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Anfänge am Atlantik (I): Wann entstanden die ersten Megalithbauten?

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Portugiesisches Ganggrab<br />

»Casa da Orca da Cunha<br />

Baixa« – Ermöglichte erst <strong>die</strong><br />

Neolithische Revolution <strong>die</strong><br />

Errichtung solcher gewaltiger<br />

Megalithgräber?<br />

<strong>Anfänge</strong> <strong>am</strong> <strong>Atlantik</strong> (I):<br />

<strong>Wann</strong> <strong>entstanden</strong> <strong>die</strong> <strong>ersten</strong> <strong>Megalithbauten</strong>?<br />

Tonnenschwere Steinplatten zu Trag- und Decksteinen<br />

aufgeschichtet wie beim portugiesischen<br />

Ganggrab »Casa da Orca da Cunha Baixa«, gewaltige,<br />

tonnenschwere Findlinge auf über 100 m Länge zu<br />

einem Hünenbett aneinander gereiht wie bei Kleinenkneten<br />

(Niedersachsen) – sind <strong>die</strong>se <strong>Megalithbauten</strong><br />

nur <strong>entstanden</strong>, weil <strong>die</strong> Neolithische Revolution in<br />

Nordeuropa Einzug hielt und <strong>die</strong> nun sesshafte, Ackerbau<br />

und Viehzucht treibende Bevölkerung ihre überschüssigen<br />

Kräfte in derartige Projekte investierte?<br />

Bis vor rund drei Jahrzehnten war <strong>die</strong> Archäologie<br />

ge nau <strong>die</strong>ser Meinung, mit der Neolithischen Revolution<br />

sei <strong>die</strong> Megalithkultur nach Nordeuropa gekommen.<br />

Doch dann stürzten Datierungen des Kohlenstoff-<br />

14 (C-14) <strong>die</strong>se Theorie: Ausgerechnet <strong>die</strong> <strong>am</strong> weitesten<br />

vom Nahen Osten entfernt gelegenen Megalithregionen<br />

Nordwesteuropas erwiesen sich als <strong>die</strong> ältesten.<br />

So sehr Großsteingräber wie der »Teufelsbackofen«<br />

auch unsere Fantasie ansprechen, im wissenschaftlichen<br />

Sinne haben sie ein weitreichendes »Schweigegelübde«<br />

abgelegt. Denn <strong>die</strong> Steine selbst liefern keine<br />

zuverlässigen Informationen: Sie sagen nur aus, wie alt<br />

sie geologisch sind und wo sie herst<strong>am</strong>men, jedoch<br />

nicht, wann sie aufgerichtet wurden, von wem und zu<br />

welchem Zweck.<br />

Siedlungen, denen <strong>die</strong> <strong>Megalithbauten</strong> zugeordnet<br />

werden könnten, fehlen für <strong>die</strong> Frühphase.<br />

Während Menhire und Steinkreise für <strong>die</strong> Archäologen<br />

meistens wie Tatorte perfekter Verbrechen – ohne<br />

irgendwelche Indizien ihrer Urheber – aussehen, weisen<br />

einfache Grabk<strong>am</strong>mern, Dolmen und Galeriegräber,<br />

aussagekräftiges Material auf, auch wenn sie vor langer<br />

Zeit ausgeraubt wurden: Holzkohle, einzelne Knochenfunde,<br />

Pollen.<br />

Doch <strong>die</strong> Wissenschaftler mussten erst lernen, <strong>die</strong>se<br />

Spuren zum Sprechen zu bringen – und <strong>die</strong> Frühgeschichtler<br />

mussten lernen, <strong>die</strong>se Aussagen zu akzeptieren<br />

und zu interpretieren.<br />

Organische Atomuhren<br />

Um <strong>die</strong> Spekulationen betreffs des Alters der ältesten<br />

<strong>Megalithbauten</strong> zu beenden, wurden 1955 <strong>die</strong> <strong>ersten</strong><br />

C-14-Datierungen an Barnenez vorgenommen, <strong>die</strong> auf<br />

<strong>die</strong> Mitte des 5. Jtsd. v. Chr. hinwiesen.<br />

Erst 1949 hatte der <strong>am</strong>erikanische Chemiker und<br />

Geo physiker Willard Frank Libby <strong>die</strong>se neuartige Messung<br />

entwickelt – ein Nebenprodukt der Atomforschung,<br />

für das er 1960 den Chemie-Nobelpreis erhielt. Die<br />

C-14- oder Radiokarbonmethode wird auch Radiokarbonuhr<br />

oder Atomkalender genannt. Mit ihr lässt sich<br />

das Alter von historischen Materialien messen – allerdings<br />

nur von organischen Stoffen.<br />

Denn in <strong>die</strong>sen organischen Materialien s<strong>am</strong>melt<br />

sich Kohlenstoff an, neben dem normalen (C-12) auch<br />

das radioaktive C-14. Das radioaktive Kohlenstoffi sotop<br />

C-14 wird durch kosmische Strahlung in der Luft gebildet:<br />

Im Gegensatz zu anderen Radioisotopen entsteht es<br />

ständig dort in der Atmosphäre, wo kosmische Teilchen<br />

mit Stickstoffatomen zus<strong>am</strong>menstoßen. Das C-14-Isotop<br />

bindet sich sofort mit Sauerstoff zu Kohlendioxid,<br />

das von den Pfl anzen aufgenommen und in ihre Zellen<br />

eingebaut wird. Die Pfl anzen werden von Tieren und<br />

<strong>die</strong>se wiederum von anderen Tieren und zuletzt vom<br />

Menschen verspeist. Das C-14 zerfällt im Organismus,<br />

der Zerfall des Kohlenstoffi sotops setzt radioaktive Strahlung<br />

frei – im lebenden menschlichen Körper etwa geschieht<br />

das pro Sekunde rund 16 000 Mal. Doch da der<br />

Organismus durch Nahrung und Atmung ständig neues<br />

C-14 aufnimmt, bleibt der Anteil an C-14 nahezu konstant.<br />

Das ändert sich erst mit dem Tod, der <strong>die</strong> C-14-<br />

Zufuhr in den Körper stoppt; nun beginnt <strong>die</strong> Radiokarbonuhr<br />

zu ticken, wie Libby es formulierte.<br />

C-14 zerfällt mit einer Halbwertzeit von ca. 5730<br />

Jahren. Nimmt man ein Gr<strong>am</strong>m Kohlenstoff eines gerade<br />

abgestorbenen Organismus, kommt es zu rund 16<br />

Strahlungen pro Minute, ist <strong>die</strong> Probe 22 000 Jahre alt,<br />

liegt der Wert bei gerade noch einer Strahlung pro Minute.<br />

Nach 40 000 Jahren schließlich wird <strong>die</strong> Konzen-<br />

35<br />

ANFÄNGE AM ATLANTIK (I)


Verbreitung der Dolmen und verwandter Megalithgräber<br />

Die klassischen Verbreitungsgebiete der Ur- und<br />

erweiterten Dolmen sind Dänemark, Schleswig-<br />

Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, aber auch<br />

Schweden. Sie wurden sowohl mit Rund- als<br />

auch mit Langhügeln ummantelt. Steinkisten<br />

fi nden sich gehäuft in Schweden, kaum in Dänemark<br />

und Norddeutschland, Ganggräber mit<br />

falschem Gewölbe fehlen völlig.<br />

Für <strong>die</strong> anderen Gebiete hängt der Befund entscheidend<br />

davon, wie Dolmen und Ganggräber<br />

voneinander unterschieden werden. So urteilt<br />

<strong>die</strong> Archäologin M<strong>am</strong>oun Fansa über Nordwestdeutschland:<br />

»Die Großsteingräber zwischen<br />

Weser und Ems gehören zu den Ganggräbern.<br />

Dolmen, wie wir sie aus dem östlichen Verbreitungsgebiet<br />

kennen, gibt es hier nicht.«<br />

Doch ein gangloses Großsteingrab wie der so<br />

genannte »Stein in Herrenfand« bei Lastrup<br />

(Cloppenburg) ließe sich mit seinen zehn<br />

Tragsteinen und vier Decksteinen durchaus als<br />

»erweiterter Dolmen« defi nieren.<br />

An der westfranzösischen <strong>Atlantik</strong>küste wurden<br />

auch klassische Dolmen gebaut wie beispielsweise<br />

der Dolmen de la Frébouchère in Le<br />

Bernard mit neun Tragsteinen, einem riesigen<br />

Deckstein von 80t und dem Eingang auf der<br />

Schmalseite. Doch in Frankreich ist der Übergang<br />

zu Ganggräbern fl ießend, genauso wie<br />

der zu den Ganggräbern mit falschem Gewölbe<br />

und Galeriegräbern.<br />

Außerdem gibt es hier viele Steinkisten – deren<br />

Tradition entstand ja vermutlich an der bretonischen<br />

Küste.<br />

In Irland dominieren unter den rund 1500<br />

erhaltenen Megalithen vor allem Ganggräber<br />

in verschiedenen Varianten: neben dem<br />

klassischen Ganggrab (Passage Tomb) auch das<br />

Grab mit ummauertem Vorhof (Court Tomb),<br />

das Grab mit fl ankierenden Menhiren (Portal<br />

Tomb), das Galeriegrab mit keilförmigem<br />

Grundriss und Steinkisten.<br />

Auch in England und Schottland fi nden sich<br />

neben klassischen Dolmen wie jenen nahe<br />

Login (Pembrokeshire/Wales) Ganggräber,<br />

<strong>die</strong> bis in <strong>die</strong> Inselwelten Nordschottlands<br />

– Orkneys und Shetlands – reichen. Besonders<br />

typisch für England und Wales sind jedoch<br />

Langhügel mit Ganggräbern.<br />

Auf der Iberischen Halbinsel dagegen fehlen<br />

Urdolmen, Galeriegräber und Langhügel. In<br />

70<br />

D OLMEN, GANGGRÄBER UND HÜNENBETTEN<br />

Der äußere Steinkreis des<br />

»Teufelsbackofens« im Everstorfer<br />

Forst nahe Wismar<br />

bildete keinen zusätzlichen<br />

Steinkreis, sondern ist<br />

<strong>die</strong> erhalten gebliebene<br />

Einfassung des einstigen<br />

Grabhügels, der den Dolmen<br />

ummantelte.<br />

den 1920er bis 1940er Jahren hat das deutsche<br />

Archäologen-Paar Vera und Georg Leisner <strong>die</strong><br />

Megalithen der Iberischen Halbinsel eingehend<br />

erforscht. Sie entwickelten 45 Kriterien, anhand<br />

derer <strong>die</strong> <strong>Megalithbauten</strong> kategorisiert werden<br />

konnten. Doch <strong>die</strong> sinnvollste, weil ausgeprägteste<br />

Unterscheidung ist <strong>die</strong> zwischen Ganggräbern<br />

und Kuppelgräbern – beide mit einem<br />

Rundhügel. Das typische Ganggrab besteht aus<br />

einer polygonalen K<strong>am</strong>mer, <strong>die</strong> von einem großen,<br />

jedoch schmalen Jochstein bedeckt wird.<br />

Die Verbreitung der Dolmen und Ganggräber in<br />

südöstlicher Richtung reicht bis in den Balkan,<br />

beispielsweise ins türkische Thrakien. Nordöstlich<br />

von Edirne bei Lalapascha existieren noch<br />

heute 30 bis 40 Dolmen. Häufi ger als Dolmen<br />

mit einer Grabk<strong>am</strong>mer sind solche mit zwei<br />

hintereinander angelegten K<strong>am</strong>mern, oftmals<br />

haben sie als Einstieg ein so genanntes »Seelenloch«.<br />

Auf Malta schließlich k<strong>am</strong> der klassische Dolmen<br />

erst in der Bronzezeit zum Einsatz. Kleine<br />

Dolmen für Individualbestattungen aus <strong>die</strong>ser<br />

Zeit fi nden sich noch im Südwesten von Gozo.<br />

Schlichte Eleganz – Alt-Gaarz<br />

gilt als einer der schönsten<br />

Urdolmen im Ostseeraum.<br />

den Dolmen und Ganggräber gebaut – mit manchmal<br />

erstaunlicher Dichte: Südwestlich von Haaßel (Kreis<br />

Uelzen) lag ein lang gestrecktes Megalithfeld mit über<br />

40 Ganggräbern und Hünenbetten. Hier war <strong>die</strong> Landschaft<br />

übersät mit Findlingen jeder Größe: von kleinen<br />

Kieselsteinen bis zu gewaltigen Felsbrocken.<br />

Noch heute, nach über 6000 Jahren Landwirtschaft,<br />

lässt sich jeden Herbst beobachten, wie <strong>die</strong> Bauern dort<br />

beim Umpfl ügen <strong>die</strong> freigelegten Steine <strong>am</strong> Rande der<br />

Felder zu ganzen Hügeln zus<strong>am</strong>mentragen – so genannte<br />

Lesesteinhaufen.<br />

Wie sahen <strong>die</strong> Dolmen eigentlich aus?<br />

Die steinernen Grabk<strong>am</strong>mern nahezu aller Dolmen und<br />

Ganggräber in Nord- und Westeuropa lagen nicht offen<br />

zutage, wie es mancher Megalith heute nahe legt,<br />

sie wurden fast alle von Grabhügeln aus Erdschichten<br />

bedeckt. So bildet der äußere Steinring des Teufelsbackofens<br />

im Everstorfer Forst nahe Wismar nicht etwa einen<br />

Cromlech, sondern er ist <strong>die</strong> übrig gebliebene Einfassung<br />

des einstigen Grabhügels, der <strong>die</strong> Grabk<strong>am</strong>mer ummantelte.<br />

Doch wie hoch waren <strong>die</strong> Grabhügel ursprünglich?<br />

Das Großsteingrab II von Kleinenkneten wurde 1938<br />

rekonstruiert, indem das Erdreich, das links und rechts<br />

der Megalithanlage lag, wieder aufgetürmt wurde. Doch<br />

das ist zu knapp bemessen, denn sicherlich hat im Laufe<br />

der Jahrtausende <strong>die</strong> Erosion etliche Kubikmeter Erdmaterial<br />

abgeführt. Die realistische Rekonstruktion eines<br />

Grabhügels erwartet uns im Boyne-Tal, 50km nördlich<br />

von Dublin. Dort wurden <strong>die</strong> Erdmäntel von Megalithgräbern<br />

nicht zu halbkugelförmigen Kuppen, sondern<br />

zu zuckerhutförmigen Gipfeln aufgetürmt.<br />

Wenn wir uns darüber hinaus noch vergegenwärtigen,<br />

dass <strong>die</strong> Megalithgräber häufi g auf Anhöhen errich-<br />

71<br />

DOLMEN, GANGGRÄBER UND HÜNENBETTEN


Neolithisches Matriarchat auf Malta und in Çatal Hüyük?<br />

Als Matriarchat wird eine Gesellschaftsordnung<br />

bezeichnet, in der <strong>die</strong> Frau oder <strong>die</strong> Mutter <strong>die</strong><br />

vorherrschende Rolle spielt, <strong>die</strong> sich in mutterrechtlicher<br />

Besitz- und Erbfolge oder in einer<br />

herausragenden Bedeutung der Frau in der<br />

religiösen Kultur zeigen kann. Angesichts der<br />

vielen korpulenten und vermeintlich weiblichen<br />

Statuen wie derjenigen der »Magna Mater« von<br />

Tarxien (dem unteren, bis zur Hüfte reichenden<br />

Körperteil einer korpulenten Kolossalstatue)<br />

wird darüber spekuliert, ob auf Malta ein<br />

Fruchtbarkeitskult oder gar ein Matriarchat<br />

geherrscht habe.<br />

Die Archäologin Marija Gimbutas hat in ihren<br />

Büchern (1974 – 1999) eine Theorie des Matriarchats<br />

zus<strong>am</strong>mengefasst: Die neolithische<br />

Lebensweise breitete sich als friedliche Agrargesellschaft<br />

vom Nahen Osten bis nach Westeuropa<br />

aus. Die vielen Funde an Muttergottheiten<br />

und Fruchtbarkeitssymbolen wie Spiralen beweisen,<br />

dass <strong>die</strong> Gesellschaften matriarchalisch<br />

organisiert waren. Erst im 4. und 3. Jtsd. v. Chr.<br />

wurde <strong>die</strong>se friedfertige Welt von anstürmenden,<br />

patriarchalisch organisierten Reitervölkern<br />

aus Innerasien zerstört.<br />

Auch <strong>die</strong> Interpretation der Religionswissenschaftlerin<br />

Ina Wunn geht in <strong>die</strong>se Richtung:<br />

Während in der <strong>ersten</strong> Hälfte des Neolithikums<br />

Ahnenfi guren und weibliche Göttinnen<br />

überwogen, sind es in der zweiten Hälfte <strong>die</strong><br />

mit Axt, Krummstab oder Haken ausgerüsteten<br />

männlichen Gottheiten wie beispielsweise der<br />

Kriegsgott von Szegvar.<br />

Dagegen hält der Frühgeschichtler Jens Lüning:<br />

»In Mitteleuropa sind seit Beginn der Götterdarstellungen<br />

<strong>die</strong> Hälfte aller Götter männlich.«<br />

Darüber hinaus gibt es auch keine Hinweise für<br />

eine Invasion – so der <strong>am</strong>erikanische Archäologe<br />

Chris Scarre: »Invasionen durch Steppenvölker<br />

sind archäologisch nicht bewiesen, und<br />

es gibt keine Anzeichen dafür, dass im 4. und<br />

3. Jtsd. v. Chr. neue Völker nach Europa gezogen<br />

wären.«<br />

Wie spekulativ <strong>die</strong> ganzen Schlussfolgerungen<br />

sind, zeigt sich besonders bei Çatal Hüyük.<br />

Der Ort mit seinen frühen Figuren der »Magna<br />

Mater« wird meistens als Kronzeuge für eine urneolithische<br />

und gleichzeitig matriarchalische<br />

Gesellschaft angeführt.<br />

Das von 1961 bis 1965 von dem britischen<br />

Frühgeschichtler J<strong>am</strong>es Mellaart rund 50 km<br />

südöstlich der zentralanatolischen Stadt Konya<br />

ausgegrabene Çatal Hüyük (Hügel an der Weggabelung)<br />

revolutionierte <strong>die</strong> bis dahin gültige<br />

Kulturgeschichte. Der rund zweitausend Jahre<br />

durchgehend besiedelte Wohnhügel wurde<br />

gemeins<strong>am</strong> mit anderen Fundstätten Anatoliens<br />

zum Bindeglied der Neolithischen Revolution<br />

zwischen dem Gebiet des fruchtbaren Halbmondes<br />

und den Landschaften Südosteuropas.<br />

Auf über 14 ha drängten sich hier ineinander<br />

verschachtelte Lehmbauten, zwischen denen<br />

102<br />

KULTGRÄBER UND TEMPELBAUTEN<br />

Höfe, jedoch keine Gassen und Straßen lagen.<br />

Die Menschen stiegen durch Dachluken in<br />

<strong>die</strong> spartanisch eingerichteten Räume: eine<br />

Feuerstelle, ein kleines Heiligtum und Podeste,<br />

auf denen getrennt voneinander Männer sowie<br />

Frauen und Kinder schliefen. Reich verziert<br />

waren dagegen <strong>die</strong> Wände der Wohnräume;<br />

unter der Vielfalt der Motive sticht besonders<br />

<strong>die</strong> Muttergöttin hervor, <strong>die</strong> als Gebärende mit<br />

für <strong>die</strong> Frühzeit typisch übertriebenen Geschlechtsmerkmalen<br />

– große Brüste und breite<br />

Hüften mit dicken Oberschenkeln – dargestellt<br />

wurde. Sie avancierte zum Ursymbol für eine<br />

neolithische Lebensweise unter matriarchalischer<br />

Ordnung.<br />

Doch Mellaarts Schüler Ian Hodder, der nach<br />

30-jähriger Grabungspause 1995 <strong>die</strong> Arbeiten<br />

in Çatal Hüyük wieder aufgenommen hat,<br />

fand keine Anzeichen dafür, dass <strong>die</strong> Bewohner<br />

überwiegend von Ackerbau und Viehzucht<br />

lebten. Mittlerweile ist der Forschung insges<strong>am</strong>t<br />

klar, dass der Prozess des Sesshaftwerdens<br />

keine Folgeerscheinung des Ackerbaus war. Die<br />

Menschen bauten ihre Dörfer und probierten<br />

das Säen von Pfl anzen und das Züchten von<br />

Tieren zunächst als Zweit- und Dritterwerb aus.<br />

Dies könnte auch <strong>die</strong> Entwicklung Çatal Hüyüks<br />

zur Stadt erklären; <strong>die</strong> große, auf einander<br />

eingespielte Gemeinschaft wäre geeignet<br />

gewesen, um <strong>die</strong> Gazellenherden, <strong>die</strong> zwischen<br />

dem Taurusgebirge und der Arabischen Halbinsel<br />

hin- und herzogen, zu jagen. Hunderte<br />

von Menschen waren erforderlich, um <strong>die</strong><br />

Tiere in riesige, vorher errichtete V-förmige<br />

Absperrungen zu treiben. Zu <strong>die</strong>ser Annahme<br />

passt auch das Ende von Çatal Hüyük. Um<br />

5800/5700 v. Chr. verschwand <strong>die</strong> Jagd als<br />

Bildmotiv, wenig später wurde <strong>die</strong> Stadt aufgegeben<br />

– nicht neolithische Lebensweise oder<br />

Matriarchat waren <strong>am</strong> Ende, sondern <strong>die</strong> Zeit<br />

der großen, gemeins<strong>am</strong>en Jagd war in Çatal<br />

Hüyük vorüber.<br />

Neben Muttergöttinnen fi nden sich in Çatal<br />

Hüyük häufi g Darstellungen und Artefakte<br />

von Stieren und Auerochsen.<br />

Regionale Symbolik der<br />

Megalithkulturen (nach<br />

J.-P- Mohen und M. Fansa)<br />

Irische Symbole<br />

Atlantischer Ozean<br />

Westiberische Symbole<br />

<strong>die</strong> Lebenskraft, Werden, Fruchtbarkeit, Leben an sich<br />

symbolisiert«, argumentiert Mahlstedt. Heißt das jedoch<br />

auch, dass wir aus der überzeichneten Darstellung und<br />

der symbolischen Überhöhung der fruchtbaren Frau<br />

schlussfolgern dürfen, ja müssen, <strong>die</strong> religiöse Welt aller<br />

neolithischen Kulturen sei dominiert worden von einer<br />

Muttergöttin, <strong>die</strong> <strong>die</strong> »Ernährerin Erde« verkörperte?<br />

Ihre Argumentation gipfelt in der Deutung von Funden<br />

in Çatal Hüyük: Eine kleine Frauenstatuette in einem<br />

Kornspeicher soll <strong>die</strong> Vitalkraft des Saatgutes gestärkt<br />

haben. Doch nach heutigem Wissen gab es dort<br />

keine Kornspeicher, weil <strong>die</strong> Bewohner keine Bauern,<br />

sondern Jäger waren.<br />

Tajo<br />

Ebro<br />

Loire<br />

Nordsee<br />

Bretonische Symbole<br />

Mittelmeer<br />

Für Çatal Hüyük, Newgrange, <strong>die</strong> Megalithtempel<br />

auf Malta und andere jungsteinzeitliche Fundstellen gilt,<br />

was der Archäologe Chris Scarre resümiert: »Die sorgfältige<br />

Überprüfung jedes einzelnen Falles hat ergeben,<br />

dass von einer einzigen Universalreligion keine Rede<br />

sein kann, dass es sich vielmehr um unterschiedliche Bekenntnisse<br />

und Bräuche handelt.«<br />

So lassen sich <strong>die</strong> meisten Figuren auf Malta, auch <strong>die</strong><br />

»Magna Mater«, nicht eindeutig zuordnen, denn ihnen<br />

fehlen <strong>die</strong> primären Geschlechtsmerkmale. Es ist möglich,<br />

dass sie lediglich <strong>die</strong> Verkörperung des Wunsches<br />

nach Wohlstand darstellen.<br />

Rhein<br />

Po<br />

Ostsee<br />

Symbole der Trichterbecher-Kultur<br />

Donau<br />

Sawe<br />

0 100 200 300 400 500 km<br />

103<br />

KULTGRÄBER UND TEMPELBAUTEN<br />

N<br />

S

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