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AUFBRUCH IN DIE MODERNE

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<strong>AUFBRUCH</strong> <strong>IN</strong> <strong>DIE</strong> <strong>MODERNE</strong><br />

Gesellschaft, Wirtschaft und Alltagsleben<br />

Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde aus einem Agrarland ein Industrieland, das<br />

sich in jeder Hinsicht auf der „Überholspur“ befand. Deutsche Industriekonzerne<br />

konkurrierten erfolgreich auf dem Weltmarkt. Die Entwicklung moderner Großstädte,<br />

die Eröffnung der ersten Warenhäuser und die Anfänge des Massentourismus<br />

fallen ebenfalls in diese Zeit. Die Gegensätze zwischen den verschiedenen Klassen<br />

der Gesellschaft blieben jedoch bestehen. Auch eine moderne Sozialpolitik konnte<br />

diese nicht überbrücken.<br />

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HERRLICHE ZEITEN<br />

Monarchische Repräsentation<br />

64 Aufbruch in die Moderne<br />

Zu den bedeutendsten Gemälden, die<br />

wichtige zeremonielle Akte des Kaiserreichs<br />

darstellen, gehört neben dem »Reichsgründungsgemälde«<br />

das Bild von der Eröffnung<br />

des Reichstages am 25. Juni 1888. Nachdem<br />

im März, hochbetagt, der Gründer des<br />

Reiches, Kaiser Wilhelm I., gestorben und<br />

im Juni, nach nur 99-tägiger Regierungszeit,<br />

Kaiser Friedrich III. einem Krebsleiden<br />

erlegen war, eröffnete der erst 29 Jahre alte<br />

neue Kaiser, Wilhelm II., zugleich der letzte<br />

preußische König, im besonders festlich<br />

dekorierten Weißen Saal des Berliner Stadtschlosses<br />

feierlich den Reichstag. Damit wollte<br />

er nach innen und außen demonstrieren,<br />

dass sich trotz des zweimaligen Thronwechsels<br />

an den Grundlinien deutscher Politik<br />

nichts ändern würde. Dementsprechend<br />

pompös verlief diese Eröffnung, der ein Gottesdienst<br />

in der Schlosskapelle bzw. in der<br />

Hedwigskirche vorangegangen war. Auf Befehl<br />

des Kaisers hatte der Domprediger dabei<br />

seiner Predigt in Anlehnung an einen<br />

Brief des Apostels Paulus an die Korinther<br />

den Satz »Von Gottes Gnaden bin ich, das<br />

ich bin« zugrunde gelegt. Im Anschluss versammelten<br />

sich die regierenden Fürsten des<br />

Reiches oder deren Vertreter – beginnend<br />

mit dem Prinzregenten Luitpold von Bayern<br />

bis zum Erbprinzen von Waldeck und Pyrmont<br />

–, die Angehörigen des Bundesrats mit<br />

Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck an<br />

der Spitze, die Generale des Reiches, von denen<br />

einige zugleich die Reichsinsignien trugen,<br />

die Hofchargen und die Abgeordneten<br />

des Reichstages – ausgenommen die Vertreter<br />

der verfolgten Sozialdemokratie und der<br />

Elsässer – im Weißen Saal. Nach Meldung<br />

durch den Kanzler zog der Kaiser feierlich<br />

in diesen ein, um die Thronrede zu verlesen.<br />

In dieser bezeichnete er die militärische und<br />

politische Sicherstellung des Reiches sowie<br />

die Wahrung der Reichsverfassung als seine<br />

wichtigsten Aufgaben.<br />

Wie wichtig Wilhelm II. diese Eröffnung<br />

war, zeigt die Einladung an Anton v.<br />

Werner, die Zeremonie in gleicher Weise wie<br />

die Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles<br />

im Bild festzuhalten. Dessen Wünschen<br />

folgend, hob Werner darin die besondere<br />

Bedeutung dieses Akts durch die Gruppierung<br />

einzelner Personen und die Gestaltung<br />

des Hintergrundes, der dem des Spiegelsaals<br />

von Versailles ähnelt, hervor. Besonders<br />

auffallend dabei ist, dass der Reichskanzler<br />

allein und gebeugt, Wilhelm II. hingegen auf<br />

einem überhöhten Podest stehend dargestellt<br />

wurde. Der Anspruch, anders als Wilhelm I.<br />

mehr als ein »primus inter pares« zu sein<br />

und selbst zu regieren, wurde dadurch deutlich<br />

hervorgehoben. Zugleich unterstrich<br />

der neue Kaiser damit das traditionelle Verhältnis<br />

zwischen dem Monarchen und seinen<br />

Untertanen. Im Gegensatz zu Großbritannien,<br />

wo die Königin einmal jährlich ins<br />

Parlament kam, um dort das vom Premierminister<br />

verfasste Regierungsprogramm zu<br />

verkünden, empfing der Kaiser seine Untertanen<br />

und deren Repräsentanten im königlichen<br />

Stadtschloss als bewusster Ausdruck<br />

des Vorrangs der Exekutive vor der Legislative.<br />

Bis 1914, als Wilhelm II. am 4. August die<br />

Abgeordneten des Reichstages symbolträchtig<br />

im Weißen Saal empfing, sollte sich an<br />

diesem Zeremoniell nichts ändern. Alle Versuche,<br />

den Kaiser dieses Mal dazu zu bewegen,<br />

die Reichstagseröffnung in dessen Gebäude,<br />

nicht im Schloss, vorzunehmen, um<br />

auch den Sozialdemokraten die Teilnahme zu<br />

ermöglichen, waren bereits am Widerstand<br />

des Reichskanzlers gescheitert.<br />

Im Berliner Stadtschloss repräsentierte der<br />

Monarch auch bei anderen Gelegenheiten. Einerseits<br />

wollte er damit seine Macht demons-<br />

Feierliche Eröffnung des Reichstages durch Kaiser Wilhelm II. im Weißen Saal des Berliner Schlosses<br />

am 25. Juni 1888 (Gemälde von Anton v. Werner, 1893).<br />

Herrliche Zeiten 65<br />

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trieren, andererseits aber auch durch zeremonielle Akte zur Repräsentation<br />

und Integration der Nation beitragen – allein Sozialdemokraten<br />

blieben diesen Empfängen bis zuletzt absichtlich fern. Dieses<br />

Verhalten des Monarchen war letztlich ein Tribut an ein sich wandelndes<br />

Zeitalter.<br />

Wilhelm I. hatte diese Aufgabe kaum wahrgenommen. Wohl hatte<br />

auch er mit seinem ausgeprägten Bewusstsein über die Bedeutung<br />

symbolischer Akte mehrfach den Reichstag eröffnet; insgesamt aber<br />

war von jeher Arbeit, nicht Zeremonie der wesentliche Inhalt seines<br />

Tagesablaufs gewesen. Daran änderte sich bis zu seinem Tode kaum<br />

etwas. Er reiste daher wenig, selten außerhalb Preußens, und hielt<br />

auch kaum öffentliche Reden. Legendär war freilich sein öffentliches<br />

Erscheinen am Fenster des Stadtschlosses bei der täglichen Wachablösung;<br />

dieses fand selbst im Baedeker, einem der frühesten Reiseführer,<br />

Erwähnung.<br />

Friedrich III. hatte aufgrund seiner schweren Krankheit öffentlich<br />

nicht mehr auftreten können. Als Kronprinz war er aufgrund kritischer<br />

Äußerungen über Bismarck und dessen Politik bereits in den<br />

1860er Jahren von diesem durchaus im Einvernehmen mit seinem<br />

Vater, Wilhelm I., zurückgedrängt worden. Öffentliche Funktionen<br />

waren früh seinem Sohn Wilhelm übertragen worden.<br />

Wilhelm II. verfügte daher bereits über einige Erfahrung, als er im<br />

Sommer 1888 den Thron bestieg. Mit seiner Vorliebe für Uniformen,<br />

seinem ausgeprägten Sinn für Inszenierungen, Feierlichkeiten und<br />

Prunk sowie seiner Überzeugung, sein Verständnis von monarchischer<br />

Herrschaft und Politik in Reden – 577 sollen es in den 17 Jahren<br />

seiner Regierung gewesen sein – öffentlich verbreiten zu müssen,<br />

war er das genaue Gegenteil seines Großvaters. Im Zeitalter des<br />

»politischen Massenmarktes« kam er mit seinem Verhalten dem weit<br />

verbreiteten Bedürfnis nach öffentlicher Repräsentation und damit<br />

auch Legitimation politischer Herrschaft nach.<br />

Auf den ersten Blick wirkte der Alltag des Kaisers wenig spektakulär,<br />

vor allem, wenn er in Berlin weilte. »Jetzt wird«, notierte der kaiserliche<br />

Hofmarschall Robert Graf von Zedlitz-Trützschler 1910, »spät<br />

aufgestanden, zwischen 9 und 10 Uhr vormittags mit drei warmen<br />

Gängen stark gefrühstückt, dann ausgefahren, und ein kurzer Spa-<br />

66 Aufbruch in die Moderne<br />

Das Stadtschloss von Berlin – Residenz der<br />

preußischen Könige und deutschen Kaiser.<br />

Herrliche Zeiten 67<br />

Kapitel_2_062-143_2.Korr.indd 66-67 17.01.2007 16:45:57 Uhr


mindest die der Männer. Hier dominierten<br />

bereits seit den 1860er Jahren die grauen Anzüge,<br />

die farblich oft monotone Krawatte löste<br />

das bunte Halstuch ab. Von der »richtigen«<br />

Gesinnung zeugte der Kaiserbart, der idealerweise<br />

mit der Bartpomade »Es ist erreicht«<br />

des Berliner Hof-Friseurs Haby gefestigt wurde.<br />

Bürgerliche Frauen trugen zunächst weiterhin<br />

wallende Raff- und Rüschkleider mit<br />

seidenen Unterröcken, bis nach 1900 die ungeschriebenen<br />

Kleidungsvorschriften etwas<br />

gelockert wurden.<br />

Abseits der gesellschaftlichen Repräsentationszwänge,<br />

zu denen durchaus auch<br />

die Mitgliedschaft im Verein gehören konnte,<br />

blieben bürgerliche Familien gerne unter<br />

sich, was einem allgemeinen Trend zur<br />

Individualisierung entsprach. Das von Wilhelm<br />

Busch so meisterhaft karikierte bürgerliche<br />

Idyll der Jahrhundertmitte, mit dem<br />

Vater im Ohrensessel als Mittelpunkt häuslichen<br />

Lebens, wurde im Kaiserreich weiter<br />

zementiert. Der Mann studierte die Tageszeitung,<br />

bevorzugt mit konservativer Ausrichtung<br />

wie den Berliner »Lokal-Anzeiger«<br />

oder die Hamburger »Neuesten Nachrichten«.<br />

Zur gemeinsamen Familienlektüre gehörten<br />

die weit verbreiteten Illustrierten,<br />

von denen »Daheim«, »Über Land und Meer«<br />

und vor allem »Die Gartenlaube« den größten<br />

Einfluss hatten und den bürgerlichen Wertehimmel<br />

an manchen Abenden behaglich erleuchteten.<br />

In der „Gartenlaube“ zauberten<br />

unter anderen Wilhelmine Heimburg, Ludwig<br />

Ganghofer oder Christian Wilhelm Allers<br />

Ausgabe für Ausgabe eine Welt, die mit<br />

der Realität des Aufbruchs nichts mehr gemein<br />

hatte und den politischen Horizont der<br />

bürgerlichen Leser weiter einschränkte.<br />

Der gesellschaftliche Zwang zur Anpassung<br />

und Disziplin wirkte sich besonders auf den<br />

Umgang mit den Kindern aus. Das Leitmotiv<br />

jeder Erziehung, ob in Familie oder Schule,<br />

war der Gehorsam. Dabei bekamen Generationen<br />

von Schülern die väterliche und schulische<br />

Gewalt nicht selten sprichwörtlich<br />

zu spüren. Die totale Unterwerfung unter<br />

den Willen des Vaters und des Lehrers sollte<br />

letztlich die Demut gegenüber der monarchischen<br />

Grundordnung stärken. Dies schien<br />

die grundlegende Voraussetzung für den späteren<br />

Erfolg, über dessen künftige Ausprä-<br />

112 Aufbruch in die Moderne<br />

gung dann erst an zweiter Stelle die eigentlichen<br />

schulischen Leistungen im Rechnen,<br />

Lesen und Schreiben entschieden. Bereits<br />

bei der Erziehung der jungen Untertanen<br />

herrschte in der Regel der Ton des Kasernenhofs,<br />

der sich durch alle Bereiche des öffentlichen<br />

Lebens im Deutschen Reich zog und<br />

die breite Akzeptanz militärischer Umgangs-<br />

formen belegte. Bezeichnenderweise sahen<br />

viele Bürger in der Verleihung der Würde<br />

eines »Reserveoffiziers« den höchsten Dank<br />

des Vaterlandes. Die einflussreiche Offizierslaufbahn<br />

blieb dem Adel vorbehalten, doch<br />

der militärische Ersatzrang förderte Loyalität<br />

und letztlich den Glauben an die Teilhabe<br />

am Ruhm des Reiches.<br />

Ziemliche Anbahnung: Eine<br />

bürgerliche Romanze auf einer<br />

Parkbank, um 1907.<br />

» Repräsentation im Stil der Zeit Der abfallende<br />

Garten war freigiebig mit Zwergen, Pilzen und<br />

allerlei täuschend nachgeahmtem Getier aus Steingut<br />

geschmückt; auf einem Postament ruhte eine spiegelnde<br />

Glaskugel, welche die Gesichter überaus komisch verzerrte,<br />

und auch eine Äolsharfe, mehrere Grotten sowie<br />

ein Springbrunnen waren da, der eine kunstreiche Figur<br />

von Wasserstrahlen in die Lüfte warf und in dessen<br />

Becken Silberfische schwammen. Um nun von der<br />

inneren Häuslichkeit zu reden, so war sie nach dem Geschmack<br />

meines Vaters sowohl lauschig wie heiter. Trauliche<br />

Erkerplätze luden zum Sitzen ein, und in einem<br />

davon stand ein wirkliches Spinnrad. Zahllose Kleinigkeiten:<br />

Nippes, Muscheln, Spiegelkästchen und Riechflakons<br />

waren auf Etageren und Plüschtischen angeordnet;<br />

Daunenkissen in großer Anzahl, mit Seide oder<br />

vielfarbiger Handarbeit überzogen, waren überall auf<br />

Sofas und Ruhebetten verteilt, denn mein Vater liebte<br />

es, weich zu liegen; die Gardinenträger waren Hellebarden,<br />

und zwischen den Türen waren jene luftigen Vorhänge<br />

aus Rohr und bunten Perlenschnüren befestigt,<br />

die scheinbar eine feste Wand bilden und die man doch,<br />

ohne eine Hand zu heben, durchschreiten kann, wobei<br />

sie sich mit einem leisen Rauschen oder Klappern teilen<br />

und wieder zusammenschließen. Thomas Mann, Die Bekenntnisse<br />

des Hochstaplers Felix Krull<br />

»Gute Zeit« in der schlechten? 113<br />

Kapitel_2_062-143_2.Korr.indd 112-113 17.01.2007 16:46:10 Uhr


<strong>DIE</strong> LAGE DER ARBEITER<br />

Der Weg aus dem Elend und die Anfänge des Sozialstaats<br />

114 Aufbruch in die Moderne<br />

Mit der Industrialisierung einher ging<br />

die Bildung einer neuen sozialen<br />

Schicht, der Arbeiterschaft. Sie wuchs nach<br />

der Reichsgründung stetig an. Zwischen 1882<br />

und 1907, Jahren, für die statistische Daten<br />

vorliegen, stieg die Zahl der Arbeiter in der<br />

Industrie von 9,3 (= 34,8 Prozent aller Beschäftigten)<br />

auf 14,7 Millionen (= 42,2 Prozent).<br />

Damit stellten sie die Mehrheit der Beschäftigten,<br />

ging doch in der gleichen Zeit die Zahl<br />

derjenigen, die in der Landwirtschaft tätig<br />

waren, von 10,5 (= 41,6 Prozent) auf 7,6 Millionen<br />

(= 28,4 Prozent) zurück. Die Lebensbedingungen<br />

dieser Schicht waren jedoch über<br />

Jahrzehnte bedrückend: Die Arbeitszeiten<br />

waren extrem lang; nur allmählich gelang<br />

es, die Wochenarbeitszeit von 72 (1871) über<br />

61 (1900) auf schließlich 55,5 Wochenstunden<br />

am Vorabend des Ersten Weltkrieges zu reduzieren.<br />

Die 48-Stundenwoche und d. h. der<br />

Acht-Stunden-Tag waren hingegen erst das<br />

Ergebnis der Niederlage im Krieg.<br />

Aus Sicht der Arbeiter war diese Verkürzung<br />

der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit<br />

zweifellos ein großer Erfolg, der<br />

ihren Lebensalltag erträglicher machte. Sie<br />

erhielten dadurch mehr freie Zeit, um sich<br />

zu erholen, vor allem aber konnten sie ihr<br />

Leben nach der Arbeit selber gestalten und<br />

sich mehr um ihre Familien kümmern. Für<br />

diese Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse<br />

haben die Arbeiter freilich hart kämpfen<br />

müssen: Angeführt von ihren Gewerkschaften,<br />

mussten sie dafür Hunderte von<br />

Streiks führen.<br />

Urlaub war hingegen bis zum Ersten Weltkrieg<br />

eine Ausnahme. Nur wenige Betriebe<br />

gewährten Arbeitern vor der Jahrhundertwende<br />

überhaupt einen bezahlten Jahresurlaub.<br />

Damit waren diese erheblich schlechter<br />

gestellt als Beamte und Angestellte, die<br />

schon früh in den Genuss mehrerer Urlaubs-<br />

tage kamen. Auf diese Weise sollte, vor allem<br />

bei den Angestellten, nicht zuletzt deren Unterschiedsbewusstsein<br />

gegenüber Arbeitern<br />

geschärft werden. Allein Buchdrucker, dann<br />

Brauereiarbeiter und später Arbeiter einzelner<br />

Metallbetriebe konnten im Laufe der<br />

Zeit in ihren Tarifverträgen Ansprüche auf<br />

einen in der Regel einwöchigen, manchmal<br />

zehntägigen Jahresurlaub durchsetzen. Auch<br />

einzelne Staats- und Gemeindebetriebe ge-<br />

» Die Vorteile der Sozialversicherung (…)<br />

Hier trug an diesem Abende der damalige (…) Redakteur<br />

der Chemnitzer sozialdemokratischen »Presse« (…) über<br />

die damals noch nicht in Kraft getretene Alters- und Invaliditätsversicherung<br />

vor (…) Es war eine im großen und<br />

ganzen durchaus sachlich gehaltene Rede. Sie gipfelte in<br />

der doppelten Behauptung, dass das neue Gesetz in der Tat<br />

vielfach noch mangelhaft sei, und dass es jedenfalls nicht<br />

die durchgreifende Hilfe für die Arbeiterschaft und die<br />

Lösung der sozialen Probleme sei, dass man sich aber dennoch<br />

nicht abschrecken lassen dürfte, sondern nun zunächst<br />

einmal das Angebotene annehmen, aber zugleich<br />

wacker an der allmählichen Verbesserung dieses Gesetzes<br />

mitarbeiten sollte. Denn man empfindet heute schon<br />

dankbar, wenn auch als etwas Selbstverständliches die<br />

bereits deutlich spürbaren Wohltaten des Gesetzes. Wenn<br />

man irgendwie über sie klagte, so betraf das (…) immer<br />

nur einzelne Mängel, wie die dreitägige Karenzzeit zu Anfang<br />

einer jeden Krankheit, oder Missstände, die sich in<br />

der Verwaltung herausstellen, und an denen oft nur die<br />

an ihrer Spitze stehenden Personen die Schuld hatten. (…)<br />

Paul Göhre, ein evangelischer Theologe, 1891 über die Diskussion<br />

der Sozialversicherungsgesetzgebung in einem sozialdemokratischen<br />

Wahlverein in Chemnitz<br />

währten seit Beginn des 20. Jahrhunderts einige<br />

Urlaubstage. Bei all diesen Erfolgen darf<br />

freilich nicht übersehen werden, dass die Gewährung<br />

von Urlaub, vor allem an ältere Arbeitnehmer,<br />

häufig auch ein Mittel der festeren<br />

Bindung an den jeweiligen Betrieb oder<br />

sogar der sozialen Disziplinierung war.<br />

Auch hinsichtlich der Löhne verbesserte<br />

sich die Lage der Arbeiter nur langsam. Zwischen<br />

1871 und 1913 stiegen die durchschnittlichen<br />

Nominallöhne von 493 auf 1083 Mark.<br />

Dieser Anstieg war sicherlich beträchtlich, es<br />

sollte dabei jedoch nicht vergessen werden,<br />

dass die Lohnentwicklung starken Schwankungen<br />

unterlag. Vor allem in den langen<br />

Zeiten wirtschaftlicher Krisen stagnierten<br />

die Löhne oder gingen sogar erheblich zurück.<br />

In Zeiten konjunktureller Besserung<br />

stiegen sie allerdings auch häufig überproportional<br />

an.<br />

Diese positive Entwicklung der durchschnittlichen<br />

Löhne sollte aber vor dem Hintergrund<br />

erheblicher Unterschiede in einzelnen<br />

Branchen betrachtet werden. So verdienten<br />

Bergarbeiter 1913 1946 Mark durchschnittlich,<br />

Metallarbeiter sogar 1513 Mark,<br />

Beschäftigte in der Textilindustrie hingegen<br />

nur 786 Mark. Regionale Unterschiede sind<br />

hierbei nicht berücksichtigt.<br />

Besonders groß war das Gefälle zwischen<br />

den Löhnen von Arbeitern und Arbeiterinnen.<br />

1914 verdienten letztere nach einer amtlichen<br />

Untersuchung, die 13 Gewerbegruppen<br />

umfasste, nur 2,29 Mark täglich, erstere hingegen<br />

5,17 Mark. Allenfalls eine alleinstehende<br />

Fabrikarbeiterin konnte davon ihren<br />

Lebensunterhalt bestreiten, nicht aber<br />

eine alleinerziehende Mutter oder eine Witwe<br />

bzw. die Ehefrau eines arbeitslos gewordenen<br />

Mannes. Die Löhne von Kindern und<br />

Jugendlichen blieben erheblich hinter denen<br />

der Frauen zurück, wobei auch hier ein deutliches<br />

Gefälle zwischen männlichen und weiblichen<br />

Arbeitskräften zu verzeichnen ist.<br />

Um zu ermessen, wie es den Arbeitern<br />

wirklich ging, ist es freilich notwendig, Nominallöhne<br />

und allgemeine Preisentwicklung<br />

zusammen zu betrachten. Auch hier<br />

zeigt sich, gerade auch im europäischen Vergleich,<br />

dass die Entwicklung im Kaiserreich<br />

positiv war. Zwischen 1871 und 1913 verdoppelte<br />

sich das real zur Verfügung stehende<br />

Einkommen. Diese Entwicklung darf jedoch<br />

Straßenszene in Berlin, Aufnahme von Heinrich Zille.<br />

Die Lage der Arbeiter 115<br />

Kapitel_2_062-143_2.Korr.indd 114-115 17.01.2007 16:46:11 Uhr


seit der Jahrhundertwende dann etwas gelockert.<br />

Ihr oblag die Sorge um das atmosphärisch<br />

warme häusliche Klima, sie »zauberte<br />

das Hüttchen zum Tempel der Wonne, zum<br />

›Tempel der Ruh‹ « und gestaltete »jene liebe,<br />

traute Häuslichkeit, an deren festumfriedeten<br />

Mauern sich die tosenden Stürme der Außenwelt<br />

brechen« und in denen zum guten<br />

Schluss »der tätige, schaffende Mann nach<br />

der harten Arbeit des Tages Ruhe und Erholung«<br />

fand, wie ein katholischer Adeliger<br />

noch 1912 blumig urteilte. In Konvention erstarrt,<br />

war sie im Extremfall verzweifelt bemüht,<br />

ihre Lebenswelt gegen die Unbill einer<br />

bewegten Gegenwart zu verteidigen, trefflich<br />

karikiert in Fontanes »Jenny Treibel«. Die Erziehung<br />

der Kinder erfolgte gleichfalls nach<br />

den Regeln bürgerlicher Respektabilität. Den<br />

Jungen den Weg zum achtbaren Beruf zu eb-<br />

128 Aufbruch in die Moderne<br />

nen, die Tochter dagegen im besten Falle in<br />

Vorbereitung auf das spätere Amt als gesellschaftsfähige<br />

Ehefrau »musisch« auszubilden,<br />

das heißt literarisch, künstlerisch und<br />

kreativ handwerklich zu unterweisen, war<br />

Hauptmotiv der elterlichen Karrierevorsorge.<br />

Dies blieben indes, trotz gesellschaftlicher<br />

Leitbildfunktion, die Luxussorgen einer<br />

wohlhabenden Minderheit.<br />

Weit überwiegend beschränkte sich die Berufstätigkeit<br />

von Frauen bis zum Ende des<br />

Kaiserreiches auf den niedrig entlohnten<br />

Dienstleistungssektor: Als Magd auf dem<br />

Land, die weiter nach den Regeln vorindustrieller<br />

Gesindeordnung »knechtete«; als Arbeiterin<br />

in der Textilindustrie; als weitgehend<br />

rechtloses Dienstmädchen, das Tag und<br />

Nacht dem Befehl der brotgebenden »Herr-<br />

» Kinder, Küche, Kirche Der eigentliche Beruf des Weibes<br />

wird zu allen Zeiten das Haus und die Ehe sein. Sie soll Kinder gebären<br />

und erziehen. Ihrer Familie soll sie den lauteren Quell ihrer fühlenden,<br />

liebevollen Seele senden, Zucht und Sitte, Gottesfurcht und<br />

heitere Lebensfreude nähren und pflegen. Nur so wird das Weib segensreich<br />

wirken. Freilich kann sie das nicht in der Ehe des sozialdemokratischen<br />

Normalstaates der Zukunft, der Mann und Weib dieselbe<br />

Tätigkeit geben will; wie sie in heutigen Fabriken manchmal dieselbe<br />

Beschäftigung haben. Dadurch hat das Weib eine scheinbare Gleichberechtigung<br />

mit dem Manne. (…) Wer wirklich ein Herz hat für die<br />

niederen Stände, der wird umgekehrt zu dem Schluß kommen, dass es<br />

Aufgabe der Sozialpolitik ist, soviel wie möglich dafür zu sorgen, dass<br />

gar keine Frauen mehr in den Fabriken tätig sind. Es muss dahin<br />

kommen dass der Fabrikarbeiter durch seine Arbeit allein genug erwirbt,<br />

um seine Familie ernähren zu können. Dass aber die Frau in<br />

die Fabrik geht, und dass damit die Mahlzeit und alle Bequemlichkeiten<br />

des häuslichen Lebens fortfallen, führt zur völligen Zerstörung<br />

der Ehe. Heinrich v. Treitschke, Politische Vorlesungen gehalten an der<br />

Universität zu Berlin, 1897<br />

schaften« Folge zu leisten hatte. Oder aber<br />

sie suchte eine körperlich kaum belastende<br />

Arbeit in den neuen Angestelltenverhältnissen,<br />

die mit der tiefgreifenden Veränderung<br />

der Arbeitswelt um die Jahrhundertwende<br />

zunehmend angeboten wurden. Angesichts<br />

des restaurativen gesellschaftlichen<br />

Klimas empfanden viele Frauen die überwiegend<br />

geduldeten Tätigkeiten in den Büros<br />

privatwirtschaftlicher und öffentlicher Verwaltung<br />

wohl auch als Befreiung. Finanziell<br />

kaum lukrativ, boten sie doch Aussicht auf<br />

zumindest minimale berufliche Selbstverwirklichung.<br />

Noch setzte sich auch in diesem<br />

Bereich die männliche Beharrung gegenüber<br />

weiblichem Aufstiegswillen durch. Die Hierarchien<br />

blieben unangetastet, Leitungs- und<br />

Kontrollarbeiten oblagen wie im familiären<br />

Zusammenhang unverrückbar dem Mann.<br />

Und doch stieg – ein Beleg für die Attraktivität<br />

– der Anteil der Frauen unter den Angestellten<br />

im Deutschen Reich von nahe null<br />

um 1880 auf über ein Viertel am Vorabend<br />

des Ersten Weltkrieges.<br />

Das größte Hindernis für die berufliche<br />

Gleichstellung bildete stets der als natürlich<br />

angesehene feminine Dreiklang von Heirat,<br />

Familie und Kindern. Spätestens mit<br />

der Schwangerschaft endeten die Beschäftigungsverhältnisse.<br />

Dies galt für bürgerliche<br />

wie auch proletarische Frauen und wurde<br />

auch von ihnen selbst kaum öffentlich hinterfragt.<br />

Wo die Frau unverheiratet blieb, boten<br />

sich dagegen weitere Chancen: Das kinderlose<br />

Zölibat war für Lehrerinnen an Mädchenschulen<br />

sogar unabdingbare Voraussetzung.<br />

Die seit 1908 erstmals in Preußen eingerichteten<br />

höheren Töchterschulen wurden<br />

gleichwohl zunächst überwiegend von<br />

männlichen Lehrkräften geleitet.<br />

Die ökonomisch unvermeidliche Öffnung<br />

der bislang ausgeschlossenen Berufsfelder<br />

während des Ersten Weltkrieges war nur<br />

kurzzeitige Gleichstellungsepisode. Auch<br />

wenn sie »ihren Mann gestanden hatten«,<br />

wurden Frauen nach Ende des Krieges rasch<br />

aus den angestammten Männerberufen in<br />

ihre herkömmlichen Tätigkeiten abgeschoben.<br />

Doch der süße Geschmack der Gleichberechtigung<br />

blieb und erhielt mit der Verabschiedung<br />

der Weimarer Verfassung 1919, die<br />

zumindest die politische Egalität dauerhaft<br />

festschrieb, neue Nahrung.<br />

Erste Berufserfahrungen an einer höheren<br />

Mädchenschule vermittelten der 1848 geborenen<br />

Helene Lange einen Einblick in die gegebenen<br />

Möglichkeiten der Bildungsarbeit für<br />

Frauen in Deutschland. Deren Bildung sollte<br />

lediglich dazu dienen, dass »der deutsche<br />

Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit<br />

und Engherzigkeit seiner Frau an dem<br />

häuslichen Herde gelangweilt und in seiner<br />

Hingabe an höhere Interessen gelähmt<br />

werde«, so hatten es die Oberlehrer höherer<br />

Töchterschulen 1872 formuliert. Die Vorbereitung<br />

der Frauen auf ihr »natürliches Amt«<br />

als treue Ehefrau und gute Gesellschafterin<br />

als Kern aller Bildung, deren Vermittlung<br />

zudem in höheren Klassen männlichen Lehrern<br />

vorbehalten blieb: In den Augen Helene<br />

Langes waren dies untragbare Defizite, denen<br />

sie stets entgegenzuwirken suchte. Der<br />

erleichterte Zugang zur Bildung für Mädchen<br />

und Frauen entwickelte sich zu ihrer Lebensaufgabe.<br />

Ihr widmete sie sich in der 1887 erschienenen<br />

Broschüre »Die höhere Mädchenschule<br />

und ihre Bestimmung«. Hier forderte<br />

sie die Unterrichtung der Mädchen durch<br />

Frauen auch in den Oberschulen sowie eine<br />

staatliche Ausbildung von Lehrerinnen, da<br />

sich Frauen besser in die Schülerinnen einfühlen<br />

könnten. 1890 gründete sie den »Allgemeinen<br />

Deutschen Lehrerinnenverein«,<br />

der zum einflussreichsten Verband der bürgerlichen<br />

Frauenbewegung wurde.<br />

Doch die feministische Agitation stand<br />

für Helene Lange im Schatten ihrer Reformbemühungen,<br />

mit denen sie erstaunliche<br />

Erfolge erzielen konnte. Seit 1889 bot sie in<br />

Berlin Realkurse für Mädchen an, die unter<br />

Einbeziehung von Naturwissenschaften,<br />

Latein und Mathematik einen der gymnasialen<br />

Oberstufe gleichrangigen Abschluss anstrebten,<br />

der 1896 staatlich anerkannt wurde.<br />

Seit 1908 durften Frauen an preußischen<br />

Helene<br />

Lange<br />

GLEICHSTELLUNG DURCH BILDUNG – HELENE LANGE<br />

Universitäten ein reguläres Studium aufnehmen,<br />

zu einer Zeit, da das frauenfeindliche<br />

Pamphlet Ȇber den physiologischen<br />

Schwachsinn des Weibes« des Leipziger Mediziners<br />

Möbius bereits seine achte Auflage<br />

erzielt hatte. Als moderate Verfechterin<br />

von Frauenrechten beriet sie das preußische<br />

Bildungsministerium. Schule und Universität<br />

blieben zwar bis auf weiteres männliche<br />

Domänen. Doch Lange hatte durch ihre Arbeit<br />

ein Bewusstsein für die Schlüsselfunktion<br />

der Bildung für die Frauenemanzipation<br />

geweckt, das weit über die Frauenbewegung<br />

hinauswirkte. Seit 1908 in der Freisinnigen<br />

Partei, nach 1918 Mitglied der liberalen Deut-<br />

Helene Lange (1848–1930),<br />

Führerin der deutschen<br />

Frauenbewegung.<br />

schen Demokratischen Partei (DDP), erlebte<br />

sie schließlich auch die formelle politische<br />

Gleichstellung der Frauen mit der Verleihung<br />

des aktiven und passiven Wahlrechts und eröffnete<br />

als Alterspräsidentin der Hamburger<br />

Bürgerschaft 1919 deren konstituierende Sitzung.<br />

Hoch geehrt, etwa mit der Ehrendoktorwürde<br />

der Tübinger Universität und der<br />

Ehrenbürgerschaft ihrer Geburtsstadt Oldenburg,<br />

war sie bis ins hohe Alter stets dem Unterricht<br />

verbunden, der in den Worten einer<br />

Schülerin »von ungebrochener Ganzheit, von<br />

hohem geistigen Niveau, von großer Frische<br />

und Originalität« blieb. Helene Lange starb<br />

am 13. Mai 1930 in Berlin.<br />

Gleichstellung durch Bildung – Helene Lange 129<br />

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