Wenn - Gudjons Apotheke

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Impressum<br />

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Herausgeber: <strong>Gudjons</strong>-<strong>Apotheke</strong>, Wankelstrasse 1, 86391 Stadtbergen<br />

Tel.: +49 821 4441000 • Fax: +49 821 4441001<br />

e-mail: apotheke@gudjons.com • Internet: www.gudjons-apotheke.de<br />

© Gestaltung: Christian Korn, Feuerbachstrasse 6a, 84034 Landshut • www.apanoua.de<br />

Abbildungen: von den Autoren zur Verfügung gestellt, desweiteren von Dr. med. Gypser,<br />

Gisela Stübler und Prof. Dr. Josef. M. Schmidt.<br />

Titelseite: Gemälde von Samuel Hahnemann von Hesse.<br />

Das Bild wurde 2008 vom Institut für Geschichte der Medizin<br />

der Robert Bosch Stiftung Stuttgart, Robert Bosch Gesellschaft<br />

für medizinische Forschung mbH erstanden.<br />

Vol.11 / Nr. 1– 03/2009


Familien, natürliche Systeme und<br />

Arzneimittelprüfungen in der Homöopathie<br />

Inhalt<br />

Editorial 2<br />

Arzneimittelbilder – Bildnisse des Menschen<br />

Dr. med. Klaus Holzapfel 3 – 5<br />

Jörg Wichmann ........................................................ 6 – 11<br />

Massimo Mangialavoris<br />

“Method of Complexity”<br />

Die Empfindung in der Homöopathie –<br />

Arzneimittelbilder – Bildnisse des Menschen<br />

Eine Zusammenfassung von Dr. med. Ose Hein ... 12 – 16<br />

Dr. med. Willibald Neuhold...................................... 17 – 23<br />

Wilhelm Reich,<br />

Orgon und Homöopathie<br />

Die Sehgal-Methode oder<br />

die Angst vor der vierten Warze<br />

Dr. med. Ekkehard von Seckendorff ............................ 24 – 35<br />

Dr. med. Manfred Fuckert ......................................... 36 – 41<br />

Das Entwickeln von Arzneimittelbildern<br />

von Jan Scholten (Übersetzung: Peter Vint) .....................42 – 47<br />

1


2<br />

V on<br />

edItorIal<br />

Beginn der Geschichte der Homöopathie an gibt es das Phänomen<br />

der rechten und der schlechten Homöopathen. Diejenigen, die nicht genauso<br />

wie Hahnemann arbeiteten, wurden in den Journalen seiner Zeit von<br />

dem Meister selbst beschimpft und mit so netten Worten wie Afterhomöopathen<br />

belegt.<br />

Auch heute noch gibt es eine „heimliche Hierarchie“,<br />

in der die klassischen und die „modernen<br />

Homöopathen“ vermeintliche Qualitätsunterschiede<br />

bilden.<br />

Wie sieht das aus, wenn man genau hinschaut?<br />

Was machen die „Modernen“ anders?<br />

Genau das wollte ich wissen.<br />

Die Zuordnung von Symptomen der Arznei zu Symptomen<br />

der Krankheit ist bei allen gegeben, aber …<br />

… im Laufe der Jahre haben sich manche unter<br />

den Therapeuten Gedanken gemacht, wie man die<br />

Arbeit der Arzneimittelfindung erleichtern und verbessern kann. Dabei haben<br />

die einen die Arzneien in Gruppen verwandter Symptome zusammengefasst,<br />

die anderen die bestehenden Prüfungssymptome tiefgründig analysiert und<br />

interpretiert, wieder andere haben bei den Krankheitssymptomen übereinanderliegende<br />

Schichten erkannt oder die Hauptursache der Erkrankung als<br />

entscheidendes Symptom verwendet. Dann gibt es auch noch Therapeuten,<br />

die die Miasmen in den Mittelpunkt gestellt haben, um das zentrale Miasma<br />

zuerst zu behandeln. Allen beschriebenen Therapiemethoden gemeinsam ist:<br />

die Zuordnung beruht auf dem Ähnlichkeitsgesetz und es werden Einzelmittel<br />

verordnet.<br />

Das herausgefunden zu haben, hat mich erst mal beruhigt. So schlimm<br />

sind die Modernen also gar nicht, wie die Klassischen immer sagen, oder?<br />

Lesen Sie dazu den Beitrag von Jörg Wichmann.<br />

Von der Vielfalt der neueren Methoden sind in diesem Heft einige beschrieben,<br />

andere sollen im folgenden Heft dargestellt werden, so dass die Ausgabe<br />

1 und 2 - 2009 gewissermaßen zusammen gehören.<br />

Es interessiert mich, was Sie über dieses Thema denken. Ich freue mich<br />

über Ihre Zuschriften an brita@gudjons.com.<br />

Brita <strong>Gudjons</strong>


W enn<br />

arzneImIttelbIlder – bIldnIsse des menschen<br />

heute von Arzneimittelbildern in<br />

Form von Typen oder Persönlichkeiten<br />

die Rede ist, so ist dies nur möglich durch<br />

die Vorlesungen James Tyler Kents zur Materia<br />

Medica, die 1905 in Buchform erschienen<br />

sind. In diesen Lectures trug Kent die Symptome<br />

der Arzneien so<br />

vor, als ob eine einzige<br />

Person alle diese<br />

an sich habe.<br />

Seine Ausgangspunkte<br />

hierzu sind einerseits<br />

Hahnemanns<br />

Paragraphen über<br />

die epidemischen Erkrankungen<br />

und dessen<br />

Ausführungen zur<br />

Anamnese der Psora<br />

und andererseits sein<br />

von den Lehren Emmanuel<br />

Swedenborgs<br />

geprägtes Weltbild mit<br />

seiner Hierarchie [1].<br />

In diesem ist die<br />

Welt hierarchisch<br />

strukturiert innerhalb<br />

von „Kingdoms“<br />

oder Naturreichen. In der Hierarchie unter<br />

dem Menschen stehend, gibt es das Tierreich,<br />

das Pflanzen- und das Mineralreich.<br />

Der Mensch selbst hat grundsätzlich<br />

die Möglichkeit, sich in zwei Richtungen zu<br />

dr. med. Klaus holzapfel<br />

James Tyler Kent* 1849 – 1916<br />

entfalten: nach oben in höhere Grade aufzusteigen,<br />

indem er seine Fähigkeiten und sein<br />

edles Wesen in den Dienst der Nützlichkeit für<br />

Andere stellt, so dass er im Idealfalle ein reiner<br />

Mensch und damit ein Abbild des Schöpfers<br />

werden kann, oder nach unten in die<br />

Degradation abzusteigen,<br />

indem er seine<br />

Fähigkeiten nicht<br />

weiterentwickelt oder<br />

wahrnimmt und somit<br />

nur noch ein Abbild<br />

oder Bildnis des<br />

Menschen sein kann.<br />

„Im Menschen ist der<br />

Himmel, in seinem<br />

Bildnis ist die Hölle.“<br />

In seiner Fülle ist er<br />

Liebe und Weisheit,<br />

in seinem Bildnis<br />

Hass und Ignoranz.<br />

<strong>Wenn</strong> der Mensch<br />

krank wird, ist er<br />

ebenfalls nicht in der<br />

Lage, von seiner Fülle<br />

Gebrauch zu machen.<br />

Krankheit als Privation<br />

der Entfaltungsmöglichkeiten bedeutet<br />

Degradation.<br />

Diese Degradation ist aber nichts anderes<br />

als eine Annäherung an die niederen<br />

Naturreiche. Die Krankheiten des Menschen<br />

*) Kent unterrichtete von 1881 bis 1888 am Homoeopathic Medical College of Missouri in St. Louis, ab<br />

1888 am Women‘s Homoeopathic Hospital in Philadelphia, ab 1891 an der Philadelphia Post-Graduate School<br />

of Homoeopathics (wohl bis 1900), ab 1899 hielt er bereits Gastvorlesungen am Dunham Medical College in<br />

Chicago, später dann auch als Mitglied der Fakultät. Das Dunham Medical College und das Hering Medical<br />

College schlossen sich 1902 zusammen und Kent lehrte an der vereinigten Institution, wechselte 1903 aber an<br />

das Hahnemann Medical College of Chicago. 1910 trat Kent in die Fakultät des Hering Medical College ein, das<br />

jedoch 1913 seine Pforten schließen mußte.<br />

3


4<br />

arzneImIttelbIlder – bIldnIsse des menschen<br />

finden ihre Abbildung in den verschiedenen<br />

Substanzen, die die drei niederen Naturreiche<br />

ausmachen. Diese können den Menschen<br />

verändern, indem sie mit ihm in Kontakt treten,<br />

zum Beispiel durch direkten Kontakt mit<br />

einer giftigen Pflanze, durch Tierbisse oder<br />

durch die Nahrung.<br />

Auch die irdenen<br />

Elemente versuchen<br />

aufzusteigen, um dem<br />

Menschen ähnlich zu<br />

werden. Da ihnen<br />

dieses verwehrt bleibt,<br />

haben sie nur die<br />

Möglichkeit, ihn her-<br />

abzuziehen, d.h. zu<br />

degradieren, indem<br />

sie ihn im Extremfalle<br />

zu einer Bestie<br />

machen. Der Mensch<br />

kann sich gegen diese<br />

Einflüsse zur Wehr<br />

setzen und zu seinem<br />

Idealbild aufsteigen<br />

oder ihnen nachgeben und vertieren.<br />

Um die möglichen Abweichungen vom<br />

Idealbild systematisch zu erfassen, werden<br />

Arzneimittelprüfungen [AMP] durchgeführt.<br />

Hier ereignet sich nichts anderes als das Zusammentreffen<br />

der Lebenskraft mit den unterschiedlichen<br />

Kräften der Arzneien. Hierdurch<br />

werden die Empfindungen, die geistigen Tätigkeiten<br />

und die Körperfunktionen gestört.<br />

<strong>Wenn</strong> diese AMP systematisch an vielen<br />

Prüfern und mit den verschiedensten<br />

Substanzen durchgeführt wird und in allen<br />

Organbereichen und vor allem im Geistigen<br />

Emanuel Swedenborg 1688 – 1772<br />

Veränderungen bewirkt hat, dann ist diese<br />

Prüfung vollständig. Ein Abbild des Menschen,<br />

entsprechend der jeweiligen Arznei, ist entstanden.<br />

Bezüglich der Vollständigkeit des Bildes<br />

beruft sich Kent auf Hahnemanns Ausführungen<br />

zu den epidemischen<br />

Krankheiten in<br />

den §§103ff und zur<br />

Anamnese der Psora.<br />

Je mehr Psorakranke<br />

bzw. je mehr<br />

an einer Epidemie<br />

Erkrankter ein Arzt<br />

gesehen hat, desto<br />

vollständiger wird<br />

das Gesamtbild dieser<br />

Krankheit sein,<br />

da jeder einzelne Patient<br />

immer nur einen<br />

Teil der Symptome<br />

aufweist. <strong>Wenn</strong> man<br />

dieses Kollektiv an<br />

Symptomen in einem<br />

Kopf-zu-Fuß-Schema, wie von Hahnemann<br />

vorgegeben, aufzeichnet, erhält man eine<br />

Einheit, die so betrachtet werden kann, als<br />

ob eine einzelne Person alle Symptome an<br />

sich hat: es erscheint also das Bildnis eines<br />

Menschen.<br />

Auf eine bestimmte (vollständig geprüfte!)<br />

Arznei bezogen bedeutet dies, dass das<br />

Bildnis dieser Arznei festgelegt wurde. Hierzu<br />

gehören aber nicht nur die körperlichen<br />

Veränderungen, sondern auch und vor allem,<br />

die Alterationen des Charakters, bzw. die Gemüts-<br />

und Geistesphänomene. Diese letzteren


arzneImIttelbIlder – bIldnIsse des menschen<br />

Hering Medical College, Rhodes Ave.<br />

stehen nach der Hierarchie Swedenborgs über<br />

den Generals, das sind die physischen Allgemeinsymptome,<br />

und über den Particulars, das<br />

sind die Körperteilsymptome.<br />

Das Arzneibild nimmt also menschliche<br />

Formen und Charakterzüge an, d.h. es bekommt<br />

eine anthropomorphe Prägung.<br />

Der Homöopath muß das jeweilige Arzneibild<br />

in Form eines jeweiligen Menschenbildes<br />

kennen, um auf diese Weise die Ähnlichkeit<br />

zur zu heilenden Krankheit zu erkennen.<br />

Dann kann, so Kent, die Materia Medica<br />

zur Heilung der Nationen angewandt werden.<br />

Chicago Homoeopathic Medical College<br />

[1] Kent JT: The Trend of Thought Necessary<br />

to the Application of the Homoeopathic<br />

Materia Medica, or a Rational Use of Curative<br />

Agents.<br />

Journal of Homoeopathics, 1(1897), 1,<br />

10-20.<br />

Dr. med. Klaus Holzapfel<br />

Alte Weinsteige 40<br />

70180 Stuttgart<br />

5


6<br />

W er<br />

famIlIen, natürlIche systeme und<br />

arzneImIttelprüfungen In der homöopathIe<br />

die Entwicklung der Homöopathie<br />

in den letzten zwei Jahrzehnten beobachtet,<br />

wird eine zunehmende Verbindung<br />

mit anderen Wissenschaften wahrnehmen,<br />

mit der Chemie und Biologie insbesondere.<br />

Das betrifft nicht nur die Erforschung einzelner<br />

Arzneisubstanzen, deren homöopathische<br />

Eigenschaften intensiver mit den Erkenntnissen<br />

anderer<br />

Wissensgebiete<br />

verglichen<br />

werden, sondernbesonders<br />

auch die<br />

sich langsam<br />

durchsetzende<br />

Ordnung der<br />

Arzneimittel in<br />

Gruppen, die<br />

als Strukturen<br />

angemessener<br />

und intelligenter<br />

sind als das<br />

bisher gewöhnlich verwendete Alphabet.<br />

Natürlich gibt es zu dieser Entwicklung<br />

schon gedankliche Vorläufer, weil die Idee als<br />

solche naheliegend ist, obwohl sie lange nicht<br />

durchgeführt wurde. Aber jede Wissenschaft<br />

hat ihre Phasen, von denen die erste meist<br />

durch eine eher diffuse Sammlung von Einzelinformationen<br />

geprägt ist, worauf dann eine<br />

stärkere Strukturierung und Bildung neuer<br />

Hypothesen folgt. Das ist an sich nichts Besonderes,<br />

sondern der natürliche Ablauf im<br />

Aufbau eines Wissensgebietes, so auch in der<br />

Homöopathie.<br />

Jörg WIchmann<br />

Dr. Stübler und Dr. Leeser<br />

Der erste bekannte Autor, der seine gesamten<br />

Lehrbücher der Materia Medica nach dem<br />

natürlichen System der Substanzen aufbaute,<br />

ist meines Wissens E.A.Farrington 1887* gewesen,<br />

gefolgt von Otto Leeser seit 1933** im<br />

deutschsprachigen Bereich. Sie haben noch<br />

darauf verzichtet, Zusammenfasssungen von<br />

homöopathischen Symptomatiken der einzelnen<br />

Familien zu geben. Aber sie stellen sie<br />

mit ihren chemischen<br />

oder<br />

biologischen<br />

Eigenschaften<br />

vor, jeweils in<br />

der Einleitung<br />

der einzelnen<br />

Familienkapitel.<br />

Offenbar<br />

geht es ihnen<br />

dabei nicht um<br />

zusätzlichen<br />

Erkenntnisgewinn,<br />

sondern<br />

nur um das<br />

vergleichende Studium der Materia Medica.<br />

Wir wissen auch von Hering, daß er für einen<br />

solchen Ansatz Verständnis hatte.<br />

Weiterführende Ansätze verfolgen seit den<br />

1990er Jahren einige prominente Homöopathie-Lehrer<br />

und -Autoren, wie Mangialavori,<br />

Scholten und Sankaran. Diesen geht es nicht<br />

nur darum, die natürlichen Verwandtschaftssysteme<br />

als Ordnungssysteme für eine wissenschaftlich<br />

vertretbare Übersicht (im Gegensatz<br />

zum Alphabet) oder als Hilfsmittel zum<br />

Studium zu verwenden. Vielmehr suchen sie<br />

homöopathische Gemeinsamkeiten der Familien<br />

und Gruppen.


famIlIen, natürlIche systeme und<br />

arzneImIttelprüfungen In der homöopathIe<br />

In diesem Ansatz sind zwei unterschiedliche<br />

Phasen oder Erkenntnisprozesse zu unterscheiden,<br />

die häufig ineinander überfließen.<br />

Zum einen gibt es die induktive Phase, in welcher<br />

anhand von bereits bekannten Mitteln<br />

familiäre Gemeinsamkeiten herausgefiltert<br />

werden***. Hierbei werden die üblichen Verfahren<br />

vergleichenden Arzneimittelstudiums<br />

benutzt. Man kann möglicherweise den Sinn<br />

dieses Vorgehens bezweifeln oder das eine<br />

oder andere Ergebnis korrigieren, aber im<br />

Prinzip sind die Erkenntnisse solcher Mittelvergleiche<br />

korrekt und nachvollziehbar,<br />

weil sie auf den bekannten und zugänglichen<br />

Quellen homöopathischer Materia Medica<br />

beruhen.<br />

Anders verhält es sich mit der zweiten,<br />

der deduktiven Phase der Arbeit. Zwar wird<br />

es hier in gewisser Hinsicht erst interessant,<br />

aber es werden auch die Grenzen des Materia<br />

Medica-Vergleichs überschritten und hypothetische<br />

Zusatzannahmen gemacht. <strong>Wenn</strong><br />

wir die aus dem Vergleich bekannter Mittel<br />

einer Familie gewonnenen Erkenntnisse, bzw.<br />

homöopathischen Symptomengruppen auf<br />

andere, noch unbekannte Mittel der gleichen<br />

Familie beziehen wollen, müssen wir als Hypothese<br />

einführen, daß die Mitglieder einer<br />

natürlichen Familie auch homöopathisch<br />

durchgängige Gemeinsamkeiten aufweisen,<br />

daß sich also von drei Mitteln auf ein viertes<br />

schließen läßt.<br />

Wir alle wissen, daß sich dafür reihenweise<br />

Belege angeben lassen, aber auch ebenso<br />

viele Widerlegungen. Es wird sich kaum ein<br />

Symptom finden lassen – außer ein sehr allgemeines,<br />

das dann keinen Erkenntnisgewinn<br />

bringt – , das in einer größeren Familie ausnahmslos<br />

bei allen Mitteln auftritt. Einmal<br />

ganz abgesehen von der meist gewaltigen<br />

Menge von Vertetern dieser Familien, von denen<br />

wir noch nichts wissen. Das hat zur Folge,<br />

daß die angenommenen Gemeinsamkeiten<br />

zu Abstraktionen aus Symptomengruppen<br />

werden müssen oder eher den Charakter von<br />

„Essenzen“ annehmen.<br />

Grundsätzlich sind die Ansätze zu einer<br />

natürlichen Anordnung der Mittel in Familien<br />

eine logische Entwicklung. <strong>Wenn</strong> wir Hahnemanns<br />

und seiner Nachfolger Vorstellung, mit<br />

ihrer Arbeit Naturgesetze entdeckt oder zumindest<br />

neu beschrieben zu haben, ernst nehmen<br />

wollen, dann müssen wir uns auch einem<br />

Vergleich mit anderen Zugängen zu Naturgesetzen<br />

stellen. Dann ist eine Übereinstimmung<br />

mit anderen über die Natur gewonnenen Erkenntnissen<br />

anzunehmen. Wir werden kaum<br />

erwarten können, daß die Homöopathie in<br />

einer Nische der für den Kosmos geltenden<br />

Gesetze existiert und keine sinnvollen und erkennbaren<br />

Zusammenhänge mit den anderen<br />

Wissenschaften hat. <strong>Wenn</strong> also eine Gruppe<br />

von Substanzen biologisch und chemisch eng<br />

verwandt ist, muß es sich lohnen, auch homöopathisch<br />

nach einer solchen Verwandtschaft<br />

zu suchen.<br />

Diese prinzipielle Einsicht kontrastiert<br />

aber noch auffallend mit den praktischen<br />

Schwierigkeiten ihrer Umsetzung. Dennoch<br />

oder eher deshalb sollten wir den Pionieren<br />

dieses Ansatzes dankbar sein, weil sie einen<br />

Weg beschreiten, den die Homöopathie auf<br />

lange Sicht nicht einfach umgehen kann,<br />

wenn sie sich nicht hinter fundamentalistischen<br />

Dogmen verstecken will. Die Frage ist<br />

also gar nicht, ob wir uns mit der Familiensystematik<br />

auseinandersetzen, sondern wie<br />

wir das angehen.<br />

7


8<br />

famIlIen, natürlIche systeme und<br />

arzneImIttelprüfungen In der homöopathIe<br />

Hierfür sind bisher recht unterschiedliche<br />

Wege beschritten worden. Jan Scholten hat<br />

für das Periodensystem von vornherein einen<br />

großen Entwurf gewagt, der sich überwiegend<br />

spekulativ deduktiv darstellt. Hiermit hat er<br />

einen auf die ganze Breite von elementaren<br />

Arzneimitteln und Salzen kohärenten Ansatz<br />

geschaffen, dies aber um den Preis induktiver<br />

Genauigkeit. Ganz anders geht Massimo<br />

Mangialavori von kleinen Mittelgruppen aus,<br />

deren homöopathische Gemeinsamkeiten<br />

ihm aus der Erfahrung heraus einleuchtend<br />

erscheinen. Dabei überschreitet er zum Teil<br />

auch Grenzen, die uns wissenschaftliche Erkenntnisse<br />

zunächst vorgeben würden, weil<br />

ihm die Einbeziehung unseres derzeitigen homöopathischen<br />

Erfahrungsstandes vorrangig<br />

ist. So finden wir etwa Stoffe wie Alloxanum<br />

oder auch Kaliumferrocyanatum in der Gruppe<br />

der Meeresmittel, weil sie homöopathisch<br />

gut dort hineinpassen.<br />

Noch einen anderen Weg beschreitet die<br />

Homöopathengruppe aus Bombay um Rajan<br />

Sankaran und Jayesh Shah. Sie bauen zunächst<br />

auf vergleichenden Symptomenstudien einzelner<br />

Pflanzenfamilien auf und ordnen diesen<br />

familientypische Empfindungscharakteristika<br />

zu.*** Allerdings erforscht diese Strömung<br />

inzwischen noch weitergehende Wege der unmittelbaren<br />

Familienzuordnung, die auf einer<br />

verfeinerten Anamnesetechnik beruhen und<br />

nicht Thema dieses Aufsatzes sind.<br />

Die Tatsache, daß hier sehr unterschiedliche<br />

Wege beschritten werden, halte ich für<br />

eine Notwendigkeit in der Erarbeitung neuer<br />

Hypothesen und Erkenntnismöglichkeiten.<br />

Problematisch ist daran allein, daß es bei<br />

einer Reihe von KollegInnen die Neigung gibt,<br />

solche vorläufig entworfenen Arbeitshypothe-<br />

Bryonia alba<br />

(Familie der Kürbisgewächse)<br />

sen nicht als solche zu nehmen, vorsichtig<br />

in der Praxis auszuprobieren, langsam zu<br />

verbessern (oder irgendwann zu verwerfen<br />

und durch bessere zu ersetzen), sondern daß<br />

die ersten Arbeitshypothesen eines bekannten<br />

Autors gleich wie eine unveränderliche<br />

Offenbarung hingenommen und 1:1 in der<br />

Praxis umgesetzt werden, als hätten wir es<br />

mit gut überprüften und gesicherten Erkenntnissen<br />

zu tun und nicht mit vorläufigen Ideen<br />

und Entwürfen. Diese Problematik gründet<br />

in einer allgemein verbreiteten Neigung der<br />

Homöopathen, sektenartige Strömungen zu<br />

bilden und sich gläubig gegenüber einzelnen<br />

Autoritäten zu verhalten, aber auch in der Neigung<br />

mancher Autoren, ihre ersten Ideen zu<br />

einem Thema schnell und im Duktus eines<br />

fertigen Lehrbuches zu veröffentlichen.<br />

Für die weitere Entwicklung der homöopathischen<br />

Methodik würde ich mir wünschen,<br />

daß wir die vorgetragenen Hypothesen offen


famIlIen, natürlIche systeme und<br />

arzneImIttelprüfungen In der homöopathIe<br />

Bryonia divoica<br />

(Familie der Kürbisgewächse)<br />

und zugleich kritisch aufgreifen und in unserem<br />

Arbeitsalltag auf ihre Brauchbarkeit hin<br />

überprüfen, sie verbessern und verändern.<br />

Die homöopathische Forschung hat jetzt die<br />

einmalige Chance, auf die Arbeitskraft, den<br />

Einfallsreichtum und die gewaltige Erfahrung<br />

einer großen internationalen Gemeinschaft<br />

und die technischen Hilfsmittel der Computerprogramme<br />

und Internet-Verbindungen<br />

zurückgreifen zu können. Es wäre schade,<br />

wenn wir diese Chance nicht für einen großen<br />

Entwicklungssprung nützen könnten.<br />

Ein erster wichtiger Schritt scheint mir<br />

zu sein, eine für alle KollegInnen verständliche<br />

und stets leicht zugängliche Definition<br />

der natürlichen Familien zu schaffen und<br />

das vorhandene Basismaterial darin einzuordnen.<br />

Zur Zeit befindet sich eine solche<br />

Website (www.provings.info) im Aufbau, die<br />

alle derzeit verwendeten, geprüften und hergestellten<br />

homöopathischen Arzneimittel in<br />

ihr natürliches System stellt und dieses Ord-<br />

Colocynthis officinalis<br />

(Familie der Kürbisgewächse)<br />

nungssystem mit Hilfe einer Suchfunktion<br />

leicht bearbeitbar macht. Ferner werden alle<br />

im Internet zugänglichen Arzneimittelprüfungen<br />

– und nach und nach auch die schriftlichen<br />

– mit in dieses System eingeordnet. Die<br />

Website ermöglicht Anfragen wie: Welche<br />

Arzneimittelprüfungen von Spinnenmitteln<br />

wurden nach/vor 1900 gemacht? oder: Welche<br />

Compositae werden als homöopathische<br />

Mittel verwendet, und bei welchen Herstellern<br />

sind sie verfügbar? oder: Welche Arzneimittelprüfungen<br />

hat Jeremy Sherr in den letzten fünf<br />

Jahren veröffentlicht? Wir hoffen, daß dieses<br />

Hilfsmittel dazu beiträgt, eine sachlich gut<br />

begründete Diskussion über die Familiensysteme<br />

zu führen und im therapeutischen Alltag<br />

einen schnellen Zugang zu den Familien und<br />

Herkünften auch von sehr seltenen und neuen<br />

Arzneimitteln zu finden.<br />

Je mehr die homöopathische Gemeinschaft<br />

in die Erprobung neuer Hypothesen zu<br />

übergeordneten Gesetzmäßigkeiten einsteigt,<br />

9


10<br />

famIlIen, natürlIche systeme und<br />

arzneImIttelprüfungen In der homöopathIe<br />

um so mehr müssen diese auf einer bewährten<br />

Basis abgesichert und ständig überprüft<br />

werden. Die Bewährung der Mittel und ihrer<br />

Symptome am „Krankenbett“, wie die alten<br />

Meister so schön formulierten, ist letztlich<br />

der entscheidende Prüfstein, unterliegt allerdings<br />

in der Entwicklungsphase von Hypothesen<br />

den allseits bekannten Problemen<br />

der nachvollziehbaren Dokumentation und<br />

Interpretation. Plausibler und handhabbarer<br />

ist es, hier auf die von Anbeginn der Homöopathie<br />

entscheidende Säule der Mittelkenntnis<br />

zurückzugreifen: die Arzneimittelprüfung.<br />

Je weiter wir uns in neue Mittelfamilien<br />

vorwagen und Hypothesen über ihre Eigenschaften<br />

zu bilden versuchen, um so mehr<br />

und genauer müssen wir von diesen Mitteln<br />

Arzneimittelprüfungen durchführen und<br />

diese mit den erwarteten Ergebnissen vergleichen.<br />

Die Vögel beispielsweise sind eine<br />

Klasse von Organismen, die bis vor wenigen<br />

Jahren homöopathisch so gut wie unbekannt<br />

war, von Bestandteilen des Hühnereies und<br />

den Nestern von Salanganen (Nidus edulis)<br />

einmal abgesehen. In wenigen Jahren explodierte<br />

die Anzahl der verfügbaren „Vogelmittel“<br />

auf mehr als 160, und in zahllosen<br />

Veröffentlichungen wird über deren typische<br />

Eigenheiten in der Heilweise spekuliert. Allerdings<br />

und zum Glück ist in der gleichen<br />

Zeit auch etwa ein Drittel dieser Substanzen<br />

homöopathischen Arzneimittelprüfungen<br />

unterzogen worden (s. www.provings.info),<br />

deren Auswertung und Vergleiche allerdings<br />

noch ausstehen.<br />

Moderne Arzneimittelprüfungen sehen<br />

sich immer wieder einer pauschalen Kritik<br />

ausgesetzt, als sei es für eine homöopathische<br />

Quelle schon ein grundlegender Mangel,<br />

wenn ihr Autor noch am Leben ist. Dabei muß<br />

fairer Weise gesagt werden, daß eine große<br />

Zahl moderner Prüfungen methodisch sehr<br />

viel sauberer durchgeführt und genauer dokumentiert<br />

ist als die alten Prüfungen, auf die<br />

unsere klassische Materia Medica sich stützt.<br />

So hat Jeremy Sherr schon 1994 ein Buch veröffentlicht<br />

(„Die homöopathische Arzneimittelprüfung<br />

- Dynamik und Methode“ dt. 1998,<br />

Fagus Verlag), in welchem die Leitlinien für<br />

eine ordentliche Arzneimittelprüfung klar<br />

und nachvollziehbar niedergelegt sind. Daß<br />

die klassischen Prüfungen von Hahnemann<br />

und den meisten anderen der alten Meister<br />

nicht nach solch klaren Kriterien gearbeitet<br />

worden sind, ist bedauerlich aber nicht zu<br />

ändern. So ist die wenigstens einfache Verblindung<br />

bei den meisten alten Prüfungen<br />

nicht gegeben gewesen, die Filterung prüfertypischer<br />

Symptome durch geschulte Supervisoren<br />

ebenfalls selten. Und dennoch sind ihre<br />

Ergebnisse von Generationen HomöopathInnen<br />

erfolgreich umgesetzt worden.<br />

Auch heute gibt es eine Fülle an Arzneimittelprüfungen,<br />

die Sherrs Kriterien nicht<br />

standhalten und von vornherein nicht diesen<br />

Anspruch erheben. Vielmehr geht es vielen um<br />

eine Art der „Arzneimittelselbsterfahrung“,<br />

die mittels Einnahme der potenzierten Substanz,<br />

aber auch durch bloßen Kontakt („Kopfkissenprüfung“)<br />

oder Meditation erfolgen<br />

kann. Hier werden – entsprechend der Zielsetzung<br />

– überwiegend Gemütssymptome und<br />

Träume mehr oder weniger unsystematisch<br />

gesammelt und nach Themen zusammengestellt.<br />

Auch dieses Material kann natürlich mit<br />

in eine umfassende Mittelkenntnis einbezogen<br />

werden, reicht aber für den Aufbau einer<br />

in der Praxis brauchbaren Materia medica<br />

nicht aus.


famIlIen, natürlIche systeme und<br />

arzneImIttelprüfungen In der homöopathIe<br />

Im Grunde ist der Zank um die „richtige“<br />

und „klassische“ Arzneimittelprüfung<br />

in der Homöopathie überflüssig. Es würde<br />

völlig ausreichen, bei jedem Zitat oder jeder<br />

Repertorisation von Symptomen eine klare<br />

Quellenangabe zu machen, was ja im Zeitalter<br />

des Computers kein großes Problem darstellt.<br />

Dann haben alle BehandlerInnen die Möglichkeit,<br />

selbst zu bewerten und zu entscheiden,<br />

welche dieser Angaben sie verwerten wollen<br />

und welche nicht. An die Prüfungsleiter wäre<br />

lediglich die Forderung zu stellen, bei einer<br />

Veröffentlichung eine genaue Angabe zu machen,<br />

welche Substanz verwendet wurde und<br />

wo diese erhältlich ist, und mittels welcher<br />

Methodik die Prüfungsergebnisse gewonnen<br />

und bearbeitet wurden.****<br />

Viele der Schwächen der alten Prüfungen<br />

werden durch die Revision der Materia Medica,<br />

die zur Zeit in Arbeit ist und im vorletzten<br />

Heft dieser Reihe ausführlich dargestellt wurde,<br />

aufgedeckt und benannt werden. Heute<br />

können wir es gleich besser machen.<br />

Gute homöopathische Forschung zeichnet<br />

sich nicht durch die Befolgung bestimmter<br />

Dogmen aus, sondern durch Offenheit und<br />

Genauigkeit. Wir haben technische Möglichkeiten,<br />

von denen unsere Altvorderen nicht<br />

zu träumen gewagt hätten. Nutzen wir sie<br />

für gründliche und nachvollziehbare Dokumentationen<br />

von Prüfungen, Fällen und Hypothesenbildungen,<br />

damit unsere Kunst und<br />

Wissenschaft der Homöopathie ihr volles Potential<br />

entfalten kann und zur „Medizin der<br />

Zukunft“ wird, wie Hahnemann sie erträumt<br />

und vorbereitet hat.<br />

* Ernest A.Farrington – Clinical Materia<br />

Medica, Philadelphia 1887.<br />

Auch bei Stanton (1862-1950) finden sich<br />

Hinweise, daß es sinnvoll sein könnte, die Arzneimittel<br />

vergleichend in Familien zu studieren.<br />

Stanton nennt dabei Familien wie Halogene als<br />

chemische, Schlangen und Spinnen als tierische<br />

und Ranunculaceen und Solanaceen als<br />

pflanzliche Beispiele – also Familien in dem<br />

Sinne, wie sie auch heute verwendet werden.<br />

Nach Gypser, K.H. – Einführung zur Materia<br />

Medica Revisa, Methodik des Materia Medica<br />

Studiums, S.67. Stanton, L.M. One Way to Study<br />

the Materia Medica. CMA 43 (1905), 33-37.<br />

** Leesers Lehrbuch der Homöopathie, Hrsg.<br />

Martin Stübler, Erich Krug, II. Mineralische<br />

Arzneistoffe, Ulm 1988; V. Tierstoffe, Ulm 1961<br />

*** Sankaran beschreibt sein Vorgehen bei<br />

dieser Arbeit nachvollziehbar im ersten Band<br />

seiner „Einsichten ins Pflanzenreich“<br />

**** Versuche, alle diese Informationen<br />

verfügbar zu machen, sind die Websites von<br />

Jeremy Sherr (www.dynamis.edu) und Jörg<br />

Wichmann (www.provings.info).<br />

Jörg Wichmann<br />

Eigen 81<br />

D-51503 Rösrath<br />

www.provings.info<br />

11


12<br />

M assimo<br />

massImo mangIalavorIs<br />

“method of complexIty”<br />

eIne zusammenfassung von dr. med. ose heIn<br />

Mangialavoris Methode im Umgang<br />

mit der Homöopathie hat nach<br />

meinem Dafürhalten ein unserer Zeit weit vorausschauendes<br />

Verständnis ermöglicht und<br />

lässt eine Erkenntnis zu, die für mich sehr<br />

gute, auch für Kollegen nachvollziehbare Ergebnisse<br />

gebracht hat. Seine Methode hat zu<br />

einer inneren<br />

Landkarte von<br />

homöopathischenArzneifamilien<br />

mit<br />

ihren dazugehörigenThemen<br />

geführt,<br />

was mir und<br />

anderen zu einer<br />

enormen<br />

strukturellen<br />

Hilfe bei der<br />

Fa l l a n a l y s e<br />

und Verordnung<br />

der konstitutionellen<br />

Arznei geworden ist.<br />

Dieser Ansatz hat mich fasziniert, seit ich<br />

Massimo vor etlichen Jahren das erste Mal<br />

hörte. Am Beispiel der Gruppe der Drogen-<br />

Arzneien möchte ich erläutern, worin der Unterschied<br />

im Umgang mit seiner Methode zum<br />

früheren Vorgehen besteht.<br />

Früher haben wir alle die Arzneien einzeln<br />

gelernt, ich selbst kannte z.B. Opium als<br />

homöopathisches Arzneimittel relativ gut, andere<br />

wie Cannabis indica oder Agaricus schon<br />

weniger und von Anhalonium oder Psilocybe<br />

kannte ich, außer vielleicht ein paar Symptome,<br />

gar nichts. Dass diese Arzneien einer<br />

übergeordneten Gruppe zugerechnet werden<br />

konnten, weil sie generelle, ihnen allen gemeinsame<br />

Kennzeichen hatten, war mir völlig<br />

unbekannt. Bis dahin lernte jeder Unmengen<br />

von einzelnen Symptomen und versuchte,<br />

diese so gut es ging in den Maschen seines<br />

Gedächtnisses zu verankern. Die Themen der<br />

Drogen- Arzneien sollen hier exemplarisch<br />

das Vorgehen nach Massimo Mangialavoris<br />

Methode darstellen.<br />

Viele drogenä<br />

hnliche<br />

Arzneien haben<br />

das Thema<br />

Grenzen,<br />

Raum und<br />

Zeit, das ist<br />

ja hinreichend<br />

aus der Problematik<br />

bei Drogenmissbrauch<br />

bekannt, also<br />

aus der Toxi-<br />

Dr. med. Massimo Mangialavori<br />

kologie der<br />

S u b s t a n z e n.<br />

Viele dieser Substanzen haben auch einen allgemein<br />

bekannten analgetischen Effekt. Es<br />

lag insofern ebenfalls sehr nahe, dass Analgesie<br />

ein weiteres Thema der drogenähnlichen<br />

Arzneien ist. Des Weiteren fällt in der Rubrik<br />

“forsaken feeling, sensation of isolation” auf,<br />

daß immerhin 7 von nur 27 Arzneien der botanischen<br />

Gruppe der Drogen zuzurechnen<br />

sind (Complete Rep. 4.5). Diese Rubrik ist das<br />

Ergebnis von homöopathischen Arzneiprüfungen<br />

und deren klinischer Bestätigung. Aber<br />

vor Massimo ist kaum jemand auf die Idee gekommen,<br />

darin eine potentielle gemeinsame<br />

Thematik einer ganzen Gruppe zu erkennen.<br />

Einige weitere Themen, die Massimo für die<br />

Drogen erarbeitete, sind die fehlende Kontur<br />

der Ich- Identität sowie das Gefühl der<br />

Omnipotenz. Diese Themen sind sehr leicht


nachvollziehbar in Bezug auf die Gruppe der<br />

Drogen, denn sie tauchen sowohl in der toxikologischen<br />

Beschreibung, als auch in der<br />

Arzneiprüfung auf.<br />

Arzneien, die fundamentale Themen aufweisen<br />

(z.B. die der Drogen) und so zutreffend<br />

charakterisiert<br />

sind und eine gewisse<br />

Allgemeingültigkeit der<br />

Themen haben, können<br />

zu Gruppen zusammengefasst<br />

werden. So entsteht<br />

eine innere Landkarte,<br />

anhand derer<br />

wir die Arzneigruppe<br />

erkennen können. Ich<br />

weiß also, dass, wenn<br />

ich im Patienten die<br />

entsprechenden Themen<br />

als kennzeichnenden<br />

Ausdruck seines<br />

Zustandes vorfinde, ich<br />

nach einer drogenähnlichen<br />

Arznei suchen<br />

muss.<br />

<strong>Wenn</strong> der Patient<br />

also von Isolation spricht, seine Identität nicht<br />

klar fassen kann (z.B.: ich weiß nicht genau,<br />

wo ich aufhöre und der Andere anfängt, oder:<br />

bei Tisch ist mein Mann da und doch nicht<br />

da), und er Zeichen im Sinne von Schmerzbetäubung<br />

zeigt, in welcher Ebene auch immer<br />

(z.B. ist das Symptom: Schmerzlosigkeit von<br />

üblicherweise schmerzhaften Beschwerden<br />

im Wesentlichen in seiner Aussage identisch<br />

mit: er nimmt nichts wahr von seinem eigenen<br />

Knie-Schmerz, wenn er über den Hof läuft,<br />

aber von außen sieht man, wie sehr es ihm<br />

weh tut), dann denke ich seitdem an die Gruppe<br />

der drogenähnlichen Arzneien. Ich habe<br />

verstanden, dass sich ein zentrales Thema in<br />

massImo mangIalavorIs<br />

“method of complexIty”<br />

mehreren Ebenen, in vielschichtiger Weise<br />

zeigt und doch die selbe Aussage haben kann,<br />

hier z.B.: Betäubung, und dass logischerweise<br />

dafür dann nicht nur Opium in Betracht zu<br />

ziehen ist, sondern alle Arzneien, die einen<br />

inneren Zusammenhang mit diesem Mechanismus<br />

der Betäubung<br />

aufweisen. Diese Methode<br />

ersetzt selbstverständlich<br />

nicht die<br />

Repertorisation, sondern<br />

sie dient einem<br />

neuen, umfassenden<br />

Verständnis.<br />

<strong>Wenn</strong> nun unter den<br />

mir bekannten Arzneien<br />

dieser Gruppe keine<br />

wirklich passt, oder<br />

ich die mir bekannten<br />

ohne Erfolg gegeben<br />

habe, dann braucht<br />

der Patient immer noch<br />

eine drogenähnliche<br />

Titelbild von Massimos Buch Arznei, aber ich kenne<br />

„Solanaceae“ / Narayana-Verlag<br />

sie vielleicht nicht. Das<br />

Geniale ist also, dass<br />

ich WEIß, ich muss eine solche Arznei suchen,<br />

eine Droge oder drogenähnliche Substanz,<br />

die ich vielleicht noch gar nicht kenne. Früher,<br />

bevor Massimo diese innere Landkarte<br />

entwickelt hatte, haben wir wieder am Punkt<br />

Null angefangen mit der Arzneisuche, wenn<br />

eine Arznei nicht den gewünschten Heilerfolg<br />

hatte, und das gesamte Spektrum unseres Arzneischatzes<br />

kam potentiell wieder in Frage,<br />

während man nun gezielt suchen kann, weil<br />

es einfach klar ist, dass nur eine Substanz mit<br />

diesen drogenähnlichen Qualitäten in Frage<br />

kommt.<br />

13


14<br />

Das Konzept der<br />

homöopathischen Familien<br />

Dieses Konzept ist für Massimo eine Möglichkeit<br />

unter vielen Ordnungsprinzipien (wie<br />

auch das Konzept der Miasmen, der Naturreiche<br />

oder akademische Klassifikationen wie<br />

in der Botanik etc.). In der Praxis hat es sich,<br />

wie oben beschrieben, jedoch als sehr sinnvoll<br />

erwiesen, diese homöopathischen Arznei-<br />

Familien mit ihren kennzeichnenden Themen<br />

herauszuarbeiten. Durch diese Strukturierung<br />

in “Arznei -Familien” hat Massimo eine<br />

neue Perspektive der Ordnung von Arzneien<br />

ermöglicht und der Erkenntnisgewinn sowie<br />

der daraus resultierende Erfolg bei der Behandlung<br />

der Patienten ist enorm.<br />

Die Familien ergeben sich:<br />

1. aufgrund der gemeinsamen Themen<br />

(so gehören z.B. Aether und Hydrogen,<br />

obwohl es Gase sind, zu den drogenähnlichen<br />

Arzneien, weil sie zentrale<br />

Themen wie die der Isolation und der<br />

Grenzen sowie der Analgesie mit den<br />

pflanzlichen Drogen gemeinsam haben),<br />

und andererseits:<br />

2. aufgrund des Zusammenhanges der<br />

Ausgangssubstanzen (z.B. die Gruppe<br />

der Spinnen oder die der Schlangen<br />

oder die der Lilien…)<br />

Wie kommt Massimo nun<br />

zu den Themen und wie bildet<br />

er eine Arznei-Familie?<br />

Was ist das Gemeinsame, was sind die Themen<br />

und was unterscheidet die eine von der<br />

anderen Arznei (im Folgenden wieder dargestellt<br />

am Beispiel der Gruppe der Drogen)?<br />

Dazu ist die theoretische Struktur der<br />

“method of complexity” von Massimo Mangialavori<br />

hilfreich, die sich wie folgt gliedert:<br />

massImo mangIalavorIs<br />

“method of complexIty”<br />

A) Studium des inneren Zusammenhanges<br />

der Aspekte einer Substanz durch:<br />

• Studium der Substanz an sich, ihre<br />

Beschreibung, chem. Eigenschaften<br />

(z.B. die von Opium, Psilocybe, Anhalonium<br />

etc.)<br />

• Studium der Toxikologie und der<br />

traditionellen Verwendung einer<br />

Substanz (der Drogenrausch, der<br />

Betäubungseffekt u.s.w)<br />

• Studium der mythologischen Dimensionen,<br />

Legenden und ritueller<br />

Gebrauch (Verwendung der Droge<br />

in früheren Zeiten und Kulturen<br />

zum Zweck der Bewußtseinserweiterung,<br />

Aufhebung der alltäglichen<br />

Raum-Zeit-Grenzen zur Erweiterung<br />

der religiösen/spirituellen Erkenntnis<br />

durch rituellen Einsatz dieser<br />

Substanzen)<br />

B) Organisation der Symptome nach ihrem<br />

innerem Zusammenhang, resultierend<br />

aus AMP und zuverlässiger klinischer<br />

Erfahrung (bei Arzneien aus<br />

der Gruppe der drogenähnlichen Arzneien<br />

fallen einem dann z.B. viele Symptome<br />

auf, die sich durch den Begriff<br />

„Analgesie“ kennzeichnen lassen und<br />

ordnet sie diesem inneren Zusammenhang<br />

zu).<br />

C) Erforschen der “Überlebens- Strategien”<br />

dieser Substanz, und, welche Strategie<br />

ein Mensch (bzw. ein anderes<br />

biologisches System), der diese Substanz<br />

als Heilmittel benötigt, bewusst<br />

oder unbewusst gewählt hat, um sein<br />

Überleben zu sichern. (Bei dem Beispiel<br />

der Drogen wäre eine Überlebensstrategie<br />

z.B. die, der Schmerzvermeidung<br />

durch (Selbst)betäubung,<br />

um arbeitsfähig zu bleiben.


D) Die Definition der fundamentalen,<br />

wichtigsten “Themen” einer Arznei als<br />

Resultat der Erkenntnisse aus Punkt A<br />

bis C.<br />

E) Die mögliche Beziehung zu anderen<br />

Arzneien, basierend auf diesen möglichen<br />

gemeinsamen Themen (Konzept<br />

der homöopathischen Familie).<br />

F) Zuverlässige klinische Bestätigung mit<br />

Langzeitverlauf<br />

unter einer Arznei.<br />

Dieses Vorgehen<br />

macht die Vielschichtigkeit<br />

im Ergebnis<br />

aus und führt zu den<br />

fundamentalen, charakteristischenThemen<br />

einer Substanz.<br />

Entsprechend dem<br />

“model of complexity”<br />

ist es von grundlegender<br />

Bedeutung,<br />

den inneren Zusammenhang<br />

(Kohärenz)<br />

und die Ähnlichkeit<br />

zwischen der Substanz, dem Arzneimittel<br />

und der erfolgreichen klinischen Anwendung<br />

(klinische Evidenz) durch Verlaufsbeobachtungen<br />

von Patienten, die mehrere Jahre ausschliesslich<br />

mit einer Arznei behandelt wurden,<br />

herauszuarbeiten.<br />

Dabei ist eine Arznei nicht nur das Resultat<br />

einer lege artis durchgeführten Arzneimittel-Prüfung<br />

(AMP) mit guter Analyse der Prüfung,<br />

sondern es sollte ebenso eine Hypothese<br />

über den möglichen Gebrauch einer Substanz<br />

(d.h. für die Behandlung welcher Organe und<br />

Krankheiten ist die Substanz voraussichtlich<br />

von Nutzen), aufgestellt werden. Diese Hypothese<br />

ergibt sich aus Informationen der<br />

massImo mangIalavorIs<br />

“method of complexIty”<br />

Titelbild von Massimos Buchreihe<br />

„PRAXIS, Bd. 1+2“ / Narayana-Verlag<br />

Toxikologie, der traditionellen Verwendung<br />

sowie den Schwerpunkten der Wirksamkeit<br />

aus AMP und klinischer Bestätigung, und<br />

zwar anhand lang beobachteter Fälle in grosser<br />

Anzahl.<br />

Diese Kohärenz basiert auf:<br />

• der pathogenetischen Aktivität und/<br />

oder toxikologischen Wirkung einer<br />

Substanz auf ein biologisches System.<br />

logischen Systems.<br />

• dem Studium<br />

der ethno-antropologischenInformationen,<br />

der<br />

Geschichte, Mythen<br />

und Legenden<br />

sowie der<br />

trad it ionel len<br />

Verwendung.<br />

• der Ähnlichkeit<br />

zwischen<br />

den wichtig-sten<br />

Anpassungs-Strategien<br />

einer Substanz<br />

und den<br />

wichtigsten Strategien<br />

eines bio-<br />

Wie schon Hahnemann uns nahe brachte,<br />

geht es darum, dass Ähnlichkeit ein komplexes<br />

Modell meint, das NICHT auf einzelnen<br />

Symptomen basiert, sondern auf einer OR-<br />

GANISATION von Symptomen. Ähnlichkeit ist<br />

also eine Organisation von Symptomen mit<br />

innerem Zusammenhang (Kohärenz). Insofern<br />

ist es ein rationales Modell, um die Wirksamkeit<br />

einer Substanz mit Hilfe einer Arzneiprüfung<br />

sowie den Beweis ihrer Effizienz in<br />

der klinischen Anwendung zu demonstrieren.<br />

Mit der Methode Massimo Mangialavoris<br />

zu arbeiten bedeutet u.U. eine gewisse Umstel-<br />

15


16<br />

lung der Denkgewohnheiten. Sein Denkansatz<br />

fordert uns auf, das analytische Vorgehen um<br />

die analoge Betrachtungsweise zu erweitern.<br />

Die philosophische Diskussion darüber wäre<br />

sehr interessant, würde aber diesen Rahmen<br />

sprengen und muss daher an anderer Stelle<br />

geführt werden.<br />

Das Besondere an der Methode ist, dass<br />

man mit diesem System in die Lage kommt,<br />

mit der Zeit auch selbst die Strukturen, die<br />

zu einer Arzneigruppe gehören, erarbeiten<br />

zu können. So haben sich mir z.B. die<br />

Magnesium-Salze erschlossen. Ausgehend<br />

von dem traditionellen Gebrauch des Magnesiums,<br />

bei Wadenkrämpfen sowie von der<br />

bekannten Indikation der homöopathischen<br />

Gabe von Magnesium- Salzen bei Krämpfen<br />

verschiedenster Lokalisation, schälte sich<br />

beim Studium nach Massimos oben genannter<br />

Methode z.B. das Thema der „Spannung“<br />

heraus. Wadenkrämpfe als Ausdruck maximaler<br />

Spannung auf körperlicher Ebene, das<br />

Bedürfnis nach Frieden und Harmonie als<br />

Strategie der Vermeidung von Spannung auf<br />

emotionaler Ebene, das bekannte Phänomen<br />

des peacemakers für Magnesium... Krieg als<br />

Ausdruck polarer Spannung zweier gegnerischer<br />

Parteien ist unerträglich. Ein weiteres<br />

Thema ist die Identifikation über die Gruppenzugehörigkeit.<br />

Freunde sind neben der<br />

Familie am Wichtigsten, weil der potentielle<br />

Verlust der primären Bezugspersonen (bekanntes<br />

Waisenkind-Gefühl bei Magnesium,<br />

Verlassenheits-Thema) über die Gruppe und<br />

das Team kompensiert wird. Mannschaftssport<br />

und Teamgeist ist daher wichtiger als<br />

Einzelsport. Die Zugehörigkeit zur Gruppe<br />

ist hier Ausdruck der Überlebensstrategie<br />

und hat deshalb weit größere Bedeutung bei<br />

Menschen, die eine Magnesium-Verbindung<br />

benötigen als bei anderen. Dies nur als kleines<br />

Beispiel.<br />

massImo mangIalavorIs<br />

“method of complexIty”<br />

Ein homöopathisches Arzneimittel, hergestellt<br />

aus einer Droge wie z.B. Agaricus<br />

oder einer Spinne wie Latrodectus mactans<br />

spiegelt ganz andere zentrale Themen als<br />

ein Magnesium-Salz. Das Leben eines Homöopathen<br />

vereinfacht sich ungemein, wenn<br />

z.B. diese 3 Arzneien für einen Patienten mit<br />

Rhythmusstörungen bei der Repertorisation<br />

in die engere Wahl kommen. Nun haben<br />

wir die Möglichkeit, auch in Arzneifamilien<br />

zu denken anstatt nur auf das einzelne Arzneimittel<br />

zu schauen. Diese Methode führt<br />

zu vielschichtiger, lebendiger Kenntnis und<br />

Erkenntnis, sowohl bei der Arznei in ihren<br />

verschiedenen Dimensionen, als auch bei<br />

dem Patienten in seiner komplexen Struktur.<br />

Und wissen Sie was? Auf diese Art ein tieferes<br />

Verständniss zu erlangen macht einfach<br />

Freude – mir jedenfalls. Das Wichtigste aber<br />

ist, dass dadurch die Verschreibung der konstitutionellen<br />

Arznei viel besser gelingt. Darin<br />

liegt ihre überragende Qualität in der Praxis,<br />

“...damit unser innewohnender, vernünftiger<br />

Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werkzeugs<br />

frei zu dem höhern Zwecke unseres Daseins<br />

bedienen kann” (§9, Organon).<br />

Darum geht es doch, ist es nicht eines der<br />

fundamentalen Themen im Leben eines Homöopathen<br />

und des Lebens überhaupt.<br />

Dr. med. Ose Hein<br />

Schaalgasse 16<br />

CH-4500 Solothurn


D as<br />

dIe empfIndung In der homöopathIe –<br />

Konzept nach dr. raJan sanKaran<br />

Konzept Rajan Sankarans ist ein umfassendes<br />

System, um das zu Heilende<br />

an der Krankheit zu erkennen (Hahnemann).<br />

Wesentliche Aspekte sind die so genannte Vitalempfindung,<br />

das Konzept der 7 Levels, die<br />

Differenzierung der Arzneireiche und Sankarans<br />

erweitertes Miasmenkonzept.<br />

Zum Begriff “Empfindung”<br />

Schon Hahnemann spricht im § 11 des<br />

Organons von „widrigen Empfindungen als<br />

Ausdruck der Krankheit“ und führt weiter aus,<br />

dass „nur durch diese Wirkungen, die an sich<br />

unsichtbare Krankheit zu erkennen ist.“<br />

Was ist eine Empfindung?<br />

Eine Empfindung ist das, was wir unmittelbar<br />

körperlich wahrnehmen. Alles, was über<br />

die Nerven als Sinneseindruck vermittelt wird,<br />

was wir spüren, fühlen, alles, was wir an uns,<br />

bzw. in uns registrieren, bezeichnen wir als<br />

Empfindung. Sei es eine Berührung, die wir<br />

angenehm oder unangenehm wahrnehmen,<br />

sei es die brennende Empfindung, wenn wir<br />

mit etwas zu Heißem in Kontakt kommen oder<br />

die klirrende Kälte eines Wintertages, die wir<br />

im Gesicht spüren.<br />

Empfindung meint nicht Gefühle. Gefühle,<br />

Emotionen sind lediglich Ausdrucksformen<br />

der Empfindung auf einer untergeordneten<br />

Ebene. <strong>Wenn</strong> jemand sich den Kopf an einer<br />

Kante anschlägt, so mag er sich darüber ärgern.<br />

Der Ärger, die Emotion, ist dabei nur<br />

Ausdruck der Schmerzempfindung, aber nicht<br />

die nerval vermittelte Empfindung. <strong>Wenn</strong> wir<br />

also beim Patienten auf Emotionen stoßen,<br />

seien es Angst, Ärger, Zorn, Wut usw., dürfen<br />

dr. med. WIllIbald neuhold<br />

wir es nicht dabei belassen, sondern es ist<br />

wichtig, die Empfindung dahinter zu erfragen.<br />

Empfindung ist somit etwas, was umfassender<br />

ist, zentraler, etwas, was den ganzen<br />

Menschen durchdringt.<br />

Vitalempfindung<br />

Als Vitalempfindung wird die zentrale<br />

Empfindung bezeichnet, die sich sowohl körperlich<br />

als auch auf seelisch-geistiger Ebene<br />

in gleicher Weise zeigt. Vitalempfindung ist,<br />

im Gegensatz zur Lokalempfindung, ein umfassendes<br />

Phänomen.<br />

Die Vitalempfindung ist unmittelbarer Ausdruck<br />

dessen, was wir Krankheit nennen. Sie<br />

rührt her von einer tiefen, zugrunde liegenden<br />

Störung. Diese zentrale Störung ist etwas, was<br />

jenseits von Körper und Geist liegt. Sie drückt<br />

sich lediglich auf der mentalen und körperlichen<br />

Ebene aus. Und sie tritt auf allen Ebenen<br />

gleichermaßen in Erscheinung. Krankheit als<br />

affizierte Lebenskraft ist nicht etwas, was sich<br />

aus einzelnen Symptomen zusammensetzt,<br />

sondern es ist diese zentrale Störung, die sich<br />

in den Symptomen, seien es körperliche oder<br />

mentale, immer gleichermaßen äußert.<br />

Eine Empfindung, die die Gesamtperson<br />

betrifft, geht über das Lokale hinaus und ist<br />

permanent vorhanden. Sie ist nicht zeitlich<br />

begrenzt und wird als generalisierte Empfindung<br />

oder Vitalempfindung bezeichnet. Die<br />

Vitalempfindung ist allgegenwärtig, durchdringt<br />

unser ganzes Sein und verschafft<br />

sich permanent Ausdruck. Sie prägt unsere<br />

Wahrnehmung der Realität, bestimmt unser<br />

Handeln und Fühlen, lässt uns Dinge tun und<br />

17


18<br />

dIe empfIndung In der homöopathIe –<br />

Konzept nach dr. raJan sanKaran<br />

andere vermeiden, erzeugt Begehrlichkeiten<br />

und Abneigungen.<br />

Unsere Aufgabe ist es, hinter den Phänomenen,<br />

die unser scheinbar individuelles Sein<br />

ausmachen, die Vitalempfindung zu erkennen.<br />

Die Sprache<br />

oder Ausd<br />

r uck s for m<br />

dieser zentralen<br />

Störung<br />

ist eine, die<br />

über das rein<br />

Menschliche<br />

h i n a u s g e h t .<br />

Im Hinhören<br />

auf diese fremde<br />

Sprache<br />

lernen wir die<br />

Störung zu erkennen.<br />

Das<br />

heißt auch,<br />

dass dieses<br />

Fremdartige<br />

im Menschen,<br />

die Krankheit<br />

ist. Diese fremde<br />

Sprache ist<br />

gleichzeitig die<br />

Sprache der jeweiligen Arznei.<br />

Die Empfindung ist ein Erleben. Das, was<br />

wir hinter all dem, wer wir sind und was wir<br />

fühlen, träumen oder tun, erleben und spüren,<br />

ist unsere innerste Wahrheit. Dieses Erleben<br />

der Empfindung, das Erfahren dieser Empfindung<br />

ist das, was uns zu dem macht, was<br />

wir sind, wie wir fühlen, handeln und agieren.<br />

Das, was wir tief in unseren Knochen spüren,<br />

was wir in Situationen und Träumen er-<br />

Rajan Sankaran<br />

leben, was wir oft nicht ausreichend in Worte<br />

oder Bilder bringen können, das ist die innerste<br />

Empfindung.<br />

Es ist das Drücken in der Magengrube,<br />

wenn uns eine Angst befällt.<br />

Es ist der<br />

Drang, jemanden<br />

zu würgen,<br />

wenn wir<br />

wütend sind.<br />

Es ist das Gefühl,<br />

dass alles<br />

auseina nder<br />

f ä l lt, wenn<br />

wir schlimmen<br />

Kummer<br />

haben. Es ist<br />

der bohrende<br />

Schmerz im<br />

Rücken.<br />

Die Vitale<br />

mpf i ndu ng<br />

ist ein Erleben,<br />

und das kann<br />

nicht ausreichend<br />

in Worte<br />

gefasst werden.<br />

Es braucht eine andere Ausdrucksform,<br />

die mehr energetischer Natur ist, wie zum Beispiel<br />

Gesten, Bewegungen, Lautmalerei usw.<br />

Durch das Fokussieren auf diese energetischen<br />

Ausdrucksformen gelingt es, zur zentralen<br />

Störung vorzudringen. Gesten sind somit<br />

wie eine Geheimtür, die zur tiefen Wahrheit<br />

führt.<br />

Die Idee der Methode ist es, zum Zentrum<br />

der Störung zu kommen. Ist das Zentrum er-


dIe empfIndung In der homöopathIe –<br />

Konzept nach dr. raJan sanKaran<br />

reicht, fügt sich alles in der Peripherie. Alles<br />

arrangiert sich, und das Bild der Krankheit<br />

wird klar.<br />

Um dieses Ziel zu erreichen, sind reine Beobachtung<br />

und eine vorurteilslose Befragung<br />

erforderlich (Organon § 83).<br />

Ausgangspunkt, um den Prozess zu beginnen,<br />

ist die Hauptbeschwerde. Das, was den<br />

Patienten am meisten stört, führt am ehesten<br />

zur Vitalempfindung. Die Hauptbeschwerde<br />

ist gleichsam der Kristallisationspunkt der<br />

Vitalempfindung. Die Hauptbeschwerde wird<br />

solange hinterfragt, bis die Vitalempfindung<br />

zu Tage tritt. Dann erst wird diese durch<br />

Befragung anderer Aspekte des Patienten<br />

verifiziert (z. B. Träume, Hobbies, Lebenssituationen<br />

etc.). Erst wenn sich immer wieder<br />

dieselbe Empfindung zeigt, kann man sicher<br />

sein, die Vitalempfindung und somit das zu<br />

Heilende erkannt zu haben.<br />

Die 7 Ebenen<br />

Sankaran postuliert sieben Ebenen des<br />

Erlebens:<br />

• Ebene 1: Name, Diagnose<br />

• Ebene 2: Fakten, Lokalsymptome<br />

• Ebene 3: Emotion<br />

• Ebene 4: Wahnidee, Imagination, Situation,<br />

Träume<br />

• Ebene 5: Empfindung<br />

• Ebene 6: Energie<br />

• Ebene 7: Die Siebte<br />

Die Siebte Ebene ist der Anfang. Sie ist<br />

wie eine leere Tafel, auf der alles Geschehen<br />

seinen Ausgang nimmt. Die Vitalempfindung<br />

äußert sich als dynamisch – energetisches<br />

Muster auf der Ebene der Energie. Auf der<br />

Ebene 5 finden wir die spezifische Empfindung.<br />

Hier bestimmen wir auch die Arznei.<br />

Dann bahnt sich die Vitalempfindung ihren<br />

Weg auf die folgenden Ebenen und drückt sich<br />

als Wahnidee aus, als Emotion, als funktionelle<br />

oder als strukturelle Pathologie auf der<br />

Ebene der Fakten und auf der ersten Ebene als<br />

Name oder Diagnose.<br />

Das Konzept der Ebenen ist ein probates<br />

Mittel, um während der Anamnese Orientierung<br />

und Klarheit zu haben. Äußert der Patient<br />

eine Emotion, wie zum Beispiel Angst, so<br />

ist klar, es handelt sich um eine Äußerung<br />

der 3. Ebene. Das heißt, es ist kein Symptom,<br />

das die Arznei erkennbar macht, sondern ist<br />

lediglich Ausdruck der Störung auf Ebene 3.<br />

Erst die Befragung der Angst offenbart das<br />

Erleben, -was immer eine Empfindung ist- und<br />

führt uns auf die tieferen Ebenen, wo dann die<br />

Vitalempfindung zu erkennen ist.<br />

Jeder Mensch befindet sich in seinem alltäglichen<br />

Sein auf einer der Ebenen. Entsprechend<br />

dieser Zuordnung lässt sich auch die<br />

Potenzwahl bestimmen.<br />

Potenzzuordnung:<br />

• Ebene 1: C 6<br />

• Ebene 2: C 30<br />

• Ebene 3: C 200<br />

• Ebene 4: 1 M<br />

• Ebene 5: 10 M<br />

• Ebene 6: 50 M<br />

• Ebene 7: CM<br />

Ebene 1: die Störung manifestiert sich<br />

als diagnostisches Problem, es findet sich eine<br />

ausgeprägte Pathologie mit wenigen oder gar<br />

keinen Symptomen. Keine Träume.<br />

Ebene 2: die Störung manifestiert sich<br />

auf lokaler Ebene, es finden sich Lokalsymptome<br />

und entsprechende lokale Modalitäten.<br />

Träume gelegentlich, sehr faktenbezogen.<br />

Fortsetzung auf Seite 22<br />

19


22<br />

Fortsetzung von Seite 19<br />

dIe empfIndung In der homöopathIe –<br />

Konzept nach dr. raJan sanKaran<br />

Ebene 3: die Störung drückt sich vorwiegend<br />

auf der Gefühlsebene aus. Schwergewicht<br />

liegt auf den Ängsten, die von der<br />

Symptomatik ausgelöst werden. Emotional<br />

betonte Träume.<br />

Ebene 4: die Störung zeigt sich als Vorstellung,<br />

Bild. Das situative Erleben ist ausgeprägt.<br />

Träume zeigen Bilder, Wahnideen.<br />

Allgemeine Modalitäten.<br />

Ebene 5: Die Störung manifestiert sich<br />

als allgemeine, generell erlebte Empfindung.<br />

Träume: die Empfindung ist spürbar.<br />

Neben der Möglichkeit, die Potenzwahl<br />

exakt zu treffen, geben die Ebenen auch ein<br />

Werkzeug zur Hand, um Aussagen über den<br />

Verlauf und die Prognose der Krankheit machen<br />

zu können.<br />

Die heilende Arznei muss eine Dynamik<br />

auslösen, die den Verlauf der Krankheit weg<br />

von den unteren Ebenen der Diagnose und Pathologie,<br />

hin zu den höheren Ebenen bewirkt.<br />

Ein umgekehrter Verlauf hin zu den tieferen<br />

Ebenen wäre ein Zeichen eines falschen<br />

Geschehens und bedarf einer Revision.<br />

Differenzierung der Arzneireiche<br />

Die Vitalempfindung der unterschiedlichen<br />

Reiche unterscheidet sich signifikant.<br />

Pflanzliche Arzneien sind geprägt von<br />

Sensitivität und Reaktivität. Dinge im Außen<br />

bewirken eine Veränderung. Pflanzen müssen<br />

sich an ihre Umwelt anpassen, adaptieren. Sie<br />

reagieren auf Wetterveränderungen, klimatische<br />

Bedingungen, Trockenheit usw.<br />

Die Person ist leicht zu beeinflussen und etwas<br />

verändert sich in ihr. Empfindsamkeit, Sensitivität<br />

und Feinfühligkeit stehen im Zentrum.<br />

Bei Pflanzen lässt sich in der Regel alles<br />

auf eine Empfindung und ihr Gegenteil reduzieren.<br />

Jede Pflanzenfamilie ist durch eine<br />

ganz spezifische Empfindsamkeit charakterisiert.<br />

Zum Beispiel erzeugt bei den Anacardiaceae,<br />

was immer im Außen passiert, eine<br />

Empfindung von wie gefangen, blockiert oder<br />

eingesperrt zu sein. Verlangen und Besserung<br />

durch Bewegung ist Ausdruck der Reaktion<br />

auf diese Empfindung.<br />

Andere haben eine Wirkung auf den Betroffenen,<br />

zum Beispiel, ich kann das Schreien<br />

nicht ertragen, ich muss das Haus verlassen.<br />

Etwas geschieht im Außen und es kommt zu<br />

einer Reaktion. Eine Empfindung ruft eine<br />

Reaktion hervor.<br />

Mineralische Arzneien hingegen haben<br />

das Problem in sich. Ihre Vitalempfindung<br />

hat zu tun mit Mangel an Struktur, es fehlt<br />

etwas, sie haben eine mangelnde Funktion<br />

oder es droht Struktur verloren zu gehen. Es<br />

geht um Themen wie Stabilität, Vollständigkeit<br />

und Verlust.<br />

Wie chemische Elemente nach Sättigung<br />

ihrer Elektronenschalen trachten, versucht<br />

der mineralische Patient sein inneres, strukturelles<br />

Defizit auszugleichen und zu ergänzen.<br />

Tierische Arzneien:<br />

Fokus hier ist das Thema Überleben. Es<br />

geht um das Überleben in einer feindlichen<br />

Umgebung, man muss sich nicht nur gegen<br />

äußere Feinde durchsetzen, sondern auch<br />

innerhalb der eigenen Spezies. Die Vitalempfindung<br />

dreht sich um Themen wie Opfer/Aggressor,<br />

überlegen, unterlegen, wer ist oben,<br />

wer ist unten, Hierarchie, Reproduktion und<br />

Erhaltung der Art. Einer gegen den anderen,<br />

ich versus du. Das Problem ist der Andere, wohingegen<br />

bei den mineralischen Arzneien das<br />

Problem in der Person liegt.


dIe empfIndung In der homöopathIe –<br />

Konzept nach dr. raJan sanKaran<br />

Oft wird auch der Körper zum Gegner. Die<br />

Beschwerden werden beschrieben, als ob diese<br />

gegen die Person gerichtet wären: der Körper<br />

beherrscht mich. Der Kopfschmerz dominiert<br />

mein Leben. Attraktivität, Wachsamkeit,<br />

wer ist der Stärkere, wer ist der Schwächere<br />

sind weitere Aspekte tierischer Arzneien.<br />

Bei tierischen Arzneien sind die Empfindungen<br />

Teil eines Prozesses. Dieser Prozess<br />

korrespondiert mit den biologischen Fakten<br />

eines Tieres.<br />

Miasmen:<br />

Sankaran erweiterte das Miasmenkonzept<br />

auf insgesamt zehn Miasmen. Das Bestreben<br />

dabei war, ein Werkzeug zur Hand zu haben,<br />

eine genauere Landkarte zu erhalten, um Arzneien<br />

noch besser differenzieren zu können.<br />

Neben Psora, Sykose und Syphilis finden sich<br />

nun einige Zwischenstufen:<br />

• Akutes Miasma<br />

• Typhus Miasma (zwischen Akut und<br />

Psora)<br />

• Ringworm Miasma (zwischen Psora<br />

und Sykose)<br />

• Malaria Miasma (zwischen Akut und<br />

Sykose)<br />

• Krebs-, Tuberkulose- und Lepra Miasma<br />

(alle zwischen Sykose und Syphilis)<br />

Der Begriff Miasma ist untrennbar mit der<br />

Empfindung verbunden. Die Empfindung ist<br />

das „Was“ der Störung und das Miasma ist das<br />

„Wie“. Was wir spüren, wahrnehmen, erleben,<br />

ist die Empfindung. Die Intensität, das Wie,<br />

ist das Miasma. Die Empfindung „beengend“<br />

kann z.B., akut bedrohend, akzeptierbar oder<br />

zerstörend sein. Das Miasma gibt auch Auskunft<br />

über den Grad der Hoffnung, bzw. über<br />

den Grad der Verzweiflung. Die destruktiven<br />

Miasmen sind gekennzeichnet durch Zerstörung<br />

und große Verzweiflung, die Miasmen<br />

mit psorischen Anteilen hingegen sind hoffnungsvoller<br />

und optimistischer.<br />

Das Konzept der Empfindung ist ein ausgereiftes<br />

System, das auf den Grundprinzipien<br />

der Homöopathie aufbaut und eine faszinierende<br />

Reise zu tieferen Schichten der Person<br />

ermöglicht. Symptome sind nicht länger eine<br />

nicht zusammenhängende Ansammlung von<br />

Phänomenen, sondern werden Teil einer klaren<br />

Erkenntnis dessen, was Krankheit ist und<br />

worin die Heilkraft der Arznei besteht. Die<br />

Methode ist gut lehr- und lernbar und rasch<br />

in die tägliche Arbeit zu integrieren.<br />

Praxis Dr. Willibald Neuhold<br />

Scheigergasse 190<br />

8042 Graz<br />

Telefon: 0316 - 464684<br />

Fax: 0316 - 464684 - 5<br />

E-Mail: office@willibaldneuhold.at<br />

oder c.neuhold@hotmail.com<br />

23


24<br />

Vorbemerkung<br />

dIe sehgal-methode oder<br />

dIe angst vor der vIerten Warze<br />

von dr. med. eKKehard von secKendorff<br />

Da ich einen Artikel über die Sehgal-Methode<br />

schreiben soll, möchte ich mich hier<br />

mit einem fiktiven Gesprächspartner beraten.<br />

Konrad ist ein Freund von mir, der sehr solide<br />

mit der Boger-Methode arbeitet, und der<br />

voller Skepsis meine Arbeit mit der Sehgal-<br />

Methode beobachtet.<br />

Ihn ziehe<br />

ich also zu<br />

Rate, damit ich<br />

nicht in meiner<br />

Begeisterung<br />

für die Sehgal-<br />

Methode den<br />

Mund zu voll<br />

nehme.<br />

V S : A l s o ,<br />

Konrad Hofmann,<br />

was halten<br />

Sie von der Sehgal-Methode?<br />

Konrad: Ich kenne Sie, Ekkehard, als<br />

jemand, der sich schnell für etwas begeistert.<br />

Deswegen meine Frage: Wie lange arbeiten Sie<br />

schon mit der Methode von Herrn Sehgal? Und<br />

haben Sie sich schon wieder für etwas Neues<br />

begeistert? Vielleicht für Sankaran oder für<br />

Scholten oder?<br />

VS: Seit 1977 arbeitete ich kontinuierlich<br />

mit dieser Methode und engagiere mich zusammen<br />

mit Sanjay und Yogesh Sehgal sowie<br />

mit Gerhardus und Eva Lang in vielen Seminaren<br />

für diese Methode; außerdem ist es mir<br />

durch Seminare gelungen, dass polnische<br />

v. links n. rechts: Sanjay Sehgal, M. L. Sehgal,<br />

Dr. med. Klaus Schamell<br />

Kollegen in Posen und Warschau mit dieser<br />

Methode erfolgreich arbeiten.<br />

Konrad: Hm, hm. Nächste Frage, die ich<br />

bei der Methode von Sehgal habe: ob nicht die<br />

Sehgal-Methode ein freies Schweifen der Fantasie<br />

in die Regionen einer mystischen Dunkelheit<br />

sein könnte, sozusagen eine Pseudo-<br />

Homöopathie?<br />

VS : Ich<br />

danke Ihnen,<br />

dass Sie überhaupt<br />

ei ne<br />

solche Frage<br />

zu dieser Methode<br />

haben,<br />

denn die meisten<br />

Kollegen<br />

lassen diese<br />

M e t h o d e<br />

u n v e r s t ä n d -<br />

l icher we i s e<br />

links liegen und haben überhaupt keine Frage.<br />

Seitdem ich mit der Sehgal-Methode arbeite,<br />

ist meine homöopathische Arbeit methodischer<br />

und sicherer geworden. Die Frage des<br />

Gemütszustandes eines jeweiligen Patienten<br />

bekam für mich eine sichere Grundlage.<br />

Konrad: Großartig!<br />

VS: Danke, ich kenne Ihre hintergründige<br />

Ironie aus vielen Diskussionen mit Ihnen...<br />

Konrad: Sie wollen also schlechterdings<br />

behaupten, dass Sie in den unergründlichen<br />

Tiefen des Seelischen sichere Anhaltspunkte<br />

finden und im gleichen Zug auf die Bestätigung<br />

von körperlichen Anzeichen verzichten?


dIe sehgal-methode oder<br />

dIe angst vor der vIerten Warze<br />

VS: Je länger ich in der Homöopathie arbeite,<br />

desto bescheidener bin ich geworden.<br />

Aber ich werde versuchen, Ihnen darzulegen,<br />

dass dies durch aufmerksames Zuhören und<br />

intelligentes Nachfragen möglich ist. Meine<br />

Erfolgs-Statistik möchte ich nicht veröffentlichen,<br />

das tut sowieso kein Homöopath!<br />

Aber ich habe viele Fälle, vor allem schwer<br />

zugängliche Fälle, mit dieser Methode lösen<br />

können, die ich sonst nie verstanden hätte.<br />

Die Sehgal-Methode ist geradezu ein Schlüssel,<br />

das Hauptproblem oder das Kernproblem<br />

des jeweiligen Kranken zu verstehen und in<br />

Rubriken umzusetzen.<br />

Konrad: Noch einmal: In der Sehgal-<br />

Homöopathie arbeitet man nur mit dem<br />

Gemüts-Kapitel der Repertorien und die Rubriken<br />

werden auch noch auf eine besondere<br />

Weise interpretiert. Beispielsweise wird in der<br />

Rubrik „Verlangen nach Licht“ nicht nur das<br />

Licht als solches gesehen, sondern das Licht<br />

wird zum Beispiel auf den Begriff der „Aufklärung“,<br />

also „Verlangen nach Aufklärung“<br />

umgemünzt. Das soll Sicherheit bringen, verliert<br />

man sich dann nicht in unüberprüfbaren<br />

Spekulationen?<br />

VS: Das kommt drauf an. Es kann passieren,<br />

dass man sich bei der Interpretation von<br />

den Äußerungen des Patienten und bei den<br />

Auslegungen der Rubriken in Spekulationen<br />

verliert. Das passiert aber nur dann, wenn<br />

man sich keine begriffliche Klarheit bezüglich<br />

der Bedeutung der Äußerungen des Patienten<br />

und der Bedeutung der Rubriken erworben<br />

hat; so etwas geschieht allerdings, wenn man<br />

nicht sein eigenes Denken geordnet hat, gelernt<br />

hat methodisch zu denken und die Altlast<br />

der Mediziner überhaupt überwunden hat, die<br />

der große Psychiater Bleuler in den zwanziger<br />

Jahren des letzten Jahrhunderts das „undisziplinierte<br />

Denken“ in der Medizin genannt hat.<br />

Dieses findet sich auch in homöopathischen<br />

Kreisen, wenn man nicht in der Lage ist, mal<br />

eine Zeit lang bei einer Methode zu bleiben,<br />

sondern einen Eklektizismus pflegt.<br />

<strong>Wenn</strong> diszipliniertes Denken vorhanden<br />

ist, dann kann man in jeder Geschichte eines<br />

Patienten, wie er sie erzählt, auf sein eigentliches<br />

Problem kommen, egal, ob er eine<br />

Mittelohrentzündung hat, also akut krank ist<br />

oder schon seit Jahren an einer chronischen<br />

Darmerkrankung oder an Schizophrenie<br />

leidet. Das Wichtigste ist: dass man in der<br />

Geschichte des Patienten das Wesentliche<br />

erkennt. Es handelt sich also um einen Erkenntnisprozess,<br />

der tatsächlich in der Rubrik<br />

„Verlangen nach Licht“ die Dimension<br />

des einfachen Lichtes erweitert. <strong>Wenn</strong> man<br />

das Problem des Patienten nicht im Spontan-<br />

Bericht findet, dann muss man sehr genau<br />

nachfragen, und zwar mit folgenden Fragen:<br />

„Was ist Ihr Hauptproblem, das Sie jetzt<br />

am meisten belastet?“ Und wenn das klar ist,<br />

werde ich den Patienten später fragen: „Wie<br />

gehen Sie mit Ihrem Problem um?“ und noch<br />

später werde ich ihn fragen: „Wie verarbeiten<br />

Sie Ihr Problem?“ Und wenn er dann zum<br />

Beispiel sagt: „Ich habe seit Jahren Rheuma.<br />

Ich würde mich freuen, wenn Sie das heilen<br />

oder lindern könnten. Aber wenn auch Sie das<br />

nicht hinkriegen, dann bin ich Ihnen nicht<br />

gram und werde mein Leiden akzeptieren, indem<br />

ich dann, wenn es nötig ist, Schmerzmittel<br />

nehmen werde.“ – Ich würde ihn fragen:<br />

„Sie akzeptieren ihr Leiden also in gewisser<br />

Weise?“ Und der Patient wird antworten: „Ja,<br />

was man nicht heilen kann, das muss man<br />

akzeptieren.“ – Dann habe ich den wesentli-<br />

25


26<br />

dIe sehgal-methode oder<br />

dIe angst vor der vIerten Warze<br />

chen Kern beim Patienten gefunden, nämlich,<br />

wie er sein Problem verarbeitet. Und das ist<br />

der Knackpunkt in der Sehgal-Methode; tiefer<br />

braucht man nicht in die Seelen-Struktur<br />

eines Patienten einzudringen. Natürlich kann<br />

man die Kindheit analysieren und wird vielleicht<br />

auf die Ursache dieser Einstellung stoßen.<br />

Wir aber bleiben<br />

im aktuellen<br />

und gegenwärtigen<br />

Gemütszustand, der<br />

erkannt und geheilt<br />

werden muss.<br />

Konrad: Und<br />

was haben Sie damit<br />

gewonnen?<br />

VS: Eine Haupt-<br />

Rubrik von Cocculus<br />

und Sanguinaria:<br />

„Erkennt alles, kann<br />

sich aber nicht bewegen<br />

(Katalepsie)“.<br />

Konrad: Das<br />

kann kein Mensch<br />

nachvollziehen!<br />

VS: Da kann ich Ihnen nur zustimmen!<br />

Das würde stimmen, wenn wir uns nicht mit<br />

der großen Leistung und dem Geist auseinander<br />

setzen, mit der Sehgal diese Rubrik<br />

interpretiert hat:<br />

Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es<br />

Menschen gibt, die alles genau wahrnehmen<br />

und erkennen, aber dann nichts weiter tun,<br />

sie verbleiben in einem Zustand der Katalepsie,<br />

das heißt, sie bewegen sich mental nicht<br />

mehr. So hat Sehgal nun die Rubrik definiert:<br />

Der Kranke akzeptiert seinen Zustand.<br />

Opium<br />

Konrad: Hm, ein bisschen nachdenklich<br />

haben Sie mich schon gemacht, aber ich<br />

möchte natürlich noch sehr viel mehr hören,<br />

wie Sie mit der Sehgal-Methode arbeiten.<br />

VS: Danke, Ihre Fragen helfen mir, meine<br />

Gedanken zu entwickeln. Nun, gleich jemanden<br />

überzeugen<br />

kann ich auch nicht<br />

mit einer einzigen<br />

Rubrik-Interpretation.<br />

Es ist schon eine<br />

enorme Arbeit, die<br />

man leisten muss,<br />

um den Geist und<br />

die Wirksamkeit<br />

der Sehgal-Methode<br />

zu erfassen. <strong>Wenn</strong><br />

man sich ein Urteil<br />

über die Sehgal-Methode<br />

erlauben will,<br />

dann muss man die<br />

Original-Literatur<br />

studieren und viele<br />

Fälle durchgehen.<br />

Als nächstes sollte<br />

man versuchen, die<br />

Methode bei den Fällen anzuwenden, wo<br />

man mit einer anderen Methode nicht weitergekommen<br />

ist. <strong>Wenn</strong> man dann einen Fall mit<br />

Opium oder Belladonna mit Hilfe der noch<br />

zu erklärenden Rubriken lösen wird, dann<br />

kann es sein, dass man von dieser Methode<br />

überzeugt werden kann. Aber eine andauernde<br />

Skepsis, basierend auf der Idee, es handelt<br />

sich hier bloß um spekulative Anwendungen<br />

von Rubriken, wird einen daran hindern…<br />

…den eigentlichen Kern dieser Methode zu<br />

verstehen und anzuwenden, wie es leider sehr<br />

vielen Kollegen geht, die sich dann bei den


dIe sehgal-methode oder<br />

dIe angst vor der vIerten Warze<br />

zu erwartenden Schwierigkeiten sozusagen<br />

enttäuscht von dieser Methode abwenden und<br />

ihr Heil bei jemand anderem suchen.<br />

Konrad: Ich höre!<br />

VS: Danke für Ihre Geduld.<br />

Ich möchte noch die verschiedenen Wege<br />

in der Sehgal-Anamnese darstellen:<br />

1. Wir hören dem Patienten aufmerksam zu,<br />

bis er zu Ende geredet hat. <strong>Wenn</strong> wir ihn<br />

wirklich verstanden haben, dann werden<br />

wir Rubriken finden; natürlich nehmen<br />

wir nur die Gemüts-Rubriken.<br />

2. <strong>Wenn</strong> wir tiefer in das Geschehen eintauchen<br />

wollen, dann können wir auf verschiedene<br />

Art nachfragen:<br />

a. „Welche Gedanken machen Sie sich zu<br />

Ihrer Erkrankung?“ Eine sehr einfache<br />

Frage, die oft zum Ziel führt. <strong>Wenn</strong> der<br />

Patient zum Beispiel sagt: „Ich mache<br />

mir Sorgen, dass sich mein Leiden verschlimmert,<br />

dass meine Ohrenschmerzen<br />

schlimmer werden und dass auch<br />

noch mein anderes Ohr schmerzhaft<br />

krank werden kann“, – dann haben<br />

wir schon die zentrale Rubrik von Opium:<br />

Furcht vor Extravaganz (wird später<br />

erklärt).<br />

b. Weitere Fragen sind: „Welches ist Ihr<br />

Hauptproblem?“ „Was machen Sie,<br />

wenn Sie krank sind?“ „Was tut Ihnen<br />

gut, wenn Sie krank sind?“ - Und<br />

wie schon oben besprochenen, die sog.<br />

Kernfrage: „Wie verarbeiten Sie Ihre<br />

Krankheit?“ - das sind Schlüssel-Fragen,<br />

die sehr oft, aber natürlich nicht<br />

immer, zum Kern des Problems führen.<br />

c. Wir hören zu, und wenn wir etwas nicht<br />

verstehen, fragen wir so: „Können Sie<br />

mir das genauer erklären? Was meinen<br />

Sie damit? Was bedeutet das für Sie?“<br />

Hier lehne ich mich an die Kurz-Psychotherapie<br />

der so genannten Idiolektik<br />

von A.D. Jonas an, eine sehr feine Fragemethode<br />

(Im Internet: Idiolektik.de).<br />

Dabei meiden wir die Frage nach dem:<br />

warum? Weil nach Warum-Fragen oft<br />

nur Rechtfertigungen, aber keine wesentlichen<br />

Inhalte kommen.<br />

d. Wir können uns auch aufs Beobachten<br />

verlegen: Wie hat der Patient mit uns<br />

Kontakt aufgenommen; wie sitzt er nun<br />

auf dem Stuhl; wie ist er überhaupt gekleidet;<br />

wie verhält er sich, während er<br />

seine Geschichte erzählt; wann weint<br />

er, wann lacht er, wann wird er zornig;<br />

kann man ihn trösten oder nicht und so<br />

weiter. Bei Kindern und Säuglingen verlegen<br />

wir uns ganz auf die Beobachtung<br />

(während die Eltern ihre besorgte Geschichte<br />

erzählen), und wir beobachten<br />

das Kind solange, bis wir drei sichere<br />

Rubriken gefunden haben:<br />

Ein Beispiel: Ein vierjähriger Junge mit<br />

hohem Fieber sitzt auf dem Schoß der<br />

Mutter, er kann nicht getröstet werden,<br />

er lächelt nie und bleibt völlig ernst;<br />

auf die empathische Frage: „Wie geht<br />

es dir denn?“, antwortet er ablehnend<br />

und empört: „Schlecht!!“ - In diesem<br />

Wort schwingt ein gewisser Schrei mit<br />

und eben eine gewisse Empörung oder<br />

Entrüstung und zugleich eine Ablehnung<br />

gegenüber dem Frager. Das kann<br />

man hören, wenn man das Hören geübt<br />

hat. Mehr als diese Antwort „Schlecht!“<br />

ist aus dem Kind nicht herauszubekom-<br />

27


28<br />

dIe sehgal-methode oder<br />

dIe angst vor der vIerten Warze<br />

men. Weitere Frage n sind also sinnlos,<br />

ja sogar kontraproduktiv. Welches sind<br />

die Rubriken? 1. ernst 2. geheimnistuerisch,<br />

verschlossen 3. abweisende<br />

Stimmung 4. Trost verschlechtert 5. erzählen<br />

der Symptome verschlechtert 6.<br />

fassungslos.<br />

Konrad: Das letzte Symptom scheint mir<br />

schon wieder in den Bereich der Spekulation<br />

abzugleiten. Wieso ist der Junge fassungslos?<br />

VS: <strong>Wenn</strong> Sie den Jungen selber vor<br />

sich sitzen sehen, dann können Sie mit einem<br />

geübten Ohr seine Problematik in dem<br />

mehr oder weniger herausgeschrienen Wort<br />

“schlecht“ nachempfinden, die Empörung und<br />

die Resignation zugleich. Es geht ihm wirklich<br />

schlecht, das kann man auch sehen. Er will<br />

damit ausdrücken: Ich verstehe das nicht,<br />

siehst du denn nicht, dass es mir schlecht geht,<br />

warum fragst du mich, ich finde deine Frage<br />

unangemessen, man sieht es doch! Der Junge<br />

ist also fassungslos, dass ich ihn überhaupt<br />

gefragt habe. Die Rubrik heißt: „Fassung, außer<br />

Fassung gebracht, verwirrt“ und enthält<br />

Ignatia und Brom. Das ist ein hoch pathologischer<br />

Zustand, indem sich der Patient in einer<br />

Art Zusammenbruch befindet und keinerlei<br />

Fragen, Forderungen ertragen kann, sowie<br />

alle Anforderungen. Er kann es nicht fassen,<br />

dass dies oder jenes geschehen ist, dass der<br />

Ehemann oder die Ehefrau dies oder das<br />

gemacht oder nicht gemacht hat. Am besten<br />

ist, wenn man dies durch eine Arzneimittelprüfung<br />

erlebt hat oder selber beispielsweise<br />

bei einem Verkehrsunfall, verursacht durch<br />

einen Rowdy, fassungslos nach Worten ringt<br />

und es nicht mehr verstehen kann, wie man<br />

so rücksichtslos fahren kann! Da kommt man<br />

schnell in einen Ignatia-Zustand.<br />

Konrad: ich finde das sehr schwierig,<br />

was Sie hier darlegen, auf der anderen Seite<br />

reizt es mich schon, mich diesen Schwierigkeiten<br />

zu stellen. Ich kann mir schon vorstellen,<br />

dass derjenige, der sich auf diese Herausforderung<br />

nicht einlassen will, lieber auf<br />

so genannte sichere körperliche Symptome<br />

zurückgreift.<br />

VS: Ich finde das auch sehr schwierig, ich<br />

habe mich monatelang mit der Rubrik “fassungslos“<br />

beschäftigt und sie immer wieder<br />

versucht, bei meinen Patienten zu verstehen.<br />

Ich habe nicht locker gelassen, da ich wusste,<br />

dass diese Rubrik den Kern der Problematik<br />

von Ignatia wiedergibt. Inzwischen habe ich<br />

die Rubrik verstanden und habe sie mit großem<br />

Erfolg bei vielen Patienten angewandt.<br />

Noch einmal zur Spekulation: Ich halte<br />

es mit Goethe, er spricht von „exakter Fantasie“!<br />

Und das ist durchaus wissenschaftlich<br />

gemeint. Die Methode der exakten Fantasie<br />

muss allerdings von uns noch regelrecht erlernt<br />

werden, denn wenn wir sie nicht richtig<br />

beherrschen, dann spekulieren wir wild über<br />

den Patienten herum. Neben Hahnemann<br />

(Organon) und Sehgal (Die revolutionierte<br />

Homöopathie) lese ich immer wieder in Goethes<br />

naturwissenschaftlichen Schriften, um<br />

von dem schulmedizinischen Denken, in dem<br />

ich ja erzogen worden war, zu einer flexiblen<br />

Erfassung der Wirklichkeit zu kommen. Ich<br />

behaupte hier, dass Sehgal auf seine Weise<br />

ein Goetheanist war, allerdings ohne ihn zu<br />

kennen.<br />

Der hochbetagte indische Sehgal-Anhänger<br />

Malhotra wendet diese Methode so<br />

an, dass er nur das Verhalten des Kranken


dIe sehgal-methode oder<br />

dIe angst vor der vIerten Warze<br />

beobachtet. Ihn interessiert weniger, was er<br />

sagt, sondern wie er es sagt. Und das Gemüt-<br />

Kapitel unserer Repertorien ist voller Rubriken,<br />

die menschliches Verhalten während<br />

der Krankheit charakterisieren. Allerdings<br />

gehört dazu sehr viel Erfahrung und, wie ich<br />

schon sagte, vorurteilsfreies Beobachten; das<br />

müssen wir erstmal können, denn im unreflektierten<br />

Wahrnehmen liegt zunächst unsere<br />

ganze Erwartung, wir können uns so schwer<br />

leer machen für das Neue. Man muss dafür<br />

völlig gesund im Geiste sein, man darf durch<br />

nichts belastet sein, nicht durch sich selber,<br />

nicht durch einen Ehestreit, nicht durch eine<br />

eigene Krankheit, nicht durch den Anruf des<br />

Steuerberaters oder durch einen ärgerlichen<br />

Patienten. Im Gegensatz dazu, so hat es Sehgal<br />

gesagt, darf der Patient bei ihm alles: ärgerlich<br />

sein, schimpfen, ihn ablehnen, rauslaufen<br />

und wieder reinkommen und so weiter<br />

– „Meine Aufgabe ist es“, sagte Sehgal, „das<br />

krankhafte Verhalten des Patienten zu analysieren<br />

und dafür Rubriken und dann das<br />

Mittel zu finden.“<br />

Konrad: Können Sie die Sehgal-Methode<br />

noch einmal prägnant zusammenfassen?<br />

VS. Es geht letztlich darum, wie der Patient<br />

mit seiner Krankheit umgeht und sie verarbeitet.<br />

Denn die Krankheit ist sein Schicksal.<br />

<strong>Wenn</strong> man sich auf diese Dimension einlässt<br />

– und das ist etwas ganz Neues in der Homöopathie,<br />

was meiner Ansicht nach in seiner<br />

ganzen Tiefe und Breite noch gar nicht richtig<br />

wahrgenommen worden ist, dann kommt<br />

man auf die erste Kategorie von Aristoteles:<br />

nämlich auf die Kategorie des Wesens oder<br />

der Substanz. Das können wir auf exakte Weise<br />

beobachten oder erkennen oder erfragen.<br />

Die Kunst ist es, den Patienten zum Sprechen<br />

zu bringen. Spricht der Patient nicht oder nur<br />

sehr wenig, dann nehmen wir als Material,<br />

was wir an ihm beobachten.<br />

Konrad: Moment mal, lieber Herr von<br />

Seckendorff – muss ich denn nun auch noch<br />

die schwer lesbare Kategorienschrift von<br />

Aristoteles studieren, um den Sinn der Sehgal-<br />

Methode zu verstehen?<br />

VS: Ja, warum denn nicht? Wer ist sich<br />

denn zu schade, diese grundlegende Schrift<br />

von Aristoteles zu studieren? Man kann sich<br />

sogar an einen gewissen Hahnemann halten,<br />

denn dieser hat uns empfohlen: „Studiert die<br />

Philosophie der Griechen und der Römer!“ -<br />

Es macht aber keiner! - Ich persönlich fühle<br />

mich in der Sehgal-Methode viel sicherer,<br />

seitdem ich Aristoteles studiere. Sicherlich<br />

fehlen noch Platon und Cicero, aber das<br />

Studium von Aristoteles ist so überwältigend<br />

interessant und hilfreich. Es hilft, das eigene<br />

Denken zu ordnen. Ich würde Immanuel Kant<br />

nicht empfehlen, weil er Erkenntnisgrenzen<br />

setzt, wie sie Aristoteles nicht kennt. Aber wie<br />

gesagt, die „Metamorphosen-Lehre“ Goethes<br />

und die seiner „exakten Fantasie“ zu studieren,<br />

wäre noch ein weiterer Schritt, Wahrnehmungs-Prozesse<br />

noch wissenschaftlicher zu<br />

erarbeiten. Aber so etwas ist ja noch gar nicht<br />

ausgelotet und wäre für die Homöopathie ein<br />

Riesengewinn.<br />

Konrad: Zur Sache nun bitte!<br />

VS: Das aber ist die Frage, was die Sache<br />

ist, nämlich die Homöopathie an sich oder die<br />

mittels philosophischer Grundlagen besser<br />

verstandene Homöopathie! Aber nun möchte<br />

ich mich Belladonna zuwenden. Belladonna<br />

hat ein starkes Verlangen nach Licht (ebenso<br />

Acon, Stram, Phos, Calc, Gels und einige andere).<br />

Normalerweise macht man sich über<br />

29


30<br />

dIe sehgal-methode oder<br />

dIe angst vor der vIerten Warze<br />

das Licht keine großen Gedanken und nimmt<br />

das Licht so, wie man es im Alltag gewohnt ist.<br />

Ein Kind schreit und verlangt von der Mutter,<br />

dass die Nachttischlampe brennen soll,<br />

nur dann schläft es. Und nun beginnen wir<br />

Anhänger der Sehgal-Methode mit der eigentlichen<br />

Arbeit. Wir fragen uns mit dem alten<br />

Sehgal: „Was ist Licht?“ Wir machen uns eigene<br />

Gedanken und nehmen zugleich diverse<br />

Lexika zur Hand. Dann erfahren wir, dass es<br />

sich um Kerzenlicht, um die Sonne, um das<br />

elektrische Licht, vielleicht auch um das Licht<br />

der Sterne handelt. Aber das ist nicht alles:<br />

Ein gutes Lexikon spricht auch von Erleuchtung<br />

und Aufklärung. Und Sehgal sagt: „Licht<br />

ist das, was die Dunkelheit erhellt.“ Und wir<br />

denken so: <strong>Wenn</strong> ein Patient wissen möchte,<br />

warum und woran er leidet, dann sagen wir,<br />

er hat ein Verlangen nach Aufklärung über<br />

den Grund seiner Erkrankung. Das fragt er<br />

den Homöopathen und könnte zum Beispiel<br />

eine Röntgenaufnahme seines schmerzenden<br />

Knies einfordern. <strong>Wenn</strong> wir nun den Begriff<br />

des Lichtes in seiner erweiterten Bedeutung<br />

begreifen (und wer, bitte sehr, will uns daran<br />

hindern, die verschiedenen Bedeutungen von<br />

Licht zu bedenken und zu benutzen?), dann<br />

können wir sagen, dass dieser Patient ein<br />

Verlangen nach Aufklärung hat, er will nicht<br />

weiter in der Dunkelheit seines Nicht-Wissens<br />

leben. Wir nehmen die ähnlichste Rubrik, die<br />

sich uns im Gemüts-Teil anbietet: „Verlangen<br />

nach Licht“. Auch wenn der Patient fragt:<br />

„Frau Doktor, haben Sie schon viele Patienten<br />

mit Rheumatismus erfolgreich behandelt?“ -<br />

können wir dieses als Verlangen nach Licht<br />

verstehen.<br />

Konrad: Ich konnte Ihnen gedanklich<br />

folgen, auch wenn Sie sehr weit gegangen sind.<br />

Es dürfte sich schon um eine andere Dimension<br />

handeln, als mit der Boger-Methode.<br />

VS: Da bin ich mir nicht so sicher, denn<br />

wenn ich an das schmale Bändchen „General<br />

Analysis“ von Boger denke, dann ist dort eine<br />

geniale Abstraktheit durch Generalisierung<br />

der Rubriken erreicht worden, die ihresgleichen<br />

sucht und die von der Methode her gesehen<br />

vielleicht eine Ähnlichkeit mit der Auslegungs-Methode<br />

von Sehgal hat. – Im übrigen<br />

gehen wir in der Ausdeutung der Rubriken<br />

sehr weit. Das Problem ist nur: Die Deutung<br />

muss, ja ich möchte sagen: mathematisch<br />

genau stimmen. <strong>Wenn</strong> mir mein Belladonna-<br />

Patient sagt, dass er bei Magenschmerzen nur<br />

ganz leichten Baby-Pudding isst, weil jede<br />

andere Nahrung für ihn so schwer sei, dann<br />

nehme ich auch „Verlangen nach Licht“, denn<br />

ich erkenne in dieser Rubrik neben dem Verlangen<br />

nach Licht und der Aufklärung auch<br />

ein Verlangen nach Leichtigkeit. Licht und<br />

Leichtigkeit sind miteinander verwandt und<br />

ähnlich. Und ich behaupte, dass diese Art des<br />

Vorgehens, Rubriken zu interpretieren und<br />

auf die Äußerungen der Patienten anzuwenden,<br />

der Inbegriff der Ähnlichkeits-Methode<br />

ist, wie uns Hahnemann dargelegt hat.<br />

Konrad: Das ist starker Tobak! Hahnemann<br />

würde sich im....<br />

VS: ... Grabe umdrehen! Aber ich darf hier<br />

sagen, das Schlimmste, was einer Wissenschaft<br />

passieren kann, ist, dass sie still steht<br />

und sich nicht weiter entwickelt. Sehgal hat<br />

wirklich die Homöopathie verändert, indem<br />

er eine Vielfältigkeit und Weite in die Anwendung<br />

der Gemüts-Rubriken eingebracht hat.<br />

Konrad: <strong>Wenn</strong> das, was Sie hier sagen,<br />

auch praktisch funktioniert, dann würde ich


dIe sehgal-methode oder<br />

dIe angst vor der vIerten Warze<br />

diese Methode als genial bezeichnen. Aber<br />

nur dann!<br />

VS: Ich auch. – Der Belladonna-Patient<br />

möchte also wissen, woran er leidet. <strong>Wenn</strong><br />

ich diesen Patienten nun frage: „Welche<br />

Gedanken machen Sie sich über ihre Knieschmerzen?“<br />

Dann<br />

wird er etwas verlegen<br />

antworten:<br />

„Gedanken ? Wie<br />

meinen Sie das? Oh<br />

Gedanken habe ich<br />

mir nicht gemacht,<br />

außer dass ich<br />

wissen will, ob Sie<br />

mein Leiden schnell<br />

wegbekommen. Aber<br />

ich weiß ja, wie man<br />

sagt, dass es bei der<br />

Homöopathie lange<br />

dauert.“ – So redet<br />

der Patient und so<br />

reden viele. Und<br />

man denkt, dass unsere<br />

Patienten nur<br />

so daherreden und dass wir nun doch endlich<br />

mit der „richtigen“ Anamnese beginnen<br />

sollten. Aber wir Sehgal-Homöopathen sind<br />

schon mittendrin. Denn wenn die Patienten<br />

so unschuldig daherreden, dann reden sie<br />

eigentlich tief aus ihrer Seele, und unsere<br />

Aufgabe besteht darin, dieses zu entziffern.<br />

Wir können es uns nicht leisten, auch nur einen<br />

einzigen Satz unseres Patienten als banal<br />

und unwichtig zu bezeichnen. In der Sehgal-<br />

Methode haben wir erfahren, dass nichts, was<br />

der Patient sagt, etwa unwichtig sei. Dieser<br />

Patient macht sich also keine tiefen Gedanken<br />

Belladonna<br />

über seine Krankheit. Das nennen wir „frivol“.<br />

Wir definieren frivol aus der Erfahrung heraus<br />

nicht als „schlüpfrig“, sondern als einen<br />

Zustand, in dem sich der Patient keine besonderen<br />

Gedanken über seine Erkrankung<br />

macht. Die Schulmedizin nennt das zum Beispiel<br />

indolent. Außerdem erkennen wir, dass<br />

der Patient schnell<br />

geheilt werden will<br />

und wissen will, woran<br />

er leidet. Ist das<br />

nicht legitim? Und<br />

sollte es nicht möglich<br />

sein, dass die<br />

Homöopathie ein<br />

Leiden in wenigen<br />

Tagen oder manchmal<br />

in wenigen Stunden<br />

zu einem guten<br />

Ende bringt? Also<br />

der Patient wünscht<br />

eine schnelle Heilung.<br />

Dazu passt die<br />

Rubrik: „Verlangen<br />

schnell getragen<br />

zu werden“. Das ist<br />

eigentlich eine Kinderrubrik. <strong>Wenn</strong> Kinder<br />

krank sind, möchten sie oft getragen werden.<br />

Einige möchten ganz langsam getragen werden<br />

(Pulsatilla), andere möchten sehr schnell<br />

getragen werden, da muss der Vater mit ihnen<br />

durch die Wohnung laufen, damit sie ruhig<br />

werden: Bell, Acon, Cham und Rhus-tox. Wir<br />

übertragen das wieder unter dem Aspekt der<br />

Ähnlichkeit auf den erwachsenen Menschen,<br />

der schnell von dem Arzt von der Krankheit<br />

zur Gesundheit getragen werden möchte.<br />

Wir haben nun drei Rubriken:<br />

Verlangen nach Licht<br />

frivol<br />

31


32<br />

dIe sehgal-methode oder<br />

dIe angst vor der vIerten Warze<br />

Verlangen, schnell getragen zu werden.<br />

<strong>Wenn</strong> wir diese drei Rubriken repertorisieren,<br />

dann kommt nur Belladonna heraus.<br />

Und die Analyse ist fertig. Belladonna ist sowieso<br />

froh über eine kurze Analyse, denn diese<br />

Patienten kommen wie auf eine spielerische<br />

Weise in die Praxis, eben weil sie frivol sind.<br />

Konrad: Ist das alles bei Belladonna?<br />

VS: Noch lange nicht. Belladonna hat über<br />

500 Gemüts-Rubriken, von denen circa 40 zu<br />

lernen wären, weil wir mit diesen die meisten<br />

Belladonna-Fälle lösen können. Zum Beispiel:<br />

Verlangen zu töten. <strong>Wenn</strong> ein Patient sagt:<br />

„Herr Dr., ich möchte, dass diese Krankheit mit<br />

Stumpf und Stiel ausgerottet wird, und dass<br />

die Bakterien sich nie wieder melden“, dann<br />

möchte er die Ursache seiner Erkrankung abtöten,<br />

und wir erlauben uns, diese Rubrik im<br />

Sinne der Ähnlichkeit zu nehmen.<br />

Ich zähle einmal die Rubriken auf, die ich<br />

für den Anfang für wichtig halte, um mit Belladonna<br />

zu arbeiten:<br />

• Bewusstlosigkeit unterbrochen<br />

durch Schreiben<br />

• Versteckte Gegenstände<br />

• Simuliert krank zu sein<br />

• Wahnidee, der Arzt ein Polizist<br />

• Wahnidee, stellt seine Empfindungen<br />

falsch dar<br />

• Unfähigkeit zur Mathematik<br />

• Spielleidenschaft<br />

• Nackt, möchte sein<br />

Konrad: Ich halte Belladonna allerdings<br />

für ein Akutmittel. Und in unserem Vorgespräch<br />

haben Sie mir erklärt, dass Belladonna<br />

auch bei chronischen Erkrankungen<br />

gegeben werden kann. So hatten Sie behauptet,<br />

eine Lady mit Kinderwunsch und zystischem<br />

Ovar geheilt zu haben, denn die Patientin hatte<br />

Ihnen nach neun Monaten das Foto des so<br />

sehr gewünschten Kindes zugeschickt.<br />

VS: Ja, so ist es, mit der Sehgal-Methode<br />

machen wir keine Unterschiede zwischen<br />

akuten und chronischen Erkrankungen. Es<br />

kommt bei uns immer auf den aktuellen<br />

prädominanten Gemütszustand an, den wir<br />

erkennen wollen und für den wir drei bis fünf<br />

Rubriken finden müssen. Es kann auch sein,<br />

dass ein Rheumapatient zu uns mit einem prädominanten<br />

Infekt kommt, den er los werden<br />

will, und er spricht nur von dem Infekt und<br />

nicht von dem Rheuma. <strong>Wenn</strong> er uns Belladonna-Rubriken<br />

liefert, so können wir sowohl<br />

seinen Infekt als auch das Rheuma heilen.<br />

Konrad: Das ist allerdings erstaunlich!<br />

VS: Nun, manchmal sind die Fakten so<br />

verklausuliert und so eigenartig, dass man<br />

sie nicht glaubt.<br />

Sehgal selbst war ein sehr bescheidener<br />

Mensch. Er hat sich nie in den Vordergrund<br />

gestellt. Aber was seine Methode anbetrifft, so<br />

war er nicht bescheiden: Er nannte sie “Revolutionierte<br />

Homöopathie“.<br />

Konrad: <strong>Wenn</strong> ich Francois Voltaire wäre,<br />

dann würde ich antworten: „Das gefällt mir!<br />

Denn bescheiden war ich nie. Ich habe die<br />

Dinge immer beim Namen genannt!“<br />

VS: Nun müssen wir unbedingt die zentrale<br />

Rubrik von Opium kennen lernen. Sie heißt:<br />

„Furcht vor Extravaganz“. Kent hat diese Rubrik<br />

in sein Repertorium hineingesetzt. Ich behaupte,<br />

dass bisher noch kein Homöopath mit<br />

dieser Single-Rubrik irgend etwas angefangen<br />

hat. Ich gebe 30u, naja es ist ein bisschen


dIe sehgal-methode oder<br />

dIe angst vor der vIerten Warze<br />

wenig, für den, der mir das Gegenteil beweist.<br />

Sehgal hat ein halbes Jahr an dieser Rubrik<br />

gearbeitet. Er hat ja immer wieder die Rubriken<br />

im Gemütsteil des Repertoriums von Kent<br />

studiert; er hat sich gefragt: „Was mag diese<br />

Rubrik wohl ausdrücken?“ Extravaganz ist<br />

uns bekannt. Das sind die Menschen, die sich<br />

übertrieben auffällig benehmen oder kleiden.<br />

Jeder kennt das. Aber wer hat denn Furcht vor<br />

Extravaganz? Nun, der Patient hat Furcht vor<br />

einem Zuviel von etwas. Nehmen wir ein ganz<br />

einfaches, aber wirkliches Beispiel. Ein Asthmatiker<br />

kommt zu uns und spricht nicht von<br />

seinem Asthma, sondern von seinen Warzen,<br />

die seine Finger zieren. Er sagt: „Sehen Sie<br />

Frau Doktor, ich habe hier drei Warzen auf<br />

meinem Zeigefinger und hier an dieser Stelle,<br />

da juckt es etwas und ich befürchte, dass<br />

eine vierte Warze erscheinen wird. Bitte tun<br />

Sie etwas. Drei Warzen haben mir nichts ausgemacht,<br />

ich konnte sie als Blumenverkäufer<br />

beim Kassieren gut verstecken, aber wenn an<br />

dieser Stelle eine vierte Warze erscheint, wie<br />

sieht denn das aus?“ – Das ist Furcht vor zu<br />

viel, mit drei Warzen kann er noch leben, aber<br />

die Angst, dass eine vierte Warze entstehen<br />

könnte, treibt ihn zum Arzt. Nicht das Asthma<br />

hat ihn zum Arzt gebracht, sondern die<br />

Angst vor der vierten Warze. Nach der Sehgal-<br />

Methode dürfen wir jetzt nicht das Asthma<br />

behandeln, sondern wir müssen unbedingt<br />

auf sein prädominantes Symptom eingehen,<br />

die Furcht vor der vierten Warze. <strong>Wenn</strong> wir<br />

das nicht machen, werden wir den Patienten<br />

verlieren und er wird zum Hautarzt gehen und<br />

sich die Warzen wegbrennen lassen und sein<br />

Asthma wird sich verschlimmern. Geben wir<br />

ihm aber Opium, werden die Warzen sicher<br />

verschwinden und entweder wird das Asthma<br />

mit verschwinden, oder er bleibt geduldig<br />

bei uns. Er wird dann das Asthma-Symptom<br />

präsentieren. Bis dahin war ihm das Asthma<br />

mehr oder weniger egal, und wir haben eine<br />

zweite wichtige Rubrik für Opium gewonnen:<br />

„Gleichgültigkeit gegenüber Leiden“ (auch<br />

Stram befindet sich in dieser Rubrik). Damit<br />

haben wir eine zweite Stütze für unsere<br />

Opium-Diagnose.<br />

Opium enthält noch ff. wichtige Rubriken:<br />

„Tasten wie im Dunkeln“ und: „Verlegenheit<br />

nach Beschwerden“ und: „Reizbarkeit bei<br />

Schmerzen“ und: „Spricht vom Geschäft“.<br />

Konrad: Ihre Fälle sind wohl aus didaktischen<br />

Gründen recht einfache Fälle:<br />

Knieschmerzen, Krankheiten der Kinder und<br />

Warzen, na ja und Asthma. Aber können Sie<br />

uns nicht noch zum Schluss einen wirklich<br />

harten Fall vorstellen? Ich brauche das, damit<br />

ich mich wirklich von der Effizienz der Sehgal-Methode<br />

überzeugen lassen kann. Denn<br />

auf halben Kram will ich mich nicht einlassen.<br />

Sie wissen, dass ich mich als Anhänger<br />

der Boger-Methode auf einem sehr exakten<br />

Boden bewege.<br />

VS: Ja, das ist der Fall, wo mir ein zwölfjähriges<br />

Mädchen angekündigt wurde, dass<br />

nach Keuchhusten nicht mehr sprechen konnte;<br />

und wo ich mir sorgenvolle Gedanken gemacht<br />

hatte, wie ich denn da die Anamnese<br />

machen kann, wo ich doch in der Sehgal-<br />

Methode auf die Worte und auf das Gemüt so<br />

angewiesen bin.<br />

Nun saß das Mädchen vor mir und machte<br />

die ganze Zeit: peh-peh-peh-peh. Und konnte<br />

sonst kein einziges Wort sagen. Sie war durch<br />

die Mühle der Universitätsmedizin gegangen,<br />

mit Lumbal-Punktion, MRT, Lungenfunktion<br />

und Röntgen-Bild des Thorax, auch eine obskure<br />

Luminal-Injektion war gegeben worden<br />

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