielte sich innerhalb weniger<br />
Augenblicke ab. Während sie die Tiere beobachtete, schmetterte ein<br />
Blitz direkt unmittelbar vor ihnen in einen Baum und spaltete den<br />
Stamm. Der Glanz war so grell, dass Shan grüne Streifen vor ihren
Augen sah.<br />
„Drinnen wären wir sicherer...“, stellte Yoko fest.<br />
„Nein.“, sagte Shan fest. „Kein Rückzug. Wir müssen da jetzt durch.<br />
Wir müssen das hier zu einem Ende bringen. Retten was noch zu retten<br />
ist – ganz egal, was aus uns wird.“<br />
„Und wie sollen wir da lebendig rüberkommen?“<br />
Shan folgte Yokos Blick zum Laborbereich. Das Gebäude lag auf der<br />
anderen Seite des Parks. Weit entfernt, dachte sie. So schrecklich weit<br />
entfernt. Yoko teilte ihre Gedanken: „Wir werden zu Fuß nicht schnell<br />
genug sein, um den Blitzschlägen und Tieren auszuweichen.“<br />
„Ihr vielleicht nicht.“, sagte Wotan. Er sah mit grimmigem<br />
Gesichtsausdruck zu ihnen auf. „Ich schon.“<br />
Shan fragte: „Denkst du, was ich auch denke?“<br />
„Denke schon.“<br />
„Kannst du uns denn tragen? Hälst du das aus?“<br />
„Ich schaff das. Ganz sicher.“<br />
„Gut, dann-“<br />
Ein paar Hundert Meter rechts von ihnen ragte die Stellarabteilung in<br />
die Höhe – ein großes, gläsernes Gebäude mit etlichen Sensoren und<br />
Antennen auf dem Dach. Ein Blitz schmetterte mit furchterregendem<br />
Krach herab, traf irgendein empfindliches System wie eine Bombe, was<br />
zu einer verheerenden Kettenreaktion führte. Einen Moment später war<br />
das Gebäude fort, untergegangen in einer zum Himmel bleckenden<br />
Flammenzunge.<br />
„Grozit!“, fluchte Shan. „Los, machen wir’s, bevor es nichts mehr<br />
gibt, was wir retten können.” Sie sprang auf Wotans Rücken. Yoko<br />
kletterte hinter sie und umschlang ihre Hüfte mit seinen Armen. Shan<br />
konnte sich nirgends festhalten. Sie fühlte Panik. Wie sollte sie sich auf<br />
Wotan halten, wenn er losrannte?<br />
Er rief: „Krall dich an meinem Fell fest.“<br />
„Tut dir das nicht-“<br />
„Mach schon!“<br />
Ein anderer Blitz krachte vom Himmel herab, traf einen Kadetten, der<br />
sich auf der Flucht vor einem der Tiere befand, und ließ nur das<br />
verkohlte Fleisch der Leiche übrig. Vielleicht würde sie dasselbe
Schicksal ereilen, dachte Shan. Aber es gab kein Zurück mehr. Jetzt oder<br />
nie. Sie trat Wotan mit den Stiefelhacken in die Seite. „Los!“<br />
Wotan brüllte und wetzte los. Direkt in die Blitze hinein.<br />
Es geschah alles so schnell, dass Sortak kaum Zeit hatte, zu<br />
verarbeiten, was passiert war. Im einen Moment, hatten sie noch<br />
routinearbeiten durchgeführt, jeder von ihnen auf irgendeine Art mit dem<br />
jeweils anderen verkracht. Und in der nächsten Sekunde stand die<br />
Akademie in Flammen! Der Moment, als die Energiesäule explodiert<br />
war...<br />
...bei den Sternen!<br />
Sturak. Sturak und Grau waren mitten drin gewesen. Das ... das<br />
konnten sie unmöglich überlebt haben. Sortak schob den Gedanken<br />
schnell beiseite. Er durfte sich jetzt nicht der Trauer hingeben. Noch<br />
nicht. Zunächst hatten sie eine Aufgabe. Es wäre ihm egal gewesen, was<br />
mit den anderen geschieht. Aber ihm war nicht egal, was Shan geschah.<br />
Sie hatte einen Plan und er würde ihr helfen, ihn auszuführen, damit sie<br />
überlebte. Sie war die einzige, die ihm noch geblieben war. Jetzt, nach<br />
Sturaks offensichtlichem Tod... war sie die einzige, die etwas zählte.<br />
„Ich will diesen Biestern nicht wirklich begegnen.“, sagte Galak hinter<br />
ihm und blickte immer wieder nervös über die Schulter. Er war sichtbar<br />
ängstlich. Schweiß rann seinen Körper herab und seine Bewegungen<br />
waren fahrig. Sortak hingegen erlitt eine gewisse Lethargie. Er versuchte<br />
sich einfach auf das Ziel zu konzentrieren: Den Generator zu erreichen<br />
und abzuschalten. Und das möglichst, ohne auf Gegner zu stoßen, da<br />
ihnen keine Waffen zur Verfügung standen.<br />
Sie waren in einen unterirdischen Verbindungstunnel geklettert und<br />
schlichen nun durch gespenstische Düsternis. Vor einer Minute waren<br />
die Lichter über ihnen flackernd erloschen. Nur noch der rote Alarm<br />
glühte auf und zauberte eine düstere Ambiente herbei. Alles war still.<br />
Die Explosionen über ihnen, drangen nur gedämpft zu ihnen, wie aus<br />
weiter Ferne.<br />
Auf einmal schnappte Galak nach Luft. „Hast du das gehört?“
Sortak blieb stehen und wandte sich um. Er spitzte die Ohren. Nichts.<br />
Alles war still. Alles war ruhig. Er schüttelte den Kopf. Und dann, in den<br />
Schatten hinter ihnen, sah er eine Bewegung. Dann noch eine.<br />
Anschließend hörten sie das Scharen von Krallen. Die Tiere! Sie waren<br />
hier unten. Und hinter ihnen her. Die alptraumhaften Kreaturen waren<br />
vor ein paar Sekunden noch nicht da gewesen, aber nun sah Sortak sie<br />
aus verschiedenen Eingängen und Notschächten springen. Ihre schweren<br />
Körper schälten sich einer nach dem anderen aus den Schatten. Sie<br />
knurrten Galak und Sortak an, bellten und rissen gierig ihre Mäuler auf.<br />
„Wir könnten ein Problem haben.“, äußerte Sortak.<br />
Und dann sprangen die Tiere los.<br />
„Lauf, lauf!“, schrie Sortak. Und rannte.<br />
Wotan entwickelte ein beachtliches Tempo. Er stürmte direkt durch<br />
den Park, die Nasenflügel gebläht, die Ohren angelegt. Shan konnte sich<br />
kaum auf seinem Rücken halten. Ihre Finger gruben sich tief in sein Fell,<br />
rissen ganze Büschel heraus, aber es schien Wotan nichts auszumachen –<br />
oder aber er ignorierte den Schmerz. Ein Blitz drosch direkt vor ihnen<br />
nieder und explodierte in einem Mast. Metall kreischte, und das ganze<br />
Ding kippte seitlich zu Boden, drohte sie unter sich zu begraben.<br />
Wotan schnellte herum, wich nach rechts aus. „Aufpassen!“<br />
Shan sah die Hecke im letzten Moment. Sie riss die Arme hoch, im<br />
gleichen Moment, als Wotan sich abstieß, so feste er konnte, und in sie<br />
hineinsprang. Äste und Blätter schlugen ihr ins Gesicht. Sie hörte, wie<br />
Yoko hinter ihr überrascht nach Luft schnappte. Plötzlich waren sie<br />
durch, auf der anderen Seite. Und dann geschah alles wie in Zeitlupe.<br />
Shan öffnete einen Spaltweit die Augen. Und riss sie dann ganz auf<br />
vor Schreck. Unter ihnen klaffte ein Abgrund! Hinter der Hecke lag der<br />
Boden gut sieben, vielleicht acht Meter tiefer. Shan wusste nicht, ob<br />
Wotans Gelenke diesen Sturz verkraften, oder sie sich nun alle Knochen<br />
brechen würden. Die Zeit schien still zu stehen. Selbst das gewaltige<br />
Bewegungsmoment des Sprunges, mit dem sie durch die Luft gen Boden<br />
flogen, verlor sich für Shans Sinne. Alles war wie in Bernstein gefangen,<br />
oder an die Peripherie einer Raum-Zeit Anomalie geheftet. Eine halbe<br />
Millionen Ängste rangen in Shan um die Vorherrschaft. Und dann, mit
einem jähen Krachen, geriet die Realität wieder in Bewegung. Der<br />
Augenblick von Zeitlosigkeit fand ein abruptes Ende, als Wotans<br />
Vorderpfoten den Boden berührten. Seine Muskeln schrieen beim<br />
Aufprall auf, seine Gelenke entfachten ein Feuerwerk aus Schmerz hinter<br />
seinen Schläfen. Aber er stürzte nicht. Er preschte einfach weiter. Das<br />
war sein Tag. Das war seine Stunde. Diesmal würde er sich nicht<br />
zurückziehen.<br />
Wotans Beine, vagen Schemen gleich, brachten sie in Windeseile über<br />
den Platz, auf Kadettenunterkünfte zu. Um sie herum flohen Schüler in<br />
alle Himmelsrichtungen – so gut wie jeder von ihnen im Schock, die<br />
meisten mit Blut, oder Ruß bedeckt. Und Schreie, überall Schreie!<br />
Wotan steuerte näher an das Gebäude heran, um dem Durcheinander<br />
zu entgehen. Sie jagten die gläserne Fassade entlang, als ein weiter Blitz<br />
mit unfassbarer Wucht vom Himmel herabfuhr, in dem Bauwerk<br />
einschlug, es erschütterte und sämtliche Fenster bersten lies. Splitter<br />
prasselten auf Wotan, Yoko und Shan nieder. Yoko brachte seine Lippen<br />
nahe an ihr Ohr und schrie etwas. Aber sie konnte ihn durch das Poltern<br />
des Donners nicht verstehen, nicht ein Wort! Donner! Sie wollte keinen<br />
weiteren Blitzeinschlag mehr, nicht jetzt, nicht so nahe. Wotan wetzte<br />
wieder nach links, vom Gebäude und den Glasscherben auf dem Boden<br />
weg. Er war reingetreten, hatte sich verletzt. Sie zogen eine Blutspur<br />
hinter sich her. Aber er wurde noch immer nicht langsamer. Es war nicht<br />
mehr weit. Nicht mehr weit!<br />
Das Dach des Labors ragte bereits vor ihnen auf. Die Energiesäule<br />
wuchs noch immer aus dem Gebäude heraus, loderte direkt in den<br />
Himmel hinein. Es war nicht mehr weit! Es war nicht mehr weit! Yoko<br />
brachte seinen Mund erneut an sie heran und deutete mit dem Finger an<br />
ihr vorbei, schräg nach vorne. Und schließlich verstand sie, was er sagte,<br />
noch bevor er es aussprach. Denn sie sah sie nun auch.<br />
„Achtung, Tiere!“<br />
Eine ganze Gruppe von ihnen, fünf Stück. Sie lauerten auf der<br />
Anhöhe, rannten nun los. Sie bewegten sich fürchterlich schnell, so<br />
schnell! Wotan bemerkte sie nicht, er war zu sehr auf ihr Ziel<br />
konzentriert – er blickte einfach nicht nach oben.<br />
Shan fluchte. „Scheiße!“ Sie griff nach ihrem Schwert am Gürtel.
Und dann waren die Tiere plötzlich da. Die Luft erzitterte, als das erste<br />
brüllte und heransprang. Shan duckte sich ruckartig – genau wie Yoko -,<br />
und holte verzweifelt mit der Klinge aus. Das Tier sprang knapp über sie<br />
hinweg, das Schwert jedoch schnitt eine tiefe Wunder in sein Bein. Das<br />
Tier jaulte. Es konnte vor Schmerz seinen Sturz nicht mehr abfangen und<br />
schlug hart auf. Sein Kopf prallte mit einem abscheulichen Pochen auf<br />
den Beton und der Schädel platzte. Die anderen Tiere waren vorsichtiger,<br />
sprangen erst herab, nachdem Wotan, Shan und Yoko an ihnen<br />
vorbeisausten und nahmen dann die Verfolgung auf.<br />
Wotan legte noch einen Zahn zu. Sie erreichten wieder offenes Feld.<br />
Das Labor lag direkt vor ihnen. Shan warf einen Blick über die Schulter<br />
– der Abstand zwischen ihnen und den Tieren wuchs. Vielleicht würden<br />
sie es nach drinnen schaffen, ehe die Tiere sie erreichten. Vielleicht, nur<br />
vielleicht. Sie wollte ihren Blick wieder nach vorne richten, als ein Blitz<br />
so nahe bei ihnen in den Boden schmetterte, dass die Druckwelle Shan<br />
und Yoko seitlich von Wotan warf. Sie verlor ihr Schwert, prallte hart<br />
auf, überschlug sich. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen.<br />
Sie spürte einen Schlag, als hätte ihr jemand einen Hammer in den<br />
Magen gerammt. Der Schmerz trieb sie an den Rand der<br />
Bewusstlosigkeit und für einen Moment sah sie Sterne. Das Gebrüll des<br />
Donners war Ohrenbetäubend. Es hielt Shan im Hier und Jetzt. Sie<br />
keuchte, zwang sich auf Hände und Knie.<br />
„Steh auf.“<br />
Yoko war plötzlich neben ihr, griff Shan unter die Arme und half ihr<br />
auf die Beine zu kommen. Er deutete auf das Labor. Es war direkt vor<br />
ihnen. „Wir haben es geschafft, wir sind da!“<br />
Und dann hörten sie hinter sich das Gebrüll. Ihre Köpfe flogen herum.<br />
Die Tiere kamen direkt auf sie zu. Shan und Yoko wirbelten herum,<br />
rannten los. Wotan stand nahe des Eingangs auf den Hinterpfoten,<br />
winkte, drängte sie zur Eile. „Kommt! Schnell, schnell!“<br />
Ein weiterer Blitz sauste herab, schlug in das Labor ein und<br />
verwandelte einen Teil des fünften Stockwerks in einen Haufen Asche.<br />
Shan kam ins Trudeln, stolperte auf den Eingang zu. Dann sah sie die<br />
Bewegung aus den Augenwinkeln: plötzlich sprang eines der Tiere aus<br />
einem Fenster der zweiten Etagen und landete in eine Meer aus Scherben
direkt vor ihnen. Es schnitt ihnen den Weg ab, riss sein Maul auf und<br />
fauchte. Von hinten näherten sich die andere, hatten sie fast erreicht.<br />
Wotan zögerte nicht: Er wirbelte herum und sprang dem wilden Ding<br />
in die Seite. Es wurde zu Boden geschleudert, aber es kam sofort wieder<br />
auf die Beine und schüttelte sich. Bevor sich Wotan richtig orientieren<br />
konnte, waren die anderen Tiere heran. Eines sauste durch die Luft.<br />
Yoko brachte sich mit einer Seitwärtsrolle knapp in Sicherheit. Dafür<br />
stand nun Shan direkt in seiner Flugbahn. Sie riss die Augen weit auf.<br />
Das war’s! Das war ihr Ende. Sie konnte sich nicht mehr ausweichen,<br />
nicht mehr fliehen. Shan hatte sich immer gefragt, wie sie aus dem<br />
Leben scheiden würde. Wie es enden würde. Manche Menschen<br />
behaupteten, dass sie vor ihren Auge ihr Leben an ihnen vorbeiziehen<br />
sehen würde, wenn sie dem Tod ins Angesicht sahen. Shan sah ihr Leben<br />
vor ihren Augen nicht an sich vorbeiziehen. Das einzige, was sie vor<br />
ihren Augen sah, waren zwei Tigerpranken.<br />
Wotan packte von hinten den Hals des Tieres, noch während es<br />
sprang, und drehte ihm in einer ruckartigen Bewegung den Kopf herum.<br />
Ein lautes Knacken war zu hören, und nur kurz spiegelte sich die<br />
Verwunderung darüber in den aufgerissenen Augen des Tieres über,<br />
bevor es Tot zur Seite sackte.<br />
„Los rein!“, rief Wotan. Die anderen Tiere kamen heran. „Rein!“<br />
Shan und Yoko brauchten keine weiter Aufforderung. Sie wirbelten<br />
herum, Arme und Beine flogen. Animalisches Brüllen dröhnte hinter<br />
ihnen. Dann waren sie im Gebäude. Endlich drin, dachte Shan. Endlich<br />
drin! Sie hörte, wie jemand die Tür hinter ihnen zuschlug und<br />
verriegelte. Dann dumpfes Gebrüll und Donner von draußen. Shan<br />
drehte sich um. Neben der Tür stand nur Yoko.<br />
Wotan war noch draußen!<br />
Mit einem Satz war Shan an der Tür. Sie glitt nicht auf. Shan schlug<br />
auf den manuellen Öffner. Auch weiterhin blieb die Tür verschlossen.<br />
Jemand hatte draußen die Verriegelung aktiviert - Wotan! Panik stieg in<br />
Shan auf. Sie wollte ihn nicht zurücklassen! Nicht ihn, nicht
ausgerechnet Wotan! Shan wirbelte zu Yoko herum, um ihn zu fragen,<br />
ob er die Tür-<br />
Und in dem Moment schlug ein Blitz durch das zerstörte Dach ein,<br />
krachte durch die Etagen und lies blaue Energiefäden in alle Richtungen<br />
zucken. Das Licht flackerte, fiel aus. Shan hörte die Überladung. Sie<br />
sprang, prallte gegen Yoko und riss ihn somit aus der Explosionswelle,<br />
als sich die Türkontrollen knallend verabschiedeten.<br />
Übrig blieb nichts als verkohlte Überreste. Ein Stahlträger,<br />
Deckenschotts und Schutt polterten mit Getöse von der Decke herab,<br />
verfehlten die beiden Kadetten nur knapp und Begruben einen großen<br />
Teil des Eingangsbereichs unter sich. Die Luft war voller Rauch. Shans<br />
Lungen brannten, als sie sich hustend auf die Ellenbogen stemmte.<br />
Neben ihr stöhnte Yoko.<br />
„Alles klar?“<br />
Er nickte.<br />
Sie half ihm hoch und blickte dann mit bitterer Mine auf das Chaos<br />
vor ihnen. Sie kamen nicht mehr raus. Yoko analysierte die Lage im<br />
gleichen Moment. „Vielleicht, wenn wir die Trümmer beiseite räu-“<br />
„Nein.“, beschloss Shan. Es war eine der härtesten Entscheidungen,<br />
die sie jemals treffen musste. Und eine der erwachsensten „Dadurch<br />
verlieren wir zuviel Zeit.“<br />
„Aber Wotan...“<br />
Sie schloss die Augen. „Er ist auf sich alleine gestellt.“<br />
Yoko blickte sie ernst an. Zunächst schien es, als wollte er<br />
protestieren, dann erkannte er jedoch, dass Shan recht hatte und nickte<br />
stumm.<br />
Shan öffnete die Augen und sah ein letztes Mal zur Tür. Dann drehte<br />
sie sich um. „Los, komm.“<br />
Yoko folgte ihr sofort. Gemeinsam rannten sie tiefer ins Labor – ins<br />
Zentrum der Katastrophe.<br />
Wotan war verletzt und umringt von brüllenden und fauchenden<br />
Tieren, entfernte Verwandte, mit denen er genauso viel gemeinsam hatte,<br />
wie mit einer Horta. Tiere, die herumsprangen, die Zähne fletschten und
ihn attackierten, inmitten des Blitzgewitters, das durch das<br />
Campusgelände schlug. Seit jenem Tag nach seiner genetischen<br />
Aufwertung, an dem er einem Menschen beinahe den Arm abgebissen<br />
hatte, war Wotan jeder Konfrontation aus Angst, seine Urtriebe könnten<br />
wieder erwachen, aus dem Weg gegangen.<br />
Doch nun, wo er immer und immer wieder attackiert wurde und<br />
inmitten dieses brüllenden Sturmes gegen diese Monster um sein Leben<br />
kämpfte, spürte er, wie sein Killerinstinkt wuchs. Sie stießen mit ihren<br />
Hörnern nach ihm, sie bissen ihn mit ihren Reißzähnen und fügten<br />
ernsthafte Verletzungen zu. Wotan schrie auf, als sie von allen Seiten auf<br />
ihn einstürmten, bis sich die sorgsam kultivierte Persönlichkeit, an deren<br />
Entwicklung er so lange gearbeitet hatte, in Luft auflöste. Wotan brüllte,<br />
und es war ein wahrhaft erschreckendes Gebrüllt, das Gebrüll eines<br />
Tigers. Eines Tigers, der bereit war, seine Feinde zu zerfleischen. Im<br />
Zustand völliger Wildheit stürzte sich Wotan auf die Tiere.<br />
Der Kampf war grausam und blutig.<br />
Sortak und Galak stürmten in den Generatorraum hinein, die Tiere<br />
direkt hinter ihnen her. Es war eine große Halle, mit einem komplexen<br />
Stegsystem auf der zweiten Ebene, zwei gewaltigen Generatoren,<br />
etlichen Regalen mit Austrüstung und Maschinen. Das Licht war aus,<br />
alles lag im diffusen Licht der Notsysteme. Nur die Warnlampen an den<br />
Wänden zuckten und tauchten den Raum in ein bedrohliches rot. Sortak<br />
warf hektisch den Kopf herum. Der Kontrollraum, wo war der<br />
Kontrollraum?<br />
Galak brüllte: „Wo müssen wir hin?“<br />
„Dort!“ Sortak zeigte nach oben. Zweite Ebene, jenseits des Steges.<br />
Galak stürmte los, sprang über einen der Container, wie ein<br />
Hindernisläufer. Hinter sich hörte er die Tiere, kreischend und<br />
schnappend. Sie waren clever, teilten sich sofort auf, um die Fliehenden<br />
von zwei verschiedenen Seiten in die Zange nehmen zu können. Sortak<br />
sah, dass Galak zum Frachtaufzug rannte. Er sprang auf, wollte den<br />
direkten Weg nach oben nehmen, aber er würde es nicht schaffen! Das<br />
Ding war zu lahm und die Tiere zu schnell, sie würden Galak erwischen,
ehe er auch nur die Hälfe der Strecke zurückgelegt hatte.<br />
Verdammter Trottel!<br />
Sortak brauste schnell in die andere Richtung, zur Leiter am Ende des<br />
Raumes. Er rannte, rannte wie verrückt, schlug im Vorbeilaufen gegen<br />
Container, Rohre und Maschinenteile, um so viel Krach wie möglich zu<br />
machen.<br />
„Kommt schon, kommt schon!“, brüllt er. Es funktionierte: die Tiere<br />
wurden beide gleichermaßen auf ihn aufmerksam, bremsten und blieben<br />
einen Moment verwirrt stehen. Ihr Blick wechselte von Galak zu Sortak,<br />
unschlüssig, wen sie zuerst angreifen sollten. Galak war ein<br />
verlockendes Ziel. Und ein leichtes. Sortak hingegen eine<br />
Herausforderung. Sie entschieden sich für ihn und sprangen los. Aus den<br />
Augenwinkeln registrierte Sortak, wie Galak auf die Liftkontrollen<br />
schlug und sich der Aufzug in Bewegung setzte. Die Tiere wetzten an<br />
ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Galak stand die blanke Angst in den<br />
Augen.<br />
Sortaks Gesichtsausdruck hingegen, war fast ebenso wild wie der,<br />
seiner Verfolger. Er wechselte abrupt die Richtung, sprang zu einem<br />
Regal und zerrte an der Verbindungsstange, welche die Konstruktion<br />
hielt. Er zerrte, zerrte mit solcher Kraft, dass die ganze Struktur aus der<br />
Verankerung riss und das Regal in den Gang schlug.<br />
Die beiden Tiere waren zu schnell, konnten nicht mehr abbremsen und<br />
prallten fauchend dagegen. Sortak zögerte keine Sekunde, rannte zum<br />
gegenüberliegenden Regal, hievte sich hoch und über die etlichen<br />
Container nach oben zu sprinten, wie auf einer unförmigen Treppe mit<br />
übergroßen Stufen.<br />
Unten war eines der Tiere wieder auf den Beinen, während das andere<br />
sich nicht rührte. Die Bestie brüllte wütend und rammte mit voller Wucht<br />
gegen den Metallrahmen des Regals, auf dem Sortak lief. Eingelagerte<br />
Ausrüstung schepperte und klapperte, das Gerüst schwankte und Sortak<br />
kam ins Trudeln. Das Tier brüllte, nahm Anlauf und stieß ein weiteres<br />
Mal gegen den Rahmen. Die Macht seines Aufpralls drückte die Stangen<br />
ein. Immer wütender schlug es dagegen, sprang sogar und versuchte<br />
hinaufzuklettern, rutschte aber jedes Mal von den Kisten ab.<br />
Irgendwie gelang es Sortak, sich auf den Beinen zu halten. Er stolperte<br />
weiter, zum Regalende, blieb stehen und sah Galak, der inzwischen oben
angelangt war und den Lift verlassen hatte. Nun kam er auf den<br />
Mittelsteg gerannt, bediente sich aus einer offen stehenden Kiste, und<br />
bewarf das Tier mit Schaltkreisen, Werkzeugen und Ersatzteilen. Das<br />
Tier schien das nicht einmal zu spüren. Es warf sich nun immer<br />
wütender gegen das Regal, warf Gestelle und Kisten um. Sortak taumelte<br />
erneut unter den Erschütterungen. Bald würde das Tier das Regal<br />
umgestoßen haben. Sortak drehte sich halb, nahm einen Schritt Anlauf<br />
und sprang auf das lange, höhere Regal links neben ihm. Unter<br />
Aufwendung all seiner Kraft zog er sich hinauf. Das Tier unten grunzte<br />
beleidigt. Das war zu hoch für ihn. Nicht jedoch für seinen Artgenossen.<br />
Sortak hätte sich fast zu einem Grinsen hingegeben, als plötzlich das<br />
andere Tier auftauchte und mit einem gewaltigen Satz zu Sortak auf das<br />
Regal sprang. Alles schwankte unter der Wucht seines Aufpralls, aber<br />
das Tier fand sofort sein Gleichgewicht und stand geduckt, zum Sprung<br />
bereit vor Sortak. Der Vulkanier war verblüfft, verblüfft, wie hoch das<br />
Tier springen konnte – drei Meter hoch, ohne erkennbare<br />
Anstrengungen. Und nun stand es direkt vor ihm.<br />
Mehr aus Wut, als aus Verzweiflung, trat Sortak dem Tier gegen die<br />
Schnauze. „Mistfieh!“<br />
Der Kopf des Biestes flog herum, und für einen Moment war es<br />
erstaunt und erschrocken gleichermaßen. Diese Sekunde genügte Sortak.<br />
Er beging nicht den Fehler eines weiteren Angriffes, sondern sprang,<br />
sprang auf ein anderes Regal zu, das höchste von allen. Er streckte die<br />
Arme aus und bekam die Streben zu fassen. Das Tier schüttelte seine<br />
Benommenheit ab, fauchte und sprang Sortak kurzerhand hinterher. Es<br />
riss das Maul auf und schnappte nach seinem Bein. Mit den gewaltigen<br />
Hauern erwischte es den Stoff der Hose und begann sofort daran zu<br />
zerren. Sortak hätte um ein Haar den Halt verloren. Er keuchte. Das<br />
Biest hing nun mit seinem ganzen Gewicht an ihm. Der Vulkanier wollte<br />
auf keinen Fall loslassen, entwickelte – selbst für ein Mitglied seiner<br />
Spezies – übernatürliche Kräfte und zog sich mit zusammengebissenen<br />
Zähnen und knallrotem Kopf nach oben. Unter ihm zerrte und zischte<br />
das Tier. Es hing nur an Sortaks Hose, baumelte völlig in der Luft und<br />
war kein bisschen gewillt loszulassen. Sortak trat ihm gegen die<br />
Schnauze, aber das Tier hatte sich in seiner Beute verbissen. Plötzlich<br />
riss der Stoff und das Monster schlug zu Boden, nur mit einem Fetzen
der Hose im Maul.<br />
Sortak zog sich nun ganz nach oben.<br />
„Mach schon!“, rief Galak herab.<br />
Der Mittelsteg war etwa einen Meter über Sortak. Aber knapp drei<br />
Meter entfernt. Nun schwankte auch dieses Regal, als unten das eine Tier<br />
dagegen stießen. Das andere kletterte wieder grimmig nach oben. Sortak<br />
sah zum Steg herüber. Er war sich nicht sicher, ob er den Sprung<br />
schaffen konnte. Wenn nicht, stand ihm ein kurzer Fall bevor. Für<br />
Anlauf war diesmal kein Platz.<br />
Los! Shan zählt auf dich.<br />
Also sprang er einfach aus dem Stand. Wie in Zeitlupe verlor sich der<br />
Boden unter seinen Füßen, ein tiefes Loch tat sich auf. Sortak ruderte mit<br />
Armen und Beinen, aber je näher er dem Steg kam, desto klarer wurde<br />
ihm, dass er ihn nicht erreichen konnte. Er begann bereits zu fallen, er<br />
würde den Steg nicht packen können. In seinem Geiste sah er sich bereits<br />
auf dem Boden aufschlagend, wo er sich sämtliche Knochen brach.<br />
Anschließend würden die Tiere über ihn herfallen. Es war vorbei.<br />
Und dann griff jemand nach seinem Handgelenk. Galak biss die Zähne<br />
zusammen, als plötzlich Sortaks Gewicht an seinem Arm zerrte. Er zog<br />
und zog und irgendwie vollbrachte er es, Sortak weit genug hinauf zu<br />
hieven, sodass der Vulkanier über das Geländer auf den Steg klettern<br />
konnte. „Denk jetzt ja nichts falsches!“, knurrte Galak. „Ich habe dich<br />
nur gerettet, weil du der einzige von uns beiden bist, der den Generator<br />
ausschalten kann!“<br />
Sortak bekam keine Gelegenheit für eine bissige Erwiderung. Eines<br />
der Tiere war inzwischen ganz nach oben geklettert und entschied sich<br />
ebenfalls zu einem mutigen Sprung - der ihm wesentlich besser gelang,<br />
als Sortak zuvor. Er kam hoch genug um über das Geländer zu kommen<br />
und nach Galaks Hals zu schnappen. Galak schrie überrascht auf und zog<br />
den Kopf ein. Das Tier verfehlte ihn nur knapp, kam polternd auf dem<br />
Steg auf und fuhr fauchend zu den beiden herum. Er stand direkt vor<br />
ihnen. Brauchte nur noch ein weiteres Mal zu springen.<br />
Sortak fletschte die Zähne. „Jetzt habe ich aber...“<br />
Er streckte die Arme in beide Richtungen.<br />
„...endgültig....“<br />
Packte die Haltestangen zu beiden Seiten, die den Steg an der Decke
hielten.<br />
„...genug von euch!“<br />
Und drückte zu. Sie rissen aus ihren Befestigungen und der ganze Steg<br />
kippte nach unten weg. Das Tier stürzte kreischend in die Tiefe, knallte<br />
in einen Haufen Kisten hinein und brach sich das Genick. Sortak und<br />
Galak hielten sich fest, der Steg raste wie ein gewaltiges Pendel in den<br />
zur Hälfte Raum hinein, bis es gegen das Mittelregal stieß. Durch den<br />
Aufprall wurden einige schwere Kisten aus den Regalen geschleudert<br />
und stürzten zu Boden. Das Tier, das immer wieder gegen die<br />
Verstrebung des Gestelles gerannt war, legte den Kopf in den Nacken,<br />
als ein Schatten auf ihn fiel, und kreischte kurz auf, bevor es von einem<br />
herabstürzenden Container zermatscht wurde. Sortak und Galak, die sich<br />
noch immer hatten festhalten können, kletterten nun nach oben und<br />
zogen sich schnaufend über den Rand. Sie rollten auf den Boden, direkt<br />
vor den Generatorkontrollraum, ihre Brustkörbe hoben und senkten sich<br />
schnell.<br />
„Das war...“, schnaufte Galak. „Durchaus beeindruckend. Wie du<br />
diese Stangen verbogen has, meine ich. Gut, dass dich die Tiere derart in<br />
Rage gebracht haben.“<br />
„Haben sie nicht.“, erwiderte Sortak, gleichermaßen erschöpft. „Du<br />
warst gemeint.“<br />
„Oh.“ Galak blinzelte. „Wenn das so ist... können wir froh sein, dass<br />
ich so eine Nervensäge bin.“<br />
Dem wagte es Sortak nicht, zu widersprechen.<br />
Zur gleichen Zeit eilten Shan und Yoko über die Rampe hinauf in den<br />
zweiten Stock des Laborkomplexes. Die Luft wurde heiß, immer heißer,<br />
es roch mit jedem Meter zunehmend nach Ozon. Sturaks Labor war nicht<br />
mehr weit.<br />
„Wir kriegen das wieder hin, Yoko.“, schnaufte Shan. „Wir kriegen<br />
das wieder hin!“<br />
Der Vulkanier erwiderte nichts.<br />
Shan war noch nie zuvor in ihrem Leben so schnell gerannt wie jetzt,<br />
wo sie durch das Labyrinth aus immergleichen Korridoren wetzten. Ihre
Lungen brannten und sie spürte ihr Herz bis in den Hals hinauf schlagen.<br />
Yoko hingegen schienen die Anstrengungen nichts auszumachen. Er<br />
hielt mühelos mit ihr mit. Das einzige, was Shan ein klein wenig Trost<br />
spendete, war die Tatsache, dass er ohne sie vermutlich auch nicht<br />
schneller unterwegs gewesen wäre. Dennoch offenbarte seine Stimme<br />
nicht das geringste Anzeichen von Anstrengung, als er in aller<br />
Seelenruhe feststellte: „Das Artefakt gibt Strahlung ab. Bemerkst du die<br />
Hitze“<br />
„Wie sollte man die nicht bemerkten?“<br />
„Es wird stärker.“ Er benötigte keinen Tricorder für diese Analyse.<br />
„Vermutlich liegt die Strahlung auf tödlichem Niveau an der Quelle. Ich<br />
hatte diese Möglichkeit nicht berücksichtig.“<br />
Sie bogen in einen Seitengang. „Denk dir nichts. Wir schaffen es.“<br />
„Du bist so zuversichtlich, Shan.“, bemerkte Yoko mit gehobener<br />
Braue.<br />
Shan schnaufte. „Ich schätze ein Anführer fuchtelt nicht mit den<br />
Armen herum und schreit >scheiße, wir werden alle verrecken!
und fragte sich ernsthaft, was da gerade passiert war. Sie war überzeugt<br />
davon, mit einem schweren Gegenstand geschlagen worden zu sein. Zum<br />
Beispiel mit einem Barren in Gold gepresstes Latinum. Oder von einem<br />
Shuttle überrollt worden zu sein. Sie blieb noch einen Moment liegen<br />
und als sich der neblige Schleier komplett gelichtet hatte, tauchte Yoko<br />
über ihr auf und hielt ihr eine Hand hin.<br />
„Ein Kraftfeld.“, erklärte er.<br />
Shan brummte verärgert: „Wäre ich nie drauf gekommen...“ Sie griff<br />
nach seiner Hand und Yoko katapultierte sie förmlich mit<br />
bemerkenswerter Kraft zurück auf die Beine. Es war Shan absolut<br />
schleierhaft, warum Lebewesen mit solcher Kraft auf einen<br />
Betäubungsgriff vertrauten, um ihre Gegner auszuschalten.<br />
Yoko fragte: „Bist du verletzt?“<br />
„Nur mein Stolz.“ Die Welt schien sich um sie zu drehen.<br />
„Die Notsysteme haben offenbar noch genug Energie. Vermutlich ist<br />
der gesamte Strahlungsbereich abgeschirmt.“<br />
„Kannst du die Kraftfelder deaktivieren? Kommen wir irgendwie in<br />
den Innenbereich?“<br />
Yoko war bereits am nächsten Kontrollbildschirm an der Wand.<br />
„Nein, nicht von hier aus. Mein Sicherheitscode ist ohnehin zu niedrig.“<br />
„Na klasse!“<br />
Sie sah sich um. Direkt neben ihnen lag Sturaks Labor. Von dort aus<br />
gab es eine Notleiter, die in die Laborhalle führte. Vielleicht, nur<br />
vielleicht hatten sie Glück...<br />
Shan murmelte ein Stoßgebet, als sie das Labor betrat. Grellrote<br />
Warnlichter blinkten und tauchten Yokos und ihre Gestalt in<br />
blutfarbenes Licht. Die Schotten waren alle vor die Fenster gefahren, sie<br />
konnten nicht sehen, was in der Haupthalle vor sich ging. Aber sie hörten<br />
das dumpfe Brüllen der Energiesäule. Die Luft war jetzt furchtbar heiß.<br />
Shan schwitzte stark. Sie eilte zur gegenüberliegenden Seite des Raumes,<br />
griff nach dem manuellen Hebel, der die Tür zum Notschacht öffnen<br />
sollte und riss ihn herab. Nichts tat sich. Auf der Anzeigetafel neben der<br />
Tür blinkte ein roter Schriftzug.<br />
ZUGANG VERWEIGERT
Shan fluchte. „Gibt es einen anderen Zugang?“<br />
Yoko befragte seinen Tricorder. „Ich fürchte nicht. In den Korridoren<br />
wurden die Kraftfelder aktiviert, die andere Zugänge werden durch<br />
Notschotts versperrt.“<br />
„Könnten wir mit einem Transporter hindurch kommen?“<br />
„Möglich.“<br />
„Gibt es eine Transportvorrichtung in der Nähe?“<br />
„Ja. Im Gebäude, wo wir herkamen, gibt es einen Nottransporter.“<br />
Shan starrte ihn an. „Warum hast du das nicht vorher gesagt?“<br />
„Ich hielt es nicht für wichtig.“<br />
Shan dachte nach. „Wo ist Cera.“<br />
Cera lag auf der Transporterplattform und war damit beschäftigt, die<br />
gesamte Anlage im Rahmen ihrer Strafarbeit mit einem Mikroresonator<br />
zu reinigen – was nach Commander Sturaks Einschätzung 26,8 Stunden<br />
dauern würde. Es war keine glamouröse Arbeit, aber eine einfache. Eine,<br />
die sie in der Lage war auszuführen und Cera war entschlossen, den<br />
Transporter zu reinigen, wie ihn noch nie jemand gereinigt hatte, um<br />
Sturak zufrieden zu stellen. Daher hatte sie sich auch nicht von ihrer<br />
Arbeit abbringen lassen, als sie vor einer Weile das schreckliche<br />
Donnern in der Entfernung gehört hatte, und auch nicht, wie der Boden<br />
gerumpelt hatte, und erst recht nicht, als die Notbeleuchtung<br />
angesprungen war und der Alarm angefangen hatte zu glühen. Nicht<br />
einmal jetzt, als ihr Kommunikator piepte unterbrach Cera ihr Vorhaben<br />
für einen Moment. Sie klopfte nur nebenbei, ganz automatisch, auf das<br />
kleine Gerät, während das Augenmerk ihrer Konzentration darauf<br />
gerichtet lag, die Energieinduktoren gründlich zu reinigen.<br />
„Cera?“<br />
Es war Shan. Sie klang aufgeregt. „Cera, bist du da? Cera! Melde<br />
dich! Cera, bitte…“<br />
„Ich tu nicht mehr mit dir sprechen tun!“<br />
„Cera, bitte! Wir haben jetzt keine Zeit für Streitereien!“<br />
„Und ich habe.... ich habe... keine Zeit zu... zu sprechen.“ Sie klopfte<br />
beleidigt auf ihren Kommunikator und unterbrach die Verbindung.
Im Labor starrte Shan mit großen Augen auf den Kommunikator an<br />
ihrer Brust. Die Leitung war abgeschaltet. „Ich glaub das nicht!“, sagte<br />
sie fassungslos. „Ich glaub das einfach nicht!“<br />
„Versuch es erneut.“, schlug Yoko vor.<br />
„Sie wird nicht antworten. Offenbar sind Pakled sehr nachtragend.“<br />
„Habt ihr euch gestritten?“<br />
„Könnte man sagen. Fürchte sie wird uns nicht helfen. Und ich kann’s<br />
ihr nicht einmal verübeln, ich habe ein paar schlimme Sachen gesagt.“<br />
„Keine Beleidigung ist schrecklich und Grund genug, als das man<br />
einem Freund Hilfe verweigern würde.“<br />
„Ich sagte, sie sei dümmer als Viertklässler.“<br />
„Diese Beleidigung hingegen“, musste Yoko einräumen. „ist Grund<br />
genug, dir Hilfe zu verweigern.“<br />
„Was tun wir jetzt?“<br />
Yoko zuckte die Schultern. „Du arbeitest besser an deinen Manieren.“<br />
Cera reagierte mit leichter Verärgerung, als ihr Kommunikator erneut<br />
piepte. Sie schlug dagegen. „Ich sagte... ich sagte, ich werde dir nicht<br />
helfen tun!“<br />
Dann hörte sie plötzlich eine andere Stimme als erwartet. „Cera, ich<br />
bins. Yoko. Du kennst mich vielleicht noch aus Gelegenheiten wie<br />
unseren Studientreffen in der Bibliothek, oder dem gemeinsamen<br />
Unterricht in den Klassenräumen und Auditorien. Cera... Shan benötigt<br />
deine Hilfe. Und ich ebenso. Mir wirst du doch sicher keine Hilfe<br />
verweigern, oder?“<br />
Cera dachte einige lange Moment darüber nach. „Ich kann nicht.<br />
Commander Sturak hat mir eine Aufgabe erteilt. Ich muss-“<br />
„Commander Sturak ist tot.“<br />
Nun sah Cera auf. „Er ist... er ist gestorben sein?“<br />
„Grammatikalisch falsch, aber inhaltlich korrekt. Und es werden noch<br />
sehr viel mehr Personen sterben – uns eingeschlossen -, wenn du uns
nicht hilfst.“<br />
„Was kann ich denn tun... tun?“<br />
„Befindest du dich in der Nähe eines Transporterraumes?“<br />
Cera sah auf die Plattform herab, auf der sie kniete. „Ja, in der Nähe,<br />
ja. Ja.“<br />
„Wie lange brauchst du, um dort zu sein?“<br />
Sie zuckte zur Antwort mit den Schultern. Als ihr schließlich einfiel,<br />
dass Yoko diese Geste gar nicht sehen konnte, sagte sie: „Ich weiß<br />
nicht.“<br />
„Geh dort hin, Cera. Melde dich, sobald du da bist.“<br />
„Okay.“ Sie erhob sich schwerfällig. „Ich bin da.“<br />
Es kam zu einer kurzen Pause, in der niemand auf der anderen Seite<br />
der Kommunikationsverbindung etwas sagte. Als Yoko wieder sprach,<br />
klang er etwas durcheinander. „Das... ging schnell.“<br />
Cera sagte nichts.<br />
„Cera, hör jetzt genau zu. Du musst den Transporter bedienen. Wir<br />
benötigen einen Ort zu Ort Transport.“<br />
Cera schluckte. Und zögerte. „Aber das...“<br />
„Keine Sorge. Aktiviere die Monitore hinter der Transporterkonsole,<br />
wir werden dich einweisen.“<br />
Ein dicker Kloß bildete sich in Ceras Hals. Ein Ort zu Ort Transport.<br />
Sie wusste grob worum es sich dabei handelte. Das war ein doppelter<br />
Beamvorgang, bei dem ein Objekt von einem Ort zu einem ganz anderen<br />
transportiert wurde. Unglaublich komplex und schwer. Cera drehte den<br />
Kopf zur den Transporterkontrollen des Operators. Von dort aus wurden<br />
normalerweise sämtliche Beamvorgänge gesteuert und überwacht.<br />
Außerdem konnten automatisch ablaufende Vorgänge unterbrochen,<br />
oder die Notabschaltung initiiert werden. Das System war sehr<br />
kompliziert und mächtig und Cera hatte große Angst davor. Für die<br />
Sternenflotte mochten diese Apparate zum Alltag gehören. Bei ihrer<br />
Spezies, den Pakled jedoch, kam es Zauberei gleich, eine Person, oder<br />
einen Gegenstand in seine Molekühle zu zerlegen diese und mit einem<br />
Materiestrom über einen Eindämmungsstrahl zu einem Ziel zu schicken,<br />
wo sie wieder zusammengesetzt wurden. So weit entwickelt war ihr<br />
Volk nicht, und Cera war in ihrem bisherigen Leben mit nichts auch nur<br />
annähernd komplexem konfrontiert gewesen.
„Cera...“, sagte Yoko erneut. „Aktiviere die Monitore.“ Er klang nicht<br />
direkt nervös, aber sehr bestimmt. Im Hintergrund hörte sie Shan. Sie<br />
zischte immer wieder, dass sie nicht mehr viel Zeit hätten. Irgendetwas<br />
stimmte nicht, das war kein Scherz. Das war ernst!<br />
Sie schluckte und trat zögernd hinter die Kontrollen. Die Hauptkonsole<br />
war groß und breit. Das Bedienfeld, auf dem normalerweise viele<br />
Schaltelemente glühten, war dunkel. Jemand hatte sie deaktiviert. Sie<br />
wandte sich den Bildschirmen zu. Sie waren ebenfalls aus. Alles war aus.<br />
Aber selbst im deaktivierten Zustand, konnte man den Aufbau der<br />
Bedienfelder sehen. Cera versuchte sich die einzelnen Funktionen<br />
Gedächtnis zu rufen. Professor O’Brian war das mit ihnen ganz genau<br />
durchgegangen. Cera drückte auf die dunklen Kontrollen oben rechts.<br />
Das waren die Aktivierungstasten. Aber nichts passierte. Dann drückte<br />
sie andere Tasten. Die Bildschirme blieben schwarz. Cera bekam Panik.<br />
Shan fragte über Funk: „Was ist los, Cera?“<br />
„Ich habe... ich habe keine Ahnung von den Kontrollen sein.“<br />
„Cera! Du schaffst das!“<br />
„Ich dachte, ich sei dümmer, als-“<br />
„Nein, nein, nein, Cera! Ich hab das nicht so gemeint. Ich war wütend<br />
und aufgeregt. Es tut mir leid, das musst du mir glauben!“<br />
„Okay, ich versuche es.“<br />
Und dann hörte sie Yoko: „Du kannst von dort aus auf die<br />
Videoüberwachung zugreifen. Wir werden dich einweisen.“<br />
Cera probierte es noch einmal. Es geschah wieder nichts. Sie sah sich<br />
die Bedienfelder noch einmal genau an. Der Boden unter ihren Füßen<br />
erzitterte einen kurzen Moment, das ganze Gebäude schwankte. Von<br />
irgendwo drang der dumpfe Knall einer Explosion zu ihr heran. Cera<br />
versuchte dem keine Beachtung zu schenken, sondern konzentrierte sich<br />
ganz auf die Kontrolleinheit. An der Kopfseite des rechten<br />
Kontrollfeldes entdeckte sie eine Reihe stecknadelgroßer<br />
Bedienelemente – rote Lichtpunkte. Rotes Licht an den Rändern des<br />
Bildschirms... was konnte das sein? Sie bewegte ihren Zeigefinger auf<br />
das Licht zu, sah den rötlichen Widerschein auf ihrer Haut und zögerte<br />
einen Moment.<br />
„Na los.“, drängte Shan über Funk. „Du schaffst das!“<br />
Also berührte Cera die Taste und hörte ein Piepen. Sie hatte es
geschafft! Die Bildschirme sprangen an und auch die Transporterkonsole<br />
hinter ihr erwachte blinkend zum Leben, und die Anzeigen sagten ihr,<br />
dass sie Zugang zum System habe und nun auswählen konnte, was sie<br />
tun wollte. Cera berührte die Kontrollen an verschiedenen Stellen und<br />
erhielt Submenüs. Und weitere Submenüs. Alles geriet durcheinander.<br />
Cera taumelte von den Monitoren weg und stieß mit dem Rücken an die<br />
Konsole. Es erschienen immer mehr Menüs. Das schaffte sie niemals!<br />
„Shan.“, sagte sie entsetzt. „Zu viele... zu viele Menüs. Ich tu das nicht<br />
schaffen tun!“<br />
„Cera, du kannst das! Hast du verstanden? Du musst nur an dich<br />
glauben.“<br />
Die Pakled lies ihre Schultern hängen. „Aber ich glaube nicht an<br />
mich.“<br />
„Ich glaube an dich!“<br />
„Das sagst du nur so.“<br />
„Cera! Ich lege hier mein Leben in deine Hände. Und ich würde das<br />
nicht, wenn ich der Meinung sei, du würdest es verbocken. Aber ich<br />
weiß, dass mich nicht hängen lässt. Ich glaube feste an dich.“<br />
Cera nickte langsam. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Als sie<br />
die Augen wieder öffnete, spürte sie neue Kraft, neue Entschlossenheit.<br />
Sie berührte diverse Tasten, der Bildschirm veränderte sich.<br />
„Schaut!“, freute sie sich. „Es hat funktioniert!“<br />
Die an der Wand verteilten Kontrollmonitore zeigten schnell sich<br />
verändernde Ansichten von verschiedenen Teilen des Campus. Auf den<br />
meisten Monitoren war nur Rauschen zu sehen, die Kameras waren<br />
zerstört worden, aber die anderen zeigten verschiedene Teile des<br />
Gebäudes und überall waren die Tiere! Auf den Dächern, in den<br />
Korridoren... und sie metzelten und schlachteten die Kadetten und das<br />
hilflose Lehrpersonal. Cera sah auf einem der Monitore für einen kurzen<br />
Moment Galak und Sortak an der Kamera vorbeihuschen, doch sie waren<br />
sofort verschwunden und im nächsten Moment wechselte das Bild. Cera<br />
hatte jetzt eine Liste der Videomonitore auf dem Bildschirm. Ein<br />
Sichtfeld trug die Bezeichnung LABOR KORRIDOR: LV 2-47, ein<br />
anderes LABOR LODGE: LV 2-46 und das letzte LABOR LODGE LV<br />
2-45. Cera berührte sie alle.<br />
Drei Monitore sprangen an; der in der Mitte explodierte. Splitter und
Funken fauchten in den Raum, dann quoll beißender Rauch. Aber die<br />
anderen beiden Monitore blieben intakt. Auf dem rechten sah man Shan<br />
im Labor.<br />
„Ich bin drin!“<br />
„Sehr, gut Cera. Und jetzt wende dich der Transporterstation zu. Wir<br />
weisen dich ein.“<br />
Dann erweckte einer der drei neuangesprungenen Monitore wieder<br />
ihre Aufmerksamkeit. Der des Korridors. Tiere kamen in Sicht. Ihre<br />
Körper waren hinter einem heruntergesackten Stahlträger verborgen,<br />
man sah nur ihre wippenden Köpfe. Dann ein Fauchen. Der Monitor<br />
wurde schwarz.<br />
„Okay, Cera.“, sagte Yoko über Funk. Er und Shan hatten von allem<br />
nichts mitbekommen. Cera wandte sich dem entsprechenden Monitor zu,<br />
um sie zu sehen. „Die Bedienung des Transportersystems kann in fünf<br />
Phasen aufgeteilt werden. Erstens: die Personenerfassung. Bei diesem<br />
ersten Schritt gibst du unsere aktuellen Koordinaten in das<br />
Transportersystem ein, oder, wenn du dich unsicher fühlst, kannst du<br />
alternativ auch einfach unsere Kommunikatorsignale erfassen. Ich werde<br />
dir die genaue Frequenz durchgeben. Du musst nur mit den Sensoren<br />
danach suchen. Als nächstes programmierst du die Koordinaten des<br />
Zielortes - in diesem Fall das Labor - ein. Damit wir am Zielort nicht in<br />
einer Wand erscheinen, werden dir diverse Diagnosevorgänge<br />
automatisch helfen und die Koordinaten entsprechend anpassen. Als<br />
nächstes kommt die Energieauflösung und Dematerialisierung. Die<br />
Molekularabbild-Scanner leiten ein Echtzeit Abbild des<br />
Quantenauflösungsmusters unserer-“<br />
„Yoko, mach’s nicht so kompliziert!“, zischte Shan.<br />
„Aber das versuche ich ja.“<br />
„Cera.“, sagte Shan. „Hör genau zu. Erfass einfach unser Signal – die<br />
Frequenz ist... ahm...“<br />
„13.5 Tetraherz.“, half Yoko.“<br />
„Richtig. 13.5 Tetraherz. Such danach, dann gib die Koordinaten des<br />
Labors in das System ein und betätige den Sequenzauslöser. Das ist<br />
alles. Der Computer macht den Rest. Aber die Zielkoordinaten müssen<br />
von dir eingegeben werden. Das ist unsere einzige-“<br />
Mit einem lauten Krachen zersplitterte die Tür hinter ihr. Shan
wirbelte herum. Ein Tier stand fauchend im Eingang.<br />
Cera stand entsetzt vor dem Monitor. Sie sah, wie Shan zur Wand<br />
stürzte und sich mit aller Kraft gegen den Aktivierungshebel des<br />
Notschotts warf. Kreischend ratterte die Eisentür herab, das überraschte<br />
Tier wurde am Nacken erfasst und zwischen Schott und Boden<br />
eingeklemmt. Doch sein Genick brach nicht, nicht einmal seine<br />
Angriffswust. Es fauchte und schnappte mit seinen Hauern um sich.<br />
Shan trat ihm mit ihrem Stiefel so feste sie konnte gegen die Schnauze.<br />
Der Kopf verschwand jaulend aus der Spalte und das Notschott konnte<br />
einrasten. Das Tier draußen brüllte und schlug dagegen. Das Schott<br />
beulte sich ein.<br />
„Hilf mir!“, rief Shan. Yoko sprang auf, lief zum Schott und stemmte<br />
sein Gewicht ebenfalls dagegen.<br />
Plötzlich war das Labor von Tieren umringt. Brüllend und kreischend<br />
warfen sie sich gegen die Fenster, so heftig, dass sofort Risse entstanden.<br />
Sie krachten gegen die Wände, Regale kippten um, Ausrüstung und<br />
Dosen fielen klappernd zu Boden. An verschiedenen Stellen begann sich<br />
das Notschott einzudrücken. Shan stemmte sich dagegen, aber genauso<br />
gut hätte sie sich gegen eine Lawine stemmen können.<br />
„Cera!“, brüllte sie. „Los, bedien den Transporter!“<br />
Cera atmete schnell. Sie wandte sich wieder der Transporterkontrollkonsole<br />
zu, wusste jedoch nicht so recht, was sie tun sollte. Sie betätigte<br />
die grünen Tasten für die Transportersysteme. Und sofort füllte sich der<br />
Bildschirm mit Symbolen. Cera fand sich plötzlich in einer verwirrenden<br />
Vielfalt von Submenüs für die Transporterstation wieder und versuchte<br />
zu verstehen, was sie da sah. Die meisten Systeme hatten eine einzelne<br />
Taste oder einen einzelnen Befehl, mit dem man die gewünschte<br />
Handlung ausführen konnte. Aber dieses System hatte so etwas nicht –<br />
oder zumindest wusste sie nichts davon. Die Transporter waren auch<br />
zweifellos zu komplex. Sie war sich auch ziemlich sicher, dass es bei<br />
den Systemen Hilfebefehle gab, aber auch die konnte sie nicht finden.<br />
Außerdem hörte sie die Schreie der Tiere und ihrer Kameraden aus den<br />
Lautsprechern dringen, und das machte sie nervös.
Sie sah über die Schulter. Yoko hatte einen großen<br />
Ausrüstungsschrank aus der Wand gerissen und schob ihn vor das<br />
splitternde Türschott. Die Tiere krachten von der anderen Seite dagegen,<br />
die Ausrüstung im Schrank klapperte.<br />
„Haben wir Phaser?“, frage Shan hektisch. „Yoko, haben wir Phaser?“<br />
„Draußen im Korridor im Notschacht.“<br />
„Na toll!“<br />
Die Tiere warfen sich so heftig gegen die Fenster, dass das Glas zu<br />
brechen begann. Ein Schott in der rechten Wand splitterte, große Risse<br />
entstanden.<br />
„Wir müssen hier raus!“, schrie Shan in das Videobild. Sie schwang<br />
eine Eisenstange und versuchte die Tiere vom Eindringen durch das<br />
Fenster abzuhalten, aber es wurden immer mehr. Die Katastrophe brach<br />
in Windeseile von allen Seiten auf sie herein.<br />
Cera zwang sich, den Blick von ihnen abzuwenden und sich wieder<br />
auf die Kontrollkonsole vor sich zu konzentrieren. Sie studierte die<br />
Anzeigen, suchte nach den richtigen Bedienfeldern.<br />
Notfalleingriffsauswahl... Manuelle Ablaufsteuerung... Diagnosefeld...<br />
Da: Personenerfassung!<br />
Die Zahl... was war es für eine Zahl gewesen, die Shan gesagt hatte?<br />
13.5 Tetraherz! Cera gab sie ein. Sie schwitzte. Da! Sie hatte die<br />
Kommunikatoren erfasst.<br />
Nun zu den Koordinaten. Die Koordinaten des Labors. Das war<br />
kompliziert! Sie hörte das Knurren der Tiere und wusste, dass sie sich<br />
beeilen musste. Sie drückte ZIELKOORDINATENKONTROLLE und<br />
stöhnte verzweifelt auf, als sie sah, was ihm die Konsole lieferte. Sie<br />
drückte das Steuerungsfeld für die manuelle Zieleingabe. Sie wusste<br />
nicht, was sie tun sollte. Was hatte Yoko gesagt? Die würden ihr helfen.<br />
Zielscanner! Sie musste die verdammten Zielscanner finden. Sie ging<br />
wieder ein Menü zurück. Aus den Lautsprechern drang ein<br />
markerschütterndes Kreischen - Shannny, aber Cera sah nicht von der<br />
Konsole auf. Sie ging ein Menü zurück. Drückte auf<br />
Zielerfassungsscanner. Das Menü baute sich quälend langsam auf. Es<br />
waren nur Sekunden, aber es kam Cera vor, wie Stunden.<br />
Tu schon kommen, tu schon kommen!<br />
Cera schwitzte.
Dann war sie drin. Hinter sich, von den Monitoren stammend, hörte<br />
Cera ein Splittern und Krachen. Shan und Yoko waren in ernster Gefahr.<br />
Cera drehte sich nicht um, sondern aktivierte den Scanner. Auf einmal<br />
liefen ellenlange Sequenzen über den Bildschirm. Die Sensorphalangen<br />
lieferten Informationen über den gesamten Einsatzbereich des<br />
Transporters – und das waren... 40 000 Kilometer! Sie starrte auf den<br />
Monitor.<br />
STANDART PARAMETER<br />
B4-C6 ÄUSSERES GITTER C2-D2<br />
BB-07 INNERES GITTER R4-R4<br />
C4-G7 HILFSGITTTER D5-G4<br />
AH-B5 KERNGITTER A1-C1<br />
Prozess nicht getestet<br />
Sicherheitsvorgänge bleiben automatisch.<br />
Cera schüttelte frustriert den Kopf und spürte Panik. Sie, starrte die<br />
Informationen an. Das ergab alles gar keinen Sinn für sie! Sie wusste<br />
nicht, was sie tun sollte. Sie starrte den Bildschirm einfach nur an. Sie<br />
merkte, dass sie an alles mögliche dachte. Gedanken, die ihr ohne ihr<br />
Zutun durch den Kopf schossen. Viele Grafiken. Viele Koordinaten. Was<br />
Professor O’Brian im Unterrichte gesagt hatte. Und dann traf sie die<br />
Erkenntnis wie ein Blitz! Sie begriff, dass diese Tabellen ihr eine<br />
wertvolle Hilfe war. Sie musste nur den Bereich einschränken! Hinter ihr<br />
schrieen Shan und Yoko durcheinander. Alles klapperte, Tiere Fauchten.<br />
Cera versuchte sich zu Konzentrieren. Sie wählte die Erde aus. Als<br />
nächstes Amerika. Dann beschränkte sie den Fokus auf Kalifornien. San<br />
Fransisco.<br />
Mehr Schreie hinter ihr. Cera suchte nach dem Akademiegelände. Da!<br />
Dann das Laborgebäude. Zweiter Stock. Sektion 5. Raum 12.<br />
„Sie kommen!“, schrie Shan.<br />
Cera schlug auf den Sequenzauslöser.<br />
Der Ausrüstungsschrank kippte in den Laborraum. Auf allen Seiten<br />
brachen die Tiere durch die Wände, warfen Gestelle und Tische um.<br />
Fauchend und mit wippenden Köpfen sprangen die Tiere in den Raum.
Sie bewegten sich schnell. Sie waren auf der Jagd. Aber Shan und Yoko<br />
waren verschwunden.<br />
Sie materialisierten erfolgreich und intakt am Zielort, direkt vor dem<br />
Eingang der Laborhalle, in der das Höllenfeuer tobte.<br />
Yoko und Shan tauschten einen Blick.<br />
„Okay.“, sagte Shan. „An die Arbeit.”<br />
Auf der anderen Seite der Akademie brauste Tala gerade, dicht gefolgt<br />
von Durkin, durch eine Tür im Gebäude mit dem Generator und sah<br />
plötzlich ein einzelnes Tier am anderen Ende des Korridors über einer<br />
Leiche gebeugt stehen. Tala geriet ins Trudeln und kam schliddernd zum<br />
Stoppen, wobei sie so leise wie möglich zu sein versuchte. Dann prallte<br />
Durkin von hinten in sie herein.<br />
„Was zum Henk-“<br />
Tala fand ihr Gleichgewicht, wirbelte herum und presste ihm schnell<br />
die Hand auf den Mund. Er wollte protestieren, doch dann sah er das<br />
Tier auch. Wie war es nur hier hereingekommen? Während die beiden<br />
Kadetten noch dastanden und mit großen Augen gafften, tauchte ein<br />
zweites Tier auf, dann ein drittes. Sie knurrten sich ein paar Sekunden<br />
lang gegenseitig an, begannen aber dann alle, sich um den toten Körper<br />
zu scharen. Leise drückte sich Tala mit dem Rücken gegen Durkin, um<br />
wieder in dem anderen Korridorsegment zu verschwinden, aber sie<br />
stießen gegen die Tür. Sie ging nicht auf. Der Öffnungsmechanismus<br />
reagierte nicht auf sie.<br />
„He!“, knurrte Durkin und versetzte der Tür einen Schlag. Nichts tat<br />
sich.<br />
„Bist du wohl leise?“, zischte Tala durchdringend. Sie warf einen<br />
Blick über die Schulter, aber die Tiere hatten sie noch nicht gehört.<br />
Durkin schlug noch einmal gegen die Tür. Doch auch diesmal hatte er<br />
nicht mehr Glück. Er wirbelte herum. „Wir sind Gefangene!“
„Wir sind tot, wenn du nicht endlich die Klappe hälst!“ Sie zeigte auf<br />
die Schalttafel der Tür. Ein rotes Licht leuchtete. Irgendwie waren die<br />
Sicherheitssperren der Tür aktiviert worden. „Du Idiot hast uns<br />
ausgesperrt!“, zischte sie. „Dang, du hast uns ausgesperrt!“<br />
„Was kann ich denn dafür?“<br />
„Arrgh, du bist Tellarit! Du trägst an allem die Schuld!“ Sie senkte<br />
schnell wieder ihre Stimme und drehte den Kopf. Die Tiere scharten sich<br />
noch immer um ihr Opfer und hatten sie bisher nicht bemerkt. Tala sah<br />
den Korridor entlang. Neben allen Türen leuchtete auf einmal ein rotes<br />
Licht. Das heißt, alle anderen Ausgänge waren verschlossen. Sie konnten<br />
nirgendwo hinein. Dann entdeckte sie in ein paar Metern Entfernung<br />
eine Leiter, die zu einem Notschacht führte. Wenn sie sich recht an den<br />
Plan des Gebäudes erinnerte, war dort oben eine kleine Kontrollstation<br />
für die Umweltsysteme. Von dort aus konnte sie zugriff auf die meisten<br />
Energiesysteme erlangen. Tala tauschte einen Blick mit Durkin. „Wir<br />
könnten es schaffen.“, flüsterte sie.<br />
Ohne auf eine Bestätigung von ihm zu warten, setzte sie sich in<br />
Bewegung, behutsam und vorsichtig, tiefer in den Korridor hinein. Auf<br />
die fremden Tiere zu. Durkin folgte auf leisen Hufen. Etwa zehn Meter<br />
trennten sie von der Leiter. Weitere zwanzig Meter dahinter fraßen die<br />
Tiere noch immer an ihrem Opfer. Nun, wo sie langsam näher kamen,<br />
konnte Tala erkennen, dass es sich um den Körper eines Kadetten<br />
handelte. Und sie kannte ihn.<br />
„O mein Gott!“, flüsterte sie. „Sie haben Kenny getötet!“<br />
„Ihr Schweine!“, grunzte Durkin mit geballter Faust.<br />
Tala sah ihn merkwürdig an.<br />
Durkin fragte: „Was denn?“<br />
„Schhht!“<br />
Sie schlichen weiter. Der Weg zur Leiter schien endlos zu sein, und<br />
Tala gewann den Eindruck, dass sie schon seit Minuten darauf<br />
zuschlichen. Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals. Eine falsche<br />
Bewegung, ein zu lautes Geräusch...- Sie wollte nicht daran denken, was<br />
dann geschah. Tala war eine ausgezeichnete Kämpferin und sie scheute<br />
keine Konfrontationen. Aber ein Gefecht gegen diese Tiere würden sie<br />
nicht lange überstehen, dessen war sie sich völlig bewusst und sie wollte<br />
alles unternehmen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Es passte ihr zwar
nicht, vor dem Tellariten wie ein Feigling zu wirken, aber wenn sie<br />
gefressen wurden, nützte das niemandem etwas. Sie hoffte nur, um alles<br />
in der Welt, Durkin würde einmal, einmal den Mund halten.<br />
Nach einer halben Ewigkeit erreichten sie die Leiter. Die Tiere<br />
bemerkten sie noch immer nicht, nährten sich an ihrem Opfer. Tala griff<br />
zur ersten Sprosse. Sie war kalt. Ausnahmslos alles war kalt. Mit dem<br />
Gewittersturm und dem Beginn der Blitze hatte sich die Luft abgekühlt,<br />
selbst in den Gebäuden. Sie begann vorsichtig die Leiter hochzuklettern.<br />
Die Tiere fraßen weiter.<br />
Galak und Sortak hatten inzwischen den Kontrollraum für den<br />
Sekundär-Generator gefunden und liefen zu den Kontrollen. Galak<br />
bekam es mit der Panik zu tun, als er die unzähligen Konsolen und<br />
Monitore betrachtete. „Welche Tasten sind es? Welche Tasten sind es?“<br />
„Halt die Klappe!“, fauchte Sortak. „Ich muss mich konzentrieren!“<br />
„Sieh dir diese Geräte an!“ Galak war sehr aufgeregt. „Die sind doch<br />
uralt! Die werden bestimmt nicht mehr funktionieren. Wir sollten die<br />
Beine in die Hand nehmen und-“<br />
Sortak schlug ihm die Faust ins Gesicht. Galak stürzte und blieb<br />
benommen auf dem Boden liegen. Von irgendwo drang der dumpfe<br />
Knall einer heftigen Explosion, der ganze Boden erzitterte. Sortak<br />
kämpfte gegen düstere Gedanken – Geh zu Sternenflotte, dachte er.<br />
Erlebe fremde neue Welten. Na jetzt siehst du ja, was du davon hast! Er<br />
sah hektisch von einem Schaltpult zum anderen. Für einen kurzen<br />
Augenblick lang glaubte er, die Notabschaltung gesehen zu haben, dann<br />
hatte er sie wieder verloren. Welches war die richtige Konsole?<br />
Doch er musste den verdammten Generator endlich abschalten, oder<br />
sie waren alle tot!<br />
„Ach, sei’s drum!“ Er rannte zu irgendeiner Konsole und drückte auf<br />
bloßen Verdacht hin auf die Knöpfe, um das System zu überladen und<br />
sprach ein kurzes Stoßgebet. Irgendwas tat sich. Der Generator kreischte,<br />
die Anzeigen schlugen aus. Und dann initiierte die automatische<br />
Notabschaltung. Ein Stottern war zu hören und die Geräte fielen aus. Der<br />
Generator verstummte.
Sortak jubelte.<br />
Durkin war nicht zum Jubeln zumute. Er war sogar ausgesprochen<br />
unglücklich. Sein Blick wechselte von der Leiter, an der er hingm zu den<br />
Tieren, die noch immer mit der Leiche Kennys beschäftigt waren und ein<br />
geradezu verlockendes Ziel darstellten. Tatsächlich fühlte sich Durkin<br />
wie auf Tellar, während der Knufu-Jagd. Nur mit dem Unterschied, dass<br />
er an der Jagd ganz offenbar nicht teilnehmen durfte. Seine Ete-petete-<br />
Begleiterin Tala, war ganz offenbar zu feige, sich einem offenen Kampf<br />
zu stellen. Genau wie die anderen. Was hatten die alle nur? Warum<br />
schlichen sie hier durch die Gegend und stahlen sich zu Notleitern, wie<br />
eine Herde verängstigter Grekka-Targs?<br />
Er war kein großer Fan von Verstecken. Das Problem mit dem<br />
Verstecken war, dass es bedeutete einen Plan A zu haben, ohne einen<br />
Plan B. Plan A war >werde nicht gefundenVerdammt. Sie haben uns gefunden. Jetzt sind wir in<br />
Schwierigkeiten
durch die Luke quetschen. Aber sicher nicht, weil er zu dick war.<br />
Sondern, weil die Sternenflotteningenieure die Luken viel zu eng bauten.<br />
Sie waren zweifellos auf die schwachen, dürren Körper der Menschen<br />
geeicht und nicht auf die kräftige Erscheinung eines Tellariten. Einen<br />
Moment lang strampelten Durkins kurze Beine in der Luft, während er<br />
feststeckte. Er strampelte weiter, versuchte die Leiter mit seinen Hufen<br />
zu erreichen, damit er sich abstoßen konnte, doch stattdessen hing er<br />
plötzlich mit einem Hosenbein irgendwo fest. Er grunzte, zog und zerrte,<br />
kam zunächst aber nicht frei. Also zerrte er weiter. Ein lautes Ratschen<br />
war zu vernehmen, als der Stoff seiner Hose riss, dann war sein Bein<br />
wieder frei und mit dem anderen Fuß fand er endlich die Leiter.<br />
Durkin stemmte sich ächzend hoch und war endlich draußen. Nun sah<br />
er, dass ein ganzer Teil des Stoffes an seinem Bein aufgerissen war.<br />
Nicht einmal die Hosen waren besonders stabil hier. Kein Vergleich zu<br />
tellaritischer Wertarbeit!<br />
Nach einer kurzen Verschnaufpause – die er aber eigentlich gar nicht<br />
nötig hatte, wie er sich einredete -, rappelte er sich auf und drehte den<br />
Kopf, um die neue Umgebung in Augenschein zu nehmen. Und was er<br />
sah, war nicht gerade begeisternd. Durkin fand sich in einem kleinen<br />
unscheinbaren Raum mit niedriger Decke und einigen Fenstern an der<br />
Außenwand wieder. Offenbar ein Wartungszimmer. Es gab ein paar<br />
Kontrollmonitore und eine Hauptkonsole. Aber keine Tür. Nur die<br />
Fenster. Sie steckten in einer Sackgasse.<br />
Tala schien seine Gedanken zu lesen, denn sie erstickte seine<br />
Bedenken im Keim. „Ich denke, ich kann von hier aus auf den Generator<br />
zugreifen.“<br />
„Bist du sicher?“<br />
Sie hatte sich bereits hinter die Konsole geschwungen und begann mit<br />
den Händen über die Tasten zu fliegen. „Mit etwas Glück... ja.“<br />
Durkin brummte. „Dann mach! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“<br />
Tala warf ihm einen Blick zu, ersparte sich aber einen Kommentar. Sie<br />
widmete nun lieber ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Kontrollkonsole,<br />
denn ein Zugriff auf den Generator würde bei weitem nicht so einfach<br />
werden, wie sie gerade behauptet hatte. Da sie nicht über die nötige<br />
Zugangsberichtigung verfügte, würde sie sich vielleicht in das System<br />
hacken musste. Sie hoffte inständig, dass diese Systeme der Sternenflotte
nicht besonders gut gesichert waren. Sie war gut. Aber nicht so gut. Aber<br />
Tala musste es zumindest versuchen. Was hatte sie schon für eine Wahl?<br />
Durkin guckte unterdessen zu den Fenstern hinaus. Überall gingen<br />
Blitze nieder. Die Tiere wurden immer mehr und mehr. Inzwischen hatte<br />
es zu schneien begonnen. Eine dünne Eisschicht bedeckte die Gebäude<br />
bereits. Irgendwo explodierte ein Baum und dann sah er hier und dort<br />
vereinzelte Phaserstrahlen der verzweifelten Gegenwehr durch die Luft<br />
fauchen.<br />
Durkin seufzte schwer. Da draußen wurden wenigstens noch<br />
Schlachten geschlagen, während er hier zur Untätigkeit gezwungen war.<br />
Er fragte sich, welche glorreichen Kämpfe die anderen gerade fochten...<br />
Knurrend riss Wotan ein Stück Fleisch aus dem Körper seines<br />
Gegners, während um ihm herum Blitze zu Boden schossen und die<br />
ganze Akademie in Flammen aufzugehen schien. Doch das bemerkte<br />
Wotan nicht mehr, er war in Kampfeslust und nur noch daran<br />
interessiert, zu töten. Er schlug wieder mit den Zähnen zu, rammte sie<br />
tief in die Schultern seines Gegners. Das Tier brüllte wütend auf, als sich<br />
sein dichtes, weißes Fell blutrot färbte. Sein Kopf ruckte herum, als es<br />
Wotan in einer kräftigen Bewegung davon schleuderte.<br />
Der Tiger schlug hart auf und sah einen Moment lang Sterne. Sofort<br />
setzte das Tier mit gesenktem Kopf nach und griff an. Sein Horn zielte<br />
genau auf Wotans Körper. Doch der bemerkte die Attacke noch<br />
rechtzeitig und schüttelte sich die Benommenheit ab. Kurz bevor das<br />
Tier ihn erreichte, prang er mit seinen kräftigen Hinterbeinen auf und<br />
flog über die Bestie hinweg. Das Tier konnte nicht schnell genug<br />
bremsen, sodass es gegen die Wand schlug. Das ganze Laborgebäude<br />
schien zu erzittern.<br />
Doch der Wildheit der Bestie tat das keinen Abbruch. Es wirbelte<br />
herum, entblößte seine Zähne und brüllte Wotan voller Wut an. Es rannte<br />
wieder los. Hätte Wotan über seine normale geistige Kapazität verfügt,<br />
hätte er vermutlich die Flucht ergriffen. Doch so, wo seine animalische<br />
Seite die Oberhand gewonnen hatte, und er in einen Blutrausch verfallen<br />
war, blieb er stehen, um sich dem Angriff zu stellen. Er brüllte aus
vollem Leibe zurück und trat mit der rechten Vorderpfote wie ein Stier<br />
kurz vor dem Angriff aus.<br />
Das Tier sprang und ließ die Krallen durch die Luft sausen. Wotan<br />
blieb wo er war und richtete sich auf. Dann trafen sie aufeinander und<br />
begannen, auf den Hinterbeinen stehend, wild brüllend aufeinander<br />
einzuschlagen. Ihre krallenbewährten Pranken zuckten, sie fügten sich<br />
gegenseitig schwere Schnittverletzungen zu. Die linke, dann die rechte,<br />
dann wieder die Linke. Binnen weniger Sekunden hatten sie schwerste<br />
Schnittverletzungen. Es geschah alles so schnell, fast zu schnell für das<br />
menschliche Auge. Aber keiner von den beiden Kontrahenten war ein<br />
Mensch.<br />
Und Wotan spürte keinen Schmerz. Er schlug einfach nur auf seinen<br />
Gegner ein, als der plötzlich den Kopf senkte und dann mit seinem Horn<br />
nach vorne stieß, um Wotans Schädel zu spalten. Von der Not und seinen<br />
Instinkten angestachelt, schlug Wotan auf einmal durch die Abwehr des<br />
Tieres und schlug ihm die Krallen ins Gesicht. Das Tier stieß einen<br />
Schrei aus, worauf Wotan es wegstieß. Das Tier überschlug sich,<br />
wirbelte Staub auf, kam aber sofort wieder auf alle Viere. Nun standen<br />
sie sich erneut gegenüber, die Zähne gefletscht und sich gegenseitig<br />
belauernd. Das Tier versuchte eine geeignete Stellung zu finden, die es<br />
zu einem erneuten Angriff mit seinem Horn nutzen konnte. Wotan hatte<br />
seine Krallen weit ausgefahren und war bereit, erneut zuzuschlagen und<br />
endlich wieder zu töten, wie früher, in der Savanne Afrikas, bevor er von<br />
Doktor Giger zivilisiert worden war... Zivilisiert. Das Wort löste etwas in<br />
ihm aus. Eine Stimme ertönte in seinem Geist... von einer Person, die gar<br />
nicht hier war. Erinnerungsfetzen.<br />
„Ich bin ein Tiger.“, hatte Wotan gesagt.<br />
Doch Giger hatte den Kopf geschüttelt. „Du kannst mehr sein.“<br />
Mehr sein...<br />
...mehr sein...<br />
Für einen kurzen Augenblick, klärte sich Wotans Geist. Er war keine<br />
wilde Bestie mehr. Er war eine zivilisierte Person. Er hatte so hart<br />
gekämpft, um akzeptiert zu werden... und nun das? Nein! So würde es<br />
nicht ändern. Er sah, wie das Tier wieder mit unbeherrschtem<br />
Wutgeschrei auf ihn zustürmte.
„Dunnerlütschen!“, rief Wotan und wich hastig zurück, während das<br />
Tier immer näher kam. Doch das Tier würde ihn mühelos einholen,<br />
wenn er weiterhin rückwärts lief. Wotan wirbelte herum und rannte, so<br />
schnell er konnte, auf allen Vieren davon. Überall schlugen die Blitze<br />
nieder. Das Fauchen von Phaserfeuer war zu hören, an allen Fronten der<br />
Akademie wurde gekämpft.<br />
Wotan stürmte weiter, die Bestie dicht an seinen Fersen. Genau vor<br />
ihm ragte das Laborgebäude auf. Wotan legte noch einen Zahn zu, sie<br />
wollte schon nach Wotans Schwanz schnappen, doch der Biss des Tieres<br />
ging ins Leere. Und als Wotan unmittelbar vor der Wand war, sprang er<br />
an ihr hoch, schlug die Krallen in das Gestein und stieß sich ab. Dann<br />
geschah alles wie ein Zeitlupe.<br />
Wotan überschlug sich in der Luft, griff dabei nach dem Horn des<br />
Tieres, und nutzte seinen Schwung, um es nach hinten auf den Rücken<br />
zu werfen. Die Zeit bewegte wieder in Bewegung. Das Tier schmetterte<br />
mit dem Schädel zu Boden und rührte sich nicht mehr. Wotan landete<br />
sanft daneben. Wenn er sich noch im Blutrausch befunden hätte, hätte er<br />
die Gelegenheit genutzt, um seine Zähne in den Hals des Tieres zu<br />
schlagen und ihm das Genick zu brechen. Aber da seine zivilisierte Seite<br />
wieder die Oberhand gewonnen hatte, schüttelte er sich zunächst nur und<br />
sah sich dann nach einer medizinischen Tasche um, die er vorhin in dem<br />
Chaos erspäht hatte. Sie lag nur ein paar Meter entfernt.<br />
Wotan sprang schnell herüber, zog die Ausrüstung heraus, und begann<br />
bestmöglich das Tier zu verarzten und vor dem Tode zu bewahren. Das<br />
Tier mochte ihn schwer verwunden, ja sogar töten können, wenn es<br />
wieder erwachte... aber es konnte seiner Seele nichts anhaben, denn er<br />
war kein gewalttätiges Biest. Er war mehr. Er war...<br />
...Wotan!<br />
Durkin beobachtete, wie die Tiere unten an der Leiter vorbeizogen. Er<br />
stand da, mit in den Hüften verschränkten Pranken, sah den Notschacht<br />
herab und betrachtete die merkwürdigen Geschöpfe kopfschüttelnd. Sie<br />
waren primitiv und schwach und keinerlei Bedrohung für einen wahren<br />
Tellariten! Er verstand einfach nicht, warum beim großen Gnuh Tala
solche Angst vor ihnen hatte und darauf bestand, dass sie beide Still sein<br />
und der Konfrontation mit diesen Wesen möglichst aus dem Weg gehen<br />
sollten. Er sah zu ihr herüber. Tala war auf der anderen Seite des Raumes<br />
über der Kontrollkonsole gebeugt, und starrte angestrengt auf die<br />
Monitore, während sie unzählige Datenfolgen in den Computer eingab.<br />
Durkin schnaubte. Andorianer! Hatten einfach keine Ahnung vom<br />
Kampf. Tala war vermutlich nur ängstlich. Das war typisch für ihre<br />
Spezies.<br />
Durkin sah wieder den Schacht hinab. Die drei Tiere kamen nun auf<br />
gleicher Höhe mit der Leiter, und es sah so aus, als würden sie<br />
weiterziehen, als das letzte Tier plötzlich stehen blieb. Es sah sich um<br />
und schnupperte in der Luft. Dann bückte es sich und schien mit der<br />
Schnauze den Boden zu beißen.<br />
Was macht es da, fragte sich Durkin. Das Tier brüllte. Es wühlt weiter<br />
auf dem Boden herum. Und plötzlich hob es den Kopf und hatte etwas in<br />
der Schnauze. Durkin kniff seine schlechten Augen zusammen, um<br />
besser erkennen zu können, worum es sich handelte. Es war ein Fetzen<br />
seiner Hose, die er sich vorhin aufgerissen hatte. Mit glühenden Augen<br />
sah das Tier den Schacht hinauf. Es starrte Durkin direkt an.<br />
Und brüllte.<br />
Shan spürte die Hitze. Und sie spürte die Strahlung. Sie waren in der<br />
Vorkammer der Lagerhalle endmaterialisiert, nur Sekunden, bevor die<br />
Tiere sie zerfleischen konnten. Grellrote Warnlichter blinkten und<br />
tauchten sie und Yoko in blutfarbenes Licht. Nur eine Glaswand trennte<br />
sie noch von ihrem Ziel, hielt den Großteil der Strahlung zurück.<br />
Dahinter toste die Energiesäule aus dem Artefakt, schäumte und<br />
verschwand irgendwo hoch oben, in den Wolken. Der Anblick war<br />
überwältigend. Nichtsdestotrotz war Shan entschlossen, ihrem düsteren<br />
Schauspiel ein Ende zu bereiten. Das schien sie wütend zu machen. Sie<br />
toste, schäumte. Erfüllte die Halle mit einem brausenden Geräusch, wie<br />
ein brandender Ozean.<br />
Yoko klappte seinen Tricorder zu. „Kein Mensch kann die Strahlung<br />
da drin ertragen.“
„Dann wird derjenige, der dort reingeht, um das Artefakt aus der<br />
Halterung zu reißen, also sterben.“ Shan nickte. „Alles andere wäre auch<br />
zu einfach gewesen.“<br />
„Ich werde es tun.“, beschloss Yoko.<br />
„Yoko...“<br />
„Ich bin kein Mensch. Ich halte vermutlich lange genug durch.“<br />
„Nein. Das ist nicht deine Aufgabe.“ Sie traf ihre Entscheidung. „Ich<br />
gehe hinein. Ich habe den Schaden angerichtet, ich werde ihn<br />
wiedergutmachen.“<br />
„Aber-“<br />
„Nein, Yoko!“ Sie sah ihm feste in die Augen. „Ich werde dich nicht<br />
meinen Platz einnehmen und dorthinein gehen lassen. Es ist meine<br />
Verantwortung. Ende der Debatte.“<br />
Yoko sah Shan an. Sie war so völlig und beruhigend berechenbar.<br />
Yoko konnte ihr Gespräch in seinen Gedanken vorwegtragen und wusste<br />
alles, was das Mädchen sagen würde, alles, was sie ihm antworten<br />
würde. Und zwar unlogische, aber typisch menschliche Heldendramatik.<br />
Sie wollte nicht zuhören und sie würde nicht zuhören. Also sagte er das,<br />
was sie hören wollte. „In Ordnung. Wie du möchtest.“<br />
Shan nickte und sah wieder die Energiesäule an. „Das war’s also.“ In<br />
ihrer Stimme schwang Bedauern mit. „Okay. Na gut. Wir informieren<br />
die anderen... und dann gehe ich rein.“<br />
Yoko nickte stumm. Und fragte sich, wie viel Kraft er in den Schlag<br />
bringen musste, um sie zu überwältigen.<br />
Mit einem Knurren begann das erste Tier die Leiter des Notschachtes<br />
hochzuspringen. Wieder und wieder knallte er gegen das Gestänge, das<br />
unter der Wucht des Aufpralls schepperte und schwankte. Die Klauen<br />
des Tieres kratzten über das Metall, dann fiel es zu Boden. Durkin<br />
wunderte sich, wie hoch das Tier springen konnte. Zweieinhalb Meter<br />
hoch, ohne erkennbare Anstrengung.<br />
Eines Tellariten würdig!<br />
Seine Sprünge lockten die anderen beiden Tiere an. Bald war die<br />
Leiter umzingelt, von springenden, brüllenden Tieren. Die Leiter
schwankte, während die Tiere immer wieder dagegen prallten, mit ihren<br />
Pranken Halt suchten und erneut zurückglitten. Aber bemerkenswerter<br />
war, dass sie aus ihren Erfahrungen lernten. Schon hatten einige<br />
begonnnen, mit ihren Vorderläufen die Metallstangen zu packen und sich<br />
daran festzuklammern, während sie mit den Hinterläufen Halt suchten.<br />
Eins der Tiere schaffte es bis knapp unterhalb der Eingangsluke, bevor es<br />
erneut nach unten fiel. Die Stürze schienen den Tieren nichts<br />
auszumachen. Sie standen sofort wieder auf, schüttelten sich und<br />
sprangen erneut.<br />
Tala sah von ihrer Konsole auf, als sie den Lärm registrierte. „Was<br />
geht da vor sich?“<br />
Durkin griff nach dem Hebel für die manuelle Notschottkontrolle, der<br />
sich neben ihm an der Wand befand. Er legte ihn mehrmals kraftvoll um<br />
und sperrte die Tiere mit einem Schott aus. Er hörte sie dumpf dagegen<br />
poltern, doch das Material hielt. Nach ein paar Sekunden schienen die<br />
Tiere das auch zu begreifen; das Poltern hörte auf.<br />
Vermutlich waren sie weg.<br />
„Nichts.“, sagte Durkin. „Arbeite weiter.“<br />
Shan nahm den Blick von der Energiesäule und trat zum nächsten<br />
Wandterminal. Sie aktivierte ihren Kommunikator und schaltete durch<br />
die Bilder der wenigen, noch intakten Überwachungsmonitore.<br />
„Bartez an alle. Bitte melden.“<br />
Ein Knistern. Ein Rauschen.<br />
„An alles verbliebene Personal. Wir werden nun versuchen die Quelle<br />
der Energiesäule zu entfernen. Wir... wir wissen nicht, wie sich das<br />
auswirken wird. Sie sollten alle unverzüglich...“<br />
„Dort.“, sagte Yoko auf einmal und deutete auf die Monitore. Shan<br />
hatte beim durchschalten zufällig eine Kamera erwischt, die Tala und<br />
Durkin zeigte. „... das Gelände verlassen, sofern es ihnen möglich ist.“,<br />
sprach sie weiter. Nehmt die Beine in die Hand. Viel Glück. Bartez,<br />
Ende.“<br />
Sie schloss den Kanal und versuchte sich per Videoübertragung zu<br />
Tala durchzuschalten. Yoko bekam es schließlich hin. Seine Finger
flogen über das Tastenfeld und wenige Augenblicke später stand die<br />
Verbindung. Tala konnte sie nun auch sehen.<br />
„Was macht ihr noch da?“, fragte Shan. „Ihr müsst verschwinden.“<br />
„Wir sind noch nicht so weit.“, sagte Tala gepresst. Sie nahm den<br />
Blick nicht ein einziges Mal von ihrer Computerkonsole, tippte wie<br />
wahnsinnig auf den Tastenfeldern herum. Ihre Stirn glänzte vor Schweiß.<br />
„Der andere Generator ist aus. Aber ich brauche für den hier noch ein<br />
paar Sekunden.“<br />
Shan schüttelte den Kopf. „Du hast keine paar Sekunden mehr. Ich<br />
ziehe das Artefakt jetzt raus, egal ob die Energie noch steht, oder nicht.<br />
Verschwindet lieber. Das ist eure einzige Chance. Hast du verstanden,<br />
Tala?“<br />
Und dann ertönte das Geräusch von etwas, das zerschmettert wurde,<br />
und Shan sah, wie Tala und Durkin auf irgend etwas reagierten, was<br />
außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera geschah. Ein Brüllen, ein<br />
Kratzen. Dann verblasste das Bild. Nur noch Rauschen. Zurück blieb das<br />
höhnische Abbild des Sternenflotten-Deltas. Und Shan wusste, dass es<br />
die beiden nicht geschafft hatten.<br />
„Das ist eure einzige Chance.“, sagte Shan auf dem<br />
Computerbildschirm. „Hast du verstanden, Tala?“<br />
Ehe Tala in der Lage war zu antworten, prallte von außen ein spitzes<br />
Horn gegen das Fenster. Die Scheibe war sofort von spinnennetzartigen<br />
Rissen durchzogen. Tala zuckte zusammen. Sie riss den Kopf herum und<br />
sah kurz eines der Monster hinter dem Fenster. Dann knallte ein anderes<br />
dagegen. Die Scheibe explodierte nach innen und ein Meer nadelspitzer<br />
Scherben ergoss sich durch den Raum. Tala wirbelte verzweifelt zurück<br />
zur Konsole und versuchte weiterzumachen, doch sie wusste, dass nicht<br />
genug Zeit blieb! Das Monster war nun vollständig durch das Fenster<br />
gedrungen und stand brüllend vor ihnen.<br />
Das war der Moment in dem Durkin aktiv wurde.<br />
Er plusterte sich im Bruchteil einer Sekunde auf und machte brüllend<br />
einen Satz nach vorn. Talas Augen weiteten sich vor Erstaunen, als der<br />
Tellarit zum Angriff überging. Durkin schmetterte mit einem
hemmungslosen Heulen seine rechte Pranke gegen das Kinn des Tieres.<br />
Der Kopf des Angreifers flog herum und krachte gegen die Wand. Tala<br />
zwang sich, nicht hinzusehen, sondern sich weiter auf die Konsole zu<br />
konzentrieren. Sie gab die letzten Sequenzen ein. Eine noch, eine noch!<br />
Dann ertönte plötzlich neues Gebrüll und als Tala den Kopf drehte,<br />
erkannte sie, dass ein zweites Tier aufgetaucht war und mit gesenktem<br />
Horn auf Durkin zuspringen wollte. Der konnte das unmöglich sehen, da<br />
er gerade mit dem anderen Tier rang.<br />
Tala fluchte. Das zweite Monster würde ihn mit seinem Horn<br />
durchbohren. Doch das lies sie nicht zu! Nun war auch sie auf den<br />
Beinen, hechtete durch die Luft und warf sich mit aller Gewalt seitlich in<br />
das heransausende Tier, drückte es gegen die Wand.<br />
Durkin brüllte hinter ihr tellaritische Obszönitäten. Auch Tala zischte<br />
wütend. Die Tiere brüllten aus vollem Halse und übertönten beinahe<br />
Durkin.<br />
Tala holte aus, doch ehe sie zuschlagen konnte, stieß ihr Opponent den<br />
Kopf herum. Das verfehlte sie zwar nur knapp mit dem Horn, aber der<br />
Stoß seines schweren Kopfes reichte völlig aus, um Tala von den Beinen<br />
zu reißen. Sie flog im hohen Bogen durch die Luft und knallte gegen die<br />
Konsole. Ein stechender Schmerz durchzog Tals Rücken und drohte, ihr<br />
ihre Sinne zu berauben. Doch Zeit zum Verschnaufen blieb ihr nicht,<br />
denn das Tier kam wie ein Stier auf Tala zu. Und sprang los. Nun befand<br />
sie sich in derselben Situation wie Durkin vorhin; sie war dem Horn<br />
hilflos ausgesetzt. Tala riss die Hände hoch, den tödlichen und<br />
zweifelsohne schmerzlichen Aufprall erwarten. Dann schoss eine pelzige<br />
Pranke hoch und knallte so heftig gegen den Kopf des Tieres, dass seine<br />
Bahn von Tala abgelenkt wurde. Das Monster fuhr mit seinem Horn<br />
genau in eine Konsole hinein. Funken flogen. Es kam zu Kurzschlüssen.<br />
Ein Knallen und dann zuckten Blitze über den Körper des Tieres. Es<br />
wurde bei lebendigem Leib gebraten. Das Wesen heulte zornig, wirbelte<br />
um die eigene Achse und zuckte im Todeskampf. Dann war es vorbei. Es<br />
roch nach verkohltem Fleisch.<br />
Sein Artgenosse rappelte sich gerade wieder auf und von unten begann<br />
das Hämmern gegen die Luke von Neuem. Sie verbog sich diesmal auf<br />
der Stelle.
„Durkin!“, rief Tala. „Es ist zwecklos. Wir können gegen dem Sturm<br />
aus Tieren nicht ankämpfen. Wir müssen irgendwie verschwinden!“<br />
Sie wollte ihn am Bein packen, fing sich aber nur einen festen Stubs<br />
von Durkin ein, der brüllte: „Das geht nur diese pelzigen Trottel und<br />
mich etwas an!“<br />
Der Untergrund erbebte erneut. Irgendwo explodierte ein Gebäude,<br />
draußen ging ein Explosionspilz empor.<br />
Für einen Augenblick wurde das Tier dadurch abgelenkt, es sah sich<br />
nach der Ursache um. Den Moment nutzte Durkin. Zu Talas Entsetzen<br />
warf er sich gegen das Tier und alle beide wurden in einem Gewirr aus<br />
Pelz und Gliedmaßen durch das Fenster geschleudert.<br />
Talas Augen weiteten sich vor entsetzen. Sie wollte zum Fenster<br />
rennen, aus dem Durkin verschwunden war, als ein weiterer Blitz zu<br />
Boden raste. Der Donnerknall war Ohrenbetäubend! Tala geriet ins<br />
Straucheln, stolperte zurück und hielt sich an der Konsole fest. Sie hörte<br />
draußen einen Kampfschrei, ein Fauchen und Brüllen.<br />
Dann nichts mehr. Nur das Fauchen des Schneesturms. Durkin hatte es<br />
nicht geschafft, so viel war klar. Tala gewährte sich einen Moment des<br />
Schocks und der Trauer. Sie trauerte tatsächlich um einen Tellariten. So<br />
weit war es also schon gekommen. Wütend trat sie gegen den<br />
gebratenen, stinkenden Körper des Wesens, dass sie beinahe aufgespießt<br />
hätte. Dabei gab die Konsole ein elektronisches Sprotzen von sich.<br />
Die Konsole!<br />
Tala schwang sich dahinter, prüfte, ob das Tastenfeld noch<br />
funktionierte. Tat es. Sie wollte einen letzten Versuch unternehmen, ihre<br />
Aufgabe zu beenden. Das Hämmern gegen die Luke wurde stärker. Tala<br />
schluckte. Sie tippte die letzte Zahlenfolge ein und bestätigte. Einen<br />
Augenblick lang geschah gar nichts. Sie stöhnte entsetzt auf. Dann<br />
jedoch änderte sich der Bildschirm, zeigte ein grünes Feld. Sie war drin!<br />
Sie hatte die Sicherheitssperren tatsächlich umgehen könne.n Tala<br />
jubelte. Das Feld blinkte erneut.<br />
GENERATOR DEAKTIVIEREN? J/N
Sie betätigte J. Sofort schalteten sich die Geräte und Lichter aus. Der<br />
Generator erstarb. Tala hatte ihre Aufgabe erfüllt. Die Tiere konnten<br />
kommen und sie holen. Nun lag es an Shan und Yoko, den Tag zu retten.<br />
Shan starrte auf den Monitor, auf dem sie eben noch Tala und Durkin<br />
gesehen hatte. Er zeigte nur noch Schnee. Nach einer Weile schaltete sie<br />
ihn ganz ab. Vermutlich waren beide nicht mehr am leben. Vielleicht<br />
waren Shan und Yoko sogar die letzten überlebenden – und ihnen blieb<br />
selbst nicht mehr viel Zeit. Sie schloss die Augen und genehmigte sich<br />
eine Sekunde der Trauer. Sie hatten alles verloren. Innerhalb kürzester<br />
Zeit. Von einem Moment zum anderen, waren ihre Leben in Chaos<br />
gestürzt und nun standen sie vor dem finalen Moment, indem sie beides<br />
– ihre Leben und das Chaos – beenden würden. Sie fühlte sich von allem<br />
weit entfernt: von der Energiesäule, von der Gefahr, vom Universum<br />
selbst. Hinter ihr schritt Yoko ohne ein weiteres Wort zu verlieren, oder<br />
sein Vorhaben anzukündigen, zur Laborhalle. Er begann den<br />
Überbrückungscode der Sicherheitssperre einzutasten. Dies blieb Shan<br />
nicht verborgen. Mit dem sonderbar menschlichen, atavistischen Instinkt<br />
für Gefahr ahnte sie was Yoko vorhatte und wollte ihn mit gewallt davon<br />
abhalten.<br />
„Was machst du da?“ Sie sprang auf, packte Yoko am Arm und riss<br />
ihn herum. Eine nette Geste, denn der Vulkanier war ihr bei weitem<br />
überlegen. „Was hast du vor?“<br />
„Du warst ein hervorragender Anführer.“, sagte er. „Aber es ist nicht<br />
die Bestimmung des Anführers zu sterben.“<br />
„Nicht die Bestimmung? Yoko, wir...“<br />
„Ich bedaure sehr, aber uns bleibt keine Zeit für eine logische<br />
Diskussion, Shan.“ Seine Hand schlug ihr ins Gesicht. Shan hatte die<br />
Ohrfeige nicht kommen sehen. Ihr Kopf flog herum und ein pulsierender<br />
Schmerz schrie in ihrer Wange auf. Sie rieb sie mit der Hand. „Au!“, rief<br />
sie. „Was... was soll denn das?“<br />
„Ich wollte dich kO schlagen.“, erklärte Yoko sein Anliegen. Er war<br />
leicht verwirrt. „Damit du mir nicht folgen kannst.“
„Du schlägst wie ein Mädchen!“<br />
Er probierte es ein weiteres Mal, diesmal mit einer Ohrfeige auf die<br />
andere Wange.<br />
„Au!“<br />
Auch diesmal kippte Shan nicht um. Wankte nur stark. Yoko hob eine<br />
Braue. „Du bist härter im nehmen, als ich dachte.“ Er beließ es bei<br />
diesem letzten gescheiterten Versuch und vertraute auf seine<br />
Schnelligkeit als Vulkanier. Er beendete die Codierung zum Ausschalten<br />
der Sicherheitssperre des abgegrenzten Bereichs und trat, ehe Shan<br />
reagieren konnte, in den kreischenden Energieflux.<br />
Er hatte nur einen kurzen Moment der Ablenkung gebraucht, nicht<br />
mehr. Shan hatte sich die schmerzende Wange gerieben und im nächsten<br />
Moment war Yoko in das Sicherheitsfeld getreten, die Tür hinter ihm<br />
zugleitend. Sie sah, wie er in der Hitze eintauchte und nach dem Urgon<br />
griff. Shan sprang sofort gegen das Glas, hämmerte und trat dagegen.<br />
„Yoko!“, schrie sie. „Yoko, bitte!“<br />
Natürlich konnte er sie nicht hören. Sie konnte sich ja selbst kaum<br />
verstehen. Die Energiesäule brüllte, sang in ihren Ohren. Trotzdem<br />
schrie sie frustriert: „Was habt ihr verdammten Vulkanier nur immer mit<br />
eurer Selbstaufopferung?“<br />
Sie sah, wie die Strahlung ihn verbrannte, seinen Körper zerfraß und<br />
zerstörte. Und das war nicht alles! Yoko hatte Probleme: Er bekam das<br />
Urgon nicht aus der Halterung. Er zerrte daran, zerrte mit aller Kraft,<br />
aber der Urgon löste sich kein Stück. Er schaffte es nicht!<br />
Strahlung sang in Yokos Ohren und übertönte beinahe Shans Schreie,<br />
die auf der anderen Seite der strahlungssicheren Glasscheibe stand und<br />
ihm zubrüllte, er solle herauskommen, sofort herauskommen!<br />
„Yoko, bitte!“<br />
Wie irrational die Menschen doch waren. Es gab für Yoko kein Zurück<br />
mehr, das sollte eigentlich völlig klar sein. Er würde sterben. Mit dem
Betreten des abgesperrten Bereichs hatte er sein Todesurteil<br />
unterschrieben und mit jeder verstreichenden Sekunde rückte der<br />
Moment der ultimativen Wahrheit näher. Anfangs empfand er die Hitze<br />
als recht angenehm, wie helles Sonnenlicht. Eine Strahlenaura bildete<br />
sich bereits um seine Hände; die Strahlen schossen nach vorn, nach<br />
außen, und sogar rückwärts, drangen in jeden Winkel seines Körpers ein.<br />
Er konnte seine Blutgefäße sehen, seine Knochen. Es war überaus<br />
faszinierend. Aber er lies sich nicht ablenken, denn er hatte eine<br />
Aufgabe.<br />
Yoko zerrte weiter an dem Urgon. Die Strahlung wurde stärker, sein<br />
Körper interpretierte sie als Hitze, als unfassbares Höllenfeuer. Er zerrte<br />
weiter. Zerrte, zerrte. Das Artefakt löste sich nicht aus der Halterung. Er<br />
versuchte es weiter.<br />
Während er arbeitete, erinnerte sich Yoko an Ereignisse in seinem<br />
Leben, die ihm intellektuell Freude bereitet hatten. Fragmente von Musik<br />
– vor allem die irdische, wie Sinatra, Klassik – und bestimmte<br />
Erkenntnisse auf den Gebieten der Mathematik und Physik. Und sogar<br />
Freundschaften. Aber er erinnerte sich auch an verpasste Gelegenheiten<br />
und unergriffene Chancen und schließlich fand er sich mit den Dingen<br />
ab, die er überaus bedauerte – allen voran die törichte und unachtsamen<br />
Gedankenverschmelzung, die seinen Geist verwirrt hatten. Wäre er doch<br />
nur disziplinierter gewesen. Geübter, im Bereich mentaler Techniken.<br />
Als Folge seiner Unachtsamkeit war seine Reputation beinahe zerstört<br />
worden. Doch nun würde er vielleicht einen Teil wieder gut machen<br />
können. Sofern es ihm gelang, das Artefakt aus der Halterung zu ziehen<br />
– wogegen es sich noch immer vehement Sträubte. Es war ein Spiel<br />
gegen die Zeit und der Urgon drohte das Spiel zu gewinnen. Yoko<br />
spürte, wie er schwächer wurde. Die Strahlung zertrümmerte die Zellen<br />
seines Körpers, liebkoste ihn wie eine betrügerische Geliebte. Er wischte<br />
sich den Schweiß von der Stirn und ein dunkler Blutstreifen, blieb auf<br />
seinem Ärmel zurück. Blutergüsse breiteten sich auf seinen Händen aus.<br />
Der Schmerz der Anstrengung kroch von den Nervenbahnen zu seinem<br />
Rückrat, in sein Gehirn, und er konnte ihn nicht mehr lange<br />
unterdrücken.<br />
Seine Finger umspannten den Urgon, sein geschundenes Fleisch, seine<br />
schmerzenden Knochen wehrten sich gegen die eiserne Selbstkontrolle,
mit der er sich aufrecht hielt. Er sah, wie seine Haut bei dem Druck<br />
gegen das glatte Metall zerfaserte, zusammen mit seinem Blut kleben<br />
blieb. Es ist zu spät, dachte er. Ich schaffe es nicht.<br />
Und dann spürte er, wie sich Hände über die seinen legten. Shan stand<br />
vor ihm. Sie war ebenfalls durch die Sicherheitssperre getreten. Yoko<br />
hatte vergessen, das Türschloss mit einem Code zu verriegeln. Nun<br />
lächelte sie. In der Gewissheit des Todes lächelte sie. Er konnte nicht<br />
hören was sie sagte, aber er las die Worte von ihren Lippen: „Ich nehme<br />
meine Bestimmung selbst in die Hand.“, sagte sie. „Und die ist, dass wir<br />
zusammenhalten.“<br />
Yoko nicke stumm. Ihre Hände umschlossen den Urgon. Mit<br />
gemeinsamer Kraft zogen sie ihn aus der Halterung. Die Feuersäule<br />
kreischte, das Universum schrie. Dann verging alles im grellen, alles<br />
durchdringenden Licht der Vernichtung.<br />
Tala schob sich durch das gesplitterte Fenster und sah hinaus. Ein<br />
Lichtblitz fuhr durch die Akademie, als die Energiesäule flackerte. Shan<br />
und Yoko standen kurz davor, den Urgon zu entfernen, so viel war klar.<br />
Irgendwie wusste Tala, dass es zu spät kam. Die Akademie lag in<br />
Trümmern, die Gebäude waren zerstört, überall lagen Tote. Doch all dies<br />
war neben der bewegungslosen Gestalt des unter ihr auf dem Dach<br />
liegenden Durkin zweitrangig. Neben ihm befand sich die Leiche des<br />
Tieres, mit dem er im Todeskampf gerungen hatte.<br />
Tala kletterte hinunter und kniete neben ihm hin. Durkin schnappte<br />
nach Luft. Seine dicken Borsten waren merkwürdig gekräuselt und er<br />
schnaubte Tala an. „Du dumme Kuh!“, murmelte er. „Ich musste.. die<br />
ganze Arbeit... allein tun.“<br />
„Du hast die Tiere davon abgehalten, mich umzubringen.“, sagte Tala<br />
verwundert. „Du hast mir das Leben gerettet.“<br />
Durkin hustete und spuckte einen dicken Klumpen einer zähen<br />
schwarzen Flüssigkeit aus. „Du warst ... mir im Weg.. mehr nicht.“ Dann<br />
fröstelte er. „Es ist kalt.“<br />
„Schhht. Rühr dich nicht.“, sagte Tala verzweifelt. „Es kommt schon<br />
wieder in Ordnung, Durkin, es kommt in Ordnung!“ Sie sah sich hilflos
um. Kein Arzt in der Nähe. Kein Sanitäter. Niemand. Sie war völlig<br />
allein. Völlig hilflos.<br />
Der Körper des Tellariten zitterte und er murmelte: „Hör zu,<br />
Andorianerin... tu mir einen Gefallen .... und vermassle es nicht.“<br />
„Alles, was du willst! Alles was du willst!“<br />
„Sag meinen Eltern... dass ich etwa ein dutzend von diesen Biestern...<br />
mitgenommen habe.“<br />
Seinen Schweinsäuglein wirkten, als zögen sie sich einen Moment<br />
zurück, dann rollten sie nach oben. Durkin stieß einen eigenartigen,<br />
rasselnden Atemzug aus. Dann sackte sein Kopf zurück und er rührte<br />
sich nicht mehr.<br />
„Nein!“, schluchzte Tala. Sie umarmte den reglosen Durkin und<br />
verharrte einige Moment in dieser Position. Dabei kullerten ihr Tränen<br />
über die Wange und durchnässten Durkins Uniform. Sie wusste, dass sie<br />
hätte laufen sollen. Aber sie wollte Durkin nicht alleine lassen. Die Ehre<br />
verlangte von ihr, bei ihm zu bleiben, auch, wenn das ihren eigenen Tod<br />
bedeuten würde. Sie verharrte eine Weile über ihn gebeugt, den Kopf auf<br />
seiner Brust liegend, doch dann blinzelte sie. Warum zum Teufel spürte<br />
sie seinen-<br />
Tala richtete sich auf. „Durkin?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn.<br />
„Durkin...“<br />
Durkin rührte sich nicht.<br />
Sie rollte verdrossen die Augen. „Durkin, du atmest noch.“<br />
Durkin rührte sich nicht.<br />
Tala schlug ihm auf den Bauch.<br />
„Au!“, machte Durkin und zuckte zusammen. Er sah sie verärgert aus<br />
seinen Schweinsäuglein an. „Warum schlägst du mich?“<br />
„Warum atmest du noch?“<br />
„Na weil ich...“ Er stutze. „Potzblitz! Warum atme ich eigentlich<br />
noch?“<br />
„Ja, genau das habe ich mich auch gerade gefragt.“<br />
Durkin setzte sich auf und prüfte seinen Körper nach Löchern,<br />
entdeckte aber nur die üblichen. Genaugenommen hatte er nicht einmal<br />
einen Kratzer. Keine Wunden, keine Schrammen... Nichts. Gar nichts!<br />
Er sah Tala verwundert an. „Was in Ghus Namen geht hier vor?“
Galak und Sortak polterten über einen Steg oben im Frachtraum. Arme<br />
und Beine flogen. Sie hatten Shans Nachricht erhalten, waren nun auf<br />
dem Rückweg und sahen sich verzweifelt nach dem verdammten<br />
Liftschacht um, der sie in Sicherheit vor der Explosion bringen sollte.<br />
Aber es war keine Tür in Sicht. Sie konnten kaum etwas sehen. Rauch<br />
quoll zu ihnen hoch, im Raum unter ihnen loderte ein Plasmafeuer. Der<br />
Lärm der züngelnden Flammen war ohrenbetäubend. Draußen dröhnten<br />
dumpfe Explosionen zu ihnen und gelegentlich schüttelte sich der<br />
Boden.<br />
Galak erreichte das Ende des Steges und kam schlitternd vor der Tür<br />
zum Stehen. Er hätte sie beinahe übersehen.<br />
„Die Nottreppen!“, rief er. „Wir müssen hinauf zu-“<br />
Das Gebäude wurde erneut getroffen und Konsole neben der Tür<br />
gesprengt. Eine Feuerwalze erfasste Sortak und er spürte, wie ihn die<br />
Druckwelle wie ein Hammerschlag traf. Er stieß gegen das Geländer,<br />
sein Kopf knallte auf Stahl und er sackte mit schmerzerfülltem Gesicht<br />
zusammen.<br />
Galak wurde von den Beinen gerissen und stürzte über den Steg. Er<br />
kreischte auf und streckte die Arme aus, griff verzweifelt um sich. Im<br />
letzten Moment schlossen sich seine Finger um die Kante des Steges. Er<br />
baumelte an einer Hand, und Rauch wogte um ihn. Da er keine Kleidung<br />
trug, spürte er die Hitze deutlich, spürte, wie sie ihn bereits versengte.<br />
Die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Tränen schossen in seine<br />
schmalen Augen. Fünf Etagen unter ihm tobte auf dem Boden des<br />
Schachts ein Inferno.<br />
Das Metall, das er umklammerte, verbog sich abrupt und begann zu<br />
brechen. Der Schmerz in seinem Arm wurde unerträglich, er rutschte ab.<br />
Er besaß auch nicht genügend Kraft, um sich hinauszuziehen. Ein Finger<br />
löste sich. Dann noch einer. Galak trat verzweifelt um sich, fand aber<br />
keinen Halt. Unter ihm brüllte das Feuer.<br />
Er wandte den Blick von den Flammen ab und schaute nach oben.<br />
Sortak stand anderthalb Meter über ihm.<br />
„Sortak!“, rief Galak durch den Lärm. Seine Stimme zitterte und war<br />
nicht mehr, als ein kehliges Kreischen. „Sortak, hilf mir!“
Sortak rührte sich nicht. Entweder konnte er ihn nicht verstehen, oder<br />
wollte nicht.<br />
„So hilf mir doch, zieh mir hoch!“<br />
Aber seine Augen verengten sich. Und Galak erkannte den<br />
Gesichtsausdruck, die Lethargie in seinen Augen. Erkannte, dass der<br />
Vulkanier ihm nicht helfen würde. Er würde ihn in den qualvollen<br />
Feuertod stürzen und elendig verbrennen lassen. Ein Unfall, würde er<br />
behaupten. Er sei einfach über das Geländer geschleudert. Niemand<br />
würde je die Wahrheit erfahren. Es war vorbei. Galaks Zeit war<br />
abgelaufen.<br />
Er verlor den Halt....<br />
...fiel....<br />
...fiel...<br />
...fiel...<br />
...und wurde von den Flammen verschluckt.<br />
Galak spürte den Aufprall. Sonderbarerweise tat er ihm nicht<br />
sonderlich weh, aber dieser Tatsache schenkte er nicht viel Beachtung -<br />
immerhin verbrannte er gerade bei lebendigem Leib. Galak schrie, als<br />
das Feuer ihn einhüllte, um ihm herum brüllte und sich an seinem Körper<br />
nährte. Und er schrie und schrie...<br />
...bis er realisierte, dass er nun schon seit einer geraumen Weile schrie.<br />
Aber nicht verbrannte.<br />
Galak öffnete die Augen. Er lag inmitten der Feuerbrunst. Den Steg<br />
weiter oben konnte er nicht mehr sehen. Da waren nur noch Flammen,<br />
überall um ihn herum Flammen und nichts anderes. Aber das Feuer tat<br />
nicht weh. Es war substanzlos. Galak runzelte die Stirn. Und während er<br />
hilflos dalag, im substanzlosen Fegefeuer, und darauf wartete, dass ihn<br />
ein schmerzhafter Tod ereilte, sah er im lodernden Feuer Commander<br />
Sturak. Er stand völlig ruhig da.<br />
Und lächelte.<br />
Und winkte.
„Computer ... Programm beenden.“<br />
Worte, die sie eigentlich nicht mehr hätten hören dürfen – weder Shan,<br />
noch Yoko, noch Durkin und auch nicht Galak. Aber sie alle hörten diese<br />
Worte, die der vermeintlich tote Sturak ganz ruhig und sachlich<br />
gesprochen hatte.<br />
Die Überreste des zerstörten Akademiegeländes... der Campus, die<br />
Tiere... das alles verschwand. Die Kadetten stellten fest, dass sie auf<br />
einem Boden standen. Der Raum, in dem sie sich befanden, war riesig,<br />
pechschwarz und wurde auf allen Seiten von einem gelben Netzwerk<br />
sich schneidender Linien durchzogen. Abgesehen von ihnen selbst<br />
befand sich rein gar nichts in dem Laborgebäude. Keine Laboratorien,<br />
keine Korridore, keine Ausrüstung... einfach nur die Tür und die weit<br />
über ihnen hängende Decke.<br />
Tala, die sich ein paar Meter von den anderen entfernt wiederfand,<br />
blinzelte vor Verblüffung. Sie kniete noch immer neben dem nicht<br />
minder verdutzten Durkin, der sich schwerfällig auf die Ellenbogen<br />
stemmte.<br />
„Nicht, dass mich sein Wohlergehen kümmern würde...“, sagte sie und<br />
deutete mit einer Kopfbewegung auf den Tellariten. „Aber warum lebt<br />
der noch? Was ist passiert? Wo sind wir hier?“<br />
Yoko hingegen hatte sofort begriffen. „Ein Holodeck.“, sagte er<br />
erstaunt. „Wir... wir sind auf einem Holodeck. In...“<br />
„In einem Ausbildungszentrum der noch immer völlig intakten<br />
Akademie.“, beendete Sturak den Satz. Er musterte die erstaunt<br />
dreinschauenden Kadetten. „Nichts von dem, was sie soeben gesehen<br />
haben, ist wirklich passiert. Alles, was sie sahen, waren dreidimensionale<br />
Bilder und Figuren, entstanden durch Kraftfeldern, um die ultimative<br />
Illusion von Realität zu erzeugen. Ich habe sie alle in das als Labor<br />
getarnte Holodeck gelotst, mit der Trainingsmission begonnen und wir<br />
haben das Ausbildungszentrum seither nicht mehr verlassen.“<br />
„Ausbildungszentrum?“, fragte Cera lahm.<br />
„Ganz recht.“, bestätigte Sturak. „Es ist gut und schön, dass sie<br />
theoretisch lernen, wie Sie mit einer gefährlichen – ja sogar tödlichen –<br />
Situation umzugehen haben. Aber nichts geht über eine grundsolide<br />
praktische Erfahrung. Wir machen das mit allen Kadetten. Unnötig zu
erwähnen, dass ihr mit dieser Einrichtung über niemanden sprechen<br />
dürft, um anderen die... Überraschung nicht zu verderben.“<br />
Shan starrte ihn an. „Soll das heißen... das war alles nur erfunden?“<br />
„Erstunken und Erlogen.“ Sturak hielt den Urgon hoch. „Es hat nie<br />
Monster gegeben.“, erklärte er. „Grau hier, hat mit seinen überragenden<br />
Computerprogrammierfähigkeiten die Prüfung nicht nur geschrieben,<br />
sondern auch spontan auf jede eurer Reaktionen reagiert und die<br />
Simulation in eine andere Richtung getrieben – je nach dem, wie ihr<br />
vorgegangen seid. Er war eine große Hilfe.“<br />
Grau verneigte sich, dann wieder mal hierhin, mal dorthin.<br />
„Die Tiere, mit denen sie sich konfrontiert sahen... waren nicht real.<br />
Wir haben sie so gut wie möglich nachgestellt, aufgrund der<br />
Beschreibung, die Shan mir lieferte, als sie von ihrem Aufenthalt auf<br />
Frigoria erzählte. Du warst leider etwas vage, Shan, daher haben wir sie<br />
nicht ganz getroffen.“<br />
„Nur... simuliert?“, fragte sie stirnrunzelnd.<br />
Sturak nickte. „Gegen was du da in dieser Höhle gekämpft hast, Shan,<br />
war wirklich nur ein Tier. Nichts weiter. Kein Wächter. Keine Ausgeburt<br />
einer außerirdischen Büchse der Pandora. Der Urgon hier...“ er Wog das<br />
Relikt in seiner Hand. „...hat ganz sicher kein Reich vernichtet. Er ist<br />
nämlich nur... eine Statue. Und ein Objekt, um das man eine nette, aber<br />
völlig an den Haaren herbeigezogene Geschichte stricken konnte.“<br />
Draußen grollte leiser Donner. Sturak zuckte mit den Schultern, als die<br />
Kadetten sich fragende Blicke zuwarfen. „Auch in San Francicso<br />
herrscht mal ein Unwetter und diese Einrichtung hier ist offenbar nicht<br />
Schalldicht. Wir mussten das also in die Simulation miteinbeziehen,<br />
damit sie nicht enttarnt wird“<br />
Sie sahen ihn noch immer an wie Autos. „Es war eine Prüfung.“,<br />
erklärte er noch einmal. „Und nichts ist passiert. Wir haben sie alle... mit<br />
ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert und ihre Belastbarkeit getestet.<br />
Sie dachten, sie hätten in der Vergangenheit versagt, aber die Qualitäten,<br />
die jeden von ihnen auszeichnen – Mut, Opferungsbereitschaft, Instinkt,<br />
Intelligenz und Führungsqualität – formten, sobald sie vereint waren -<br />
aus einer Gruppe zerstrittener und unterschiedlicher Kadetten, eine<br />
Macht, die mehr war, als die Summer ihrer Teile. Und genau darum geht<br />
es in der Flotte. Sie haben das Ideal der Akademie hervorragend
präsentiert; dass wir alle, trotz unserer Unterschiede, zusammenarbeiten<br />
und an einem Strang ziehen können.“<br />
Er streckte den Arm aus und hielt Shan den Urgon entgegen. „Du hast<br />
dich gut gemacht bei deinem ersten Kommando. Die Truppe<br />
zusammengehalten, einen kühlen Kopf bewahrt... ja sogar einen deiner<br />
Leute zum Wohl des Ganzen zurückgelassen. Ich gratuliere. Ich würde<br />
erwarten, dass die Kommandolaufbahn die richtige für dich ist?“<br />
Shan nahm den Urgon vorsichtig aus Sortaks Hand. Und in ihren<br />
Augen blitzte etwas, als sie das Artefakt betrachtete. Sie fühlte plötzlich<br />
dieselbe wissenschaftliche Neugierde, die sie bereits als kleines Kind<br />
zum Ausdruck gebracht hatte, als sie ihr erstes Relikt aus längst<br />
vergessener Zeit gesehen hatte. Ein heiliger Moment. Ein Moment der<br />
Erleuchtung. Wilde Tiere und Artefakte. Sie hätte wütend sein können<br />
auf Sturak – und dazu besaß sie jedes Recht. Er hatte sie hergelockt und<br />
beeinflusst. Aber sie war nicht wütend. Sie war ihm sogar dankbar.<br />
„Nein.“, sagte sie langsam, ohne den Blick von dem Urgon<br />
abzuwenden. „Es wird Zeit, dass wir aufhören, unser Leben nach den<br />
Erwartungen anderer zu gestalten um einfach die zu sein, die wir sind –<br />
wer immer das auch sein mag.“ Sie sah auf und Sturak in die Augen.<br />
„Ich denke, ich weiß jetzt, was ich will.“ Sie lächelte. „Jetzt weiß ich es<br />
endlich.“<br />
Es war die ganze Zeit vor ihrer Nase gewesen. Und sie hatte es nicht<br />
erkannt.<br />
Sortak räusperte sich. „Sie haben sich alle hervorragend bewährt und<br />
so gut wie alle Situationen anstandslos gemeistert. Nun.. nicht alle.“ Sein<br />
Blick fiel auf Sortak, der sich gerade erhoben hatte.<br />
Sortak ballte die Fäuste und alle rechneten schon damit, dass er seinem<br />
Vater nun an die Kehle springen würde, aber er hatte sich unter<br />
Kontrolle. „Du Mistkerl!“<br />
„Mistkerl? Du wolltest eine Chance. Das hier war sie. Ich habe sie dir<br />
gewährt. Nun... zum Großteil hast du bestanden. Bis zu diesem Passus<br />
am Ende.“ Sturak seufzte. „Ich hatte wirklich gehofft, du würdest es<br />
schaffen. Aber leider... hast du dich nicht geändert, Sohn.“<br />
Sortak sagte nichts. Er glättete seine Jacke, trat auf Seinen Vater zu...<br />
Und an ihm vorbei. „Computer... Ausgang!“<br />
Am Ende des Raumes erschien eine Tür. Sortak ging wortlos hinaus.
„Geh nicht.“, sagte Shan. „Bitte.“<br />
Sortak packte seine letzten Besitztümer zusammen. Er stand in<br />
Zivilkleidung da. Seine Kadetten-Uniformen hingen ordentlich im<br />
Schrank. Langsam sah er zu Shan herab. Und lächelte schief. Zum ersten<br />
Mal seit langer Zeit lächelte er. Das echte, warmherzige Lächeln, des<br />
zufriedenen Sortaks, den man nur selten erlebte.<br />
„Es gibt nichts daran zu rütteln, Shan.“, erklärte er. „Ich bin mit der<br />
Akademie fertig.“<br />
„Ach komm schon. Das habe ich auch gedacht. Ja, gut, du hast einen<br />
Fehler gemacht. Wer tut das nicht? Wir sind hier, um aus den Fehlern zu<br />
lernen, nicht, um alles von Anfang an richtig zu machen, weißt du noch?<br />
Das hat Tuvok gesagt. Und er sagte, nicht einmal Vulkanier machen<br />
alles richtig.“<br />
„Aber ich mache gar nichts richtig. Zumindest... wenn ich versuche<br />
meinem Vater gerecht zu werden. Du hast es doch selbst gesagt. Es ist<br />
Zeit, dass wir aufhören unser Leben nach den Erwartungen anderer<br />
auszurichten. Shan, du gehörst hier hin. Aber ich... verstehst du denn<br />
nicht? Das ist ... eine Erleichterung für mich. Ich bin nicht für die<br />
Sternenflotte geschaffen. Ich war es nie und werde es nie sein.“<br />
„Unsinn!“, sagte Shan heftig. „Du schaffst, was immer du willst. Du<br />
musst es nur wollen.“<br />
„Ja, eben. Aber ich will das nicht.“<br />
Er setzte sich auf die Bettkante und betrachtete seine gepackte Tasche.<br />
„Ich bin jahrelang mit Vaters Zorn aufgewachsen. Ich habe versucht ihm<br />
zu gefallen und ... na ja. Wozu überhaupt? Du hast doch selbst gesagt,<br />
wir sollten endlich anfangen, wir selbst zu sein. Das schaffe ich hier aber<br />
nicht. Ich bin nicht mit den Ansprüchen des Studiums fertig geworden,<br />
und noch viel weniger mit den Ansprüchen an die Einschränkungen, die<br />
man bei der Sternenflotte eingehen muss. Ich meine... na, komm schon,<br />
Shan, du hast doch gesehen, wie es mir erging. Du hast gesehen, dass ich<br />
dieses Sternenflottige einfach nicht drauf habe.“ Er hob und senkte die<br />
Schultern. „Witzig, nicht? Während ich versucht habe meinem Vater zu<br />
gefallen, war das der falsche Weg. Und du, hast genau das Gegenteil
versucht. Und das war für dich der falsche Weg. Jetzt sind wir beide auf<br />
der Spur.“<br />
„So? Meinst, du wirklich, ich gehöre hier hin?“<br />
Sortak lachte lauf auf. „Du bist der einzige von den Pappnasen hier,<br />
mit ein bisschen Grips in der Birne. Die Sternenflotte braucht dich mehr<br />
als alles andere.“<br />
„Ach Sortak.“, seufzte Shan. „Was soll ich denn hier nur ohne dich<br />
machen?“<br />
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und sah ihr ernst in die Augen.<br />
„Dasselbe, was du immer machst: Überleben. Die Zeiten, in denen du<br />
einen Beschützer brauchtest, die sind längst vorbei. Ich weiß nicht<br />
einmal, ob es sie jemals gab. Du musst dich niemandem unterlegen<br />
fühlen, Shan. Niemals. Dafür gibt es nicht den geringsten Grund. Und du<br />
wirst hier bleiben, und du wirst Erfolg haben, und du wirst eine<br />
unglaubliche Karriere machen, Shan. Und wenn du jemals Hilfe<br />
brauchst, oder in Bedrängnis gerätst... dann bin ich für dich da. Immer.<br />
Ich würde ohne zu zögern mein Leben für dich geben. Hast du mich<br />
verstanden?“<br />
Shan nickte. Sie legte die Arme um ihren vulkanischen Freund und<br />
drückte ihn an sich... ganz fest. Am liebsten hätte sie ihn nicht<br />
losgelassen, aber natürlich wusste sie, dass sie ihn nicht hier behalten<br />
konnte. Also trat sie zurück.<br />
„Mach uns stolz“<br />
Shan grinste schief. „Bezweifelst du, dass ich das tun werde.“<br />
Sortak nahm seine Tasche, ging zur Tür und drehte sich zu Shan um.<br />
„Nein“, sagte er.<br />
Und dann war er fort.<br />
Persönliches Logbuch,<br />
Sha’Nyn Bartez<br />
Nachtrag<br />
Hey Dad,<br />
Der Frischlingsommer ist so gut wie vorbei. Das waren ein paar...
interessante Wochen. Sehr ereignisreich. Alles hat sich irgendwie doch<br />
noch zum Guten gewandt, denke ich. Aber ich schätze du weißt davon<br />
längst, huh? So wie du immer alles weißt. Ich dachte, auf die Akademie<br />
zu gehen sei eine falsche Entscheidung. Du weißt schon, eine jener<br />
Entscheidungen, bei der wir ganz genau wissen, dass wir sie in dem<br />
Moment... in der Minute... und besonders am Tag nachdem wir sie<br />
getroffen haben, fürchterlich bereuen. Soll ich dir mal was sagen? Ich<br />
bereue es nicht mehr sie getroffen zu haben. Im Gegenteil. Ich begrüße –<br />
und benötige – die Erfahrungen, die ich in den vergangenen Wochen<br />
machen durfte. Jetzt wird es Zeit diese Erlebnisse für einen neuen<br />
Anfang zu nutzen. Denn etwas hat sich geändert. Ich kann selbst nicht<br />
genau sagen was... kein großes Ereignis hat das Ausgelöst... aber auch<br />
kein kleines.<br />
Und trotzdem ist es da – eine neue Selbstsicherheit... irgendwie habe<br />
ich ein viel klareres Bild von der Welt... und vor allem von mir selbst. Ich<br />
habe in der Vergangenheit viele Linien gezogen, Grenzen, die ich<br />
niemals übertreten wollte, und die mich verunsicherten. Ich weiß nun,<br />
dass, wenn man bereit ist einige Risiken einzugehen, und dem Wind<br />
vertraut, dann kann man alles erreichen. Die Aussicht auf der anderen<br />
Seite der Linie ist spektakulär.<br />
Ich weiß nun, wer ich bin. Und was ich will. Mom, Dad...<br />
...danke. Für alles. Ich liebe euch.<br />
Shan.<br />
Die Studiengruppe hatte sich am späten Abend nach langer Zeit wieder<br />
gemeinsam versammelt und alle saßen in Shans Quartier, als sie<br />
hereinkam. In dem Moment, als sie eintrat und im Türrahmen stehen<br />
blieb, hoben die jungen Leute die Blicke von ihren Datenblöcken, sahen<br />
Shan an und warteten ab, was passieren würde.<br />
Sie waren alle da. Galak... Yoko... Tala... Grau... Wotan... Cera... und<br />
Durkin. Eine ganze Weile sagte niemand etwas. Als das Schweigen<br />
schier unerträglich wurde, sah sich Tala nach den anderen um. Sie<br />
erkannte aber, dass sie keine Rückendeckung zu erwarten hatte. Also<br />
atmete die Andorianerin tief ein, als ob sie sich wappnen müsste, stand
auf und trat auf Shan zu. Sie bewegte sich achtsam und hielt immer<br />
danach Ausschau, ob Shan ihre Fäuste ballen und ihr ans Kinn werfen<br />
wollte. Aber nichts davon geschah. Shan stand einfach nur da, in der Tür,<br />
und lies Tala nicht aus den Augen.<br />
„Du hast dich also endlich für einen Karrierezweig entschieden.“<br />
Shans Mine war ausdruckslos „Ja.“<br />
„Archäologie und Anthropologie als Hauptfach, habe ich gehört.“<br />
„Ja.“<br />
„Genau deine Spezialität, was?“<br />
„Uh-huh.“<br />
Wieder schweigen.<br />
„Hm.“, machte Tala. Shan wollte es ihr also nicht einfach machen.<br />
Aber damit hatte sie gerechnet. In den Händen hielt sie eine kleine<br />
Datendisk mit der sie ein paar Momente nervös herumspielte. Schließlich<br />
hielt sie die Scheibe zögernd Shan entgegen. Die sah stirnrunzelnd von<br />
Tala zu der Disk. „Was ist das?“<br />
Tala zuckte mit den Schulter. „Das erste Album, das Warpdrive<br />
rausbrachte. Du weißt schon. Als dir die Gruppe noch gefallen hat.<br />
Schau mal. Ist handsigniert.“ Sie tippte auf die Disk. „Siehst du?“<br />
Shan schwieg einen Augenblick lang. Dann nahm sie schließlich die<br />
Disk entgegen. Tatsächlich, eine Insignie von Judy D’Agosta.<br />
„Für mich?“<br />
Wieder das Schulterzucken. „Ich dachte, du könntest sie vielleicht<br />
brauchen. Wenn man sich vom Lernen mal ablenken will, weißt du? Ich<br />
hatte ein paar Credits und...“ Sie sah zu Galak. „Und über Umwege ein<br />
paar gute Kontakte geschlossen, über die ich das Album noch besorgen<br />
konnte.“<br />
Shan sah kurz zu Galak und dann wieder zu Tala. Zu Talas<br />
Erleichterung hoben sich ihre Mundwinkel ein paar Zentimeter. „Ist das<br />
wahr?“, fragte sie.<br />
„Na ja... irgend so ein Typ halt.“<br />
„He.“, machte Galak und warf ihr ein Kissen über. Er traf sie genau an<br />
der Schulter. Aber Tala schenkte dem gar keine Beachtung, das Kissen<br />
prallte einfach ab. Sie grinste aber und beugte sich zwinkernd zu Shan<br />
herüber. „Hat ein bisschen Ärger wegen ihm mit einer guten Freundin<br />
gegeben, aber wirklich, wirklich feste Freundschaften sollten so etwas
auch mal verkraften können.“<br />
Shan hob die Brauen. „Sollten sie?“, fragte sie.<br />
„Ich denke schon. Oder?“<br />
„Hm.“ Shan sah wieder auf die Disk. „Du kannst mir aber nicht jedes<br />
mal eine Musikdisk von Warpdrive schenken, wenn du meine Gefühle<br />
verletzt.“<br />
„Ich weiß.“, grinste Tala. „Aber es gibt ja noch genügend andere<br />
Musikgruppen.“ Sie zwinkerte. Und damit ging sie wieder an den<br />
Schreibtisch zurück.<br />
Auch Shan musste Grinsen. Sie betrachtete die Disk in ihren Händen<br />
und las die Widmung: Für Shannyn. Danke für alles – Judy. Das war<br />
merkwürdig. Ihr Name war falsch geschrieben. Shannyn... Shannyn....<br />
sie probierte den Geschmack des Wortes. Klang nicht schlecht. War auch<br />
leichter zu auszusprechen.<br />
Shannyn.<br />
Gefiel ihr gut. Wirklich gut. Hatte einen netten klang. Sie würde sich<br />
den Namen merken. Aber was hatte es mit dem „Danke für alles“ auf<br />
sich? Sie war Judy D’Agosta nie zuvor begegnet. Ein Schatten viel über<br />
die Disk und als sie wieder aufsah, stellte sie fest, dass nun Galak vor ihr<br />
stand. Er wusste einen Augenblick lang nicht, was er tun sollte.<br />
„Die Sternenflotte versteht uns junge Leute einfach nicht.“, sagte er<br />
schließlich.<br />
„In dieser Hinsicht stimme ich sogar mit dir überein.“<br />
„Zum Beispiel“, fuhr Galak fort. „könnten unsere Lehrer glauben, der<br />
Versuch, uns gegenseitig das Leben zu retten, als wir dachten, in der<br />
attackierten Akademie zu sein, hätte bewirkt, dass wir jetzt besser<br />
voneinander denken. Dass wir jetzt wieder Freunde seien und uns gut<br />
verstehen würden. Unsere Lehrer könnten das glauben, habe ich gesagt.“<br />
„Richtig.“, entgegnete Shan ernst. „Aber unsere Lehrer würden die<br />
berühmte Starrköpfigkeit und Überheblichkeit eines Orsorianers nicht<br />
verstehen.“<br />
„Die lediglich“, stellte Galak fest. „der berühmten Starrköpfigkeit und<br />
Überheblichkeit einer Bartez gleichkommt.“<br />
„Auch in dieser Hinsicht stimme ich mit dir überein.“<br />
„Es wäre also sinnlos, sich an Dekan Barclay zu wenden und eine<br />
Versetzung in eine andere Klasse zu beantragen.“, sagte Galak
schließlich. „Er würde darauf bestehen, dass wir zusammenbleiben, in<br />
der vergeblichen sternenflottigen Hoffnung, dass wir lernen, einander<br />
wieder zu respektieren und uns irgendwann vielleicht sogar – der<br />
Himmel soll es verhindern – mögen. Oder mehr.“<br />
„Lächerlich.“<br />
„Absurd.“<br />
„Ja, einfach abwegig. Und dennoch...“ Shan seufzte. „Hast du<br />
wahrscheinlich recht. Anscheinend müssen wir uns auch weiterhin<br />
irgendwie zusammenraufen.“<br />
Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „In der Tat.“<br />
Shan atmete geräuschvoll ein und wieder aus. Galak trat respektvoll<br />
beiseite. Shan legte die Hände auf den Rücken und wanderte durch den<br />
kleinen Raum, an den anderen vorbei, wie eine Kommandantin, die ihre<br />
Crew prüfte. Wotan lag auf dem Bett und wedelte gemächlich mit dem<br />
Schwanz. Nun wusste er, dass er die Kontrolle über seine wilde Seite<br />
behalten konnte, und Tala hatte sich eingestehen müssen, dass ihre<br />
Vorwürfe ihm gegenüber, nicht gerechtfertigt waren. Infolgedessen<br />
ärgerte sie ihn auch nicht mehr mit dem Spitznamen Pussy-Cat, sondern<br />
nannte ihn fortan nur noch Battle-Cat – was Wotan sehr schmeichelte.<br />
Grau knotete unentwegt seine Finger, sah mal hierhin, dann mal<br />
dorthin anschließend zu Shan, und dann wieder ganz woanders hin. Ob<br />
er überhaupt etwas von ihren zwischenmenschlichen Problemen<br />
mitbekommen, oder verstanden hatte, vermochte niemand so genau zu<br />
sagen. Aber er hatte die Holodeck-Simulation so programmiert und<br />
spontan umgeschrieben, als hätte er genau gewusst, worauf es ankam,<br />
welchen Schalter er bei jedem einzelnen anwenden musste, um sie alle<br />
wieder zusammenzuführen.<br />
Yoko machte sich gerade eine Notiz, sich später Notizen zu machen –<br />
worüber nun niemand mehr einen zynischen Kommentar von sich gab.<br />
Sie hatten alle begriffen, dass sein Geist in merkwürdigen Bahnen<br />
arbeitete, aber zur Stelle war, wenn es drauf ankam. Von allen war es<br />
vielleicht sogar er gewesen, der am vernünftigsten und am ehesten im<br />
Sinne der Sternenflotte gehandelt hatte. Er war bereit gewesen, sich für<br />
sie alle zu opfern. Und diese Aufopferungsbereitschaft vergaß niemand.<br />
Durkin war bester Laune. Er rieb sich den Bauch und lächelte wie ein<br />
Weihnachtsmann. Zwar bekam er sich noch immer ohne Unterlass mit
Tala in die Wolle, aber – auch wenn das niemals einer von beiden<br />
bereitwillig zugegeben hätte -, empfanden sie tief in sich drin einen<br />
großen gegenseitigen Respekt zueinander, auch wenn man ganz genau<br />
hinhören musste, um das zwischen all den Spitzen, die sie sich gaben, zu<br />
bemerken.<br />
Als letztes blieb Shan vor Cera stehen. Die Pakled, frischgebackene<br />
Kadettin im Transporterbereich, unter Professor O’Brians Aufsicht,<br />
straffte ihre Gestalt. Shan sah ihr tief in die Augen. „Cera, schau – es tut<br />
mir aufrichtig leid, was ich im Korridor gesagt habe. Ich war wütend<br />
und...-“<br />
„Gemein?“<br />
„Ja. Du hast vollkommen recht – ich war gemein.“<br />
Cera versuchte ganz offensichtlich ein Lächeln zu unterdrücken.<br />
„Echte Freundschaften sollten darüber stehen tun.“<br />
Shan schmunzelte und streckte die Hand aus. Die Pakled ergriff sie<br />
sofort.<br />
„Vergeben und Vergessen?“<br />
Cera nickte. „Einverstanden.<br />
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Galak.<br />
Shan drehte sich zu ihm um. „Was wohl?“ Sie griff nach dem<br />
elektronischen Datenblock, den Durkin ihr entgegen hielt und warf einen<br />
Blick auf die Vorlesungen des Abends. Quantenmechanik bei Dax. Dann<br />
warf sie Galak den Datenblock zu, der ihn geschickt auffing.<br />
„Lernen natürlich.“, erklärte sie und zog sich einen Stuhl heran. „Wir<br />
sind doch schließlich eine Lerngruppe, oder?“<br />
Draußen, in einiger Entfernung zum Zimmer, stand Matt Bartez in<br />
einer der weitläufigen Parkanlagen neben seinem alten Freund Sturak,<br />
und legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Über ihnen<br />
glitzerte ein Meer aus Sternen.<br />
„Tut mir leid, wegen deinem Sohn.“<br />
„Er wird seinen Weg gehen.“, entgegnete der Vulkanier. „Außerhalb<br />
der Akademie. Da bin ich sicher.“<br />
Matt wölbte verwundert die Brauen. „Kein Zorn mehr?“
„Oh doch.“, seufzte Sturak. „Eine Menge Zorn sogar. Auf beiden<br />
Seiten. Aber.. ich sah seine Besorgnis um mich, während der Simulation.<br />
Ich... war mir nicht bewusst, dass seine Gefühle für mich so stark sind,<br />
und... ich muss gestehen, dass ich viele Fehler gemacht habe. Ich war zu<br />
hart zu ihm. Da ist doch noch eine tiefe Zuneigung zwischen uns<br />
vorhanden, eine tiefe Verbundenheit. Vielleicht... vielleicht ist das ein<br />
Grundpfeiler, auf dem wir in Zukunft aufbauen können, um einander<br />
wieder näher zu kommen. Aber das wird seine Zeit dauern... denn... denn<br />
so schnell sind wir alten Herren nicht im Vergeben.“<br />
„Im Gegensatz zur nächsten Generation.“, sagte Matt und deutete<br />
Richtung der Kadettenwohnung, in der sich die Lerngruppe eingefunden<br />
hatte. „Sieh sie dir an, Sturak. Die haben all ihre Differenzen<br />
überwunden. Offenbar haben sie uns alten Hasen schon einiges voraus,<br />
was?“<br />
„Oh ja.“ Sturak dachte nach. „Findest du es nicht bedenklich? Dass du<br />
Shan manipulierst, meine ich?“<br />
Matt atmete schwer ein. „Ich erinnere mich an einen Vulkanier, der<br />
sich in unserer schwersten Stunde zu mir über seine Konsole beugte, und<br />
sagte >du glaubst zu schieben und wirst geschoben
gesehen habe... Und wir alle wissen, was aus denen wurde.“<br />
Er deutete zu den Kadettenunterkünftigen, dort, wo noch Licht<br />
brannte. „Bei dieser Gruppe dort spielen Sie mit dem Feuer, das<br />
garantiere ich Ihnen.“<br />
„Aus keinem anderen Grunde habe ich sie zusammengestellt,<br />
Boothby.“, erklärte Matt. Er zog einen kleinen, funkelnden Kristall aus<br />
seiner Jackentasche hervor und betrachtete ihn geistesabwesend. „Die<br />
Galaxie ist ein gefährlicher Ort. Auf andere Art als sie es bei uns damals<br />
war. Es wird eine völlig neue Generation an Sternenflottenoffizieren<br />
nötig sein, um dafür zu sorgen, dass die Föderation und ihre Ideale<br />
überleben. Sie müssen voller Überraschungen sein.“<br />
Eine Zeitlang sagte niemand etwas. Dann fragte Matt irgendwann an<br />
Boothby gewandt: „Woher wussten Sie es? Diese Simulation war Ihre<br />
Idee, Boothby. Woher wussten Sie, dass die Kadetten sich bei gerade<br />
diesem Szenario zusammenraufen würden?“<br />
„Hab ich nicht. Aber ich kenne die jungen Leute. Und ich wusste,<br />
wenn es einen Weg gab, erfolgreich aus so einer gefährlichen Situation<br />
zu kommen, dann würden sie ihn finden... so lange sie nur<br />
zusammenhalten. Heh, es ist nicht so, als ob denen das bewusst wäre. Sie<br />
glauben es zu wissen, aber in Wahrheit haben sie keine Ahnung, welche<br />
dunklen Dinge dort draußen auf sie warten. Ja, sehr dunkle Dinge sogar.<br />
Aber, heh, sie sollten nun begriffen haben, dass sie noch eine Menge zu<br />
lernen haben... und das Unerwartete zu erwarten.“ Er hob den<br />
Zeigefinger. „Und sie haben eine andere Sache gelernt. Dass, egal wie<br />
Dunkel es wird, egal wie schlecht die Dinge stehen, und egal wie<br />
hoffnungslos die Situation erscheint - wenn sie zusammenhalten,<br />
kommen sie aus allem wieder heil raus. Und schließlich, in einem<br />
Universum, in dem alles und jeder durch diese kalte, schwarze Distanz<br />
getrennt ist... trifft diese Weisheit nicht auf uns alle zu?“<br />
„Bessere Worte wurden nie gesprochen.“, bemerkte Sturak.<br />
„Dann, heh, ist es Zeit beiseite zu treten und ihnen den Freiraum zu<br />
lassen, den sie brauchen, denken sie nicht meine Herren?“<br />
Matt lächelte – nicht ganz ohne Bitterkeit. „Das ist der schwerste<br />
Schritt, Boothby. Das ist der schwerste Schritt.“<br />
„Schauen Sie mir einfach zu“, sagte Boothby und ging voraus. „Ich<br />
zeige Ihnen wie es geht.“
Matt blieb noch einen Moment stehen und blickte zurück zum Zimmer<br />
seiner Tochter, ehe er seinen Freunden folgte. Und während sie sich<br />
zurückzogen, und im Schatten der Bäume verschwanden, bereiteten sich<br />
die Kadetten auf jene kalte Distanz vor... denn sie wartete bereits. Auf<br />
jeden einzelnen von ihnen.<br />
ENDE
Unnötiger Zusatz:<br />
Achtung: Die Stunts in diesem Buch wurden ausschließlich von Profis<br />
erdacht und sind nicht zur Nachahmung geeignet. Wir übernehmen keine<br />
Haftung für Folgeschäden. Rechtschreibfehler wurden bewusst platziert<br />
und dienen der Belustigung anderer. Während den Schreibarbeiten<br />
kamen weder Menschen, noch Tiere zu schaden. Eine elektronische<br />
Maus verschied im Alter von nur drei Jahren an Kabelversagen und eine<br />
Festplatte erlitt durch chronischen Virenbefall eine Totalamnesie,<br />
befindet sich inzwischen aber wieder auf dem Weg der Besserung.<br />
Geldspenden und aufmunterte Worte für die Angehörigen bitte an<br />
folgende Adresse: Damon1984@web.de