Restriktive Anwendung von Verkehrszeichen - SVR

Restriktive Anwendung von Verkehrszeichen - SVR Restriktive Anwendung von Verkehrszeichen - SVR

29.10.2014 Aufrufe

Kettler, Restriktive Anwendung von Verkehrszeichen | A U F S ÄT Z E unbeschränkt fort mit der Folge der Anwendbarkeit des § 11 Abs. 7 FeV. Der Betroffene muss die Wiedererlangung seiner Fahreignung im Neuerteilungsverfahren nachweisen, wobei es an ihm ist, die Abstinenzzeit durch Drogenscreenings zu belegen. Nur in dem Ausnahmefall, dass solche schon existieren und nur noch eine kurze Spanne bis zum Ablauf der Abstinenzzeit besteht, hat die Behörde im Entziehungsverfahren ein Gutachten in Auftrag zu geben, wobei die Vorlagefrist entsprechend angepasst werden muss. Das wäre eine rechtlich einwandfreie und praktisch handhabbare Vorgehensweise. 6. Zusammenfassung Der Vollzug des Fahrerlaubnisrechts ist für alle Beteiligten – Behörden wie Betroffene und deren anwaltschaftliche Vertreter – nicht einfacher geworden. Das liegt nicht nur an den komplizierten und unübersichtlichen rechtlichen Regelungen, sondern auch an der uneinheitlichen Rechtsprechung, die sich teilweise als wenig praxisorientiert und detailverliebt darstellt. Es ist zu hoffen, dass hier – nicht nur auf europäischer Ebene – eine nachhaltige Konsolidierung einsetzt; die Rechts- und Verkehrssicherheit gebieten das. Restriktive Anwendung von Verkehrszeichen Der ignorierte Absatz 9 von § 45 StVO Rechtsanwalt Dr. Dietmar Kettler, Kiel Der Gesetzgeber hat 1997 die §§ 45 IX und 39 I StVO geschaffen, um die Verkehrszeichenflut einzudämmen. Die Studie „Weniger Verkehrszeichen“ der Bundesanstalt für Straßenwesen hatte erhebliches Reduktionspotenzial aufgezeigt. 1 Zwei unterschiedliche Argumentations-Stränge waren für den Gesetzgeber wesentlich: Erstens sind viele Schilder für die Verkehrssicherheit kontraproduktiv, 2 zweitens stehen die Freiheitsrechte der Bürger unbegründeten Einschränkungen des Verkehrs entgegen. Bisher hatten die Gerichte § 45 IX StVO zum großen Teil ernst genommen, doch nun mehren sich die Urteile, die den Regelungsgehalt der Norm mit neuen Argumentationsmustern beseitigen. 1. Grundlegendes § 45 IX StVO ist nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte, und Normzweck „nicht nur ein Hinweis oder eine Anregung, sondern eine verbindliche Anweisung des Verordnungsgebers.“ 3 „Besondere Umstände“ im Sinne von § 45 IX 1 StVO sind „z.B. eine gegenüber dem Durchschnitt ähnlicher Strecken signifikant erhöhte Unfallrate (ggf. auch Unfalldichte), die erkennbar mit der Ursache zusammenhängt, deren Bekämpfung das vorgesehene Verkehrszeichen dienen soll. Aber auch besonders gefahrenträchtige Streckenführung oder Straßenschäden, Minderbelastbarkeit von Brücken usw. können Anordnungen begründen [...]. Nicht dagegen z.B. die allgemeine Erwägung, [...] ein durch Zeichen angeordnetes Überholverbot könne (ergänzend zu den sicher „ausreichenden“ Bestimmungen des § 5) wegen der besseren Einprägsamkeit nur nützlich sein. Solche allgemeinen Sicherheitsüberlegungen sind dem Gesetz- bzw. Verordnungsgeber vorbehalten, der dabei alle Aspekte einer Abwägung der Erfordernisse der – stets „gefahrgeneigten“ - Mobilität und der Verkehrssicherheit berücksichtigen muss.“ 4 Angesichts der im europäischen Vergleich sehr hohen Verkehrszeichendichte in Deutschland besteht sonst zunehmend die Gefahr, dass insbesondere Kraftfahrer sich zu sehr auf das „Verkehrszeichen-Umfeld“ verlassen. Eine weitere Steigerung der Verkehrssicherheit hängt aber entscheidend von mehr Eigenverantwortlichkeit ab. „Die bestehende Häufung von Verkehrszeichen ist geeignet, die Einsicht der Verkehrsteilnehmer in die objektive Notwendigkeit solcher Regelungen zu gefährden, so dass häufig Anordnungen durch Verkehrszeichen auch dann nicht „ernst genommen“ werden, wenn ihre Befolgung objektiv dringend geboten ist.“ 5 § 45 IX StVO gilt auch zugunsten von Radfahrern und LKW- Fahrern und anderen aus Sicht von Behördenmitarbeitern und Richtern vielleicht randständigen Verkehrsteilnehmergruppen. Das zeigen die wörtliche und die systematische Auslegung und auch der Verordnungsgeber selbst, indem er nur punktuell die aus seiner Sicht zu weit gehenden Inhalte nach 1997 wieder zurückgenommen hat: 2000 in Bezug auf Tempo-30-Zonen und verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche 6 und 2005 in Bezug auf das Verbot von Mautausweichverkehren. 7 2. Zum Tatbestand Die Anwendung des § 45 IX StVO umgehen oder vermeiden einige Gerichte nun auf verschiedenen Wegen. 2.1 Offene Verweigerung Am weitesten geht das VG Lüneburg. Es verweigert dem Kläger die Anwendung des § 45 IX StVO, weil die VwV-StVO es nicht für „erforderlich“ halte, dass dem Kläger zugestanden wird, worauf er aus § 45 IX StVO ein Recht hätte. 8 Das Gericht verkennt damit die Normenhierarchie. Aus der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO kann sich niemals ergeben, dass StVO-Vorschriften nicht gelten. Die VwV-StVO ist ergänzendes 1 Aprath / Behrendt / Dilling / Ellinghaus / Erke / Vogt, Modellversuch „Weniger Verkehrszeichen“, Forschungsbericht der BASt Nr. 264, Bergisch-Gladbach 1992. 2 Bouska/Leue, StVO, 22. Auflage 2007, § 45 StVO, Rz. 22. 3 Bouska/Leue, § 45 StVO, Rz. 23. Grundlegend zu § 45 IX StVO: Kettler, NZV 2002, 57. 4 Bouska/Leue, § 45 StVO, Rz. 23. 5 Bouska/Leue, § 39 StVO, Rz. 2a. 6 § 45 IX 2 StVO erster Halbsatz n.F., BGBl I 1690. 7 § 45 IX 3 StVO n.F., BGBl I 3714. 8 VG Lüneburg, Urteil 2 A 425/06 vom 7.6.2007 (Einbahnstraße), SVR 2007, 435. Ähnlich schon VG Magdeburg, Urteil 1 A 18/05 MD vom 29.04.2005 (Einbahnstraße), das ebenfalls die Rechtsfolgen aus § 45 IX StVO versagt, weil die Voraussetzungen der VwV-StVO IV.1. zu Zeichen 220 nicht vorlägen. S VR 12/2007 | 4 47

Kettler, <strong>Restriktive</strong> <strong>Anwendung</strong> <strong>von</strong> <strong>Verkehrszeichen</strong> | A U F S ÄT Z E<br />

unbeschränkt fort mit der Folge der Anwendbarkeit des § 11<br />

Abs. 7 FeV. Der Betroffene muss die Wiedererlangung seiner<br />

Fahreignung im Neuerteilungsverfahren nachweisen, wobei<br />

es an ihm ist, die Abstinenzzeit durch Drogenscreenings zu<br />

belegen. Nur in dem Ausnahmefall, dass solche schon existieren<br />

und nur noch eine kurze Spanne bis zum Ablauf der<br />

Abstinenzzeit besteht, hat die Behörde im Entziehungsverfahren<br />

ein Gutachten in Auftrag zu geben, wobei die Vorlagefrist<br />

entsprechend angepasst werden muss. Das wäre eine rechtlich<br />

einwandfreie und praktisch handhabbare Vorgehensweise.<br />

6. Zusammenfassung<br />

Der Vollzug des Fahrerlaubnisrechts ist für alle Beteiligten – Behörden<br />

wie Betroffene und deren anwaltschaftliche Vertreter<br />

– nicht einfacher geworden. Das liegt nicht nur an den komplizierten<br />

und unübersichtlichen rechtlichen Regelungen, sondern<br />

auch an der uneinheitlichen Rechtsprechung, die sich<br />

teilweise als wenig praxisorientiert und detailverliebt darstellt.<br />

Es ist zu hoffen, dass hier – nicht nur auf europäischer Ebene<br />

– eine nachhaltige Konsolidierung einsetzt; die Rechts- und<br />

Verkehrssicherheit gebieten das.<br />

<strong>Restriktive</strong> <strong>Anwendung</strong> <strong>von</strong> <strong>Verkehrszeichen</strong><br />

Der ignorierte Absatz 9 <strong>von</strong> § 45 StVO<br />

Rechtsanwalt Dr. Dietmar Kettler, Kiel<br />

Der Gesetzgeber hat 1997 die §§ 45 IX und 39 I StVO geschaffen,<br />

um die <strong>Verkehrszeichen</strong>flut einzudämmen. Die Studie<br />

„Weniger <strong>Verkehrszeichen</strong>“ der Bundesanstalt für Straßenwesen<br />

hatte erhebliches Reduktionspotenzial aufgezeigt. 1 Zwei<br />

unterschiedliche Argumentations-Stränge waren für den Gesetzgeber<br />

wesentlich: Erstens sind viele Schilder für die Verkehrssicherheit<br />

kontraproduktiv, 2 zweitens stehen die Freiheitsrechte<br />

der Bürger unbegründeten Einschränkungen des<br />

Verkehrs entgegen. Bisher hatten die Gerichte § 45 IX StVO<br />

zum großen Teil ernst genommen, doch nun mehren sich die<br />

Urteile, die den Regelungsgehalt der Norm mit neuen Argumentationsmustern<br />

beseitigen.<br />

1. Grundlegendes<br />

§ 45 IX StVO ist nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte,<br />

und Normzweck „nicht nur ein Hinweis oder eine<br />

Anregung, sondern eine verbindliche Anweisung des Verordnungsgebers.“<br />

3 „Besondere Umstände“ im Sinne <strong>von</strong> § 45 IX 1<br />

StVO sind „z.B. eine gegenüber dem Durchschnitt ähnlicher<br />

Strecken signifikant erhöhte Unfallrate (ggf. auch Unfalldichte),<br />

die erkennbar mit der Ursache zusammenhängt, deren Bekämpfung<br />

das vorgesehene <strong>Verkehrszeichen</strong> dienen soll. Aber<br />

auch besonders gefahrenträchtige Streckenführung oder Straßenschäden,<br />

Minderbelastbarkeit <strong>von</strong> Brücken usw. können<br />

Anordnungen begründen [...]. Nicht dagegen z.B. die allgemeine<br />

Erwägung, [...] ein durch Zeichen angeordnetes Überholverbot<br />

könne (ergänzend zu den sicher „ausreichenden“<br />

Bestimmungen des § 5) wegen der besseren Einprägsamkeit<br />

nur nützlich sein. Solche allgemeinen Sicherheitsüberlegungen<br />

sind dem Gesetz- bzw. Verordnungsgeber vorbehalten,<br />

der dabei alle Aspekte einer Abwägung der Erfordernisse der<br />

– stets „gefahrgeneigten“ - Mobilität und der Verkehrssicherheit<br />

berücksichtigen muss.“ 4 Angesichts der im europäischen<br />

Vergleich sehr hohen <strong>Verkehrszeichen</strong>dichte in Deutschland<br />

besteht sonst zunehmend die Gefahr, dass insbesondere Kraftfahrer<br />

sich zu sehr auf das „<strong>Verkehrszeichen</strong>-Umfeld“ verlassen.<br />

Eine weitere Steigerung der Verkehrssicherheit hängt aber entscheidend<br />

<strong>von</strong> mehr Eigenverantwortlichkeit ab. „Die bestehende<br />

Häufung <strong>von</strong> <strong>Verkehrszeichen</strong> ist geeignet, die Einsicht<br />

der Verkehrsteilnehmer in die objektive Notwendigkeit solcher<br />

Regelungen zu gefährden, so dass häufig Anordnungen durch<br />

<strong>Verkehrszeichen</strong> auch dann nicht „ernst genommen“ werden,<br />

wenn ihre Befolgung objektiv dringend geboten ist.“ 5<br />

§ 45 IX StVO gilt auch zugunsten <strong>von</strong> Radfahrern und LKW-<br />

Fahrern und anderen aus Sicht <strong>von</strong> Behördenmitarbeitern<br />

und Richtern vielleicht randständigen Verkehrsteilnehmergruppen.<br />

Das zeigen die wörtliche und die systematische Auslegung<br />

und auch der Verordnungsgeber selbst, indem er nur<br />

punktuell die aus seiner Sicht zu weit gehenden Inhalte nach<br />

1997 wieder zurückgenommen hat: 2000 in Bezug auf Tempo-30-Zonen<br />

und verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche 6 und<br />

2005 in Bezug auf das Verbot <strong>von</strong> Mautausweichverkehren. 7<br />

2. Zum Tatbestand<br />

Die <strong>Anwendung</strong> des § 45 IX StVO umgehen oder vermeiden<br />

einige Gerichte nun auf verschiedenen Wegen.<br />

2.1 Offene Verweigerung<br />

Am weitesten geht das VG Lüneburg. Es verweigert dem Kläger<br />

die <strong>Anwendung</strong> des § 45 IX StVO, weil die VwV-StVO es nicht<br />

für „erforderlich“ halte, dass dem Kläger zugestanden wird,<br />

worauf er aus § 45 IX StVO ein Recht hätte. 8 Das Gericht verkennt<br />

damit die Normenhierarchie. Aus der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift<br />

zur StVO kann sich niemals ergeben, dass<br />

StVO-Vorschriften nicht gelten. Die VwV-StVO ist ergänzendes<br />

1 Aprath / Behrendt / Dilling / Ellinghaus / Erke / Vogt, Modellversuch „Weniger<br />

<strong>Verkehrszeichen</strong>“, Forschungsbericht der BASt Nr. 264, Bergisch-Gladbach<br />

1992.<br />

2 Bouska/Leue, StVO, 22. Auflage 2007, § 45 StVO, Rz. 22.<br />

3 Bouska/Leue, § 45 StVO, Rz. 23. Grundlegend zu § 45 IX StVO: Kettler, NZV<br />

2002, 57.<br />

4 Bouska/Leue, § 45 StVO, Rz. 23.<br />

5 Bouska/Leue, § 39 StVO, Rz. 2a.<br />

6 § 45 IX 2 StVO erster Halbsatz n.F., BGBl I 1690.<br />

7 § 45 IX 3 StVO n.F., BGBl I 3714.<br />

8 VG Lüneburg, Urteil 2 A 425/06 vom 7.6.2007 (Einbahnstraße), <strong>SVR</strong> 2007,<br />

435. Ähnlich schon VG Magdeburg, Urteil 1 A 18/05 MD vom 29.04.2005<br />

(Einbahnstraße), das ebenfalls die Rechtsfolgen aus § 45 IX StVO versagt, weil<br />

die Voraussetzungen der VwV-StVO IV.1. zu Zeichen 220 nicht vorlägen.<br />

S VR 12/2007 | 4 47


A U F S ÄT Z E | Kettler, <strong>Restriktive</strong> <strong>Anwendung</strong> <strong>von</strong> <strong>Verkehrszeichen</strong><br />

und erläuterndes Recht, nicht aber gegenüber der StVO höher<br />

stehendes, verdrängendes. 9 Zwar enthält die VwV-StVO zahlreiche<br />

Detailregelungen, die Behördenmitarbeiter und offenbar<br />

auch Richter auf einen falschen Pfad zu bringen geeignet<br />

sind. 10 Doch kann die VwV-StVO weder die allgemeine Verkehrsfreiheit<br />

des Grundgesetzes aushebeln noch die der StVO<br />

und auch nicht § 45 IX StVO.<br />

Angelegt war die Missachtung des § 45 IX StVO jedoch schon<br />

beim OVG Schleswig, das weder eine besondere Gefährlichkeit<br />

dargetan hatte noch gar eine örtliche Besonderheit des streitgegenständlichen<br />

Abschnitts: Es „bedarf keiner näheren Erläuterung“,<br />

dass oder ob Unfallgefahren aus „Elefantenrennen“<br />

resultierten, noch gar, ob diese denn „erheblich übersteigen“<br />

im Sinne <strong>von</strong> § 45 IX StVO, meinte das Gericht. 11 Getragen<br />

war das dort zu beurteilende Verbot allein <strong>von</strong> allgemeinen<br />

Überlegungen ohne jeden örtlichen Bezug. 12 Trotzdem schließen<br />

sich Verwaltungsgerichte dem mit der lapidaren Behauptung<br />

an, jene Erwägungen seien „zutreffend“, beziehungsweise<br />

„überzeugend“. 13 Das macht jede örtliche Besonderheit im<br />

Sinne <strong>von</strong> § 45 IX 2 StVO entbehrlich.<br />

2.2 Zahlenspielereien<br />

Von den Beklagten werden nur selten Unfallstatistiken oder<br />

anderes Material zur Verkehrssicherheit vorgelegt. Wehren<br />

sich PKW-Fahrer gegen sie belastende Anordnungen, bekommen<br />

sie schnell und schon deswegen Recht, weil kein „belastbares<br />

Datenmaterial“ vorgelegt wird. 14 Wehrt sich hingegen<br />

ein Nicht-PKW-Fahrer gegen eine ihn belastende Verkehrsbeschränkung,<br />

leiten die Gerichte aus Unfallstatistiken ohne nähere<br />

Prüfung und ungeachtet des tatsächlichen Zahlenmaterials<br />

gerne ab, dass örtliche Besonderheiten im Sinne <strong>von</strong> § 45 IX<br />

StVO vorlägen. Doch dabei unterlaufen ihnen immer wieder<br />

grobe Fehler.<br />

Zum Teil werden statistisch unzulässige Rechenoperationen<br />

vorgenommen, die an Taschenspielertricks erinnern. So hat<br />

das VG Oldenburg aus umfangreichem Zahlenmaterial über<br />

die Vorher-Nachher-Situationen, das die Effektlosigkeit der<br />

dort angefochtenen Maßnahme nachwies, abgeleitet, die Verkehrsunfallzahlen<br />

seien um rund ein Drittel zurückgegangen.<br />

Obwohl in wissenschaftlichen Untersuchungen bundesweit<br />

noch nirgends überhaupt nur ein signifikanter Effekt solcher<br />

Maßnahmen nachgewiesen wurde und noch weniger ein<br />

solch extremer und daher die vermeintlichen Rückgänge am<br />

eigenen Ort höchst unwahrscheinlich waren, sah das Gericht<br />

keinen Anlass zu einer Überprüfung seiner Rechnung auf Plausibilität<br />

und statistisch-mathematische Richtigkeit. 15 So werden<br />

örtliche Besonderheiten konstruiert, die es nicht gibt.<br />

Auf einen ähnlich falschen Pfad geriet das OVG Schleswig,<br />

das Zahlen mit beeindruckenden Unfallrückgängen vorgelegt<br />

bekam, die sich auf andere, nicht streitgegenständliche<br />

Abschnitte bezogen. Auch unterließ das Gericht jeden Signifikanztest.<br />

16<br />

Als örtliche Besonderheit bezeichnen es die Gerichte nun<br />

auch, dass eine überdurchschnittliche Verkehrsbelastung vorliege.<br />

17 Eine solche ist indessen keine örtliche Besonderheit im<br />

Sinne des § 45 IX StVO, 18 sie liegt vielmehr begriffsnotwendig<br />

auf exakt der Hälfte der Streckenabschnitte vor. Noch weniger<br />

wohnt einer überdurchschnittlichen Verkehrsbelastung per<br />

se eine das allgemeine Risiko erheblich übersteigende Gefahrenlage<br />

inne, wie es § 45 IX StVO verlangt. Zwar meint das VG<br />

Oldenburg lapidar und ohne jeden Beleg: „Auch liegt es auf<br />

der Hand, dass angesichts des hohen Anteils des Schwerlastverkehrs<br />

eine im Vergleich zu weniger belasteten oder mehr als<br />

vierspurig ausgebauten Teilstrecken <strong>von</strong> Autobahnen deutlich<br />

erhöhte Unfallgefährdung vorliegt.“ 19 Doch ist das nicht der<br />

in § 45 IX StVO wörtlich verlangte Vergleich mit dem Durchschnitt<br />

ähnlicher Strecken, mit Stammtischwissen lässt sich<br />

der Tatbestand nicht füllen.<br />

2.3 Allgemeine Erwägungen<br />

Recht soll es nun auch sein, dass allgemeine Erwägungen und<br />

bundesweit vorkommende Umstände örtliche Verbote rechtfertigen<br />

können, obwohl der Bundesgesetzgeber 1997 bei der<br />

Einfügung der §§ 45 IX und 39 I in die StVO ausdrücklich <strong>von</strong><br />

der Kontraproduktivität der so hervorgerufenen <strong>Verkehrszeichen</strong>dichte<br />

ausging und obwohl mit solchen Verboten die<br />

Kompetenz des Verordnungsgebers verletzt wird. 20 So soll der<br />

Wille, nach StVO ohnehin verbotenes Tun – etwa: „Elefantenrennen“<br />

(§ 5 II 2 StVO) - zu verbieten, verkehrsbeschränkende<br />

Maßnahmen – etwa: Überholverbot für LKW - rechtfertigen. 21<br />

Und Radwegebenutzungspflichten werden damit gerechtfertigt,<br />

die „Ordnung des Verkehrs“ erfordere trotz des klaren<br />

Regel-Ausnahme-Verhältnisses <strong>von</strong> § 2 I und IV StVO eine<br />

Entmischung der Verkehre, 22 oder damit, ohne sie müsse der<br />

motorisierte Verkehr auch den Radverkehr beachten. 23 Doch<br />

weder allgemeine Erwägungen noch allgemeine Sicherheitsüberlegungen<br />

reichen aus, ein örtliches Verbot zu rechtfertigen.<br />

24 Solche <strong>Verkehrszeichen</strong> verletzen ebenso wie die in den<br />

80er Jahren viel diskutierten landesweiten Tempolimits auf<br />

Autobahnen die Gesetzgebungskompetenz des Bundes. 㤠45<br />

StVO ist nicht für generalisierende verkehrspolitische Groß-<br />

9 Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 39. Auflage 2007, Einl., Rz. 4a.<br />

10 Neben der VwV-StVO IV.1. Rz. 8ff zu Zeichen 220 zur Öffnung <strong>von</strong> Einbahnstraßen<br />

etwa noch VwV-StVO III. Rz. 7 zu Zeichen 220 zur Einrichtung <strong>von</strong><br />

Einbahnstraßen, VwV-StVO IV. Rz. 4 zu Zeichen 223.1 bis 223.3 zu LKW-<br />

Überholverboten und VwV I.2. Rz. 4 zu den §§ 39 bis 43 StVO zur Flüssigkeit<br />

des Verkehrs, die manchen Anwender zu PKW-privilegierenden Handlungen<br />

verleitet.<br />

11 OVG Schleswig-Holstein, Urteil 4 LB 7/05 vom 27.04.2006 (BAB-LKW-Überholverbot),<br />

NordÖR 2006, 300.<br />

12 Dass nämlich „Elefantenrennen“ zu verbieten seien, obwohl diese – wie das<br />

OVG unter Hinweis auf die bei jedem Lkw eingebauten Geschwindigkeitsbegrenzer<br />

sogar hervorhebt -, auf allen Autobahnen vorkommen und also<br />

keine örtliche Besonderheit sind. Ergänzend bringt das Gericht vor, es sei der<br />

Polizei aus personellen Gründen keine effektive Kontrolle des § 5 II 2 StVO<br />

möglich; auch das gilt indessen für alle Autobahnen.<br />

13 VG Lüneburg, Urteil 2 A 25/06 vom 30.11.2006 (BAB-LKW-Überholverbot);<br />

VG Oldenburg, Urteil 7 A 5067/04 vom 26.06.2007 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

14 VG Düsseldorf, Urteil 6 K 6183/02 vom 20.11.2003 (Sperrpfosten).<br />

15 VG Oldenburg, Urteil 7 A 5067/04 vom 26.06.2007 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

16 OVG Schleswig-Holstein, Urteil 4 LB 7/05 vom 27.04.2006 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

17 OVG Schleswig in seinem Urteil vom 27.04.2006 (BAB-LKW-Überholverbot);<br />

VG Oldenburg, Urteil 7 A 5067/04 vom 26.06.2007 (BAB-LKW-Überholverbot);<br />

ergänzend auch: ein überdurchschnittlich hoher Anteil Schwerlastverkehr.<br />

18 VG Schleswig, NZV 2006, 333 (BAB-LKW-Überholverbot); Bouska/Leue, § 45<br />

StVO, Rz. 22-24.<br />

19 VG Oldenburg, Urteil 7 A 5067/04 vom 26.06.2007 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

20 Bouska/Leue, § 45 StVO, Rz. 22 und 23.<br />

21 OVG Schleswig, Urteil 4 LB 7/05 vom 27.04.2006 (BAB-LKW-Überholverbot)<br />

und VG Oldenburg, Urteil 7 A 5067/04 vom 26.06.2007 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

22 VG Regensburg, Urteil RO 5 K 03.2192 vom 28.11.2005 (Z 240).<br />

23 VG Köln, Urteil 11 K 7554/05 vom 21.07.2006 (Z 240).<br />

24 Bouksa/Leue, § 45 StVO, Rz. 23.<br />

4 48 | S VR 12/2007


Kettler, <strong>Restriktive</strong> <strong>Anwendung</strong> <strong>von</strong> <strong>Verkehrszeichen</strong> | A U F S ÄT Z E<br />

projekte heranziehbar“ und eine vom Bund bislang bewusst<br />

nicht getroffene Entscheidung für ein bestimmtes Verbot auf<br />

deutschen Autobahnen „kann nicht durch Aktionismus einzelner<br />

gebietsweise zuständiger Verkehrsbehörden ersetzt werden.“<br />

25 Auch die Herausnahme bestimmter Strecken („Ventile“)<br />

hat nur Feigenblattfunktion und kann die Verbote nicht<br />

retten. 26<br />

2.4 Privilegien vs. Privilegienfeindlichkeit der StVO<br />

Schule macht es auch, dass die allgemeine Handlungsfreiheit<br />

der Betroffenen hinter der Verbesserung des Verkehrsflusses<br />

für Andere zurückstehen muss und die grundsätzliche Privilegienfeindlichkeit<br />

des Straßenverkehrsrechts 27 nur zugunsten<br />

der PKW-Fahrer gelte. 28<br />

3. Ermessensdefizite<br />

Fehlt es schon an den tatbestandlichen Voraussetzungen der<br />

besonderen örtlichen Verhältnisse und einer außergewöhnlichen<br />

Gefahrenlage im Sinne des § 45 IX StVO, ist für eine<br />

Ermessensausübung kein Raum mehr. 29 Da die Gerichte aber<br />

in ihrer neuen, rechtsirrigen Dogmatik vom Vorliegen des<br />

Tatbestands ausgehen, prüfen sie die Verhältnismäßigkeit. 30<br />

Sie verkürzen sie dabei jedoch oft, obwohl das Bundesverwaltungsgericht<br />

bisher immer eine vollständige Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

für erforderlich gehalten hat und jüngst auch das<br />

Bundesverfassungsgericht betont, dass eine Beschränkung des<br />

Kraftfahrzeugführens nur dann verfassungsmäßig, also rechtmäßig<br />

sein kann, wenn sie zur Zielerreichung geeignet, erforderlich<br />

und verhältnismäßig in engerem Sinne ist. 31<br />

3.1 Geeignetheit<br />

Die Geeignetheit kann sich nur aus der Betrachtung einer<br />

großen Zahl Konflikte ergeben, denn eine hinreichend große<br />

Zahl <strong>von</strong> Beobachtungen ist Voraussetzung dafür, dass man<br />

überhaupt statistisch abgesicherte und gültige Schlüsse ziehen<br />

kann. 32 Die Geeignetheit oder Ungeeignetheit einer bestimmten<br />

verkehrsbeschränkenden Maßnahme für die Gefahrenabwehr<br />

auf einer Strecke bestimmter Charakteristik wird<br />

sich daher in der Regel aus großräumigen Studien ergeben, die<br />

zahlreiche Abschnitte und längere Zeiträume umfassen.<br />

Nur wenn sehr große Unfallzahlen vorliegen, kann auch ein<br />

einzelner Streckenabschnitt darüber Auskunft geben, ob eine<br />

Maßnahme wirksam ist. Auf Streckenabschnitten mit hohem<br />

Verkehrsaufkommen kann also ein Blick auf das bisherige Unfall-<br />

und Verkehrsgeschehen einen guten Blick auf die Geeignetheit<br />

der Maßnahme eröffnen. In diesen Fällen liegt bis zum<br />

Tag der mündlichen Verhandlung in der Regel genügend Material<br />

vor, um die Prognoseentscheidung der Behörde an der<br />

tatsächlichen Entwicklung zu messen: Ist etwa auf einer schon<br />

länger bestehenden Autobahn kein signifikanter Effekt des neu<br />

angeordneten LKW-Überholverbots auf die Verkehrssicherheit<br />

nachzuweisen, ist die Anordnung schon deshalb rechtswidrig.<br />

Irgendeinen Signifikanztest – für jeden Statistiker eine Selbstverständlichkeit<br />

- führt aber kein Gericht durch.<br />

Auf neuen oder wesentlich veränderten Strecken kann die Behörde<br />

Verkehrsbeschränkungen auch anordnen, ehe die erste<br />

Unfalltypensteckkarte oder gar –dreijahreskarte fertig ist, weil<br />

Straßenverkehrsrecht als Gefahrenabwehrrecht zukunftsge-<br />

wandt ist. 33 In solchen Fällen kann und muss wie bei Streckenabschnitten<br />

mit geringer Verkehrsbelastung auf anderenorts<br />

gesammelte (z.B. in wissenschaftlichen Studien veröffentlichte)<br />

Erfahrungen abgehoben werden.<br />

Es stellt sich auch die Frage, ob die <strong>von</strong> der jeweiligen Beklagten<br />

vorgelegten Unfallzahlen überhaupt mit der Ursache zusammenhängen,<br />

deren Bekämpfung das angefochtene <strong>Verkehrszeichen</strong><br />

dienen soll. 34 Insbesondere bei Verkehrsbeschränkungen,<br />

die nur eine bestimmte Verkehrsteilnehmergruppe treffen,<br />

ist diese Frage <strong>von</strong> größter Wichtigkeit. Mit gutem Grund ist<br />

bundesweit seit 1970 eine einheitliche Unfallbekämpfung vorgeschrieben,<br />

die mit Unfallsteckkarten arbeitet und Unfalltypen<br />

unterscheidet. 35 Doch ist soweit ersichtlich noch keinem<br />

Gericht eine nach Unfalltypen aufgegliederte Unfallstatistik<br />

vorgelegt worden und trotzdem kein Gericht der Frage nachgegangen,<br />

ob das fragliche Verbot überhaupt gegen die belegten<br />

– in ihrem Unfalltyp aber undifferenzierten - Unfälle wirken<br />

kann. Selbst wenn man <strong>von</strong> den deutlichen Unfallrückgängen<br />

ausgeht, die die Gerichte in ihren Urteilen – teils fälschlich -<br />

annehmen, ist eine Untersuchung der Unfalltypen notwendig,<br />

um nicht Falschinterpretationen oder Zufallsergebnissen<br />

aufzusitzen. 36 Doch Ausführungen zu Unfallursachen sucht<br />

man in den Urteilen vergebens.<br />

3.2 Erforderlichkeit<br />

Die Erforderlichkeit leiten die Gerichte daraus ab, dass eine engmaschige<br />

und effektive Kontrolle der allgemeinen StVO-Verbote<br />

einen erheblichen zusätzlichen Aufwand an polizeilichem<br />

Personal und Gerät erfordern würde und vielleicht nicht zu<br />

leisten sei. 37 Doch das kann kein Verbot rechtfertigen. 38 Auch<br />

das ist ein bundesweit einheitlicher Zustand, keine örtliche<br />

25 Ludovisy, DAR 1993, 313. Der Gesetzgeber hat bisher da<strong>von</strong> abgesehen, LKW-<br />

Überholverbote wegen Elefantenrennen anzuordnen; ihm ist vom 40. VGT<br />

2002 und <strong>von</strong> der Verkehrsministerkonferenz 2007 auch da<strong>von</strong> abgeraten<br />

worden. Die allgemeine Radwegebenutzungspflicht hatte der Gesetzgeber<br />

1997 absichtlich aufgehoben.<br />

26 Vgl. Cramer, DAR 1986, 207.<br />

27 Zur grundsätzlichen Privilegienfeindlichkeit des Verkehrsrechts: BVerwG,<br />

NJW 1967, 1627; BVerwG, NJW 1971, 1419; BVerwG, NJW 1973, 71; BVerwG,<br />

NZV 1993, 284; AG Aachen, NJW 1995, 1911; BVerwG, NJW 1998, 2840.<br />

28 So im Ergebnis VG Regensburg, Urteil RO 5 K 03.2192 vom 28.11.2005 (Z 240)<br />

und OVG Schleswig-Holstein und in seinem Gefolge VG Lüneburg und VG<br />

Oldenburg in ihren Urteilen zu BAB-LKW-Überholverbot. Umgekehrt früher<br />

VG Berlin, NZV 2001, 318 (Z 237): solche Privilegien seien „prinzipiell nicht<br />

mit § 45 IX StVO vereinbar“ und VG Berlin, NZV 2004, 488 (Radwegebenutzungspflicht).<br />

29 VG Karlsruhe, Urteil 11 K 3908/04 vom 14.04.2005 (Z 241); VG Schleswig,<br />

NZV 2006, 335 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

30 In den Sachakten der Beklagten ist i.d.R. keinerlei Ermessensausübung dokumentiert.<br />

31 BVerfG, NJW 2005, 350 (§ 24a StVG). Zu den Inhalten einer solchen Prüfung<br />

im Straßenverkehrsverwaltungsrecht s. auch Allgemeine Verwaltungsvorschrift<br />

vom 16.12.1996, VkBl 1997, 31.<br />

32 Bortz, Statistik, 6. Auflage 2005, 104.<br />

33 BVerwG, NJW 2001, 3139 (BAB-Tempolimit).<br />

34 Bouska/Leue, § 45 StVO, Rz. 23.<br />

35 VwV zu § 44 StVO; Institut für Straßenverkehr, Unfalltypen-Katalog, Köln<br />

1998; dasselbe, Untersuchungen an Unfalltypen-Steckkarten, Köln 1998;<br />

dasselbe; Führen und Auswerten <strong>von</strong> Unfalltypen-Steckkarten, Köln 1998.<br />

Der Unfalltypen-Katalog unterscheidet in einem dreistelligen System 999<br />

verschiedene Unfalltypen. Lediglich einer da<strong>von</strong> kann mit einem LKW-Überholverbot<br />

bekämpft werden.<br />

36 Dem steht nicht entgegen, dass das BVerwG, NJW 2001, 3140 (BAB-Tempolimit),<br />

bei multikausalen Unfällen auf Autobahnen die erwiesenermaßen dagegen<br />

geeignete und an alle Verkehrsteilnehmer gerichtete Maßnahme der<br />

Temporeduktion für gerechtfertigt hält.<br />

37 OVG Schleswig-Holstein, Urteil 4 LB 7/05 vom 27.04.2006 (BAB-LKW-Überholverbot);<br />

VG Oldenburg, Urteil 7 A 5067/04 vom 26.06.2007 (BAB-LKW-<br />

Überholverbot).<br />

38 VG Kassel, Urteil 2 E 319/02 vom 06.05.2003 (BAB-LKW-Überholverbot); VG<br />

Schleswig, NZV 2006, 333 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

S VR 12/2007 | 4 49


A U F S ÄT Z E | Kettler, <strong>Restriktive</strong> <strong>Anwendung</strong> <strong>von</strong> <strong>Verkehrszeichen</strong><br />

Besonderheit und erweist sich damit als allgemeine Erwägung.<br />

Selbst wenn Haushaltsmittel für die eigentlich erforderlichen<br />

Gefahrenabwehrmaßnahmen fehlen, rechtfertigt das generell<br />

nicht, statt dessen billigere zu ergreifen; entsprechende Überlegungen<br />

der Behörden sind sachfremde Erwägungen. 39 Besonders<br />

pikant ist die Argumentation mit der engmaschigen<br />

Kontrolle in den Verfahren, in denen <strong>von</strong> Polizei und Beklagter<br />

offen angegeben wird, dass nicht die vom Verbot betroffenen<br />

Verkehrsteilnehmer, sondern andere die Störer sind. So geben<br />

in den Verfahren gegen LKW-Überholverbote auf BAB Polizei<br />

und Beklagte teilweise gleichermaßen ehrlich an, dass die Gefahr<br />

<strong>von</strong> Rasern, Abstandssündern und Rechtsüberholern ausgehe<br />

und nicht etwa <strong>von</strong> den vom Verbot betroffenen LKW-<br />

Fahrern. 40 Zeichen 254 werden offen mit der Begründung<br />

angeordnet, dass <strong>von</strong> den Autofahrern kein regelgerechtes<br />

Verhalten zu erwarten sei. 41 Eine Radwegebenutzungspflicht<br />

wurde mit der Feststellung gerechtfertigt, ohne sie müsse doch<br />

tatsächlich der „motorisierte Verkehr zusätzlich zu den Verkehrsbewegungen<br />

durch Kraftfahrzeuge den Radfahrverkehr<br />

[...] beachten“. 42 Und in dem Einbahnstraßen-Verfahren des<br />

VG Lüneburg hatte die Beklagte ihren ablehnenden Bescheid<br />

ausdrücklich damit gerechtfertigt, dass sich mit der <strong>von</strong> ihr<br />

angeordneten Freigabe der Fußgängerzone für Kraftfahrer das<br />

KFZ-Aufkommen erheblich erhöhte und die dadurch veranlasste<br />

„weitere Gefährdung der Radfahrer nicht hingenommen<br />

werden konnte“. 43 Der gefährdete Verkehr wird jeweils verboten,<br />

der gefährdende bleibt unbehelligt. Das im Rechtsstaat<br />

und damit grundsätzlich im gesamten Gefahrenabwehrrecht<br />

geltende Prinzip, dass zunächst der greifbare Störer anzugehen<br />

ist und nicht der Nichtstörer, 44 wird im Straßenverkehrsrecht<br />

zunehmend ignoriert.<br />

Ferner soll sich die Erforderlichkeit daraus ergeben, dass <strong>von</strong><br />

anderen, milderen Mitteln der Gefahrenabwehr „wesentlich<br />

mehr Kraftfahrer betroffen“ seien als <strong>von</strong> dem angefochtenen<br />

Verbot, „allein der Schwerverkehr“ würde andere Mittel der<br />

Gefahrenabwehr als mildere erleben. 45 Damit wird die Angemessenheit<br />

allein anhand der Zahl der <strong>von</strong> verschiedenen<br />

Maßnahmen (vermeintlich) betroffenen Bürger bemessen.<br />

Straßenverkehrsrecht ist jedoch Gefahrenabwehrrecht und als<br />

solches grundsätzlich keiner Mehrheitsbildung zugänglich. 46<br />

Grundrechte lassen sich nicht abzählen. Da es kein Grundrecht<br />

auf Schnellfahren gibt, 47 muss nicht einmal das Verfahren<br />

der „praktischen Konkordanz“ bemüht werden, eine einfache<br />

Mehrheitsbildung ist grundrechtsdogmatisch jedoch <strong>von</strong><br />

vorne herein ausgeschlossen.<br />

3.3 Verhältnismäßigkeit i.e.S.<br />

Der gewünschte bessere Verkehrsfluss für Einzelne muss in den<br />

Urteilen nicht nur für die „örtliche Besonderheit“ herhalten,<br />

sondern auch für die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.<br />

Das VG Oldenburg führt aus, die allgemeine Handlungsfreiheit<br />

des Klägers müsse hinter der Verbesserung des Verkehrsflusses<br />

für schnellfahrwillige PKW-Fahrer zurückstehen. 48 Die bloße<br />

Verbesserung des Verkehrsflusses für PKW-Fahrer ist indessen<br />

kein hinreichender Grund für ein an andere Verkehrsteilnehmer<br />

gerichtetes Verbot 49 und widerspricht der grundsätzlichen<br />

Privilegienfeindlichkeit des Straßenverkehrsrechts. Die<br />

grundsätzliche Privilegienfeindlichkeit ist zwar ursprünglich<br />

in der Rechtsprechung zu <strong>Verkehrszeichen</strong> zu Lasten des privaten<br />

PKW-Verkehrs erarbeitet worden. Es ist aber kein rechtsdogmatischer<br />

Grund ersichtlich, warum die Privilegienfeindlichkeit<br />

nur zugunsten der PKW-Fahrer gelten sollte.<br />

Ferner führen die Gerichte zur Verhältnismäßigkeit im engeren<br />

Sinne aus, es gebe zumutbare Ventile. Radfahrer könnten<br />

in dem Fall des VG Lüneburg statt durch die streitgegenständliche<br />

Straße auch durch die übernächste Parallelstraße fahren, 50<br />

die LKW-Fahrer werden im Fall des VG Oldenburg darauf verwiesen,<br />

dass vor und hinter dem streitgegenständlichen LKW-<br />

Überholverbot kein solches gelte. 51 Die Gerichte übersehen<br />

dabei, dass ein repressives Verbot nicht dadurch rechtmäßig<br />

wird, dass woanders kein ebensolches gilt. Das grundlegend<br />

Fehlerhafte der Überlegung zeigt sich daran, dass dieses „Argument“<br />

versagt, wenn die Behörden das Straßennetz in einer<br />

Art „Salamitaktik“ mit entsprechenden Verboten überziehen.<br />

Genau das ist vielerorts zu beobachten.<br />

Auch die Widmung wird bei Verboten für bestimmte Verkehrsteilnehmer<br />

nur ungenügend beachtet. Radwegebenutzungspflicht<br />

und Zeichen 254 haben in Bezug auf die allgemeine<br />

Fahrbahn auch eine räumliche Komponente und ebenso LKW-<br />

Überholverbote in Bezug auf die linken Fahrstreifen. 52 Daher<br />

liegt in diesen Verboten jeweils eine Zuweisung des Verkehrsraums<br />

an eine bestimmte Verkehrsteilnehmergruppe zur bevorzugten<br />

Nutzung, 53 die grundsätzlich widmungswidrig ist.<br />

4. Fazit<br />

Ermutigte Bouska kurz nach Inkrafttreten des § 45 IX StVO die<br />

<strong>von</strong> Verkehrsbeschränkungen betroffenen Bürger noch zu Zivilcourage,<br />

Beschwerde bei der zuständigen Behörde und Klage,<br />

54 muss man heute bei der völligen Inhaltsentleerung des<br />

Paragrafen durch einige Gerichte deutlich vorsichtiger sein.<br />

Was dort heute gutgeheißen wird, wäre bei einer sorgfältigen<br />

Verhältnismäßigkeitsprüfung schon nach der bis 1997 geltenden<br />

Rechtslage rechtswidrig. Dahinter fällt die genannte<br />

Rechtsprechung jedoch sogar noch zurück. Die Intention des<br />

Gesetzgebers, dass endlich der Schilderwald gelichtet werde,<br />

wird negiert.<br />

39 Rinze, NZV 1999, 399; VG Berlin, NZV 2004, 488 (Radwegebenutzungspflicht);<br />

VG Hannover, NZV 2005, 223 (Z 240).<br />

40 Verfahren VG Oldenburg 7 A 5067/04 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

41 Verfahren VG Stuttgart 10 K 3536/03 (Z 254).<br />

42 VG Köln, Urteil 11 K 7554/05 vom 21.07.2006 (Z 240).<br />

43 Verfahren VG Lüneburg 2 A 425/06 (Einbahnstraße).<br />

44 BVerfG, Beschluss 2 BvR 1295/05 vom 27.06.2006 (§ 85 StVollzG).<br />

45 VG Oldenburg, Urteil 7 A 5067/04 vom 26.06.2007 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

46 OVG Saarlouis, VerkMitt 2003, 46 (Absperrschranke).<br />

47 VG Berlin, NZV 2001, 318 (Z 237); VG Berlin, NZV 2004, 488 (Radwegebenutzungspflicht);<br />

VG Schleswig, NZV 2006, 333 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

Selbst Ronellenfitsch, der immerhin das „Grundrecht auf Automobilität“<br />

behauptet, behauptet kein solches auf Schnellfahren.<br />

48 VG Oldenburg, Urteil 7 A 5067/04 vom 26.06.2007 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

49 VG Berlin, NZV 2001, 318 (Z 237): solche Privilegien seien „prinzipiell nicht<br />

mit § 45 IX StVO vereinbar“; VG Berlin, NZV 2004, 488 (Radwegebenutzungspflicht);<br />

VG Schleswig, NZV 2006, 333 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

50 VG Lüneburg, Urteil 2 A 425/06 vom 07.06.2007 (Einbahnstraße); früher<br />

ähnlich schon VG Magdeburg, Urteil 1 A 18/05 MD vom 29.04.2005 (Einbahnstraße)<br />

für eine kilometerlange Umwegführung.<br />

51 VG Oldenburg, Urteil 7 A 5067/04 vom 26.06.2007 (BAB-LKW-Überholverbot).<br />

52 VG Berlin, NZV 2001, 318 (Z 237); VG Schleswig, NZV 2005, 221 (Z 240).<br />

53 Dazu: Hentschel/König, § 45 StVO, Rz. 28ff und Steiner, DAR 2006, 664.<br />

54 Bouska in 37. VGT 1999, 145.<br />

450 | S VR 12/2007

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