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Anmerkungen Zur Diskusion um das Verhältnis Physische Geographie

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„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“?<br />

Diskussionsbemerkungen zu den Vorträgen auf der Münchner Tagung<br />

„<strong>Geographie</strong> als integrierte Umweltwissenschaft“<br />

Von<br />

Hans Gebhardt, Geographisches Institut der Universität Heidelberg<br />

Text aus: Münchner Geographische Hefte xx, 2004, S. xx – xx<br />

Vorbemerkung: Im Anschluss an die Vorträge von Hartmut Leser, Peter Weichhart und Rainer<br />

Danielzyk auf dem Münchner Symposi<strong>um</strong> zur integrativen <strong>Geographie</strong> hatte sich eine lebhafte<br />

Diskussion zwischen Referenten und dem Plen<strong>um</strong> im Saal entwickelt. Auf Anregung der Herausgeber<br />

habe ich im folgenden einige Gedanken und Arg<strong>um</strong>ente zusammengestellt, die ich während der<br />

Veranstaltung vorgetragen hatte. Sie sind in diesem Sinne als vorläufig zu verstehen und auf den<br />

konkreten Diskussionzusammenhang bezogen.<br />

Die Forderung nach Trennung von <strong>Physische</strong>r <strong>Geographie</strong> und Anthropogeographie ist<br />

ebenso alt wie die Versuche, konzeptionell ein „Brücken“- oder „Integrationsfach“<br />

<strong>Geographie</strong> zu begründen. Bereits Alfred Rühl wähnte 1933 die Einheitsgeographie am Ende,<br />

Dietrich Bartels (1968) forderte eine sozialwissenschaftliche Orientierung der<br />

Anthropogeographie auf der Basis des in jenen Jahren aufkommenden analytischszientistischen<br />

Paradigmas und sah diese als nicht mehr kompatibel mit der physischen<br />

<strong>Geographie</strong> an. Die wohl pessimistischste Perspektive entwickelte Gerhard Hard (1973),<br />

welcher der <strong>Geographie</strong> in letzter Konsequenz nur noch die Funktion eines natur- bzw.<br />

kulturkundlichen Zentrierungsfaches für den Schulunterricht zubilligen wollte.<br />

Auf der anderen Seite fehlte es nicht an darauf reagierenden Versuchen, konzeptionell eine<br />

„Einheitsgeographie“ (wieder ) zu begründen, so in Peter Weichharts Dissertation (1975) mit<br />

seinem Vorschlag einer eigenständigen „Ökogeographie“ bis hin z<strong>um</strong> jüngsten, von Eckart<br />

Ehlers und Hartmut Leser herausgegebenen Sammelband „<strong>Geographie</strong> von heute - für die<br />

Welt von morgen“ (2002) (siehe Beitrag Leser).<br />

Weshalb stürzt sich eigentlich jede neue Geographengeneration erneut in diesen<br />

„Einheitsdiskurs“, war<strong>um</strong> werden immer wieder neue (oder auch alte) „Einheitsparadigmen“<br />

entwickelt? Ich denke, dies hat zunächst eher wissenschaftsorganisatorische und –<br />

soziologische Gründe als fachtheoretische Gründe. Fast überall dort, wo es in den letzten<br />

Jahrzehnten an Universitäten zur Aufspaltung des Faches in einen sozial- und<br />

naturwissenschaftlichen Zweig und zur Verankerung in verschiedenen Fakultäten gekommen<br />

ist, hat man damit schlechte Erfahrungen gemacht. Die beiden „<strong>Geographie</strong>n“ sahen sich<br />

häufig mit „Verwertungsinteressen“ der jeweiligen Nachbarfächer und mit „feindlichen<br />

Übernahmen“ konfrontiert. Lehrstühle wurden <strong>um</strong>benannt oder mit Nichtgeographen besetzt,<br />

mittelfristig war damit auch der Bestand der fachlichen Ausbildung gefährdet. „We are<br />

hanging together otherwise we hang alone“, mit diesem alten Wild-West-Motto hat erst jüngst<br />

der Vorsitzende des VGDH, Peter Meusburger, <strong>das</strong> Problem auf den Punkt gebracht. Auch<br />

die wissenschaftliche Sozialisation des geographischen Nachwuchses spielt in der Diskussion<br />

<strong>um</strong> den Facherhalt (einer <strong>Geographie</strong>) eine Rolle. Die <strong>Geographie</strong>, so ließe sich etwas<br />

holzschnittartig formulieren, bildet heute weniger einen fachlichen als vielmehr einen<br />

wissenschaftsorganisatorischen Zusammenhang, mit eigenen Fachgutachtern (z.B. bei der<br />

DFG) und einem spezifischen „Drittmittelkuchen“ und sie ist ein Fach (z.B. in Deutschland<br />

mit gut 50 Universitätsinstituten), <strong>das</strong> groß genug ist, <strong>um</strong> eine qualifizierte Auslese des<br />

1


Nachwuchses zu garantieren, aber klein und „familiär“ genug, <strong>um</strong> die Bildung personaler<br />

Netzwerke zu begünstigen und über entsprechende wissenschaftlich-soziale Kontakte<br />

(Seilschaften) die individuellen Karrieren voranzutreiben. Schließlich – ein weiteres<br />

Arg<strong>um</strong>ent für die fachliche Einheit- wird ein „ganzes und ungeteiltes“ Fach von unserer<br />

„Kundschaft“, den Studierenden, inzwischen in der Regel auch erwartet. Noch anders als in<br />

den 1970er Jahren, als weite Teile des „Mittelbaus“ und der interessierten Studentenschaft<br />

sich in Trennungsrhetorik ergingen, auch in Abgrenzung zu den kritisierten „Altordinarien“,<br />

bildet heute <strong>das</strong> „Integrationsfach“ <strong>Geographie</strong>, <strong>das</strong> sowohl natur- wie<br />

kulturwissenschaftliche Inhalte und überdies spannende Techniken (GIS) anbietet, für viele<br />

Studierende <strong>das</strong> entscheidende Studienmotiv. Die in der Regel flexiblen<br />

Kombinationsmöglichkeiten des Diplomstudiengangs mit den unterschiedlichsten natur-,<br />

wirtschafts-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Nebenfächern unterstützen diesen Trend.<br />

<strong>Geographie</strong> als „Integrations-“ oder „Brückenfach“ liefert auch gegenüber der Ministerialund<br />

Universitätsbürokratie <strong>das</strong> häufig benötigte „Alleinstellungsmerkmal“ („niemand sonst<br />

kann <strong>das</strong> so wie wir“) im Verteilungskampf <strong>um</strong> knapper werdende Ressourcen. Schließlich<br />

rückt die derzeitige stärkere Focusierung des <strong>Geographie</strong>studi<strong>um</strong>s auf instr<strong>um</strong>entelle<br />

Fertigkeiten, insbesondere im Bereich Satellitenbildauswertung und GIS, fachliche<br />

Schwerpunkte etwas in den Hintergrund. In der Praxis ihrer Berufstätigkeit haben GIS-<br />

Spezialisten in der Tat häufig nacheinander sowohl mit naturwissenschaftlichen wie<br />

wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Aufgaben zu tun (ein GIS-Projekt z<strong>um</strong><br />

Hochwassermanagement wird gefolgt von einem z<strong>um</strong> Standortmanagement von<br />

Industriebetrieben usw.).<br />

Es gibt also eine ganze Reihe guter Gründe für „Einheitsrhetorik“ und „Heidelberger<br />

Modelle“ 1 einer integrativen Ausbildung und gemeinsamen wissenschaftlichen Qualifikation<br />

in einer ungeteilten <strong>Geographie</strong>. Entsprechend häufig und oft geradezu beschwörend wurden<br />

in den letzten Jahren Überlegungen zur „Reintegration“ des Faches angestellt. (u.a.<br />

Meurer/Bähr, 2001; Blümel, 2002; Ehlers/Leser, 2002; Winiger, 2002).<br />

Allerdings: im Bereich der geographischen Forschung wird diese „Einheitsrhetorik“<br />

keineswegs durch eine größere Zahl integrativer Projekte eingelöst. Ganz im Gegenteil: seit<br />

Jahrzehnten gibt es praktisch keine wirklich integrativen, verzahnten Projekte, sondern<br />

zwischen den beiden Teildisziplinen der <strong>Geographie</strong> klafft, wie Leser und Weichhart in ihren<br />

Beiträgen übereinstimmend feststellen, eine breite Lücke, ein großes Vaku<strong>um</strong>. Das schließt<br />

natürlich nicht aus, <strong>das</strong>s <strong>Physische</strong> Geographen und H<strong>um</strong>angeographen gelegentlich beide in<br />

interdisziplinären Forschungsverbünden mitarbeiten, aber dann nebeneinander, nicht<br />

miteinander. Die fachliche Nähe eines wirtschafts- und sozialwissenschaftlich arbeitenden<br />

H<strong>um</strong>angeographen zu seinem physisch-geographischen Kollegen ist nicht größer als die zu<br />

jedem anderen Naturwissenschaftler. In den großen naturwissenschaftlich dominierten<br />

Forschungsprogrammen z<strong>um</strong> Thema „man and biosphere“ (z.B. im IHDP-Programm), aber<br />

auch in vergleichbaren Sonderforschungsbereichen der DFG kommt den Wirtschafts- und<br />

Sozialwissenschaftlern (und damit auch den H<strong>um</strong>angeographen) überdies nicht selten die<br />

Rolle eines „sozio-ökonomischen Appendix“ zu, der eher gebraucht wird, <strong>um</strong> die nötigen<br />

Forschungsgelder einzutreiben, als <strong>das</strong>s seine Forschungsperspektive ein wirklich zwingender<br />

Bestandteil des Gesamt-Forschungsdesigns wäre.<br />

Die wechselseitige Anschlussfähigkeit von Projekten der <strong>Physische</strong>n <strong>Geographie</strong> und der<br />

Anthropogeographie hat sich in den letzten Jahrzehnten überdies verschlechtert, weil<br />

1 Als „Heidelberger Modell“ bezeichnet <strong>das</strong> dortige Geographische Institut sein Konzept einer integrierten und<br />

gleichwertigen Ausbildung in physischer <strong>Geographie</strong> und Anthropogeographie auch während des Hauptstudi<strong>um</strong>s<br />

und bis in die Abschlussprüfungen hinein.<br />

2


zahlreiche aktuelle Themen und Erkenntnisobjekte der H<strong>um</strong>angeographie, insbesondere im<br />

Bereich der „new economic geography“, der politischen <strong>Geographie</strong>, der geographischen<br />

Handelsforschung etc. durch „keinen Trick oder Kunstgriff“ mehr auf <strong>das</strong> klassische Thema<br />

der Mensch-Umwelt-Interaktion rückzubinden sind (siehe den Beitrag Weichhart, S. 7).<br />

Umgekehrt hält die „Paläoforschung“ als einer der „main streams“ der physischen <strong>Geographie</strong><br />

praktisch ka<strong>um</strong> „Andockpunkte“ für an der Forschungsfront arbeitende H<strong>um</strong>angeographen<br />

bereit (<strong>um</strong>so mehr als in der H<strong>um</strong>angeographie historisch-genetische Aspekte über ein<br />

vernünftiges Maß hinaus in den Hintergrund getreten sind). H<strong>um</strong>angeographen stehen daher<br />

mitunter etwas ratlos vor den derzeitigen Forschungskonzepten ihrer physischgeographischen<br />

Kollegen, wenn sie denn gefragt werden, ob sie dabei nicht mitmachen<br />

möchten, und <strong>um</strong>gekehrt gilt <strong>das</strong>selbe.<br />

Selbst die „Geländearbeit“, früher die zentrale ideologie- und einheitsstiftende Klammer der<br />

beiden <strong>Geographie</strong>n, hat sich weit auseinanderentwickelt. Aus eigenen Projekterfahrungen<br />

weiß ich inzwischen, <strong>das</strong>s auch dort die Gemeinsamkeiten und Begegnungsmöglichkeiten<br />

doch eher begrenzt sind. Natürlich ist und bleibt es hochbefriedigend mit einem Kollegen der<br />

physischen <strong>Geographie</strong> gemeinsam durch eine Tropen- oder Trockengebietslandschaft zu<br />

fahren und von ihm zu lernen. Bei der konkreten Feldarbeit jedoch nähern sich<br />

H<strong>um</strong>angeographen im Kontext qualitativer Forschungsansätze häufig den „langen“<br />

Feldaufenthaltszeiten und Arbeitsformen der Ethnologen an, während z.B. Bodengeographen<br />

ihre Proben mitunter in wenigen Tagen ziehen und dann damit für Monate (oder Jahre) im<br />

Labor verschwinden.<br />

Kurz<strong>um</strong>: wir tragen - im Grunde seit Jahrzehnten- einen disziplinpolitischen Diskurs wie eine<br />

Monstranz vor uns her (oder leiern ihn – <strong>um</strong> vom katholischen z<strong>um</strong> buddhistischen Bild zu<br />

wechseln- gebetsmühlenhaft herunter), den wir allenfalls in der Lehre, nicht aber in der<br />

Forschung einlösen. Wir behaupten etwas, war wir praktisch nie tun.<br />

Das kann auf die Dauer nicht gut gehen, denn <strong>das</strong> „Reden“ über die <strong>Geographie</strong> wird<br />

irgendwann einmal an den „Taten“ bemessen werden und dabei als <strong>das</strong> entlarvt, was es in der<br />

Regel ist: eben ein primär disziplinpolitisch oder –soziologisch motivierter Diskurs. Oder der<br />

Diskurs fällt auf seine Urheber zurück, z.B. in der Forderung wie hier in München, <strong>das</strong> auch<br />

einzulösen, was man die ganze Zeit behauptet.<br />

Aus diesem Anlass, d.h. letztlich aufgrund eines „akuten Notstands“, fand <strong>das</strong> Münchner<br />

Symposi<strong>um</strong> zur <strong>Geographie</strong> als integrierter Umweltwissenschaft statt, mit Beiträgen von<br />

Hartmut Leser z<strong>um</strong> Thema „<strong>Geographie</strong> als Integrative Umweltwissenschaft. Z<strong>um</strong><br />

transdisziplinären Charakter einer Fachwissenschaft“ und von Peter Weichhart „ <strong>Physische</strong><br />

<strong>Geographie</strong> und H<strong>um</strong>angeographie – eine schwierige Beziehung“ 2 . Die Vorträge sowie die<br />

anschließende Diskussion trugen dazu bei, denkbare Forschungsperspektiven und Positionen<br />

kritisch zu diskutieren und zu „sortieren“, d.h. danach zu fragen, was möglich ist und was<br />

eben nicht.<br />

Leser fordert in seinem Beitrag vor allem <strong>das</strong> Ausfüllen des Vaku<strong>um</strong>s zwischen Physio- und<br />

H<strong>um</strong>angeographie und die Platzierung dieser integrativen <strong>Geographie</strong> im Rahmen<br />

interdisziplinärer Umweltforschung als „transdisziplinäres“ Fach durch Beteiligung an<br />

internationalen Programmen, ähnlich wie dies auch Ehlers schon öfter ausgeführt hatte (z.B.<br />

Ehlers, 2002). Dabei liege die Rolle der <strong>Geographie</strong> implizit in „mittleren“ Maßstabsgrößen<br />

und sein Ansatz scheint– z<strong>um</strong>indest in früheren Publikationen (Leser/Schneider-Sliwa, 1999)-<br />

2 Auf den Beitrag von Rainer Danielzyk, der sich vor allem mit Fragen der angewandten <strong>Geographie</strong> befasst<br />

hatte, sei an dieser Stelle nicht näher eingegangen.<br />

3


vorwiegend systemtheoretisch orientiert zu sein. Lesers Konzept fordert ein „pragmatisches“<br />

Vorgehen und er klingt damit zunächst sehr realitätsbezogen. Gleichwohl: bei aller Sympathie<br />

für seinen engagierten Einsatz für „die“ <strong>Geographie</strong>, es ist ein Wunschbild - sicher nicht<br />

weniger Geographen-, <strong>das</strong> Leser hier zeichnet, es wird sich so aber nicht einlösen lassen. Eine<br />

„Reintegration“ der <strong>Geographie</strong> auf diesem Weg, d.h. als integrative Umweltwissenschaft,<br />

kann schon deshalb nicht gelingen, weil die H<strong>um</strong>angeographie dabei <strong>das</strong> Gros ihrer jüngeren<br />

Ansätze, d.h. fast alle zentralen Bereiche und aktuellen Fragestellungen, über Bord werfen<br />

(siehe den Beitrag von Weichhart) und sich überdies in ein methodisch-theoretisches Korsett<br />

zurückzwängen müsste, <strong>das</strong>s sie schon längst abgestreift hat. Überlegungen physischgeographischer<br />

Kollegen gehen in aller Regel unreflektiert von einem analytischszientistischen<br />

Paradigma mit all seinen Reifikationen der Realwelt aus, welches in der<br />

H<strong>um</strong>angeographie im Rahmen des „cultural turn“, des „semiotic“ und „spatial turn“<br />

zunehmend grundsätzlich in Frage gestellt wird (siehe Gebhardt/Reuber/Wolkersdorfer,<br />

2003). H<strong>um</strong>angeographen und <strong>Physische</strong> Geographen wohnen in dieser Beziehung auf zwei<br />

verschiedenen Planeten und sprechen unterschiedliche Sprachen; Diskussionen auch mit<br />

interessierten und „gutwilligen“ physisch-geographischen Kollegen zeigen immer wieder, wie<br />

wenig diese überhaupt noch von dem wissen, was H<strong>um</strong>angeographen tun. Umgekehrt gilt<br />

natürlich <strong>das</strong>selbe. Gerade im Beitrag von Kollegen Leser werden eine ganze Reihe von<br />

Thesen als „common sense“ der <strong>Geographie</strong> behauptet, die dies schon längst nicht mehr sind.<br />

Und diese Kluft ist tiefer als noch zu Zeiten von Dietrich Bartels „<strong>Geographie</strong> des Menschen“<br />

(1968) oder Peter Haggetts „<strong>Geographie</strong>. Eine moderne Synthese“ (1991), da hier noch ein<br />

gemeinsames analytisch-szientistisches oder kritisch-rationales Wissenschaftsverständnis die<br />

Klammer zwischen den Teilbereichen der <strong>Geographie</strong> bildete. Beispielsweise ist heute –<strong>um</strong><br />

dies nur an einem exemplarischen Begriff zu zeigen- für H<strong>um</strong>angeographen <strong>das</strong> „Lösen von<br />

Problemen“, die vielbeschworene „Problemlösungskompetenz der <strong>Geographie</strong>“ keine<br />

selbstverständliche Aufgabe von Wissenschaft. Weichhart fragt hier zurecht in seinem Beitrag<br />

etwas „ironisch“ an, welche „Probleme“ die <strong>Geographie</strong> denn gelöst und welche<br />

Lebensrä<strong>um</strong>e sie erhalten oder gesichert hätte. <strong>Geographie</strong> kann im Sinne der politischen<br />

<strong>Geographie</strong> Probleme diskursiv auf die Agenda setzen, zur Verhandlung vorschlagen, sie aber<br />

sicher nicht „lösen“.<br />

Weichharts Konzept ist insofern realistischer als es von der bestehenden disziplinären<br />

Realität ausgeht: von zwei faktisch weit auseinandergelaufenen Disziplinen, der <strong>Physische</strong>n<br />

<strong>Geographie</strong> und der H<strong>um</strong>angeographie, denen er eine „Dritte Säule“ an die Seite stellt, die er<br />

„Gesellschaft-Umwelt-Forschung“ nennt.<br />

Wie kann diese dritte Säule aussehen? Sie wird von einigen inzwischen weithin akzeptierten<br />

„basics“ der jüngeren H<strong>um</strong>angeographie ausgehen müssen, wenn sie wirklich verbinden soll.<br />

Beispielhaft seien nur die folgenden genannt:<br />

• Sie muss den Menschen als handelndes Subjekt, als Akteur mit Interessen,<br />

Machtressourcen etc, konstruieren, nicht als Komponente in einem<br />

„Regelkreissystem“, auch nicht als primär von „rational choice“ oder „public choice“<br />

bestimmten „Entscheider“<br />

• Sie muss den Konstruktionscharakter von Ra<strong>um</strong> akzeptieren, die<br />

Wirkungsmächtigkeit von „geographical imaginations“ (Gregory, 1997) und des<br />

„Alltägliche <strong>Geographie</strong>machen“ durch handelnde Akteure im Sinne von Giddens<br />

(19xx) oder Werlen (19xx).<br />

4


• H<strong>um</strong>angeographie versteht sich als Wirtschafts- und Sozialwissenschaft, welche<br />

Gesellschaft nicht als etwas Gegebenes, sondern als rekursive kommunikative Struktur<br />

versteht (siehe Luhmann, 1984).<br />

• Sie muss von der Kontextgebundenheit von Wissenschaft ausgehen. Wissenschaft<br />

ist eine spezifische Form des „Sprechens“ und Teil des öffentlichen, politischen<br />

Diskurses. Wissen ist historisch kontextuell, ebenso wie die Methoden und Regeln,<br />

mit denen Wissenschaftler ‚richtige’ von ‚falschen’ Ergebnissen unterscheiden. Die<br />

Vorstellung von einer ‚objektiven Wissenschaft’ ist in diesem Verständnis ein<br />

Konstrukt der aufgeklärten Moderne.<br />

Dabei ist natürlich grundsätzlich Weichhart zuzustimmen, <strong>das</strong>s einer modernen geographischen<br />

Gesellschaft-Umwelt-Forschung und damit seiner „dritten Säule“ prinzipiell nichts<br />

entgegensteht. Besonders die Neudefinition des Verhältnisses von Natur und Kultur und die<br />

Auflösung der dahinter steckenden Dichothomie mag hier hilfreich sein, mit der sich im<br />

deutschen Sprachra<strong>um</strong> vor allem Wolfgang Zierhofer (auf der Basis der Publikationen von<br />

Bruno Latour etc.) befasst hat (Zierhofer, 1999, 2003). Das Denken in Dichotomien (z.B.<br />

Natur-Kultur, Mensch-Umwelt etc.) stellt in diesem Verständnis eine Leitfigur des modernen<br />

(westlichen) Denkens dar; im Kontext des „spatial“ und „semiotic turn“ wird es zunehmend<br />

hinterfragt und gezeigt, <strong>das</strong>s die „story“ auch ganz anders sein könnte. „Anders denken“<br />

(Lossau, 2002) bedeutet dann, dichotomisches Denken durch eine stärkere Orientierung auf<br />

ein interkonnektives, relationales Denken zu ergänzen und zu einer Konzeption von<br />

Gesellschaft bzw. von Kultur und Natur als einem vielfältig miteinander verflochtenes System<br />

von „Hybriden“ zu gelangen.<br />

Ansätze für Weichharts „dritte Säule“ finden sich damit nicht in den klassischen Mensch-<br />

Umwelt-Dichothomien, sondern eher in den Fragestellungen der politischen Ökologie, der<br />

H<strong>um</strong>anökologie und auch der politischen <strong>Geographie</strong>. Verfügungsrechtliche Ansätze der<br />

politischen Ökologie, welche natürliche Ressourcen, Verfügungsrechte und Verwundbarkeit<br />

von Gruppen zu kombinieren suchen, sind hierfür ein typisches Beispiel (siehe Bohle/Watts,<br />

2003, Krings, 1999; Flitner, 2003), ebenso die h<strong>um</strong>anökologischen Ansätze, welche sich mit<br />

der Verknüpfung von Sach- und Sozialstrukturen im alltagsweltlichen Handeln befassen<br />

(Weichhart, 2003a). Jüngere Ansätze der Politischen <strong>Geographie</strong>, insbes. die handlungs- und<br />

akteursbezogenen Ansätze sowie die konstruktivistische „Critical Geopolitics“ eröffnen ein<br />

weites Feld der Analyse von Konflikten mit Umweltbezug, angefangen vom „Regenwalddiskurs“<br />

über Wassernutzungskonflikte („water wars“) und <strong>das</strong> „great game“ <strong>um</strong> die<br />

weltweiten Erdölressourcen bis hin z<strong>um</strong> Thema „natural and man-made hazards“ und<br />

„Risikogesellschaft“. Die „Syndromdiskussion“ in der integrierten Global Change-Forschung<br />

weist in eine ähnliche Richtung, „Umwelt“ ist kein primär naturwissenschaftliches Problem,<br />

sondern kann letztlich nur diskursanalytisch, sozialwissenschaftlich behandelt werden.<br />

Auf solchen hier nur ganz kurz skizzierten Feldern sollte die Geographe, auch aus<br />

strategischen Gründen und Gründen der Selbstdarstellung, zukünftig innerfachlich-interdisziplinäre<br />

Perspektiven entwickeln und geg.-falls Schwerpunktprogramme initiieren. Ob<br />

dies gelingen wird, d.h. ob <strong>das</strong> Interesse der Fachkollegen an entsprechender Forschung groß<br />

genug ist, muss zunächst offen bleiben, denn der Vorschlag ist letztlich schon alt (siehe<br />

Weichhart, 1975). Offenkundig ist wohl, <strong>das</strong>s die „Dritte Säule“ ein eher kleines Segment im<br />

Konzert h<strong>um</strong>angeographischer Forschung einerseits und physisch-geographischer Forschung<br />

andererseits bleiben wird. Auf der anderen Seite werden wir ohne den Versuch einer wenigstens<br />

teilweisen Einlösung des vielbeschworenen Integrations- und Brückenfachcharakters<br />

unseres Faches auch und gerade in der Forschung auf die Dauer scheitern.<br />

5


Zitierte Literatur:<br />

Bartels, D. (1968): <strong>Zur</strong> wissenschaftstheoretischen Grundlegung einer <strong>Geographie</strong> des Menschen.-<br />

Wiesbaden (Erdkundliches Wissen, H. 19)<br />

Blümel, W.C. (2003): Standortbestimmung <strong>Geographie</strong>. „2002 – Jahr der Geowissenschaften“. Der<br />

Beitrag der <strong>Geographie</strong> zur geowissenschaftlichen Bildung.- In: Schulgeographie in Baden-<br />

Württemberg, 36, S. 7-10.<br />

Bohle, H.-G./Watts, M. (2003): Verwundbarkeit, Sicherheit und Globalisierung.- In: Gebhardt,<br />

H./Reuber, P./Wolkersdorfer, G. (Hrsg.): Neue Kulturgeographie. Heidelberg/Berlin (im Druck)<br />

Ehlers. E. (2002): <strong>Anmerkungen</strong> in Bonn, Zitat ergänzen<br />

Ehlers, E./Leser, H. (2002): <strong>Geographie</strong> heute – für die Welt von morgen. Eine Einführung. In: E.<br />

Ehlers/H. Leser (Hrsg.): <strong>Geographie</strong> heute – für die Welt von morgen. Gotha/Stuttgart , S. 9-18.<br />

Flitner, M. (2003): Kulturelle Wende in der Umweltforschung. In: Gebhardt, H./Reuber,<br />

P./Wolkersdorfer, G. (Hrsg.): Neue Kulturgeographie. Heidelberg/Berlin (im Druck)<br />

Gebhardt, H./Reuber, P./Wolkersdorfer, G. (2003): Kulturgeographie. Leitlinien und Perspektiven. In:<br />

Gebhardt, H./Reuber, P./Wolkersdorfer, G. (Hrsg.): Neue Kulturgeographie. Heidelberg/Berlin (im<br />

Druck)<br />

Giddens, A. (19xx): ergänzen<br />

Gregory, D. (1997): ergänzen<br />

Haggett, P. (1991): Die <strong>Geographie</strong>. Eine moderne Synthese. 2. Aufl. Stuttgart. (UTB, Große Reihe).<br />

Hard, G. (1973): Die <strong>Geographie</strong>. Eine wissenschaftstheoretische Einführung. Berlin<br />

Leser, H. (2003): <strong>Geographie</strong> als Integrativemweltwissenschaft. Z<strong>um</strong> trandisziplinären Charakter einer<br />

Fachwissenschaft. In: Münchner Geographische Hefte, Bd. Xx (im Druck)<br />

Leser, H./Schneider, Sliwa, R. (1999): <strong>Geographie</strong>. Eine Einführung. Braunschweig. (Das<br />

Geographische Seminar).<br />

Lossau, J. (2002): Die Politik der Verortung – Eine postkoloniale Reise zu einer ‚anderen’ <strong>Geographie</strong><br />

der Welt. Bielefeld<br />

Krings, T. (1999): Ziele und Forschungsfragen der Politischen Ökologie. In: Zeitschrift für<br />

Wirtschaftsgeographie, 43, S. 129-130.<br />

Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt.<br />

Meurer, M./Bähr, J. (2001): <strong>Geographie</strong> – ein Fach im Wandel. Von Kant und H<strong>um</strong>boldt hin zu<br />

Globalisierung und Umweltforschung.- In: Forschung und Lehre, 10, S. 540-543.<br />

Rühl, A. (1933): Einführung in die allgemeine Wirtschaftsgeographie. Leiden<br />

Weichhart, P. (1975): <strong>Geographie</strong> im Umbruch. Ein methodologischer Beitrag zur Neukonzeption der<br />

komplexen <strong>Geographie</strong>. Wien.<br />

6


Weichhart, P. (2003a): Gesellschaftlicher Metabilismus und action settings. Die Verknüpfung von<br />

Sach- und Sozialstrukturen im alltagsweltlichen Handeln. In: Meusburger, P. (Hrsg.):<br />

H<strong>um</strong>angeographie (Erdkundliches Wissen, Bd. Xx), (im Druck)<br />

Weichhart, P. (2003b): <strong>Physische</strong> <strong>Geographie</strong> und H<strong>um</strong>angeographie – eine schwierige Beziehung. In:<br />

Münchner Geographische Hefte, Bd. Xx, (im Druck)<br />

Werlen, B. (19xx): ergänzen<br />

Winiger, M. (2002): Die „Mensch-Umwelt-Behieungen“ und die <strong>Geographie</strong> als „Brückenfach“.<br />

Rundgespräch <strong>Geographie</strong> II. Bonn (masch.-schriftl. Manuskript)<br />

Zierhofer, W. (1999): <strong>Geographie</strong> der Hybriden.- In: Erdkunde, 53, S. 1-13.<br />

Zierhofer, W. (2003): Natur – <strong>das</strong> Andere der Kultur? Konturen einer nicht-essentialistischen<br />

<strong>Geographie</strong>. In: Gebhardt, H./Reuber, P./Wolkersdorfer, G. (Hrsg.): Neue Kulturgeographie.<br />

Heidelberg/Berlin (im Druck)<br />

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