Dissertation - Veterinärmedizinische Universität Wien
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DISSERTATION<br />
Titel der <strong>Dissertation</strong><br />
Globale Erwärmung und neu auftretende<br />
Infektionskrankheiten am Beispiel<br />
der Usutu Virus Epidemie in Österreich<br />
angestrebter akademischer Grad<br />
Doktorin der Naturwissenschaften (Dr.rer.nat.)<br />
Verfasserin: Mag.rer.nat. KATHARINA BRUGGER<br />
Matrikelnummer: 9804228<br />
<strong>Dissertation</strong>sgebiet<br />
(lt. Studienblatt): Meteorologie<br />
Betreuer:<br />
A.Univ.-Prof. Dr. Franz Rubel<br />
<strong>Wien</strong>, Jänner 2008
Inhaltsverzeichnis<br />
Zusammenfassung<br />
Summary<br />
Danksagung<br />
vi<br />
vii<br />
viii<br />
1 Einführende Bemerkungen 9<br />
1.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
1.2 Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />
1.3 Überblick und Beiträge zu den Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
1.4 Schlussfolgerung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
2 Monitoring of Usutu virus activity and spread by using bird<br />
surveillance in Austria, 2003 - 2005<br />
Vet. Microbiol., 122, 237-245 19<br />
3 Explaining USUTU virus dynamics in Austria:<br />
Model development and calibration<br />
Prev. Vet. Med., accepted 31<br />
4 Explaining USUTU virus dynamics in Austria:<br />
Simulation of climate change scenarios<br />
Prev. Vet. Med., submitted 57<br />
A Fortran 90 - Quellcode 73<br />
B Ergänzungen 85<br />
B.1 Herleitung der Basisreproduktionszahl R 0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
B.2 Das Runge-Kutta Verfahren 4. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88<br />
iii
B.3 Kubische Interpolationssplines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />
Abkürzungsverzeichnis 95<br />
Curriculum vitae 97<br />
iv
Ganz allein auf weiter Flur<br />
saß eines Morgens die Temperatur.<br />
Sie wollte sich uns zeigen<br />
und hatte Lust zu steigen.<br />
Doch zu hoch war dieses Ziel:<br />
Sie stolperte - und fiel - und fiel.<br />
Wolfram Eicke
Zusammenfassung<br />
Globale Erwärmung und neu auftretende Infektionskrankheiten<br />
am Beispiel der Usutu Virus Epidemie in Österreich<br />
Der derzeitige Trend zu einem wärmeren Klima beeinflusst u.a. das Auftreten von bisher<br />
in den Tropen beheimateten vektorgebundenen Infektionskrankheiten in den mittleren<br />
Breiten, wie zum Beispiel das Usutu Virus (USUV). Es wurde im Sommer 2001 erstmals<br />
außerhalb von Afrika beobachtet und ist für das Massensterben von Singvögeln, vor<br />
allem Amseln, in <strong>Wien</strong> und Umgebung (Österreich) verantwortlich. Im Rahmen dieser Arbeit<br />
wird erstmals der Zusammenhang zwischen Infektionskrankheiten und der globalen<br />
Erwärmung quantitativ gezeigt.<br />
Ziel ist es den Einfluss des Klimas auf diese Infektionskrankheit mittels eines neu entwickelten<br />
Epidemiemodells zu untersuchen. Im Gegensatz zu bisherigen Modellen berücksichtigt<br />
es auch den saisonalen Zyklus und das dichteabhängige Wachstum von Vögeln<br />
und Moskitos. Das Modell ist ein klassisches SIR-Differentialgleichungsmodell mit 9 Kompartimenten<br />
zur Beschreibung des Vogel-Stechmücken-Zyklus und basiert auf Bilanzgleichungen<br />
für die Gesundheitszustände der Vögel sowie der Entwicklungszustände der<br />
Stechmücken. Die Infektionsraten, sowie die Geburten- und Sterberaten der Stechmücken<br />
wurden als temperaturabhängige Funktionen abgeleitet; das Epidemiemodel wird mit Klimadaten<br />
angetrieben. Als quantitativer Parameter zur Beschreibung der Dynamik der<br />
Krankheit wurde die Basisreproduktionszahl R 0 abgeleitet.<br />
Mittels Temperaturdaten der Wetterstation der Veterinärmedizinischen Universität<br />
<strong>Wien</strong> konnte die Usutu Virus Epidemie 2001-2005 simuliert und mit den Daten des Vogelmonitorings<br />
verglichen werden. Es wurde gezeigt, dass die USUV-Dynamik hauptsächlich<br />
von dem Zusammenspiel der Herdenimmunität und der Lufttemperatur bestimmt wird.<br />
Der Höhepunkt der Epidemie im Jahr 2003 war eine Folge der langen Periode mit außergewöhnlich<br />
warmen Temperaturen.<br />
Simulationen der Dynamik der Epidemie mit 20 Klimaszenarien, basierend auf den<br />
4 im Special Report on Emission Scenarios (SRES) des Intergovernmental Panel on Climate<br />
Change (IPCC) definierten Emissionsszenarien, für die Periode 2001-2100 zeigen,<br />
dass USUV unter der prognostizierten Erwärmung in der Population zirkulieren wird. Ab<br />
2020 muss mit zyklischen Ausbrüchen und einer endemischen Situation gerechnet werden.<br />
Für das Ende des 21. Jahrhunderts wurde eine mittlere jährliche Vogelmortalität zufolge<br />
USUV-Infektionen von 7.3 – 11.9 % abgeschätzt. Der Anteil der immunen Vögel wird<br />
zwischen 36.8 und 63.3 % liegen.<br />
vi
Summary<br />
Global warming and emerging infectious diseases<br />
based on the Usutu virus epidemic in Austria<br />
The recent trend towards a warmer climate influences amongst others the occurrence of<br />
vector-borne infectious diseases in the mid-latitudes, so far limited to the subtropics and<br />
tropics, for example the Usutu Virus (USUV). In summer 2001 this virus was observed<br />
the first time out of Africa and has been responsible for birds’ mass mortalities in Vienna<br />
and the surrounding area (Austria), especially among blackbirds. Within this work a<br />
correlation between global warming and infectious diseases has been shown quantitatively<br />
for the first time.<br />
Declared goal is to examine the influence of the climate on this infectious disease using<br />
a newly developed epidemic model. In contrast to previous models, also seasonal cycles<br />
as well as the density dependent growth of birds and mosquitoes are considered. The<br />
model is a classical SIR differential equation model with 9 compartiments for describing<br />
the bird-mosquito-cycle. It is based on budget-equations for the health states of birds and<br />
the mosquito life cycle. The infection rates as well as the mosquitos’ birth- and mortality<br />
rates were derived as temperature dependent functions; the epidemic model is activated by<br />
climate data. The basis reproduction number R 0 was derived as a quantitative parameter<br />
for describing the dynamic of the disease.<br />
Using the temperature data from the meteorological station of the University of Veterinary<br />
Vienna the Usutu virus epidemic 2001-2005 was simulated and compared with<br />
the data of a dead-bird monitoring. It was shown that the USUV dynamics are primarily<br />
determined by an interaction of bird immunity and environmental temperature. The epidemic<br />
peak in 2003 was a response to the long period of exceptionally warm temperatures.<br />
Simulations of the dynamic of the epidemic with 20 climate scenarios, based on the 4<br />
emissions scenarios defined by the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)<br />
Special Report on Emission Scenarios (SRES), for the period 2001-2100 demonstrate that<br />
USUV will circulate in the population under the predicted warming. Periodic outbreaks<br />
and an endemic situation can be expected as of 2020. As a result of USUV infection a<br />
mean annually bird mortality of 7.3 – 11.9 % was estimated for the end of the 21 th century.<br />
Therefore the proportion of immune birds will be between 36.8 and 63.3 %.<br />
vii
Danksagung<br />
Teile dieser Arbeit wurden durch die Hochschuljubiläumsstiftung <strong>Wien</strong> (H-1122/2006)<br />
und das Forschungsstipendium F130-N der Universität <strong>Wien</strong> finanziert.<br />
Mein ganz besonderer Dank gilt A.Univ.-Prof. Dr. Franz Rubel für die Betreuung meiner<br />
<strong>Dissertation</strong>. Seine interessanten Fragestellungen und wissenschaftlichen Ratschläge waren<br />
sehr wertvoll und trugen zur Verbesserung dieser Arbeit bei. Auch möchte ich meinen<br />
Kollegen am Institut für Medizinische Physik und Biostatistik der Veterinärmedizinischen<br />
Universität danken, vor allem aber Mag. Dr. Markus Kottek, der mir bei vielen Problemen<br />
mit viel Geduld helfend zur Seite stand.<br />
Weiters sei allen meinen Freunden und ungewollt nicht genannten Personen, die direkt<br />
oder indirekt zur Entstehung dieser <strong>Dissertation</strong> in Form fachlicher oder anderweitiger<br />
Unterstützung beigetragen haben, gedankt.<br />
Die Unterstützung durch meine Familie kann nicht durch diese Worte aufgewogen werden.<br />
Aber ich möchte meinen Eltern für ihre Liebe und ihr Vertrauen in meine Fähigkeiten<br />
danken. Ich möchte mich auch bei Johanna und Mathias bedanken, die mich immer wieder<br />
an die wirklich wichtigen Dinge im Leben erinnern.<br />
viii
Kapitel 1<br />
Einführende Bemerkungen<br />
1.1 Motivation<br />
Seit dem 20. Jahrhundert hat sich das globale Klima unter Schwankungen fortlaufend<br />
erwärmt, besonders markant seit etwa 1980. Hierbei handelt es sich um den Übergang von<br />
der kleinen Eiszeit zur gegenwärtigen wärmeren Zwischenphase, wobei die letzten Jahre<br />
von Extremen, wie z.B. dem heißen Sommer 2003 (Schönwiese et al., 2004),<br />
geprägt sind. Diese Klimaveränderungen verlagern unter anderem die Verbreitungsgebiete<br />
von Infektionskrankheiten, die bisher nur in den Subtropen und Tropen heimisch<br />
waren, in unsere gemäßigten Breiten (Harvell et al., 1999; Harvell et al., 2002; Khasnis and<br />
Nettleman, 2005). Vor allem vektorgebundene Infektionskrankheiten reagieren schnell auf<br />
solche Veränderungen (Zell, 2004; Ebert and Fleischer, 2005). Die Idee, dass ansteigende<br />
Temperaturen zu einer geographischen Ausbreitung von Infektionskrankheiten führen,<br />
wurde u.a. von Shope (1991) vorgestellt.<br />
Bekannteste Beispiele sind die zu den Arboviren 1 zählenden Flaviviren des Japanischen<br />
Enzephalitis Viruskomplexes. Zu diesen zählen unter anderem das West Nil Virus (WNV)<br />
und das St. Louis Enzephalitis Virus (SLEV) in Nordamerika, das Japanische Enzephalitis<br />
Virus (JEV) in Ost- und Südostasien, oder auch das Gelbfiebervirus (YFV) in Südamerika<br />
und Afrika und das Denguefieber Virus (DENV) in Lateinamerika, Zentralafrika, Indien,<br />
Südostasien, Teilen des Pazifik (z.B. Neukaledonien) und der Süden der USA (Gubler,<br />
2001). Obwohl die natürlichen Wirte dieser Viren Tiere (Vögel, Reptilien, Affen, etc.)<br />
sind, können - teilweise über Zwischenwirte (Haustiere wie Schwein oder Pferd) - auch<br />
Menschen infiziert werden. Man spricht dann von Zoonosen 2 . Diese neuen und wieder<br />
auftretenden Infektionskrankheiten (emerging and re-emerging infectious diseases) stellen<br />
weltweit zunehmend ein Problem dar (Ebert and Fleischer, 2005).<br />
Ein eher unbekannter Erreger dieser Familie ist das erstmal im Sommer 2001 außerhalb<br />
von Süd- und Zentralafrika in Österreich beobachtete Usutu Virus (USUV) (Weissenböck<br />
1 Die Gruppe aller durch Blut saugenden Insekten übertragenen Viren wird, außerhalb der üblichen<br />
Taxonomie, als Arboviren (arthopod born viruses) bezeichnet.<br />
2 Infektionskrankheiten, die von Tier zu Mensch und von Mensch zu Tier übertragen werden.<br />
9
10 1 Einführende Bemerkungen<br />
et al., 2002). USUV ist für das jährliche Massensterben von Vögeln, vor allem von<br />
Amseln (Turdus merula), aber auch von Kohlmeisen (Parus major), Rotkehlchen (Erithacus<br />
rubecula), Kleibern (Sitta europaea), Bartkauzen (Strix nebulosa), Singdrosseln (Turdus<br />
philomelos), Blaumeisen (Parus caeruleus) und Hausperlingen (Passer domesticus)<br />
in <strong>Wien</strong> und Umgebung verantwortlich. Isoliert wurde das Usutu Virus (benannt nach<br />
einem Fluss in Afrika) an der Veterinärmedizinischen Universität <strong>Wien</strong> (VUW) durch<br />
DNA-Sequenzierung. USUV-Infektionen sind durch Nekrosen in Leber und Milz, neurale<br />
Degeneration oder Gliose in Gehirn, Myokarddegeneration oder Myokarditis gekennzeichnet<br />
(Weissenböck et al., 2002). Der erste Nachweis des Usutu Virus in Österreich war<br />
Grund zur Besorgnis, weil unklar war ob die beobachtete Pathogenität für Vögel auch mit<br />
einem gesteigerten Potential für Säugetiere einschließlich Menschen korreliert sein könnte<br />
- die meisten Vertreter dieser Virusgruppe sind humanpathogen (Chvala-Mannsberger<br />
et al., 2007). Auf welchem Weg das Usutu Virus nach Österreich eingeschleppt wurde, ist<br />
bisher noch unklar (Bakonyi et al., 2004). Mittlerweile wurde USUV auch in anderen zentraleuropäischen<br />
Ländern, wie Schweiz (Steinmetz et al., 2007), Ungarn (Nowotny et al.,<br />
2007) und Norditalien (Dorrestein et al., 2007) nachgewiesen.<br />
Wie alle Arboviren persistiert auch USUV in einem natürlichen Übertragungszyklus<br />
zwischen Vektoren, hier den Stechmücken (vorwiegend der Gattung Culex pipiens), in<br />
denen es zu Virusvermehrung kommt, und dem Wirtsreservoir (Vögel). Bei einem Stich<br />
werden Vögel durch infektiöse Stechmücken infiziert, aber auch umgekehrt infizieren sich<br />
Stechmücken bei einem Stich eines infektiösen Vogels (Kreuzinfektion). Einmal in einer<br />
Population endemisch führen sie zu regelmäßigen Ausbrüchen. Der Lebenszyklus der Vektoren,<br />
die Stechmücken, und die Virusreproduktionsrate sind stark temperaturabhängig.<br />
Die Dynamik dieser Arboviren, vor allem die räumlich-zeitliche Ausbreitung dieser<br />
Flaviviren, die Auswirkung auf die lokale Vogelpopulation, die Rolle des Klimas, oder die<br />
Bedeutung verschiedener Stechmücken sind Gegenstand aktueller Forschung (Martens,<br />
1995). Bisher wurde der Zusammenhang zwischen Populationsdynamik und dem großskaligem<br />
Klima ausschließlich statistisch untersucht (Post and Forchhammer, 2002). Hier<br />
wurde ein komplexerer Ansatz gewählt. Es wurde ein Prozessmodell entwickelt, das den<br />
gesamten Wissenstand abbilden kann. Ziel ist es, den Einfluss des Klimas auf diese Infektionskrankheiten<br />
mittels des neu entwickelten Epidemiemodells (epidemic model) angetrieben<br />
durch Klimadaten zu untersuchen.<br />
1.2 Publikationen<br />
Die hier vorliegende <strong>Dissertation</strong> fasst die Beiträge der Autorin zu folgenden Publikationen<br />
zusammen (im Folgenden Kap. 2-4):<br />
1. Chvala, S., T. Bakonyi, C. Bukovsky, T. Meister, K. Brugger, F. Rubel, N.<br />
Nowotny and H. Weissenböck, 2007: Monitoring of Usutu virus activity and spread<br />
by using bird surveillance in Austria, 2003-2005. Vet. Microbiol., 122, 237-245.
1.3<br />
Überblick und Beiträge zu den Publikationen 11<br />
2. Rubel, F., K. Brugger, M. Hantel, S. Chvala, T. Bakonyi, H. Weissenböck and N.<br />
Nowotny, 2008: Explaining Usutu virus dynamics in Austria: Model development<br />
and calibration. Prev. Vet. Med., accepted.<br />
3. Brugger, K. and F. Rubel, 2008: Explaining Usutu virus dynamics in Austria:<br />
Simulation of climate change scenarios. Prev. Vet. Med., submitted.<br />
Anhand eines detaillierteren Überblicks werden die einzelnen Schritte der <strong>Dissertation</strong><br />
sowie Beiträge der Autorin zu den Publikationen skizziert.<br />
1.3 Überblick und Beiträge zu den Publikationen<br />
Das erste endemische Auftreten des durch Stechmücken übertragenen Usutu Virus in<br />
Österreich und damit verbundene Überlegungen (s.o.) legte umfassende Studien nahe.<br />
Nachdem 2001 und 2002 nur die eingesandten toten Vögel an der Veterinärmedizinischen<br />
Universität <strong>Wien</strong> (VUW) untersucht wurden und so ein Überwintern des Virus in der<br />
Population als gegeben erschien (Weissenböck et al., 2002), wurde ab 2003 ein aktives<br />
Überwachungsprogramm in den Sommermonaten Juli, August und September in <strong>Wien</strong><br />
und jährlich zunehmend mehr Bezirken in Niederösterreich und Burgenland durchgeführt.<br />
Die Ergebnisse dieser Überwachung und Untersuchungen zwischen 2003 und 2005 wurden<br />
von Chvala et al. (2007) (Kap. 2 dieser Arbeit) publiziert. Hauptaufgabe der Autorin war<br />
hierbei die graphische Aufbereitung der Funddaten. Dazu wurden die Fundorte der toten<br />
Vögel geo-referenziert und in Karten eingezeichnet. Verwendet wurde das Programm GMT<br />
(generic mapping tools), ein Open-source Programm zur Aufbereitung von geographischen<br />
Datensätzen (Wessel and Smith, 2007). Die Analyse dieses in Europa einzigartigen Überwachungsprogrammes<br />
zeigte, dass sich USUV ausgehend von seinen ursprünglichen Fundorten<br />
weiter in Ostösterreich ausbreitete. Nach dem Höhepunkt der Epidemie (Epidemic<br />
Peak) im extrem heißen und trockenen Sommer 2003 nahm die Anzahl der toten Tiere<br />
wieder ab. Gleichzeitig nahm aber der Anteil der Vögel mit niedrigen Virusmengen im<br />
Gewebematerial kontinuierlich zu, was auf eine mögliche Zunahme der Herdenimmunität<br />
hinwies. Obwohl eine deutliche Abnahme der Vogelpopulation beobachtet und berichtet<br />
wurde (Loupal, 2006), wurde nur ein Teil der in der Wildnis verstorbener Vögel von<br />
der Öffentlichkeit entdeckt und davon nur ein kleiner Anteil zur Laboruntersuchungen<br />
eingesendet.<br />
Um die Dynamik der USUV-Infektion in Österreich zwischen 2001 - 2005 erklären<br />
zu können, entwickelten Rubel et al. (2008) (Kap. 3 dieser Arbeit) ein Epidemiemodell,<br />
dass nur von Temperaturdaten angetrieben wird. Im Gegensatz zu bisher vorgestellten<br />
Modellen (Wonham et al., 2004; Cruz-Pacheco et al., 2005) berücksichtigt das Modell<br />
sowohl die dichteabhängige saisonale Dynamik der Stechmücken und der Vögel, als auch<br />
die temperaturabhängige Vermehrungsrate der Viren in den Stechmücken. Dieses Epidemiemodell<br />
ist ein klassisches SIR-Differentialgleichungsmodell 3 mit 9 Kompartimenten<br />
3 SIR-Modell (susceptible-infected-recovered model): Dynamisches Epidemiemodell, das Populationen
12 1 Einführende Bemerkungen<br />
zur Beschreibung des Vogel-Stechmücken-Zyklus. Es basiert auf Bilanzgleichungen für die<br />
Gesundheitszustände der Vögel sowie der Entwicklungszustände der Stechmücken. Statt<br />
konstante Übertragungsraten zu verwenden, wurden die extrinsische Inkubationsrate (der<br />
Kehrwert der Virusreproduktionsrate in der Stechmücke), sowie die Geburten- und Sterberaten<br />
der Stechmücken als temperaturabhängige Funktionen abgeleitet. Weiters wurde<br />
die Geburtenrate der Vögel sowie der Anteil der sich nicht in Diapause (Überwinterung)<br />
befindlichen Stechmücken als Funktionen des Julianischen Kalendertags und der geographischen<br />
Breite abgeleitet.<br />
Eine der Hauptaufgaben der Autorin war die Implementierung des entwickelten<br />
Modells in FORTRAN 90. Um das ODE-System zu diskretisieren, wurde das Runge Kutta<br />
Verfahren 4. Ordnung verwendet. Der Quellcode des Modells sowie eine detaillierte Übersicht<br />
der in den Programmen verwendeten mathematischen Methoden sind im Anhang A<br />
und B dieser Arbeit zu finden. Weitere Aufgabe war die Aufbereitung und Bereitstellung<br />
der Temperaturdaten der für das Untersuchungsgebiet repräsentativen Wetterstation auf<br />
dem Gelände der Veterinärmedizinischen Universität <strong>Wien</strong> (VUW). Obwohl Messdaten<br />
alle 10 Minuten verfügbar sind, wird das Modell mit Monatsmittelwerten angetrieben, da<br />
die Beobachtungsdaten nur für eine Woche oder besser ein Monat repräsentativ sind. Da<br />
der Zeitschritt des Modells zur Gewährleistung der numerischen Stabilität 1 Tag beträgt,<br />
wurden mittels Splinefunktion die Monatsdaten auf den Modellzeitschritt interpoliert.<br />
Als weitere Schritte wurde das Modell von der Autorin auf seine numerische Stabilität<br />
und seine Sensitivität hinsichtlich der verwendeten Parameter untersucht. Die meisten<br />
Parameter wurden als Funktion der Temperatur oder der Tageslänge definiert bzw. wurden<br />
aus der Literatur entnommen. Nur die Wahrscheinlichkeit der Virusübertragung bei<br />
einem Stich auf die Stechmücke bzw. den Vogel waren relativ unbekannt und daher wurden<br />
sie über die Minimierung des RMS-Fehler 4 abgeschätzt. Als quantitativer Parameter<br />
zur Beschreibung der Dynamik der Krankheit wurde die jährliche Basisreproduktionszahl<br />
R 0 von der Autorin abgeleitet (die detaillierte Herleitung ist in Anhang B zu finden).<br />
Erste Ergebnisse waren Zeitreihen der Gesundheitszustände (Kompartimente) der<br />
Vögel und Stechmücken. Es wurde gezeigt, dass die USUV-Dynamik hauptsächlich von<br />
dem Zusammenspiel der Herdenimmunität und der Lufttemperatur bestimmt wurde.<br />
Der Epidemic Peak in 2003 war ein Folge der langen Periode mit außergewöhnlich warmen<br />
Temperaturen (Schönwiese et al., 2004). Weiters konnte das Monitoringprogramm<br />
evaluiert werden. Es wurde gezeigt, dass nur 0.2 % der USUV positiven Vögel mittels des<br />
Programms entdeckt wurden.<br />
Als erste Anwendung des Epidemiemodells wurde von der Autorin die Dynamik des<br />
USUV in den nächsten hundert Jahren (2001 - 2100) unter dem Gesichtspunkt der globalen<br />
Erwärmung untersucht (Brugger and Rubel, 2008; Kap. 4 dieser Arbeit). Es wurde<br />
gezeigt, dass das Usutu Virus in Österreich in Regionen mit durchschnittlich über 10<br />
in suszeptible (S), infizierte (I) und genesene (R) Individuen einteilt.<br />
4 Root Mean Square Error - Wurzel aus dem mittleren quadratischen Fehler, wobei hier unter Fehler<br />
die Abweichung des Modells von den Beobachtungsdaten verstanden wird.
1.3<br />
Überblick und Beiträge zu den Publikationen 13<br />
heißen Tagen 5 pro Jahr beobachtet wurde. Wie schon Martens (1995) oder auch Thompson<br />
et al. (2000) anregten, wurden statt den Beobachtungsdaten Klimamodelldaten zur Erstellung<br />
von Prognosen verwendet. Dazu standen die monatlichen Temperaturprognosen des<br />
Datensatz TYN SC 2.0 des Tyndall Centre for Climate Change Research zur Verfügung.<br />
Dieser Datensatz umfasst rund 20 Klimaszenarien, basierend auf den 4 im SRES (Special<br />
Report on Emission Scenarios) des IPCC 6 definierten Emissionsszenarien (Mitchell et al.,<br />
2004). Der über <strong>Wien</strong> liegende Gitterpunkt ist aber nicht unbedingt repräsentativ für das<br />
Untersuchungsgebiet, da er von den Ausläufern der Alpen sowie der Becken beeinflusst<br />
ist. Da diese systematischen Abweichungen der Klimadaten von unseren Stationswerten<br />
im Vergleichszeitraum 2001 - 2005 in der Größenordnung der Klimaänderungen sind, mussten<br />
sie mittels linearer Regressionsanalyse eliminiert werden. Mit diesen skalierten (downscaled)<br />
Zeitreihen konnten nun Prognosen über die Dynamik des Usutu Virus berechnet<br />
werden.<br />
Die Simulationen für die nächsten 100 Jahre (2001-2100) zeigen, dass sich das Usutu<br />
Virus nach dem beobachteten Epidemic Peak in 2003 unter den prognostizierten globalen<br />
Erwärmungsszenarien des IPCCs in der Population bis zum Ende des Jahrhunderts halten<br />
kann und mit zyklischen Ausbrüchen zu einer endemischen Situation führt. Mittels den<br />
aus den Zeitreihen der toten Vögel pro Jahr berechneten Energiespektren wurde gezeigt,<br />
dass die Häufigkeit der Ausbrüche sukzessive bis zum Ende des Jahrhunderts zunimmt.<br />
Simulationen der pessimistischsten Szenarien (worst case) resultieren in einem endemischen<br />
Gleichgewicht, d.h. der Anteil der infizierten Tiere pro Jahr bleibt konstant, mit<br />
einer Abnahme der Amselpopulation um 23.7 %. Für das Ende des Jahrhunderts wurde<br />
eine konstante jährliche Vogelmortalität von 7.3 - 11.9 % abgeschätzt.<br />
Durch die Herleitung der Basisreproduktionszahl R 0 ist es möglich die durchaus komplexen<br />
Ergebnisse dieser Arbeit relativ einfach darzustellen. In Abb. 1.1 ist die jährliche<br />
Basisreproduktionszahl für den Zeitraum 1901 - 2100, berechnet mit Klimabeobachtungen<br />
der Station <strong>Wien</strong> Hohe Warte (korrigiert zur Repräsentation der höheren Temperaturen<br />
im <strong>Wien</strong>er Becken) für die Periode 1901 - 2006 bzw. mit den pessimistischen A1- (oben)<br />
und optimistischen B1-Klimaszenarien (unten) des IPCCs für 2001 - 2100, dargestellt.<br />
Die Basisreproduktionszahl gibt an wie viele Sekundärinfektionen ein infiziertes Individuum<br />
in einer suszeptiblen Population zu einem beliebigen Zeitpunkt innerhalb eines Jahres<br />
verursacht. R 0 stellt somit einen Grenzwert für die Etablierung und Ausbreitung (R 0 > 1)<br />
oder das Aussterben (R 0 < 1) einer Infektionskrankheit dar.<br />
Im 20. Jahrhundert war R 0 immer unterhalb des Grenzwertes (grüner Bereich) und<br />
daher hätte das Usutu Virus immer nur zu vereinzelten Krankheitsausbrüchen in der<br />
Population geführt, sich aber langfristig nicht etablieren können. Der außergewöhnlich<br />
heiße Sommer 2003 führte erstmals zu einem R 0 > 1 und somit bestand zum ersten Mal<br />
die Möglichkeit, dass das Usutu Virus zu einer größeren Epidemie unter Singvögel führte.<br />
Da die Herdenimmunität nach dem Ausbruch 2003 sehr hoch ist, ist erst wieder ab 2020<br />
5 Tageshöchsttemperatur über 30 ◦ C; früher auch als Tropentag oder Hitzetag bezeichnet.<br />
6 Intergovernmental Panel on Climate Change
14 1 Einführende Bemerkungen<br />
Jährliche Basisreproduktionszahl R 0<br />
2.5<br />
2.0<br />
1.5<br />
1.0<br />
0.5<br />
0.0<br />
2.5<br />
2.0<br />
1.5<br />
1.0<br />
R < 1 0<br />
R > 1 0<br />
Projektion in die Vergangenheit<br />
Epidemic Peak<br />
2003<br />
Epidemic Peak<br />
2003<br />
beobachtet<br />
Projektion in die Zukunft<br />
A1<br />
R 0= 0.006 a - 11.371<br />
Zunahme um 0.61 pro 100 Jahre<br />
B1<br />
0.5<br />
R 0= 0.005 a - 9.622<br />
Zunahme um 0.52 pro 100 Jahre<br />
0.0<br />
1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020 2040 2060 2080 2100<br />
Abb. 1.1: Jährliche Basisreproduktionszahl R 0 für das Usutu Virus im Großraum <strong>Wien</strong> für<br />
den Zeitraum 1901 - 2100, stellt einen Grenzwert für die Etablierung (R 0 > 1, roter<br />
Bereich) oder das Aussterben (R 0 < 1, grüner Bereich) der Infektionskrankheit dar.<br />
Während die Projektion in die Vergangenheit mit Klimabeobachtungen der Station<br />
<strong>Wien</strong> Hohe Warte berechnet wurde, standen für die Projektionen in die Zukunft 20<br />
Klimaszenarien des IPCCs zur Verfügung; dargestellt sind das pessimistische A1-<br />
Szenario (oben), sowie das optimistische B1-Szenario (unten).<br />
mit größeren Ausbrüchen zu rechnen. Ab 2040 bleibt R 0 > 1 (roter Bereich) bei beiden<br />
Szenarien und wird das Usutu Virus im Großraum <strong>Wien</strong> endemisch werden. Im Mittel<br />
steigt die jährliche Basisreproduktionszahl von 0.5 am Anfang des 20. Jahrhunderts auf<br />
1.5 am Ende des 21. Jahrhunderts.<br />
1.4 Schlussfolgerung und Ausblick<br />
Mittels des von Rubel et al., 2008 (Kap. 3 dieser Arbeit) vorgestellten Epidemiemodells<br />
konnte die Usutu Virus Epidemie 2001-2005 in Österreich untersucht und erklärt werden.<br />
Der Antrieb mit den Monatsmitteltemperaturen erlaubten sowohl einen zeitlichen<br />
Rückblick, als auch eine Abschätzung der Dynamik in den nächsten 100 Jahren (Brugger<br />
and Rubel, 2008; Kap. 4 dieser Arbeit). Es konnte erstmals der Zusammenhang zwischen<br />
bisher in den Tropen beheimatete Infektionskrankheiten und der globalen Erwärmung<br />
quantitativ gezeigt werden.
LITERATUR 15<br />
Ein Blick nach Nordamerika zeigt, wie schnell sich das USUV verwandte West Nile Virus<br />
(WNV) in einer naiven Population ausbreiten und endemisch werden konnte. WNV wurde<br />
das erste Mal in der westlichen Hemisphäre 1999 in New York entdeckt (Hayes, 2001). Seit<br />
damals führt der aus Israel stammende Stamm zu gehäuften Erkrankungen bei Menschen,<br />
tausenden verendeten Pferden und ein Massensterben von Krähen (Corvus brachyrhynchos)<br />
und Wanderdrosseln Turdus migratorius) (U.S. Geological Survey, 2007). Bereits<br />
2002 erreichte WNV die Westküste der USA und ist heute endemisch in Nordamerika.<br />
Bisher kam es weltweit nur zu vereinzelten Ausbrüchen (Hubálek and Halouzka, 1999;<br />
Dauphin et al., 2004). Aufbauend auf den Ergebnissen dieser Arbeiten ist der nächste<br />
Schritt die Verifikation des Modells mit den WNV-Daten aus Nordamerika. Erste Ergebnisse<br />
zeigen, dass das Modell auch für WNV unter Adaptierung der artenspezifischen<br />
Parameter ähnliche Ergebnisse liefert (Brugger, 2008).<br />
Da WNV - im Gegensatz zu USUV - nicht räumlich begrenzt ist, wäre die Erweiterung<br />
des Epidemiemodells auf ein Reaktions-Diffusions-Modell der nächste Schritt. Dazu muss<br />
auf partielle Differentialgleichungen unter Anwendung des Fick’schen Diffusionsgesetzes<br />
übergegangen werden, wobei der Diffusionskoeffizient unter Berücksichtigung des physikalischen,<br />
biologischen und medizinischen Hintergrunds abgeleitet werden muss (Rubel,<br />
2007).<br />
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