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vielfalt - Egon Zehnder International

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<strong>Egon</strong><br />

<strong>Zehnder</strong><br />

<strong>International</strong><br />

FOCUS<br />

01/2012<br />

<strong>vielfalt</strong><br />

„Westliches Denken wird<br />

künftig nicht mehr die einzige<br />

Kraft sein, die uns bestimmt.“<br />

paul bulcke<br />

Chief Executive Officer<br />

Nestlé S.A.


Focus<br />

Vielfalt<br />

01/2012<br />

Herausgeber<br />

Dr. Michael Ensser<br />

<strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong> GmbH<br />

Chefredakteurin<br />

Dr. Ulrike Mertens<br />

Projektmanager<br />

Markus Schuler<br />

Realisation<br />

Anzinger | Wüschner | Rasp, München<br />

Art Direktion<br />

Markus Rasp<br />

Grafisches Konzept<br />

Martin Dixon<br />

Redaktionelle Bearbeitung<br />

Brigitta Palass (Senior Editor),<br />

Andrew Blechman, Gisela Maria<br />

Freisinger, Christiane Sommer<br />

Übersetzungen<br />

Paul Boothroyd<br />

Monika Bauer-Boothroyd<br />

Heinrich Koop<br />

Lektorat und Korrektorat<br />

textas* – Sabine Avella Salazar<br />

die Korrektoren – Jens Flachmann &<br />

Tanja Moreno Avilés GbR<br />

Redaktion<br />

<strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong><br />

Corporate Communications<br />

Rheinallee 97<br />

40545 Düsseldorf<br />

Tel. +49-211-55 02 85-0<br />

Fax +49-211-55 02 85-50<br />

corporate.communications@ezi.net<br />

www.ezifocus.com<br />

Redaktioneller Beirat<br />

Dr. Hanns Goeldel<br />

Dr. Friedrich Kuhn<br />

Dr. Jörg Ritter<br />

Dr. Johannes Graf von Schmettow<br />

Dr. Jürgen Tanneberger<br />

Bernd J. Wieczorek<br />

Druck<br />

Dr. Cantz’sche<br />

Druckerei Medien GmbH<br />

Zeppelinstraße 29-32<br />

73760 Ostfildern<br />

© 2012 <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong><br />

<strong>International</strong> GmbH Deutschland


Editorial<br />

Es gibt, schätzen Sprachforscher, zwischen 3 500 und<br />

6 000 Sprachen weltweit – jede eine Chance, dass Menschen<br />

einander verstehen, nicht nur über Worte, sondern auch in<br />

Gedanken; jede eine Möglichkeit, aneinander vorbeizureden.<br />

Dabei findet Vielfalt heute nicht mehr im Kulturprogramm<br />

des Fernsehens statt, sondern unmittelbar vor unserer<br />

Haustür. Wir erfahren, wie bereichernd der Austausch mit<br />

Menschen anderer Herkunft ist. Und wir erleben fast ebenso<br />

hautnah den Zusammenprall der Kulturen. Vielfalt kann beglücken,<br />

und sie ist zugleich eine große, vielleicht die größte<br />

gesellschaftliche Herausforderung.<br />

In diesem Spannungsfeld sehen sich auch die Unternehmen,<br />

die sich mit Vielfalt in den eigenen Reihen beschäftigen.<br />

Längst wissen sie, wie positiv unterschiedliche Perspektiven<br />

und Denkweisen die Qualität von Entscheidungen<br />

beeinflussen können. Sie haben erkannt, dass sie die Verschiedenartigkeit<br />

ihrer Kunden und Märkte widerspiegeln<br />

müssen, wenn sie dort weiterhin erfolgreich agieren wollen.<br />

Die demografische Entwicklung in vielen Industrieländern<br />

sorgt zudem dafür, dass sie sich immer intensiver und bis in<br />

die Führungsränge hinauf um bisher wenig oder nicht genutzte<br />

personelle Ressourcen bemühen. Die öffentliche und<br />

inzwischen von politischem Druck untermauerte Forderung<br />

nach Chancengleichheit setzt die Unternehmen hier zusätzlich<br />

unter Zugzwang.<br />

Der Business Case ist also längst verstanden. Was seine<br />

Umsetzung so schwierig macht, ist der Umgang mit dem<br />

menschlichen Faktor. Denn es ist ein grundlegender Zug des<br />

menschlichen Wesens, dem Fremden, Unbekannten und Unvertrauten<br />

meist nicht unvoreingenommen, sondern mit aus<br />

eigenen und andren Erfahrungen destillierten Mutmaßungen<br />

und keineswegs immer bewussten Vorurteilen, manchmal<br />

sogar mit Misstrauen zu begegnen.<br />

Wie also finden Unternehmen die richtige Balance zwischen<br />

Vielfalt und innerem Zusammenhalt? Wie stellen<br />

sie fest, in welchen Köpfen genau die Ideen schlummern,<br />

die bisher nicht zur Geltung kamen? Erster Schritt: eine<br />

positive Grundeinstellung zum Thema. Paul Bulcke, CEO<br />

des Nahrungsmittelgiganten Nestlé, hat zahlreiche Praxisbeispiele<br />

dafür, wie verschiedene, komplementäre Sichtund<br />

Denkweisen zu fundierteren, besseren Entscheidungen<br />

führen. Der renommierte US-Organisationswissenschaftler<br />

„Vielfalt ist nie eine Frage<br />

der Compliance, sondern<br />

immer eine der Kultur.“<br />

David A. Thomas weist in seiner wissenschaftlichen Arbeit<br />

nach, dass es dabei nicht allein darauf ankommt, wie viele<br />

Teams im Unternehmen multikulturell besetzt sind oder wie<br />

viele Mitarbeiter welchen Kategorien angehören. Viel wichtiger<br />

sei, dass sich die Organisation und vor allem ihre Führung<br />

bewusst auf eine Vielzahl von Perspektiven einlassen,<br />

sie als Quelle für Innovation und Kreativität nutzen und dafür<br />

auch die notwendigen Strukturen schaffen.<br />

Auch der Blick in andere gesellschaftliche Bereiche kann<br />

helfen, Vielfalt erfolgreich zu nutzen. Offene Städte wie Barcelona,<br />

New York, Kopenhagen oder London haben sicher<br />

auch ihre Schwierigkeiten mit gesellschaftlichen Randgruppen<br />

und Problembezirken, doch sie bieten ihren Bürgern<br />

eine breite Palette an Teilhabemöglichkeiten. Eine wichtige<br />

Ingredienz dabei ist ein gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr.<br />

Fazit: Auch Organisationen brauchen eine Infrastruktur,<br />

die als Pipeline der Ideen von ihren Außenbezirken bis in<br />

das Zentrum der Macht dient. Und vom erfolgreichsten Fußballclub<br />

der Welt, FC Barcelona, der in seiner Fußballakademie<br />

Jugendliche aus aller Welt trainiert, können Unternehmen<br />

etwas über die einigende Kraft eines gemeinsamen<br />

Zieles lernen. Fazit: Erfolgreicher Umgang mit Vielfalt ist<br />

nie eine Frage der Compliance, sondern immer eine der Kultur;<br />

einer Kultur, in der jeder ohne Angst anders sein kann.<br />

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.<br />

Dr. Michael Ensser<br />

Herausgeber FOCUS<br />

1<br />

Focus 01/2012


Focus 01/2012 Vielfalt<br />

INHALT<br />

1 Editorial<br />

führung<br />

4 Interview mit Paul Bulcke, CEO Nestlé S.A.: „Es geht uns darum, unterschiedliche<br />

Denkweisen in unsere Entscheidungsprozesse zu integrieren.“<br />

12 kultur Große Erwartungen – wie der Wandel zu mehr Vielfalt gelingen kann<br />

16 Keynote Ein Gespräch mit dem Diversity-Vordenker David A. Thomas<br />

22 panel Unternehmens- und Meinungsführer über den Nutzen der Diversität<br />

24 Executive Survey Die Ergebnisse des <strong>International</strong> Executive Panel<br />

PARALLELen<br />

26 Interview mit Susan Neiman, der Direktorin des Einstein Forums in<br />

Potsdam: „Dies ist ein Projekt, über das sich Einstein gefreut hätte.“<br />

34 essay Die offene Stadt – divers, integrativ, sozial<br />

38 Integration Junior Smart und das Southwark Offenders Support Project<br />

44 rising talents Vier Frauen, vier Wege, ein Netzwerk<br />

48 talent Der FC Barcelona und seine Fußballakademie „La Masia“<br />

56 essay Der Evolutionsbiologe Edward O. Wilson kämpft für den Erhalt<br />

der Arten<strong>vielfalt</strong><br />

60 dialog zwischen Karsten Ottenberg, CEO von Giesecke & Devrient, und<br />

dem Intendanten des Münchner Volkstheaters, Christian Stückl: „Ob Frau oder<br />

Mann, das ist erst einmal ganz egal, auf der Bühne brauchen wir beide.“<br />

expertise<br />

68 Interview mit Henryka Bochniarz, Vorsitzende des wichtigsten Arbeitgeberverbands<br />

in Polen: „Wir kämpfen um mehr als nur eine bestimmte<br />

Anzahl von Plätzen am Tisch.“<br />

76 Board Diversity Das Ende des Gruppendenkens<br />

80 REPORT Die neue kosmopolitische Gründerszene Berlins<br />

88 FORUM<br />

2<br />

Focus 01/2012


Focus 01/2012 Vielfalt<br />

In dieser Ausgabe<br />

Die offene Stadt<br />

Zukunftsweisende Stadtentwicklung muss der<br />

Vielfalt städtischen Lebens Raum verschaffen und<br />

soziale Inklusion fördern. Ein Essay ab Seite 34.<br />

Anders Overgaard<br />

Er gehört zu den<br />

derzeit gefragtesten<br />

Porträtfotografen<br />

weltweit: Der Däne<br />

Overgaard pendelt<br />

zwischen seinem<br />

Geburtsland und<br />

seiner Wahlheimat<br />

New York City.<br />

Für den FOCUS<br />

fotografierte er<br />

David A. Thomas<br />

in Washington<br />

(Seite 16).<br />

„Pässe spielen, bis dem<br />

Gegner schwindelig wird.“<br />

Paul Ingendaay berichtet ab Seite 48<br />

über das ganzheitliche Ausbildungskonzept<br />

der FC-Barcelona-Kaderschmiede „La Masia“.<br />

„Am Ende muss aus dem Chaos wieder<br />

eine geordnete Einheit entstehen.“<br />

Passion und Professionalität spielen für Karsten Ottenberg<br />

und Christian Stückl beide eine wichtige Rolle. Dass<br />

der Wirtschaftslenker und der Theatermann noch mehr<br />

gemeinsam haben, zeigt der Dialog ab Seite 60.<br />

Interview mit Henryka Bochniarz<br />

Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin<br />

und Vorsitzende des wichtigsten Arbeitgeberverbands<br />

in Polen kämpft für eine Pluralität<br />

des Denkens – nicht nur in der Wirtschaft.<br />

Ein Gespräch ab Seite 68.


Führung<br />

Interview<br />

„Es geht uns darum, unterschiedliche<br />

Denkweisen in<br />

unsere Entscheidungsprozesse<br />

zu integrieren.“<br />

Vielfalt ist bei Nestlé als weltweit tätigem<br />

Lebensmittelkonzern, dessen Produkte in nahezu<br />

jedem Land der Welt verkauft und auf jedem<br />

Kontinent produziert werden, traditionell ein Thema<br />

von herausragender Bedeutung. Im Interview mit<br />

FOCUS beschreibt Nestlé-CEO Paul Bulcke,<br />

wie der Konzern seine lange Erfahrung im Umgang<br />

mit Vielfalt nutzt, um frühzeitig sich wandelnde<br />

Konsumentenwünsche zu erspüren.<br />

fotos: peter rigaud<br />

4<br />

Focus 01/2012


Führung Interview<br />

Focus: Herr Bulcke, Nestlé ist als größter Nahrungsmittelkonzern<br />

der Welt, der praktisch in jedem Land rund um den<br />

Globus mit seinen Produkten präsent ist, schon historisch<br />

mit der Vielfalt und Unterschiedlichkeit seiner Kunden und<br />

Märkte konfrontiert – und hat von jeher mit entsprechenden<br />

Produkten und angepassten internen Strukturen darauf reagiert.<br />

Nestlé hat sich also schon mit Diversität beschäftigt,<br />

als diese noch kein prominentes Thema auf der Managementagenda<br />

war.<br />

Paul Bulcke: Ja, das stimmt. Wir sind seit unserer Gründung<br />

vor fast 150 Jahren ein von Vielfalt geprägtes Unternehmen.<br />

Zum einen ist das bereits durch unseren Stammsitz in der<br />

Schweiz begründet, dem Schnittpunkt vielfältiger kultureller<br />

Einflüsse aus dem deutschen, französischen und italienischen<br />

Raum. Zum anderen hat Nestlé schon im zweiten Jahr seines<br />

Bestehens nach Frankreich expandiert. Das war im Grunde<br />

der Beginn unserer multinationalen Präsenz in heute fast allen<br />

Ländern rund um den Globus. Und ohne zu übertreiben,<br />

kann ich sagen, dass wir dort nicht nur einfach präsent, sondern<br />

erfolgreich sind – ohne ein tief gehendes, authentisches<br />

Verständnis für die jeweiligen Märkte und Konsumenten<br />

wäre dies sicherlich nicht möglich. Diese Vielfalt zieht sich<br />

bis in die Konzernspitze durch: Die 13 Vorstandsmitglieder<br />

etwa kommen aus neun verschiedenen Ländern. Und allein<br />

hier in unserem Headquarter in Vevey sind rund 100 unterschiedliche<br />

Nationalitäten vertreten.<br />

Focus: Verstehen Sie diese Vielfalt als Wert, oder hat sie<br />

sich einfach ergeben?<br />

Bulcke: Nein, sie ist ganz sicher ein Wert, eine unserer Kernkompetenzen<br />

und auch Stärken im Vergleich etwa zu unseren<br />

Wettbewerbern. Respekt und Offenheit gegenüber anderen<br />

Kulturen und Traditionen sind ausdrücklich in unseren Management-<br />

und Führungsprinzipien festgeschrieben.<br />

Focus: Heißt das, dass Sie sich um „Diversity“ und „Inclusion“,<br />

also Diversität und Einbeziehung, bei Nestlé eigentlich<br />

gar keine Gedanken mehr machen müssen, weil inzwischen<br />

beides praktisch von selbst geschieht, Teil der Firmen-<br />

DNA ist?<br />

Bulcke: Diversität ist ein Thema, an dem wir ständig arbeiten<br />

müssen. Wir sind zwar, wie gesagt, seit Langem ein von<br />

Vielfalt geprägtes Unternehmen. Aber der spannendere und<br />

letztlich auch wichtigere Aspekt für uns ist eigentlich, wie<br />

das Unternehmen diese Vielfalt zu seinem Vorteil nutzen<br />

und daraus Impulse für seine Entwicklung generieren kann.<br />

6<br />

Focus 01/2012


Führung Interview<br />

Focus: Haben Sie ein Beispiel dafür?<br />

Bulcke: Wir beobachten, dass sich die Welt, so, wie wir sie<br />

bisher kannten, in einem Wandel historischen Ausmaßes befindet.<br />

In den traditionellen westlichen Industrieländern ist es<br />

vielfach noch gar nicht richtig angekommen, aber die Schwellenländer,<br />

in denen heute 80 Prozent der Weltbevölkerung<br />

leben, entwickeln inzwischen sehr selbstbewusst ihre ganz<br />

eigenen Dynamiken und Richtungen. Sie sehen in der westlichen<br />

Welt nicht mehr das alleinige Vorbild, dem es nachzueifern<br />

gilt, sondern verfolgen ihre eigenen Ideen und Ziele. Was<br />

uns und die Welt künftig definieren wird, wird nicht länger<br />

ausschließlich von westlichem Denken geprägt sein. Das betrifft<br />

auch Geschäftsmodelle nach westlichem Muster. Ich<br />

will nicht behaupten, dass diese Modelle verschwinden werden,<br />

aber sie werden zunehmend ergänzt werden durch viele,<br />

sehr verschiedene Arten zu denken und zu handeln. Schon<br />

jetzt verzeichnen die Schwellenländer höhere Wachstumsraten,<br />

und dort werden wir die Absatzmärkte der Zukunft finden.<br />

Deshalb arbeiten wir mit Hochdruck daran, verstärkt<br />

Mitarbeiter aus diesen Teilen der Welt in verantwortungsvolle<br />

Positionen bei Nestlé zu bringen. Die Erfahrung hat gezeigt,<br />

dass die Karrierechancen, die wir Talenten weltweit<br />

unabhängig von ihrem Pass bieten, genau die richtigen Leute<br />

motivieren, zu uns zu kommen. Es geht uns dabei nicht nur<br />

einfach darum, möglichst viele Nationalitäten im Konzern zu<br />

versammeln, sondern darum, unterschiedliche Denkweisen<br />

bzw. ethnische Blickwinkel in unsere gesamten Entscheidungsprozesse<br />

einfließen zu lassen und zu berücksichtigen.<br />

Focus: Wie gehen Sie dabei vor?<br />

Bulcke: Wir fragen uns beispielsweise, welche Art von Mitarbeitern<br />

wir in Zukunft brauchen. Welche Fähigkeiten und<br />

Kompetenzen werden für einen multinational agierenden<br />

Konzern wie Nestlé künftig wichtig sein? Wie wollen wir<br />

mit Innovationen umgehen, die aus den neuen Märkten kommen?<br />

Wie verhindern wir, dass sie nicht an unseren westlich<br />

geprägten Wahrnehmungsfiltern scheitern?<br />

Nestlé Ein Nest für viele Marken<br />

Nestlé S.A. mit Hauptsitz in Vevey, Schweiz, ist<br />

der größte Lebensmittelhersteller der Welt und die<br />

anerkannte Nummer eins in den Bereichen Ernährung,<br />

Gesundheit und Wohlbefinden. Im Jahr 2011<br />

erzielte der Konzern bei einem Umsatz von 83,6<br />

Milliarden Schweizer Franken einen Reingewinn<br />

von 9,5 Milliarden Schweizer Franken, wobei vor<br />

allem in Lateinamerika und Asien zweistellige<br />

Wachstumsraten verbucht wurden. Nestlé betreibt<br />

461 Produktionsstätten in 83 Ländern und beschäftigt<br />

mehr als 330 000 Mitarbeiter. Unternehmensgründer<br />

Henri Nestlé war es 1867 gelungen, ein<br />

lösliches Milchpulver für Säuglinge herzustellen.<br />

Nestlé ist heute weltweit führend in Produktkategorien<br />

wie Kaffee und Kakaogetränken, Eis und<br />

Milchprodukten, Kindernahrung oder auch Produkten<br />

für die Küche. Zudem ist Nestlé einer der beiden<br />

Marktführer im Bereich Tiernahrung und hält<br />

30 Prozent der Anteile am Kosmetikkonzern L’Oréal.<br />

Focus: Welche Ergebnisse haben Sie dabei erzielt?<br />

Bulcke: Zum einen schicken wir angehende Führungskräfte<br />

unterschiedlichster Herkunft in diese Länder. Vor allem aber<br />

brauchen wir einheimische Mitarbeiter, die die Mentalität vor<br />

Ort wirklich aus dem Bauch heraus verstehen. Sie müssen ein<br />

Gefühl für den kleinen Mann von der Straße und dessen<br />

Konsumgewohnheiten und Bedürfnisse haben, und dabei<br />

hilft nicht unbedingt ein MBA von einer westlichen Business<br />

School. Denn auch die Konsumentenschichten in den Schwellenländern<br />

verändern sich. Wir sprechen hier beispielsweise<br />

vom „Emerging Consumer“. Bevölkerungsschichten, bislang<br />

abseits jeglichen Unternehmensinteresses, weil sie oft kaum<br />

das Nötigste zum Leben hatten, beginnen nun langsam, auch<br />

„Die Welt, so, wie wir sie<br />

bisher kannten, befindet<br />

sich in einem Wandel<br />

historischen Ausmaßes.“<br />

7<br />

Focus 01/2012


Führung Interview<br />

Zur Person Paul Bulcke<br />

Paul Bulcke, Jahrgang 1954, ist dem Pass nach Belgier.<br />

Nach Wirtschaftsingenieur- und Managementstudium<br />

arbeitete er zwei Jahre als Finanzanalyst, bevor er mit<br />

25 Jahren zu Nestlé ging. 1996 wurde Bulcke nach<br />

vielfältigen Aufgaben in Vertrieb und Marketing sowie<br />

operativen Auslandseinsätzen in Peru, Ecuador und<br />

Chile Landeschef in Portugal. 1998 wurden ihm die<br />

Märkte in Tschechien und der Slowakei anvertraut, im<br />

Herbst 2000 schließlich Deutschland, Nestlés drittwichtigster<br />

Markt, den er erfolgreich sanierte. Danach<br />

folgten Nord- und Südamerika. Die beiden Teilkontinente<br />

wurden unter seiner Ägide zur umsatzstärksten<br />

und profitabelsten Region des Konzerns. Im April 2008,<br />

mit fast 30-jähriger Zugehörigkeit zu Nestlé, wurde<br />

Bulcke zum Chief Executive Officer berufen. Mit Gattin<br />

Marilène hat Bulcke zwei Söhne und eine Tochter,<br />

darüber hinaus hat er vier Enkelkinder. Er verbringt<br />

seine Freizeit gerne mit seiner Familie und liebt Golf,<br />

klassische Musik und das Fliegen. Bulcke spricht<br />

sechs Sprachen fließend.<br />

vom wachsenden Wohlstand ihrer Volkswirtschaften zu profitieren.<br />

Aber natürlich sind ihre Bedürfnisse und Einkommen<br />

vollkommen anders als bei den Konsumenten in einem<br />

Industrieland. Wir haben es hier mit einer Art von sozialer<br />

Diversität zu tun, auf die wir mit ganz speziellen Produkten<br />

eingehen müssen. Und viele dieser neuen Märkte, wie etwa<br />

Brasilien, sind so groß und stark segmentiert, dass wir sie<br />

nicht als einen einzigen großen Binnenmarkt betrachten können,<br />

sondern als mehrere Teilmärkte. Und dazu brauchen<br />

wir Menschen, die die Präferenzen der verschiedenen sozialen<br />

Schichten, etwa der brasilianischen Gesellschaft, ganz<br />

genau kennen und verstehen.<br />

Focus: Nestlé gilt als Unternehmen mit einer sehr starken<br />

Kultur. Viele Ihrer Führungskräfte haben ihre gesamte berufliche<br />

Laufbahn innerhalb der Nestlé-Gruppe absolviert.<br />

Hat eine derartige Konzernsozialisierung nicht eine gewisse<br />

Uniformität zur Folge? Wie bewahrt man sich die Offenheit<br />

für die von Ihnen geschilderten Entwicklungen und Veränderungen?<br />

Bulcke: Ja, wir haben eine starke Kultur, aber Vielfalt und<br />

Teilhabe sind eben ein wichtiger Teil davon. Nehmen wir<br />

zum Beispiel die Art und Weise, wie wir mit Partnern und<br />

zugekauften Firmen umgehen. Kürzlich sind wir eine Partnerschaft<br />

mit einem chinesischen Unternehmen eingegangen,<br />

einem Süßwarenhersteller mit 24 000 Mitarbeitern. Wir<br />

werden dieses Unternehmen gemeinsam mit den Familien<br />

fortführen, die es gegründet haben. Zudem sind wir daran<br />

interessiert, von unseren chinesischen Partnern zu lernen.<br />

Schließlich kennen sie ihren Heimatmarkt viel besser, als es<br />

ein Außenstehender je könnte. Das ist unser Verständnis von<br />

Inklusion – eben die Dynamik dieses Unternehmens einzubinden.<br />

Und es ist auch einer unserer Grundsätze bei Partnern<br />

ebenso wie bei Zukäufen. Wenn ein Unternehmen erfolgreich<br />

ist, so wäre es ein Fehler, das Management auszuwechseln.<br />

Wir stellen jedoch auch sicher, dass es eine gemeinsame<br />

Zielsetzung und, wichtiger noch, eine geteilte<br />

Wertebasis gibt – denn die begrüßte Vielfalt erfordert es<br />

auch, dass sich alle Mitarbeiter eigenständiger Unternehmen<br />

zur Nestlé-Gruppe zugehörig fühlen. Der Kitt, der alles<br />

zusammenhält, ist unsere Unternehmenskultur. Deren Kern<br />

ist unser auf Langfristigkeit ausgelegtes unbedingtes Qualitätsverständnis<br />

– in allem, was wir tun. Das klingt nicht sehr<br />

ungewöhnlich, aber wir verfolgen diesen Wert so explizit<br />

und dauerhaft, dass jeder unserer Mitarbeiter genau versteht,<br />

was das für seine tägliche Arbeit bedeutet.<br />

Focus: Sie erwähnten vorhin den Respekt vor anderen Kulturen.<br />

Worin drückt sich dieser im Unternehmensalltag aus?<br />

Bulcke: Wir haben zum Beispiel unser Unternehmensleitbild,<br />

das im gesamten Konzern die Grundlage unseres Handelns<br />

bildet, in über 50 Sprachen übersetzt. Natürlich hätten<br />

wir, wie viele andere global tätige Unternehmen auch, Englisch<br />

zur allgemeingültigen „Amtssprache“ erklären können.<br />

Es geht uns mit diesem Übersetzungsaufwand aber nicht nur<br />

um ein Zeichen unserer Achtung vor anderen Sprachen und<br />

Kulturen, sondern wir möchten das, was uns an Werten und<br />

Handlungsweisen wichtig ist, allen unseren Mitarbeitern so<br />

genau wie möglich vermitteln. Und da ist die Muttersprache<br />

der erste Schritt. Natürlich braucht es, damit unsere Prinzipien<br />

wirklich verstanden und gelebt werden, zusätzlich permanente<br />

Kommunikation.<br />

Focus: Herr Bulcke, einerseits weisen Sie zu Recht voller<br />

Stolz auf die lange Tradition und Erfahrung von Nestlé im<br />

Hinblick auf Diversität hin. Andererseits haben Sie in Bezug<br />

auf die Geschlechterbalance im Unternehmen vor vier Jahren<br />

festgestellt, dass Nestlé hier nicht besser oder schlechter<br />

dasteht als die meisten anderen Unternehmen.<br />

Bulcke: Vielleicht hinken wir in diesem Punkt tatsächlich<br />

dem gesellschaftlichen Wandel ein wenig hinterher. Vor wenigen<br />

Jahrzehnten war es ja noch absolut unüblich, dass<br />

Frauen überhaupt berufstätig waren, wenn sie wirtschaftlich<br />

nicht dazu gezwungen waren. Das hat sich inzwischen grundlegend<br />

geändert. Erstens haben wir heute in vielen Ländern<br />

einen Pool an hervorragend ausgebildeten, talentierten und<br />

ehrgeizigen Frauen, aber unsere Arbeitswelt folgt vielfach<br />

immer noch männlichen Regeln. Auch Nestlé war sehr lange<br />

eine männerdominierte Welt. Zu der Tatsache, dass wir<br />

8<br />

Focus 01/2012


Führung Interview<br />

vorhandenes Potenzial nicht genutzt haben, kommt noch hinzu,<br />

dass unsere Produkte zweitens zu 75 bis 80 Prozent von<br />

Frauen gekauft werden – sie sind es, die tagtäglich beim Einkaufen<br />

die Entscheidung für oder gegen ein Nestlé-Produkt<br />

treffen. Es ist also von größter Bedeutung für uns, diesen<br />

Stimmen genau zuzuhören. Und wer könnte die Beweggründe<br />

von weiblichen Kunden besser verstehen als eine Frau?<br />

Daraus ergibt sich der dritte, für mich vielleicht wichtigste<br />

Grund, hier aktiv zu werden: Uns fehlte vielfach ein anderer,<br />

nämlich weiblicher Blickwinkel. Ich bin fest davon überzeugt,<br />

dass komplementäres Denken zu besseren Entscheidungen<br />

führt. Diese Komplementarität zu erreichen und ihre<br />

Wichtigkeit zu verdeutlichen ist das Geheimnis jedes gelungenen<br />

Vorstoßes in Sachen Diversität und Teilhabe. Gender<br />

Balance ist schlichtweg eine ökonomische Notwendigkeit.<br />

Focus: Was heißt das in der Praxis?<br />

Bulcke: Es ist uns bei unserer Gender-Strategie ganz wichtig,<br />

dass Frauen nicht eine männliche Denk- und Sichtweise<br />

übernehmen – vielmehr geht es darum, sie zu bestärken und<br />

zu ermutigen, als Frauen zu denken und zu handeln. Ein entscheidender<br />

Schritt in diese Richtung ist die Vereinbarkeit<br />

von Karriere und Familie. Das beinhaltet flexible Arbeitszeitmodelle<br />

für Mütter, Angebote zur Kinderbetreuung, Verständnis<br />

für nichtgeradlinige Karrierewege, aber auch so kleine<br />

Dinge wie ein Last-Minute-Einkaufsservice mit Lieferung<br />

direkt ins Büro. Eine weitere Initiative in diesem Zusammenhang<br />

ist unser Netzwerk mit anderen international tätigen<br />

Konzernen: das <strong>International</strong> Dual Career Network. Höhere<br />

Verantwortung ist nicht nur bei uns inzwischen ausnahmslos<br />

mit häufigen Ortswechseln und Auslandsentsendungen verbunden.<br />

Gerade für Familien, in denen beide Partner anspruchsvolle<br />

Laufbahnen verfolgen, ist es oft schwer, solche<br />

Wechsel synchron zu gestalten. Dabei helfen wir heute aktiv.<br />

Focus: Wie hoch ist denn inzwischen der Frauenanteil im<br />

Unternehmen, vor allem in Führungspositionen?<br />

Bulcke: Echte Vielfalt zeigt sich für mich nicht in Zahlen<br />

und Prozentsätzen. Deshalb lehne ich zum Beispiel feste<br />

Quoten entschieden ab. Stattdessen sollten wir eine natürlich<br />

gewachsene Geschlechterbalance fördern. Das kann vielleicht<br />

in einem Bereich einen Frauenanteil von 30 Prozent<br />

bedeuten, dafür woanders aber einen von über 80 Prozent.<br />

Focus: Hilft es Ihnen bei Ihren Anstrengungen im Hinblick<br />

auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis, dass Vielfalt<br />

für Nestlé in anderen Bereichen ein vertrautes Thema ist?<br />

Bulcke: Ja und nein. Wir sind, wie gesagt, von unserem Wesen<br />

her offen für eine Herkunfts<strong>vielfalt</strong>, in puncto Gender-<br />

Diversität jedoch waren wir bislang weniger erfolgreich.<br />

9<br />

Focus 01/2012


Führung Interview<br />

Also stimmte da etwas nicht, es gab diesbezüglich eine Art<br />

blinden Fleck. Es fehlte sowohl an der innerbetrieblichen Einstellung<br />

als auch an den nötigen Rahmenbedingungen für einen<br />

höheren Anteil von Frauen bei Nestlé, vor allem in Führungspositionen.<br />

Beinahe noch wichtiger als unsere beschriebenen<br />

konkreten Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie<br />

und Beruf in der Praxis war mir deshalb, unternehmensintern<br />

eine entsprechende geistige Haltung zu verankern.<br />

„Es kam uns darauf an,<br />

durch Beteiligung statt durch<br />

starre Top-down-Vorgaben<br />

zu überzeugen.“<br />

Focus: Wie haben Sie dieses Problem gelöst?<br />

Bulcke: Wir haben, angefangen beim Vorstand, unsere Führungskräfte<br />

für die wirtschaftliche Bedeutung und Notwendigkeit<br />

eines ausgewogenen Geschlechterverhältnisses sensibilisiert.<br />

Wir können nicht einfach auf die Hälfte des Arbeitskraftpotenzials<br />

weltweit verzichten, ohne langfristig Schaden<br />

zu nehmen. Außerdem haben wir „Gender Balance“ nicht zu<br />

einem Frauenthema gemacht, um das sich, wie in anderen<br />

Unternehmen, die wenigen weiblichen Führungskräfte in eigenen,<br />

aber oft isolierten Netzwerken kümmern. Wir haben<br />

bewusst alle Führungskräfte einbezogen – und das sind in der<br />

Mehrzahl immer noch Männer. Jedes Vorstandsmitglied hat<br />

in Workshops mit den direkt unterstellten Führungskräften<br />

einen Aktionsplan für mehr Geschlechter<strong>vielfalt</strong> in den jeweiligen<br />

Units entwickelt. Wir haben bewusst darauf verzichtet,<br />

feste Ziele vorzugeben. Auf diese Weise haben wir nicht nur<br />

alle Führungskräfte für dieses Thema ins Boot geholt, sondern<br />

auch Widerstände minimiert. Es kam uns darauf an, das<br />

gesamte Unternehmen durch Beteiligung und Überzeugung<br />

statt durch starre Top-down-Vorgaben auf die gesellschaftliche<br />

Bedeutung und die Chancen einzustimmen, die eine ausgewogenere<br />

Geschlechterbalance bietet.<br />

Focus: Wie stellen Sie fest, ob Ihre Überzeugungsarbeit<br />

fruchtet und der Einsatz Ihrer Führungskräfte, mehr Frauen<br />

an Bord zu holen – auch in leitenden Positionen –, nicht reines<br />

Lippenbekenntnis bleibt?<br />

Bulcke: Natürlich verfügen wir über eine ganze Reihe von<br />

Instrumenten, um den Erfolg zu messen. Wir bestimmen zum<br />

Beispiel unseren Talente-Pool und ermitteln die Höhe des<br />

Frauenanteils, insgesamt und jeweils auf den verschiedenen<br />

Stufen. Wir schauen uns an, wie die Geschäftsleitungsebenen<br />

10<br />

Focus 01/2012


Führung Interview<br />

in unseren unterschiedlichen Märkten zusammengesetzt sind<br />

und wie viele Frauen in den Stellvertreter- und Nachfolgeplänen<br />

vertreten sind. Welche Managerinnen kommen möglicherweise<br />

auf kurze Frist gesehen dafür infrage? Als Faustregel<br />

unserer Gender-Balance-Strategie gilt, dass es in jedem<br />

Nachfolgeplan zumindest eine weibliche Kandidatin geben<br />

sollte. Und wenn wir feststellen, dass irgendwo die Entwicklung<br />

stockt, dann überprüfen wir, woran es liegt, und räumen<br />

etwaige Hindernisse aus dem Weg.<br />

Focus: Ist die Entscheidung, Wan Ling Martello, eine US-<br />

Amerikanerin mit philippinischen und chinesischen Wurzeln<br />

und zuvor stellvertretende Generaldirektorin bei Wal-<br />

Mart, zur neuen Finanzchefin zu machen, ein Ergebnis von<br />

Nestlés Bekenntnis zu Gender-Diversität?<br />

Bulcke: Vielleicht ist der wichtigste Aspekt dabei, dass es<br />

überhaupt keine Rolle gespielt hat, dass Frau Martello weiblichen<br />

Geschlechts ist. Es gab weder ein Weil noch ein Obwohl,<br />

sie war für diese Aufgabe einfach die beste Wahl, und<br />

das in jeder Beziehung. Wir wählen unsere Topführungskräfte<br />

danach aus, ob wir von ihrer Gestaltungskraft überzeugt<br />

sind, von ihrer Persönlichkeit in all ihrer Komplexität<br />

und ihren Facetten.<br />

Focus: Bei allen Vorteilen, die Vielfalt mit sich bringt, brauchen<br />

Sie als globales Unternehmen aber auch ein gewisses<br />

Maß an Übereinstimmung. Ist es überhaupt möglich, beispielsweise<br />

eine herausragende chinesische Führungskraft<br />

und einen herausragenden amerikanischen Manager nach<br />

den gleichen Kriterien zu vergleichen?<br />

Bulcke: Die Essenz guter und erfolgreicher Führung ist im<br />

Grunde überall dieselbe: eine Persönlichkeit, die Impulse<br />

aus dem Umfeld sensibel aufnimmt und eine Gruppe von<br />

Mitarbeitern erfolgreich zum Ziel führt. Es gibt ein paar Universaltalente,<br />

denen das überall gelingt, aber wir treffen oft<br />

auf Führungskräfte, die in einem bestimmten Umfeld erfolgreich<br />

sind, in dem andere schlecht Fuß fassen. Genau das ist<br />

es, was wir anerkennen müssen: Die Beurteilungsmaßstäbe<br />

für Führung können von einem Ort zum anderen höchst unterschiedlich<br />

ausfallen. Deshalb brauchen wir ja auch hier im<br />

Hauptquartier so viel Diversität wie möglich, Menschen, die<br />

die feinen Schattierungen in unseren unterschiedlichen<br />

Märkten kennen und verstehen und deshalb auch beurteilen<br />

können, wie gut die einheimische Führung darauf eingeht.<br />

wollen, und beurteilen anhand verschiedener Kriterien –<br />

Vielfalt und Inklusion sind nur zwei von vielen –, wie die<br />

jeweilige Führungskraft hier vorangekommen ist. Ich glaube<br />

nicht an überregulierte Ansätze mit genauen Vorschriften<br />

für jeden denkbaren Fall. Ich schaffe lieber Einstellungen<br />

und Haltungen und biete entsprechende Werkzeuge und Methoden<br />

an, die Mitarbeiter dazu befähigen, ihre Ziele proaktiv<br />

zu realisieren.<br />

Focus: Welche Herausforderungen und Hindernisse sehen<br />

Sie für Nestlé in der Zukunft? Und wie stellen Sie sicher, dass<br />

Ihre Leitlinien auch in schwierigen Zeiten befolgt werden?<br />

Bulcke: Die größte Herausforderung nicht nur für uns, sondern<br />

für alle Unternehmen ist es, nicht das aus den Augen zu<br />

verlieren, was wirklich zählt. Bei Nestlé ist das zwar nicht der<br />

Fall, aber derzeit geraten die Prinzipien solider Geschäftsführung<br />

oft zugunsten kurzsichtiger Entscheidungen aus dem<br />

Fokus. Dazu hat die globale Finanzkrise entscheidend beigetragen.<br />

Für Nestlé ist es aber wichtig, auch unter schwierigen<br />

Bedingungen die globale Perspektive beizubehalten und kontinuierlich<br />

das zu bieten, wofür unser Unternehmen steht:<br />

höchste Qualität und gute Lebensmittel für die unterschiedlichsten<br />

Bedürfnisse weltweit. Dazu müssen wir uns auch<br />

immer wieder die Frage stellen, ob wir die richtige Führung<br />

dafür an Bord haben. Ich denke, wir haben hier das entsprechende<br />

Umfeld geschaffen und verfügen über ein gemeinsames<br />

Ziel in puncto Vielfalt und Inklusion.<br />

Focus: Und wann werden Sie dieses Ziel erreicht haben?<br />

Bulcke: Das erreicht man nie. Es ist ein bisschen wie Fahrrad<br />

fahren – man muss sich stetig vorwärtsbewegen, um das<br />

Gleichgewicht zu halten.<br />

Focus: Beurteilen Sie die Leistung Ihrer Führungskräfte<br />

auch danach, wie und was sie zur Steigerung der Diversität<br />

im Unternehmen beigetragen haben?<br />

Bulcke: Ja, bei Beförderungen spielt das sicher eine Rolle.<br />

Aber noch einmal, wir schauen hier nicht auf Zahlen, es geht<br />

um Gestaltungskraft. Wir geben die Richtung vor, in die wir<br />

Von links nach rechts: Jean-Marc Duvoisin, Global<br />

Head HR, Nestlé, Laurence Monnery, <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong><br />

<strong>International</strong>, London, Paul Bulcke, CEO Nestlé, Dick<br />

Patton, <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>, Boston, und<br />

Thomas F. Allgäuer, <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>, Genf.<br />

11<br />

Focus 01/2012


Kultur<br />

Große Erwartungen<br />

Wie der Wandel zu mehr<br />

Vielfalt gelingen kann<br />

Brigitte Lammers<br />

<strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>, Berlin<br />

brigitte.lammers@ezi.net<br />

Caspar von Blomberg<br />

<strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>, München<br />

caspar.blomberg@ezi.net<br />

Vorurteile, Mutmaßungen und unbewusste Assoziationen<br />

sind die größten Hindernisse für mehr Vielfalt in Unternehmen.<br />

Und was für den einzelnen Mitarbeiter gilt,<br />

scheint im weiteren Sinn auch auf die Diversität selbst<br />

zuzutreffen: Je weniger positive Effekte eine Organisation<br />

und ihre Entscheider sich davon versprechen, desto<br />

geringer werden diese tatsächlich sein. Unternehmenslenker,<br />

die das Gesetz dieser Selffulfilling Prophecy<br />

brechen wollen, müssen Vielfalt aktiv in die Kultur und in<br />

die Strukturen des Unternehmens einbinden. Das Stichwort<br />

lautet Inklusion.<br />

Der groSSe britische Dramatiker und Autor George<br />

Bernard Shaw erzählt in seiner berühmten Komödie „Pygmalion“<br />

die Geschichte der armen Blumenverkäuferin Eliza Doolittle<br />

und ihres Lehrers, des Sprachwissenschaftlers Professor<br />

Higgins. Dieser wettet, dass er Eliza als Herzogin ausgeben<br />

könne, indem er sie Akzent und Manieren der feinen Londoner<br />

Gesellschaft lehrt. Und tatsächlich nehmen ihr die gesellschaftlichen<br />

Kreise, in denen der Professor sich bewegt, ihre Rolle<br />

ab, weil sich dort niemand vorstellen kann, dass sich der gebildete,<br />

kultivierte Mann mit einem Mädchen aus einfachsten<br />

Verhältnissen beschäftigen könnte. Shaws humorvolle Kritik<br />

am rigiden sozialen „Kastensystem“ des viktorianischen England<br />

zeigt, wie sehr Annahmen, Erwartungen und Assoziationen<br />

des Umfeldes den persönlichen Werdegang eines Menschen<br />

beeinflussen. Sie ist auch heute noch gültig – im gesellschaftlichen<br />

wie auch im beruflichen Umfeld. Der US-Autor<br />

Dov Eden hat dieses Phänomen ausführlich in seinem Buch<br />

„Pygmalion in Management“ beschrieben.<br />

Alter, Geschlecht, Hautfarbe, kultureller und sozialer<br />

Hintergrund, selbst das äußere Erscheinungsbild – all diese<br />

Punkte führen zu (oft unbewussten) Annahmen, Assoziationen<br />

und Mutmaßungen bis hin zu Vorurteilen bei Kollegen<br />

und Vorgesetzten und beeinflussen damit berufliche Entwicklung<br />

und persönliche Karrierechancen. Dies beginnt oft<br />

schon bei der Bewerbung. Erfahrungen mit anonymisierten<br />

Bewerbungsverfahren zeigen, dass dort nicht selten Kandidaten<br />

zum Zuge kommen, die bei traditionellen Auswahlprozessen<br />

oft nicht einmal in die engere Wahl gekommen<br />

wären. Weiterhin konnten Organisationswissenschaftler in<br />

12<br />

Focus 01/2012


Führung Kultur<br />

unabhängigen Untersuchungen nachweisen, dass Mitarbeiter,<br />

denen seitens ihrer Unternehmen und Vorgesetzten beruflich<br />

wenig zugetraut wurde, tatsächlich schlechtere Leistungen<br />

zeigten als jene, von denen von Anfang an mehr erwartet<br />

und verlangt wurde. Es scheint auch hier das Gesetz<br />

der Selffulfilling Prophecy zu gelten.<br />

Vorurteile als Hindernis<br />

Vorurteile, Mutmaßungen und unbewusste Assoziationen<br />

sind also offenbar die größten Hindernisse für mehr Vielfalt<br />

in Unternehmen. Und was für Mitarbeiter und bestimmte ihrer<br />

Eigenschaften und individuellen Persönlichkeitsmerkmale<br />

gilt, scheint im weiteren Sinn auch auf die Diversität<br />

selbst zuzutreffen: Je weniger positive Effekte eine Organisation<br />

und ihre Entscheider sich davon versprechen, desto<br />

geringer werden diese tatsächlich sein. Dann bleibt Vielfalt<br />

ein Zahlenspiel, um Quoten zu erfüllen oder die Compliance<br />

des Unternehmens mit gesellschaftlichen oder politischen<br />

Vorgaben und Erwartungen zu signalisieren – sie wird aber<br />

nicht zu einer besseren Performance führen. Oft steckt in<br />

deutschen Unternehmen nach unserer Beobachtung beispielsweise<br />

das aktuelle Thema der Förderung von Frauen<br />

immer noch im Stadium eines rein quantitativen Ansatzes.<br />

Diese Unternehmen sind auf die Steigerung der Zahl weiblicher<br />

Führungskräfte fixiert, ohne dass sie sich dabei aber<br />

kulturell verändern. Wenn Frauen in einer derart von Männern<br />

geprägten Kultur reüssieren wollen, gelingt ihnen das<br />

meist nur durch Überanpassung, also gerade durch die Aufgabe<br />

von spezifisch weiblichen Stärken und Blickwinkeln.<br />

Was also ist zu tun, damit Vielfalt in einer Unternehmenskultur<br />

tatsächlich Fuß fassen und Früchte tragen kann?<br />

Die Vorreiter in Sachen Diversität, oft international tätige<br />

Konsumgüterhersteller wie etwa der Düsseldorfer Henkel-<br />

Konzern, haben inzwischen verstanden, dass Vielfalt in einem<br />

Unternehmen per se noch keinen Wert oder auch nur<br />

Vorteil darstellt. Vielmehr kommt es darauf an, die Vielfalt<br />

aktiv in die Kultur und in die Strukturen des Unternehmens<br />

einzuweben. Das Stichwort lautet Inklusion.<br />

Es geht darum, Mitarbeiter unterschiedlicher Herkunft<br />

und Persönlichkeiten nicht nur in formale Organisationsprozesse,<br />

sondern ebenso in die informellen und sozialen<br />

Netzwerke des Unternehmens einzubinden – und zwar so,<br />

dass sie gerade in ihrer Nonkonformität zur Geltung kommen<br />

und nicht allmählich zu Klonen der Meinungsführer<br />

oder vorherrschenden Gruppe im Unternehmen mutieren.<br />

Es mag zunächst paradox klingen, aber Einbeziehung<br />

bedeutet, richtig verstanden, Unterschiede nicht glattzubügeln,<br />

sondern bewusst zu verstehen, wahrzunehmen, zu<br />

respektieren und aus der Differenzierung Vorteile für das<br />

Unternehmen zu entwickeln.<br />

Ein neues Verständnis von Vielfalt<br />

Verbunden damit ist auch ein neues, weiter gefasstes und<br />

tieferes Verständnis von Vielfalt als bisher. Unterschiedlichkeit<br />

meint dabei nicht nur die bekannten demografischen<br />

und sozialen Kategorien, sondern auch jene Charakteristika,<br />

die die in einem bestimmten Umfeld vorherrschende<br />

Gruppe als „anders“ wahrnimmt. Das können zum<br />

Beispiel in einer von Ingenieuren und Technikern geprägten<br />

Kultur – für viele Unternehmen der deutschen Kernindustrien<br />

immer noch typisch – die anfangs vielleicht unbequemen<br />

Ideen von Mitarbeitern oder Führungskräften mit einem<br />

stärker kommerziellen, marketing- bzw. kundenorientierten<br />

Hintergrund sein. Oder es können neue Führungskräfte aus<br />

anderen Märkten sein, die im Zuge der <strong>International</strong>isierung<br />

des Geschäfts die Kultur des Mutterhauses konstruktiv herausfordern.<br />

Wissenschaftler unterscheiden mittlerweile zwischen<br />

„Surface-Level Diversity“ und „Deep-Level Diversity“.<br />

Erstere umfasst die sichtbaren Unterscheidungsmerkmale<br />

wie Alter, Geschlecht oder ethnische Herkunft. Die so<br />

wichtige „Deep-Level Diversity“ bezieht sich hingegen<br />

auf nicht sichtbare Merkmale eines Menschen wie Werte,<br />

Erfahrungen und Vorlieben. Zwischen beiden Dimensionen<br />

der Vielfalt bestehen durchaus Verbindungen. Im Grunde<br />

geht es bei einem erfolgreichen Diversity Management aber<br />

darum, die positiven Effekte aus der tiefer verankerten<br />

Vielfalt auszuschöpfen. Wirkliche Diversität bedeutet in<br />

diesem erweiterten Sinn also eine Vielfalt der Perspektiven.<br />

Inklusion schafft in der Führungspraxis die Voraussetzung<br />

dafür, diese verschiedenen Perspektiven in allen wichtigen<br />

unternehmerischen Entscheidungen zu mobilisieren und<br />

nutzbar zu machen.<br />

Keine Abstriche bei der Kompetenz<br />

Analog zu der Erkenntnis, dass man bekommt, was man erwartet,<br />

versprechen sich die Vorreiterunternehmen in Sachen<br />

„Diversity & Inclusion“ (D&I) von der Vielfalt in ihren<br />

Organisationen viel – und bekommen es: ein besseres<br />

Verständnis von Märkten und Kundenbedürfnissen, mehr<br />

Innovationen und insgesamt eine höhere wirtschaftliche<br />

Gesamtleistung. Eine McKinsey-Studie, die die Entwicklung<br />

von 180 Aktiengesellschaften in Deutschland, Frankreich,<br />

Großbritannien und den USA über mehrere Jahre<br />

hinweg analysierte, zeigt, dass die Unternehmen mit den<br />

vielfältigsten Führungsteams auch die beste Finanzperformance<br />

aufwiesen. Die Gewinne vor Steuern lagen bei<br />

Unternehmen mit einer starken Diversität insgesamt um<br />

14 Prozent höher als bei denjenigen, die eine geringere<br />

Diversitätsrate aufwiesen. Die Erfolge der Vorreiter machen<br />

13<br />

Focus 01/2012


Führung Kultur<br />

Die so wichtige „Deep-Level Diversity“ bezieht<br />

sich auf nicht sichtbare Merkmale eines Menschen<br />

wie Werte, Erfahrungen und Vorlieben.<br />

inzwischen Schule. So haben gerade deutsche Unternehmen<br />

in den vergangenen zwei bis drei Jahren ein besonders umfassendes<br />

Spektrum an Maßnahmen zur Verbesserung ihrer<br />

internen Vielfalt gestartet. Dies ist sicherlich teils ihrem<br />

Rückstand im europäischen Vergleich, teils auch der aktuellen<br />

öffentlichen Diskussion geschuldet. So zeigen jüngste<br />

Zahlen aus der von <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong> durchgeführten<br />

„European Board Diversity Analysis 2012“, dass in<br />

Deutschland der Anteil von Mitgliedern mit ausländischem<br />

Pass in Vorständen und Aufsichtsräten derzeit bei 18 Prozent<br />

liegt, europaweit aber schon bei 31,5 Prozent – allerdings<br />

hier wie dort mit steigender Tendenz.<br />

Eines der vorrangigen Themen im Hinblick auf die Vielfalt<br />

in deutschen Unternehmen ist sicherlich die Frage nach<br />

der Geschlechterbalance in Führungspositionen generell,<br />

doch insbesondere auf Aufsichtsrats- und Vorstandsebene.<br />

Während sich Unternehmen vor wenigen Jahren noch bewusst<br />

gegen die Einstellung von weiblichen Führungskräften<br />

aussprachen, weil die Kultur dies vermeintlich noch<br />

nicht zuließ, so hat sich dies in nahezu allen Branchen und<br />

bei allen Unternehmensgrößen inzwischen spürbar geändert.<br />

Deutsche Unternehmen tun jedoch gut daran, bei anspruchsvollen<br />

Managementbesetzungen keine Kompetenzabstriche<br />

zu machen, um dadurch Kandidatinnen zu gewinnen.<br />

In unserer Beratungspraxis sehen wir heute inzwischen<br />

ein weit größeres Maß an Flexibilität und Kreativität, wenn<br />

es darum geht, ein Besetzungsprofil mit bewusst breitem<br />

Blick in den Markt zu gestalten. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit<br />

auf ein vielfältigeres Kandidatenportfolio und<br />

damit auch die Chance, eine passende Managerin zu finden.<br />

Bisher waren zudem umfassende praktische Erfahrungen in<br />

der gleichen Aufgabe ein wichtiges Auswahlkriterium. Da<br />

Frauen bisher aber kaum in Vorstandspositionen vertreten<br />

waren, konnten sie derartige Qualifikationen auch nicht vorweisen.<br />

Hier vollzieht sich aber eine Öffnung in Besetzungsprozessen,<br />

von der nicht nur Frauen profitieren werden.<br />

Vielfalt ist Chefsache<br />

Wie jede wichtige Initiative braucht D&I das Commitment<br />

der Unternehmensführung. Vielfalt und Teilhabe müssen<br />

also Chefsache sein. Nur wenn Leitung und Führungsteam<br />

eine Kultur der Offenheit und Einbeziehung vorleben und<br />

bei der Besetzung von Führungspositionen tatsächlich ein<br />

Kaleidoskop an unterschiedlichsten Kandidaten und Kandidatinnen<br />

berücksichtigen, wird das Bekenntnis zu Vielfalt<br />

und Teilhabe glaubwürdig. Zugleich steigt mit zunehmend<br />

unterschiedlicheren Entscheidungsträgern im Unternehmen<br />

die Chance auf wirksame Diversität.<br />

Um noch mal darauf zurückzukommen: Vielfalt ohne gleichzeitige<br />

Inklusion aller Beteiligten kann zu schwerwiegenden<br />

Missverständnissen, Konflikten und Fehlentscheidungen<br />

führen oder vielversprechende Mitarbeiter und Führungskräfte,<br />

die nicht dem Mainstream in der Organisation entsprechen,<br />

dazu veranlassen, frustriert das Unternehmen zu<br />

verlassen, weil sie sich dort mit ihren Eigenheiten nicht angenommen<br />

fühlen.<br />

In vielen Unternehmen ist deshalb die aktive Auseinandersetzung<br />

mit oft unbewussten Vorprägungen und Vorurteilen<br />

ein wesentliches Element des Kulturwandels. In sogenannten<br />

„Unconscious Bias“-Projekten arbeiten sie daran,<br />

diese Vorurteile und Vorprägungen auf allen Ebenen offenzulegen<br />

und gezielt abzubauen. Langzeiterfahrungen zeigen,<br />

dass die Erfolge, die durch solche Trainings erzielt<br />

werden, tatsächlich zu weitreichenden Veränderungsprozessen<br />

in den Unternehmen geführt haben.<br />

Neben der Unternehmensführung kommt bei der Realisierung<br />

und Nutzung von Vielfalt vor allem den Führungskräften<br />

eines Unternehmens entscheidende Bedeutung zu.<br />

Insofern lohnt es, bei Stellenbesetzungen, Beförderungen<br />

und Entwicklungsplänen auch die spezifischen D&I-Kompetenzen<br />

jeder Führungskraft zu bewerten. Ausgehend von<br />

den Erfahrungen, die <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong> jahrelang<br />

bei Management Appraisals von Topführungskräften gesammelt<br />

hat, lässt sich sagen, dass die Fähigkeit, mit Vielfalt<br />

und Inklusion umzugehen, bei Führungskräften ebenso<br />

konkret messbar ist wie andere wichtige Führungskompetenzen<br />

auch.<br />

Erfolgreiche Führung in von Diversität geprägten Umfeldern<br />

zeichnet sich demnach außer durch höhere Bewertungen<br />

im Punkt „Team Leadership und Zusammenarbeit“<br />

durch die besondere Fähigkeit aus, unterschiedlichste Mitarbeiter<br />

einbeziehen zu können. Führungspersönlichkeiten<br />

14<br />

Focus 01/2012


Führung Kultur<br />

mit hohen „Inclusiveness“-Werten verstehen die Kraft von<br />

Vielfalt sowohl intern als auch extern, agieren entsprechend<br />

proaktiv und wirken als Vermittler zwischen unterschiedlichen<br />

Gruppen und Kulturen. Sie können Vielfalt nicht nur<br />

selbst erfolgreich nutzen und fördern, sondern sind diesbezüglich<br />

anderen auch ein Beispiel. Führungskräfte mit geringen<br />

Werten bezüglich Inclusiveness akzeptieren dagegen<br />

zwar den Wert anderer Kulturen und Sichtweisen, handeln<br />

in der Praxis aber nicht danach.<br />

Von einem derartigen Verständnis von Inclusiveness als<br />

messbare Kompetenz kann die Organisation bzw. die jeweilige<br />

Führungskraft in mehrfacher Hinsicht profitieren: Die<br />

Unternehmensführung erhält ein Bewertungstool bei der<br />

Suche nach Topmanagern. Es stellt ein wichtiges Kriterium<br />

im Rahmen der Bewertung, Auswahl und Entwicklung talentierter<br />

Mitarbeiter dar, und die Führungskräfte selbst<br />

können einen Fahrplan für die Ausbildung und Förderung<br />

ihrer D&I-Performance entwickeln.<br />

Neben der individuellen Kompetenz ist allerdings auch<br />

die Rolle der jeweiligen Führungskraft im Managementteam<br />

für die Effektivität des gesamten Teams von Bedeutung.<br />

Gerade im Hinblick auf Vielfalt und Teilhabe ist ihr<br />

Beitrag zur Leistung und Funktion der gesamten Führungsmannschaft<br />

wichtig. Die Bewertung der Stärken und<br />

Schwächen bzw. Dysfunktionen eines Teams im Kontext<br />

von D&I kann helfen, deutliche Hinweise zur Verbesserung<br />

der Leistung eines bestehenden Teams zu geben und die Zusammensetzung<br />

von neuen oder zu reorganisierenden<br />

Teams zu unterstützen.<br />

Entscheidende Ansatzpunkte für eine erfolgreich umgesetzte<br />

Praxis der Vielfalt und Inklusion ergeben sich außer<br />

in einer entsprechenden Unternehmenskultur im Übrigen<br />

überall dort, wo es um wichtige Personalentscheidungen<br />

geht – sei es bei der Auswahl und Förderung von Talenten,<br />

bei Recruiting, Nachfolgeplanung oder Führungskräfteentwicklung,<br />

bei der Auswahl von Kandidaten für High-Potential-Programme<br />

oder in der Startphase neuer Topmanager<br />

sowie bei der Besetzung von Aufsichtsratsposten.<br />

Gerade wenn einem neuen, vom bisher gängigen Auswahlraster<br />

abweichenden Topmanager die Führung des<br />

Unternehmens anvertraut wird, kommt es auf einen besonders<br />

gut orchestrierten Onboarding-Prozess an. Inklusion<br />

beginnt spätestens mit der Amtsübernahme des Topmanagers,<br />

besser bereits bei Vertragsunterzeichnung. Studien<br />

zeigen, dass die ersten 90 Tage eines neuen Topmanagers<br />

für seine gesamte Amtszeit erfolgskritisch sind. Dies trifft<br />

besonders zu, wenn sich das Profil des neuen Managers<br />

bzw. der neuen Managerin deutlich vom bisherigen Unternehmensusus<br />

unterscheidet. Umso wichtiger ist es, die neue<br />

Führungskraft intensiv auf die kommende Aufgabe vorzubereiten.<br />

Hierzu gehört auch eine objektivierte Diagnose<br />

der kulturellen Unterschiede zwischen der neuen Firma und<br />

dem bisherigen Umfeld der Führungskraft. Zudem geht es<br />

darum, die wichtigsten Stakeholder innerhalb und außerhalb<br />

des Unternehmens zu benennen und erste Kontakte<br />

zwischen ihnen und dem künftigen Amtsinhaber herzustellen.<br />

Hierbei sollten auch bereits Erwartungen und Perzeptionen<br />

im Hinblick auf die künftige Amtsausübung offen<br />

ausgetauscht werden. Neben einem internen Mentor empfinden<br />

viele Kandidaten in dieser Situation die Unterstützung<br />

durch einen vertrauenswürdigen externen Berater als<br />

hilfreich. Unabhängige Befragungen und frühzeitiges Feedback<br />

sind genauso erfolgskritisch wie Workshops zur Integration<br />

in das künftige Führungsteam.<br />

Ansporn für alle<br />

Systematisch und konsistent angewandt, führen die genannten<br />

Prinzipien und Praktiken zu einer Unternehmenskultur, in<br />

der Vielfalt gedeiht, Teilhabe wirklich alle Mitarbeiter einschließt<br />

und vielfältige Blickwinkel den Unternehmenswert<br />

steigern helfen. Die Organisation wird zum Inkubator frischer<br />

Ideen und neuer Perspektiven, die dazu führen können,<br />

bisher unerkannte Chancen im Hinblick auf Produkte, Dienstleistungen<br />

und Märkte wahrzunehmen. Darüber hinaus dürfte<br />

das Ansehen des Unternehmens wachsen, was wiederum<br />

seinen Wert als Marke steigert, die unterschiedlichsten Kunden<br />

anspricht sowie Toptalente mit den verschiedensten<br />

Kompetenzen anzieht und an das Unternehmen bindet.<br />

Das Unternehmen wird somit davon profitieren, wenn es<br />

vielfältige Teilhabe an Entwicklungschancen auf den unterschiedlichsten<br />

Ebenen für alle Mitarbeiter bietet – nicht nur<br />

für eine kleine, uniforme Elite. Das ist der Ansporn für alle,<br />

an einer gemeinsamen, positiven Zukunft zu arbeiten.<br />

die autoren<br />

DR. BRIGITTE LAMMERS ist seit 2000 Beraterin bei<br />

<strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>, Berlin. Sie ist Mitglied<br />

der Technology and Communications sowie der<br />

Leadership Strategy Services Practice und leitet die<br />

deutschen Aktivitäten im Bereich Diversity and<br />

Inclusion.<br />

CASPAR VON BLOMBERG ist seit 2011 Berater im<br />

Münchner Büro von <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>.<br />

Er ist Mitglied der Financial Services und der Sustainability<br />

Practice.<br />

15<br />

Focus 01/2012


Keynote<br />

Von der Ausnahme zur Regel<br />

Gespräch mit Professor David A. Thomas<br />

über einen notwendigen Paradigmenwechsels<br />

im Umgang mit Vielfalt<br />

Die meisten Unternehmen, hat der renommierte Organisationswissenschaftler<br />

David A. Thomas festgestellt,<br />

beschäftigen sich mit dem Thema Vielfalt erst dann<br />

intensiv, wenn äußere Umstände sie dazu zwingen, seien<br />

es gesetzliche Vorgaben oder die unterschiedlichen<br />

Bedürfnisse ihrer Kunden. Sie behandeln den Umgang<br />

mit Diversity damit in erster Linie als Problem und nicht<br />

als eine Chance zur Integration und zum Lernen, die<br />

sich ihnen bietet. Deshalb fordert Thomas ein grundlegendes<br />

Umdenken von den Unternehmen und ihren<br />

Führern.<br />

Focus: Professor Thomas, es fällt auf, dass viele Ansätze<br />

und Beiträge, die sich mit Diversity und Inclusion beschäftigen,<br />

eher problemorientiert sind und eine negative Konnotation<br />

haben. Sie dagegen gehen das Thema mit einer sehr<br />

optimistischen und positiven Einstellung an. Woran liegt es,<br />

dass viele Wissenschaftler und auch Praktiker im Umgang<br />

mit Vielfalt ein Problem sehen, das es zu lösen gilt, Sie dagegen<br />

eher eine große Chance?<br />

David Thomas: Diskussionen und Überlegungen über Diversität<br />

drehen sich anfangs oft um die Beseitigung von<br />

Nachteilen für bestimmte Gruppen – sowohl in der Theorie<br />

als auch in der Praxis. Egal, ob es sich dabei um mehr<br />

Gleichberechtigung für Frauen oder um den Zugang zu bestimmten<br />

Positionen oder Berufen für Menschen mit anderer<br />

Hautfarbe oder unterschiedlicher ethnischer Herkunft handelt:<br />

Ungleichheit ist negativ besetzt, gilt als politisch inkorrekt.<br />

Dieser negative Beigeschmack beeinflusst dann die<br />

gesamte Sichtweise auf das Thema. Deshalb stehen Barrieren<br />

und ihre Aufhebung oft im Zentrum von Forschungsarbeiten<br />

über Diversität. Entsprechend ist es – zumindest in<br />

den USA – Ziel nahezu aller Gesetze, die sich mit den Themen<br />

kulturelle oder demografische Unterschiede beschäftigen,<br />

diese böse Sache namens Diskriminierung zu verhindern.<br />

Ein derart einseitige, defensive Orientierung verhindert<br />

aber eine positive Sicht auf Vielfalt.<br />

Focus: Wie kamen Sie zu einem anderen Blickwinkel?<br />

Thomas: Bei meiner Zusammenarbeit mit John Gabarro in<br />

den neunziger Jahren analysierten wir für unser Buch „Breaking<br />

Through“ die Werdegänge von Führungskräften, die einer<br />

ethnischen Minderheit angehörten. Uns interessierte,<br />

was jene knapp drei Prozent, die in der Chefetage angekommen<br />

waren, anders gemacht hatten. Denn es war uns aufgefallen,<br />

dass in jeder Abhandlung über Minderheiten und Karriere<br />

Weiße in Führungspositionen mit Angehörigen von<br />

Minderheiten verglichen wurden, die es nicht so weit gebracht<br />

hatten. Keine einzige systematische Untersuchung<br />

befasste sich mit Angehörigen von Minderheiten, denen der<br />

Aufstieg gelungen war, und damit, anhand dieser Positivbeispiele<br />

Erfolgsfaktoren zu identifizieren und eine Theorie für<br />

einen erfolgreichen Lebenslauf zu entwickeln. Wir aber fanden<br />

beispielsweise heraus, dass erfolgreiche Führungskräfte,<br />

die einer ethnischen Minderheit angehörten, sich sehr facettenreiche<br />

persönliche Netzwerke, bestehend aus anderen<br />

Managern und Mentoren, aufgebaut hatten – sowohl aus<br />

Persönlichkeiten, die ihnen ethnisch ähnlich waren, als auch<br />

aus solchen, die anders waren. Im Gegensatz dazu war für<br />

weiße Führungskräfte eine derartige Heterogenität ihres<br />

Netzwerks nicht ausschlaggebend für ihren Erfolg. Vielfalt<br />

innerhalb des persönlichen Netzwerks ist also für die Karriere<br />

eines Managers mit dunkler Hautfarbe von Vorteil.<br />

Focus: Was haben Sie nun in Ihrer Forschung über den<br />

Umgang mit Diversity in Unternehmen festgestellt?<br />

Thomas: Im Rahmen unserer wissenschaftlichen Arbeiten<br />

konnten Robin Ely und ich zwei zentrale Paradigmen identifizieren,<br />

die den Umgang mit Vielfalt in der Unternehmenspraxis<br />

prägen: das Diskriminierungs- und Fairnessparadigma<br />

sowie das Zugangs- und Legitimierungsparadigma. Leider<br />

resultiert jedoch aus keinem der beiden eine positive Gruppen-<br />

oder Unternehmensleistung. Meines Erachtens muss<br />

ein positiver Ansatz, sich mit Diversität zu beschäftigen,<br />

auch die Bereitschaft umfassen, Situationen und Denkmuster<br />

zu analysieren und zu kritisieren, die oberflächlich betrachtet<br />

16<br />

Focus 01/2012


Führung Keynote<br />

„In einem lernenden Unternehmen<br />

gibt es offene<br />

Diskussionen darüber, wie<br />

unterschiedliche Perspektiven<br />

zu besseren Schlussfolgerungen<br />

führen können.“<br />

positiv wirken, in ihrem Ergebnis aber negativ sind. Eine<br />

verschworene, offenbar sehr gut und eng miteinander arbeitende<br />

Gruppe oder ganze Organisation muss demnach nicht<br />

automatisch etwas Gutes bedeuten. Man muss schon genauer<br />

hinschauen. Wenn sich nämlich herausstellt, dass der innere<br />

Zusammenhalt durch kultähnliche Verhaltensmuster<br />

und -erwartungen evoziert wird, dann ist das ja wieder eher<br />

etwas Negatives. Wir haben deshalb ein neues Paradigma<br />

entwickelt, bei dem personelle Vielfalt von Anfang an als<br />

Ressource zum Lernen, zur Problemlösung und für Innovationen<br />

betrachtet wird – also Vorteile hat und zu positiven<br />

Resultaten führt: das Integrations- und Lernparadigma.<br />

Focus: Könnten Sie die Unterschiede zwischen den verschiedenen<br />

Paradigmen kurz erläutern?<br />

Thomas: Organisationen, die sich am Diskriminierungs- und<br />

Fairnessparadigma orientieren, bemühen sich vor allem um<br />

die faire und gleiche Behandlung ihrer Mitarbeiter. Es werden<br />

zwar Mitarbeiter mit den unterschiedlichsten Backgrounds<br />

eingestellt, aber dann wird von ihnen ein uniformes Verhalten<br />

erwartet, bzw. Unterschiede werden als solche bewusst nicht<br />

wahrgenommen. Während sich in derartigen Organisationen<br />

also alle angestrengt um Konformität bemühen, werden beim<br />

Zugangs- und Legitimierungs-Ansatz die Unterschiede ausdrücklich<br />

in den Vordergrund gestellt. Das Unternehmen<br />

setzt die Diversity seiner Mitarbeiter gezielt dazu ein, Zugang<br />

zu unterschiedlichen Märkten und Kunden zu gewinnen. Mit<br />

der Vielfalt, die seine Mitarbeiter repräsentieren, legitimiert<br />

sich das Unternehmen zugleich als verständnisvoller Partner<br />

seiner Kunden und ihrer Bedürfnisse in den unterschiedlichsten<br />

Teilen der Welt. Jenen Mitarbeitern, die in der Unternehmenskultur<br />

nicht den Mainstream repräsentieren, bleibt aber<br />

meist der Zugang zu wichtigen Führungspositionen verwehrt.<br />

Sie sind nur in ihrer kulturellen oder ethnischen Nische erfolgreich<br />

und kommen meist über eine bestimmte Karrierestufe<br />

nicht hinaus. Erst aber, wenn ihre Perspektiven tatsächlich<br />

gehört und berücksichtigt werden, und zwar bis in die<br />

18<br />

Focus 01/2012


Führung Keynote<br />

Topranks, kann das Unternehmens aus Vielfalt wirklich lernen<br />

und sich erfolgreich weiterentwickeln. Letzteren Ansatz<br />

verfolgen wir. Eine Vision, die Vielfalt als positiven Faktor<br />

für die Unternehmensperformance bewertet, muss zugleich<br />

die Idee beinhalten, aus Unterschieden zu lernen und sie als<br />

Quelle etwa für Innovationen zu nutzen.<br />

Focus: Hat man in der Wirtschaft das Potenzial des neuen<br />

Paradigmas bereits in vollem Umfang verstanden?<br />

Thomas: Dort überwiegt immer noch das Diskriminierungs-<br />

und Fairnessparadigma. Einige Unternehmen haben<br />

sich, aufgrund der Art und demografischen Merkmale ihrer<br />

Stakeholder, in Richtung Zugang und Legitimierung weiterentwickelt.<br />

Dies trifft beispielsweise auf viele Konsumgüterhersteller<br />

und Investmentbanken zu. Allerdings hört<br />

man auch dort häufig: „Wir wollen nur so viel Diversität<br />

wie nötig. Einen großen kulturellen Wandel streben wir<br />

nicht an.“ Die Handlungsmotivation bilden unmittelbare<br />

Bedürfnisse – nicht Erkenntnisse bezüglich der Zukunft.<br />

Focus: Ist der Umgang mit personeller Vielfalt also ein Lernprozess<br />

mit verschiedenen Entwicklungsphasen, die Unternehmen<br />

und deren Führungskräfte unweigerlich durchlaufen<br />

müssen?<br />

Thomas: Das würde ich nicht unbedingt sagen. Meines Erachtens<br />

kann die Unternehmensleitung ihre Vision von Vielfalt<br />

von Anfang an auf Integration und Lernen gründen. Sie<br />

muss sich darüber klar werden, welche Maßnahmen dafür zu<br />

ergreifen sind. Dazu können unsere Forschungsergebnisse<br />

einen entscheidenden Beitrag leisten.<br />

Focus: Haben Sie im Rahmen Ihrer Forschungsarbeit Messinstrumente<br />

entwickelt, mit denen Sie das Diversitätslevel in<br />

einem Unternehmen bestimmen bzw. feststellen können, wie<br />

gut man auf das Thema vorbereitet ist?<br />

Thomas: Das beste Maß ist eine qualitative diagnostische<br />

Studie in Kombination mit einer Untersuchung, die klärt, wo<br />

Diversität im Unternehmen auftritt. Wie wir zum Beispiel<br />

oft feststellen, hängt die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen<br />

eine Führungsposition einnehmen, stark vom Frauenanteil in<br />

dem betreffenden Unternehmensbereich ab. Je mehr weibliche<br />

Mitarbeiter, desto größer sind die Chancen, dass es auch<br />

eine Frau an die Spitze schafft. Wenn wir ein Unternehmen<br />

unter demografischen Gesichtspunkten betrachten, können<br />

wir daraus ableiten, welchen Verhaltensmustern es jeweils<br />

folgt – allein aufgrund der Tatsache, wo in der Organisation<br />

wir Vielfalt lokalisieren können. Anschließend führen wir<br />

eine qualitative Bewertung darüber durch, wie die Mitglieder<br />

der Unternehmensführung über Vielfalt reden. Dies wiederum<br />

ermöglicht uns ein tieferes Verständnis ihrer verborgenen<br />

Mutmaßungen und Ansichten.<br />

Focus: Woran erkennen Sie, ob ein Unternehmen die Lerneffekte<br />

aus seiner internen Vielfalt wirklich begrüßt und nutzt?<br />

Thomas: In einem lernenden Unternehmen werden Sie Diversität<br />

auch auf Führungsebene vorfinden. Ist im Führungsteam<br />

aktuell kein hohes Maß an Vielfalt gegeben, wird eine<br />

gewisse Unzufriedenheit darüber spürbar sein. Zweites Anzeichen:<br />

In einem lernenden Unternehmen gibt es offene Diskussionen<br />

darüber, wie unterschiedliche Perspektiven zu besseren<br />

Schlussfolgerungen führen können. Die Mitarbeiter<br />

können frei und ungezwungen darüber reden, wie sie zu ihrem<br />

Standpunkt gekommen sind – wobei auch die kulturelle<br />

Perspektive eine Rolle spielen darf. Mein Lieblingsbeispiel in<br />

diesem Zusammenhang ist folgende kleine Geschichte: Bei<br />

einem Lebensmittelproduzenten ging es um die Rezeptur eines<br />

Produktes für den asiatischen Markt. Eine der Produktentwicklerinnen,<br />

eine Lebensmittelchemikerin mit asiatischen<br />

Wurzeln, erinnerte sich an ihre heimatliche Küche, wagte<br />

aber nicht, ihren Lösungsvorschlag so zu begründen, sondern<br />

tarnte ihn als pure Chemie. In einem Unternehmen, das wirklich<br />

aus seiner Vielfalt lernt, hätte sie argumentieren können:<br />

„Aufgrund meines kulturellen Hintergrunds weiß ich, dass<br />

19<br />

Focus 01/2012


Führung Keynote<br />

dass die Besonderheiten der Unternehmenskultur erhalten<br />

bleiben, gleichzeitig aber ein Umfeld geschaffen wird, in<br />

dem sich Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und<br />

Standpunkten einbringen können?<br />

Thomas: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Führungskräfte,<br />

denen ihre Unternehmenskultur am Herzen liegt, werden<br />

die Frage stellen: „Was genau zeichnet unsere Kultur aus,<br />

und welche Aspekte machen uns zu einem herausragenden<br />

Unternehmen?“ Gute Führungskräfte verfügen über zahlreiche<br />

Beispiele, an denen sie festmachen können, wie ihre<br />

Mitarbeiter sich entsprechend den Werten, Handlungsweisen<br />

und Normen verhalten, die diese Kultur ausmachen. Und sie<br />

sind auch in der Lage, Aspekte in der Unternehmenskultur<br />

zu identifizieren, die hinderlich für die Diversitätsziele sein<br />

könnten. Wir alle tragen ja eine Menge kulturellen Ballast<br />

mit uns herum, dessen wir uns entledigen könnten.<br />

wir das Problem auf diese Weise lösen könnten; das ist der<br />

Geschmack, auf den es hier ankommt.“<br />

Focus: Gibt es denn ein verbindendes Element zwischen<br />

allen integrativen und lernenden Unternehmen?<br />

Thomas: Sie erachten die Vielfalt ihrer Mitarbeiter als notwendige,<br />

aber nicht als hinreichende Bedingung. Mit anderen<br />

Worten: Sie belassen es nicht beim demografischen<br />

Köpfe-Zählen, sondern sie fördern aktiv das Lernen aus den<br />

Unterschieden, die ihre Mitarbeiter mit ins Unternehmen<br />

bringen. Die wahrscheinlich wichtigste Gemeinsamkeit ist<br />

allerdings ein CEO, der an die Vorteile von Vielfalt glaubt<br />

und sich dafür engagiert. Heute wünschen sich zwar die<br />

meisten CEOs ein Unternehmen, in dem es gerecht zugeht.<br />

Allerdings sind sie oft nicht davon überzeugt, dass Diversität<br />

einen echten Mehrwert für das Unternehmen liefern kann.<br />

Focus: Herausragende Unternehmen haben normalerweise<br />

eine starke, deutlich formulierte und langjährig gepflegte<br />

Kultur. Doch wie stellt die Unternehmensführung sicher,<br />

Focus: Müssen Führungskräfte über eine besondere Konflikttoleranz<br />

verfügen, wenn Menschen ihre unterschiedlichen<br />

Sichtweisen einbringen dürfen?<br />

Thomas: In der Tat finden wir in Unternehmen, die das Integrations-<br />

und Lernparadigma mit Erfolg implementieren und<br />

anwenden, meist eine höhere Konflikttoleranz vor. Wichtig<br />

ist außerdem eine klare Vorstellung von Mission, Zweck<br />

und Strategie des Unternehmens. Denn wenn Sie Dinge aus<br />

Ihrer Perspektive infrage stellen und ich aus meiner, muss<br />

ein grundlegender Konsens über die Mission und die Strategie<br />

herrschen, die wir verfolgen. Damit kommen wir auch<br />

wieder zu Ihrer Frage bezüglich Unternehmen mit einer starken<br />

Kultur zurück. Wenn die Unternehmensmission gut verinnerlicht<br />

wurde, kann diese Kultur sich weiterentwickeln,<br />

ohne dass das Wesen des Unternehmens Schaden nimmt. Es<br />

muss ein Bewusstsein dafür vorherrschen, was erreicht werden<br />

soll und dass der Weg dorthin in Zukunft anders aussehen<br />

könnte als heute.<br />

Focus: Selbst wenn wir mit den besten Absichten handeln,<br />

ist keiner von uns völlig unvoreingenommen und frei von<br />

Vorurteilen.<br />

„Es muss darum gehen,<br />

eine egalitäre Unternehmenskultur<br />

zu schaffen, in der<br />

jede Form der Dominanz oder<br />

Subordination ausdrücklich<br />

unterbunden wird.“<br />

20<br />

Focus 01/2012


Führung Keynote<br />

Thomas: Was wir brauchen, sind nicht nur proaktive Integrationsbemühungen,<br />

sondern vielmehr eine selbstkritische<br />

Auseinandersetzung mit Vorurteilen, die jeder von uns unbewusst<br />

haben kann – und dafür müssen wir persönlich Verantwortung<br />

tragen. Es geht nicht darum, möglichst vorurteilsfrei<br />

zu werden, sondern meine Anfälligkeit für Vorurteile<br />

zu akzeptieren. Und das Unternehmen muss ein Umfeld<br />

schaffen, in dem mir das möglich ist. Legt man jedoch einen<br />

Mantel des Schweigens über geschlechts- oder rassenspezifische<br />

Vorurteile oder tut so, als würden sie nicht existieren,<br />

kann dies zu äußerst unproduktiven Situationen führen. Beispielsweise<br />

kann es vorkommen, dass sich ein Manager<br />

scheut, konstruktive Kritik an einem Mitarbeiter zu üben,<br />

der einer Minderheit angehört, weil er nicht intolerant erscheinen<br />

will oder gar rechtliche Konsequenzen fürchtet.<br />

Damit wird er jedoch seiner Rolle als Mentor nicht gerecht<br />

und beeinträchtigt damit ungewollt die Weiterentwicklung<br />

des Mitarbeiters. Hier ist es von grundlegender Bedeutung,<br />

nicht Vermeidung, sondern Förderung in den Vordergrund<br />

zu stellen: Das Ziel muss die Stärkung von Beziehungen sein<br />

und nicht die Vermeidung von Konflikten.<br />

Focus: Im Rahmen Ihrer Forschungen erwähnen Sie auch,<br />

wie wichtig es ist, Diversität frühzeitig in Managementpraktiken<br />

einzubinden…<br />

Thomas: Viele Unternehmen machen sich über Vielfalt so<br />

lange keine Gedanken, bis sie damit in ihrer Praxis konfrontiert<br />

werden. Die Herausforderung besteht jedoch darin,<br />

schon vorab die richtigen Bedingungen zu schaffen. Nimmt<br />

im Anschluss die personelle Vielfalt im Unternehmen zu,<br />

fühlen sich die Menschen willkommen, besser integriert und<br />

in der Lage, ihren Beitrag zu leisten. Diese Maßnahmen müssen<br />

Teil der Unternehmensprozesse und -strukturen sein.<br />

Zahlreiche Forschungsergebnisse weisen zum Beispiel nach,<br />

dass in weniger arbeitsteiligen, stärker teamorientierten Arbeitsprozessen<br />

Frauen und Minderheiten besser zum Zuge<br />

kommen und damit auch ihre Chancen auf verantwortungsvolle<br />

Positionen deutlich steigen. Auch die strategische Entwicklung<br />

beispielsweise muss anders organisiert werden.<br />

Sind dafür in einem Unternehmen immer dieselben 40 Führungskräfte<br />

zuständig, wird es in der Diskussion wenig Vielfalt<br />

geben. Dürfen sich hingegen mehr Leute einbringen,<br />

können alle Beteiligten aus Unterschieden und über Unterschiede<br />

hinweg lernen. Außerdem muss es darum gehen, eine<br />

recht egalitäre Unternehmenskultur zu schaffen, in der jede<br />

Form der Dominanz oder Subordination ausdrücklich unterbunden<br />

wird. Dazu gehört beispielsweise auch die noch in<br />

vielen Firmen anzutreffende Haltung, dass bestimmte funktionale<br />

Bereiche sich für wichtiger und besser halten als andere.<br />

Und ganz wichtig – das Vertrauen in der Organisation<br />

muss erhalten bleiben. Es ist normal, dass es im Umgang mit<br />

Zur Person David A. Thomas<br />

David A. Thomas ist international einer der profiliertesten<br />

Vordenker im Bereich des strategischen Human<br />

Resources Management und hat dabei Diversity Management<br />

zu einem der Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen<br />

Arbeit gemacht. Seine Forschungsergebnisse<br />

hat er in Büchern, zahlreichen Fallstudien und<br />

Artikeln in führenden Fachmagazinen veröffentlicht. Er<br />

ist Bachelor of Arts, Master of Philosophy und Doctor<br />

of Philosophy (Yale University). Professor Thomas<br />

hält zudem den Titel eines Master of Arts in Organizational<br />

Psychology von der Columbia University. Bis 1989 war<br />

er Fakultätsmitglied der Wharton School of Finance<br />

und wechselte danach zur Harvard Business School. Seit<br />

1. August 2011 ist David A. Thomas Dekan der Business<br />

School der Georgetown University in Washington.<br />

Diversity auch zu temporären Spannungen kommt, und gerade<br />

in diesen Situationen kommt es darauf, dass die Unternehmensführung<br />

konsistent bleibt, solche Spannungen wahrnimmt<br />

und sowohl einfühlsam als auch schnell löst.<br />

Focus: Toleranz zählte lange Zeit zu den Grundwerten der<br />

amerikanischen Gesellschaft. Mittlerweile scheint es jedoch<br />

hinsichtlich der Toleranz und Akzeptanz anderer Sichtweisen<br />

zu einer gewissen Aufweichung gekommen zu sein, insbesondere<br />

in der Politik. Befürchten Sie, dass dieser Wandel<br />

in der politischen Kultur in anderen Institutionen, in der Gesellschaft<br />

und auch in Unternehmen Auswirkungen auf das<br />

Thema Diversität und Inklusion haben könnte?<br />

Thomas: Meines Erachtens sollten heute Unternehmen beim<br />

Thema „Umgang mit Unterschieden“ den Ton im öffentlichen<br />

Dialog angeben. Menschen kommen ja vor allem in<br />

Unternehmen oder Arbeitsorganisationen mit Diversität in<br />

Berührung – nicht in Kirchen, im öffentlichen Bereich, in<br />

Schulen oder auf politischer Ebene spielt sie eine maßgebliche<br />

Rolle, sondern am Arbeitsplatz. Hinzu kommt, dass Unternehmen<br />

etwas produzieren müssen, wenn sie fortbestehen<br />

wollen. Das stellt wiederum einen wichtigen Anreiz dar, sich<br />

über Unterschiede hinweg zu verständigen und diese zum<br />

eigenen Vorteil zu nutzen. Vielfalt ist also eine volkswirtschaftliche<br />

Notwendigkeit.<br />

Das Interview mit David A. Thomas auf dem Campus<br />

der Georgetown University in Washington führten<br />

Justus O’Brien, <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>, New York,<br />

und Ulrike Mertens, FOCUS.<br />

21<br />

Focus 01/2012


Panel<br />

Wie fördern Sie<br />

in Ihrem Bereich<br />

eine Vielfalt der<br />

Ansichten?<br />

Unternehmens- und<br />

Meinungsführer<br />

über den Nutzen<br />

von Diversität<br />

Wendy<br />

Luhabe<br />

Sozialunternehmerin<br />

„Mich überrascht es,<br />

wie oft wir uns für<br />

homogene Denkansätze<br />

entscheiden.“<br />

Jeder von uns ist ein einzigartiges<br />

Wesen und hat eine eigene Sicht der<br />

Welt. Deshalb überrascht es mich,<br />

wie oft wir uns für homogene Denkansätze<br />

entscheiden. Und da wir nicht<br />

wissen, wie man von der Einzigartigkeit<br />

der Menschen profitieren kann,<br />

regiert in den meisten Unternehmen<br />

die Mittelmäßigkeit. Wie fördern wir<br />

also Unterschiede?<br />

Wir müssen die Fähigkeit entwickeln,<br />

uns die Unterschiedlichkeit der<br />

Menschen zunutze zu machen und<br />

alle Beteiligten in Entscheidungen einzubinden.<br />

Eins ist offensichtlich: Niemand<br />

weiß alles. Erst durch die Bündelung<br />

unseres Wissens können wir<br />

unsere kollektive Schöpfungskraft nutzen<br />

– dann passieren wahre Wunder.<br />

Wie fördern wir unterschiedliche Sichtweisen?<br />

Zunächst müssen wir unsere<br />

persönlichen Einschätzungen anderer<br />

Menschen überprüfen und die Aufgaben<br />

analysieren, vor denen wir stehen.<br />

Zweitens sollten wir der Erfahrung<br />

nicht zu viel Bedeutung beimessen.<br />

Und drittens dürfen wir uns nicht mit<br />

der Antwort „So haben wir es schon<br />

immer gemacht“ zufriedengeben.<br />

Aygül<br />

Özkan<br />

Niedersächsische<br />

Ministerin<br />

„Vielfalt bedeutet weit<br />

mehr als die Abwesenheit<br />

von Diskriminierung.“<br />

Wenn in Verwaltungen über Vielfalt<br />

diskutiert wird, geht es um mehr als<br />

ethnische Vielfalt. Das Allgemeine<br />

Gleichbehandlungsgesetz nennt sechs<br />

Merkmale, die berücksichtigt werden<br />

müssen: Alter, Behinderung, ethnische<br />

Herkunft, Geschlecht, Religion bzw.<br />

Weltanschauung und sexuelle Identität.<br />

Vielfalt bedeutet dabei weit mehr<br />

als die Abwesenheit von Diskriminierung,<br />

angestrebt wird eine Arbeitskultur,<br />

die Vielfalt als Chance begreift.<br />

In diesem Sinne fördert mein<br />

Ministerium die Vereinbarkeit von<br />

Beruf und Familie etwa durch flexible<br />

Arbeitszeiten, davon profitieren<br />

besonders Frauen. Weiterhin unterstützen<br />

wir die Bildung gemischter<br />

Teams. Zudem setze ich mich dafür<br />

ein, dass mehr Menschen mit Migrationshintergrund<br />

in Behörden arbeiten.<br />

Ich bin jedoch kein Fan starrer<br />

Regelungen, sondern setze auf<br />

Freiwilligkeit. Mir liegt daran, dass<br />

das Bekenntnis zu Vielfalt kein<br />

Lippenbekenntnis bleibt. Ich verstehe<br />

Diversity als einen Prozess, an dem<br />

das eigene Handeln immer wieder<br />

gemessen werden muss.<br />

Wendy Luhabe hat in Südafrika<br />

zahlreiche Sozialunternehmen ins<br />

Leben gerufen, u. a. für die Förderung<br />

von Frauen im Wirtschaftsleben.<br />

Neben ihrer Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzende<br />

und Board Member<br />

zahlreicher Unternehmen ist sie als<br />

Rednerin und Autorin aktiv.<br />

Aygül Özkan wurde 1971 in Hamburg<br />

geboren, nachdem ihre Familie<br />

in den 1960ern aus Ankara nach<br />

Deutschland kam. Die Rechtsanwältin<br />

ist seit 2004 Mitglied der CDU<br />

und seit 2010 Ministerin für Soziales,<br />

Frauen, Familie, Gesundheit und<br />

Integration in Niedersachsen.<br />

22<br />

Focus 01/2012


Führung Panel<br />

Regine<br />

Stachelhaus<br />

Vorstandsmitglied<br />

der<br />

E.ON AG<br />

Professor<br />

Klaus Staeck<br />

Präsident der<br />

Akademie der<br />

Künste<br />

Prof. Dennis J.<br />

Snower, Ph.D.<br />

Präsident des<br />

Instituts für<br />

Weltwirtschaft,<br />

Kiel<br />

„Vielfalt treibt Kreativität<br />

und Innovationen.<br />

Und ist damit strategische<br />

Notwendigkeit.“<br />

„Unterschiedliche Meinungen<br />

sind die Grundsubstanz<br />

intellektueller und<br />

künstlerischer Existenz.“<br />

„Unser Prinzip ist, offen<br />

für Neues zu sein und<br />

einen vertrauensvollen<br />

Diskurs zu pflegen.“<br />

Diversity ist für uns ein absoluter<br />

Erfolgsfaktor. Sie hilft, Kunden und<br />

Stakeholder besser zu verstehen und<br />

die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.<br />

Wir fördern deshalb eine vielfältige<br />

Mischung von Geschlechtern, Altersgruppen,<br />

Nationalitäten und kulturellen<br />

Hintergründen.<br />

Der Förderung von Frauen kommt<br />

dabei eine besondere Bedeutung zu.<br />

Hierzulande wollen wir den Frauenanteil<br />

von ursprünglich knapp neun<br />

Prozent auf 14 Prozent bis 2016 erhöhen.<br />

Global wollen wir ihren Anteil<br />

in Führungspositionen mehr als verdoppeln.<br />

Um dies zu erreichen, haben<br />

wir konkrete Zielvorgaben für unsere<br />

Konzerneinheiten formuliert. Neben<br />

Maßnahmen wie Mentoring-Programmen,<br />

Bereitstellung von Kitaplätzen,<br />

flexiblen Arbeitszeiten und Homeoffices<br />

wurde auch die Placement-<br />

Policy angepasst. Künftig sollen jeweils<br />

mindestens ein Mann und eine<br />

Frau als potenzielle Nachfolger für<br />

eine frei werdende Stelle benannt<br />

werden. Denn Vielfalt treibt Kreativität<br />

und Innovationen. Und ist damit<br />

strategische Notwendigkeit.<br />

In einer Akademie der Künste mit<br />

rund 400 Mitgliedern aus aller<br />

Welt und allen Sparten muss man<br />

die Vielfalt der Ansichten nicht<br />

fördern. Man muss ihnen nur genügend<br />

Raum geben.<br />

Unterschiedliche Meinungen sind<br />

die Grundsubstanz intellektueller<br />

und künstlerischer Existenz. Jeder,<br />

der die Welt und ihre Widersprüche<br />

künstlerisch verarbeitet, gerät zwangsläufig<br />

in die Situation, seine Sicht<br />

auf die Dinge verteidigen zu müssen.<br />

Daraus können ästhetische und<br />

manchmal auch politische Konflikte<br />

entstehen. Eine Akademie sollte<br />

solche Konflikte und Auseinandersetzungen<br />

aushalten und im Rahmen<br />

demokratischer Spielregeln kultivieren.<br />

Nicht zuletzt, um dem geistigen<br />

Stillstand entgegenzuarbeiten.<br />

Wir haben es an unserem Institut<br />

mit vielen unterschiedlichen Wissenschaftlern<br />

zu tun, die eine Vielfalt<br />

von Ansätzen und Methoden, von<br />

Themenschwerpunkten und Kompetenzen<br />

einbringen. Deshalb haben<br />

wir es uns zum Prinzip gemacht,<br />

offen für Neues zu sein und einen<br />

vertrauensvollen Diskurs zu pflegen.<br />

Gerade die Vielfalt der wissenschaftlichen<br />

Ansätze ist eine Quelle<br />

der Inspiration und der Kreativität.<br />

Wir verfolgen dabei das Ziel, das<br />

Beste aus der Interaktion unseres<br />

Instituts hier vor Ort mit einem weltumspannenden<br />

Netzwerk zu gewinnen.<br />

Dabei versuchen wir zum einen,<br />

den Anteil ausländischer Forscher am<br />

Standort Kiel zu erhöhen. Zum anderen<br />

vernetzen wir uns mit Wissenschaftlern<br />

in aller Welt, um auch dann<br />

Antworten auf die drängenden Fragen<br />

der Gegenwart zu finden, wenn wir<br />

sie allein nicht beantworten können.<br />

E.ON ist eines der größten privaten<br />

Strom- und Gasunternehmen<br />

weltweit. An seinen Standorten in<br />

Europa, Russland und Nordamerika<br />

erwirtschaftet der Düsseldorfer<br />

Konzern mit rund 79.000 Mitarbeitern<br />

einen Umsatz von knapp<br />

113 Milliarden Euro.<br />

Die Akademie der Künste ist eine<br />

internationale Gemeinschaft führender<br />

Vertreter aus allen Bereichen der<br />

Kunst. Aufgabe der Berliner Akademie<br />

ist die Vermittlung neuer künstlerischer<br />

Tendenzen und die Pflege<br />

des kulturellen Erbes. Ihr Träger ist<br />

die Bundesrepublik Deutschland.<br />

Das Institut für Weltwirtschaft in<br />

Kiel ist auf die Erforschung weltwirtschaftlicher<br />

Probleme und<br />

entsprechender Lösungsansätze<br />

spezialisiert. Es gilt als eines<br />

der renommiertesten Zentren auf<br />

seinem Gebiet.<br />

23<br />

Focus 01/2012


Executive Survey<br />

Einen Schritt voraus<br />

Die Ergebnisse des <strong>International</strong> Executive Panel<br />

zum Thema Diversity and Inclusion zeigen eine<br />

Kluft zwischen Überzeugungen und gelebter Realität.<br />

Führungskräfte weltweit erleben Vielfalt als Bereicherung, doch die Realität<br />

in ihren Unternehmen bleibt hinter dem positiven Anspruch der Top-Executives<br />

häufig zurück. Das zeigt die Auswertung des 11. <strong>International</strong> Executive<br />

Panel von <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>, das im Sommer unter 511 Führungskräften<br />

weltweit durchgeführt wurde.<br />

Die vollständigen Studienergebnisse finden Sie unter www.egonzehnder.de/iep-diversity.<br />

Empfinden Sie ein von Vielfalt und Teilhabe<br />

geprägtes Arbeitsumfeld als bereichernd?<br />

96<br />

Ja<br />

4<br />

Nein<br />

Mehr als ein Lippenbekenntnis<br />

Die überwältigende Mehrheit der befragten Top-<br />

Executives weltweit bewerten Diversität als<br />

persönlich bereichernd und erkennen darin einen<br />

echten wirtschaftlichen Mehrwert. Sie verbinden<br />

mit ihr die Erweiterung des eigenen Horizonts,<br />

kontinuierliches Lernen, eine lebendigere Diskussionskultur<br />

und bessere Entscheidungsgrundlagen.<br />

Aus eigener Erfahrung: Was sind die<br />

Vorzüge von Diversität?<br />

Erweiterung des eigenen Horizonts<br />

91 7<br />

Lebendigere Diskussionskultur<br />

81<br />

17<br />

Respektvollerer Umgang in der Organisation<br />

73<br />

22<br />

5<br />

Kontinuierliches Lernen<br />

71<br />

23<br />

6<br />

Bessere Entscheidungsgrundlagen<br />

69<br />

27<br />

4<br />

Vermeidung von Gruppendenken<br />

62<br />

30<br />

8<br />

Stimme zu Neutral Stimme nicht zu<br />

24<br />

Focus 01/2012


Führung Executive Survey<br />

Routiniert, aber realistisch<br />

Den hohen Erwartungen stehen zum Teil durchaus<br />

realistische Einschätzungen hinsichtlich des Aufwands<br />

und möglicher Nachteile gegenüber. Die meisten Top-<br />

Executives erleben die Zusammenarbeit mit Kollegen,<br />

die andere Perspektiven, Arbeitsweisen oder<br />

Lösungen einbringen, als einfach. Doch immerhin<br />

ein Fünftel empfindet den Umgang mit Vielfalt<br />

als Herausforderung.<br />

23 %<br />

Diskriminierung führen kann<br />

glauben, dass Diversity zu positiver<br />

22 %<br />

15 %<br />

verbinden mit ihr eine Verlangsamung<br />

von Entscheidungsprozessen<br />

sehen einen steigenden operativen<br />

Aufwand mit ihr verbunden<br />

17<br />

Herausfordernd<br />

35<br />

Neutral<br />

48<br />

Einfach<br />

80<br />

Fokus der Unternehmen auf Gender<br />

Bei 80 Prozent der befragten Führungskräfte wird personelle<br />

Vielfalt im Unternehmen aktiv gefördert. Dabei konzentrieren<br />

die meisten Unternehmen ihre Maßnahmen auf die Förderung<br />

von Frauen. Beweggründe sind für sie dabei der Zugang zu<br />

Toptalenten sowie der Wunsch nach fairer Behandlung und<br />

Gleichstellung aller Mitarbeiter – würdige, wenn auch eher<br />

konservative Motive.<br />

80 % 20 %<br />

Mein Unternehmen verfolgt<br />

eine aktive<br />

Diversity-Strategie.<br />

Diversity wird in<br />

meinem Unternehmen<br />

nicht aktiv gefördert.<br />

Geschlecht<br />

Vielfalt der Perspektiven<br />

Nationalität<br />

Professioneller<br />

Background<br />

Bildungshintergrund<br />

Ethnische Zugehörigkeit<br />

Alter<br />

Behinderung<br />

Sexuelle Orientierung<br />

Wie bewerten Sie die Fortschritte Ihres Unternehmens<br />

bezüglich folgender Aspekte von Diversity and Inclusion?<br />

53<br />

49<br />

48<br />

40<br />

37<br />

31<br />

29<br />

12<br />

12<br />

32<br />

18<br />

37 32<br />

36 35<br />

70<br />

34 26<br />

31 32<br />

56<br />

40 7<br />

31 20<br />

29 23<br />

Status quo der unternehmerischen<br />

Wirklichkeit<br />

Die Studie zeigt, dass Führungskräfte weltweit<br />

ein breites und anspruchsvolles Verständnis<br />

von Diversity and Inclusion haben.<br />

Betrachten sie den Status quo in ihrem<br />

eigenen Unternehmen, so sehen sie noch<br />

einen weiten Weg, bis diese Forderungen erfüllt<br />

sind. Trotz der starken Fokussierung<br />

auf Frauen sehen nur 53 Prozent der Befragten<br />

bei der Umsetzung echte Fortschritte.<br />

Noch geringer ist die Zahl der Top-Executives,<br />

die in ihrem Unternehmen Erfolge im<br />

Sinne von größerer Vielfalt der Perspektiven,<br />

mehr <strong>International</strong>ität oder verschiedenen<br />

Industrie- und Bildungserfahrungen sehen.<br />

Gute Fortschritte Einige Fortschritte Wird nicht aktiv gefördert<br />

25<br />

Focus 01/2012


Parallelen<br />

Interview<br />

„Dies ist ein Projekt, über das<br />

sich Einstein gefreut hätte.“<br />

Susan Neiman, die Direktorin des Einstein Forums<br />

in Potsdam, über interdisziplinäre Begegnungen,<br />

die Notwendigkeit, über den Tellerrand zu schauen,<br />

und die Rolle der Aufklärung heute.<br />

Fotos: Urban Zintel<br />

26<br />

Focus 01/2012


Parallelen Interview<br />

Das Einstein Forum<br />

Ein Laboratorium des Geistes. Eine interdisziplinäre<br />

Diskussionsplattform. Ein Experimentierfeld für unkonventionelle<br />

Entwürfe: Es mangelt nicht an Versuchen,<br />

das Einzigartige des Einstein Forums in Potsdam zu<br />

erfassen und auf den Begriff zu bringen. Unbestritten<br />

ist, dass das Forum 1993 vom Bundesland Brandenburg<br />

als ein Ort des internationalen wissenschaftlichen<br />

Austausches gegründet wurde. Es ist als Stiftung konzipiert<br />

und hat die Aufgabe, intellektuelle Entwicklungen<br />

zu diskutieren und die unterschiedlichen Disziplinen<br />

miteinander und mit der Öffentlichkeit in einen Dialog<br />

treten zu lassen. Mit der Ausrichtung von Vorträgen,<br />

Workshops und Tagungen will es zum einen dem Publikum<br />

einen Einblick in die Arbeit hervorragender zeitgenössischer<br />

Denker ermöglichen und zum anderen<br />

diese Denker selbst ermuntern, die Grenzen zu überschreiten,<br />

die der akademische Betrieb ihnen setzt. Neben<br />

den freien Vorträgen internationaler Referenten prägen<br />

Vortrags- und Tagungsreihen das Programm des Einstein<br />

Forums. Obgleich das Institut seine Arbeit nicht<br />

auf spezielle Forschungsthemen beschränkt, sondern<br />

sich inhaltlich ebenso wie in seiner Präsentation der<br />

Vielfalt und Offenheit verschrieben hat, lassen sich doch<br />

vier wichtige Themenfelder ausmachen, die aus verschiedenen<br />

Perspektiven – stets auch mit Bezug auf<br />

soziale Fragestellungen – wiederholt behandelt werden:<br />

Ethik und Gesellschaft, Geschichte als Gegenwart,<br />

Kunst und Wissen, Verständnis der Natur.<br />

Das Programm trägt die Handschrift von Susan Neiman,<br />

die das Haus am Neuen Markt in Potsdam seit zwölf<br />

Jahren leitet. Die Moralphilosophin wurde 1955 in Atlanta<br />

geboren, wuchs in einem liberalen jüdischen Elternhaus<br />

auf, studierte in Harvard bei John Rawls und Stanley<br />

Cavell und ging 1982 mit einem Fulbright-Stipendium<br />

an die FU Berlin. Dort befasste sie sich mit der Philosophie<br />

der deutschen Aufklärung. 1986 wurde sie an<br />

Harvard mit einer Arbeit über „Die Einheit der Vernunft<br />

bei Kant“ promoviert. Bevor sie 2000 nach Potsdam<br />

kam, lehrte sie einige Jahre in Yale und Tel Aviv. Ihre<br />

vielfältigen Interessen und Kontakte haben das Erscheinungsbild<br />

des Forums geprägt und es zu einer international<br />

beachteten Leitinstitution gemacht, deren Programm<br />

in Kalifornien genauso wahrgenommen wird<br />

wie in Jerusalem.<br />

Im Bemühen, die Vielfalt des Forums auf einen handlichen<br />

Begriff zu bringen, kann man sich ohne Zögern<br />

der Standortinitiative „Deutschland – Land der Ideen“<br />

der Bundesrepublik und der deutschen Wirtschaft anschließen:<br />

Sie zeichnete das Einstein Forum schon<br />

vor einigen Jahren als einen „Ort der Ideen“ aus, der<br />

einen nachhaltigen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit<br />

Deutschland leistet.<br />

28<br />

Focus 01/2012


Parallelen Interview<br />

E pluribus unum: Gemäß dem Motto ihrer Heimat<br />

führt die amerikanische Philosophin Susan Neiman in<br />

Brandenburg die verschiedensten Personen und Ideen<br />

zusammen. Als Gastgeberin und Veranstalterin bringt<br />

sie in ihrem Institut ohne Rücksicht auf herkömmliche<br />

Grenzziehungen Künstler und Forscher, Natur- und<br />

Geisteswissenschaftler an einen Tisch, bittet das interessierte<br />

Publikum dazu und lädt zum Dialog ein. Eine<br />

Begegnung in Einsteins Sommerhaus in Caputh, wo<br />

der Wissenschaftler bereits Anfang der dreißiger Jahre<br />

herausragende Schriftsteller, Philosophen, Politiker<br />

und Künstler seiner Zeit traf.<br />

Focus: Über Caputh hat Einstein einmal zu seinem Sohn<br />

gesagt, an diesem „Ort des Rückzugs und der Inspiration“<br />

könne er „auf die Welt pfeifen“. Welche Inspiration gibt Ihnen<br />

dieser Ort?<br />

Susan Neiman: Caputh war für Einstein nicht nur ein Rückzugsort.<br />

Aber Einstein war ein Mensch, der sich in der Welt<br />

der Formalitäten, der Akademie der Wissenschaften nicht<br />

besonders wohlfühlte. Caputh war für ihn ein Ort, an den er<br />

Leute einladen konnte, um mit ihnen über Gott und die Welt<br />

zu diskutieren. Er war ein sehr geselliger Mensch, allerdings<br />

ein informeller. Einmal sagte seine Frau zu ihm: „Zieh dich<br />

bitte anständig an, es kommt eine Delegation von Ministern.“<br />

Er antwortete: „Wenn sie mich sehen möchten, bin ich<br />

hier. Wenn sie meine Kleider sehen möchten, kannst du den<br />

Schrank aufmachen.“<br />

Einsteins Art, anspruchsvolle, intensive Gespräche zu führen<br />

in einer Atmosphäre, die informeller ist als hierzulande<br />

üblich, das ist es, was uns inspiriert – zum Beispiel, wenn<br />

wir über die Vergabe unseres Einstein-Stipendiums entscheiden.<br />

Jedes Jahr kann ein junger Mensch hier sechs Monate<br />

lang leben, sofern er etwas macht, was er vorher in der<br />

akademischen Tretmühle nicht gemacht hat. Das Stipendium<br />

soll ihm helfen, noch vor seinem 35. Lebensjahr Anerkennung<br />

für interdisziplinäre Arbeit außerhalb des traditionellen<br />

Rahmens zu bekommen. Wir glauben, dass dies ein<br />

Projekt ist, über das Einstein sich gefreut hätte.<br />

Focus: Umso erstaunlicher, dass Sie Einstein anfangs eher<br />

kritisch gegenüberstanden.<br />

Neiman: Ich wusste einfach zu wenig über ihn. Ich habe<br />

Philosophie studiert und doziert, bin also keine Physikerin.<br />

Mein Einstein-Bild war diese gängige Karikatur: ein brillanter<br />

Physiker von Weltbedeutung, aber als Mensch eher<br />

weltfremd. Doch nachdem ich zum Einstein Forum gekommen<br />

war, habe ich viel über ihn gelesen und mit Erstaunen<br />

festgestellt, dass er in allen politischen Auseinandersetzungen<br />

des 20. Jahrhunderts bis zu seinem Lebensende 1955<br />

immer richtig lag! Einstein hat nicht nur die richtigen Dinge<br />

gesagt, sondern er hat auch korrekt gehandelt. Das Bild des<br />

weltfremden Naturwissenschaftlers, das weitverbreitet ist,<br />

stimmt also gar nicht.<br />

Focus: Wie würden Sie die Verbindung zwischen Einstein<br />

und der Arbeit des Forums beschreiben?<br />

Neiman: Die Entstehung des Einstein Forums hatte mit<br />

zwei politischen Faktoren zu tun. Es wurde 1993 ins Leben<br />

gerufen – zu einer Zeit, als man zum einen befürchtete, dass<br />

die Wiedervereinigung einen wachsenden Nationalismus<br />

mit sich bringen könnte. Da erinnerte man sich daran, dass<br />

Einstein für <strong>International</strong>ismus steht, im Sinne eines aktiven<br />

und selbstverständlichen internationalistischen Handelns.<br />

Zum anderen fürchtete man, dass die Kultur der neuen Bundesrepublik<br />

von Westdeutschland bestimmt werden würde.<br />

Um dem entgegenzusteuern, gründete man dieses Institut in<br />

Potsdam – also in einem neuen Bundesland, aber dennoch<br />

in Sendeweite der Hauptstadt. Das Erste hat sehr direkt mit<br />

Einstein zu tun, das Zweite vielleicht ein bisschen weniger.<br />

Der Bezug zu Einstein ist: Er hatte einfach die besten Köpfe<br />

seiner Zeit um sich und hat Vertreter der Natur- und Geisteswissenschaften<br />

ebenso wie der Kunst und Politik zu sich<br />

eingeladen und zusammengebracht.<br />

Focus: Eine Begegnung mit Einstein im Geiste der Interdisziplinarität?<br />

Neiman: Ich empfinde den Begriff „interdisziplinär“ immer<br />

öfter fast als überflüssig. Jeder normale Mensch hat Interessen,<br />

die nicht nur ein einziges Gebiet betreffen, das sieht man<br />

schon an Kindern. Wenn ich mit Fachkollegen zusammensitze,<br />

bedienen wir uns der Sprache, die wir alle gelernt haben,<br />

um zu promovieren oder Professuren zu bekommen. Das ist<br />

aber oft eine Art von Diskussion, bei der ich nicht viel Neues<br />

lerne. Bei bestimmten Themen ist es sinnvoller, Menschen<br />

aus verschiedenen Bereichen zusammenzubringen – und<br />

zwar nicht nur aus der Wissenschaft, sondern auch aus der<br />

Literatur, aus der politischen Praxis, aus der Werbung.<br />

„Jeder normale Mensch hat<br />

Interessen, die nicht nur ein<br />

einziges Gebiet betreffen.“<br />

Focus: Der akademische Betrieb belohnt aber eher eine Art<br />

von Leistung, die in Richtung Spezialisierung geht.<br />

Neiman: Das ist auch nicht immer falsch. Um auf bestimmten<br />

Feldern Fortschritte zu machen, muss man sich extrem<br />

konzentrieren. Soweit ich sehe, gilt das besonders für die<br />

Naturwissenschaften. Doch in den Geistes- und Sozialwis-<br />

29<br />

Focus 01/2012


Parallelen Interview<br />

senschaften halte ich das für weniger wichtig. Bei den meisten<br />

Themen sehe ich keinen Grund, weshalb man nur mit<br />

Soziologen oder nur mit Historikern diskutieren sollte. Ich<br />

finde, das engt den Blick unnötig ein. Der Sachverhalt bleibt<br />

nicht nur für Außenstehende undurchdringlich, sondern<br />

auch der Blick des Forschers wird dadurch eingeengt. Und<br />

ich bin nicht die Einzige, die das so sieht: Unsere Gäste loben<br />

uns gerade dafür, dass sie bei uns mit anderen Perspektiven<br />

konfrontiert werden – auch die Naturwissenschaftler.<br />

Focus: Auf Interdisziplinarität allein kann man noch keine<br />

Alleinstellung aufbauen ...<br />

Neiman: Sie wollen einen roten Faden? Den werden Sie<br />

von mir nicht bekommen!<br />

Focus: Aber wie findet das Forum dann zu seinen Themen?<br />

Neiman: Die Themen kommen aus verschiedenen Richtungen.<br />

Ich habe einen kleinen, sehr guten Mitarbeiterstab, mit<br />

dem ich mich einmal die Woche zusammensetze, um neue<br />

Ideen zu diskutieren. Und auch aus dem Beirat kommen<br />

Vorschläge; unser aktuelles Jahresthema zum Beispiel hat<br />

dort seine Wurzeln. Eines der Mitglieder, ein Autor aus Polen,<br />

schlug vor, wir sollten etwas über das Buch Hiob machen.<br />

Als wir diesen Vorschlag dem gesamten Beirat vorlegten,<br />

stießen wir nur auf Zustimmung – selbst bei radikalen<br />

Atheisten. Und dann wird natürlich gesprochen und<br />

entwickelt. Normalerweise widmen wir uns aber nicht einem<br />

Text, sondern einer Fragestellung. Insofern ist das Thema<br />

Hiob etwas ungewöhnlich.<br />

Kant promoviert – ist diese Einheit möglicherweise ein roter<br />

Faden Ihrer Arbeit?<br />

Neiman: Das wäre ein sehr dünner Faden. Wenn die Qualität<br />

unserer Arbeit stimmt, ist es mir egal, ob jemand einen roten<br />

Faden darin sieht oder nicht. Wir betrachten unser Programm<br />

ein bisschen als Gesamtkunstwerk. Das funktioniert zum<br />

Beispiel so: Der Schriftsteller Ingo Schulze schickt mir einen<br />

Text – nichts Literarisches, sondern einen Essay über ökonomische<br />

Politik –, ich lese ihn, bin begeistert, und wir treffen<br />

uns. Ich schlage vor, den Text im Forum vorzutragen und einen<br />

kleinen Workshop dazu zu machen. Wir reden dann darüber,<br />

wer noch dazukommen und für die Fragen interessant<br />

sein könnte. Danach machen auch die wissenschaftlichen<br />

Mitarbeiter des Einstein Forums Vorschläge. Und irgendwann<br />

sitzen wir mit einem Programm da und sehen uns die<br />

Mischung an: Haben wir genug Politik oder eher zu viel?<br />

Fehlt uns noch etwas aus dem Kunstbereich? Wir versuchen,<br />

auf <strong>International</strong>ität zu achten und auch zu schauen, dass genug<br />

Frauen da sind – das ist ja in Deutschland immer noch ein<br />

Focus: Wo kommen die Beiratsmitglieder her?<br />

Neiman: Sie kommen zum Beispiel aus Israel, Südafrika,<br />

Polen, England und den USA, weniger aus Deutschland.<br />

Wir haben ein deutschsprachiges Kuratorium, aber der Beirat<br />

soll eher international sein. In ihm sind unter anderem<br />

Schriftsteller, Soziologen, Historiker und Physiker vertreten.<br />

Wenn ich Leute für den Beirat aussuche, lege ich großen<br />

Wert auf diese thematische Breite. Ich suche Menschen,<br />

die auf mehr als nur einem Gebiet gearbeitet haben – also<br />

zum Beispiel eine Physikerin, die eine Oper geschrieben<br />

hat, und beides – Physik und Musik – großartig beherrscht.<br />

Und es müssen natürlich Leute sein, die gerne gemeinsam<br />

in einer Gruppe arbeiten möchten. Mit der Zeit entwickelt<br />

man den richtigen Blick dafür.<br />

Focus: Ihr Programm hat eine enorme Bandbreite ...<br />

Neiman: „Unverschämt breit“, nannte ein Gast das neulich.<br />

Das hat mich gefreut.<br />

Focus: ... und man fragt sich: Was bewahrt Sie davor, beliebig<br />

zu werden? Sie haben über die Einheit der Vernunft bei<br />

30<br />

Focus 01/2012


Parallelen Interview<br />

„Wenn ich Leute für den<br />

Beirat aussuche, lege<br />

ich großen Wert auf thematische<br />

Breite.“<br />

Thema. Dabei habe ich ein eher ambivalentes Verhältnis zur<br />

Quotenfrage. In den USA ist das Verhältnis der Geschlechter<br />

zwar noch immer nicht völlig egalitär, aber wir sind doch<br />

schon viel weiter als in Deutschland, wo man in den Zeitungen<br />

Diskussionen liest, die bei uns vor 25 Jahren geführt wurden:<br />

„Beruf und Familie – wie macht man das als Frau?“ Man<br />

macht es einfach, mit anderen Einstellungen.<br />

Aber wie auch immer: Wenn wir schließlich ein gutes Gefühl<br />

haben, ist das Programm fertig.<br />

Focus: Sie setzen großes Vertrauen in die Intelligenz einer<br />

kleinen Gruppe. Andererseits versteht sich das Einstein Forum<br />

ja gerade nicht als Eliteinstitution. Wie verträgt sich<br />

das miteinander?<br />

Neiman: Der Name Einstein hat eine enorme Anziehungskraft<br />

und fördert die Bereitschaft der verschiedensten Leute,<br />

in ein Flugzeug zu steigen und bei uns zu diskutieren, obwohl<br />

wir nur sehr bescheidene Honorare zahlen können. Andererseits<br />

schreckt er auch Menschen ab, die meinen, sie<br />

müssten die nächste Relativitätstheorie entwickelt haben,<br />

bevor sie zu uns kommen dürfen. Das müssen sie nicht. Worauf<br />

wir aber großen Wert legen, ist, dass die Leute kommunizieren<br />

können. Und damit meine ich nicht, dass sich jemand<br />

auf ein Podest stellt und Fachbegriffe vor sich hinmurmelt,<br />

was in Deutschland ja oft als Ausweis der Seriosität<br />

gilt. Es muss schon jemand sein, der sich auf das Abenteuer<br />

einlässt, mit einem Publikum zu reden, das von der Reinigungsfrau<br />

bis zum Botschafter reicht.<br />

Ein Problem ist allerdings, dass die Angelsachsen das besser<br />

können als die meisten deutschen Redner. Und viele Potsdamer<br />

trauen ihren Englischkenntnissen nicht und meinen, ein<br />

Vortrag auf Englisch sei vergleichbar mit einem akademischen<br />

Vortrag auf Deutsch – deshalb würden sie ihn nicht<br />

verstehen. Aber prinzipiell sehe ich da keinen Widerspruch.<br />

Einstein hat einmal geschrieben: „Wer nicht in der Lage ist,<br />

seine Theorie einem Zehnjährigen zu vermitteln, der hat sie<br />

nicht wirklich verstanden.“<br />

Focus: Sie haben sich intensiv mit der Philosophie der Aufklärung<br />

beschäftigt, und auch Ihre Arbeit am Einstein Forum<br />

scheint der Idee der Aufklärung verpflichtet zu sein. Was<br />

kann Aufklärung heute sein?<br />

Neiman: Was kann Aufklärung sein? Ich glaube, wir haben<br />

wirklich nur drei Alternativen: Wir können in die nostalgische,<br />

reaktionäre Sehnsucht nach dem Vormodernen gehen.<br />

Wir könnten in den Zynismus und die Gleichgültigkeit der<br />

Postmoderne gehen. Oder wir können die Moderne verteidigen,<br />

das heißt die Aufklärung samt ihrer Fähigkeit zur<br />

Selbstkritik. Ich glaube, die Aufklärung ist tatsächlich das<br />

Fundament des Fortschritts, sowohl wissenschaftlich als<br />

auch praktisch und politisch.<br />

Focus: Die Frage zielte eher darauf, ob Ihre Affinität zu<br />

diesem Thema das Agenda-Setting beeinflusst?<br />

Neiman: Das tut es gewiss. Schon bei meinem Amtsantritt<br />

vor zwölf Jahren habe ich eine Rede über die Aufklärung<br />

gehalten. Sie spielt für mich immer eine große Rolle.<br />

Focus: Sie wollen dazu beitragen, dass sich die Menschen<br />

ihres eigenen Verstandes bedienen?<br />

Neiman: Genau. Was mich am 18. Jahrhundert so anzieht,<br />

31<br />

Focus 01/2012


Parallelen Interview<br />

„Wenn die Qualität unserer<br />

Arbeit stimmt, ist es mir<br />

egal, ob jemand einen roten<br />

Faden darin sieht.“<br />

sind die erstklassigen großen Geister: Rousseau, Voltaire,<br />

Diderot und viele andere Aufklärer waren großartige Schriftsteller.<br />

Einige waren an Universitäten gekettet, doch selbst<br />

die scheuten sich nicht, ihre Ideen in der Öffentlichkeit vorzutragen.<br />

Immanuel Kant hat 15 Aufsätze für die „Berlinische<br />

Monatsschrift“ geschrieben, eine Zeitschrift, die man<br />

mit dem heutigen „New Yorker“ vergleichen könnte. Und<br />

für sie hat er tatsächlich relativ verständlich geschrieben.<br />

Das heißt, die Kluft zwischen Elitewissenschaft und Allgemeininteresse,<br />

die gab es in der Aufklärung nicht! Insofern<br />

könnte ich sagen, das gesamte Einstein Forum steht unter<br />

diesem Motto: Es gibt keinen Widerspruch zwischen anspruchsvollem<br />

Denken, allgemeiner Verständlichkeit und<br />

Allgemeininteresse.<br />

Focus: Sie sind mit mindestens drei Kulturen vertraut – der<br />

deutschen, der amerikanischen und der jüdischen. Empfinden<br />

Sie das als eine Bereicherung, oder führt es manchmal<br />

auch zu einem Gefühl der Fremdheit?<br />

Neiman: Sowohl als auch. Gewiss haben mich die Stationen<br />

meines Lebens bereichert. Aber manchmal denke ich auch:<br />

Wenn ich ein zweites Leben hätte, würde ich an einem Ort<br />

bleiben und meine Kinder dort großziehen; das hat ja auch<br />

etwas für sich. In dieser Hinsicht ist Berlin ideal: Es ist ein<br />

wunderbarer Ort, um sich nicht zu Hause fühlen zu müssen.<br />

Das ist ungewöhnlich; selbst in einer Stadt wie New York<br />

gibt es die wirklichen New Yorker. Dagegen finden sich in<br />

Berlin nur ganz wenige, die bereit sind zu sagen: „Ich bin<br />

Berliner!“ Dieses Zugereiste aus der ganzen Welt, diese Offenheit<br />

für andere Kulturen macht es wirklich einfach, in<br />

Berlin zu leben. Ich fühle mich wohl hier – nicht zu Hause,<br />

aber besser als sonst wo.<br />

Focus: Sie haben eingangs die politischen Ziele genannt,<br />

die zur Gründung des Forums führten. Hat das Forum diese<br />

Ziele erreicht?<br />

Neiman: Ich glaube, dass es uns gelungen ist, international<br />

zu sein. Nicht nur, indem wir immer wieder internationale<br />

Gäste zusammenbringen, sondern auch, indem wir versuchen,<br />

einen internationalen Stil in die deutsche Wissenschaft<br />

einzuführen. Sicherlich könnte es noch internationaler<br />

werden, und wir arbeiten daran. Auch die Ost-West-<br />

Balance ist uns, glaube ich, ganz gut gelungen. Wir legen<br />

Wert darauf, immer wieder über Probleme und Fragen zu<br />

sprechen, die aus dem Osten kommen. Zum Beispiel haben<br />

wir kürzlich das Projekt „Dritte Generation Ost“ vorgestellt.<br />

Das ist eine Gruppe von jungen Menschen, die zwischen<br />

1975 und 1985 geboren sind und noch Erinnerungen an die<br />

DDR haben. Sie diskutierten darüber, wie sie mit der Vergangenheit<br />

umgehen, wie sie mit ihren Eltern umgehen. Im<br />

letzten Sommer hatten wir einen größeren Workshop zum<br />

Thema Stasi und zu der Frage, was der Stasi-Vorwurf eigentlich<br />

bedeutet. Zusammen mit der Stasi-Beauftragten<br />

Ulrike Poppe haben wir eine Veranstaltung organisiert, auf<br />

der wir sowohl Stasi-Opfer gefunden haben als auch einen<br />

ehemaligen IM, der bereit war, in der Öffentlichkeit über<br />

seine Tätigkeit zu sprechen. Ich glaube, hier zahlt sich aus,<br />

dass ich als Amerikanerin weder west- noch ostdeutsch sozialisiert<br />

worden bin.<br />

Das Interview mit Susan Neiman in Caputh<br />

führten Ulrike Mertens, FOCUS, und Norbert Sack,<br />

<strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>, Berlin.<br />

33<br />

Focus 01/2012


Essay<br />

Die offene Stadt –<br />

divers, integrativ, sozial<br />

Weltweit leben heute mehr Menschen in der Stadt als<br />

auf dem Land – Tendenz stark steigend. In Deutschland<br />

sind sogar 74 Prozent der Bevölkerung Städter.<br />

Fotos: Guntram Walter, Rainer Schlautmann, Iwan Baan<br />

Städte sind verdichtete Orte menschlichen Zusammenlebens.<br />

Daraus ergeben sich einerseits enorme Chancen:<br />

In der Wissensgesellschaft ist die hohe Dichte an<br />

Menschen – und damit an Ideen – Quelle für technologische,<br />

gesellschaftliche und politische Innovation.<br />

Andererseits schafft diese Dichte soziale und ökologische<br />

Brennpunkte. Aufgabe von zukunftsfähiger Stadtentwicklung<br />

ist es, die Stadt lebenswerter – also offener,<br />

inklusiver und nachhaltiger – zu gestalten. Neben<br />

der Bereitstellung von Infrastruktur und Arbeit muss sie<br />

dazu vor allem zwei Dinge leisten: Sie muss Identität<br />

und Heimat stiften. Und sie muss der Vielfalt städtischen<br />

Lebens Raum verschaffen sowie soziale Inklusion fördern.<br />

Von Tobias Leipprand und Oliver Seidel<br />

Städte waren schon immer mehr als wirtschaftliche<br />

Zentren mit dichter Infrastruktur. Im besten Fall stiften sie<br />

Identität über eine funktionierende Stadtgemeinschaft, die<br />

sozialen Halt bietet und dabei Raum für vielseitige Lebensmodelle<br />

und (Sub-)Kulturen lässt.<br />

Diese Balance gelingt nicht immer. Die Architekten und<br />

Stadtplaner der klassischen Moderne der 1920er bis 1950er<br />

Jahre setzten auf große „Wohnmaschinen“ als Mittel zur<br />

Schaffung sozialer Mindeststandards und auf eine klare<br />

funktionale Trennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit.<br />

Das Ergebnis: Entfremdung, eingeschränkte Entfaltungsmöglichkeiten<br />

von Individualität und eine starke Abhängigkeit<br />

vom Auto. Le Corbusier, der wohl bekannteste Vertreter<br />

dieser Architekturströmung, plante sogar, ganze innerstädtische<br />

Viertel von Paris durch funktionalistische Neubauten<br />

zu ersetzen. Noch heute werden in vielen Schwellenländern,<br />

etwa in China, nach diesem Prinzip Trabantenstädte<br />

gebaut – effiziente, dabei aber anonyme Lebensräume,<br />

die ihren Bewohnern weder ein Gefühl von Heimat<br />

oder Zugehörigkeit vermitteln noch ihnen die Möglichkeit<br />

bieten, sich aktiv zu verorten.<br />

Dabei wächst in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung<br />

unter Städtern gerade das Bedürfnis nach Verortung<br />

und Zugehörigkeit. In einer Umfrage der Hamburger Sozialbehörde<br />

stuften 88 Prozent der befragten Hamburger den<br />

Begriff Heimat als „wichtig“ oder „sehr wichtig“ ein. Und<br />

auch der „Spiegel“ titelte kürzlich mit der Frage „Was ist<br />

Heimat?“. In Berlins angesagten Gegenden sind österreichische,<br />

bayerische und schwäbische Restaurants im Trend.<br />

Die Bäckerei im Kiez kommt wieder, und der Hipster holt<br />

sich Heimatikonen – Hirschgeweih & Co. – in neuem Design<br />

in die Wohnung zurück.<br />

Sozialer Zusammenhalt droht zu zerfallen<br />

Stadt muss mehr leisten, als Identität zu stiften. Der demografische<br />

Wandel, die Pluralisierung von Lebensstilen und<br />

Kulturen sowie die wachsende soziale Ungleichheit verändern<br />

die Stadtgesellschaft von Grund auf. Laut einer Studie<br />

des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung schrumpft<br />

in Deutschland seit den 1990er Jahren die Mittelschicht,<br />

während die Spitzeneinkommen steigen. In der Stadt führt<br />

dies zu Gentrifizierung, zur Verdrängung Geringverdienender<br />

aus den attraktiven zentrumsnahen Stadtteilen. Die dort<br />

gewachsenen Strukturen drohen zu zerfallen – und damit der<br />

Zusammenhalt der Stadtgesellschaft.<br />

Zahlreiche Forschungen belegen, dass wachsende Ungleichheit<br />

zulasten aller geht: Auch Reiche verlieren an Lebensqualität,<br />

wenn sie ihre Villen mit Stacheldraht umzäunen<br />

müssen. Als in Paris 2005 die Vorstädte brannten, blieb<br />

Marseille trotz der höchsten Migrantendichte Frankreichs<br />

weitgehend verschont. Einkommensunterschiede zwischen<br />

Zentrum und Peripherie sind hier geringer, die soziale<br />

Durchmischung ist stärker, Netzwerke sind belastbarer, dies<br />

zeigen Untersuchungen der US-amerikanischen Brookings<br />

Institution von 2005.<br />

Geringere Einkommensunterschiede und ausgeprägte Diversität<br />

korrelieren direkt mit einem Plus an Gesundheit,<br />

Lebenserwartung und Bildung über alle Schichten hinweg<br />

34<br />

Focus 01/2012


Einst zum Abriss freigegeben wird<br />

die New Yorker High Line ein Ort der<br />

Erholung und Kommunikation.


Parallelen Essay<br />

Der von Gewalt und Vandalismus geprägte U-Bahnhof<br />

Eichbaum wird Oper und Treffpunkt.<br />

sowie mit einer niedrigen Kriminalitätsrate. In der durchmischten<br />

Stadt kommt es auch zu mehr sozialer Interaktion,<br />

was wiederum Voraussetzung für eine rege Bürgerbeteiligung<br />

ist.<br />

Zeit für den Nahraum<br />

Wollen wir unsere Städte heute lebenswerter und inklusiver<br />

gestalten, so müssen wir näher heranzoomen: Der sogenannte<br />

Nahraum, ein kleines Viertel, bestehend aus ein paar Straßenzügen<br />

mit etwa 3 000 Einwohnern, kann zur Heimat in der<br />

Stadt werden. Arbeit, Erholung, Wohnen, Einkaufen – alles<br />

an einem Ort. Nachbarschaft und soziales Netz inklusive.<br />

In der modernen Stadtforschung hat man den Nahraum<br />

als effektiven Wirkungsrahmen erkannt. Ein funktionierender<br />

Nahraum erhöht die Lebensqualität seiner Bewohner<br />

massiv und bietet zahlreiche weitere Vorteile.<br />

Er entlastet beispielsweise die Verkehrsadern der Stadt<br />

und senkt Lärm und Schadstoffausstoß: Wer in seinem<br />

Viertel lebt, arbeitet und sich erholt, ist weniger unterwegs.<br />

Auch der demografische Wandel gebietet einen funktionierenden<br />

Nahraum, da sich der Mobilitätsradius der Bevölkerung<br />

verkleinern wird. Alte Menschen sind noch stärker<br />

auf eine funktionierende Infrastruktur – Erholung, Einkaufen,<br />

Begegnung, Kultur – in nächster Nähe angewiesen.<br />

Ein funktionierendes Stadtviertel ist zudem wirtschaftlich<br />

leistungsfähiger. Unternehmen und stadtaffine Industrien<br />

profitieren von den kreativen und wirtschaftlichen Leistungsträgern<br />

am Arbeitsmarkt, die durchmischte, dabei aber<br />

stabile Quartiere anziehen.<br />

Gerade die so wichtige soziale Inklusion lässt sich im<br />

Nahraum am besten realisieren. Im kleinen Viertel, in dem<br />

die Anonymität der Großstadt durchbrochen wird, fassen<br />

Vereine und zivilgesellschaftliche Organisationen viel leichter<br />

Fuß. Denn Bürger interessieren sich zuallererst für Themen<br />

vor Ort – seien es die Öffnungszeiten des Schwimmbads,<br />

der Durchgangsverkehr oder die Schulsituation.<br />

36<br />

Focus 01/2012


Parallelen Essay<br />

An der Grenze zwischen Essen und Mülheim im Ruhrgebiet<br />

liegt die U-Bahn-Haltestelle Eichbaum zwischen mehreren<br />

Autobahnen in einer normalerweise tristen und von Spannungen<br />

geprägten Siedlung. 2009 wurde die Station temporär zur<br />

urbanen Oper. Vor Ort richtete man ein Projektzentrum mit<br />

Workshopraum, Café und Bar ein. Gemeinsam mit den Anwohnern<br />

entwickelten Künstler und Komponisten gemeinsam<br />

die Produktion: „Zwischen Beton, Gitterstäben und<br />

Graffiti erklingen neue Arien und Geschichten, Orchester<br />

und Chöre, die von den Menschen neben uns erzählen. Sie<br />

verraten, wovon sie träumen und worauf sie warten.“<br />

Aufgabe von Stadtverwaltung, aber auch von Förderprogrammen<br />

auf Landes- und Bundesebene muss es sein, sich mit<br />

Organisationen, religiösen Gemeinschaften und Initiativen zu<br />

verzahnen, um Projekte wie die Eichbaumoper zu unterstützen<br />

– Projekte mit lokaler Verwurzelung, die über Schichten,<br />

Ethnien oder Kulturen hinweg vernetzen und Brücken bauen.<br />

Gepflegte Plätze, Parks und Kultureinrichtungen sind für<br />

das Viertel von großer Bedeutung. Als Orte öffentlichen Lebens<br />

erlauben sie ein Zusammenwachsen der urbanen Gemeinschaft<br />

– gerade auch in sozial schwächeren Gegenden.<br />

Genau wie die Eichbaumoper zeigen Beispiele aus Rio de<br />

Janeiro in Brasilien oder Tirana in Albanien, dass öffentliche<br />

Einrichtungen nicht zum Opfer von Vandalismus werden<br />

müssen. Im Gegenteil: Wenn man sie gemeinsam mit den<br />

Bürgern gestaltet, werden sie gepflegt und tragen zur Identitätsbildung<br />

bei. Auch in Europa gibt es viele positive Beispiele.<br />

Der frühere Kopenhagener Industriehafen etwa ist heute<br />

„blaues Herz“ mit Bademöglichkeiten, Skateparks und Grillplätzen<br />

– Natur, Erholung und Treffpunkt mitten in der Stadt.<br />

wandelte sie die 2,3 Kilometer lange Trasse in einen urbanen<br />

Park um. Der zweite von drei Bauabschnitten wurde im<br />

Sommer 2011 eröffnet. Im dichten Manhattan ist die High<br />

Line wertvoller Grünraum, kultureller Treffpunkt, Zeugnis<br />

der lokalen Geschichte – und sie schafft eine neue fußläufige<br />

Verbindung zwischen mehreren Quartieren.<br />

Die brasilianische Stadt Recife bindet ihre Bürger über<br />

Bürgerhaushalte in Ausgabenentscheidungen zur Schul- und<br />

Stadtentwicklung ein. Dafür erhielt die Stadt 2011 den Reinhard<br />

Mohn Preis. In Deutschland gibt es Bürgerhaushalte in<br />

Freiburg, Leipzig, Köln und vielen weiteren Städten.<br />

Die offene Stadt ist keine Utopie<br />

Unsere Städte zukunftsfähiger und lebenswerter zu machen<br />

ist keine leichte Aufgabe. Die genannten Beispiele stimmen<br />

aber optimistisch. Gelingen kann das Ganze nur, wenn die<br />

unterschiedlichen Akteure gemeinsam zu einem konstruktiven<br />

Dialog finden. Dazu brauchen sie die Möglichkeit, sich<br />

ihren Stadtraum anzueignen.<br />

Zentralistische und mechanistische Stadtplanung am<br />

Reißbrett gehört damit der Vergangenheit an. Wer heute Stadt<br />

gestalten und Stadtgemeinschaft aufbauen will, der muss vor<br />

Ort und im kleinen Umfeld – im Nahraum – das Gespräch<br />

suchen. Bringen Politik, Verwaltung und ansässige Unternehmen<br />

diese Aufgeschlossenheit mit und hören sie den Bewohnern<br />

zu, dann können sich unverwechselbare städtische Inseln<br />

entwickeln, die geprägt sind von Offenheit, Inklusion,<br />

Kreativität und Wirtschaftskraft. Und die sich vor allem<br />

durch eines auszeichnen: durch eine hohe Lebensqualität.<br />

Bewohner verstärkt beteiligen<br />

Für die Aufgaben der Zukunft braucht die Stadt eine starke<br />

Zivilgesellschaft. Herausforderungen wie demografischer<br />

Wandel, soziale Spannungen oder Integration können nur<br />

durch Bürger und Stadtregierung gemeinsam erfolgreich angegangen<br />

werden. Durch die Arbeit von engagierten Bewohnern,<br />

Religionsgemeinschaften, ansässigen Firmen und Geschäften<br />

sowie Vereinen entsteht wertvolles Sozialkapital<br />

für den Stadtteil und damit für die Stadt.<br />

Dabei fordern Bürger heute mehr Transparenz bei politischen<br />

Entscheidungsprozessen, Möglichkeiten zur Beteiligung<br />

und ein flexibles Eingehen auf ihre Wünsche. Gerade<br />

in ihrer direkten Nachbarschaft bringen sie sich stark in politische<br />

Prozesse ein, das hat etwa Stuttgart 21 gezeigt. Es<br />

braucht also Wege der Mitgestaltung.<br />

In New York City formierte sich 1999 die Bürgerbewegung<br />

„Friends of the High Line“, um den bereits genehmigten<br />

Abriss der alten Hochbahn (High Line) im Westen Manhattans<br />

zu verhindern. Zusammen mit der Stadt New York<br />

Reprogramming the City<br />

Die stiftung neue verantwortung, ein interdisziplinärer<br />

Thinktank mit Sitz in Berlin, ging in einem Workshop<br />

unlängst der Frage nach, wie eine sinnvolle<br />

„Reprogrammierung“ deutscher Städte aussehen<br />

könnte. Die Autoren des vorliegenden Beitrags waren<br />

maßgeblich an der Erarbeitung von Handlungsempfehlungen<br />

in zehn Gestaltungsfeldern beteiligt.<br />

Tobias Leipprand, Mitglied des Vorstands der<br />

stiftung neue verantwortung, betreut unter anderem<br />

Projekte zur nachhaltigen Stadtentwicklung und<br />

zur Führungskultur in Deutschland.<br />

Oliver Seidel ist Mitbegründer und geschäftsführender<br />

Partner von CITYFÖRSTER architecture +<br />

urbanism. Als Architekt und Stadtplaner referiert er,<br />

außerdem berät er den öffentlichen Sektor, Unternehmen,<br />

Organisationen und Initiativen zu zukunftsfähigen<br />

urbanen Lebenswelten.<br />

37<br />

Focus 01/2012


Integration<br />

Aufwärtsspirale<br />

Junior Smart und das Southwark<br />

Offenders Support Project<br />

Manchmal muss man erst am Boden liegen,<br />

um zu erkennen, wie es wieder nach oben geht.<br />

Der ehemalige Straftäter Junior Smart hilft<br />

Jugendlichen in Großbritannien dabei, wieder in<br />

der Gesellschaft Fuß zu fassen. Und schafft<br />

mit einem Projekt das, woran bislang etliche<br />

Regierungen des Landes gescheitert sind.<br />

Von Gavin Knight<br />

Rückblende: Lawrence, Mitte 20, kantige Gesichtszüge,<br />

durchdringender Blick aus grünen Augen, professioneller<br />

Autoknacker. Diesmal hatte er eine nagelneue Mercedes<br />

S-Klasse im Visier, die vor der der Royal Albert Hall<br />

geparkt war. So ein Wagen ist auch ohne Zulassung gut<br />

75 000 Euro wert. Lawrence kannte genügend Leute, die so<br />

ein Auto nur zu gern auf dem Schwarzmarkt weiterverkaufen<br />

würden.<br />

Zunächst lief alles glatt: Er bog mit der Limousine in die<br />

vierspurige Kensington Gore ein, um dann über Knightsbridge<br />

an der Themse entlang weiterzufahren. Aber kurz<br />

nachdem er abgebogen war, geriet er vor der iranischen Botschaft<br />

in eine Demonstration. Kaum hatte er endlich wieder<br />

in Richtung Knightsbridge beschleunigt, hörte er die donnernden<br />

Rotoren eines Polizeihubschraubers über sich. Für<br />

Lawrence war die Fahrt zu Ende. Er musste wieder ins Gefängnis,<br />

wo er, seit er 17 war, die meiste Zeit seines Lebens<br />

verbracht hatte.<br />

Straftäter wie Lawrence wieder in die Gesellschaft zu integrieren,<br />

ist eine Herkulesaufgabe, die viel Geld verschlingt und<br />

selten erfolgreich bewältigt wird. Elf Milliarden Pfund gibt<br />

Großbritannien jährlich für die Resozialisierung von Intensivtätern<br />

aus. Die meisten von ihnen werden wieder rückfällig.<br />

Der Preis der Ausgrenzung<br />

Fotos: Zed Nelson<br />

Weitere Informationen finden Sie auf:<br />

www.sosproject.org.uk<br />

Wie wichtig es ist, gerade die Jugendlichen zu erreichen,<br />

bevor sie zu Straftätern werden, wurde im August 2011<br />

überdeutlich, als die Bilder der fünftägigen Straßenkämpfe<br />

in London um die Welt gingen. Horden von jungen Leuten<br />

zündeten Geschäfte an, zerschlugen Schaufenster und bedienten<br />

sich an Turnschuhen und Handys.<br />

Zwei Drittel der im Zusammenhang mit den Ausschreitungen<br />

vor Gericht gestellten Jugendlichen waren Schulabbrecher<br />

und stammten aus den ärmsten innerstädtischen<br />

Vierteln Großbritanniens. Großbritannien musste sich den<br />

Vorwurf gefallen lassen, bei der Armutsbekämpfung und<br />

Prävention wieder einmal versagt zu haben. Genauso wie<br />

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Focus 01/2012


Parallelen Integration<br />

vor 30 Jahren, als es unter Premierministerin Margaret<br />

Thatcher zu ähnlichen Unruhen an sozialen Brennpunkten<br />

in britischen Großstädten gekommen war. Auch die nachfolgenden<br />

Regierungen ignorierten die offensichtlichen<br />

Probleme. Mittlerweile, das zeigen die Ausschreitungen<br />

des vergangenen Jahres, hat das Problem der Ausgrenzung<br />

aus der Gesellschaft in Großbritannien bereits die zweite<br />

Generation erreicht.<br />

Gut drei Jahrzehnte und viele gescheiterte öffentliche<br />

Eingliederungsmaßnahmen später gibt ausgerechnet die<br />

Initiative eines Einzelnen, Junior Smart, Anlass zur Hoffnung.<br />

Sein Leben ist die Geschichte des Wandels vom<br />

Straftäter zum erfolgreichen Kämpfer gegen die Jugendkriminalität.<br />

Smart wurde in Southwark geboren, einem der<br />

ärmsten Stadtteile von London. Schon früh geriet er an die<br />

falschen Freunde und auf die schiefe Bahn. Es dauerte<br />

nicht lange, bis er wegen eines Drogendelikts zum ersten<br />

Mal in einer Gefängniszelle auf dem Polizeirevier in Crawley<br />

saß. „Mein Fall war so heikel, dass sich erst nach mehreren<br />

Anläufen ein Anwalt fand, der bereit war, mich zu<br />

vertreten“, sagt er.<br />

Dabei wurde ihm die Tragweite seiner Handlungen erst<br />

im Gespräch mit seiner Schwester auf dem Revier bewusst.<br />

Er schämte sich zutiefst für das, was er getan hatte. Vor allem,<br />

weil er seine Familie hintergangen hatte. „Meine Mutter<br />

war zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Jahre tot, und<br />

meine Schwester hatte keine Ahnung, was ich anstellte,<br />

wenn ich mit Freunden unterwegs war. Ich hatte ein Doppelleben<br />

geführt.“<br />

Wie ein Tiger wanderte er in dieser Nacht in der Zelle<br />

auf und ab. Immer wieder drückte er auf den Rufknopf, um<br />

die Beamten zu fragen, warum ihm, einem 24-Jährigen, der<br />

noch nie im Knast gewesen war, niemand zu Hilfe komme.<br />

Der diensthabende Beamte beschied ihm kurz angebunden,<br />

er könne sich ja an die Samariter wenden, und knallte die<br />

Eisentür wieder zu.<br />

Am nächsten Tag wurde er dem Haftrichter vorgeführt,<br />

der ihn zu zehn Jahren Haft verurteilte, die er im High-<br />

Down-Gefängnis absitzen sollte.<br />

„Nichts in der Welt kann dich darauf vorbereiten, wie es<br />

im Knast zugeht“, sagt Junior. „Die Medien behaupten,<br />

dass es im Gefängnis heutzutage eher wie im Hotel zugehe.<br />

Das ist absoluter Quatsch. Du teilst dir mit drei Männern<br />

eine Zelle, die so winzig ist, dass man vom Bett aus die<br />

Kloschüssel berühren kann.“<br />

Seine Freunde, die ihm ewige Treue geschworen hatten,<br />

ließen sich nicht blicken. Junior war auf sich allein gestellt:<br />

„Das Gefängnisleben ist knallhart. Angst, Paranoia, Schikanen<br />

und Drogen gehören zum Alltag.“ Aber er war fest entschlossen,<br />

nicht Opfer, sondern Katalysator für Veränderungen<br />

zu werden. Er suchte den Kontakt zu den sogenannten<br />

„Nichts kann dich darauf<br />

vorbereiten, wie es im<br />

Gefängnis zugeht. Angst,<br />

Paranoia, Schikanen<br />

und Drogen gehören zum<br />

Alltag.“<br />

Listeners, einer Gruppe von Mithäftlingen, die von den Samaritern<br />

ausgebildet worden waren. Er schaffte es, in die<br />

Gruppe aufgenommen zu werden, weil er versprach, nach<br />

Absitzen seiner Strafe anderen Straffälligen zu helfen. Fortan<br />

nahm er sich als ausgebildeter Listener anderer Mitgefangener<br />

an.<br />

„Es ist jedes Mal erschütternd, wenn du im Gefängnis<br />

mit jemandem ins Gespräch kommst. Die Häftlinge lassen<br />

meist lange niemanden an sich heran“, erläutert er. Er war<br />

schockiert, als sein Zellennachbar Ricky, der wegen Einbruchs<br />

eingesessen hatte, schon kurz nach seiner Entlassung<br />

wieder rückfällig wurde. Im Gespräch mit Ricky erfuhr er,<br />

dass der den Einbruch, für den er ursprünglich verurteilt<br />

worden war, deshalb begangen hatte, weil er drogensüchtig<br />

gewesen war und an Geld hatte kommen müssen. Schicksale<br />

wie das von Ricky ließen Junior verstehen, warum das<br />

Gefängnissystem so jämmerlich versagte.<br />

Keine Ausbildung, kein Job,<br />

kein Selbstwertgefühl<br />

Er beschloss, ein Problem anzugehen, an dem sich bis dahin<br />

mehrere Regierungen die Zähne ausgebissen hatten: die<br />

hohe Rückfallquote unter Jungkriminellen. Er erkannte,<br />

dass der aussichtsreichste Ansatz im Kampf gegen die<br />

Abwärtsspirale darin lag, jugendlichen Tätern bereits im<br />

Gefängnis Hilfsangebote zu machen, die nach der Entlassung<br />

nahtlos fortgesetzt werden. Denn: „Das Dilemma vieler<br />

war, dass sie keinerlei Ausbildung hatten“, erzählt er.<br />

Dieses Problem ging Junior an, indem er für jeden Einzelnen<br />

von ihnen noch im Gefängnis maßgeschneiderte Lösungen<br />

ausarbeitete. Er spornte sie etwa dazu an, höhere Ansprüche<br />

an sich selbst zu stellen. Als ihm ein Klient sagte, es reiche<br />

ihm, für zwölf Euro die Stunde als ungelernter Arbeiter zu<br />

arbeiten, appellierte Junior an dessen Ehrgeiz. Er motivierte<br />

ihn dazu, sich neue Fähigkeiten anzutrainieren. Das Konzept<br />

ging auf. Der Klient begann nach seiner Entlassung,<br />

Laminatböden bei seinen Nachbarn zu verlegen, und zwar so<br />

erfolgreich, dass er mit 25 den Entschluss fasste, sich auf<br />

diesem Gebiet selbstständig zu machen.<br />

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Parallelen Integration<br />

Das Engagement für mehr Selbstwertgefühl und Ehrgeiz<br />

bei jungen Straftätern hat Junior auch nach seiner eigenen<br />

Entlassung vor fünf Jahren aufrechterhalten. Aus der Idee,<br />

die im Gefängnis entstanden war, wurde ein eindrucksvolles<br />

Programm: das Southwark Offenders Support Project<br />

(SOS). Ziel des Projekts ist es, junge Straffällige engmaschig<br />

zu betreuen und sie bei der Wohnungssuche und Ausbildungsmaßnahmen<br />

zu unterstützen, um ihnen die berufliche<br />

Eingliederung zu erleichtern.<br />

Juniors Bilanz kann sich sehen lassen: Von den 457 Klienten,<br />

die er betreut, sind nur 15 bis 20 Prozent rückfällig<br />

geworden. Sein Programm kostet pro Jahr 2 500 Euro – die<br />

einjährige Unterbringung eines Gefängnisinsassen den Staat<br />

75 000 Euro. Das SOS-Projekt kooperiert mit der angesehenen,<br />

vielfach ausgezeichneten Hilfsorganisation St. Giles<br />

Trust. Ziel des Trusts ist es zu verhindern, dass Kinder von<br />

Straffälligen ebenfalls straffällig werden. Im Laufe der Jahre<br />

hat der St. Giles Trust dazu enge Kontakte zu Arbeitgebern<br />

aufgebaut. Von diesem Netzwerk potenzieller Arbeitgeber<br />

profitiert auch Junior bei seiner Arbeit.<br />

Networking als Schlüssel zum Erfolg<br />

Juniors Pionierarbeit auf dem Gebiet der Resozialisierung<br />

von Straffälligen erhielt quasi den Ritterschlag, als Ashoka<br />

auf seine Arbeit aufmerksam wurde. Die Organisation hat<br />

sich dem Ziel verschrieben, die Gesellschaft tiefgreifend<br />

und von innen heraus zu verändern. Deshalb unterstützt<br />

Ashoka weltweit Menschen mit Weitblick und mutigen Ideen,<br />

die zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen.<br />

2008 wurde auch Junior Smart zum Ashoka Fellow ernannt.<br />

Damit erhielt er eine Auszeichnung für herausragende und<br />

visionäre Sozialunternehmer, wie sie vor ihm etwa Jimmy<br />

Wales, der Gründer von Wikipedia, bekommen hatte.<br />

2010 wurde auch John J. Grumbar auf das SOS-Projekt<br />

aufmerksam. Der damalige Executive Chairman von <strong>Egon</strong><br />

<strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong> hatte den Gründer der Organisation<br />

Ashoka, Bill Drayton, für FOCUS interviewt und war von<br />

Ashoka so beeindruckt, dass er beschloss, sich dort zu engagieren.<br />

Anfang 2010 lernte er so auch Junior Smart kennen<br />

und überzeugte ihn davon, seine Arbeit auch auf den<br />

Junior Smart und sein Mentor John J. Grumbar.<br />

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Focus 01/2012


Parallelen Integration<br />

Der ehemalige Autodieb Lawrence (links) hält auch<br />

nach seiner geglückten Eingliederung den Kontakt zu<br />

dem SOS-Sozialarbeiter Elroy Palmer.<br />

Stadtbezirk Kensington and Chelsea auszudehnen. Nur wenig<br />

später stellten Grumbar und Smart das Programm Inspektor<br />

Dave Evans vor, dem für dieses Gebiet zuständigen<br />

Partnership Coordinator der Polizei.<br />

„Der Bezirk Kensington and Chelsea gilt gemeinhin als<br />

eher reiches Viertel, die nordöstliche Ecke allerdings gehört<br />

zu den schlimmsten sozialen Brennpunkten in diesem Land“,<br />

erläutert Evans. In der Mozart-Estate-Siedlung in der Harrow<br />

Road wurden Ende September 2011 drei Mädchen erschossen.<br />

Evans wusste, dass die meisten Verbrechen im Stadtbezirk<br />

auf das Konto einer kleinen Gruppe von jugendlichen<br />

Intensivtätern gingen, im Polizeijargon Priority Prolific Offenders<br />

(PPOs) genannt. Die Polizei hatte in den vergangenen<br />

sieben Jahren zur Lösung des Problems vor allem auf<br />

eine Strategie engmaschiger Betreuung gesetzt. „Die Kollegen<br />

haben den Kontakt zu den Straftätern gesucht und versucht,<br />

diese zu einem positiveren Lebensstil zu bewegen.<br />

Unsere Einflussmöglichkeiten bei dieser Klientel sind allerdings<br />

begrenzt. Die Jugendlichen haben Angst davor, dass<br />

wir sie verpfeifen, dass alles, was sie uns anvertrauen, gegen<br />

sie ausgelegt werden könnte.“<br />

Glaubwürdigkeit vermitteln<br />

Nach den Gesprächen mit Junior Smart wurde Evans schnell<br />

klar, dass es viel wirksamer wäre, wenn die Polizei zusammen<br />

mit ehemaligen Straftätern agieren würde. Anfang des<br />

Jahres 2011 war es dann so weit: Smarts Modell wurde erfolgreich<br />

im Stadtbezirk Kensington and Chelsea eingeführt.<br />

Das Team, bestehend aus einem SOS-Sozialarbeiter, dem<br />

Exkriminellen Elroy Palmer und Polizeikommissar Michael<br />

Spyrou, begann seine Arbeit bei einer kleinen Gruppe jugendlicher<br />

Intensivtäter, auf deren Konto das Gros der Straftaten<br />

in dieser Gegend ging.<br />

„Von mir als Polizisten lassen die Jungs sich nichts sagen“,<br />

erzählt Spyrou. „Wenn sie sich überhaupt dazu bewegen<br />

lassen, ihr Leben umzukrempeln, dann nur von jemandem<br />

wie Elroy.“ Spyrou hatte die Erfahrung gemacht, dass<br />

die jungen Kriminellen ihm als Polizisten ins Gesicht logen.<br />

Palmer hingegen ließ sich von ihnen nichts vormachen. Bei<br />

Lawrence, dem notorischen Autoknacker, der den Mercedes<br />

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Parallelen Integration<br />

Das Erfolgsgeheimnis liegt<br />

in dem Vertrauen, das<br />

die jugendlichen Straftäter<br />

ihren Sozialarbeitern<br />

entgegenbringen können.<br />

vor der Royal Albert Hall gestohlen hatte, traf das Team offensichtlich<br />

den richtigen Nerv, denn er zeigte sich tatsächlich<br />

einsichtig.<br />

Entscheidende Anschubhilfen<br />

Lawrence war schon früh auffällig geworden: Mit 13 hatte<br />

er Fahrräder geklaut und mit 15 Passanten mit vorgehaltener<br />

Waffe ausgeraubt. Mit 21 wurde er wegen Raub zu sechs<br />

Jahren Gefängnis verurteilt. Zwei Monate, nachdem er seine<br />

Gefängnisstrafe angetreten hatte, wurde er Vater. Seine<br />

kleine Tochter sah ihren Vater nur hinter Gittern. Ein Jahr<br />

nach seiner Entlassung ging die Beziehung zur Mutter seiner<br />

Tochter in die Brüche. Ohne familiären Halt und stabiles<br />

Umfeld verfiel er bald wieder in die alten Gewohnheiten.<br />

Nach dem Mercedes-Diebstahl wurde er als Prolific Priority<br />

Offender eingestuft. So lernte er im Rahmen des SOS-Projekts<br />

Elroy Palmer kennen. „Anfangs dachte ich mir: Wer<br />

ist der Kerl, und was soll das Ganze?“, erzählt Lawrence.<br />

Palmer versprach, ihm bei der Wohnungs- und Arbeitssuche<br />

zu helfen. Lawrence war zunächst skeptisch. Aber tatsächlich<br />

verschaffte ihm Palmer einen Vorstellungstermin bei<br />

Timpsons, einem Schuhreparatur- und Schlüsseldienst mit<br />

36 Filialen in London. Palmer bereitete ihn auch auf die<br />

typischen Fragen vor, die ein Arbeitgeber beim Vorstellungsgespräch<br />

stellt. Er machte ihm klar, wie wichtig Haltung und<br />

Körpersprache sind. Stück für Stück baute er Lawrences<br />

Selbstvertrauen auf.<br />

Sein Gesprächspartner beim Vorstellungsgespräch war<br />

ein waschechter Londoner Cockney, der tatsächlich viele<br />

der Fragen stellte, die Lawrence mit Palmer eingeübt hatte.<br />

Lawrence hinterließ einen so guten Eindruck, dass man ihm<br />

anbot, probeweise zwei Tage in der Firma zu arbeiten.<br />

„Ich hab die Probezeit geschafft, und es hat riesigen Spaß<br />

gemacht!“, erzählt Lawrence mit breitem Grinsen. Er hatte<br />

sein erstes Paar Schuhe so sauber repariert, dass ihm die<br />

Firma gleich einen festen Vertrag anbot. Lawrence ist stolz<br />

darauf, jetzt jeden Morgen mit all den anderen Pendlern in<br />

der U-Bahn zur Arbeit zu fahren. Den Kontakt zu Palmer<br />

und Spyrou hält er bis heute. Lawrence ist den Mitarbeitern<br />

des SOS-Projekts sehr dankbar. „Wäre ich nicht in das Programm<br />

aufgenommen worden, säße ich heute mit Sicherheit<br />

wieder im Knast“, berichtet er.<br />

Skalierbares Modell<br />

Junior Smart ist fest entschlossen, das Projekt auf alle Londoner<br />

Stadtbezirke auszuweiten. John Grumbar persönlich<br />

und eine Gruppe von Anwohnern haben das Programm in<br />

Kensington and Chelsea finanziert, und die örtliche Polizei<br />

hat noch einmal den gleichen Betrag zur Verfügung gestellt.<br />

Damit das Projekt auf weitere Stadtbezirke ausgedehnt werden<br />

kann, bedarf es allerdings einer soliden Finanzierung<br />

durch weitere Unterstützer.<br />

Grumbar ist davon überzeugt, dass das SOS-Projekt als<br />

skalierbares Modell taugt, denn die Idee dahinter sei ebenso<br />

einfach wie überzeugend. „Die Mitglieder von SOS sind der<br />

Beweis dafür, dass sich die Abwärtsspirale durchbrechen<br />

lässt. Sie und die allermeisten ihrer ehemaligen Klienten<br />

sind heute beruflich eingegliedert und bewegen sich in einem<br />

stabilen, straffreien Umfeld. Diese Erfolgsbilanz zeigt,<br />

wie unbestreitbar gut das Programm funktioniert.“ Polizei<br />

und Bewährungshelfer widersprechen ihm nicht. Auch sie<br />

sind sich mittlerweile darin einig, dass das SOS-Team viel<br />

besser zur Zielgruppe durchdringt als die staatlichen Institutionen.<br />

„Und zwar einfach, weil sie glaubwürdiger sind“,<br />

erklärt Inspector Dave Evans.<br />

Junior Smarts beispielhafter Einsatz und sein unbedingter<br />

Wille, gerade Jugendlichen zu helfen, die auf die schiefe<br />

Bahn geraten sind, haben das Projekt erfolgreich und ihn<br />

bekannt gemacht. Er ist mittlerweile ein weithin hochangesehenes<br />

und viel bewundertes Mitglied der Gesellschaft. Er<br />

selbst hat allerdings nie vergessen, wie es war, als er seine<br />

erste Nacht in Haft verbringen musste und ihm klar wurde,<br />

was es heißt, im Gefängnis zu sitzen. „Ich habe das Glück,<br />

immer wieder Gefängnisse von innen zu sehen“, sagt er, „so<br />

besteht keine Gefahr, dass ich vergesse, wer ich bin und wo<br />

ich herkomme.“<br />

Zur Person Gavin Knight<br />

Gavin Knight ist Autor von „Hood Rat“, einem<br />

Reportagebuch über die Großstadtkriminalität in<br />

Großbritannien, für das er zwei Jahre lang bei<br />

Polizeieinsatzkräften und jugendlichen Straftätern<br />

in London, Manchester und Glasgow recherchiert<br />

hat. Die deutsche Übersetzung ist unter dem Titel<br />

„The Hood“ bei Ullstein erschienen.<br />

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Focus 01/2012


Rising Talents<br />

Himmelsstürmerinnen<br />

Vier Frauen, vier Wege, ein Netzwerk<br />

Eine französische Opernregisseurin, eine dänische<br />

Firmenchefin, eine saudische Fernsehmoderatorin und<br />

eine aus Libyen stammende amerikanische Wissenschaftlerin<br />

– dieser illustre Kreis ließe sich noch um<br />

viele andere Persönlichkeiten erweitern. Denn Juliette<br />

Deschamps, Marianne Dahl Steensen, Muna AbuSulayman<br />

und Sema Sgaier sind nur vier der inzwischen<br />

über 70 „Rising Talents“, die das gleichnamige Netzwerk<br />

seit seiner Gründung vor fünf Jahren im Rahmen<br />

des „Women’s Forum for the Economy and Society“<br />

bilden. Längst gilt das Forum in Deauville als weibliches<br />

Pendant zum männerdominierten Weltwirtschaftsforum<br />

in Davos. Was diese Frauen gemein haben?<br />

Vor allem die Fähigkeit, die Welt weit über ihr Tätigkeitsfeld<br />

hinaus zu verändern.<br />

Die Kriterien für eine Einladung zum jährlich stattfindenden<br />

Women’s Forum sind anspruchsvoll: Die Frauen<br />

müssen bereits herausragende Leistungen in ihrem jeweiligen<br />

Feld erbracht haben, dürfen allerdings nicht älter als<br />

40 Jahre alt sein. Neben dem Potenzial, in naher Zukunft<br />

noch Größeres zu leisten und sich für Schlüsselpositionen in<br />

Wirtschaft und Gesellschaft zu eignen, kommt es aber auch<br />

auf eine wichtige Charaktereigenschaft an: den Mut zu besitzen,<br />

einen Status quo auch einmal infrage zu stellen.<br />

Die Lebensläufe dieser jungen Frauen lassen oftmals<br />

nicht erahnen, welche enormen Hindernisse sie schon überwunden<br />

haben. Die viel diskutierte Glasdecke, jene unsichtbare<br />

Barriere, die Frauen immer noch am Karriereaufstieg<br />

an die Führungsspitze hindert, existiert in vielen Ländern.<br />

Im Juli dieses Jahres erst veröffentlichte Anne-Marie<br />

Slaughter, Hillary Clintons leitende Beraterin, im Monatsmagazin<br />

„Atlantic“ einen Essay mit dem Titel „Why Women<br />

Still Can’t Have It All“. Darin beschreibt sie eindringlich,<br />

wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich es immer<br />

noch ist, als Frau und Mutter eine leitende Position in einer<br />

Firma, einer wissenschaftlichen oder künstlerischen Disziplin<br />

oder gar an der Spitze einer Nation einzunehmen. Der<br />

Text löste weltweit Diskussionen aus.<br />

Die Frauen des Rising-Talents-Programms treten alle an,<br />

den Gegenbeweis zu erbringen. Sie sind alle schon gegen<br />

viele Widerstände an die Spitze gelangt, aber sie nutzen<br />

dabei auch die Synergieeffekte, die aus dem Wissens- und<br />

Erfahrungsaustausch eines ebenso internationalen wie interdisziplinären<br />

Netzwerks entstehen können.<br />

Juliette Deschamps<br />

Weitere Informationen finden Sie unter<br />

www.womens-forum.com<br />

Oper, davon ist die Regisseurin Juliette Deschamps überzeugt,<br />

ist ein Herzstück unserer Kultur. Weil die Oper einst<br />

ein Massenmedium war, besitzt sie auch heute noch die Kraft,<br />

ein Massenpublikum in ihren Bann zu ziehen. Aufgewachsen<br />

ist Deschamps im Paris der achtziger Jahre. Ihre Eltern<br />

arbeiteten beide als Regisseure für Theater und Fernsehen.<br />

Ihr Großonkel war Frankreichs wohl berühmtester Filmkomiker<br />

und -regisseur: Jacques Tati. Schon als Kind wollte<br />

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Focus 01/2012


Parallelen Rising Talents<br />

Marianne Dahl Steensen<br />

Deschamps der Familientradition folgen und Regie führen.<br />

Mehr noch als Film und Theater faszinierte sie jedoch die<br />

Oper. Damit hatte sie sich in die wohl höchste Form des<br />

Schauspiels vernarrt. Operninszenierungen sind unermesslich<br />

teuer. Zudem gab es in Frankreich keine geregelte Ausbildung<br />

für das Fach Bühnenregie. Juliette Deschamps entschied<br />

sich für einen Umweg. Sie begann, als Schauspielerin<br />

zu arbeiten, machte einen Abschluss in Klassischer Musik<br />

und studierte Deutsch und Italienisch, um die Libretti der<br />

großen Opern zu verstehen. Bald spielte sie in Filmen – um<br />

zu verstehen, wie Regisseure arbeiten.<br />

Als junge Regieassistentin traf Deschamps die italienische<br />

Operndiva Anna Caterina Antonacci. Sie überredete die<br />

Sopranistin, in ihrer ersten Inszenierung von Claudio Monteverdis<br />

„Era La Notte“ aufzutreten. Zur Premiere lud sie<br />

Dominique Meyer ein, der damals das Théâtre des Champs-<br />

Elysées leitete. Meyer war begeistert und kaufte die Inszenierung.<br />

Mit der Bühnensaison 2006 begann Deschamps’<br />

Karriere als Opernregisseurin.<br />

Seit diesem Debüt hat sie Opern in Paris, Venedig, Wien,<br />

Amsterdam und Taipei inszeniert, im kommenden Jahr debütiert<br />

sie am Lincoln Center in New York, sie hat Konzerte<br />

für die Bühne aufbereitet, Regie bei Videoclips geführt und<br />

gemeinsam mit John Lennons Sohn Sean einen Kurzfilm<br />

gedreht. Doch die Oper ist nach wie vor ihre erste Leidenschaft,<br />

und wenn sie davon spricht, vibriert sie vor Enthusiasmus:<br />

„Wir können ein Massenpublikum erreichen, wenn<br />

wir die Klischees dieser Kunstform entkräften. Früher waren<br />

Opernhäuser die Epizentren der Städte. Alle Schichten<br />

und Stände gingen in die Oper. Sie erzählte universalgültige<br />

Geschichten.“ Juliette Deschamps ist fest entschlossen, eine<br />

neue, bisher noch nicht affine Generation für die Oper zu<br />

gewinnen, denn: „An der Oper selbst kann es nicht liegen.<br />

Nur an der Art, wie wir sie kommunizieren.“<br />

Es gibt kaum einen Markt, der so hart umkämpft ist wie die<br />

Telekommunikation in den skandinavischen Ländern. Marianne<br />

Dahl Steensen erinnert sich noch gut an die Zeit, als die<br />

Telefonkommunikation in ihrer dänischen Heimat einem<br />

staatlichen Monopol unterlag – wie in den meisten Ländern,<br />

die heute zur Speerspitze der digitalen Revolution gehören.<br />

Steensen war eine der Managerinnen des Neubeginns in dieser<br />

Branche. Sie verstand sich perfekt darauf, die verkrusteten<br />

Denkmuster einer Industrie aufzubrechen, die ihre Wurzeln<br />

im Anachronismus der Staatsbetriebe hatte und sich nun<br />

mit der rasantesten technischen Entwicklung seit der Industrialisierung<br />

konfrontiert sah.<br />

Die technologische Entwicklung allerdings war jedoch<br />

schon bald nicht mehr das Thema Nr. 1. Es ging nicht mehr<br />

darum, Anschlüsse zu verkaufen. Es ging darum, Kunden<br />

durch Serviceleistungen möglichst ein Leben lang an eine<br />

Marke zu binden.<br />

Die bisher wichtigste Erfolgsbestätigung bekam Steensen<br />

im vergangenen Jahr. Sie wurde von einer Firma abgeworben,<br />

mit deren Geschäftsbereich sie bis dahin nichts zu<br />

tun hatte. Der multinationale Versicherungskonzern RSA<br />

engagierte sie als Vorsitzende der Geschäftsführung für das<br />

Privatkundengeschäft in Dänemark. Nun ist sie erneut gefordert,<br />

Denkmuster aufzubrechen.<br />

Eine Brandschutzversicherung sei eine Brandschutzversicherung,<br />

daran ändere sich nichts, erklärt Steensen. Wie<br />

man jedoch seine Kunden zu Verbündeten macht, wie man<br />

sie dazu bringt, sich so zu verhalten, dass Schadensfälle erst<br />

gar nicht auftreten, mag zwar nicht zum traditionellen Geschäft<br />

einer Versicherung gehören. „Doch genau an diesem<br />

Punkt lässt sich eine Win-win-Situation für eine Versicherung<br />

erzielen“, sagt Steensen. „Überzeugt man seine Kunden<br />

45<br />

Focus 01/2012


Parallelen Rising Talents<br />

davon, einen Rauchmelder zu installieren, schützt man sie<br />

vor größeren Schäden oder gar dem Erstickungstod und sich<br />

selbst vor Verlusten.“<br />

Ihre Methode, Denkmuster aufzubrechen, wendet die<br />

38-Jährige inzwischen auch bei ihren Förderprogrammen für<br />

junge Frauen an. Früh schon hat sie sich als Mentorin engagiert.<br />

Sie selbst ist sich als Mutter von Zwillingen nur allzu<br />

bewusst, welche Anforderungen die Doppelrolle als Mutter<br />

und Berufstätige mit sich bringt. In Dänemark sei das nicht<br />

viel anders als in anderen Ländern. Sicherlich: „Wir haben hier<br />

ein fantastisches soziales Netz, Kinderbetreuung, eine progressive<br />

Familienpolitik.“ Und doch, sagt sie, seien die Barrieren<br />

für Frauen auch in Skandinavien noch sehr hoch. „Kein<br />

Mann fragt sich, ob er gleichzeitig eine Karriere und eine<br />

Familie haben kann. Frauen tun das fast immer. Das muss<br />

nicht sein. Es ist wirklich nur eine Frage der Träume. Wenn<br />

man einen Traum träumen kann, lässt er sich auch verwirklichen.“<br />

Entscheidend sei die Partnerwahl. Mit dem richtigen<br />

Partner, so Steensen, könne man sich ein Familienleben sehr<br />

pragmatisch teilen. „Arbeitsteilung in der Ehe und die Kombination<br />

aus Kinderbetreuung und Au-pairs schaffen genug<br />

Freiraum, um sich auf einen Beruf zu konzentrieren. Bei<br />

Männern klappt das ja auch seit vielen Jahrhunderten.“<br />

Muna AbuSulayman<br />

Es gibt nur wenige Länder, deren weibliche Bevölkerung<br />

weltweit so eindeutig als Opfer einer frauenfeindlichen<br />

Mentalität angesehen wird, wie dies in Saudi-Arabien der<br />

Fall ist. Muna AbuSulayman wusste, was für eine Bürde sie<br />

auf sich laden würde, als sie als erste saudische Frau eine<br />

herausgehobene Position in einem internationalen Fernsehsender<br />

übernahm. Im Alter von 29 Jahren wurde sie 2002<br />

eine von vier Moderatorinnen der Talkshow „Kalam Nawaem“<br />

des panarabischen Satellitensenders MBC. „In weiten<br />

Teilen der Welt herrscht ein stereotypes Bild von den saudischen<br />

Frauen“, sagt sie. „Entscheidend ist aber nicht, ob wir<br />

beispielsweise Auto fahren dürfen oder nicht. Entscheidend<br />

ist doch vielmehr, dass ein Großteil der saudischen Frauen<br />

hervorragend ausgebildet ist und immer erfolgreicher wird.“<br />

Sie wusste, wenn sie die Klischees widerlegen würde, könnte<br />

sie viel mehr erreichen als nur hohe Einschaltquoten – sie<br />

würde zum Vorbild für Tausende, wenn nicht Millionen<br />

arabischer Frauen werden, für die es kaum Vorbilder aus<br />

dem eigenen Kulturkreis gibt.<br />

Ihre eigenen Vorbilder suchte AbuSulayman in der Literatur<br />

– und fand sie. „Meine Idole sind die taube und blinde<br />

Autorin Helen Keller und ihre Lehrerin Anne Sullivan<br />

Macy. Ohne Macy hätte Keller nie ihre Stimme gefunden.<br />

Und die Welt wäre um eine wichtige Autorin, Inspirationsquelle<br />

und ein Vorbild ärmer.“ Das Interesse für Literatur<br />

zieht sich wie ein roter Faden durch ihren vielseitigen Lebenslauf.<br />

Geboren in Philadelphia, aufgewachsen in den<br />

USA, in Malaysia und Saudi-Arabien, schloss sie ihr Literaturstudium<br />

an der George Mason University in Virginia mit<br />

einem Bachelor und einem Master of Arts ab.<br />

Die Fernsehmoderatorin galt schon bald als Oprah Winfrey<br />

der arabischen Welt. 2004 wurde sie vom Weltwirtschaftsforum<br />

in Davos zum Young Global Leader ernannt. 2007<br />

entschied sie sich, den Fernsehsender zu verlassen. Das Entwicklungshilfeprogramm<br />

der Vereinten Nationen berief sie<br />

als Botschafterin des guten Willens. Zudem arbeitete sie<br />

auch als Geschäftsführerin der in Saudi-Arabien beheimateten,<br />

global engagierten Alwaleed Bin Talal Foundation. In<br />

beiden Fällen engagiert sie sich für die Verständigung zwischen<br />

dem Islam und der westlichen Welt und ist zu diesem<br />

Thema als Rednerin an Universitäten weltweit gefragt.<br />

Seit einem Jahr hat sie auch diese Tätigkeiten etwas eingeschränkt.<br />

Sie konzentriert sich nun auf Förderprogramme<br />

für junge Unternehmerinnen in Saudi-Arabien. Und sie hat<br />

eine Modefirma gegründet, mit der sie auch dieses Mal eigene<br />

Ziele jenseits des Glamours verfolgt.<br />

„Junge Frauen können sich in der saudischen Gesellschaft<br />

nur etablieren, wenn sie sich wirtschaftlich unabhängig machen“,<br />

sagt Muna AbuSulayman. Doch nicht die konservative<br />

islamische Gesellschaft bedeutet das größte Hindernis,<br />

sondern die saudische Bürokratie. „Um ein Beispiel zu nennen:<br />

Arbeitsplätze für Frauen gibt es vor allem in Ämtern und<br />

Ministerien. Wer für die Regierung arbeitet, darf jedoch kein<br />

Unternehmen besitzen. Will man allerdings eines gründen,<br />

46<br />

Focus 01/2012


Parallelen Rising Talents<br />

so dauern die Genehmigungen bis zu einem Jahr. Firmengründerinnen<br />

sind in dieser Zeit ohne Einkünfte.“<br />

Als Unternehmerin weiß AbuSulayman das aus eigener<br />

Erfahrung. Dennoch ging sie ganz bewusst den Schritt in<br />

die Selbstständigkeit. Sie habe die Modefirma in erster Linie<br />

ins Leben gerufen, um Erfahrungen zu sammeln und<br />

diese an junge Frauen weitergeben zu können. Weil das aber<br />

nicht reicht, will sie nun auch die Gesetze, die Regelungen<br />

und bürokratischen Wege in ihrem Land ändern. Nur dann<br />

sieht sie eine Zukunft für junge Frauen wie ihre beiden<br />

Töchter, die bald ins Berufsleben treten werden.<br />

Sema Sgaier<br />

Betrachtet man die Fotografien, die Sema Sgaier mit Hochleistungskameras<br />

von Proteinen, Hirnzellen und Frühstadien<br />

menschlichen Lebens aufnimmt, merkt man schnell, dass<br />

sich hier der Forschergeist einer brillanten Wissenschaftlerin<br />

mit dem Gespür für Form und Schönheit einer großen Künstlerin<br />

trifft. Zwei Impulse, die eines gemein haben – die Neugier.<br />

Die faszinierenden Fotografien, die eingebunden sind<br />

in Sgaiers beeindruckendes wissenschaftliches Wirken, sind<br />

das Ergebnis eines sehr individuellen Lebenslaufes. Und der<br />

nahm vor vier Jahren eine ganz neue Wendung.<br />

Sema Sgaier wuchs an der libyschen Mittelmeerküste auf.<br />

Als Kind hielt sie sich am liebsten im Wasser auf. Meeresbiologin<br />

wollte sie werden. Ihr Held war Jacques Cousteau,<br />

dessen Unterwasserfilme sie mit ihren Eltern im Fernsehen<br />

sah. Doch es kam anders. Sie zog mit ihrer Familie häufig<br />

um – nach Italien und Ägypten, in die Türkei und die USA.<br />

Und da sie in einer Zeit aufwuchs, in der die gentechnische<br />

Revolution weltweit die Schlagzeilen der Wissenschaftsnachrichten<br />

bestimmte, war sie bald schon in den Bann gezogen<br />

von diesem neuen Forschungsgebiet, das so viel über<br />

die Entwicklung und Eigenschaften insbesondere des Menschen<br />

zu sagen wusste.<br />

Sie studierte Neurowissenschaften, Molekularbiologie<br />

und Genomik an der Brown University in New York sowie in<br />

Harvard. Bald machte sie Entdeckungen, die Aufsehen erregten.<br />

Mit der Methode des Fate Mappings erforschte sie<br />

das Kleinhirn und fand heraus, wie sich die Zentren für Sprache<br />

und Gedächtnis entwickeln. Und sie entdeckte das Gen,<br />

das für die Missbildung Mikrozephalie verantwortlich ist.<br />

Zugleich nahm sie in New York die Chance wahr, ihrer<br />

lang gehegten Leidenschaft für (Dokumentar-)Fotografie<br />

nachzugehen. An der anerkannt besten Fotoschule der Welt,<br />

dem <strong>International</strong> Center of Photography, lernte sie, Geschichten<br />

in Bildern zu erzählen. Weltweit fotografierte sie<br />

Reportagen – freilich ohne dabei ihre intensive wissenschaftliche<br />

Forschungsarbeit zu vernachlässigen. Vor allem<br />

aber entwickelte sie eine Bildsprache, um ihr eigentliches<br />

Feld abzubilden. Mithilfe hochauflösender Zeiss-Kameras<br />

fotografiert sie Vorgänge in den Zellstrukturen von Tier und<br />

Mensch. Ihre Bildfolgen zu den Bewegungen von Gehirnzellen<br />

erinnern an Bilder aus dem All, die ferne Milchstraßen<br />

und Supernovae einfangen.<br />

Vor vier Jahren schlug Sema Sgaier eine ganz neue Richtung<br />

ein. Sie war einst in die Forschung gegangen, um Leben<br />

zu retten. Doch inzwischen hatte sie erkennen müssen, dass<br />

es ein langer Weg ist von der wissenschaftlichen Erkenntnis<br />

bis zu ihrer Umsetzung, und so suchte sie eine größere Nähe<br />

zu den Betroffenen. Deshalb fasste sie den Entschluss, ihr<br />

wissenschaftliches Know-how unmittelbar vor Ort einzubringen,<br />

dort, wo die Probleme besonders groß sind. Seit 2008<br />

arbeitet sie für die Stiftung von Bill und Melinda Gates. Sie<br />

gehört dort zu den Programmverantwortlichen, die in Indien<br />

ein Programm zur Bekämpfung von HIV/Aids leiten. In sechs<br />

indischen Bundesstaaten mit besonders hohen Ansteckungsraten<br />

betreut das Projekt mehr als 300 000 Menschen mit<br />

hohem Risiko. Und das mit Erfolg. Die HIV/Aids-Bekämpfung<br />

in Indien ist eine Erfolgsgeschichte. In weiten Teilen<br />

des Landes ist die Ansteckungsrate ebenso wie die Erkrankung<br />

auf dem Rückzug. Dies ist eine überzeugende Antwort<br />

auf die Fragen, die Sgaier mit ihrer Arbeit bisher gestellt<br />

hat. Vor allem jedoch ist es eine Antwort auf die Frage, wohin<br />

Neugier führen kann.<br />

Talent allein, das zeigen die Biografien von Frauen in vielen<br />

Ländern dieser Welt, reicht oft nicht aus, damit diese<br />

ihr Potenzial ausschöpfen können. Veranstaltungen wie das<br />

Women’s Forum for the Economy and Society und Programme<br />

wie das der „Rising Talents“, das von <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong><br />

und Eurazeo als Partner unterstützt wird, dienen als<br />

wichtige Katalysatoren.<br />

47<br />

Focus 01/2012


Talent<br />

„Pässe spielen, bis dem Gegner<br />

schwindelig wird“<br />

Der FC Barcelona hat mit seiner offensiven Spielphilosophie<br />

mehr Erfolg als jede Vereinsmannschaft<br />

zuvor. Doch die Trophäen sind hart erarbeitet:<br />

ein Besuch in der Fußballakademie „La Masia“.<br />

fotos: getty images, corbis<br />

Es gab Zeiten, in denen Fußball eine Sache des<br />

Rennens und Kämpfens war. „Deutsche Tugenden“<br />

zu besitzen hieß: Wenn die Begabung nicht reichte,<br />

sollte zumindest die Einstellung stimmen, damit<br />

man selbst nach einem miserablen Spiel als Sieger<br />

vom Platz ging. Die sportliche Entwicklung der<br />

letzten Jahre allerdings hat den bewährten Hauruckfußball<br />

infrage gestellt. Ein neues, ganzheitliches<br />

Modell ist entstanden, in dem nicht nur unterschiedlichste<br />

Spielertypen Platz finden, sondern Diversität<br />

und kreative Abweichung geradezu Voraussetzung<br />

für den Erfolg sind.<br />

Von Paul Ingendaay<br />

Der autoritäre Schleifer alter Schule hat ausgedient.<br />

An seine Stelle ist der psychologisch geschulte Trainer<br />

getreten, der von seinem Team genauso viel lernt wie das<br />

Team von ihm. Erst auf diese Weise entsteht Motivation,<br />

die zu Pokalen führt.<br />

Von allen großen Mannschaften, die in den letzten Jahrzehnten<br />

Aufsehen erregten, hat keine mit ihrem Stil so revolutionär<br />

gewirkt wie der FC Barcelona. 14 nationale und internationale<br />

Titel errang „Barça“ von 2008 bis 2012, in der<br />

Etappe des Trainers Josep „Pep“ Guardiola, darunter dreimal<br />

die spanische Meisterschaft, zweimal die Champions<br />

League, zweimal den europäischen Supercup und zweimal<br />

die Weltmeisterschaft der Vereinsmannschaften. Bei einem<br />

dieser Endspiele, im Dezember 2011, düpierte der FC Barcelona<br />

in Yokohama den brasilianischen Meister FC Santos mit<br />

4 : 0. Noch nie wurde ein Team so einmütig als „beste Mannschaft<br />

der Welt“ gefeiert. Drei seiner Stars – Lionel Messi,<br />

Andrés Iniesta und Xavier Hernández – belegten 2010 die<br />

ersten drei Plätze bei der Verleihung des „Ballon d’Or“, der<br />

höchsten individuellen Auszeichnung, die der Weltfußball zu<br />

vergeben hat.<br />

Doch es ist nicht allein der Erfolg, der Fußballfans rund<br />

um den Globus in den Bann des Barça-Stils zieht; es ist die<br />

ästhetische Schönheit des Spiels. Und darin liegt bis heute<br />

etwas Magisches, selbst wenn sich die unglaubliche Passfrequenz<br />

– mehr als 600 gelungene Zuspiele pro Partie – per<br />

Trackingsystem in farbige Computergrafiken übersetzen<br />

lässt, die die Wege des runden Leders entschlüsseln. Die<br />

Barça-Formel wirkt wie die Erfindung von Gentlemen, die<br />

dem Volkssport seine rauen Seiten austreiben wollen, um ihn<br />

in die Nähe von Schach und klassischem Ballett zu rücken.<br />

Die Mannschaft, die solches Lob erntet, sieht ungewöhnlich<br />

aus, um es vorsichtig auszudrücken. Stellen andere<br />

Teams ein paar harte Jungs ins Mittelfeld, um den Aufbau<br />

des Gegners zu stören, läuft der FC Barcelona vorwiegend<br />

48<br />

Focus 01/2012


Parallelen Talent<br />

mit kleinen Leichtgewichten auf, die vor allem eines<br />

können: den Ball zirkulieren lassen. Der niedrige Schwerpunkt<br />

hilft ihnen dabei. Mit Spielern wie Xavi, Messi und<br />

Iniesta – keiner von ihnen misst mehr als 1,70 Meter – ändert<br />

der Fußballwettbewerb plötzlich sein Gesicht: Wer den<br />

Ball hat, kontrolliert das Spiel. Und wer den Ball geradezu<br />

okkupiert und kunstvoll in den eigenen Reihen hält, ist in<br />

der Lage, selbst starke Mannschaften an den Rand der Verzweiflung<br />

zu bringen.<br />

Ganz so einfach, wie es klingt, ist es natürlich nicht. Der<br />

Erfolg des FC Barcelona beruht auf dem Zusammentreffen<br />

mehrerer Faktoren. Seit der Ära des Trainers Johan Cruyff<br />

in den neunziger Jahren pflegt der Verein die Philosophie<br />

des attraktiven Angriffsfußballs, die Fans und Klubführung<br />

geradezu als katalanisches Identitätsmerkmal verteidigen.<br />

Nicht nur in dieser Beziehung ist Barça, so das offizielle<br />

Vereinsmotto, „mehr als ein Klub“. Im Jahr 2008 übernahm<br />

mit Pep Guardiola ein Cruyff-Schützling das Ruder, der unter<br />

dem Niederländer trainiert hatte und dessen Grundregel<br />

im Schlaf beherrschte: vier Verteidiger, drei Mittelfeldspieler,<br />

drei Angreifer. Das auffälligste Merkmal kann man<br />

allerdings nicht sehen, man kann es dem Spiel nur ablesen.<br />

Guardiola, in seiner aktiven Zeit ein begnadeter Organisator<br />

mit der Rückennummer vier, hat genau wie der Großteil<br />

der wichtigsten Barça-Spieler von heute die vereinseigene<br />

Jugendakademie „La Masia“ durchlaufen.<br />

Vom Straßenfußballer zum Weltstar<br />

„La Masia“ bezeichnet ein traditionelles katalanisches Bauernhaus.<br />

Bis Juni 2011 war die inzwischen berühmteste Talentschmiede<br />

der Welt hinter dem Gemäuer eines 300 Jahre alten<br />

Baus in der Nähe des Stadions Camp Nou untergebracht. Die<br />

gut 600 Quadratmeter boten Platz für 45 Zöglinge. Die Ausstattung<br />

war nicht herrschaftlich: Küche, Speisesaal, Aufenthaltsraum,<br />

Bibliothek, Umkleiden, Bäder, Schlafräume. Hier<br />

ging der 13-jährige Pep Guardiola in die Fußballschule und<br />

spielte sich durch alle Jugendkategorien, bis er Kapitän von<br />

Barças A-Mannschaft wurde. Hier wurde Lionel Messi vom<br />

Straßenfußballer zum besten Dribbler, den die Welt je gesehen<br />

hat; der Verein bezahlte dem Jugendlichen die teure Hormonbehandlung,<br />

damit er noch ein paar Zentimeter wuchs.<br />

Auch Xavi, Iniesta, Busquets, Piqué, Rodríguez und Torhüter<br />

Valdés, die Europameister von Polen und der Ukraine, haben<br />

in „La Masia“ gelernt. Was erklärt, warum sie sich auf dem<br />

Platz blind verstehen. Darin liegt ein Teil des Barça-Zaubers:<br />

dass alle dasselbe wollen. Dass sie gemeinsam verteidigen,<br />

gemeinsam angreifen und nie vergessen, mit welchen Mitteln<br />

das geschehen soll.<br />

Der Charme des Improvisierten ist nach dem Umzug<br />

an den nördlichen Stadtrand, in das Viertel San Joan<br />

Das „La Masia Ausbildungszentrum Oriol Tort“ mit seiner<br />

Mischung aus Kargheit und Komfort ist die erfolgreichste Fußballakademie<br />

der Welt. Hier lernen die Stars von morgen<br />

das Siegen, doch auch mit Niederlagen sollen sie umgehen<br />

können. Große Fußballer, so glaubt man beim FC Barcelona,<br />

können auch gute Menschen sein.<br />

Für jeden, der hier sein<br />

darf, sind die Erfolgserwartungen<br />

enorm. Das verlangt<br />

besondere Fürsorge, aber<br />

auch Ordnung und Disziplin.<br />

50<br />

Focus 01/2012


Parallelen Talent<br />

Despí, verschwunden. Die Kaderschmiede nennt sich jetzt<br />

„La Masia Ausbildungszentrum Oriol Tort“ und ehrt mit<br />

ihrem Namen den Mann, der 1979 mit der systematischen<br />

Nachwuchsarbeit begann. Oriol Tort brachte viele Jungkicker<br />

ins erste Team, darunter Guardiola und Xavi Hernández.<br />

Er starb, bevor er den Welterfolg der Mannschaft erleben<br />

konnte, doch er wusste, dass er auf dem richtigen Weg<br />

war. Die Anlage, die nach ihm benannt ist, verfügt über<br />

6 000 Quadratmeter Grundfläche und bietet neben Zimmern<br />

für 120 Sportler, die Hälfte von ihnen Fußballer, viel<br />

Platz für Hobbys und Freizeitgestaltung.<br />

Was eine Sportlerpersönlichkeit ausmacht<br />

Carles Folguera, ein ehemaliger Rollhockeytorwart und seit<br />

2002 Direktor der Akademie, führt uns durch den lichten<br />

Neubau. Bei der Ausstattung herrscht eine Mischung aus<br />

Kargheit und Komfort. Durchs Fenster schaut man auf<br />

die Trainingsplätze. „Für jeden, der hier sein darf, sind die<br />

Erfolgserwartungen enorm“, sagt Folguera. „Das erfordert<br />

besondere Fürsorge. Aber wir müssen den Jugendlichen<br />

auch Ordnung und Disziplin vermitteln.“<br />

Auf den ersten Blick wirkt das Leben im Fußballinternat<br />

nicht aufregend anders. 60 Jungen zwischen zwölf und<br />

18 Jahren haben es geschafft, sich gegen Tausende Bewerber<br />

durchzusetzen. Sie kommen aus Spanien, Kamerun,<br />

Brasilien, Argentinien, dem Senegal oder der Tschechischen<br />

Republik. Werktags stehen die Schüler um 6.45 Uhr<br />

auf, machen die Betten, gehen zum Frühstück und werden<br />

vom Bus in eine nahe gelegene Schule gebracht, wo sie von<br />

8.00 bis 13.30 Uhr Unterricht haben. Um 14.00 Uhr gibt es<br />

Mittagessen, von 15.30 bis 18.00 Uhr ist Hausaufgabenzeit.<br />

Betreuer stehen Tag und Nacht zur Verfügung. Trainiert<br />

wird täglich zwischen 19.00 und 20.45 Uhr.<br />

Vor zehn Jahren sah man es als utopisch an, Lernen und<br />

Hochleistungssport zu verbinden. Doch „La Masia“ hat die<br />

Prioritäten verschoben und Skeptiker eines Besseren belehrt.<br />

40 Prozent von Barças A-Jugend besuchen Vorlesungen.<br />

„Für viele unserer Talente“, sagt Carles Folguera, „ist<br />

das Universitätsstudium eine Sache des Prestiges geworden.<br />

Es ist kein Hindernis mehr, es ist Teil des Wegs zu<br />

einer vollständigen Sportlerpersönlichkeit.“<br />

Denn nicht alle Auserwählten können es schaffen. Deshalb<br />

zählt der Umgang mit dem Scheitern zu den wichtigsten<br />

Lehrinhalten der Akademie. Man brauche, so Folguera,<br />

einen „Plan B“. Der Wertekatalog des Vereins betont es<br />

unermüdlich: Geduld. Demut. Harte Arbeit. Die Eltern der<br />

Hochbegabten müssen es genauso lernen wie ihre Kinder.<br />

Ihnen soll klar werden: Scheitern darf man sich nicht<br />

vorwerfen, wenn man für das Erreichen des Ziels alles<br />

gegeben hat.<br />

Treue zur offensiven Identität<br />

Man konnte diese Lehren wie bei einem Naturschauspiel<br />

studieren, als es in den spanischen Prestigeduellen zwischen<br />

dem FC Barcelona und Real Madrid zur Sache ging. In der<br />

Saison 2011/12 standen sich die beiden Topmannschaften<br />

nicht weniger als sechsmal gegenüber. Der Psychokrieg<br />

zwischen Real-Trainer José Mourinho und Pep Guardiola<br />

fand auf dem Platz seine Fortsetzung, es kam zu Handgreiflichkeiten.<br />

Dabei ging es nicht nur darum, wer den besten<br />

Coach oder den weltbesten Stürmer – Messi oder Cristiano<br />

Ronaldo – in seinen Reihen hatte. Sondern um zwei grundverschiedene<br />

Wertesysteme. Doch wer sich veränderte und<br />

verbog, war der Rekordmeister aus Madrid. Die Katalanen<br />

blieben ihrer offensiven Identität treu. Sie gewannen die<br />

wichtigsten Partien und obendrein die Sympathien der Fußballwelt.<br />

Und was wäre, wenn es mit dem Gewinnen mal nicht so<br />

klappte? Carles Folguera, der eine kaum zu beschreibende<br />

Mischung aus Sanftheit und Stärke ausstrahlt, senkt die<br />

51<br />

Focus 01/2012


Parallelen Talent


Parallelen Talent<br />

Stimme: „In diesem Land wäre es nötig, der Niederlage<br />

Würde zu verleihen. Das steht nicht hoch im Kurs, ich weiß.<br />

Aber unsere Jungs sollen es lernen.“ Es gebe Wichtigeres<br />

als Sieg oder Niederlage, sagt der Leiter von „La Masia“.<br />

Etwa, die Achtung der Menschen zu gewinnen. „Die niederländische<br />

Mannschaft von 1974 und die Brasilianer von<br />

1982 haben keine Titel gewonnen. Aber wir alle erinnern<br />

uns an ihren Fußball. Vielleicht sollten wir dem Prozess<br />

einen höheren Wert beimessen als dem Ergebnis.“<br />

Wir sprechen über Andrés Iniesta, einen der stillen Stars<br />

des FC Barcelona und eine der höchstgeachteten Fußballpersönlichkeiten<br />

des Landes. Iniesta kommt aus Albacete<br />

tief in der Mancha.<br />

„Er hatte es am Anfang schwer“, sagt Folguera. „Sein<br />

Heimweh war so stark, dass er drauf und dran war, ,La Masia‘<br />

wieder zu verlassen.“<br />

Man könnte die Bedeutung der Jugendakademie anhand<br />

vieler Karrieren erzählen, aber am besten beschreibt man<br />

sie am Beispiel von Iniesta. Der Spieler mit dem unscheinbaren<br />

Äußeren kam im Alter von zwölf Jahren in das Fuß-<br />

Die Nachwuchshoffnungen des FC Barcelona aus aller Welt<br />

träumen vom ganz großen Triumph: Aus dem schüchternen<br />

Schüler Andrés Iniesta (Bildmitte unten) wurde ein Nationalspieler<br />

und Champions-League-Gewinner (großes Foto links unten),<br />

der jungen Fußballern als Vorbild dient.<br />

53<br />

Focus 01/2012


Parallelen Talent<br />

Von klein auf lernen<br />

die Jungen, keine Angst vor<br />

dem Ballbesitz zu haben.<br />

Sie sollen den Ball lieben.<br />

ballinternat. In seiner Heimatstadt durfte er immer mit den<br />

Großen spielen, weil er technisch so begabt war. „Im Zweikampf<br />

siegt fast immer der körperlich Stärkere“, sagt Iniesta<br />

über eine wichtige Regel des Barça-Prinzips, die er wegen<br />

seiner schmächtigen Statur schon als Junge verinnerlichte.<br />

„Also müssen wir abspielen, bevor der Gegner da ist. Wir<br />

müssen schneller denken.“<br />

Es gibt wenige Profis, die so unauffällig in die Weltklasse<br />

aufgestiegen sind wie er. Das liegt auch daran, dass „La<br />

Masia“ seinen Weg vorgezeichnet hat. Die Spieler werden<br />

behutsam an die Aufgabe herangeführt, sich gegen die<br />

stärkste Fußballkonkurrenz durchzusetzen. Dabei ist das<br />

Dosieren der Kräfte entscheidend. In seinen ersten beiden<br />

Jahren in Barças Profikader war Iniesta der typische Einwechselspieler.<br />

Zweifel an seiner Robustheit gab es viele,<br />

Zweifel an seiner überragenden Begabung nicht.<br />

Sein Debüt in der Nationalmannschaft erfolgte mit 22 Jahren,<br />

kurz vor der WM in Deutschland. Unter Cheftrainer<br />

Guardiola blühte er auf. 2009 schoss Iniesta das Siegtor beim<br />

wichtigen Champions-League-Halbfinale gegen Chelsea.<br />

Im Jahr darauf erzielte er das entscheidende Tor gegen die<br />

beinharten Niederländer im WM-Finale von Johannesburg.<br />

Und er war der überragende spanische Spieler bei der vergangenen<br />

Europameisterschaft: absolut fit, mit großer Spielvision<br />

und unwiderstehlichen Dribblings.<br />

„Der Erfolg hat ihn nicht verändert“, sagt Folguera über<br />

den 28-Jährigen, von dem es keine markanten Triumphgesten,<br />

kein Schaulaufen des Egos zu berichten gibt. „Andrés<br />

Iniesta ist immer bescheiden geblieben. Und er will dazulernen.“<br />

Doch was genau ist es, was die Jungen in „La Masia“<br />

lernen?<br />

„Sie sollen den Ball lieben.“ Der das sagt, spricht aus tiefster<br />

Überzeugung. Guillermo Amor – mit mehr als 400 Pflichtspielen<br />

einer von Barcelonas Rekordspielern und der stille<br />

Motor im Mittelfeld der Cruyff-Ära – kam schon als Elfjähriger<br />

in die Kaderschmiede. Er blieb volle acht Jahre. Seit 2011<br />

ist der drahtige Mittvierziger beim FC Barcelona Direktor<br />

des Jugendfußballs. Mit den Trainern der unteren Kategorien<br />

steht er im ständigen Austausch, schaut sich an, was die<br />

Kleinen draufhaben, kalkuliert Potenzial und Entwicklungschancen.<br />

Ballbesitz, erklärt Amor, sei der höchste Glaubenssatz.<br />

So hat er selbst es gelernt. So hat es sein Mitspieler Guardiola<br />

praktiziert. Daran glauben sie alle, und notfalls würden<br />

sie, wie sie vor wichtigen Matches betonen, auch „mit diesem<br />

Glauben untergehen“.<br />

„Die meisten Mannschaften“, sagt Amor, „stehen heute<br />

ziemlich gut. Aber die Position allein bringt es nicht. Von<br />

klein auf sollen unsere Jungs lernen, keine Angst vor dem<br />

Ballbesitz zu haben.“ Und dann fällt dieser schöne Satz, der<br />

Barças Philosophie so gut zusammenfasst wie kein anderer.<br />

„Sie sollen den Ball lieben.“<br />

Man braucht dafür technisch starke Spieler, eher Artisten<br />

als Athleten. Das Training der Jugendmannschaften verzichtet<br />

daher auf Kraft- und Ausdauerübungen der alten<br />

Schule. Hier wird fast immer mit dem Ball geübt, gern auf<br />

halbem Spielfeld mit Planquadraten, die den Jungen die<br />

Enge des Raums vorführen und sie zu blitzschnellen Entscheidungen<br />

zwingen. „Es muss immer jemand da sein, um<br />

den Ball zu übernehmen“, sagt Amor. „Das Prinzip heißt,<br />

sich mit dem Ball zu verteidigen statt ohne ihn.“<br />

Die Trainingsmethode in „La Masia“ vereinigt in sich<br />

verschiedene Modelle, auch Erkenntnisse aus anderen<br />

Sportarten wie Handball, Basketball und Rugby. Der frühere<br />

Fitnesscoach Paco Seirullo etwa hat die Barça-Profis<br />

gelehrt, den zugespielten Ball immer mit dem Fuß anzunehmen,<br />

der von der Seite, aus der die Kugel kommt, weiter<br />

entfernt ist. Die Annahme mit dem „ballfernen Fuß“ erlaubt<br />

es dem Spieler, sich mehr Optionen für den folgenden Pass<br />

zu schaffen. Der Ablauf kann so stark beschleunigt werden,<br />

dass die Passfolge den Gegner schwindelig spielt.<br />

Das Guardiola-System lebt<br />

All diese Theorien wären wenig wert, wenn der Verein nicht<br />

auf eine bestimmte Methode setzen und sie langfristig<br />

pflegen würde. Die Berufung von Pep Guardiola zum Nachfolger<br />

des Niederländers Frank Rijkaard als Cheftrainer im<br />

Jahr 2008 stellte eine mutige, aber konsequente Entscheidung<br />

dar. Guardiola hatte bis dahin nur ein einziges Jahr<br />

Im Camp Nou, dem größten Fußballstadion Spaniens,<br />

zelebrieren Woche um Woche fast 100 000 Fans die<br />

Liebe zum Angriffsspiel. Der FC Barcelona ist „mehr als<br />

ein Klub“, er steht für Schönheit, Kreativität und Katalonien.<br />

Lionel Messi, der argentinische Superstar, ist der<br />

berühmteste Adoptivsohn der Stadt.<br />

54<br />

Focus 01/2012


Parallelen Talent<br />

lang die Barça-Amateure trainiert, doch an seinen Fähigkeiten,<br />

seiner Besessenheit zweifelte kaum jemand. Er verwandelte<br />

sich in den erfolgreichsten Trainer-Newcomer der<br />

Fußballgeschichte. Als Guardiola im Frühjahr 2012 bekannt<br />

gab, er werde mit dem Ablauf der Saison zurücktreten, blieb<br />

der Verein seiner Losung treu und besetzte den vakanten Posten<br />

mit Tito Vilanova, Guardiolas langjährigem Assistenten.<br />

Unter den Barça-Profis stieß die Entscheidung auf große Zustimmung.<br />

Sie kennen den neuen Cheftrainer Vilanova seit<br />

Jahren und können darauf vertrauen, dass sich am Erfolgscode<br />

nichts ändert.<br />

Inzwischen glauben allerdings manche Beobachter, Anzeichen<br />

für eine Wachablösung im spanischen Fußball zu<br />

entdecken. Barça verlor im Mai den Meistertitel an Real<br />

Madrid. Der Mythos der Unfehlbarkeit begann zu bröckeln.<br />

Fußball ist auch deswegen so ein aufregendes, unerschöpfliches<br />

Spiel, weil sich die Faktoren Zufall, Glück und Pech<br />

nicht bändigen lassen.<br />

Kurz darauf zeigte sich jedoch, dass das Guardiola-<br />

System lebendiger ist denn je. Während der Fußballeuropameisterschaft<br />

in Polen und der Ukraine triumphierte die<br />

spanische Selección unter Nationaltrainer Vicente del<br />

Bosque. Von Anfang an ist dieses Team als Verlängerung<br />

des katalanischen Modells bezeichnet worden, weil es sich<br />

vor allem auf die Offensivideen des FC Barcelona stützt. Im<br />

Endspiel von Kiew gegen Italien bewiesen die Mittelfeldkräfte<br />

Xavi und Iniesta, dass ihr Fußball immer noch konkurrenzlos<br />

ist.<br />

Die Barça-Fans erkennen sich in der Philosophie des schönen<br />

Spiels wieder. Seit Langem schon. Und nichts spricht<br />

dafür, dass ein Trainer oder Präsident es wagen könnte, diese<br />

anzutasten. Gräbt man noch tiefer, stößt man gar auf eine<br />

moralische Idee, die unabhängig von Pokalen existiert. „Wir<br />

wollen in ,La Masia‘ sehr gute Fußballer und gute Menschen<br />

zugleich heranziehen“, sagt Guillermo Amor. „Denn der Fußball<br />

hört irgendwann auf. Das Leben aber geht weiter.“<br />

Zur Person Paul Ingendaay<br />

Paul Ingendaay, geboren 1961, ist seit 1998 Kulturkorrespondent<br />

der Frankfurter Allgemeinen Zeitung<br />

in Madrid. Er ist Autor der „Gebrauchsanweisung<br />

für Spanien“ (11. Auflage) und der Romane „Warum<br />

du mich verlassen hast“ (2006) und „Die romantischen<br />

Jahre“ (2011). Ingendaay erhielt den Alfred-Kerr-Preis<br />

für Literaturkritik, den aspekte-Preis für das beste<br />

deutschsprachige Debüt und den Niederrheinischen<br />

Literaturpreis.<br />

55<br />

Focus 01/2012


Biodiversität<br />

„Ich glaube, dass wir uns ändern können –<br />

denn das liegt in unserer Natur.“<br />

Edward Osborne Wilson, weltweit renommierter<br />

Evolutionsbiologe, über seinen Kampf für<br />

den Erhalt der Arten<strong>vielfalt</strong><br />

Der Biologe Edward Osborne Wilson zählt zu den<br />

herausragenden Vertretern seiner Disziplin. Seit<br />

Jahrzehnten setzt er sich unablässig für den Schutz<br />

der biologischen Arten<strong>vielfalt</strong> ein. Seine Sorge:<br />

Mit dem Verlust an Biodiversität wird auch der Zugang<br />

zu ungeheuren Mengen bislang kaum erforschten<br />

Wissens verloren gehen. Falls es der Menschheit nicht<br />

gelingt, die Vielfalt des Lebens auf diesem Planeten<br />

zu würdigen und zu schützen, davon ist Wilson fest<br />

überzeugt, werden kommende Generationen dafür<br />

einen hohen Preis zahlen müssen.<br />

Edward Osborne Wilsons Umgang mit der Zeit<br />

dürfte die überwältigende Mehrheit seiner Zeitgenossen in<br />

Erstaunen versetzen. „Ein paar Millionen Jahre“, sagt er, „das<br />

ist doch eine sehr kurze Zeitspanne, finden Sie nicht auch?“<br />

Als Evolutionsbiologe hat Wilson naturgemäß eine ganz besondere<br />

Sicht auf die Dauer von Entwicklungen. „Erst vor<br />

zwei bis drei Millionen Jahren tauchte plötzlich der Mensch<br />

in einer primitiven Form auf der Erde auf, die da schon einige<br />

Milliarden Jahre existierte“, erklärt der amerikanische Wissenschaftler.<br />

Das Erschreckende sei, welch verheerende Wirkung<br />

der Mensch in dieser vergleichsweise kurzen Zeitspanne<br />

ausgeübt hat. „Wenn wir die verbleibenden natürlichen<br />

Lebensräume weiterhin so erschließen und ausbeuten wie<br />

bisher, werden wir allein bis zum Ende dieses Jahrhunderts<br />

fast die Hälfte des Artenbestands der Erde verlieren oder zumindest<br />

an den Rand des Aussterbens bringen.“<br />

Von Ameisen und Menschen<br />

Fotos: corbis<br />

Die Erforschung der Wirkung des Menschen auf seine belebte<br />

Umwelt ist das wissenschaftliche Lebenswerk des<br />

83-Jährigen, den das Nachrichtenmagazin TIME vor einigen<br />

Jahren zu den 25 einflussreichsten Persönlichkeiten Nordamerikas<br />

zählte. Auslöser für sein Interesse an der Biologie<br />

war ein körperliches Handicap während seiner Kindheit.<br />

Wilson war schwerhörig und außerdem halb blind. Er war<br />

gezwungen, sich mit etwas zu beschäftigten, das er aus<br />

nächster Nähe betrachten konnte – und entschied sich für<br />

Ameisen. Bis heute gibt es niemanden, der mehr über diese<br />

winzigen Wesen weiß als Wilson.<br />

Sein geduldiges Beobachten von Ameisen ließ ihn Theorien<br />

zur biologischen Evolution entwickeln, die umfassend<br />

genug sind, um alle Lebewesen abzudecken – die Menschheit<br />

eingeschlossen. Im Kern seiner Theorien steht dabei die<br />

zentrale Rolle der Biodiversität.<br />

In seinem neuesten Buch „The Social Conquest of Earth“<br />

beschäftigt sich Wilson mit den Ursprüngen des Sozialver-<br />

56<br />

Focus 01/2012


Parallelen Biodiversität<br />

haltens bei Menschen und anderen Lebewesen (beispielsweise<br />

Ameisen) und geht der Frage nach, wie dieses Verhalten<br />

unser derzeitiges Dilemma widerspiegelt. Denn wie gelang<br />

es einer kleinen Gruppe höher entwickelter Primaten, sich<br />

von Ostafrika aus über den gesamten Erdball zu verbreiten<br />

und auf eine Zahl von sieben Milliarden anzuwachsen? Und<br />

wie ist es möglich, dass gerade wir Menschen die biologische<br />

Fruchtbarkeit der Erde so sehr gefährden, wo doch das<br />

Überleben und die Fortentwicklung unserer Spezies maßgeblich<br />

von deren Vielfalt abhängen?<br />

Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten haben Millionen<br />

von Jahren gebraucht, um ihren heutigen Entwicklungsstand<br />

zu erreichen. Dabei haben sie das Ökosystem der Erde<br />

nicht nennenswert beeinflusst. Die Menschen hingegen sind<br />

innerhalb von zwei bis drei Millionen Jahren zu dem geworden,<br />

was sie heute sind – also sehr schnell, zumindest nach<br />

evolutionsgeschichtlichen Gesichtspunkten. „Die Menschheit<br />

richtet so viel Schaden an, weil sie noch Fuß fasst“, ist<br />

Wilson überzeugt, „und weil sie sich ihrer Fähigkeiten erst<br />

langsam bewusst wird.“<br />

Die Anfälligkeit der Arten<strong>vielfalt</strong><br />

„Meines Erachtens ist die Frage der Arten<strong>vielfalt</strong> in quantitativer<br />

wie qualitativer Hinsicht essenziell für jeden Aspekt<br />

menschlichen Handelns“, erklärt Wilson. Und doch stellt aus<br />

seiner Sicht der Einfluss unserer Spezies auf eben diese Vielfalt<br />

die größte Bedrohung für unsere Zukunft dar. Denn in<br />

den vier Milliarden Jahren, in denen es Leben auf der Erde<br />

gibt, kam es fünfmal zu einem massiven Artensterben. Und<br />

derzeit befinden wir uns inmitten einer sechsten Welle des<br />

Massensterbens, die allein durch menschliches Tun verursacht<br />

wird. Die Geschwindigkeit, in der Arten aussterben, ist<br />

heute rund eintausendmal höher als noch vor 200 Jahren.<br />

Die Anzahl der heute bekannten Arten an Pflanzen, Tieren<br />

und Mikroorganismen beläuft sich auf ungefähr 1,9 Millionen.<br />

Doch laut Wilson liegt der reale Wert vermutlich viel<br />

höher – bei weit über fünf Millionen oder sogar noch mehr.<br />

Ständig werden neue Spezies entdeckt. „Wir können die Lebensqualität<br />

der Menschheit auf lange Sicht nur dann erhalten<br />

oder verbessern, wenn die Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit<br />

der uns umgebenden Lebensformen gewährleistet<br />

sind“, so Wilson. „Doch damit die anderen Arten sich<br />

weiter gut entwickeln – oder wenigstens fortbestehen –,<br />

muss die Menschheit die Vielfalt der jetzt noch existierenden<br />

Lebensformen so weit wie nur möglich erhalten.“<br />

Mit der fortschreitenden Zerstörung der Regenwälder –<br />

oftmals als Hotspots der biologischen Vielfalt oder „Lebensrauminseln“<br />

in einem von menschlichen Eingriffen geprägten<br />

Umfeld bezeichnet – werden Arten, die seit vielen Millionen<br />

Jahren existiert haben, mit alarmierender Geschwindigkeit<br />

ausgerottet. Zugleich werden jene Lebensformen<br />

genetisch eingeschränkt, die bis jetzt überleben konnten.<br />

Doch es müssen gar nicht Tausende von Arten bedroht sein,<br />

um ein ganzes Ökosystem zu zerstören – das geht unglücklicherweise<br />

viel einfacher.<br />

Genau genommen reicht bereits das Auslöschen der sogenannten<br />

Schlüsselart (in Anlehnung an „Keystone“, die Bezeichnung<br />

für den tragenden Scheitelstein in einem Rundbogen),<br />

um ein Ökosystem zum Kollaps zu bringen. „Auch<br />

wenn diese Art in einem bestimmten Ökosystem nur eine<br />

unter Tausenden sein mag, kann ihre Gesundheit für den Fortbestand<br />

des gesamten Systems maßgebend sein“, so Wilson.<br />

Als Beispiel führt er den amerikanischen Küstenotter an.<br />

Dieser wurde seines Pelzes wegen fast bis zur Ausrottung gejagt<br />

– und damit verschwanden auch die natürlichen Feinde<br />

der Seeigel. Diese vermehrten sich daraufhin in einem solchen<br />

Ausmaß, dass sie die küstennahen Seetangwälder, eine<br />

Brutstätte für viele Arten von Meerestieren, nahezu zerstörten<br />

und so zu einer Belastung für das Ökosystem wurden. „Es<br />

58<br />

Focus 01/2012


Parallelen Biodiversität<br />

kam fast zur Katastrophe“, erklärt Wilson. „Erst nachdem die<br />

Jagd auf die Otter eingestellt wurde und sie sich wieder ansiedelten,<br />

kehrte auch der Seetang langsam zurück.“<br />

Zusammenarbeit mit der Wirtschaft<br />

Über die sichtbaren Schäden hinaus geht mit der Zerstörung<br />

von Ökosystemen und der Ausrottung verschiedener Arten<br />

auch ein kaum abschätzbarer Fundus an genetischen Informationen<br />

verloren – und damit deren potenzieller Nutzen<br />

für Landwirtschaft, Technik und Medizin.<br />

In einem ersten Schritt setzt sich Wilson – im Rahmen<br />

seiner Stiftung, der E. O. Wilson Biodiversity Foundation –<br />

für den Erhalt von 35 Hotspots für biologische Vielfalt<br />

ein. Diese – zum Beispiel die Wälder von Madagaskar, das<br />

Amazonas- und das Kongobecken – machen gerade einmal<br />

1,5 Prozent der weltweiten Landfläche aus, beherbergen<br />

jedoch 60 Prozent des Artenbestandes der Erde. „Mit rund<br />

50 Milliarden Dollar für den Schutz der Hotspots könnten<br />

wir die Hälfte der uns bekannten bedrohten Arten retten“, so<br />

Wilson. „Unterstützt man zum Beispiel die Menschen, die<br />

in und um die Gebiete herum leben, bei der Entwicklung<br />

ihrer lokalen Wirtschaftssysteme, schafft man gleichzeitig<br />

einen Anreiz für sie, die Schutzmaßnahmen mitzutragen.“<br />

Für Wilson ist die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft<br />

eine logische Konsequenz seines Engagements für den Erhalt<br />

der Ökosysteme. „Ein großer Teil unserer Medikamente<br />

basiert auf natürlichen Inhaltsstoffen. Und wir können davon<br />

ausgehen, dass es unentdeckte Wirksubstanzen geben<br />

muss, die für die Medizin von maßgeblicher Bedeutung<br />

sein könnten. Die Biotechnologie steckt noch in ihren Anfängen<br />

– ihr Fortschritt ist auch von den weiterführenden<br />

Erkenntnissen in Bezug auf die Biodiversität abhängig.“<br />

Ökologisch verantwortungsbewusstes Handeln bedeutet<br />

auch die Vermeidung wirtschaftlicher Schäden. Wilson<br />

weist darauf hin, dass ein großer Teil der verheerenden Zerstörungen<br />

durch den Wirbelsturm Katrina, der 2005 in New<br />

Zur Person Edward Osborne Wilson<br />

Edward Osborne Wilson wurde 1929 im Süden der Vereinigten<br />

Staaten geboren. Nach einem Abschluss an<br />

der Universität Alabama promovierte er in Harvard, wo<br />

er mit 26 Jahren eines der jüngsten Mitglieder der biologischen<br />

Fakultät wurde. Schnell wurde er zu einem<br />

der bekanntesten Biologen – und dem größten Experten<br />

in Sachen Ameisen – weltweit. Er veröffentlichte zahlreiche<br />

Bücher, von denen zwei mit dem Pulitzerpreis<br />

ausgezeichnet wurden. Wilson ist bekannt für seinen<br />

ebenso eleganten wie zugänglichen Schreibstil.<br />

Orleans und an weiten Teilen der Golfküste wütete und nahezu<br />

2 000 Menschen das Leben kostete, hätte vermieden<br />

werden können, wenn die waldreichen vorgelagerten Inseln<br />

und die natürliche Küstenbewaldung unerschlossen geblieben<br />

wären. Diese Waldökosysteme werden als „ökologische<br />

Dienstleister“ bezeichnet – verschwinden sie, hat dies kostenintensive<br />

Folgen.<br />

„Ethischem Verhalten kommt beim Schutz der ökologischen<br />

Vielfalt der Erde ebenfalls eine zentrale Bedeutung<br />

zu“, ergänzt er. „Nehmen wir an, dass es so etwas wie Wirtschaftsethik<br />

gibt, so wie menschliche Ethik und die Liebe<br />

der Menschen zum Leben. Wenn uns also ethische Belange<br />

und diese schwer messbaren menschlichen Werte bei der<br />

Unternehmens- und Wirtschaftsentwicklung so wichtig<br />

sind, sollte Ethik auch eine maßgebliche Rolle spielen,<br />

wenn es um die Verantwortung der Wirtschaft beim Schutz<br />

der Umwelt geht.“<br />

Altruistische Gruppen auf dem Vormarsch<br />

Wilson gibt freiheraus zu, dass Menschen von Ameisen<br />

nicht viel lernen können, wenn es um Eigenschaften geht,<br />

die wir gerne mit unserer Spezies in Verbindung bringen,<br />

wie beispielsweise Moral und gutes Verhalten. „Wir sollten<br />

auch gar keine Ameisen sein wollen“, sagt er. „In deren Gesellschaften<br />

gibt es nur ein Geschlecht, das weibliche, und<br />

sie befinden sich ständig im Kriegszustand – noch viel häufiger<br />

als die Menschen.“ Allerdings lassen sich Ameisen<br />

sinnvoll dazu heranziehen, wenn es um die Betrachtung der<br />

menschlichen Natur geht.<br />

Gemäß Wilsons neuesten Erkenntnissen könnte nämlich<br />

die Entwicklung bestimmter Gruppeneigenschaften die<br />

Rettung unserer Spezies – und hoffentlich der Erde – bedeuten.<br />

Eigenschaften wie zum Beispiel Kooperation und Altruismus<br />

versprechen entwicklungsgeschichtlichen Erfolg:<br />

„Egoistische Individuen haben innerhalb von Gruppen Erfolg.<br />

Doch Gruppen, die aus altruistischen Individuen bestehen,<br />

sind Gruppen von egoistischen Individuen überlegen“,<br />

erklärt Wilson. „Die Gruppenselektion ist der Ansatz,<br />

wo die sogenannten Stärken und Tugenden der menschlichen<br />

Gesellschaft zum Zuge kommen.“<br />

Aus diesem Grund bleibt Wilson optimistisch. „Ich glaube,<br />

dass wir uns ändern können – denn das liegt in unserer<br />

Natur. Was unseren Umgang mit der Umwelt angeht, haben<br />

wir so gut wie versagt. Doch jetzt spüren und begreifen wir<br />

die Notwendigkeit, Vernunft und Wissenschaft einzusetzen,<br />

um die Situation zu verbessern.“ Oder um es mit den Worten<br />

des israelischen Politikers Abba Eban während des<br />

Sechstagekriegs von 1967 zu sagen: „Die Geschichte lehrt,<br />

dass sich Menschen und Nationen erst dann klug verhalten,<br />

wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind.“<br />

59<br />

Focus 01/2012


Dialog<br />

„Ob Frau oder Mann, das ist erst einmal ganz<br />

egal, auf der Bühne brauchen wir beide.“<br />

Karsten Ottenberg, CEO von Giesecke & Devrient,<br />

und der Intendant des Münchner Volkstheaters,<br />

Christian Stückl, über Passion und Professionalität,<br />

Stallgeruch und das Aroma der globalen Arena<br />

Fotos: Robert Fischer<br />

Sind Shakespeare und SIM-Karte nur zwei Seiten einer<br />

Münze, und wie heißt die Währung, mit der bezahlt<br />

wird, wenn es darum geht, sich als Player auf den Weltmärkten<br />

im Spiel zu halten? Wie findet man einfache<br />

Lösungen in einer komplizierten Welt, deren Veränderungsdruck<br />

in immer rasanterer Geschwindigkeit daherkommt?<br />

Wie können wir uns heute schon darauf vorbereiten,<br />

auch morgen noch zu überleben? In welcher<br />

Rollenbesetzung kommt Kreativität zur Explosion? Wie<br />

kommt der Mensch in den Mittelpunkt, und wie kann<br />

er sich dann doch als Teil des Teams zurücknehmen?<br />

Wie unterschiedlich müssen wir sein, um ein gemeinsames<br />

Ziel zu erreichen? Und wie schließlich finden<br />

die antagonistischen Kräfte zu einer harmonischen Gesamtsituation?<br />

Ein leidenschaftlicher Dialog zwischen<br />

Karsten Ottenberg und Christian Stückl.<br />

Karsten Ottenberg: Sie haben das Münchner Volkstheater<br />

in einen Ort des Erfolgs verwandelt. Ihre eigensinnigen Inszenierungen<br />

finden im breiten Spektrum zwischen Avantgarde<br />

und Populärkultur statt. Wie machen Sie das, Individualität<br />

und Masse unter einen Hut zu bekommen?<br />

Christian Stückl: Meine Art, Theater zu machen, ist ganz<br />

und gar geprägt von Oberammergau. Ich bin dort in einem<br />

Wirtshaus aufgewachsen und habe schon von klein auf Vater<br />

und Großvater über das Passionsspiel diskutieren hören.<br />

Als Kind holte ich mir immer ein Kostüm und stellte mich<br />

hartnäckig in jede Szene; dafür habe ich schon mal eine gelangt<br />

gekriegt.<br />

Ottenberg: Ausdauer und Resilienz sind also mit im Spiel.<br />

Stückl: Ich hab sehr früh gespürt, dass meine Bestimmung<br />

im Theatermachen liegt. Als ich 15 war, gab es den Versuch,<br />

ein neues Passionsspiel auf die Beine zu stellen – da erkor<br />

ich mich selbst zum Regieassistenten. Mir war damals schon<br />

klar: Ich will kein Jesus werden. Ich will Chef sein – Spielleiter,<br />

Regisseur.<br />

Ottenberg: Lief das so selbstverständlich, wie Sie sich das<br />

vorstellten?<br />

Stückl: All meine Vorgänger im Amt des Spielleiters waren<br />

Bildhauer. Klar hielt ich es da für logisch, auch Bildhauerei<br />

zu studieren. Das war ein Trugschluss, und ich musste mir<br />

bald eingestehen: Das ist es nicht. Mit 24 bewarb ich mich<br />

dann als Passionsspielleiter in Oberammergau und bin es<br />

tatsächlich geworden; der jüngste, den es je gab.<br />

Ottenberg: Ist es nicht unendlich mühsamer, mit Laienschauspielern<br />

zu arbeiten anstatt mit Profis?<br />

Stückl: Ich habe nie darüber nachgedacht, ob das Laien sind<br />

oder Berufsschauspieler, mit denen ich inszeniere. Dazu<br />

kam, dass ich nie Angst hatte vor einer großen Menge. Ein<br />

Glück, denn das Passionsspiel hat Szenen mit 700, 800,<br />

900 Leuten auf der Bühne.<br />

Ottenberg: Erlitten Sie dann einen Kulturschock, als Sie später<br />

Regieassistent an den Münchner Kammerspielen wurden?<br />

60<br />

Focus 01/2012


„Dass jemand wie<br />

im Theaterstück<br />

die Narrenkappe<br />

aufhat und ständig<br />

querfunkt, ist für<br />

ein Team kein dauerhaftes<br />

Modell.“


Parallelen Dialog<br />

zur person Dr. Karsten Ottenberg<br />

Es ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch, dass<br />

der gebürtige Hamburger im lebensfrohen Süden<br />

der Republik, in München nämlich, arbeitet. Seit 2005<br />

Vorsitzender der Geschäftsführung von Giesecke &<br />

Devrient (G&D), gemeinhin als die Firma der Gelddrucker<br />

bekannt, braucht er dort zwingend die verpflichtenden<br />

Eigenschaften des Hanseaten: hundertprozentige<br />

Diskretion und die Tugenden des ehrbaren Kaufmanns.<br />

Natürlich produziert G&D viel mehr als Banknoten,<br />

Chips für Kreditkarten und Smartphones etwa, und der<br />

studierte Physiker, Mathematiker und Informatiker<br />

schaut weit über den Tellerrand der MINT-Fächer hinaus.<br />

Er ist auch Mitglied der Forschungsunion, des<br />

Beratergremiums der Bundesregierung für Innovation<br />

im Land, außerdem begleitet er als Vizepräsident die<br />

stiftung neue verantwortung. Ottenberg ist verheiratet<br />

und Vater einer Tochter und eines Sohnes.<br />

Stückl: Dass die Arbeit mit einem Laien eine völlig andere<br />

ist als die mit einem Berufsschauspieler, habe ich erst im<br />

Nachhinein gemerkt. Während ein Profi anbietet, muss man<br />

den Laien aus der Reserve locken. Das ist schon ein gewaltiger<br />

Unterschied. In einem Unternehmen hingegen arbeiten<br />

nur Profis, so denkt man sich das zumindest.<br />

Ottenberg: Die Vielfalt liegt bei uns, im Menschen selbst.<br />

So verschieden jeder Einzelne ist, so unterschiedlich geht<br />

auch jeder an die Aufgaben heran. Um die zu bewältigen,<br />

braucht es einen Kompetenz-Cocktail. Stellen Sie sich nur<br />

einmal vor, in einem Team von sechs Personen zum Beispiel<br />

wären alle gleich gepolt.<br />

Stückl: Das kann und darf nicht sein!<br />

Ottenberg: Ob Alter, Nationalität, Geschlecht, Können,<br />

Sozialkompetenz – um was auch immer es geht, wir brauchen<br />

Individualität. Die Frage ist nur: Wie viel ergibt die<br />

perfekte Mischung?<br />

Stückl: Eines ist gewiss, kein Metier kommt ohne die Kreativen<br />

aus.<br />

Ottenberg: Natürlich kommt kein Team ohne sie aus. Wichtig<br />

sind aber genauso die Umsetzer, die die Dinge zu Ende<br />

bringen; es braucht auch ein Gespür für die Gruppe als solche<br />

genauso wie für die interkulturelle Vielfalt, der wir in den<br />

weltweiten Märkten begegnen.<br />

Das Überleben eines Unternehmens hängt davon ab, wie es<br />

mit den dramatischen Veränderungen der ökonomischen<br />

Umwelt zurande kommt und sein Geschäft in einer globalen<br />

Welt mit globalen, regionalen und lokalen Märkten ständig<br />

neu definiert. Deshalb ist interkulturelle Vielfalt für uns festgeschrieben<br />

wie in einem Drehbuch.<br />

Stückl: Ob Frau oder Mann, das ist im Theater erst einmal<br />

ganz egal, auf der Bühne brauchen wir beide. Wenn uns ein<br />

Schauspieler verlässt, wird er ersetzt. Geht eine Schauspielerin,<br />

so holen wir eine neue. Im Gegensatz zu manchem Wirtschaftsbetrieb<br />

haben wir da überhaupt keine Schwierigkeiten.<br />

Viel spannender finde ich individuelle Initiativen. Vor<br />

zwei Jahren zum Beispiel kam ein türkischer Jugendlicher<br />

zu mir und sagte: „Ich habe dich beim Theatermachen beobachtet.<br />

Ich will das auch machen.“ Und mittlerweile arbeitet<br />

er tatsächlich bei uns als Regisseur.<br />

Ottenberg: Wir leben Vielfalt nicht als Selbstzweck, sondern<br />

als Teil einer Unternehmensstrategie.<br />

Stückl: Steht denn die Fachkompetenz nicht an oberster<br />

Stelle?<br />

Ottenberg: Auch die verändert sich ständig. Wenn wir neue<br />

Geschäftsfelder erschließen, brauchen wir Mitarbeiter mit<br />

ganz neuen Qualifikationen, zusätzlich zu denen, die unsere<br />

traditionellen Produkte entwickeln, herstellen und verkaufen.<br />

Die Herausforderung für die Unternehmensführung<br />

liegt darin, ein Drehbuch zu schreiben und dann alle Rollen<br />

optimal zu besetzen.<br />

Stückl: Kommt darin auch die Rolle des Querdenkers vor?<br />

Ottenberg: An den richtigen Stellen zum richtigen Zeitpunkt<br />

sind Querdenker wichtig. Dass aber jemand wie im<br />

Theaterstück die Narrenkappe aufhat und ständig querfunkt,<br />

ist für ein Team kein dauerhaftes Modell. Wie stellen Sie<br />

Ihr Ensemble zusammen?<br />

Stückl: Ich sauge alle nur erreichbaren Impulse auf. Zum<br />

Beispiel fahre ich jedes Jahr über Land und halte in den<br />

Schauspielschulen Ausschau nach den besten Schülern und<br />

Studenten. Der erste Anreiz muss sein, dass es mich reizt,<br />

mit jemandem zu diskutieren. Unsere Arbeit bringt uns nur<br />

weiter, wenn man sich auseinandersetzt. Ich hole mir auch<br />

nur solche Regisseure dazu, die etwas machen, was ich<br />

nicht kann.<br />

Ottenberg: Daran könnten sich Führungskräfte durchaus<br />

ein Beispiel nehmen.<br />

Stückl: Gerade habe ich einen, der bringt so viel Eigensinn<br />

mit, dass es manchmal unerträglich ist für das Haus; er denkt<br />

so schräg und bringt alles durcheinander. Ich muss ununterbrochen<br />

Sitzungen abhalten und alle beruhigen, weil der das<br />

ganze Haus unter Wasser setzt. Ich liebe seine Art zu arbeiten,<br />

und trotzdem gilt bei uns am Theater wie auch in jedem<br />

anderen Betrieb: Ich bin der Chef und muss alle auf Linie<br />

halten und aufpassen, dass er mir nicht alles sprengt.<br />

Ottenberg: Sobald Sie etwas ganz Neues machen wollen,<br />

müssen Sie solche Freiräume schaffen. Wir haben das getan,<br />

als wir zum Beispiel vor sechs Jahren den Fuß in die<br />

Handywelt setzten. Da kam eine ganz neue Smartphone-<br />

Technologie mit einer viel komplexeren Anwendungswelt,<br />

und plötzlich entstanden völlig neue Märkte, die die alten<br />

auch infrage stellten.<br />

63<br />

Focus 01/2012


Parallelen Dialog<br />

Stückl: Und dann scheint plötzlich alles möglich?<br />

Ottenberg: Diesen Erneuerungsprozess schaffen sie nicht<br />

aus dem eigenen Saft heraus. Das braucht neue Leute, die<br />

alles durcheinanderwirbeln. Am Ende muss aber aus dem<br />

Chaos, das man bewusst angezettelt hat, wieder eine geordnete<br />

Einheit entstehen. Deshalb gilt gerade in Zeiten dramatischer<br />

Veränderung, dass die wichtigen Positionen richtig<br />

besetzt sein müssen. Da zeigt sich dann, ob man ein gutes<br />

Händchen hatte.<br />

Stückl: Für meine Entscheidungen ist der erste Eindruck<br />

ausschlaggebend. Manchmal kommt ein Schauspieler zur<br />

Tür herein und ich spüre sofort eine Ausstrahlung, wie ich<br />

sie haben will. Trotzdem mache ich es mir zum Prinzip,<br />

nicht allein zu engagieren. Ich ziehe meine Dramaturgen<br />

hinzu und beobachte dann, wie die reagieren.<br />

Ottenberg: Vertrauen Sie Ihrem Instinkt nicht?<br />

Stückl: Du bist immer in der Gefahr, dass du dich in irgendetwas<br />

verguckst, auf das die anderen gar nicht ansprechen.<br />

Ich hole meine Regisseure von außen, und die müssen dann<br />

mit meinen Leuten umgehen. Da macht es mir total Spaß zu<br />

sehen, wie meine Leute schwitzen, weil sie mit dieser oder<br />

jener Art, Regie zu führen, erst einmal gar nichts anfangen<br />

können. Ich sage dann: Setzt euch dem aus, das bringt euch<br />

weiter. Eine derartige Herausforderung kann ich nur eingehen,<br />

weil ich um den inneren Zusammenhalt des Teams<br />

weiß. Wenn es aber intern schon bröselt und du bringst einen<br />

Querschläger rein, haust du das ganze Gefüge auseinander.<br />

Ottenberg: Wichtig ist der Rahmen, den sie vorgeben, und<br />

das Signal: „Das ist das Ziel.“ Genau das muss auch ein Unternehmen<br />

samt seiner Führung ausstrahlen. Wenn sie ständig<br />

erklären müssen, wofür sie stehen und warum sie etwas<br />

zur person Christian Stückl<br />

Was wäre die Münchner Theaterszene ohne ihren oberbayerischen<br />

Haudegen?! Der gebürtige Oberammergauer<br />

ist mit den Passionsspielen aufgewachsen, und er gilt<br />

heute als deren großer Reformator. Als junger Mann<br />

gründete er ein Laientheater und nahm sich auf seine<br />

Weise der Klassiker an: vom eingebildeten Kranken<br />

über Tartuffe bis Woyzeck. Zufällig sah der namhafte<br />

Publizist Erich Kuby seinen Sommernachtstraum. In der<br />

Folge holte Dieter Dorn das Original an die Münchner<br />

Kammerspiele, wo sich Stückl fast ein Jahrzehnt lang<br />

austobte und vielfach ausgezeichnet wurde. Daneben<br />

inszenierte er als Gastregisseur an vielen deutschen<br />

Bühnen, aber auch in Indien und den Jedermann in Salzburg.<br />

1996 eröffnete er die Fußballweltmeisterschaft.<br />

Seit einer Dekade schon ist er Intendant am Münchner<br />

Volkstheater. Er lebt nach wie vor in Oberammergau<br />

und ist mit dem Theater verheiratet.<br />

so und so wollen, sind sie in der Komplexität der Führungsaufgabe<br />

schon verloren.<br />

Stückl: Dieser Rahmen darf aber nicht allzu fest zementiert<br />

sein. Man muss die eigene Komfortzone verlassen, selbst auf<br />

die Gefahr hin, dass alles ganz schön mühsam werden kann.<br />

Ottenberg: Ein Unternehmen braucht einen klaren Verhaltenskodex<br />

und Werte, wie man im Team miteinander umgeht.<br />

Bei uns steht Vertrauen an oberster Stelle. Firmen haben<br />

unterschiedliche Kulturen. Nehmen Sie zum Beispiel<br />

Intel, dort gilt eine starke Konfrontationskultur. Wenn man<br />

diesen Prozess richtig managt, kann das erfolgreich sein.<br />

Das lässt sich aber nicht beliebig übertragen.<br />

Stückl: Kommen Sie gelegentlich an Ihre Grenzen, Widersprüche<br />

auszuhalten?<br />

Ottenberg: Es gibt immer wieder Widerspruch, der an die<br />

Substanz geht. Dann fragt man sich: Bringt uns das weiter?<br />

Trotzdem gilt letztendlich: „Disagree und execute“ – dieses<br />

Prinzip muss funktionieren.<br />

Stückl: Sie benutzen oft das Wort „funktionieren“. Ich muss<br />

meine Schauspieler eigentlich ununterbrochen dazu bringen,<br />

über sich selbst hinauszuwachsen. Damit kommt man automatisch<br />

an die Verletzlichkeit eines Menschen. Wenn du ihn<br />

aber immer drängst, dann macht er natürlich zu.<br />

Ottenberg: Druck motiviert bekanntlich niemanden dauerhaft.<br />

Stückl: Und doch ist Druck immer mit im Spiel. Sie haben<br />

für Ihr Unternehmen ein klares Ziel, das Sie erreichen wollen,<br />

und wir am Theater brauchen einen vollen Zuschauerraum.<br />

Wir starten alle sechs Wochen mit einem neuen Stück,<br />

und jedes Mal soll etwas Außergewöhnliches passieren.<br />

Ottenberg: Die richtige Mischung zu finden ist existenziell<br />

im Ringen um Widerspruchskultur. Wir haben zum Beispiel<br />

einen neuen Geschäftsbereich gegründet, „New Business“.<br />

Er hat seine eigenen Ressourcen und seinen eigenen Auftrag<br />

bekommen, neue Geschäftsfelder zu entwickeln, auch<br />

im Konflikt mit den alten. Dieser kleine Bereich musste direkt<br />

dem Regisseur unterstellt werden. Warum? Weil er<br />

Welpenschutz braucht, sonst hätten ihn die Großtanker einfach<br />

überfahren.<br />

Stückl: Es ist nicht immer so dramatisch. Manchmal geht es<br />

nur darum, die Spielfreude herauszukitzeln, damit jemand<br />

über sich selbst hinauswächst. Ich sage dann meinem Schauspieler:<br />

„Du benimmst dich, als ob du einen Bach vor dir hast<br />

und drüberspringen willst. Aber dann nimmst du doch die<br />

Steine und gehst über die. Der Nervenkitzel passiert aber nur,<br />

wenn du Mut zeigst, dich traust und wirklich springst.“ Das ist<br />

unser Ziel, dieses permanente „Über-etwas-Drüberspringen“.<br />

Ottenberg: In jedem einzelnen Stück die letzten Dinge herauszufordern<br />

ist bei Ihnen präsenter. Uns geht es darum,<br />

Talente aufzuspüren. Am Standort Deutschland fehlen zunehmend<br />

die Fachkräfte mit genau den Qualifikationen, die<br />

64<br />

Focus 01/2012


„Als Chef bist du<br />

immer in der Gefahr,<br />

dass du dich in irgendetwas<br />

verguckst,<br />

auf das die anderen<br />

gar nicht ansprechen.“


„Am Ende muss aus dem<br />

Chaos, das man bewusst angezettelt<br />

hat, wieder eine<br />

geordnete Einheit entstehen.“<br />

Karsten Ottenberg<br />

wir brauchen. Ingenieure sind das bekannteste Beispiel, das<br />

Problem wird aber breiter werden. Wir nehmen jetzt Ingenieure<br />

aus Spanien, weil es für junge Menschen dort sehr<br />

schwierig wird, Anschluss im Beruf zu finden, auch für<br />

Hochqualifizierte. Dann stellt sich die Frage: Haben die<br />

Lust, zu uns zu kommen? Oder produzieren wir vor Ort?<br />

Das sind grundlegende Entscheidungen.<br />

Stückl: In unserer Branche ist es genau andersherum. Es<br />

werden viel zu viele Schauspieler ausgebildet; vor allen<br />

Dingen Frauen, das ist der schiere Wahnsinn! Bei den Regisseuren<br />

gibt es heute eine Ausbildung – die mir auch sehr<br />

wichtig erscheint –, doch oft frage ich mich, ob die Auswahlkriterien<br />

die richtigen sind. An einigen Regieschulen wird<br />

das Abitur verlangt. Ich finde dies genauso unsinnig wie bei<br />

einem Priester. Fantasie und Kreativität muss man an anderen<br />

Dingen messen.<br />

Ottenberg: Für Sie sind das Berufe aus Berufung?<br />

Stückl: Ja. Jetzt geht man damit fast um wie in der Wirtschaft,<br />

mit Fragen wie: Soll einer Stadttheater-kompatibel<br />

ausgebildet werden oder als Künstler? Ein Regisseur muss<br />

doch beides können, auf seine ganz eigene Art Geschichten<br />

erzählen und die Menschen damit erreichen. Heute sitzen<br />

junge Schauspieler am Tisch und sagen: „Ich war auf der<br />

Otto Falckenberg Schule.“ Oder: „Ich war an der Ernst-<br />

Busch-Schule. Ich habe ein Diplom. Ich bin Diplomschauspieler.“<br />

Und bei der ersten Szene, die mir dann so einer auf<br />

der Bühne spielt, versagt er. Im Theater brauchen wir kein<br />

Diplom, wir brauchen Leidenschaft und Fantasie.<br />

Ottenberg: Im Gegensatz dazu werden in der Wirtschaft die<br />

jungen Hoffnungsträger ziemlich hofiert.<br />

Stückl: Bei mir auch. Ich habe das Theater so aufgebaut,<br />

dass wir mit „Radikal jung“ zum Beispiel versuchen, Sprungbrett<br />

für viele zu sein. Wir entdecken da immer wieder das<br />

eine oder andere Talent. Einige von denen, die es auf die<br />

Filmleinwand schaffen, waren vorher bei mir. Ich glaube,<br />

66<br />

Focus 01/2012


Parallelen Dialog<br />

das gelingt auch deshalb, weil ich mir immer denke: Du<br />

musst die jungen Leute dazu animieren rauszuspringen –<br />

raus aus bestimmten Denkmustern, raus aus dem, was sie auf<br />

der Schule gelernt haben. Da funktioniert Theater total anders<br />

als Wirtschaft.<br />

Ottenberg: Wenn Sie die Dinge nur laufen lassen, bekommen<br />

Sie auch nichts hin.<br />

Stückl: Stimmt. Ich muss auch ständig nachhaken: „Was<br />

machst du denn da?“, sonst funktioniert gar nichts.<br />

Ottenberg: Wir haben es zwischenzeitlich auch mit einer<br />

Generation zu tun, die hineinwächst in die Welt und jetzt<br />

schon weiß, dass sie die klassischen Wege der Vorgängergeneration<br />

nicht mehr gehen kann und darf. Diese Jungen<br />

werden in ihrem Leben sicherlich zwei- oder dreimal radikale<br />

Schwenks machen und – auf ihre eigene Persönlichkeit,<br />

auf ihr eigenes Können gestützt – neue Wege erobern<br />

müssen. Völlig abseits vom klassischen Bildungsterrain mit<br />

seinen vorgezeichneten Bahnen.<br />

Stückl: Ist es nicht schon heute so, dass ein guter Manager<br />

eigenständig denken und handeln muss und nicht immer nur<br />

sagen kann: „Ich mache es jetzt genauso, wie der Chef das<br />

von mir haben will“?<br />

Ottenberg: Es wird zu Recht vor Chefs gewarnt, die ständig<br />

ihre eigene Geschichte erzählen. Diejenigen, die in ihrem<br />

Leben erfolgreich sind, haben nicht das gelernt, was sie heute<br />

praktizieren. Sie haben vorgezeichnete Bahnen verlassen,<br />

sich mutig neue Felder erobert und auf Veränderungen eingelassen,<br />

in deren Folge sie sich weiterentwickeln konnten.<br />

Stückl: Da kommt jetzt die entscheidende Frage ins Spiel:<br />

Mit welchem Blick schaut man auf den Horizont, um sich<br />

für das Neue immer offenzuhalten? Der Mensch hängt doch<br />

sehr an seinen Gewohnheiten ...<br />

Ottenberg: Für mich sind nur zwei Dinge wichtig: Im Rückblick<br />

muss ich immer wissen, ob und warum etwas Spaß<br />

gemacht hat und was ich Neues erfahren habe. Was waren<br />

die Themen, die mich begeistert und für Neues geöffnet haben?<br />

Ich brauche auch immer eine Perspektive dessen, was<br />

mich weiter anfeuern wird. Wenn diese zu dünn ist und die<br />

Routine dominant wird, komme ich an den Punkt, an dem es<br />

mich drängt, neue Erfahrungen zu machen. Im Grunde genommen<br />

treibt mich die Neugier auf die Vielfalt der Welt.<br />

Stückl: Ich fahre jedes Jahr nach Indien und mache Workshops<br />

mit jungen Studenten dort. Dabei geht es mir gar nicht<br />

so sehr darum, denen irgendetwas beibringen zu wollen. Ich<br />

mache das vor allem, weil es mir total Spaß macht, 14 Tage<br />

lang mit indischen Jugendlichen zu diskutieren und von ihnen<br />

zu lernen. Du spürst dort ganz klar und manchmal an<br />

banalen Beispielen, wo und wie du sozialisiert bist. Ich hatte<br />

zum Beispiel meine Probleme mit den arrangierten Hochzeiten.<br />

Da wollten die wissen, ob eine Liebeshochzeit wirklich<br />

besser funktioniert! Man kommt da schon ins Grübeln.<br />

„Ich hatte nie Angst<br />

vor einer großen Menge.“<br />

Christian Stückl<br />

Ottenberg: Vor einigen Jahren habe ich begonnen, mich in<br />

Berlin voller Begeisterung in einer Stiftung zu engagieren.<br />

Damals ist ein junger Mann aus den USA zu mir gekommen<br />

und meinte: „Ich will einen Thinktank bauen mit Leuten,<br />

die nicht älter sind als 35. Ich will die so orchestrieren, dass<br />

wir die Chance haben, jeweils ein Jahr lang an Themen zu<br />

arbeiten, die Deutschland herausfordern.“<br />

Stückl: Da sehe ich viele Jahre Arbeit auf Sie zukommen.<br />

Ottenberg: Diese stiftung neue verantwortung existiert mittlerweile<br />

im fünften Jahr. Ich komme dort mit jungen Leuten<br />

zusammen und mit interdisziplinären Denkweisen, die mein<br />

Denken sehr befruchten. Im ersten Jahr haben wir das Thema<br />

Bildungskapital diskutiert, die Frage, wie man in Deutschland<br />

Bildung durch Investition schafft. Eigentlich eine verrückte<br />

Formulierung. Gemeint ist: Man schafft Bildung über<br />

Schule mit Menschen als Asset. Wie funktioniert das eigentlich,<br />

wer hat den Nutzen?<br />

Stückl: Gerade mit Kindern habe ich die spannende Erfahrung<br />

gemacht, dass die, die im schulischen Bereich gar nicht<br />

funktioniert haben, im Theater aufgeblüht sind. Im Passionsspiel<br />

2000 war ein 12-jähriger Bub dabei, der immer auf Widerstand<br />

ging. Er war ein cleveres Kerlchen, und ich habe<br />

mich gewundert, warum der auf die Sonderschule ging. Einmal<br />

war er eingeteilt in einer Szene, da kamen immer mehr<br />

Kinder, immer mehr. Irgendwann ging ich ans Mikrofon und<br />

sagte: „Heute gehen alle nach Hause, die nicht eingeteilt<br />

sind.“ Eine Minute später steht der Kleine neben mir und<br />

sagt: „Psychologisch sehr unklug.“ Da wollte ich wissen:<br />

„Was heißt das jetzt?“, und er meinte: „Geh mal in die Mädchengarderobe.<br />

Heute hast du dir viele Feinde gemacht.“<br />

Danach bin ich zum Schuldirektor: „Du musst mir jetzt erzählen,<br />

warum der auf der Sonderschule ist.“ Da hat er gesagt:<br />

„Der gehört aufs Gymnasium, wir bekommen den nur<br />

nicht mehr drauf; er hat so schlechte Bewertungen von Lehrern,<br />

weil der sich permanent gegen die Autoritäten wehrt.“<br />

Ottenberg: Wer hat noch mal gesagt: „Die Welt wurde von<br />

Neurotikern verändert“?<br />

Stückl: In der Schule jedenfalls sollte man die Neurotiker<br />

auch fördern. Der Junge macht jetzt übrigens gerade seinen<br />

Meister, er hat sein Leben voll in den Griff bekommen.<br />

Trotz oder gerade wegen des vielen Widerspruchs.<br />

67<br />

Focus 01/2012


Expertise<br />

Interview<br />

„Wir kämpfen um mehr als<br />

nur eine bestimmte Anzahl<br />

von Plätzen am Tisch. Was<br />

wir wollen, ist eine neue<br />

Mentalität, eine neue Form<br />

des Arbeitens.“<br />

Es gibt wenige, deren Lebensweg so vielfältig<br />

verlaufen ist wie der von Henryka Bochniarz –<br />

die Unternehmerin war polnische Ministerin<br />

und Präsidentschaftskandidatin in ihrem Land,<br />

Mitbegründerin eines Frauenkongresses und<br />

ist heute Vorsitzende des wichtigsten Arbeitgeberverbands<br />

in Polen sowie Mitglied mehrerer<br />

Aufsichtsräte. Mit Focus sprach sie über ihren<br />

Kampf für eine Pluralität des Denkens.<br />

fotos: robert fischer<br />

68<br />

Focus 01/2012


Expertise Interview<br />

Focus: Sie hatten bereits in mehreren Bereichen Führungspositionen<br />

inne und haben sowohl auf privater Ebene wie<br />

auch im Hinblick auf Politik und unternehmerische Verantwortung<br />

für mehr Diversität gekämpft. Was sind die schlagenden<br />

Argumente, mit denen Sie die Bedeutung von Diversität<br />

untermauern?<br />

Henryka Bochniarz: Die Globalisierung hat uns in hohem<br />

Maße bewusst gemacht, dass es unterschiedliche Weltbilder,<br />

Arbeitsweisen und Ideen gibt und dass diese für fast jede Unternehmung<br />

eine Bereicherung darstellen können – sei es bei<br />

der Bildung oder in Politik und Wirtschaft. Es gibt keine allgemeingültige,<br />

perfekte Art und Weise, an eine Aufgabe heranzugehen,<br />

keinen universellen Standard, der alle anderen<br />

Sichtweisen ablöst. Menschen und Institutionen, die nicht<br />

offen sind für die Vielfalt von Menschen und deren Ideen,<br />

werden schlichtweg nicht in vollem Maße von den Möglichkeiten<br />

profitieren können, die diese Welt bereithält.<br />

Focus: Angesichts Ihrer breiten Erfahrungen: Würden Sie<br />

sagen, dass manche Bereiche sich dieser Art der Vielfalt<br />

mehr geöffnet haben als andere?<br />

Bochniarz: Was die Geschlechter<strong>vielfalt</strong> angeht, sind bestimmte<br />

Bereiche, wie zum Beispiel die Finanzdienstleistungsbranche,<br />

immer noch stark männlich dominiert. Erklärlicherweise<br />

waren für Männer besonders die Branchen<br />

attraktiv, die besonders viel Macht versprachen – und genauso<br />

nachvollziehbar versuchen Frauen jetzt, in diese geschlossenen<br />

Kreise einzubrechen.<br />

Auf der anderen Seite gibt es definitiv auch Bereiche, in<br />

denen Frauen in der Überzahl sind – was allerdings nicht<br />

bedeutet, dass sie dort mehr Macht hätten. Beispielsweise<br />

ist der Lehrberuf in den unteren Stufen in Polen und vielen<br />

anderen Ländern nahezu eine reine Frauendomäne. Geleitet<br />

werden die Schulen jedoch von Männern. Das heißt also:<br />

Selbst wenn es anteilig wesentlich mehr Frauen gibt, ändert<br />

dies nichts an der tatsächlichen Machtverteilung.<br />

Focus: Sie sind Mitbegründerin des polnischen Frauenkongresses,<br />

der 2009 ins Leben gerufen wurde – am 20. Jahrestag<br />

des politischen und wirtschaftlichen Umbruchs in<br />

Ihrem Land. Der Kongress repräsentiert heute in Polen die<br />

größte unpolitische gesellschaftliche Bewegung, die sich<br />

für Chancengleichheit im privaten wie im öffentlichen Bereich<br />

einsetzt. Ist die heutige Größe des Kongresses ein<br />

Zeichen dafür, dass der Trend zu mehr Diversität nicht<br />

mehr aufzuhalten ist?<br />

Bochniarz: Die Diversität ist zweifelsohne auf dem Vormarsch<br />

– und der Kongress konnte eindrucksvolle Zuwächse<br />

verzeichnen. Es ist uns gelungen, das polnische Parlament<br />

zur Verabschiedung eines „Quotengesetzes“ zu bewegen.<br />

Dieses schreibt vor, dass jedes Geschlecht bei Kandidaten<br />

auf Wahllisten mit mindestens 35 Prozent vertreten<br />

sein muss, und zwar sowohl auf lokaler Ebene wie auch bei<br />

den Wahlen für das polnische Unterhaus und das Europäische<br />

Parlament. Der wichtigste Erfolgsmaßstab ist jedoch<br />

die Art und Weise, wie Frauenfragen unter Frauen und mit<br />

Frauen diskutiert werden. Vor einigen Jahren wurden diese<br />

Themen noch belächelt, aber heute ist das nicht mehr der<br />

Fall – sie werden sogar sehr ernst genommen.<br />

Focus: Im März hat das Europäische Parlament erneut seinen<br />

Entschluss bekräftigt, eine Erhöhung des Frauenanteils<br />

in den Führungsgremien von Unternehmen durch Quotenregelungen<br />

zu erwirken, wenn dies mit Maßnahmen auf nationaler<br />

Ebene nicht gelingt. Wie steht man innerhalb der polnischen<br />

Konföderation privater Arbeitgeber LEWIATAN,<br />

deren Vorsitzende Sie sind, zum Thema Quotenregelung?<br />

Bochniarz: Nach intensiven internen Diskussionen unterstützen<br />

wir das Vorhaben des Europäischen Parlaments in<br />

der Quotenfrage. Allerdings stehen wir mit unserer Haltung<br />

allein da. Weil in allen anderen Verbänden Männer den Vorsitz<br />

haben, herrscht dort noch sehr viel Widerstand gegen<br />

diese Idee.<br />

Focus: Geht es bei dem Thema also letztlich mehr um die<br />

Veränderung der Einstellung und die Schaffung eines neuen<br />

Bewusstseins als um das Erreichen bestimmter Zahlen?<br />

Bochniarz: Genau so ist es. Die Wirkung lässt sich bereits<br />

beobachten: Die Haltung zum Thema Frauen und Diversität<br />

verändert sich, man ist sich der Bedeutung der Geschlechter<strong>vielfalt</strong><br />

und anderer Formen der Diversität immer mehr<br />

70<br />

Focus 01/2012


Expertise Interview<br />

bewusst. Im gleichen Maße ändert sich auch die Art, wie<br />

diese Fragen diskutiert werden – es geschieht zunehmend in<br />

einer Weise, die der Tragweite der Thematik gerecht wird.<br />

Focus: Es ist interessant zu sehen, wie sich die neueren<br />

EU-Mitgliedsstaaten in diese Debatte einbringen. Beispielsweise<br />

ist ja in Polen – verglichen mit den älteren Mitgliedsstaaten<br />

– der Anteil an Unternehmerinnen relativ hoch. Wie<br />

lässt sich das erklären?<br />

Bochniarz: Man muss bedenken, dass zu Beginn des Wechsels<br />

von Planwirtschaft zu Marktwirtschaft vielen Frauen in<br />

Polen gar nicht anderes blieb als der Weg in die Selbstständigkeit.<br />

Da der Zusammenbruch ganzer Wirtschaftszweige,<br />

wie der Textilindustrie, viele Menschen arbeitslos gemacht<br />

hatte, mussten Frauen einen anderen Weg finden, für<br />

ihre Familie zu sorgen. Die Folge war ein Gründungsboom<br />

bei Kleinunternehmen.<br />

Zu Beginn des Umbruchs war ich am Institut für Konjunktur<br />

und Preise beschäftigt und führte ein schönes, sicheres<br />

Leben, mit geregeltem Einkommen und hoher Stabilität.<br />

Doch es war der perfekte Zeitpunkt, etwas Neues auszuprobieren,<br />

also gründete ich mein eigenes Unternehmen – eine<br />

der ersten Beratungen in Polen. Ich hatte keine Erfahrung,<br />

kein Geld und keine genaue Vorstellung davon, wie meine<br />

Arbeit aussehen sollte. Zwar verfügte ich über einen wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Hintergrund alter Schule, doch<br />

der war ja in einer Marktwirtschaft nutzlos. In den ersten<br />

Monaten zahlte ich mir kein Gehalt, obwohl ich 20 Stunden<br />

am Tag arbeitete. Aber es war eine sehr aufregende Zeit!<br />

Heute werden 40 Prozent der Kleinunternehmen in unserem<br />

Land von Frauen geführt. Im Bereich der mittelgroßen Unternehmen<br />

sind Inhaberinnen jedoch nur sehr selten vertreten;<br />

bei börsennotierten Unternehmen sind Eigentümerinnen<br />

praktisch nicht anzutreffen, Frauen in Führungspositionen<br />

sind hier rar. Es scheint also noch etwas zu geben, das<br />

Frauen daran hindert, in Großunternehmen richtig erfolgreich<br />

zu sein. Doch in meinen Augen ist das nur eine Frage<br />

der Zeit – sie brauchen noch Zeit zum Lernen.<br />

Focus: Sind es die Frauen, die dazulernen müssen, oder die<br />

Großunternehmen?<br />

Bochniarz: Beide. Als Arbeitgeberin habe ich oft erlebt,<br />

dass ein Mann, der gebeten wird, ein schwieriges Projekt zu<br />

übernehmen, häufig sagt: „Ich werde es versuchen, auch<br />

wenn ich mich nicht gut genug auskenne.“ Von Frauen hört<br />

man dagegen oft: „Nein, das ist zu schwierig.“ Ähnliches<br />

passiert im Zusammenhang mit Führungspositionen. Ich<br />

verstehe natürlich, dass Frauen mit kleinen Kindern manchmal<br />

weniger fordernde Positionen bevorzugen, also zu einem<br />

bestimmten Zeitpunkt ihrer Karriere den Preis für mehr<br />

Verantwortung nicht bezahlen wollen.<br />

„Institutionen, die nicht<br />

offen sind für die Vielfalt von<br />

Menschen und deren Ideen,<br />

werden schlichtweg nicht in<br />

vollem Maße von den Möglichkeiten<br />

profitieren können,<br />

die diese Welt bereithält.“<br />

Zur Person Henryka Bochniarz<br />

Als eine der wichtigsten Stimmen im europäischen<br />

Dialog zum Thema Diversität kann Henryka Bochniarz<br />

auf eine abwechslungsreiche Karriere zurückblicken.<br />

Seit 1999 ist sie Vorsitzende der polnischen Konföderation<br />

der privaten Arbeitgeber LEWIATAN, der größten<br />

Arbeitgeberorganisation für den privaten Sektor. Sie<br />

ist die Vizepräsidentin von BUSINESSEUROPE, dem<br />

größten und wichtigsten Arbeitgeberverband in der Europäischen<br />

Union, und außerdem Mitglied der Enterprise<br />

Policy Group, eines Beratergremiums der Europäischen<br />

Kommission. Darüber hinaus fungiert sie seit<br />

2002 als stellvertretende Vorsitzende der polnischen<br />

Dreierkommission für Wirtschafts- und Sozialfragen<br />

und beteiligt sich aktiv am Dialog zwischen Regierung,<br />

Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Sie war<br />

Mitbegründerin des Frauenkongresses in Polen und<br />

gehörte zu den Urhebern des polnischen Gesetzes für<br />

Geschlechterparität. 2005 trat sie als Präsidentschaftskandidatin<br />

der Demokratischen Partei an.<br />

Bevor Boeing sie im Jahr 2006 zur Präsidentin für<br />

Mittel- und Osteuropa ernannte, war sie Präsidentin und<br />

Mitinhaberin von Nicom Consulting, einem der ersten<br />

Beratungsunternehmen in Polen, das sie in den neunziger<br />

Jahren gegründet hatte. Henryka Bochniarz war<br />

außerdem 18 Jahre lang als Professorin und Forscherin<br />

am Foreign Trade Research Institute (FTRI) beschäftigt.<br />

Die Empfängerin zahlreicher Auszeichnungen –<br />

darunter der Andrzej-Baczkowski-Preis, den sie 2003<br />

für ihren außerordentlichen Beitrag zur Entwicklung<br />

des sozialen Dialogs in Polen erhielt – engagiert sich<br />

sehr für Kunst und hat in diesem Zusammenhang den<br />

Nike-Literaturpreis für das beste Buch des Jahres mit<br />

ins Leben gerufen. Neben zahlreichen Abhandlungen zu<br />

sozialen und wirtschaftlichen Fragen hat Bochniarz<br />

zusammen mit Jacek Santorski das Buch „Sei du selbst<br />

und gewinne: 10 Tipps für die aktive Frau“ verfasst.<br />

71<br />

Focus 01/2012


Expertise Interview<br />

Focus: Befinden wir uns dann nicht in einer ausweglosen<br />

Situation?<br />

Bochniarz: Das könnte man meinen – aber es gibt eine Lösung:<br />

Wir müssen die Art und Weise ändern, wie Unternehmen<br />

geführt werden. Denn solange man seine Arbeit erledigt,<br />

spielt es heute keine Rolle mehr, ob das im Büro geschieht,<br />

zu Hause oder im Auto. Dank dieser Flexibilität<br />

lässt sich das Miteinander von Arbeits- und Privatleben bedeutend<br />

einfacher gestalten als je zuvor.<br />

Auch Männer sollten in dieser Hinsicht ein ausgeglichenes<br />

Verhältnis anstreben. Als in Schweden der Vaterschaftsurlaub<br />

eingeführt wurde, nahmen nur fünf oder sechs Prozent<br />

der Väter das Angebot wahr. Heute gilt dagegen als rückständig,<br />

wer davon keinen Gebrauch macht. Und wenn Vaterschaftsurlaub<br />

Normalität werden kann, dann können<br />

Männer sich auch freinehmen, wenn ihre Kinder krank sind.<br />

Das wiederum hätte zur Folge, dass Frauen bei Beförderungen<br />

nicht mehr übergangen werden, nur weil Vorgesetzte<br />

davon ausgehen müssen, dass sie aus familiären Gründen<br />

häufiger abwesend sein werden.<br />

Focus: Sie werden wie folgt zitiert: „Die Fähigkeiten der<br />

Männer werden den Marktanforderungen von heute nicht<br />

gerecht.“ Über welche Fähigkeiten verfügen Frauen, die sie<br />

dafür besser geeignet machen?<br />

Bochniarz: In den meisten entwickelten Ländern wird ein<br />

Großteil des BIP durch den Dienstleistungssektor erwirtschaftet<br />

und nicht durch die Industrie. Und bei Dienstleistungen<br />

sind in hohem Maße die sogenannten weiblichen<br />

Skills gefragt: Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit zum<br />

Zuhören und das Arbeiten im Team. Gleichzeitig wird heute<br />

in Bereichen, die zuvor rein männlich dominiert waren,<br />

die erforderliche Körperkraft entweder durch Roboter oder<br />

Computersysteme ersetzt – sogar im militärischen Bereich.<br />

Ich war einmal regelrecht schockiert, als ich in eine Kommandozentrale<br />

voller Computer kam und sah, dass vor den<br />

Bildschirmen mehrheitlich Frauen saßen und unbemannte<br />

Drohnen steuerten.<br />

Focus: Sie sagten einmal, dass Frauen nur dann nachhaltig<br />

Einfluss nehmen können, wenn ihr Anteil innerhalb eines<br />

Teams mindestens die „kritische Masse“ von 30 Prozent<br />

erreichte. Warum 30 Prozent?<br />

Bochniarz: Zum einen werden diese 30 Prozent durch zahlreiche<br />

Forschungsergebnisse gestützt – sie sind also mehr<br />

als nur eine gut begründete Annahme. Sitzen in einem Führungsgremium<br />

nur ein oder zwei Frauen, müssen diese sich<br />

zwangsläufig an die von den Männern vorgegebenen<br />

Arbeitsweisen anpassen. Eine Frau kann in so einer Situation<br />

natürlich einen anderen Standpunkt vertreten oder eine<br />

andere Vorstellung davon haben, was zu tun ist und wie.<br />

Und sie kann auch überzeugt davon sein, dass sie recht<br />

hat – sie wird sich jedoch nur schwer Gehör verschaffen<br />

können. Und selbst wenn Frauen anfänglich versuchen, sich<br />

durchzusetzen, werden sie sich im Endeffekt der männlichen<br />

Mehrheit unterordnen.<br />

Zum anderen kämpfen wir um mehr als nur eine bestimmte<br />

Anzahl von Plätzen am Tisch. Was wir wollen, ist eine neue<br />

Mentalität, eine neue Form des Arbeitens. Und wir müssen<br />

füreinander eintreten. Die ehemalige US-Außenministerin<br />

Madeleine Albright vertrat in einem ihrer Bücher die Ansicht,<br />

dass es in der Hölle einen speziellen Ort für Frauen<br />

gibt, die andere Frauen nicht unterstützen. Es ist also nicht<br />

damit getan, sich selbst eine gehobene Position zu sichern;<br />

vielmehr muss man dazu beitragen, dass es auch die vielen<br />

anderen qualifizierten Frauen nach oben schaffen.<br />

Focus: Vor Kurzem wurden Sie in den Aufsichtsrat der<br />

UniCredit berufen und haben damit als erste Angehörige<br />

eines ehemaligen Ostblockstaates in einer der größeren Finanzgruppen<br />

der Eurozone einen solchen Posten inne. Sie<br />

haben im Laufe Ihrer Karriere schon in vielen Aufsichtsräten<br />

gesessen: Wie hat sich die Kultur in den Chefetagen Ihres<br />

Erachtens verändert?<br />

Bochniarz: Die Kultur in den Führungsgremien ist natürlich<br />

je nach Land unterschiedlich. In den USA hat man mit<br />

den „One-Tier Boards“ ein monistisches System, wohingegen<br />

in vielen europäischen Ländern ein dualistisches System<br />

bevorzugt wird – also eines mit einem Leitungs- und<br />

einem Kontrollgremium. In den USA spielen die nichtgeschäftsführenden<br />

Board-Mitglieder heute im Hinblick auf<br />

die Corporate Governance eine immer wichtigere Rolle.<br />

Und obwohl wir in Polen ein etwas anderes System haben,<br />

fordern die Aktionäre auch hier zunehmend ein stärkeres<br />

Engagement der Aufsichtsratsmitglieder.<br />

Bis vor wenigen Jahren war die Arbeit von Aufsichtsratsmitgliedern<br />

weitestgehend eine Pro-forma-Tätigkeit: Man kam<br />

als Kontrollgremium zwei- bis dreimal im Jahr zusammen<br />

und segnete so ziemlich alle Aktivitäten des Vorstands ab,<br />

ohne sich mit Details aufzuhalten. Heute beschäftigt sich der<br />

Aufsichtsrat viel eingehender mit den Angelegenheiten, achtet<br />

mehr auf Einzelheiten und übt eine stärkere Kontrolle<br />

aus. Zudem gibt es, was die Geschlechterzusammensetzung<br />

in Aufsichtsräten in Europa angeht, große geografische Unterschiede.<br />

Die skandinavischen Länder haben – mit einem<br />

Frauenanteil von mindestens 30 Prozent – die Führungsrolle<br />

eingenommen. An vorletzter Stelle steht Italien, wo erst vor<br />

Kurzem eine Frauenquote für Aufsichtsräte eingeführt wurde.<br />

Das Schlusslicht bildet Malta mit einem Anteil von nur<br />

sechs Prozent. Das heißt, auch wenn der europäische Durchschnitt<br />

bei nahezu 14 Prozent liegt, muss man sich die Zahlen<br />

je nach Land ansehen.<br />

72<br />

Focus 01/2012


Expertise Interview<br />

Focus: Worin besteht die Rolle des Vorsitzenden, wenn es<br />

um die Vermeidung von Uniformität im Aufsichtsrat geht?<br />

Bochniarz: Natürlich sollte der Vorsitzende eines Aufsichtsrats<br />

über umfangreiche Kenntnisse hinsichtlich der<br />

Unternehmenstätigkeit verfügen. Viel wichtiger ist jedoch<br />

seine oder ihre Fähigkeit, die Arbeit des Gremiums effektiv<br />

zu organisieren und dafür zu sorgen, dass unterschiedliche<br />

Standpunkte gehört und ernsthaft in Betracht gezogen werden.<br />

Wenn in einer Sitzung 25 Tagesordnungspunkte behandelt<br />

werden sollen und dafür nur zwei Stunden vorgesehen<br />

sind, dann stimmt etwas nicht. Unter solchen Umständen<br />

ist es schlichtweg unmöglich, dass die Mitglieder sich<br />

auf authentische und wirkungsvolle Weise in Beratungen<br />

einbringen können. Die meiste Macht liegt dann beim Vorsitzenden<br />

– und wir wissen alle, dass die Bündelung von<br />

Macht in einer Person riskant ist, egal ob in Wirtschaft oder<br />

Politik. Nur wenn es wirklich offene Diskussionen gibt und<br />

die Angehörigen eines Führungsgremiums sich trauen, auch<br />

den Vorsitzenden oder den CEO zu hinterfragen, kann man<br />

sicher sein, dass alle ihre Arbeit tun.<br />

Focus: Viele Unternehmen behaupten, dass sie sich uneingeschränkt<br />

für die Diversität im Mitarbeiterstamm und in<br />

den Führungsetagen engagieren. Gilt es jedoch, das Versprechen<br />

einzulösen, sieht die Realität oft anders aus. Was hält<br />

Unternehmen Ihres Erachtens davon ab, „ernst zu machen“?<br />

Bochniarz: Ganz gleich, was im Unternehmenshandbuch<br />

oder auf der Webseite steht: Wenn von oben nicht klar kommuniziert<br />

wird, dass Vielfalt innerhalb der Organisation als<br />

wertvoll erachtet und auch gelebt wird, ändert sich nicht<br />

viel. Beispielsweise müssten Führungskräfte vor der Neubesetzung<br />

einer Stelle sagen: „Ich sehe mir nur eine Kandidatenvorauswahl<br />

an, die auch weibliche Bewerber enthält.“<br />

Und sie sollten die uralte Ausrede der Personalabteilung,<br />

dass passende weibliche Kandidaten nicht zu finden gewesen<br />

seien, einfach nicht akzeptieren. In diesem Fall wäre das<br />

Unternehmen dann gezwungen, aktiv nach Frauen zu suchen<br />

– und man würde viele qualifizierte Kandidatinnen<br />

finden. Gibt es jedoch kein klares Bekenntnis zu diesem<br />

Selektions- und Beförderungsprinzip, lässt sich Diversität<br />

nur schwer erreichen.<br />

Deshalb unterstützen wir Quoten – denn nicht jede Führungskraft<br />

durchschaut die perfiden Mechanismen, mit denen<br />

Frauen ausgeschlossen werden. Bevor EU-Justizkommissarin<br />

Viviane Reding vorschlug, den Frauenanteil in Aufsichtsräten<br />

durch feste Quoten zu erhöhen, hatte sie Unternehmen<br />

zur Unterzeichnung einer freiwilligen Zielvereinbarung<br />

aufgefordert, durch die der Frauenanteil in den Führungsgremien<br />

bis 2015 auf 30 Prozent und bis 2020 auf<br />

40 Prozent gesteigert werden sollte. Doch in der gesamten<br />

Europäischen Union unterzeichneten nur 24 Unternehmen.<br />

Ich höre zuweilen Leute sagen, dass sie einen höheren Frauenanteil<br />

in Führungsgremien zwar stark befürworten, doch<br />

dass Leistung bei der Ernennung im Vordergrund stehen<br />

müsse, sodass es auf natürliche Weise zu einem Wandel<br />

käme und nicht aufgrund verpflichtender Quoten. So nennen<br />

sie es, „auf natürliche Weise“. Doch „auf natürliche<br />

Weise“ würde eine Parität zwischen Frauen und Männern<br />

erst in 40 oder 50 Jahren erreicht werden. Können wir es uns<br />

leisten, so verschwenderisch mit unseren Ressourcen umzugehen?<br />

Ich bin ziemlich sicher, die Antwort lautet nein.<br />

Focus: Kann es auch zu viel Vielfalt geben – also eine Situation,<br />

in der ein Führungsteam aufgrund zu vieler verschiedener<br />

Stimmen, Ideen und Meinungen nicht mehr in der<br />

Lage ist, geschlossen und entschlossen zu handeln?<br />

Bochniarz: Das glaube ich nicht. Ich bin stellvertretende<br />

Vorsitzende der polnischen Dreierkommission für Wirtschafts-<br />

und Sozialfragen, die sich aus Vertretern der Regierung,<br />

Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften zusammensetzt.<br />

Und Sie können mir glauben, dass die dort vorherrschende<br />

Diversität manchmal zu aufreibenden Debatten<br />

führt. Doch selbst wenn die verschiedenen Seiten nach zehn<br />

Stunden Diskussion die Argumente der anderen noch immer<br />

nicht akzeptieren, erzielen wir irgendwann eine Einigung.<br />

Das mag dann ein Kompromiss sein, aber selbst der<br />

ist Produkt eines Dialogs – und das ist viel mehr wert als<br />

eine Entscheidung, die von einer monolithischen, homogenen<br />

Gruppe durchgesetzt wird.<br />

Focus: Sie waren aktiv an Dialogen zwischen vielen Partnern<br />

beteiligt – sei es zwischen Regierung, Arbeitgeberverbänden<br />

74<br />

Focus 01/2012


Expertise Interview<br />

„Können wir es uns leisten,<br />

so verschwenderisch mit<br />

unseren Ressourcen umzugehen?<br />

Ich bin ziemlich<br />

sicher, die Antwort lautet<br />

nein.“<br />

und Gewerkschaften auf nationaler wie internationaler Ebene<br />

oder auch im Rahmen des European Forum of New Ideas,<br />

einer internationalen Wirtschaftskonferenz, an der Wissenschaftler,<br />

Politiker und Kulturvertreter teilnehmen.<br />

Bochniarz: Das stimmt. Und obwohl die Gespräche frustrierend<br />

und ineffizient sein können, ist Fortschritt nur möglich,<br />

wenn wir zumindest versuchen, diese Art von Diskussionen<br />

zu führen. Selbst wenn sich die Beteiligten bei nur<br />

zehn Prozent aller Themen einigen können, lässt sich schon<br />

viel erreichen. Meines Erachtens ist das einer der Gründe,<br />

warum es Polen derzeit wirtschaftlich so gut geht. Wir haben<br />

es gleich zu Beginn der Krise in Europa geschafft, uns<br />

mit den Gewerkschaften auf ein Maßnahmenpaket zur Krisenbewältigung<br />

zu verständigen. Sie haben mehr Flexibilität<br />

hinsichtlich der Anwendung des Arbeitsrechts zugesichert,<br />

und auch wir waren zu Kompromissen bereit. Doch<br />

selbst wenn keine Einigung erzielt werden kann, halte ich<br />

den Weg des „sozialen Dialogs“ für ratsam – Länder, die<br />

sich dafür entscheiden, sind leistungsfähiger als jene, die es<br />

nicht tun.<br />

Focus: 2006 ernannte Boeing Sie zur Präsidentin für Mittel-<br />

und Osteuropa. Damit gehörte es auch zu Ihren Aufgaben,<br />

die Geschäftsinteressen des Unternehmens in einem<br />

Dutzend Ländern zu vertreten. Da Sie nicht aus der Luftfahrtbranche<br />

kommen, muss das für Sie eine weitere, ganz besonders<br />

bereichernde Erfahrung gewesen sein.<br />

Bochniarz: Ja, mit Boeing eröffnete sich mir eine völlig andere<br />

Welt: einer der größten amerikanischen Konzerne, mit<br />

einem Hauptsitz am anderen Ende der Welt, und eine Branche,<br />

von der ich nichts wusste. Der Lernprozess war schmerzhaft:<br />

Ich brauchte rund zwei Jahre, um wirklich zu verstehen,<br />

wie alles funktioniert. Doch es war unglaublich interessant zu<br />

lernen, wie Flugzeuge – die zu den teuersten Projekten der<br />

Welt gehören – konzipiert und gebaut werden.<br />

Meine Berufung in den Aufsichtsrat der UniCredit stellt für<br />

mich eine ähnliche Herausforderung dar und bietet mir die<br />

Chance, von äußerst versierten Menschen zu lernen. Es wird<br />

Zeit brauchen, bis ich mich zurechtfinde. Doch als man an<br />

mich herantrat, sagte ich Ja, weil ich so neugierig darauf war<br />

herauszufinden, wie der Aufsichtsrat eines europäischen<br />

Großunternehmens in der Finanzbranche funktioniert.<br />

Focus: Geschlechter<strong>vielfalt</strong> ist Ihnen ohne Frage sehr wichtig.<br />

Dennoch ist es bemerkenswert, dass Sie Diversität in<br />

ihrem ganzen Facettenreichtum betrachten – nicht nur die<br />

Vielfalt von Meinungen und Einstellungen zu Wirtschaft,<br />

Politik und Privatleben, sondern auch die Art und Weise,<br />

wie die vernetzte Welt dafür sorgt, dass zunehmend auch<br />

unterschiedliche Stimmen Gehör finden.<br />

Bochniarz: Die jüngere Generation lebt ohne Zweifel in einer<br />

anderen Welt. Ich habe neun Enkel und verbringe viel<br />

Zeit mit ihnen. Dadurch, dass wir gemeinsam Filme ansehen<br />

oder ich mit ihnen Computer spiele, lerne ich zu verstehen,<br />

warum sie Dinge ganz anders wahrnehmen als ich –<br />

und das öffnet mir den Zugang zu einer ganz neuen Welt.<br />

Focus: Wenn es an der Zeit ist, Ihren Enkeln Ratschläge für<br />

Leben und Karriere zu geben, was werden Sie da sagen?<br />

Bochniarz: Dass es gilt, ein Gleichgewicht zwischen Beruf<br />

und Familie zu erreichen – und dass dieses Gleichgewicht<br />

sich in verschiedenen Phasen des Lebens verschiebt. Es gibt<br />

Zeiten, in denen man sich mehr auf seine Kinder konzentriert,<br />

und Zeiten, in denen die Karriere im Vordergrund<br />

steht. Deshalb müssen Gesellschaften und Unternehmen<br />

berufliche Werdegänge akzeptieren, in denen es Phasen der<br />

Stagnation und Phasen des Durchstartens gibt.<br />

Ich werde ihnen auch sagen, dass man seinen eigenen Lebensplan<br />

entwerfen und anderen Menschen, wie Eltern,<br />

Schwiegereltern oder dem Chef, nicht erlauben soll, das für<br />

einen zu tun. Doch natürlich hat man auf viele Geschehnisse<br />

keinen Einfluss: Ich hätte nie gedacht, dass es in meinem<br />

Land zu einer Wende kommen, dass ich mich selbstständig<br />

machen und einmal Ministerin und Präsidentschaftskandidatin<br />

sein würde. Der entscheidende Punkt besteht darin,<br />

Veränderungen nicht zu fürchten, sondern sie als Chance zu<br />

begreifen. Sicherlich muss man die Interessen anderer Menschen<br />

und der Gesellschaft berücksichtigen, hat also nicht<br />

die uneingeschränkte Freiheit zu tun, was man will. Doch<br />

wo ich den Verlauf meines Lebens durch eigene Entscheidungen<br />

beeinflussen kann, möchte ich die Freiheit haben,<br />

das auch zu tun.<br />

Das Interview mit Henryka Bochniarz im Hauptsitz von<br />

LEWIATAN in Warschau führten Jaroslaw Bachowski-<br />

Ciura, <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>, Warschau, und Ulrike<br />

Mertens, FOCUS.<br />

75<br />

Focus 01/2012


Board Diversity<br />

Das Ende des Gruppendenkens<br />

Differenzierte Sichtweisen befördern<br />

die Entscheidungsfindung.<br />

Berthold Leube<br />

<strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>, Berlin<br />

berthold.leube@ezi.net<br />

Gabriele Röhrl<br />

<strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>, München<br />

gabriele.roehrl@ezi.net<br />

Diversität in den Boards ist ein international viel diskutiertes<br />

Thema. Vor allem deutsche Unternehmen<br />

könnten davon profitieren, dass sie systematisch und<br />

konsequent zur Anwendung kommt. Dabei kommt<br />

dem Aufsichtsratsvorsitzenden eine tragende Rolle zu.<br />

Wenn deutsche Unternehmen der grassierenden Euro-<br />

Krise bisher mehr als erfolgreich widerstanden haben, der<br />

deutschen Wirtschaft in einem sehr turbulenten Umfeld ordentliche<br />

Wachstumsraten und sogar ein Jobwunder bescheren,<br />

so haben sie dies vor allem ihren stabilen Exporterfolgen<br />

zu verdanken. Viele Unternehmen hierzulande machen<br />

das Gros ihrer Umsätze im Ausland. Und dieser Anteil<br />

wird allen Umfragen und Analysen zufolge weiter steigen.<br />

Es sind vor allem die jungen Märkte in Asien und Südamerika,<br />

die in den kommenden Jahren quer über alle Branchen<br />

hinweg überproportional zum Wachstum beitragen sollen.<br />

<strong>International</strong>ität als Ausnahme<br />

Vor diesem Hintergrund ist es mehr als bedenklich, dass deutsche<br />

Unternehmen in ihren Kontrollorganen auf die Expertise<br />

erfahrener Ausländer weitgehend verzichten. 2007 kam eine<br />

Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zum Thema „Ausländer<br />

in deutschen Aufsichtsräten“ unter anderem zu dem<br />

Ergebnis, dass zwischen der <strong>International</strong>ität der Unternehmensaktivitäten<br />

und der <strong>International</strong>ität der Corporate-<br />

Governance-Gremien keinerlei Zusammenhang bestand. Daran<br />

hat sich nicht wirklich etwas geändert. Nach der „European<br />

Board Diversity Analysis 2012“ von <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong><br />

<strong>International</strong> betrug der Ausländeranteil der untersuchten<br />

76<br />

Focus 01/2012


Expertise Board Diversity<br />

Einheitlichkeit im Denken kann in einem<br />

immer dynamischeren Umfeld schnell zum<br />

Wettbewerbsnachteil werden.<br />

41 deutschen Unternehmen, darunter die Boards aller DAX-<br />

Unternehmen, lediglich 18 Prozent. Darin war die Arbeitnehmerseite,<br />

die ja auch die Interessen aller Mitarbeiter ohne<br />

deutschen Pass vertreten soll, bereits eingeschlossen. Europaweit<br />

sind dagegen in den 353 größten Unternehmen 34,4 Prozent<br />

aller Board-Mitglieder Ausländer. Der Frauenanteil in<br />

deutschen Aufsichtsräten liegt derzeit bei 12,8 Prozent, unterscheidet<br />

sich damit aber nicht so massiv von den 15,6 Prozent<br />

weiblicher Board-Mitglieder europaweit.<br />

Der typische Aufsichtsrat in deutschen Unternehmen ist<br />

demnach Deutscher, männlich und über 55 Jahre alt. Oftmals<br />

wechseln ehemalige Vorstandschefs nahtlos und ohne sogenannte<br />

Cooling-off-Phase an die Spitze des Kontrollgremiums<br />

ihrer Unternehmen. Immer noch gibt es bei einigen Aufsichtsräten<br />

eine Kumulation von Mandaten.<br />

Deshalb fordert eine breite, wirtschaftlich interessierte Öffentlichkeit<br />

mehr Vielfalt im Aufsichtsrat, und Politiker denken<br />

laut über entsprechende Regelungen nach, etwa über gesetzliche<br />

Quoten, um beispielsweise den Frauenanteil in den<br />

Kontrollgremien zu steigern.<br />

In anderen europäischen Ländern hat die Politik bereits<br />

entsprechend reagiert. Frankreich, Italien, Belgien und Norwegen<br />

schreiben bekanntermaßen gesetzlich vor, dass der<br />

Anteil von Frauen in den Aufsichtsratsgremien der Unternehmen<br />

– je nach Land – zwischen 20 Prozent und 40 Prozent<br />

ausmachen muss. Die Regelungen zeigten schon nach kurzer<br />

Zeit Resultate. Die bisweilen heftig geführte öffentliche Diskussion<br />

zeigt aber auch in Deutschland bereits Wirkung. Bei<br />

Neubesetzungen von Aufsichtsratsmandaten kamen hierzulande<br />

in den vergangenen zwölf Monaten in rund 41 Prozent<br />

der Fälle weibliche Kandidatinnen zum Zuge.<br />

Eine Frage der Gleichberechtigung<br />

Vielfalt geht jedoch weit über die Gender-Thematik hinaus.<br />

Unternehmen, die an den US-amerikanischen Börsen notiert<br />

sind, müssen die Aufsichtsbehörde SEC (Securities and Exchange<br />

Commission) darüber informieren, ob und in welcher<br />

Weise sie Diversität insgesamt bei der Zusammensetzung ihrer<br />

Boards berücksichtigen. Letztlich darf es beim Thema Board<br />

Diversity genau wie in der gesamten Organisation aber nicht um<br />

das Zählen vieler bunter Köpfe gehen. Vielfalt ist nicht nur<br />

eine Frage der Gleichberechtigung oder der moralischen Fair-<br />

ness, sondern auch in der Aufsichtsratsarbeit einer der entscheidenden<br />

Faktoren, der die Weichen für künftige Erfolge stellt.<br />

Das erkennen die Unternehmen zunehmend. Und so liegt es<br />

nicht nur an der gefürchteten Einmischung der Politik und<br />

der Drohung verpflichtender Quoten, dass unserer Feststellung<br />

nach über vieles in deutschen Unternehmenskreisen<br />

nicht mehr (wie bisher) grundsätzlich diskutiert wird – über<br />

das Pro und Kontra zur Verstärkung der Aufsichtsräte mit<br />

jüngeren, ausländischen und/oder weiblichen Kandidatinnen<br />

und Kandidaten z. b. genauso wenig wie über die Verpflichtung<br />

von Persönlichkeiten mit vielfältigeren professionellen<br />

Backgrounds. Das ist ein großer Fortschritt. Denn<br />

vor zwei bis drei Jahren war das noch deutlich anders.<br />

Wider die Einförmigkeit<br />

Doch seither hat zunehmend die Einsicht Boden gewonnen,<br />

dass sich neue Ideen und Erkenntnisse in den bisher sehr homogen<br />

besetzten Kontrollorganen erheblich schwerer durchsetzen<br />

als dort, wo sich Vielfalt in unterschiedlichen Persönlichkeiten<br />

manifestiert und nicht zuletzt im Denken bereits<br />

erfolgreich verankert ist. Einheitlichkeit im Denken kann in<br />

einem immer dynamischeren Umfeld schnell zum Wettbewerbsnachteil<br />

werden. Denn um die Leistung der Vorstände<br />

richtig einschätzen und beurteilen zu können, letztere profund<br />

hinsichtlich Strategien und Risikomanagement zu beraten<br />

und zu kontrollieren, ob die Unternehmensführung die<br />

richtigen Entscheidungen getroffen hat, braucht es ausgeprägtes<br />

und aktuelles Expertenwissen. Dieses erwartet die<br />

operative Unternehmensführung auch von ihren Aufsichtsräten.<br />

Mittlerweile fungieren Board-Mitglieder nicht mehr<br />

nur als Kontrolleure, sondern permanent auch als wertvolle<br />

Sparringspartner für den Vorstand.<br />

Aufsichtsräte, bei deren Besetzung ein weit gefasstes Verständnis<br />

von Vielfalt eine entscheidende Rolle spielt, befördern<br />

differenzierte Sichtweisen und erweitern die Grundlage<br />

für Entscheidungen um intime Kenntnisse fremder Märkte<br />

und Kulturen. Darüber hinaus schützt die Verschiedenheit<br />

der persönlichen Hintergründe, Karrierewege, Erfahrungen<br />

und Nationalitäten vor einem weiteren Risiko: dem sogenannten<br />

Group Thinking, das naturgemäß in solchen Gremien<br />

besonders ausgeprägt ist, die sich weitgehend einheitlich,<br />

wenn nicht sogar einförmig präsentieren.<br />

77<br />

Focus 01/2012


Expertise Board Diversity<br />

Mittlerweile fungieren Board-Mitglieder nicht mehr<br />

nur als Kontrolleure, sondern permanent auch<br />

als wertvolle Sparringspartner für den Vorstand.<br />

Vermeintlicher Mangel an Kandidaten<br />

Oftmals wird derzeit allerdings noch ein vorgeblicher Mangel<br />

an geeigneten Kandidaten als Hindernis auf dem Weg<br />

zu mehr Diversität im Aufsichtsrat genannt. Außerdem sei<br />

durch die Mitbestimmung die Aufsichtsratsarbeit hierzulande<br />

stärker ritualisiert und formalisiert als anderswo, und damit<br />

seien die Einflussmöglichkeiten hinsichtlich der Besetzungsentscheidungen<br />

limitiert.<br />

Die gründliche Analyse der Anforderungsprofile der<br />

vom Aufsichtsrat zu besetzenden Mandate offenbart allerdings,<br />

woher der Eindruck rührt, es gäbe nicht genügend<br />

qualifizierte Kandidaten: Allzu oft orientieren sich die<br />

Suchprofile der Unternehmen an den Qualifikationen und<br />

Fähigkeiten der Vorgänger. So gilt etwa die langjährige Erfahrung<br />

im Vorstand eines anderen Konzerns hierzulande<br />

als eines der wichtigsten Kriterien bei einer Neubesetzung.<br />

Diese Anforderung beschränkt allerdings den Kreis der<br />

möglichen Kandidaten erheblich. Frauen etwa kommen so<br />

gar nicht erst in die engere Wahl, weil es zum einen immer<br />

noch nur sehr wenige weibliche Vorstände gibt und diese<br />

zum anderen auch meist erst in jüngerer Zeit ihre aktuelle<br />

Position übernommen haben.<br />

Vielfach vertrauen Aufsichtsräte und Vorstände bei der<br />

Suche nach einem neuen Board-Mitglied vor allem auf ihr<br />

persönliches Netzwerk – und kommen so gar nicht erst mit<br />

möglicherweise besser geeigneten Kandidaten im Sinne erfolgreich<br />

umgesetzter Vielfalt in Kontakt. Dazu könnte sie<br />

allerdings ein weiterer Faktor zunehmend zwingen. Der<br />

Deutsche Corporate Governance Kodex beschränkt derzeit<br />

die Anzahl der Aufsichtsratsmandate aktiver Vorstände auf<br />

drei. Eine weitere Reduzierung der Mandatsanzahl ist in der<br />

Diskussion.<br />

Hier empfiehlt sich also neben der Erweiterung und Differenzierung<br />

der Anforderungsprofile eine Professionalisierung<br />

der Suche, die auch Kandidaten ins Kalkül zieht, die<br />

bisher nicht im Fokus standen. Ein entscheidendes Kriterium<br />

dabei sollte etwa sein, ob ein potenzielles neues Mitglied das<br />

Gremium mit seinem Fachwissen, speziellen Marktkenntnissen<br />

und neuen Denkansätzen bereichern kann.<br />

Für zusätzliche Expertise und Vielfalt können etwa Kandidaten<br />

sorgen, die üblicherweise bislang nicht auf dem Radar<br />

für Aufsichtsratsbesetzungen auftauchen: Männer und<br />

Frauen unterschiedlichster Nationalitäten zwischen 45 und<br />

55 Jahren, die erste Vorstandsvorsitze auch jüngerer Unternehmen<br />

innehaben oder erfolgreich große Ländergesellschaften<br />

bzw. Business-Units leiten. Auch ausgewiesene<br />

Finanzfachleute, Marketing- und Personalvorstände bringen<br />

neue Sicht- und Denkweisen in die Gremien. Lohnend<br />

kann auch die explizite Suche nach international herausragenden<br />

Vertretern in Wissenschaft oder Nichtregierungsorganisationen<br />

sein.<br />

Systematischer Auswahlprozess<br />

In der Praxis hat es sich als vorteilhaft erwiesen, den Prozess<br />

der Auswahl eines neuen Aufsichtsratsmitglieds systematisch<br />

anzugehen. Dafür empfiehlt sich die Konstituierung<br />

eines Nominierungsausschusses. Nach unseren Erfahrungen<br />

sollte solch ein Komitee aus nicht mehr als vier<br />

Persönlichkeiten bestehen – den Aufsichtsratsvorsitzenden,<br />

der unbedingt einzubeziehen ist, eingeschlossen. Hinsichtlich<br />

der Erweiterung der Expertise und Wahrung der Objektivität<br />

hat es sich als positiv erwiesen, wenn ein oder zwei<br />

der Mitglieder dieses Ausschusses das Unternehmen und<br />

seine Anforderungen zwar sehr gut kennen, aber weder seinen<br />

Führungsebenen noch anderen internen Gremien angehören,<br />

sondern außerhalb der Organisation angesiedelt sind.<br />

Der Nominierungsausschuss beginnt seine Arbeit mit einer<br />

systematischen Bestandsaufnahme der Kompetenzen<br />

der bereits amtierenden Räte. Etablierte und in der Praxis<br />

erprobte Instrumente wie etwa ein Board Review, mit dem<br />

Zusammensetzung und -spiel des Kontrollgremiums in seiner<br />

Gesamtheit evaluiert werden können, bieten bei Bedarf<br />

weitere Entscheidungshilfen. Mit den Ergebnissen lässt sich<br />

ein detailliertes Suchprofil für das künftige Mitglied erarbeiten,<br />

das sicherstellt, dass jenes die Fähigkeiten und Persönlichkeiten<br />

im Gremium möglichst ideal im Sinne des<br />

Unternehmenserfolgs ergänzt. Abgesehen von fachlichen<br />

Kriterien müssen auch die Persönlichkeitsstruktur und Charaktereigenschaften<br />

definiert werden, die der neue Aufsichtsrat<br />

mitbringen sollte, um dem Gremium möglichst<br />

wertvolle Impulse zu geben. Im Fokus sollten hier die künftigen<br />

strategischen und organisatorischen Herausforderungen<br />

des Unternehmens stehen.<br />

78<br />

Focus 01/2012


Expertise Board Diversity<br />

Für die erfolgreiche Suche und Auswahl ist entscheidend,<br />

dass alle infrage kommenden Kandidaten von den Mitgliedern<br />

des Nominierungsausschusses konsequent, objektiv<br />

und sorgfältig evaluiert werden. Denn gerade Kandidaten,<br />

die im bisherigen Suchraster nicht vorkamen, müssen sich<br />

durch besondere Kompetenzen auszeichnen. Um diesen<br />

Auswahl- und Bewertungsprozess nicht zu verwässern,<br />

sollte das Aufsichtsratsplenum nach unserer Erfahrung erst<br />

nach erfolgreicher Beendigung des Auswahlverfahrens über<br />

die Entscheidung des Ausschusses informiert werden und<br />

den Wahlvorschlag dann für die nächste Hauptversammlung<br />

beschließen.<br />

Kultur der Inklusion<br />

Eine entscheidende Rolle bei der Realisierung von mehr<br />

Vielfalt im Aufsichtsrat kommt dabei dem oder der Vorsitzenden<br />

des Gremiums zu. Er oder sie muss gerade bei der<br />

Integration neuer, insbesondere auch im Sinne von Diversität<br />

andersartiger Ratsmitglieder eine Kultur der Inklusion<br />

vorleben. Dazu gehört, immer wieder eine offene Diskussionskultur<br />

zu pflegen, und auch, die Mitglieder im Gremium<br />

dazu herauszufordern, tradierte Denkweisen und Rituale<br />

hinter sich zu lassen, aber auch, in der Lage zu sein, Kritik<br />

auszuhalten.<br />

Im Idealfall ist es dem oder der Vorsitzenden gelungen,<br />

eine solche Kultur zu formen, bevor ein neues Mitglied in<br />

das Aufsichtsorgan gewählt wird. Sollte dies nicht der Fall<br />

sein, ist die Integration eines Neuzugangs Anlass zu zeigen,<br />

wie dringend ein Umdenken erforderlich ist. In diesem Zusammenhang<br />

ist Sensibilität im Umgang mit Blockaden<br />

überaus wichtig. Der Aufsichtsratsvorsitzende muss Befangenheiten<br />

– bewusste und unbewusste – gegenüber dem<br />

Thema Diversität erkennen und behutsam auflösen können.<br />

Dazu gehört auch, nicht tolerables Verhalten zu identifizieren,<br />

anzusprechen und zu einer Änderung des Verhaltens<br />

beizutragen. Dabei sollte deutlich werden, dass es dem oder<br />

der Vorsitzenden nicht um das strikte Befolgen von starren<br />

Regeln geht, sondern um die Umsetzung von Vielfalt zum<br />

Vorteil des Unternehmens.<br />

Wenn deutsche Unternehmen auch künftig die Chancen<br />

und Möglichkeiten der weiter zunehmenden <strong>International</strong>isierung<br />

in ihren Märkten sowie die Impulse eines globalen<br />

Talentpools für sich nutzen wollen, werden sie ohne die<br />

Kompetenz, Vielfalt zu managen, nicht auskommen. Umso<br />

wichtiger ist ein Kontrollorgan, das Trends und Entwicklungen<br />

nicht nur nachvollziehen, sondern durch die profunden,<br />

unterschiedlichen Kenntnisse, Sichtweisen und Erfahrungen<br />

seiner Mitglieder auch antizipieren kann. Eines, das<br />

der <strong>International</strong>isierung der tatsächlichen Geschäftstätigkeit<br />

also nicht nachfolgt, sondern diese vorwegnimmt – im<br />

Sinne einer wirksamen und verantwortungsvollen Corporate<br />

Governance.<br />

die autoren<br />

DR. BERTHOLD LEUBE ist seit 2002 Berater im<br />

Berliner Büro von <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>.<br />

Er ist Mitglied der Financial Services Practice<br />

und leitet die Aktivitäten der Board Consulting<br />

Practice in Deutschland.<br />

DR. GABRIELE RÖHRL ist seit 2001 Beraterin bei<br />

<strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>. Sie leitet das Büro in<br />

München und ist Mitglied der Industrial, Financial<br />

Officers und Family Business Advisory Practice.<br />

79<br />

Focus 01/2012


Report<br />

Gründerzeit<br />

Berlins junge Start-up-Szene denkt<br />

und rekrutiert kosmopolitisch.<br />

In Berlin wächst zwischen Kottbusser Tor und Rosenthaler<br />

Platz gerade eine höchst vielfältige neue<br />

„New Economy“ heran. Die Start-up-Szene lockt mittlerweile<br />

Young Professionals aus der halben Welt in die<br />

Hauptstadt – und versorgt sich dadurch automatisch mit<br />

einem wichtigen Treibstoff für schnelles Wachstum.<br />

Von Harald Willenbrock<br />

Es geht bereits schwer auf Lunchtime zu. Die Sommermittagssonne<br />

brennt auf den Asphalt der Berliner Invalidenstraße,<br />

als in der Hausnummer 15 ein bleicher Osteuropäer<br />

aus dem Bürofahrstuhl tritt und müde zu seinem PC schlurft.<br />

„Was, schon hier?“, begrüßt ihn Ijad Madisch ironisch und<br />

klopft dem Spätankömmling grinsend auf die Schultern.<br />

Madisch, 31, ein niedersächsischer Arzt und Virologe mit<br />

syrischen Wurzeln, ist einer der Shootingstars der Berliner<br />

Start-up-Szene. Sein Portal ResearchGate ist eine Art<br />

Kombination aus Facebook, LinkedIn und Twitter für Wissenschaftler,<br />

nur ohne Babyfotos und Katzenvideos. Rund<br />

1,9 Millionen Forscher aus 193 Ländern nutzen Madischs<br />

Portal, um Aufsätze zu veröffentlichen, Forschungsvorhaben<br />

zu diskutieren und Forschungspartner zu finden. Von<br />

der Zentrale in der Berliner Invalidenstraße aus wird der digitale<br />

Austauschmotor beständig mit neuen Funktionalitäten<br />

aufgepowert. Und Spätankömmling Vyacheslav Zholudev,<br />

der in St. Petersburg geboren und in Bremen zum Software-<br />

Geek ausgebildet wurde, ist dabei einer von Madischs begabtesten<br />

Maschinisten.<br />

Wer dem Firmengründer durch seine drei hellen Bürostockwerke<br />

folgt, wähnt sich jäh zurück in den besten Zeiten<br />

des Internethypes. Langhaarige Programmierer hocken vor<br />

flimmernden Monitoren, mit Kopfhörern über den Ohren,<br />

Gothic-Shirts am Leib und Springerstiefeln an den Füßen.<br />

In diversen Besprechungsräumen wird hektisch präsentiert,<br />

„geskypt“ und „getelcot“. Das erste Stockwerk ist komplett<br />

Billard- und Tischtennistischen, Tischkickern sowie einer<br />

Mensa vorbehalten, in der jeder ResearchGate-Mitarbeiter<br />

zwischen drei kostenlosen Menüs wählen kann. „Unsere<br />

Spaßetage“, erklärt Madisch mit einer ausholenden Handbewegung,<br />

„schließlich gehört Entspannung zur Arbeit.“<br />

Man glaubt sich mitten in einem Déjà-vu der New Economy.<br />

ResearchGate-Gründer Ijad Madisch hat derzeit alle<br />

Hände voll zu tun. Sein Portal ist auf dem besten Wege,<br />

zum Facebook der Wissenschaft zu werden.<br />

80<br />

Focus 01/2012


Expertise Report<br />

Fantastischer Schnitt<br />

Der große Unterschied zu damals: Heute sprechen nicht<br />

mehr nur die Wagniskapitalgeber Englisch. Unter Madischs<br />

80 Mitarbeitern sind Ruander, Argentinier, Jemeniten, Venezolaner,<br />

Australier, Franzosen, Finnen, Russen, Polen,<br />

Äthiopier, US-Amerikaner, Syrer, Italiener und Engländer.<br />

„Für uns ist diese Vielfalt enorm wertvoll“, sagt der ResearchGate-Gründer,<br />

„jeder Mitarbeiter ist für uns gleichzeitig<br />

ein Dolmetscher seines Heimatmarkts.“ Und die Anpassung<br />

an unterschiedlichste Märkte, Sprachen und Kulturen<br />

ist entscheidend, damit ResearchGate von indischen<br />

Biotechnologen genauso akzeptiert wird wie von chinesischen<br />

Politikwissenschaftlern. Zu Anfang, erinnert sich Madisch,<br />

habe er manchmal noch zu hören bekommen, seine<br />

Site sei unverkennbar deutschen Ursprungs. „Heute würde<br />

uns das nicht mehr passieren.“<br />

Ein Beispiel: Während deutsche Wissenschaftler zumeist<br />

nur einen akademischen Titel angeben, sind ihre amerikanischen<br />

Kollegen gewohnt, sämtliche Qualifikationen aufzuzählen.<br />

Deshalb wird im ResearchGate-Anmeldefenster<br />

heute nicht mehr nach einem „Degree“, sondern nach „Degrees“<br />

gefragt. Ein wahrhaft winziges Detail – aber eines,<br />

das mit über die weltweite Akzeptanz des Webtools entscheiden<br />

kann. Und ein unmittelbares Ergebnis von Madischs<br />

multinationaler Entwicklermannschaft.<br />

Der Firmengründer selbst, der sich bescheiden als „Administrator“<br />

vorstellt, ist das beste Beispiel für die Egal-wodu-herkommst-Hauptsache-du-bringst-was-mit-Mentalität<br />

der Szene. Madischs Eltern stammen aus Syrien, er selbst<br />

wuchs in Celle und Wolfsburg auf, studierte in Harvard und<br />

kehrte im Oktober 2010 von Boston nach Deutschland zurück.<br />

Im Gepäck hatte er einige Millionen Dollar von Kapitalgebern<br />

wie Matt Cohler, einem der frühen LinkedIn- und<br />

Facebook-Pioniere, heute Partner beim amerikanischen<br />

Wagniskapitalgeber Benchmark. Cohler hätte ihm genauso<br />

gern eine Firmengründung im Silicon Valley finanziert, erzählt<br />

Madisch. Warum dann ausgerechnet Berlin?<br />

„Weil die Konkurrenz um Raum und Talente hier kleiner<br />

ist als im Valley“, erklärt der Gründer. „Wir kriegen hier pro<br />

Woche im Schnitt sechs Initiativbewerbungen für Tech-<br />

Jobs. Das ist ein fantastischer Schnitt.“ Außerdem gelte<br />

Berlin mittlerweile in aller Welt als hippe Wahlheimat. „Wir<br />

haben gerade zwei Leute aus New York und dem Valley gehiret,<br />

die uns beide erklärt haben: ‚Wenn ich nach Europa<br />

gehe, gehe ich nach Berlin.‘“<br />

Und weil das so ist, floriert heute entlang der U-Bahn-<br />

Linie 8 zwischen Kottbusser Tor und Rosenthaler Platz eine<br />

82<br />

Focus 01/2012


Expertise Report<br />

„In den letzten Jahren<br />

sind in Berlin 10 000<br />

primäre Jobs bei Tech-<br />

Start-ups entstanden.“<br />

höchst kosmopolitische Gründerszene. Ihr Wachstum folgt<br />

dem ehernen Cluster-Gesetz, nach dem interessante Leute<br />

am liebsten dorthin gehen, wo bereits interessante Leute auf<br />

sie warten. Keimzelle und Kaffeequelle der Szene ist das<br />

legendäre Café St. Oberholz an der Torstraße, wo Businesspläne<br />

über die Cafétische gereicht werden wie anderswo<br />

Speisekarten. „In den letzten paar Jahren sind in Berlin<br />

10 000 primäre Jobs bei Tech-Start-ups entstanden“, sagt<br />

Dr. Christian Nagel, „das ist schon enorm.“<br />

Christian Nagels Büro liegt auf der gegenüberliegenden<br />

Seite der Torstraße und in einem großzügigen Hinterhofloft,<br />

das früher eine Tanzschule beherbergte. Eigentlich hatte Nagel,<br />

Gründer und Partner der Wagniskapitalfirma Earlybird,<br />

das Loft nur als Konferenz- und Präsentationsraum nutzen<br />

wollen, wenn es im „Oberholz“ mal zu voll oder zu laut war.<br />

Mittlerweile ist die Berliner Gründerszene jedoch derart dynamisch,<br />

dass Nagel kurzerhand sein Hamburger Earlybird-<br />

Büro zugesperrt hat und ganz in die Hauptstadt gezogen ist.<br />

„In Berlin“, sagt der sportliche 51-Jährige, „kommt heute<br />

einfach alles perfekt zusammen.“ Zu Berlins perfekten Bedingungen<br />

zählt die Historie als deindustrialisierte Metropole<br />

und Zuflucht für Wehrdienstverweigerer, Künstler und<br />

andere Kreative. Hinzu kommt die Nähe zu Osteuropa und<br />

damit ein steter Strom an talentierten Programmierern. Und<br />

schließlich sind es die immer noch günstigen Mieten, das<br />

große Angebot an Talenten sowie deutsche Tugenden wie<br />

Präzision, Zuverlässigkeit und Analysekraft, die einen idealen<br />

Nährboden für Start-ups bilden.<br />

„Berlin ist quasi die undeutscheste Stadt – in dem Sinne,<br />

dass hier kein gewachsenes Establishment, sondern mehr<br />

oder weniger Wildwuchs herrscht“, meint Nagel. „Die<br />

Stadt nimmt jeden ohne Vorbehalte auf, und das ist eine<br />

wichtige Voraussetzung, um ausländische Professionals anziehen<br />

zu können.“<br />

Für Earlybird-Partner Dr. Christian Nagel<br />

ist Berlin die undeutscheste Stadt. Und damit<br />

derzeit „the place to be“ für Investoren.<br />

83<br />

Focus 01/2012


Expertise Report<br />

Schnelles Wachstum<br />

Rund 25 Millionen Euro haben Nagel und Kollegen mittlerweile<br />

in sieben Berliner Tech-Start-ups gesteckt, darunter<br />

6Wunderkinder (die Macher der Organizer-App „Wunderlist“),<br />

Moped (eine Art Twitter für den Privatgebrauch) und<br />

madvertise (mobile Werbung). Vor jedem Investment prüfen<br />

die Earlybirds heute immer auch die Heterogenität von Management<br />

und Mitarbeiterstamm – nach Nagels Einschätzung<br />

ein wichtiger Wachstumstreiber. „Wenn man ein Businessmodell<br />

sehr schnell skalieren will, muss es von vornherein so<br />

angelegt sein, dass es auch Japaner, Amerikaner oder Osteuropäer<br />

sofort nutzen können. Und man muss heute schnell<br />

skalieren können, wenn man nicht von einem Größeren und<br />

Schnelleren überholt werden will. Das wiederum heißt nichts<br />

anderes, als dass Vielfalt bereits frühzeitig in der DNA von<br />

Mannschaft und Produkt verankert sein muss.“<br />

Wer hingegen mit seinem Geschäftsmodell in Heimatmarkt<br />

und -kultur verhaftet bleibe, laufe Gefahr, wie studiVZ<br />

von einem internationalen Konkurrenten wie Facebook überrollt<br />

zu werden. Ohne eine mannigfaltige DNA mit einer<br />

Vielfalt an Kulturen, Sprachen, Charakteren und Kompetenzen<br />

seien daher Investoren viel schwerer zu überzeugen.<br />

Ohne Investoren aber kriege ein Start-up kein erstklassiges<br />

Management an Bord. Ohne Topmanagement wiederum<br />

schrumpften seine weiteren Wachstumsaussichten, was automatisch<br />

die Chancen auf Wagniskapital verringere. Diversität,<br />

folgert der Investor, entscheide heute also sehr früh mit<br />

darüber, ob ein Start-up auf schnelles Wachstum einschwenke.<br />

Oder ob es, weil es zu eindimensional denkt und arbeitet, in<br />

einer steten Abwärtsspirale Richtung Selbstauflösung trudelt.<br />

Und weil das so ist, strömen heute nicht nur einzelne<br />

Geeks und Gründer, sondern gleich komplette Start-up-<br />

Teams in die Bundeshauptstadt. Der Schwede Henrik Berggren<br />

beispielsweise zog im Herbst 2011 mit seinem Studienkollegen<br />

David Kjelkerud und ihrer gemeinsamen Unternehmensgründung<br />

Readmill von Stockholm nach Berlin-Mitte.<br />

Readmill ist eine Art virtueller Lesezirkel, dessen Mitglieder<br />

ihre gelesenen E-Books online mit Anmerkungen versehen,<br />

sich virtuell mit anderen Bücherwürmern austauschen und<br />

nachlesen können, was andere gelesen und dabei gedacht haben.<br />

Gerade haben Berggren & Co. ihre Datencloud ins Web<br />

gebracht, die zweite Finanzierungsrunde und einen Umzug in<br />

die Schönhauser Allee hinter sich gebracht. „Es sind verdammt<br />

aufregende Monate“, sagt der 32-jährige Schwede,<br />

„aber wir sind definitiv am richtigen Ort zur richtigen Zeit.<br />

David und ich sind bereits in Malmö gemeinsam zur Schule<br />

gegangen und haben in Stockholm gemeinsam studiert. Als<br />

wir Readmill gründeten, war uns klar, dass unser Unternehmen<br />

wirklich die Welt in sich tragen muss und nicht nur unseren<br />

kleinen schwedischen Kosmos.“<br />

Lesen und lachen viel: Henrik Berggren (links) und<br />

sein Chefentwickler Christoffer Klang<br />

„Diversität entscheidet<br />

heute sehr früh über<br />

die Wachstumschancen<br />

eines Start-ups.“<br />

85<br />

Focus 01/2012


Expertise Report<br />

Multinationale Szene<br />

Mittlerweile beschäftigt Readmill in Berlin-Mitte unter zwölf<br />

Mitarbeitern auch einen amerikanischen Designer sowie<br />

Tushar, den Praktikanten aus Neu-Delhi. Kaum in Berlin<br />

angekommen, wies Tushar seine neuen Arbeitgeber darauf<br />

hin, dass Readmills Applikation auf Basis des Apple-Betriebssystems<br />

ja ganz wunderbar sei – in seiner indischen<br />

Heimat aber nur eine Minderheit der Webnutzer mit Apple<br />

arbeite. „Natürlich wären wir auch ohne ihn darauf gekommen,<br />

dass wir eine Windows-basierte Applikation brauchen“,<br />

sagt Berggren, „aber Tushar hat uns überzeugt, es jetzt zu tun.<br />

In diesem Moment arbeitet er gerade daran. Und in etwa<br />

einem Monat werden wir eine Windows-basierte Version<br />

starten, die uns in Indien hoffentlich viele zusätzliche Nutzer<br />

bringen wird.“<br />

Sechs Stationen der U-Bahn-Linie 8 weiter schraubt Edial<br />

Dekker an ganz ähnlichen Problemen. Tags zuvor hat der<br />

27-jährige Niederländer gerade die weltweite Version von<br />

Gidsy freigeschaltet. „Gids“ ist das niederländische Wort<br />

für „Führer“ und Gidsy eine Vermittlungsplattform, die<br />

Menschen mit besonderen Talenten und Angeboten mit Interessenten<br />

zusammenführt. Über Gidsy lässt sich beispielsweise<br />

eine „Art & Graffiti Tour“ durch Berlin buchen, die<br />

eine gewisse Vanessa organisiert. Michael aus Hamburg<br />

bietet eineinhalb Stunden Tai Chi im Park, Edial und sein<br />

Bruder Floris wiederum offerieren über ihre Website einen<br />

regelmäßig überbuchten Start-up-Crashkurs. Ihre Idee,<br />

Kompetenzen mit Interessenten zu verkuppeln, scheint derart<br />

überzeugend, dass der US-Schauspieler und Investor<br />

Ashton Kutcher im Dezember 2011 die Dekker-Brüder in<br />

ihrem Kreuzberger Dachloft besuchte und ihnen eine geschätzte<br />

Million Dollar Startkapital hinterließ.<br />

„Alles, was wir jetzt zu Anfang tun, wird sich beim<br />

Wachstum multiplizieren“, sagt Edial Dekker. „Wenn wir<br />

also international sein wollen, müssen wir es von Anfang an<br />

sein. Nebenbei helfen uns unsere ausländischen Mitarbeiter,<br />

all die dummen Fehler zu vermeiden, die man in einem<br />

fremden Markt eben so macht.“<br />

Während die Szene erfrischend multinational ist, hat sie<br />

in puncto kultureller, sozialer und geschlechtlicher Diversität<br />

durchaus noch Nachholbedarf. Ihre Protagonisten sind<br />

zumeist männlich, weiß, 25 bis 35 Jahre alt und stammen<br />

aus einer Mittelklassefamilie in Europa oder Nordamerika<br />

(ResearchGates bunter Ländermix bildet hier eine echte<br />

Ausnahme). Asiaten, Südamerikaner oder Afrikaner hingegen<br />

muss man in der Szene lange suchen, Frauen sind Mangelware,<br />

Mitarbeiter jenseits der 40 quasi inexistent und<br />

Quereinsteiger Exoten.<br />

Im Vergleich zum Silicon Valley sei die Gründerszene in<br />

Berlin „leider noch ziemlich homogen“, meint Research<br />

Gate-Gründer Ijad Madisch. Zu erklären sei dies vor allem<br />

durch die unterschiedlichen Gründergeschichten auf beiden<br />

Seiten des Atlantiks: Im Valley würden Unternehmen klassischerweise<br />

von Professionals aus ganz unterschiedlichen<br />

Disziplinen und vor allem mit dem Ziel gegründet, ein spezifisches<br />

Problem zu lösen; die Berliner Gründerszene ist<br />

hingegen ganz wesentlich von männlichen Betriebswirtschaftlern<br />

oder Ingenieuren geprägt. „Aber das ändert sich<br />

gerade, je mehr die Szene reift“, so Madisch.<br />

„Alles, was wir jetzt zu<br />

Anfang tun, wird sich beim<br />

Wachstum multiplizieren.“<br />

86<br />

Focus 01/2012


Lokale Netzwerker<br />

Schließlich birgt Diversität für Unternehmensgründer gleich<br />

mehrere unschlagbare Wettbewerbsvorteile. Zum einen dienen<br />

ihnen Mitarbeiter aus einer Vielzahl an Ländern und<br />

Kulturen als kundige Übersetzer für aktuelle oder künftige<br />

Zielmärkte. Zum anderen fungieren Expats und ihre Netzwerke<br />

auch als Botschafter ihres Unternehmens in ihrer<br />

Heimat. Edial Dekkers Gidsy-Community beispielsweise<br />

wächst derzeit besonders stark in jenen Städten in Kanada,<br />

den Vereinigten Staaten und den Niederlanden, in denen<br />

Gidsy-Mitarbeiter ihre Freunde und Familien auf das Vermittlungsangebot<br />

aufmerksam gemacht haben.<br />

Und schließlich sorgt eine möglichst große Bandbreite<br />

an Charakteren, Kompetenzen, Interessen und Erfahrungen<br />

in der Firma für jenen steten Strom an Inspirationen, ohne<br />

den sich kein starkes Unternehmen aufbauen lässt. „Die<br />

Großkonzerne dieser Welt sind ja vor allem deshalb so langweilig,<br />

weil sie versuchen, durch Gleichheit und Struktur<br />

zum Erfolg zu kommen“, sagt Madisch. „In homogenen<br />

Belegschaften aber gibt es kaum Diskussionen. Und ohne<br />

Diskussionen kommt man nicht weiter.“<br />

Bei ResearchGate sind daher gerade jene Querköpfe<br />

willkommen, die in einer konservativen Konzernkultur früher<br />

oder später anecken würden. Beispielsweise, weil sie<br />

nicht in Anzug und Kostüm, sondern in Gothic-Klamotten<br />

Die App von Edial Dekker bringt Menschen zusammen.<br />

Den Gidsy-Gründer selbst hat sie mit<br />

US-Investor Ashton Kutcher zusammengebracht.<br />

zur Arbeit erscheinen. Weil ihnen Zweizellenbüros und Kernarbeitszeiten<br />

so fremd sind wie Rentenversicherung und<br />

Betriebskrankenkasse. Oder weil sie wie Vyacheslav, der<br />

Programmierer, mitunter bis 3.00 Uhr morgens an einem<br />

Softwareproblem tüfteln und ihren ersten Kaffee des Tages<br />

daher selten vor der Mittagszeit schlürfen.<br />

„Spielen Arbeitszeiten eine Rolle?“, fragt Ijad Madisch<br />

und antwortet sich gleich selbst: „Natürlich. Jeder sollte genau<br />

dann und so arbeiten können, wann und wie es ihm und<br />

seinem Team am ehesten entspricht.“ Und sein Kollege<br />

Vyacheslav beispielsweise arbeite nun einmal definitiv am<br />

besten, wenn er ausgeruht sei.<br />

Zur Person Harald Willenbrock<br />

Harald Willenbrock, 44, ist Reporter des Wirtschaftsmagazins<br />

brand eins. Seine mehrfach ausgezeichneten<br />

Reportagen erscheinen außerdem in GEO, A&W<br />

und NZZ-Folio.<br />

87<br />

Focus 01/2012


Forum<br />

<strong>Egon</strong><br />

<strong>Zehnder</strong><br />

<strong>International</strong><br />

Diversity und Inclusion:<br />

<strong>International</strong>e Initiativen<br />

Für <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong> ist Diversity ein<br />

umfassendes Konzept, das nicht nur Rasse und<br />

Geschlecht umfasst, sondern auch Kultur,<br />

Nationalität, Bildung und Ausbildung, Lebenserfahrung,<br />

Mentalität und Denkweise. Vor diesem<br />

Hintergrund unterstützt die Firma unter anderem<br />

folgende Projekte.<br />

Personelle Vielfalt in Boards<br />

Der European Roundtable of Industrialists hat eine Initiative<br />

zur Steigerung des Frauenanteils in Vorstandsgremien ins<br />

Leben gerufen. Die teilnehmenden Firmen stellen ihre weiblichen<br />

Toptalente <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong> und zwei weiteren<br />

Personalberatungsunternehmen<br />

als mögliche Kandidatinnen für eine Position<br />

im Board vor, um die aktive Förderung<br />

talentierter weiblicher Führungskräfte<br />

effektiver zu gestalten.<br />

www.ert.eu/women/<br />

Cambridge Scholarship<br />

Als Teil der Verpflichtung zu mehr Diversity auf allen<br />

Führungsebenen fördert <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong> eine<br />

Doktorandin im Rahmen eines auf drei Jahre angelegten<br />

Programms am Center of Gender Studies der Universität<br />

Cambridge (UCCGS). Forschungsschwerpunkt der Stipendiatin<br />

sind geschlechtsspezifische Vorurteile in Bewertungs-<br />

und Auswahlprozessen.<br />

WomenChangeMakers<br />

Bei der Jahrestagung der Clinton Global Initiative verpflichtete<br />

sich WomenChangeMakers, eine globale professionelle<br />

Plattform zu erstellen, mit der Sozialunternehmer<br />

im Bereich Frauenförderung unterstützt werden. Experten<br />

verschiedener Unternehmen, darunter <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong>,<br />

wollen sich für optimierte Führungsstrukturen,<br />

mehr Nachhaltigkeit und betriebliche Integrität einsetzen.<br />

www.womenchangemakers.org (ein Program der Womanity<br />

Foundation, www.womanity.org)<br />

European Board Diversity<br />

Analysis 2012<br />

Mehr Frauen in operativen Rollen notwendig<br />

<strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong> hat seit 2004 zum fünften Mal<br />

die Zusammensetzung von Spitzengremien der größten europäischen<br />

Unternehmen untersucht. Bei der Besetzung von<br />

Vorstandspositionen und Aufsichtsgremien mit Frauen können<br />

deutsche Unternehmen einen starken Anstieg verzeichnen.<br />

Hierzulande sind Mitte 2012 insgesamt 12,8 Prozent<br />

der Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder weiblich (2010:<br />

8,7 Prozent), in Europa sind es 15,6 Prozent (2010: 12,2 Prozent).<br />

Damit liegt der Anstieg in Deutschland prozentual<br />

über dem EU-Schnitt (47,1 Prozent im Vergleich zu 27,1 Prozent<br />

in Europa, Zeitraum: 2010–2012). Besonders deutlich<br />

ist der Zuwachs bei Neubesetzungen: 40,7 Prozent aller neuen<br />

Führungspositionen sind in Deutschland in den letzten<br />

zwölf Monaten mit Frauen besetzt worden. Ein anderes Bild<br />

ergibt sich bei Vorstandspositionen. Zwar kann auch hier ein<br />

Wachstum verzeichnet werden, allerdings bleibt der Anteil<br />

von Frauen in operativen Managementfunktionen auf niedrigem<br />

Niveau: 4,5 Prozent der untersuchten Unternehmen haben<br />

Frauen im Vorstand – 2010 waren es 2,3 Prozent.<br />

www.egonzehnder.de/EBDA-2012<br />

Auf dem Weg zu einer<br />

nachhaltigen Diversity-Kultur?<br />

Ein Einblick in deutsche Unternehmen<br />

Wer das Thema Diversity in der öffentlichen Berichterstattung<br />

verfolgt, mag schnell den Eindruck gewinnen, dass es<br />

dabei einzig um den Anteil von Frauen im Topmanagement<br />

geht. Doch wie sehen es die Unternehmen selbst, die sich tagtäglich<br />

mit diesem Thema befassen? Welche Ziele verfolgen<br />

sie? Wie nachhaltig tragen sie das Thema Diversity in ihre<br />

Organisation? <strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> <strong>International</strong> hat mit Führungspersonen<br />

aus 15 großen deutschen Unternehmen über ihre<br />

Standpunkte, Erfahrungen und Empfehlungen gesprochen.<br />

Das Ergebnis gewährt einen beispielhaften Einblick in hiesige<br />

Erfahrungen mit dem Diversity Management und zeigt, dass<br />

die nächste Herausforderung auf dem Weg hin zu einer nachhaltigen<br />

Diversity-Kultur das Thema Inklusion sein wird.<br />

www.egonzehnder.de/diversity-studie-2012<br />

88<br />

Focus 01/2012


<strong>Egon</strong> <strong>Zehnder</strong> Offices<br />

Amsterdam<br />

Athen<br />

Atlanta<br />

BANGALORE<br />

BArcelona<br />

Beijing<br />

Berlin<br />

Bogotá<br />

Boston<br />

BrÜSSEL<br />

Budapest<br />

Buenos Aires<br />

CALGARY<br />

Chicago<br />

Dallas<br />

Dubai<br />

Düsseldorf<br />

Frankfurt AM MAIN<br />

GENF<br />

Hamburg<br />

Helsinki<br />

HongKong<br />

Houston<br />

Istanbul<br />

Jakarta<br />

Jeddah<br />

johannesburg<br />

Kopenhagen<br />

Kuala Lumpur<br />

LisSAbon<br />

London<br />

Los Angeles<br />

Luxemburg<br />

Lyon<br />

Madrid<br />

MAILAND<br />

Melbourne<br />

Mexiko-Stadt<br />

Miami<br />

MontrÉal<br />

MosKAU<br />

Mumbai<br />

MÜNCHEN<br />

Neu-Delhi<br />

New York<br />

OSLO<br />

Palo Alto<br />

Paris<br />

Prag<br />

Rio de janeiro<br />

Rom<br />

San Francisco<br />

Santiago<br />

São Paulo<br />

Schanghai<br />

SEOUL<br />

Singapur<br />

stuttgart<br />

Sydney<br />

Tel Aviv<br />

TokIo<br />

Toronto<br />

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FOCUS 01/2012

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