Die erste Generation: Josef Rodenstock (1877 – 1905)

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Die erste Generation: Josef Rodenstock (1877 1905) „Mein fester dringender Wunsch ist, dass von diesem Jubiläum Niemand etwas erfährt als Du, Franz, Max und Hermann. ich perhoreciere [verabscheue] diese Jubiläums-Feiern der alltäglichen Art, nur für mich und in gemildertem Grade je nach Auffassung auch für Euch ist dieser Tag tief gefühlt denkwürdig.“ „Zum Schluß füge ich wiederholt an, Niemanden Kenntnis zu geben von diesem Jubiläum, ich sehe geschäftlich darin keinerlei Vorteile irgend zu feiern und die menschlichen usuellen Wünsche bei solchen Gelegenheiten schätze ich nahezu ganz als wertlos mit geringsten Ausnahmen.“ Josef Rodenstock am 20.12.1927 an seinen Sohn Alexander 1 „An ein Jubiläum oder Jubiläumsfeier habe ich allerdings nicht gedacht. Ich bin kein Freund von Feiern und habe auch niemals ein persönliches Jubiläum begangen oder begehen lassen während meiner 35 Dienstjahre.“ Alexander Rodenstock am 24.11.1938 an Wilhelm Schwinn 2 8 9

<strong>Die</strong> <strong>erste</strong> <strong>Generation</strong>:<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong><br />

(<strong>1877</strong> <strong>–</strong> <strong>1905</strong>)<br />

„Mein fester dringender Wunsch ist, dass von diesem Jubiläum Niemand etwas erfährt als<br />

Du, Franz, Max und Hermann. <strong>–</strong> ich perhoreciere [verabscheue] diese Jubiläums-Feiern der<br />

alltäglichen Art, nur für mich und in gemildertem Grade je nach Auffassung auch für Euch<br />

ist dieser Tag tief gefühlt denkwürdig.“<br />

„Zum Schluß füge ich wiederholt an, Niemanden Kenntnis zu geben von diesem Jubiläum,<br />

ich sehe geschäftlich darin keinerlei Vorteile irgend zu feiern und die menschlichen usuellen<br />

Wünsche bei solchen Gelegenheiten schätze ich nahezu ganz als wertlos mit geringsten<br />

Ausnahmen.“ <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> am 20.12.1927 an seinen Sohn Alexander 1<br />

„An ein Jubiläum oder Jubiläumsfeier habe ich allerdings nicht gedacht. Ich bin kein Freund<br />

von Feiern und habe auch niemals ein persönliches Jubiläum begangen oder begehen lassen<br />

während meiner 35 <strong>Die</strong>nstjahre.“ Alexander <strong>Rodenstock</strong> am 24.11.1938 an Wilhelm Schwinn 2<br />

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Kapitel 1: Vorgeschichte<br />

und Unternehmensgründung<br />

in Würzburg<br />

<strong>Die</strong> Notiz im Adress- und Geschäftshandbuch der Stadt Würzburg für das Jahr 1878 konnte<br />

kaum unscheinbarer sein: Unter dem Stichwort „Optiker“ folgt nach den beiden Firmen<br />

David Ehrenstein und Heinrich Levy der immerhin fett gedruckte Hinweis: „<strong>Rodenstock</strong>,<br />

Georg. Inh.: <strong>Rodenstock</strong>, <strong>Josef</strong>.“ Erst wenige Monate zuvor, im Oktober <strong>1877</strong>, hatte sich<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> (32) aus dem thüringischen Eichsfeld, wandernder Verkäufer selbst konstruierter<br />

Messinstrumente und Brillenfassungen, in Würzburg niedergelassen. In der<br />

Kaiserstraße 2, zwischen dem neuen Bahnhof und der Würzburger Altstadt, richtete <strong>Josef</strong><br />

<strong>Rodenstock</strong> Ende <strong>1877</strong> eine kleine feinmechanische Werkstätte ein. Dort baute er Barometer,<br />

Präzisionswaagen für Maurer- und Zimmerleute, verschiedene Messinstrumente und<br />

fertigte Brillengläser und -fassungen. Dem Adressbuch zufolge war <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> einer<br />

von fünf Optikern in Würzburg. Er gründete am 1. Dezember <strong>1877</strong> <strong>–</strong> nach anderen Quellen<br />

am 1. Januar 1878 <strong>–</strong> seine Firma 3 auf den Wunsch des Vaters Georg hin unter dem<br />

Namen „G. <strong>Rodenstock</strong>“. Damit setzte <strong>Josef</strong> in Würzburg ein Geschäft fort, das er mit seinem<br />

Vater bereits seit einigen Jahren im heimatlichen Ershausen aufgebaut hatte.<br />

Schwere Startbedingungen<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> war ein Autodidakt und erfindungsreicher „Selfmademan“. Er war der älteste<br />

Sohn des „Wollkämmers, Werkmeisters und Händlers“ Georg <strong>Rodenstock</strong> (1819-1894)<br />

und der Maria Elisabeth Althaus (1822-1909), der Tochter eines Raschmachers („Rasch“ war<br />

ein leichtes Wollgewebe, das als Unterfutter für Teppiche verwendet wurde). Beide Eltern<br />

stammten aus dem Örtchen Ershausen im Eichsfeld, wo <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> am 11. April 1846<br />

als <strong>erste</strong>s Kind <strong>–</strong> es folgten noch drei Geschwister <strong>–</strong> geboren wurde. Der Familienüberlieferung<br />

nach waren die <strong>Rodenstock</strong>s als kurmainzerische Beamte, Rentmeister und Steuererheber<br />

ins Eichsfeld und nach Ershausen gekommen und später Wagner, also Wagenbauer,<br />

geworden.<br />

Georg <strong>Rodenstock</strong> leitete eine kleine Wollkammfabrik der Firma Wirth (Karlsruhe) in Hildebrandshausen<br />

im Eichsfeld und gehörte daher in dieser armen Gegend zu den besseren,<br />

den bürgerlichen Kreisen. Zum Zeitpunkt von <strong>Josef</strong>s Geburt im Jahre 1846 war die Fabrik<br />

allerdings gerade geschlossen worden, weil sie der Konkurrenz der neuen dampfbetriebenen<br />

Maschinen nicht standhalten konnte. <strong>Die</strong> Familie <strong>Rodenstock</strong> verlor Existenzgrundlage<br />

und <strong>Die</strong>nstwohnung und zog zurück nach Ershausen in das <strong>–</strong> durchaus stattliche <strong>–</strong> Haus<br />

des Großvaters Christian <strong>Rodenstock</strong> (1783-1864). Der Rest des kleinen Familienvermögens<br />

ging bei Georg <strong>Rodenstock</strong>s Versuch verloren, eine Maschine zur Fabrikation von Nähgarn<br />

(Zwirn) und zur Nähgarnfärberei zu entwickeln. Der modernen Konkurrenz vor allem aus<br />

Belgien war der kleine Betrieb allerdings nicht gewachsen und Georg <strong>Rodenstock</strong> musste<br />

bald wieder aufgeben.<br />

<strong>Die</strong> Handlungsreisen des Georg <strong>Rodenstock</strong><br />

Um seine Familie zu ernähren, ging Georg <strong>Rodenstock</strong> auf ausgedehnte Handlungsreisen,<br />

vor allem ins Rheinland, und erwarb damit „ein kleines Vermögen“, so <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong>.<br />

Was er verkaufte ist unbekannt, aber jedenfalls war er „nur zwei- bis dreimal mal im Jahre<br />

einige Wochen in der Familie“. 1852 konnten sich die Eltern bereits ein eigenes Haus kaufen<br />

und „durch Fleiß und Sparsamkeit“ besserte sich die Lage der Familie, die bald wieder<br />

„eine geachtete Stellung einnahm“. Für ein Studium des begabten Sohnes <strong>Josef</strong> reichte es<br />

trotzdem nicht. Auf Drängen von <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong>s Mutter Maria Elisabeth, die vermutlich<br />

die Familie stärker zusammenhalten wollte, kaufte Georg <strong>Rodenstock</strong> 1859 in Krumscheid<br />

bei Asbach im Kreis Neuwied (Westerwald) ein Haus und ein kleines Bauerngut. Dort wurde<br />

1860 der jüngste Sohn Alois geboren. Doch Georg <strong>Rodenstock</strong> hatte erneut seine geschäftlichen<br />

Erfolgschancen überschätzt: Schon 1860 „verschlechterten sich die Vermögensverhältnisse<br />

der Eltern“ und die Familie zog wieder um, diesmal in das 450-Einwohner-Dorf<br />

10<br />

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<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong>s<br />

Vater, der „Wollkämmer,<br />

Werkmeister<br />

und Händler“ Georg<br />

<strong>Rodenstock</strong> (1819-<br />

1894) und seine<br />

Frau Maria Elisabeth<br />

geb. Althaus (1822-<br />

1909) in Ershausen.


Kripp bei Remagen am Rhein. Der Ort war gut gewählt, denn dort verkehrte nicht nur seit<br />

dem Mittelalter die Fähre nach Linz (und damit die Verbindung in den Westerwald), sondern<br />

seit 1859 hatte Remagen auch Eisenbahnanschluss und damit Verbindung zu den<br />

großen Städten am Rhein. <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> musste <strong>–</strong> „der Not gehorchend“ <strong>–</strong> für den Unterhalt<br />

der Familie mitarbeiten, und zwar durch „Tagelöhnerarbeiten“ wie „Kiesarbeiten,<br />

Karrenfahren und dergleichen“ und gleichzeitig den kleinen Hof in Krumscheid bewirtschaften,<br />

während die Eltern in Kripp wohnten.<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> als junger Mann<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> war zu dieser Zeit ein aufgeweckter junger Mann von 14 Jahren. Wissen<br />

und Bildung schätzte sein Vater Georg <strong>Rodenstock</strong> sehr hoch ein, vermutlich weil sie der<br />

Schlüssel zum Wiederaufstieg seiner Familie ins Bürgertum waren. Daher brachte er „gern<br />

jedes Opfer zur Ausbildung der Kinder“, wie sich <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> später erinnerte: Bereits<br />

mit fünf Jahren habe er Druckschrift lesen und das Einmaleins fast bis 100 rechnen können.<br />

Angesichts seiner Intelligenz und bürgerlichen Herkunft empfand <strong>Josef</strong> es als „bitteres Unrecht“,<br />

wenn in der Volksschule „die <strong>erste</strong> Stelle reicheren Mitschülern ... reserviert und<br />

gewährt“ wurde. <strong>Die</strong> „Zurücksetzung und Ungerechtigkeit“ schmerzte den Jungen und er<br />

versuchte, sich durch private Nachhilfestunden auf die Sekundarstufe des Gymnasiums vorzubereiten.<br />

Allerdings verbot die Mutter bald diese Lehrstunden, weil sie sparen wollte und<br />

von Bildung nicht viel hielt. Sie wollte lieber, dass <strong>Josef</strong> arbeitete und Geld verdiente; denn<br />

sie fand, der Junge wisse schon „mehr als man im Leben brauche“.<br />

12<br />

13<br />

Das Eichsfeld und seine Wanderarbeiter<br />

Das Obere Eichsfeld <strong>–</strong> bis 1803 Teil des kurmainzischen Erzstiftes <strong>–</strong> war eine katholische<br />

Enklave mitten in der protestantisch-preußischen Provinz. Weil der karge<br />

Boden des Hochplateaus nur wenig Ertrag abwarf, arbeiteten die Eichsfelder als<br />

Leinen- oder Wollweber, spezialisierten sich auf bestimmte Handwerksberufe oder<br />

zogen als Wanderarbeiter, Wandermusikanten oder Händler durch die Lande. Seit<br />

Anfang des 17. Jahrhunderts hatte sich die Wollweberei durchgesetzt, die als Heimarbeit<br />

nebenher von vielen Bauernfamilien betrieben wurde. Der Niedergang dieses<br />

heimischen Wollgewerbes in der <strong>erste</strong>n Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ das<br />

Eichsfeld zum Armenhaus Preußens werden. Für eine Industrialisierung fehlten der<br />

Region die Voraussetzungen, und zwar sowohl Energie als auch Rohstoffe und Infrastruktur.<br />

<strong>Die</strong> Bevölkerungszahl im Eichsfeld war im 17. und 18. Jahrhundert nicht<br />

zuletzt wegen der prosperierenden Weberei stark angestiegen; jetzt konnte das<br />

Land die Leute nicht mehr ernähren. Viele Eichsfelder waren also gezwungen, sich<br />

anderswo ein Einkommen zu verschaffen. Wanderarbeiter aus dem Eichsfeld waren<br />

bald überall in Deutschland an der beginnenden Industrialisierung beteiligt.<br />

Seit den 1840er Jahren erlaubten besondere Hausiergesetze den Wanderhandel,<br />

der ansonsten den damals noch geltenden engen Gewerbeordnungen widersprochen<br />

hätte. Daher versuchten jetzt viele Eichsfelder ihr Glück als fahrende Händler,<br />

obwohl die Gesetze den Hausierern das Leben sehr schwer machten. Ihre Anzahl<br />

nahm jedoch im 19. Jahrhundert immer weiter zu, bis nach der Gründung des<br />

Deutschen Reiches 1871 die Gewerbeordnung in mehreren Novellen das Hausierertum<br />

zunehmend einschränkte. <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong>, der seinen wirtschaftlichen<br />

Aufstieg als Wanderhändler Ende der 1850er Jahre begonnen hatte, war zu dieser<br />

Zeit längst als erfolgreicher Unternehmer etabliert.


<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> selber erinnerte sich später, dass er damals versucht habe, „auf nur immer<br />

mögliche Weise, mein Wissen zu erweitern“. Auf dem Heuboden eines Nachbarn hatte er<br />

die komplette Bibliothek des an Cholera gestorbenen Direktors des Lehrerseminars in Heiligenstadt<br />

gefunden. Wegen der Cholera wagte sich kein Käufer an die Bücher, die so<br />

„gänzlich ungeordnet als wertlos“ auf dem Heuboden herumlagen. <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> erinnerte<br />

sich später, dass er „jede freie Zeit mit Lesen in diesen Büchern verbrachte“ und so<br />

die Chance hatte, sich „mit vielem Wissen zu bereichern“. Darüber hinaus suchte er den<br />

Kontakt zu Gymnasiasten und Kaufleuten.<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> teilte den Ehrgeiz seines Vaters, er wollte studieren, um „Lehrer oder<br />

Theologe zu werden“. Aber wieder hinderte ihn die schlechte wirtschaftliche Lage seiner<br />

Familie, denn Georg <strong>Rodenstock</strong> erkrankte an Typhus und <strong>Josef</strong> musste seine hochfliegenden<br />

Pläne aufgeben. So blieb <strong>Josef</strong> nur der Weg des Autodidakten, der er Zeit seines<br />

Lebens blieb.<br />

Vom Tagelöhner zum Handlungsreisenden<br />

Schon als 14-Jähriger musste <strong>Josef</strong> zum Unterhalt der Familie beitragen. Mit Tagelöhnerarbeiten<br />

verdiente er aber nur 80 Pfennig am Tag, „dabei hatte ich Hunger für 1 bis 1 1/2<br />

Mark“, so dass nichts für die Familie übrig blieb. Da kam Georg <strong>Rodenstock</strong> 1860 <strong>–</strong> noch in<br />

Kripp <strong>–</strong> auf die Idee, dass <strong>Josef</strong> „mit dem Handel irgendeiner Art sicher mehr verdienen<br />

könne“. Er gab ihm seine alte Reisetasche und anderthalb Taler als Startkapital: „Nun siehe,<br />

was du fertig bringst“, soll der Vater ihm mit auf den Weg gegeben haben <strong>–</strong> fast wie im<br />

Märchen.<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> versuchte sich zunächst im Kurzwarenhandel: In Linz kaufte er Nähnadeln<br />

und Porzellanknöpfe und zog <strong>–</strong> mit Löchern in den Schuhen und ohne Gewerbeschein<br />

<strong>–</strong> hinauf in den Westerwald nach Altenkirchen, um dort seine Waren an Bauern,<br />

Krämer und Schneiderinnen zu verkaufen. „Mit vielem Glücke“, wie er sich später erinnerte,<br />

hatte er nach 14 Tagen seine Waren an den Mann und die Frau gebracht und sein Kapital<br />

auf vier oder fünf Taler vermehrt. Sein Vater behielt einen Teil des Gewinns ein und<br />

schickte ihn wieder los. In Neuwied kaufte <strong>Josef</strong> bei der Engros-Firma Jakobi & Schneider<br />

„recht günstig“ neue Waren ein, verkaufte sie wieder mit gutem Gewinn im Westerwald<br />

und fuhr Ende 1860 bereits „zum Großeinkaufe nach Köln“. Wieder gelang es ihm, seine<br />

Waren erfolgreich zu verkaufen, so dass er Weihnachten 1860 seinem Vater stolz 50 Taler<br />

Reingewinn übergeben konnte. <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> war ganz offensichtlich ein ausgesprochenes<br />

Verkaufstalent. „Ich war 14 1/2 Jahre alt!“, bemerkte er in seinen Erinnerungen stolz.<br />

Georg <strong>Rodenstock</strong> war von <strong>Josef</strong>s Leistung ausgesprochen beeindruckt und entschloss<br />

sich, seine Geschäfte künftig genauso wie sein Sohn zu führen. Er beantragte einen Gewerbeschein<br />

als wandernder Hausierer und ließ sich von <strong>Josef</strong> „in die Art meines Betriebes<br />

einführen“. Nachdem der Gewerbeschein für Georg <strong>Rodenstock</strong> im Januar 1861 eingetroffen<br />

war <strong>–</strong> <strong>Josef</strong> selbst war noch nicht die erforderlichen 21 Jahre alt <strong>–</strong> zogen die beiden von<br />

Kripp aus gemeinsam mit Nähnadeln, Knöpfen und Scheren durch die Regierungsbezirke<br />

Koblenz, Köln und Trier. <strong>Josef</strong>, der weder zum Reisen noch zum Handel irgendeine Legitimation<br />

besaß, musste den Aufsichtsbehörden allerdings stets aus dem Wege gehen.<br />

1861 <strong>–</strong> 1870: Gute Geschäfte mit Barometern und <strong>erste</strong> Erfahrungen mit Brillen<br />

Allerdings war nun im Frühjahr der Bedarf der ländlichen Bevölkerung an Kurzwaren deutlich<br />

geringer als im Herbst und Winter, denn Kurzwaren waren auf dem Land saisonabhängig<br />

und so gingen die Geschäfte schlecht. Zufällig trafen Vater und Sohn <strong>Rodenstock</strong><br />

im Frühjahr 1861 auf ihren Reisen <strong>Josef</strong>s Onkel Johann Georg, der als Lumpensammler<br />

unterwegs war (Lumpen waren damals ein gesuchter Rohstoff der Papiermühlen). Johann<br />

Georg erzählte ihnen, dass die jüdischen Hausierer im Kölner und Bonner Raum mit


Brillen und Rasiermessern auch im Sommer gute Geschäfte machten. <strong>Josef</strong> überredete seinen<br />

Vater, es mit den Brillen zu versuchen, und bei einem jüdischen Kurzwarenhändler in<br />

Neuwied kauften sie die <strong>erste</strong>n Modelle, die sie „mit kleinem Nutzen“, also geringem Gewinn,<br />

weiterverkauften. Weitaus erfolgreicher war das Geschäft mit Quecksilberbarometern,<br />

von denen sie in Neuwied ebenfalls einige gekauft hatten: Der 15-jährige <strong>Josef</strong><br />

<strong>Rodenstock</strong> fand schnell heraus, wie man beschädigte Röhrchen wieder füllen und neue<br />

Barometer selbst anfertigen konnte. Sein Vater, der vorher selbst vergebliche Versuche dazu<br />

unternommen hatte, „war hocherfreut“. Jetzt hatten sie ein Produkt, das sich gut verkaufen<br />

ließ. Bereits um 1861 begannen sie mit der Serienfertigung: <strong>Josef</strong> und sein Vater Georg<br />

ließen die Glasröhrchen im Thüringer Wald h<strong>erste</strong>llen, die Holzgehäuse in Ershausen und<br />

die Skalen <strong>–</strong> bedruckt mit dem Namen <strong>Rodenstock</strong> <strong>–</strong> ließen sie in Würzburg machen. <strong>Die</strong><br />

mechanischen Zeiger stellte <strong>Josef</strong> aus Messingblech und Messingdraht selbst her. Einschließlich<br />

der Quecksilberfüllung betrugen die Materialkosten pro Barometer etwa 2,50<br />

Mark, bei einem Verkaufspreis von immerhin 9 bis 12 Mark. In späteren Jahren wurden die<br />

empfindlichen Quecksilberbarometer allerdings von den fast unzerbrechlichen französischen<br />

Dosenbarometern vom Markt verdrängt.<br />

Mit den Barometern machten Vater und Sohn <strong>Rodenstock</strong> im Frühjahr und Sommer 1861<br />

endlich bessere Geschäfte, so dass die Familie „keinerlei Mangel in der Haushaltsführung“<br />

mehr zu leiden hatte. <strong>Josef</strong> fand darüber hinaus Gelegenheit, seinen enormen Bildungshunger<br />

zu stillen, „manches zu sehen“ und „Zeitschriften und Bücher zu lesen, die mir<br />

sonst nicht zugänglich waren“. Trotzdem zog die Familie im Herbst 1861 „auf Drängen der<br />

Mutter“, die offenbar Heimweh hatte, zurück nach Ershausen. „Mit großem Verluste“ verkaufte<br />

Georg <strong>Rodenstock</strong> die Häuser in Krumscheid und Kripp. Der Umzug zehrte die Ersparnisse<br />

wieder auf: „Das ganze Vermögen war geschwunden bis auf ein wenig dürftiges<br />

Hausgerät“, so <strong>Josef</strong> später in seinen Lebenserinnerungen.<br />

Angesichts dieses wirtschaftlichen Rückschlags nahm <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> sich vor, „in absehbarer<br />

Zeit durch Fleiß, Umsicht und Sparsamkeit alles dieses und mehr wieder zu erringen“,<br />

um „mit den Eltern wieder emporzukommen“. An diese Aufgabe machte er sich <strong>–</strong><br />

vermutlich gemeinsam mit dem Vater <strong>–</strong> mit Energie, kaufmännischem Geschick und unter<br />

großen persönlichen Mühen: In den Jahren 1862 bis 1864 konnte er als wandernder Händler<br />

vom Eichsfeld aus sein Geschäft kräftig ausweiten, besonders die Fertigung und den<br />

Verkauf von Barometern. Er schonte sich nicht und war 1865 <strong>–</strong> noch nicht einmal 20 Jahre<br />

alt <strong>–</strong> „durch Überanstrengung ohne Erholung fast bis zum Ende meiner Kräfte“ gelangt. <strong>Die</strong><br />

wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Gefolge des preußisch-österreichischen Krieges von<br />

1866 sorgten dann für ein etwas ruhigeres Geschäftsjahr, das aber nicht weniger erfolgreich<br />

war: In diesen Jahren „wurde ein nennenswertes Vermögen gewonnen und erspart“, mit<br />

dem 1866 in Ershausen „ein eigenes Wohnhaus gekauft und bezahlt werden konnte“. <strong>Josef</strong>s<br />

Passiv-Konstruktion legt es nahe und das Katasterbuch von Ershausen beweist es: Besitzer<br />

des „Wohnhauses im Dorfe“ war nicht <strong>Josef</strong>, sondern sein Vater, der „Kauf-“ beziehungsweise<br />

„Handelsmann Georg <strong>Rodenstock</strong>“. 4<br />

1870 <strong>–</strong> 1876: Erfolg mit Messinstrumenten<br />

<strong>Die</strong> Jahre 1870 bis 1876 schildert <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> in seinen Lebenserinnerungen von 1931<br />

zwar extrem knapp, aber als Einheit. Spätestens 1872 hieß das väterliche Unternehmen<br />

„G. <strong>Rodenstock</strong>. Fabrikation mathematischer & physikalischer Instrumente“ 5 , wobei der<br />

gedruckte Briefkopf Dauerhaftigkeit und eine gewisse Solidität der Firma signalisiert. Zwischen<br />

1870 und 1876 verkaufte <strong>Rodenstock</strong> zahlreiche „selbstkonstruierte Instrumente“. Zu<br />

diesen Instrumenten, die er von anderen Firmen bezog, gehörten ein „Metalltachometer für<br />

Bierwürzen“, eine patentierte Wasserwaage für Maurer und Zimmerleute mit einem eingebauten<br />

Visier-Fadenkreuz, ein Taschen-Säuremesser zur Bestimmung der Essigsäure in Bier<br />

14<br />

15


oder Wein, eine Lupe für die Hopfenprüfung <strong>–</strong> und schließlich auch die „Anfertigung der<br />

<strong>erste</strong>n Brillen- und Klemmerfassungen aus Golddoublé“. Und Joseph <strong>Rodenstock</strong> erfand in<br />

dieser Zeit auch seine „Diaphragma-Brillengläser“, für die er damals allerdings noch „keine<br />

Arbeiter oder Fabrikanten finden konnte“. Erst in seiner eigenen Würzburger Werkstatt<br />

konnte er <strong>1877</strong>/78 dann die Brillengläser fertigen. 6 Mit diesen Produkten bewies <strong>Josef</strong><br />

<strong>Rodenstock</strong> nicht nur Ideenreichtum, sondern auch einen guten Geschäftssinn, denn er<br />

sammelte mit dem Verkauf der Geräte in wenigen Jahren das stattliche Vermögen von rund<br />

Der älteste Hinweis<br />

auf die Firma: Georg<br />

<strong>Rodenstock</strong>s „Fabrikation<br />

mathematischer<br />

& physikalischer Instrumente“<br />

verkaufte<br />

1872 Winkelkopf<br />

und Rollbandmaß<br />

nach Kufstein.


Das „Cassenbuch“<br />

aus dem Jahr <strong>1877</strong>/<br />

78 zeigt bereits vor<br />

der Würzburger<br />

Geschäftsgründung<br />

ein gut entwickeltes<br />

und weit verzweigtes<br />

Kunden- und Lieferantennetz.<br />

16<br />

17<br />

30.000 Mark an. 7 Das erhaltene „Cassenbuch“ aus dem Jahr<br />

<strong>1877</strong>/78, von Georg <strong>Rodenstock</strong> in Ershausen geführt, zeigt<br />

bereits vor der Würzburger Geschäftsgründung ein gut entwickeltes<br />

und weit verzweigtes Kunden- und Lieferantennetz.<br />

Das Absatzgebiet der Firma <strong>Rodenstock</strong> erstreckte<br />

sich <strong>1877</strong> auf ganz Deutschland und das benachbarte<br />

Ausland, vor allem Österreich. Es reichte von Weener in<br />

Ostfriesland, Bremen und Hamburg im Norden über<br />

Luxemburg und Trier im Westen, Bozen und Trient im<br />

Süden bis Olmütz, Wien, Ostrau und Ratibor im damaligen<br />

Mähren und Oberschlesien im Osten.<br />

Kunden und Lieferanten <strong>–</strong><br />

das „Cassenbuch“ gibt detailliert Auskunft<br />

Von den meisten Kunden werden im Kassenbuch nur die<br />

Namen genannt. Aber es gab auch eine große Gruppe von<br />

Firmen, die <strong>Rodenstock</strong>s Messinstrumente kauften, nämlich<br />

Brauereien: <strong>Rodenstock</strong> belieferte mit seinen Messgeräten<br />

beispielsweise Brauereien in Aibling (Duschl-Bräu), Bonn<br />

(Actienbrauerei), Bremen (Dampfbrauerei und Kaisers<br />

Brauereien Beck & Co), Dresden (Feldschlößchen), Hamburg<br />

(Vereinsbräu), Erlangen (Henniger Brauerei), Essen<br />

(Actienbrauerei), Leoben (Brauhaus Göss), Ludwigsburg<br />

(Aktienbrauerei), Neustadt bei Coburg (Geussen-Bräu),<br />

Nürnberg (Aktien-Brau), Regensburg (Jesuitenbrauerei),<br />

Weener (Brauerei-Actiengesellschaft) und Würzburg (Gebr.<br />

Boden Brauer und Hofbräuhaus). <strong>Die</strong> zweite wichtige<br />

identifizierbare Gruppe von Kunden waren<br />

Baumeister: ein Stadtbaumeister, ein Kreisbauinspektor,<br />

ein Bezirksgeometer, ein<br />

Zimmermeister und zwei Baumeister, die<br />

beispielsweise Wasserwaagen oder Bandmaße<br />

kauften. Außerdem verkaufte <strong>Rodenstock</strong><br />

schon <strong>1877</strong> von Ershausen aus Brillen.<br />

Um seine weit verstreuten Kunden zu erreichen<br />

und seine Produkte zu verkaufen, reiste<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> kreuz und quer durch<br />

Deutschland und Österreich. Seine Verkaufsreise<br />

im Sommer <strong>1877</strong> kann anhand<br />

der im Kassenbuch verzeichneten Geldüberweisungen<br />

seines Vaters genau rekonstruiert<br />

werden: Von Ulm (29. März <strong>1877</strong>)<br />

aus reiste <strong>Josef</strong> zunächst südwärts nach<br />

Lindau am Bodensee (20. April). Von dort<br />

aus ging es nach Osten über Rosenheim<br />

(26. April) nach Salzburg (30. April) und<br />

weiter nach Wien (18. Mai). Von Wien aus<br />

wandte er sich nach Norden nach Kosel in<br />

Oberschlesien und dann westwärts nach


Dresden, wo er am 21. Juni <strong>1877</strong> Station machte. Dann reiste er weiter nach Westen über<br />

Greiz bei Zwickau (26. Juni) und danach vermutlich erst einmal zurück nach Hause nach<br />

Ershausen, denn das lag fast auf dem Weg zu seinem nächsten Reiseziel Limburg an der<br />

Lahn, das er erst Mitte August <strong>1877</strong> erreichte. Danach ging es weiter nach Südwesten nach<br />

Saarbrücken, und dann wieder nach Norden: Über Trier (5. September) und Bonn (12. September)<br />

reiste er nach Dortmund (19. September <strong>1877</strong>). Auch die Brüder von <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong><br />

waren mittlerweile unterwegs: Alois war Mitte August in Pirmasens, zwei Wochen<br />

später in Aachen und wieder zwei Wochen später, Mitte September, in Neuwied. Zur gleichen<br />

Zeit waren Michael in Erfurt und <strong>Josef</strong> <strong>–</strong> wie erwähnt <strong>–</strong> in Dortmund. Das Eichsfeld<br />

lag eher am Rande dieses großen Absatzgebietes; im Zentrum lag Würzburg.<br />

Das Unternehmen zur „Fabrikation mathematischer & physikalischer Instrumente“ G.<br />

<strong>Rodenstock</strong> in Ershausen war ein Familienbetrieb: <strong>Josef</strong> und seine Brüder nahmen die<br />

Bestellungen auf, konnten aber natürlich auf ihren ausgedehnten Reisen nicht mehr als Kataloge<br />

und Musterstücke mitnehmen. Den Versand der Waren übernahmen der Vater Georg<br />

<strong>Rodenstock</strong> und die Schwester Margarethe von Ershausen aus, die dafür im April 1878 600<br />

Mark Gewinnanteil der Kasse entnahmen („für meine Bemühungen für mich & Gretchen<br />

v.v. Jahr“). Erhalten ist eine Rechnung der Firma „G. <strong>Rodenstock</strong>“ an den Maurermeister<br />

Joseph Turks in Kufstein vom Mai 1872 8 , der bei <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> einen Winkelkopf und<br />

ein Rollbandmaß bestellt hatte (siehe Bild Seite 15). Georg <strong>Rodenstock</strong> schrieb: „Gütigst<br />

meinem Reisenden bei dessen Dortsein bestellte Instrumenten empfangen Sie beigehend in<br />

bester Arbeit. Sie werden damit sehr zufrieden sein u. bitte ich auch bei fernerem Bedarf<br />

meiner Fabrikate um Ihre werthen Aufträge.“ Wohlgemerkt: Georg <strong>Rodenstock</strong> spricht von<br />

„seinem“ Reisenden und „seinen“ Fabrikaten. Dennoch war <strong>Josef</strong>, der in diesen Jahren<br />

30.000 Mark ansparte, offensichtlich der Kopf des Unternehmens. Auch an diesem Zitat<br />

zeigt sich, wie schon bei der Benennung des Unternehmens nach dem Vater oder bei den<br />

später in <strong>Josef</strong>s Erinnerungen verschleierten Umständen des Hauskaufs in Ershausen, dass<br />

das Verhältnis zwischen Vater und Sohn offenbar nicht ohne Probleme war.<br />

Aber wer baute nun eigentlich die Thermometer, Barometer, Tachometer, Säuremesser, Lupen<br />

und Wasserwaagen? Bei den Barometern wurde es schon erwähnt: <strong>Die</strong> Glasröhrchen<br />

kamen aus dem Thüringer Wald, die Holzgehäuse aus Ershausen und die Skalen aus Würzburg.<br />

<strong>Josef</strong> stellte nur noch die Zeiger her und füllte die Barometer mit Quecksilber. Ansonsten<br />

aber verschleierte <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> die Herkunft seiner Produkte: Gegenüber der<br />

Handels- und Gewerbekammer behauptete er 1878/79, dass er 20 bis 30 Personen in Würzburg<br />

und Thüringen „in Form von Hausindustrie“ beschäftige, also als Heimarbeiter. Das<br />

Kassenbuch von <strong>1877</strong> verzeichnet zwar jeden Pfennig an Ausgaben für Bindfaden und Porto,<br />

aber keine Heimarbeiter. Lediglich ein Schreinermeister Roth baute zahlreiche Holzkistchen<br />

zum Verschicken der Geräte. Stattdessen gab es allerdings drei bis vier große und<br />

etwa ein Dutzend kleinere Lieferanten, spezialisierte Firmen, die hochwertige Waren nach<br />

Ershausen lieferten.<br />

Einer der wichtigsten Lieferanten war die Firma Greiner aus Neuhaus am Rennweg im<br />

Thüringer Wald, eine heute noch existierende Glashütte aus dem Jahre 1737, die <strong>1877</strong>/78<br />

für rund 900 Mark Instrumente an <strong>Rodenstock</strong> lieferte, darunter lange Thermometer. Ein<br />

zweiter wichtiger Lieferant war die „Fabrik für Glaspräzisionsinstrumente F. Mollenkopf“ in<br />

Stuttgart, die immer wieder, insgesamt für mehr als 700 Mark, Geräte lieferte, darunter<br />

ebenfalls Thermometer (ein Katalog der Firma aus dem Jahre 1900 listet sechs verschiedene<br />

Thermometer auf, außerdem auch Säuremesser). Der mit Abstand bedeutendste<br />

Lieferant war jedoch die Firma Gebrüder Koch aus Stuttgart, eine „optische Warenhandlung<br />

en gros“, die bereits seit den 1850er Jahren existierte 9 und die für mehr als 2.600 Mark<br />

Instrumente nach Ershausen schickte. Weitere, heute noch bekannte Lieferanten waren<br />

Ertel & Sohn in München (1802 gegründet, einer der führenden H<strong>erste</strong>ller von


Aneroid-, Dosen-,<br />

oder Federbarometer,<br />

das den Luftdruck<br />

nicht durch<br />

Quecksilber, sondern<br />

durch eine<br />

Feder auf die Zeiger<br />

überträgt.<br />

geodätischen und astronomischen Präzisionsinstrumenten, der um 1870 allerdings in einer<br />

schweren Krise war 10 ), die damals technisch hochmoderne Glasbläserei Julius Mühlhaus &<br />

Co in Haida im Lausitzer Gebirge (heute Novy Bor) und schließlich die Firma W. Wiegand<br />

(vermutlich die Glasfabrik Wiegand in Altenfeld, die um diese Zeit von Karl Emil Wilhelm<br />

Wiegand (1831-1887) geleitet wurde und aus der 1879 die „Optische Anstalt“ Otto Wiegand<br />

in Würzburg hervorging). Georg <strong>Rodenstock</strong> ließ die Geräte und Instrumente in Holzkästen<br />

verpacken und verkaufte sie unter dem Namen <strong>Rodenstock</strong>. Auf diese Weise konnte <strong>Josef</strong><br />

<strong>Rodenstock</strong> von Anfang an eine breite Palette hochwertiger Produkte anbieten, die er von<br />

unterschiedlichen H<strong>erste</strong>llern bezog und unter seinen Namen weiterverkaufte. Möglicherweise<br />

wurden die Produkte sogar nach seinen Vorgaben gefertigt. Angesichts des enormen<br />

Verkaufstalentes von <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> war dies ein erfolgreicher Weg zu großem Umsatz.<br />

Auch die erst 1879 einsetzenden Patenterteilungen für <strong>Rodenstock</strong> legen die Vermutung<br />

nahe, dass <strong>Rodenstock</strong> bis dahin kaum eigene Produkte verkauft hatte.<br />

Es ist trotzdem bemerkenswert, dass <strong>Josef</strong> seine Lieferanten verschwieg und stattdessen<br />

den Eindruck erweckte, Heimarbeiter würden für ihn arbeiten. Angesichts seines umfangreichen<br />

Angebotes und seiner nur kleinen Werkstatt konnte <strong>Rodenstock</strong> so den Eindruck<br />

eigener Produktion vermitteln und außerdem sehr früh seinen Namen als Marke etablieren.<br />

Was in Ershausen handwerklich tatsächlich noch gemacht wurde, lässt sich aus dem<br />

„Cassenbuch“ bestenfalls erahnen: Georg <strong>Rodenstock</strong> kaufte Sandpapier (zum Schleifen?),<br />

Spiritus (zur Politur?) und Schellack (zum Versiegeln der Kästen?). In Ershausen fand also<br />

höchstens eine Art Endbehandlung der Geräte statt, möglicherweise auch nur die Endreinigung<br />

und Verpackung für die weite Reise zu den Kunden.<br />

Der Einfluß von Donders „Refraktion und Accomodation des Auges“<br />

<strong>Josef</strong> beschäftigte sich, wie erwähnt, bereits seit seiner Zeit als jugendlicher Reisender mit<br />

Brillen. <strong>Die</strong>se Fertigbrillen <strong>–</strong> wie man sie heute nennen würde <strong>–</strong> trugen damals bestenfalls<br />

neben Angaben über die Brennweite in Zoll eine „Altersaufschrift“: 40, 45, 50, 55, 60 Jahre.<br />

Allgemein verständliche Bücher über Brillen gab es nicht, also versuchte <strong>Josef</strong> „durch eigene<br />

Überlegungen ... die Angelegenheit voll zu klären“, wie er sich später erinnerte. 11 Fasziniert<br />

von der Augenoptik betrachtete <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> Brillen damals allerdings noch<br />

nicht als Geschäft, sondern als „bloß ideale wissenschaftliche<br />

Arbeiten“. Doch <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> beschäftigte<br />

sich nicht nur mit der Optik: <strong>Die</strong> wenige freie Zeit<br />

zu Hause oder auf Reisen nutzte er für seine Weiterbildung.<br />

Er las eine „Philosophie des Kaufmanns“ und<br />

Benjamin Franklins Lebenserinnerungen und kam damit<br />

zu seinen „Lebensgrundsätzen“, „mein Streben, meine<br />

Kenntnisse stets zu erweitern, stets Fleiß, Sparsamkeit,<br />

Sittlichkeit, Reellität zu pflegen“. „Neben der Arbeit ...<br />

musste ich Tag und Nacht mich durch Selbststudium<br />

und Beobachten im In- und Auslande auch theoretisch<br />

für meine Etablierungspläne ... vorbereiten.“ 12 <strong>Josef</strong><br />

<strong>Rodenstock</strong> hatte also konkrete Ziele. Er wollte eine<br />

selbstständige Existenz, eine eigene Firma und irgendwann<br />

auch eine Familie gründen. Außerdem wollte er<br />

seinen beiden Brüdern eine bessere Schul- und Berufsausbildung<br />

ermöglichen, als er selbst genießen konnte,<br />

und nicht zuletzt auch für seine Eltern sorgen.<br />

18<br />

19


Ein wissenschaftliches Werk insbesondere sollte <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong>s Leben grundlegend verändern:<br />

„<strong>Die</strong> Anomalien der Refraktion und Accomodation des Auges“ des Utrechter Augenarztes<br />

Frans Cornelius Donders (1818-1889), das im Jahr 1866 erschienen war. Der Professor<br />

für Physiologie Donders war einer der Begründer der modernen Ophthalmologie, der die<br />

Augenbewegungen erforschte, das Farbsehen, die Hyperopie und die Presbyopie. Sein Buch<br />

war das <strong>erste</strong> Buch zur Refraktionsbestimmung und stellte erstmals systematisch den Gebrauch<br />

von Zylinderlinsen und prismatischen Korrektionsgläsern vor. Statt der bis dahin unterschiedlichen<br />

Längeneinheiten in der Optik entwickelte Donders auch ein Verfahren, die<br />

Brennweiten von Linsen einheitlich bestimmen zu können. 13 <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> studierte das<br />

Buch offenbar sehr genau und beschloss, sich in Zukunft mit der H<strong>erste</strong>llung von Brillengläsern<br />

und Brillenfassungen sowie deren Anpassung und mit den damit verwandten optischen<br />

Gebieten zu befassen. Weitere brauchbare Bücher zum Thema gab es nach seiner Erinnerung<br />

damals kaum, <strong>Josef</strong> war auf sein „Selbststudium und Beobachten“ angewiesen. 14<br />

Donders Buch wurde <strong>–</strong> so <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> <strong>–</strong> zur Grundlage seiner späteren Erfolge. Um<br />

seine im Selbststudium erworbenen Erkenntnisse praktisch zu ergänzen, machte er bei einem<br />

befreundeten Optiker neben seiner Berufsarbeit ein längeres Volontariat. 15<br />

Standortsuche <strong>–</strong> <strong>Die</strong> Vorbereitungen zur Firmengründung in Würzburg<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> wirkte in den Jahren 1870 bis 1876, die er in seinen Erinnerungen selber<br />

als Einheit beschrieb 16 , wie ein neuer Mensch. Während früher das verdiente Geld nach alter<br />

Bürgertradition in ein Haus investiert wurde (krisenfest, aber mit wenig Rendite), hatte<br />

<strong>Josef</strong> jetzt ein anderes Ziel vor Augen: er sparte für die Gründung eines eigenen Unternehmens,<br />

für das er Werkstatt und Wohnung mietete. <strong>Die</strong> Vermutung liegt nahe, dass es die Erfahrungen<br />

der Gründerzeit nach 1872 waren, die aus dem damals 26-jährigen <strong>Josef</strong><br />

<strong>Rodenstock</strong> einen „modern“ denkenden Unternehmer machten, der sein Geld nicht mehr<br />

in Häuser, sondern in eine Firma investierte.<br />

Um <strong>1877</strong> hatte sich <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> das stattliche Vermögen von rund 30.000 Mark erspart,<br />

genug für eine Betriebsgründung. Sein jüngerer Bruder Alois hatte seine Ausbildung in Göttingen<br />

weitgehend abgeschlossen, Bruder Michael beendete 1878 seine zweijährige Militärdienstzeit<br />

und wurde zur Reserve entlassen. „Nur gemeinschaftlich mit dem lieben Bruder<br />

Michael“ wollte <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> an Neujahrstag 1878 sein Unternehmen in Würzburg starten.<br />

Das war keineswegs ungewöhnlich: Brüder statt familienfremde Partner in die Firma<br />

aufzunehmen hatte den Vorteil, dass man sich auf ihre Integrität verlassen konnte. Wie das<br />

„Cassenbuch“ zeigt, arbeiteten Michael und Alois auch schon in Ershausen für das Familienunternehmen<br />

<strong>Rodenstock</strong>. Das Grundkapital der neuen Würzburger Firma bestand aus den<br />

ersparten 30.000 Mark, die <strong>Josef</strong> und Michael als Teilhaber jeweils zur Hälfte aufbringen sollten.<br />

Weil Michael allerdings kein Geld hatte, lieh ihm <strong>Josef</strong> 15.000 Mark gegen 5 Prozent<br />

Zinsen, die er zusätzlich zur Hälfte des Gewinns bekommen sollte. Aus dem erzielten Gewinn<br />

sollte Michael nach und nach seinen Anteil in die Firma einzahlen. Nach außen trat <strong>Josef</strong><br />

als alleiniger Inhaber der Firma auf, denn er allein brachte das Geld mit.<br />

Warum aber fiel die Wahl des Standortes der neuen Firma ausgerechnet auf Würzburg?<br />

Einer alten Firmenchronik zufolge bot die Universitätsstadt dem Autodidakten <strong>Rodenstock</strong><br />

die besten Weiterbildungsmöglichkeiten. Das ist allerdings kaum plausibel, denn andere<br />

Universitäten lagen sehr viel näher am Eichsfeld und <strong>Rodenstock</strong> war ein Geschäftsmann.<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> selbst schrieb, dass er für seine „Selbstständigmachung“ Frankfurt am<br />

Main, München und Würzburg und sogar Paris ins Auge gefasst habe. Auf einer „Informationsreise“<br />

im Sommer <strong>1877</strong> durch diese Städte habe er in Frankfurt „keine passende Lokalität“<br />

gefunden, während er in Würzburg den Neubau in der Kaiserstraße fand. 17 Würzburg<br />

hatte aber auch noch einen anderen Vorteil: Hopfenanbau und Bierproduktion waren dort<br />

weit verbreitet. Um 1880 gab es noch eine ganze Reihe von Brauereien mitten in Würzburg,


Im Adressbuch<br />

(1878) fungierte<br />

<strong>Rodenstock</strong> als Verkäufer<br />

„optischer<br />

Gegenstände“.<br />

20<br />

21<br />

zwei davon waren nach dem Kassenbuch von<br />

<strong>1877</strong> bereits <strong>Rodenstock</strong>s Kunden. Messgeräte<br />

für Brauereien spielten im Verkaufsprogramm<br />

von <strong>Rodenstock</strong> aus der Zeit vor <strong>1877</strong> eine<br />

wichtige Rolle: Metalltachometer für Bierwürzen,<br />

ein Taschensäuremesser zur Bestimmung<br />

der Essigsäure, eine Lupe für die Hopfenprüfung.<br />

Und viele von <strong>Rodenstock</strong>s Geräten waren<br />

auch für die Weinproduktion nützlich,<br />

denn „die Firma <strong>Rodenstock</strong> beteiligte sich mit<br />

chemischen und physikalischen Apparaten“ an<br />

der „Deutschen Weinbau-Ausstellung“ 1878 in<br />

Würzburg. 18 <strong>Die</strong> Würzburger Universität war<br />

nur insofern wichtig, als sie sich bald zu einem<br />

wichtigen Auftraggeber für Spezialgeräte entwickelte.<br />

Außerdem hatte die Stadt einen<br />

schiffbaren Fluss und einen Eisenbahnanschluss.<br />

Und schließlich lag Würzburg auch genau<br />

in der Mitte zwischen <strong>Rodenstock</strong>s Lieferanten<br />

in Frankfurt, Stuttgart, München, Nürnberg,<br />

Leipzig und dem Thüringer Wald.<br />

<strong>Die</strong> Umsiedlung nach Würzburg<br />

Der Umzug der Firma nach Würzburg wurde gründlich vorbereitet: Laut Kassenbuch schaltete<br />

<strong>Rodenstock</strong> seit Ende <strong>1877</strong> Werbeanzeigen in überregionalen Zeitungen wie etwa dem<br />

Frankfurter Journal. Für den neuen Hausstand wurden Textilien gekauft (Bettbarchant, Taschentücher,<br />

Federn, Leinen und Handtücher), Michael bekam neue Stiefel, <strong>Josef</strong>s Stiefel<br />

wurden neu besohlt und die Reisekoffer repariert. Am 10. Oktober <strong>1877</strong> erhielt Michael 100<br />

Mark Reisegeld. Bis Heiligenstadt oder Eschwege (Bahnanschluss seit 1875) ging es vermutlich<br />

per Kutsche oder Ochsenkarren und von dort aus per Bahn weiter nach Würzburg.<br />

Am 1. Dezember <strong>1877</strong> <strong>–</strong> nach anderen Quellen am 1. Januar 1878 <strong>–</strong> wurde die neue Firma<br />

gegründet. 19 Am 12. Oktober 1878 meldete sich <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> persönlich als „Fabrikant<br />

v. physikalischen, optischen u. mathematischen Instrumenten“ in Würzburg an. <strong>Die</strong> Schwester<br />

Margarethe folgte im Dezember 1878. 20 Vermutlich wegen seiner Militärzeit meldete sich<br />

sein Bruder Michael erst am 26. Juli 1879 offiziell als „Kaufmann“ in Würzburg an. 21<br />

Aus dem „Cassenbuch“ geht hervor, dass das Ershausener Familienunternehmen <strong>Rodenstock</strong><br />

im Jahr <strong>1877</strong> einen Umsatz von etwa 17.000 Mark machte. Der Überschuss dieses Jahres<br />

lässt sich anhand der Zahlungsströme einigermaßen nachvollziehen: Bis Mai 1878 transferierte<br />

Georg <strong>Rodenstock</strong> in wöchentlichen Tranchen von 100 bis 300 Mark mehr als 2.000<br />

Mark nach Würzburg. Etwa 1.900 Mark wurden außerdem Ende <strong>1877</strong> in einer Summe nach<br />

Würzburg geschickt, Georg und Margarethe bekamen 600 Mark ausgezahlt. Bei vorsichtiger<br />

Schätzung kann man also von einem Überschuss von rund 5.500 Mark ausgehen. Vertrieb<br />

und Lager in Ershausen wurden aufgelöst, denn Georg <strong>Rodenstock</strong> schickte zahlreiche<br />

Kisten mit Geräten nach Würzburg, darunter eine Kiste mit Wasserwaagen. Und auch um<br />

das leibliche Wohl der Söhne in der Fremde kümmerten sich die Eltern: Anfang Januar 1878<br />

schickten sie eine Kiste mit „Most, fett Wurst & Rippenbraten, Butter“ nach Würzburg, später<br />

folgten weitere Kisten mit Kuchen, Wurst und Speck. 22 Bis Mitte 1878 waren die Geschäftsverbindungen<br />

weitgehend nach Würzburg verlegt, und im Juli konnte <strong>Josef</strong> erstmals<br />

150 Mark von Würzburg an die Eltern nach Ershausen schicken.


Der Konflikt mit dem Vater<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> richtete in dem gerade erbauten 23 Geschäfts- und Wohnhaus Kaiserstraße<br />

2 eine Werkstatt und ein Warenlager ein. Auf die Seitenwand der Gebäudes schrieb er:<br />

„Optisches Waarenlager <strong>–</strong> Werkstätte für Physik & Mathematik“. Noch erlaubte die kleine<br />

Werkstatt keine umfangreiche eigene Produktion. Nach Angabe der Handels- und Gewerbekammer<br />

von 1878 war <strong>Rodenstock</strong>s Firma in Würzburg zunächst nichts anderes als „der<br />

Vertrieb der in Ershausen von gleicher Firma fabricirten Gegenstände. (...) <strong>Die</strong> Geschäfte<br />

sind aliirt, werden jedoch getrennt verwaltet.“ 24 Darauf deutet auch der Firmenname „G. <strong>Rodenstock</strong>“<br />

hin, der laut <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> „aus kindlicher Verehrung und Wunsch des Vaters“<br />

gewählt worden sei. <strong>Die</strong>ser Wunsch des Vaters erwies sich allerdings später „fast ... als<br />

Arglist“ des Vaters und hätte „gar leicht üble Folgen“ gehabt, wie <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> in seinen<br />

Lebenserinnerungen 1916 bitter andeutete. 25 Möglicherweise hatte Vater Georg <strong>–</strong> als Inhaber<br />

der Ershausener Firma <strong>–</strong> später Ansprüche auf die Würzburger Firma erhoben, die<br />

offenbar gemeinsam gegründet worden war, dann aber schnell von <strong>Josef</strong> allein geführt<br />

wurde. Dazu würde passen, dass <strong>Josef</strong> in seinen beiden Lebenserinnerungen (1916 und<br />

1931) die wichtigen Anfangsjahre der Firma zwischen 1861 beziehungsweise 1870 und<br />

<strong>1877</strong>, als <strong>–</strong> wie das „Cassenbuch“ von <strong>1877</strong> eindeutig belegt <strong>–</strong> unter Mitarbeit des Vaters<br />

und der Geschwister von Ershausen aus ein weiträumiges Lieferanten- und Kundennetz<br />

aufgebaut wurde, fast komplett ausließ. An seinen Sohn Alexander schrieb er 1927: „Wohl<br />

hatte ich schon etwas vorher für mich begonnen, indessen nur als Einleitung.“ 26 Offenbar<br />

bemühte <strong>Josef</strong> sich, die Anfangszeit in Ershausen und die Mitarbeit des Vaters herunterzuspielen.<br />

Dann wäre die Umsiedlung nach Würzburg ein <strong>Generation</strong>swechsel in der Firma,<br />

die Loslösung des inzwischen 32-jährigen <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> von seinem Vater.<br />

Erfolgreiche Jahre in Würzburg<br />

<strong>Die</strong> Geschäfte in Würzburg gingen gut. Nachdem <strong>Rodenstock</strong> <strong>1877</strong> mit einem Hilfsarbeiter<br />

in seiner Werkstatt angefangen hatte, beschäftigte er 1879 bereits 15 und 1880 25 bis 30 Mitarbeiter.<br />

Im <strong>erste</strong>n Jahr in Würzburg (1878) erzielten <strong>Josef</strong> und sein Bruder 6.000 Mark<br />

Reingewinn und blieben damit in einer ähnlichen Größenordnung wie im Jahr zuvor in<br />

Ershausen. Wie vereinbart teilten sie den Gewinn untereinander. Im zweiten Geschäftsjahr<br />

1879 stieg ihr Gewinn auf 8.000 Mark und 1881 hatten sie ihr anfängliches Betriebskapital<br />

von 30.000 Mark bereits verdoppelt. Dank dieser Rücklagen wurde die Firma 1880 als<br />

„reichsbankfähig“ anerkannt, das bedeutete, die Finanzkraft des Unternehmens war der<br />

Reichsbank bekannt und die Brüder konnten Reichsbankwechsel unterschreiben. 27<br />

<strong>1877</strong> mietete <strong>Rodenstock</strong><br />

Räume in<br />

der Kaiserstraße<br />

in Würzburg. Im<br />

3. Stock führte die<br />

Schwester Margaretha<br />

den Brüdern<br />

<strong>Josef</strong> und Michael<br />

den Haushalt.


Selbstregistrierendes<br />

Thermometer mit<br />

8 Tage gehendem<br />

Uhrwerk, das ununterbrochen<br />

den<br />

Baro- und Thermometerstand<br />

markiert.<br />

<strong>Die</strong> älteste bekannte Werbeanzeige <strong>Rodenstock</strong>s aus dem Adressbuch von 1878 stellt (siehe<br />

Seite 20) zwar <strong>Rodenstock</strong>s „Lager optischer Gegenstände“ und den Verkauf von „Brillen<br />

mit Crystallgläsern, Theaterperspective, Fernrohre, Microskope etc.“ in den Mittelpunkt,<br />

fabriziert würden jedoch auch „physikalische und mathematische Präcisions-Instrumente<br />

und chemische Apparate“ sowie „elektrische Haustelegraphen“. Auch in den Berichten der<br />

Handels- und Gewerbekammer für 1878/79 sowie 1880/81 ist vom „Institut zur Anfertigung<br />

physikalischer und mathematischer Instrumente“ die Rede. <strong>Rodenstock</strong> hatte lediglich eine<br />

„mechanische Werkstatt“, aber noch keine Glasbearbeitung.<br />

Spezialgeräte für die Universität<br />

Ein wichtiger Abnehmer für <strong>Rodenstock</strong>s „physikalische und mathematische Instrumente“ war<br />

die Universität, in der er angeblich bald einen guten Ruf genoss. Würzburg hatte damals rund<br />

1.500 Studenten, etwa die Hälfte davon Mediziner. Nach den Entwürfen der Professoren baute<br />

<strong>Rodenstock</strong> Spezialgeräte für mathematische, physikalische und chemische Experimente.<br />

<strong>Die</strong> Handlichkeit und die Präzision der von ihm<br />

ausgeführten Geräte fanden die Anerkennung der<br />

Hochschullehrer und führten dem Vernehmen<br />

nach dazu, dass ihm das Amt des „Universitätsmechanikers“<br />

übertragen wurde 28 <strong>–</strong> ein dokumentarischer<br />

Nachweis dafür fehlt allerdings.<br />

Ein anderes Unternehmen in Würzburg hätte zu<br />

einer ernsten Konkurrenz werden können.<br />

Denn fast gleichzeitig mit <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong><br />

hatte sich 1879 Eugen Hartmann aus Ulm in<br />

Würzburg niedergelassen, und zwar „auf Veranlassung<br />

einiger Gelehrter der Naturwissenschaften<br />

an der hiesigen Universität, welche den<br />

Mangel eines akademisch gebildeten Mechanikers<br />

empfanden“. Vor allem der renommierte<br />

Physiker Friedrich Kohlrausch, dessen Mitarbeiter<br />

Hartmann eine Zeit lang war, machte dabei<br />

wohl seinen Einfluss geltend. Hartmann gründete in Würzburg seine „Optische Anstalt,<br />

astrophysikalische Werkstätte Würzburg“.<br />

Sein Wettbewerbsvorteil lag auf der Hand und Hartmann gab sich alle Mühe, ihn deutlich<br />

herauszustellen: Im Gegensatz zu <strong>Rodenstock</strong> hatte Hartmann studiert (auf dem Polytechnikum<br />

in Wien und in Göttingen), zahlreiche Auslandsreisen unternommen und sich an<br />

Ausstellungen beteiligt. So konnte er „seinem Unternehmen durch Construction und<br />

H<strong>erste</strong>llung der auf dem Gebiete der exacten Wissenschaften nöthigen Apparate und Instrumente<br />

einen Erfolg sichern“. Seine Kontakte zur Universität waren angeblich ausgezeichnet,<br />

weil er sich als früherer Mitarbeiter von Kohlrausch selbstständig gemacht hatte.<br />

Anders als <strong>Rodenstock</strong> hatte Hartmann seiner mechanischen Werkstätte gleich eine Glasschleiferei<br />

angegliedert. Er beschäftigte zwar weniger Leute als <strong>Rodenstock</strong> (1880 waren es<br />

etwa 18), verkaufte aber seine Fernrohre, Prismen, Okulare, astronomischen, nautischen<br />

und physikalischen Mess- und Demonstrationsapparate sowie geodätischen Instrumente<br />

mit großem Erfolg. Nur sein Versuch, „einen Handel mit optischen Gegenständen bester<br />

Qualität einzuführen“, scheiterte: „Offenbar eignet sich hierzu die Lage des Verkaufslokals<br />

nicht“, vermutete Hartmann 1880 und meinte damit wohl weniger seine Adresse als die<br />

Stadt Würzburg selbst. 29<br />

<strong>Die</strong>se Erfahrung machte im Übrigen auch <strong>Rodenstock</strong>, der wenige Jahre später von Würzburg<br />

nach München umsiedelte. Eugen Hartmann selber entwickelte sich in den folgenden<br />

22<br />

23


Jahren in eine andere Richtung und spielte als Konkurrent <strong>Rodenstock</strong>s keine Rolle mehr:<br />

1884 verlegte er den Betrieb nach Frankfurt-Bockenheim und machte sich als Hartmann &<br />

Braun einen Namen mit elektronischen Mess- und Regelinstrumenten. 1968 übernahm AEG<br />

die Mehrheit an Hartmann & Braun und 1999 wurde die Firma in den ABB-Konzern<br />

integriert.<br />

Expansion in Firma und Familie<br />

Angesichts voller Auftragsbücher wollte <strong>Rodenstock</strong> expandieren, fand aber in Würzburg<br />

nicht genügend „tüchtig geschulte Arbeitskräfte“, um seinem „Geschäfte die gewünschte<br />

und erforderliche Ausdehnung zu geben“, wie er 1880 gegenüber der Gewerbekammer beklagte.<br />

Um gute Mitarbeiter zu finden, inserierte <strong>Rodenstock</strong> 1881 deutschlandweit in der<br />

„Centralzeitung für Optik und Mechanik“ nach einem „älteren tüchtigen Mechaniker“ als<br />

„<strong>erste</strong>n Gehilfen bzw. Werkführer“, der „Übung in der Anfertigung physikalischer und mathematischer<br />

Instrumente“ haben sollte. Seine Personalsuche war offenbar erfolgreich: Mit<br />

25 bis 30 Arbeitskräften konnte <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> sein Produktionsprogramm kräftig ausweiten.<br />

1882 exportierte er eigenen Angaben zufolge nach Österreich, in die Schweiz, die<br />

Niederlanden, nach Dänemark, Italien und Russland 30 und wollte 1883 sogar ein eigenes<br />

Fabrikgebäude mieten. Ausgehend von einem kleinen Laden breitete sich <strong>Rodenstock</strong>s Geschäft<br />

zwischen 1880 und 1882 über das ganze Erdgeschoss der Kaiserstraße 2 aus.<br />

Nach der erfolgreichen Unternehmensgründung hatte <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> auch die Mittel zur<br />

Gründung einer Familie: Im August 1880 heiratete er die damals 20-jährige Maria Schmöger<br />

(siehe Kasten S. 24). Anlässlich der Hochzeit schlossen <strong>Josef</strong> und Michael einen neuen Gesellschaftervertrag<br />

31 , der vor allem die Frage der Erben behandelte: die Söhne sollten wenn<br />

möglich später die „active Theilhaberschaft ausüben“, während „Nachkommen weiblichen<br />

Geschlechts“ vom Geschäft ausgeschlossen blieben und ausbezahlt werden sollten. <strong>Die</strong><br />

später oftmals als belastend empfundene Verpflichtung der Söhne zur Unternehmensnachfolge<br />

wurde also hier bereits vertraglich festgeschrieben.<br />

Inschrift auf der<br />

Seitenwand des<br />

Gebäudes Kaiserstraße<br />

2, die in den<br />

1960er Jahren bei<br />

Abrißarbeiten entdeckt<br />

wurde.<br />

Damenbrille mit<br />

geraden Bügeln,<br />

heute Steckbügel<br />

genannt, aus dem<br />

Katalog von 1895.


24<br />

25<br />

Familiengründungen 1880<br />

Oberhalb des Würzburger Ladenlokals hatte <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> im dritten Stock<br />

eine Fünfzimmerwohnung gemietet. Dort führte die Schwester Margaretha (1857 <strong>–</strong><br />

1928) bis 1880 den Brüdern <strong>Josef</strong> und Michael den Junggesellenhaushalt. Allerdings<br />

war sie bereits verlobt und heiratete 1882 den Kaufmann Franz Schäfer aus<br />

Küllstedt. Danach engagierte <strong>Josef</strong> eine „alte Wirtschafterin“, die aber zu seinem Ärger<br />

„halbe Tage in der Kirche verbrachte“. Weil die Firma inzwischen jedes Jahr<br />

5.000 Mark Gewinn abwarf und „die Haushaltung damals nur 2.000,<strong>–</strong> Mark kostete“,<br />

zwei Familien also „höchst anständig“ davon leben konnten, entschlossen sich <strong>Josef</strong><br />

<strong>Rodenstock</strong> und ebenso sein Bruder Michael 1880 zur Gründung eigener Familien.<br />

<strong>Josef</strong>s Wahl fiel auf die damals 20-jährige Maria Schmöger (1860 <strong>–</strong> 1910), die Tochter<br />

des Gymnasiallehrers und Musikdirektors Richard Schmöger aus Ehingen a.d.<br />

Donau und seiner Frau Thersia geb. Oswald, Tochter eines Gymnasialprofessors.<br />

Am 10. August 1880 fand die Trauung statt. <strong>Die</strong> Ehe soll glücklich gewesen sein.<br />

Maria schuf die familiäre Harmonie, den notwenigen Rückzugsraum, den der unermüdlich<br />

arbeitende <strong>Josef</strong> dringend brauchte. Maria bot „stets Unterstützung meiner<br />

auf Weiterkommen gerichteten Tätigkeit“. 32 Aus der Ehe gingen neun (!) Kinder<br />

hervor, nämlich<br />

• Elisabeth „Elsa“ Theresa (1881 <strong>–</strong> 1976), die 1901 den Bayer-Chemiker Dr. Franz<br />

Coblitz (1868 <strong>–</strong> 1939) heiratete, der 1901 die Leitung des neuen Werkes in Regen<br />

übernahm,<br />

• Alexander (1883 <strong>–</strong> 1953), der spätere Firmenchef,<br />

• Mathilde Maria Johanna (1885 <strong>–</strong> 1974), die 1907 den Regierungsbaumeister und<br />

Steinwerkmitbesitzer Franz Arnold heiratete,<br />

• Olga (1887 <strong>–</strong> 1925), die 1910 den auf der Maxhütte angestellten Diplomingenieur<br />

Max Jonas heiratete, der 1910 die Leitung des Werkes in Regen übernahm<br />

(gest. 1934),<br />

• Irmgard (1891 <strong>–</strong> 1982), die 1914 den Arzt Dr. Willy Peyerl heiratete,<br />

• Brunhilde Berta Hedwig (1893 <strong>–</strong> 1935), die Hauswirtschaftslehrerin an einer<br />

wirtschaftlichen Frauenschule wurde,<br />

• Hedwig (1896 <strong>–</strong> 1990), die 1922 den Glasfabrikdirektor Oskar Bauer heiratete,<br />

• Konrad (1897 <strong>–</strong> 1917), der 1917 bei Ypern in Flandern fiel und<br />

• Hermann <strong>Josef</strong> (1900 <strong>–</strong> 1953), der 1928 Hedwig Sonnenschein heiratete und in die<br />

Firma eintrat, 1933 die technische Leitung übernahm und Prokurist wurde.<br />

Im Januar 1883 zog die Familie <strong>Rodenstock</strong> nach München. Maria <strong>Rodenstock</strong><br />

starb dort mit 50 Jahren am 14. Dezember 1910.<br />

Michael <strong>Rodenstock</strong> (1855 <strong>–</strong> 1912) zog nach <strong>Josef</strong>s Heirat aus der Wohnung aus<br />

und mietete sich in der Strohgasse 18 ein. Am 21. September 1880 heiratete er die<br />

21-jährige Johanna geb. Reusche, eine „Gastwirtstochter“ aus Sudenburg bei<br />

Magdeburg (gestorben 1957). In Würzburg wurden 1881 die Tochter Johanna<br />

Elisabeth und 1883 der Sohn Richard Georg geboren. Nach dem Umzug <strong>Josef</strong>s<br />

nach München zog Michael mit seiner Familie wieder in die Kaiserstraße zurück.<br />

Am 5. Mai 1884 zog Michaels Familie ebenfalls nach München. Keines seiner vier<br />

Kinder trat in die Firma ein, sondern <strong>–</strong> bemerkenswerterweise <strong>–</strong> nur <strong>Josef</strong>s Söhne<br />

und Schwiegersöhne.


<strong>Rodenstock</strong>s „patentirte Augengläser“<br />

Angesichts seiner geschäftlichen Erfolge unternahm <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> endlich weitere Schritte<br />

in Richtung Augenoptik: Einer Zeitungsanzeige von 1881 zufolge verfügte <strong>Josef</strong><br />

<strong>Rodenstock</strong>s „Optisches Institut“ nicht nur über eine „physikalisch-mathematische Werkstätte“,<br />

die nun auch „chemische Apparate“ fabrizierte,<br />

sowie ein „grosses Lager der verschiedensten<br />

optischen Gegenstände, mathematischen<br />

und physikalischen Instrumente“ (er baute sogar<br />

„Haustelegraphen und Telephon-Anlagen“),<br />

sondern er hatte der Firma inzwischen auch<br />

eine Glasschleiferei und eine Glasbläserei angegliedert.<br />

In ihren Anzeigen empfahl sich die<br />

Firma G. <strong>Rodenstock</strong> als „Alleinige Anstalt zur<br />

Anfertigung der verbesserten unter Nr. 10252<br />

patentirten Augengläser“. 33<br />

Wahrscheinlich konnten sich die meisten Menschen<br />

unter dem angegebenen Patent nicht<br />

viel vorstellen. Der Hinweis sollte wohl auch<br />

mehr die Innovationskraft des Unternehmens<br />

betonen. Doch für <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> war das<br />

ein wichtiger Meilenstein, hatte ihn doch seit<br />

der Lektüre Donders die Augenoptik nicht wieder<br />

losgelassen. Bereits in den Jahren vor der<br />

Ansiedlung in Würzburg hatte er die so genannten<br />

„Diaphragma-Gläser“ entwickelt, die<br />

er jetzt auf den Markt brachte. Weil Brillengläser<br />

damals erheblich kleiner waren als heute,<br />

lagen die Ränder sehr viel stärker im Blickfeld<br />

und ihre Reflexe störten sehr. <strong>Rodenstock</strong>s<br />

Lösung war so einfach wie genial: Er schliff<br />

eine Nut in den Rand der Brillengläser, färbte<br />

diese schwarz und unterdrückte auf diese Weise<br />

die störenden Reflexe an den geschliffenen<br />

Rändern.<br />

<strong>Die</strong> Patenterteilung für seine „Achromatischen<br />

Augengläser“ <strong>–</strong> wie er die Diaphragma-Gläser<br />

in der Patentschrift nannte <strong>–</strong> stieß allerdings<br />

zunächst auf Schwierigkeiten. Sein <strong>erste</strong>r Versuch<br />

vom 17. Juli 1879 wurde am 8. September<br />

1879 vom Kaiserlichen Patentamt zurückgewiesen:<br />

„<strong>Die</strong> Anbringung einer dunklen Nuthe an<br />

dem Rande der Augengläser kann ebensowenig<br />

wie das Dunkelfärben des Randes als<br />

eine patentfähige Neuerung erachtet werden.“<br />

Außerdem sei die Bezeichnung „achromatisch“<br />

unrichtig, weil die Achromasie nicht erreicht<br />

werde.<br />

Offensichtlich hatte der Autodidakt <strong>Rodenstock</strong><br />

hier einen Fehler gemacht. Aber er gab nicht<br />

auf und legte Beschwerde ein. <strong>Die</strong>se wurde<br />

Prinzipskizze und<br />

Patentschrift von<br />

<strong>Rodenstock</strong>s <strong>erste</strong>m<br />

Patent für die verbesserten„Diaphragma“-Augengläser<br />

von 1879.


Zwei Äskulapstäbe<br />

in <strong>Rodenstock</strong>s Fabrikmarke<br />

betonten<br />

den medizinischen<br />

Charakter der „verbessertenAugengläser“.<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong><br />

war es wichtig, seine<br />

„wissenschaftlich<br />

richtig gefertigten<br />

Gläser“ gegen die<br />

„gewissenlosen<br />

Brillenhändler“<br />

durchzusetzen.<br />

aber am 24. Februar 1880 ebenfalls zurückgewiesen: Weil die „Coddington-Lupen“ bereits<br />

mit einer tief eingeschliffenen und schwarz gefärbten Nut versehen waren, wie <strong>Rodenstock</strong><br />

selbst erwähnt hatte, könne seine Neuerung nicht durch Patent geschützt werden. <strong>Josef</strong><br />

<strong>Rodenstock</strong> legte erneut Widerspruch ein und<br />

bekam schließlich sein Patent: Am 27. April 1880<br />

wurden die Diaphragma-Gläser als „Neuerungen an<br />

Augengläsern“ unter der Patentnummer 10252 rückwirkend<br />

zum 18. Juli 1879 patentrechtlich geschützt.<br />

Das war übrigens nicht ganz billig: Bei Patenterteilung<br />

wurden zunächst 30 Mark Verwaltungsgebühren<br />

fällig. Im zweiten Jahr wurden 50 Mark<br />

Patentgebühren erhoben, die jährlich um jeweils 50<br />

Mark erhöht wurden. Im Laufe von 15 Jahren kamen<br />

so 5.280 Mark zusammen <strong>–</strong> pro Patent.<br />

<strong>Rodenstock</strong> ließ sofort Flugblätter drucken, um für<br />

seine „Verbesserten achromatischen Augengläser,<br />

Deutsches Reichspatent No. 10252“ zu werben. 34<br />

Unter der Bezeichnung „Diaphragma-Gläser“ vermarktete<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> diese Erfindung in den<br />

nächsten Jahren mit Erfolg. So berichtete die „Centralzeitung<br />

für Optik und Mechanik“ in ihrer Ausgabe vom 10. Juli 1880 über <strong>Rodenstock</strong>s<br />

Patent. In der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift wurden <strong>Rodenstock</strong>s neue Brillengläser<br />

ausführlich und positiv besprochen: „<strong>Die</strong> Erfindung des Physikers <strong>Rodenstock</strong> in Würzburg“<br />

sei „sehr zu begrüßen“, weil <strong>Rodenstock</strong> „seit langer Zeit der Erste ist, welcher eine<br />

bedeutende Verbesserung der Augengläser, dieses in allen Ständen so sehr häufig unentbehrlichen<br />

Hilfsmittels, eingeführt hat.“<br />

Damit bekam es <strong>Rodenstock</strong> schwarz auf weiß von Fachleuten bestätigt: Brillengläser waren<br />

zwar ein riesiger Markt, aber der Fortschritt von Fertigung und Technik stagnierte. Es<br />

bedurfte also eines risikobereiten und erfindungsreichen Unternehmers, um diesen großen<br />

Markt zu erschließen. <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> nutzte das Lob seiner Erfindung und schaltete<br />

in derselben Nummer eine Anzeige, in der er sich <strong>–</strong> ganz unbescheiden <strong>–</strong> als „Alleinige<br />

26<br />

27


Anstalt in Deutschland zur Anfertigung der verbesserten achromatischen, reflex- und aberationsfreien<br />

Augengläser“ anpries. Zwei Äskulapstäbe um eine Brille betonten den medizinischen<br />

Charakter seiner Erfindung. Ähnliche Anzeigen erschienen 1880 beispielsweise<br />

im deutschlandweit verbreiteten „Kladderadatsch“. Zu den neuen Brillengläsern bot er<br />

„Fassungen in Nickelin, Aluminiumbronce oder Silber ab 10 Mark“ (der Tagesverdienst eines<br />

Arbeiters betrug damals etwa 3 Mark) an. Selbstbewusst argumentierte <strong>Rodenstock</strong>: „Es<br />

wird der denkende Theil der Brillentragenden sich gewiß der besseren Gläser bedienen,<br />

denn die Pflicht der Selbsterhaltung dürfte verbieten, ein für das Auge minder gutes oder<br />

gar schädliches Glas anzuwenden.“<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> hatte allerdings nicht sehr lange Freude an seinem hartnäckig erstrittenen<br />

Patent: Bereits sechs Jahre später hob es das Reichspatentamt wieder auf. <strong>Rodenstock</strong> ging<br />

gegen diese Entscheidung juristisch vor, aber das Reichsgericht bestätigte 1887 die Entscheidung<br />

des Patentamtes <strong>–</strong> dazu später mehr.<br />

Der „Brillen-Anmess-Apparat“<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> konzentrierte sich auf weitere Verbesserungen auf dem Gebiet der Augenoptik,<br />

das ihm vermutlich allmählich einen größeren Geschäftserfolg brachte. Rückwirkend<br />

zum 1. April 1881 wurde sein „Brillen-Anmess-Apparat verbunden mit Pupillo- und Strabometer“<br />

patentiert. Das Gerät war beim damaligen Stand der Technik angeblich das beste<br />

Instrument auf dem Markt 35 und ermöglichte exakte Untersuchungen und Messungen an den<br />

Augen, um dann die optimale Brille zu fertigen. <strong>Die</strong>ses Instrument, das den bis in unsere<br />

Zeit gebräuchlichen Probierbrillen bereits erstaunlich ähnlich war, löste die seit dem 17. Jahrhundert<br />

gebräuchlichen „Sehprüfscheiben“ mit ringförmig angeordneten Probegläsern ab. 36<br />

Ein neues „Scheibenrefraktometer“, mit dem unterschiedliche Glasstärken für beide Augen<br />

einzeln durchprobiert werden konnten, entwickelte <strong>Rodenstock</strong> ebenfalls vor 1883. 37<br />

Im Jahr 1882 versuchte <strong>Rodenstock</strong>, sich „Neuerungen an Probierbrillengestellen für cylindrische<br />

und prismatische Gläser“ patentieren zu lassen, scheiterte aber an mehreren Einsprüchen,<br />

weil solche Systeme schon im Einsatz waren. So hatte Dr. Oscar Eversbusch<br />

(1853 <strong>–</strong> 1923), damals Assistenzarzt der königlichen Universitäts-Augenklinik in München,<br />

bereits 1881 vom Münchner Optiker und Mechaniker Johann Keinath eine ähnliche Probierbrille<br />

bauen lassen. Jetzt hegte Eversbusch „den berechtigten Verdacht ..., dass ein<br />

<strong>Rodenstock</strong>s „Brillen-<br />

Anmess-Apparat verbunden<br />

mit Pupillound<br />

Strabometer“<br />

(1881) ermöglichte<br />

exakte Untersuchungen<br />

und Messungen<br />

an den Augen.


Trommelrefraktometer<br />

aus Frankreich,<br />

um 1890, vermutlich<br />

von <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong><br />

zu Studienzwecken<br />

beschafft, heute im<br />

„Forum des Sehens“<br />

im Werk Regen.<br />

früher bei ihm beschäftigter<br />

Arbeiter Hrn. <strong>Rodenstock</strong> unbefugter<br />

Weise in den Stand gesetzt<br />

habe“, die „Keinath’schen<br />

Einrichtungen“ nachzubauen.<br />

Ein Vorwurf, den Eversbusch<br />

allerdings nicht beweisen<br />

konnte. 38<br />

Eine weitere Patentanmeldung<br />

scheiterte ebenfalls: 1882 wollte<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> sich „Brillen,<br />

Pincenez, Lorgnetten und<br />

Lorgnons mit zwei-, drei-, oder<br />

vierfarbigen Gläsern“ patentieren<br />

lassen. Dem Kaiserlichen<br />

Patentamt war die Beschreibung<br />

der Gläser sowie ihrer<br />

H<strong>erste</strong>llung nicht genau genug.<br />

<strong>Rodenstock</strong> war vermutlich<br />

nicht bereit, sein wichtigstes<br />

Betriebsgeheimnis, wie er zwei<br />

oder mehr Glasschichten von<br />

ungleicher Farbe harmonisch<br />

zusammenbrachte, preiszugeben<br />

und gab die Patentierung<br />

auf.<br />

Im Jahr 1882 hatte <strong>Rodenstock</strong> sein Angebot an optischen Instrumenten erheblich ausgebaut<br />

und bot zusätzlich nun auch Feldstecher und Operngläser an. Außerdem hatte er immer<br />

noch verschiedene Thermometer und Barometer im Programm („Taschen-Aneroidbarometer<br />

mit Scala zum Höhenmessen, Thermometer und Compass ... Boussolen (Compasse)<br />

in Berloque u. Uhrenform“) sowie Schutzbrillen und Zwicker („Pincenez“) und natürlich<br />

seine „verbesserten Augengläser“, die „vollkommenste, corrective Hilfe beim Sehen“. 39<br />

28<br />

29<br />

„Der alte Kommerzienrat“ <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong><br />

„<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> steht für einen ausgeprägten Pioniergeist und für unverzichtbaren<br />

Wagemut“, schrieb sein Urenkel Randolf <strong>Rodenstock</strong> zum 125-jährigen<br />

Firmenjubiläum: „Aus äußerst bescheidenen Verhältnissen kommend, hat er mit<br />

der Unternehmensgründung alles auf eine Karte gesetzt.“ 40<br />

Unter der Bezeichnung „der alte Kommerzienrat“ lebte <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> noch lange<br />

nach dem Ausscheiden aus der Firma 1919 und auch noch lange nach seinem<br />

Tode 1932 im Bewusstsein seiner Mitarbeiter fort, geachtet und gefürchtet, besonders<br />

auch von den Kindern und Enkeln. War sein Sohn Alexander mal nicht im Betrieb,<br />

beschwerte sich <strong>Josef</strong> sofort lautstark. Insbesondere alle Enkelkinder hatten<br />

Angst vor dem Großvater, erinnert sich Enkelin Erika Schantz. Er galt als gerecht,<br />

hilfsbereit und humorvoll, aber fürchterlich in seinem Zorn über Fehler oder Unfähigkeiten,<br />

wenn seine Donnerstimme durch drei geschlossene Türen drang, dass<br />

„die Wände des alten Gebäudes erzitterten“.


<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> war zweifellos ein bemerkenswerter Mensch von ungewöhnlichem<br />

geistigen Format, ehrgeizig, mit einer unglaublichen Energie und Arbeitswut.<br />

Das ermöglichte ihm den Aufbau seines Unternehmens praktisch aus dem Nichts,<br />

ohne Bildung oder Kapital und dazu noch gegen die Anfeindungen seiner Konkurrenten.<br />

Zwei Eigenschaften sind besonders hervorzuheben, beide sind eng<br />

miteinander verflochten und mögen aus den harten Anfangsjahren in Ershausen<br />

stammen: Seine persönliche Anspruchslosigkeit und seine geradezu übertriebene<br />

Sparsamkeit. Obwohl bald sehr vermögend, blieb <strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> in seinen eigenen<br />

Ansprüchen bescheiden, besuchte weder Theater noch Konzerte (für die er<br />

als Kaufmann vielleicht auch keinen Sinn hatte), verzichtete auf die Wurst auf dem<br />

Brot (entweder Butter oder Wurst!), erholte sich in der freien Natur, kleidete sich<br />

preiswert, reiste nur dritter Klasse und rauchte die allerbilligsten Zigarren <strong>–</strong> davon<br />

aber reichlich. Seine Sparsamkeit spürten seine Mitarbeiter im Betrieb: Bei seinen<br />

täglichen Rundgängen durch die Werkstatt hob er jeden krummen Nagel auf und<br />

ließ ihn gerade klopfen, drehte persönlich tropfende Wasserhähne zu und ermahnte<br />

„Sparen, Sparen, Sparen“. 41<br />

<strong>Josef</strong> <strong>Rodenstock</strong> war ein Freund der Berge. 1896 bis 1897 baute er sich in Erl bei<br />

Kufstein am Fuß des Kaisergebirges eine eigene Villa mit umfangreichen Fischereirechten.<br />

1916 erweiterte er das Anwesen um eine Landwirtschaft und zog sich<br />

dorthin 1919 als seinen Altersruhesitz zurück.<br />

Seinen Ruhestand begann er als steinreicher Mann mit einem Vermögen von 3,5<br />

Millionen Goldmark, das allerdings während der Inflation in den 1920er Jahren reduziert<br />

wurde. Er erlebte damals „die allerbitt<strong>erste</strong>n Tage meines ganzen Lebens“. 42<br />

Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit seinem Sohn Alexander und seinem<br />

Schwiegersohn Franz Coblitz, denen<br />

<strong>Josef</strong> vorwarf, „in Geld geschwommen“<br />

zu haben, während<br />

sie ihn mit wertlosen „Papierfetzen<br />

abzufertigen“ versuchten <strong>–</strong><br />

obwohl das Reichsgericht entschieden<br />

habe, dass Leibrenten<br />

nicht in Papiermark auszuzahlen<br />

seien. Bitter schrieb er an Alexander:<br />

„Ich muß es heute als den<br />

größten Fehler meines Lebens erachten,<br />

meine Unternehmung und<br />

mein mit sauerem Schweiß erworbenes<br />

Vermögen den Händen der<br />

Kinder anvertraut zu haben.“<br />

1927 schrieb er: „<strong>Die</strong> schreckliche<br />

Reue, meine sauer erworbenen Realwerte den Kindern überlassen zu haben,<br />

bleibt unbeschreiblich.“ 43 Doch er scheint sich mit den Kindern wieder versöhnt zu<br />

haben. Einige Jahre vor seinem Tod schrieb der über 80-Jährige <strong>–</strong> von Altersbeschwerden<br />

geplagt <strong>–</strong> in einem Brief an seinen Sohn: „Es war für mich eine<br />

kampf- und sehr arbeitsreiche Zeit und doch würde ich bevorzugen, diese zu wiederholen,<br />

statt der jetzigen Leidenszeit eines hohen Alters, in der man den senilen<br />

Beschwerden nicht mehr Herr wird.“ 44<br />

1886 kaufte <strong>Rodenstock</strong><br />

eine Fabrik an<br />

einem Isar-Seitenkanal<br />

mit Werkstätten,<br />

Lagern und<br />

Büros.

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