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BEWUSSTSEIN<br />

UND BILDUNG<br />

Eine philosophisch-pädagogische Untersuchung von<br />

Bewußtsein und Selbst<br />

Helmut Lehner


© 2005 Helmut Lehner<br />

Eine andere Fassung <strong>die</strong>ser Arbeit ist erschienen <strong>als</strong>:<br />

ZIFF-Projekt 2.38<br />

Zentrales Institut für Fernstu<strong>die</strong>nforschung (ZIFF)<br />

FernUniversität Hagen, Dezember 1987<br />

© 1987 FernUniversität – Gesamhochschule - Hagen<br />

2


ZUSAMMENFASSUNG<br />

Bildung wird <strong>als</strong> Bewußtseinsentwicklung verstanden. Viele individuelle, zwischenmenschliche<br />

und soziale Probleme werden danach durch Begrenzungen des<br />

Bewußtseins hervorgerufen. Um <strong>die</strong> Möglichkeit von Bewußtseinsentwicklung<br />

untersuchen zu können, wird eine Bewußtseinskonzeption formuliert, <strong>die</strong> verschiedene<br />

Auffassungen (philosophische, psychologische, teilweise auch wissenssoziologische)<br />

zu integrieren sucht. Diese Konzeption wird schließlich angewandt, um<br />

Fragen der Bildung, insbesondere auch der Bildung zur Selbständigkeit, aus einer<br />

zum Teil unüblichen Perspektive zu behandeln. Es geht um eine Klärung von<br />

allgemeinen Konzepten und Fragen; eine Anwendung <strong>auf</strong> Fragen des Fernstudiums<br />

kann erst in einer späteren Arbeit erfolgen.<br />

Abstract<br />

Bildung, i. e. education and the growth of persnality are seen by the author as the<br />

development of consciousness. Thus many individual, interpersonal and social problems<br />

are Seen to result from limitations of consciousness. A concept of consciousness<br />

that tries to integrate different existing views (philosophical, psychological,<br />

partly <strong>als</strong>o<br />

such as are related to sociology of science) in order to be able to study the<br />

possibilities of the development of conscience is worked out. The application of this<br />

concept then is the startingpoint for a discussion of questions of education (Bildung)<br />

particularly education towards autonomy, from a partly unusual perspective. This<br />

study is meant to clarify general concepts and problems; an application to the<br />

problems of distance education will have to follow at a later date.<br />

DANKSAGUNG<br />

Die Zitate im Text oder in den Anmerkungen verweisen nur <strong>auf</strong> einen Teil meiner<br />

Verpflichtungen gegen andere. Vor allem bin ich meinen Kollegen und Kolleginnen<br />

zu Dank verpflichtet: allen voran Prof. Dr. Börje Holmberg, Dr. Rudolf Schuemer, Dr.<br />

Monika Weingartz, Nicola-Maria Bückmann, M.A., Bettina Bückmann, Harald<br />

Wilmersdoerfer, Dr. Frank Doerfert und Dr. Helmut Fritsch. Ferner danke ich Prof.<br />

Dr. K.-H. Dickopp, Prof. Dr. H. Dichanz, Prof. Dr. W. Hornstein, Prof. Dr. H. Terhorst<br />

und Dr. P. Zedler für kritische oder konstruktive Hinweise. Die Erstellung des Typoskrips<br />

übernahm Heidi Hasenpusch, Annelies Immler schrieb das Literaturverzeichnisses;<br />

beiden gilt mein Dank.


INHALTSVERZEICHNIS<br />

0. EINLEITUNG: BILDUNG ALS BEWUßTSEINSENTWICKLUNG 6<br />

0.1 OBJEKTIVE UND SUBJEKTIVE BILDUNG..................................................................7<br />

0.2 BEWUßTSEINSENTWICKLUNG ALS STREBEN NACH GANZHEITLICHKEIT .................11<br />

TEIL I: BEGRENZUNGEN DES BEWUßTSEINS: BILDUNGSPROBLEME 19<br />

1. DAS INDIVIDUUM: UNEINHEITLICHKEIT DER BEGRENZUNG 20<br />

1.1 DIE PERSON ALS KONGLOMERAT .........................................................................20<br />

1.2 PROBLEME AUFGRUND INDIVIDUELLER BEWUßTSEINSBEGRENZUNGEN ..................21<br />

2. BILDUNGSINSTITUTIONEN: VERFESTIGUNG UND SICHERHEIT DURCH<br />

BEGRENZUNGEN 26<br />

2.1 ZUR FUNKTION VON INSTITUTIONEN ......................................................................26<br />

2.2 AUSWIRKUNGEN AUF LEHRENDE ..........................................................................29<br />

3. KULTURELLE IDEALE: DER WANDEL DER GRENZEN 34<br />

3.1 DAS IDEAL DES ETHISCHEN MENSCHEN.................................................................35<br />

3.2 DAS IDEAL DES INDIVIDUALISTISCH-RATIONALEN MENSCHEN.................................38<br />

3.3 DAS IDEAL DES RATIONALISTISCH-SOZIALEN MENSCHEN.......................................39<br />

3.4 DIE INFRAGESTELLUNG DES IDEALS DES RATIONALEN MENSCHEN.........................43<br />

TEIL II: EIN DENKMODELL DES BEWUSSTSEINS 49<br />

4. SKIZZE EINER KONZEPTION DES BEWUSSTSEINS (ÜBERBLICK) 49<br />

5. INDIVIDUELLE BEWUßTSEINSFORMEN UND -FUNKTIONEN 57<br />

5.1 DAS OBJEKTIVIERENDE BEWUßTSEINSFELD ..........................................................57<br />

5.1.1 Ich und Feld.....................................................................................................57<br />

5.1.2 Die Grenzen des Bewußtseinsfeldes...............................................................58<br />

5.1.3 Beschränkung durch <strong>die</strong> Anschauungsformen von Raum und Zeit.................61<br />

5.1.4 Intuition ............................................................................................................62<br />

5.1.5 Ein Feld von Interaktionen...............................................................................64<br />

5.2 DER BEREICH DES MITTELBAREN BEWUßTSEINS ...................................................65<br />

5.2.1 Strukturen des mittelbaren Bewußtseins .........................................................66<br />

5.2.2 Drei Seiten des mittelbaren Bewußtseins........................................................69<br />

5.2.3 Mittelbares Bewußtsein und Persönlichkeitsbildung........................................71<br />

5.3 ICH UND PERSONALES SELBST..............................................................................77<br />

5.3.1 Das physische Ich............................................................................................77<br />

5.3.2 Das soziale Ich ................................................................................................79<br />

5.3.3 Das innere Ich..................................................................................................82<br />

5.3.4 Das personale Selbst.......................................................................................84<br />

5.3.5 Erfahrung des personalen Selbst ....................................................................86<br />

5.3.6 Personales Selbst und Kreativität....................................................................88<br />

5.4 DER WILLE...........................................................................................................90<br />

5.4.1 Wille <strong>als</strong> Identifikation des Selbst mit zielgerichteten Prozessen ....................91<br />

5.4.2 Problem der Willensfreiheit..............................................................................93<br />

5.4.3 Einheitlicher und geteilter Wille......................................................................100<br />

4


5.4.4 Wille und Anstrengung.................................................................................. 106<br />

5.4.5 Der Wille in Interaktion mit Bewußtseinsinstanzen ....................................... 113<br />

5.4.6 Bildung <strong>als</strong> Willensentwicklung ..................................................................... 120<br />

6. UNIVERSALES BEWUßTSEIN 126<br />

6.1 DIE HIERARCHISCHE ORDNUNG DES BEWUßTSEINS ............................................ 126<br />

6.1.1 Das Problem evolutionärer Kreativität........................................................... 127<br />

6.1.2 Morphogenetische Felder <strong>als</strong> Formationen von Bewußtsein ........................ 134<br />

6.2 DAS UNTERBEWUßTE......................................................................................... 137<br />

6.2.1 Steuerungfunktionen des Unterbewußten..................................................... 137<br />

6.2.2 Die stabilisierende Funktion unterbewußter Steuerungen ............................ 140<br />

6.2.3 Entwicklung durch unterbewußte Steuerungen ............................................ 144<br />

6.2.4 Das Unterbewußte in der Entwicklungsgeschichte individuellen Bewußtseins.... 146<br />

6.3 DAS ÜBERBEWUßTE .......................................................................................... 151<br />

6.3.1 Erfahrungen des Überbewußten................................................................... 151<br />

6.3.2 Merkmale überbewußter Erfahrung .............................................................. 160<br />

6.3.3 Erfahrungen des überbewußten Selbst......................................................... 166<br />

6.4 EINHEIT DES BEWUßTSEINS................................................................................ 177<br />

6.4.1 Bewußtsein <strong>als</strong> Dimension............................................................................ 177<br />

6.4.2 Das Streben nach Einheit ............................................................................. 185<br />

TEIL III: BEWUßTSEINSENTWICKLUNG ALS AUFGABE DER PÄDAGOGIK 190<br />

7. ENTWICKLUNG DER BEWUSSTSEINSZENTREN 192<br />

7.1 BILDUNG DES ICH: PERSÖNLICHKEITSSTÄRKUNG ............................................... 192<br />

7.1.1 Selbst und Persönlichkeit.............................................................................. 193<br />

7.1.2 Persönlichkeitsstärkung durch Selbständigkeit............................................. 199<br />

7.2 ERFAHRUNG DES SELBST .................................................................................. 205<br />

7.2.1 Grade und Stufen des Bewußtseins ............................................................. 207<br />

7.2.2 Offenheit für das Unbekannte ....................................................................... 209<br />

7.2.3 Das Wirken allgemeiner Kräfte erkennen ..................................................... 211<br />

7.2.4 Selbstbeobachtung <strong>als</strong> Mittel der Entwicklung von Bewußtheit .................... 213<br />

7.2.5 Übungen zur Selbstbeobachtung.................................................................. 215<br />

7.2.6 Selbstausweitung (Übungen)........................................................................ 221<br />

7.2.7 Gefahren und Nutzen.................................................................................... 226<br />

8. DER EINFLUSS VON SCHULE UND LEHRERN 231<br />

8.1 GRENZEN UND MÖGLICHKEITEN VON BILDUNGSINSTITUTIONEN........................... 231<br />

8.1.1 Selbständigkeit <strong>als</strong> Bildungsziel.................................................................... 231<br />

8.1.2 Orientierung an Idealen: Möglichkeiten und Grenzen................................... 236<br />

8.2 WAS LEHRER TUN KÖNNEN ................................................................................ 238<br />

8.2.1 Problemerkennung durch Selbst-Beobachtung ............................................ 239<br />

8.2.2 Selbst-Kontrolle statt Fremd-Kontrolle .......................................................... 240<br />

8.2.3 Imagination "idealen Unterrichts" und schrittweise Annäherung................... 241<br />

LITERATURVERZEICHNIS 247<br />

5


Echte Bildung ist ... ein beglückendes<br />

und stärkendes Erweitern unseres<br />

Bewußtseins, eine Bereicherung unserer<br />

Lebens- und Glücksmöglichkeiten.<br />

Hermann Hesse 1<br />

0. EINLEITUNG: BILDUNG ALS BEWUßTSEINSENTWICKLUNG<br />

Wissen, Werte, Ziele und Ansichten von Individuen sind subjektiv begrenzt und<br />

beziehen sich nur <strong>auf</strong> Aspekte eines größeren Ganzen. Diese Subjektivität der<br />

Vorstellungen bleibt auch dann erhalten, wenn der einzelne seine Auffassungen mit<br />

anderen oder einer ganzen Kultur teilt. Dennoch hängt ein jeder an seinen<br />

partikularen Ansichten <strong>als</strong> stellten sie das Ganze dar und fühlt sich von<br />

abweichenden oder widersprechenden Vorstellungen in seiner persönlichen<br />

Existenz angegriffen oder bedroht. Indem Individuen, Gruppen oder auch zu<br />

größeren Verbänden zusammengeschlossene Menschen so denken und handeln,<br />

<strong>als</strong> wären ihre subjektiv begrenzten Auffassungen das Ganze, tragen sie zur<br />

Entstehung von zwischenmenschlichen Schwierigkeiten, sozialen Problemen und<br />

anderen Krisen bei. Unverständnis, Drohungen und gewalttätige Auseinandersetzungen<br />

zwischen Einzelnen und Gruppen, wie auch zwischen politischen Mächten,<br />

sind im wesentlichen durch das Beharren <strong>auf</strong> engherzigen Standpunkten verstehbar.<br />

Auch <strong>die</strong> Schwierigkeiten einer gerechteren Verteilung der Güter <strong>die</strong>ser Welt<br />

und <strong>die</strong> derzeitige und wohl anhaltende ökologische Krise werden erzeugt durch das<br />

mehr oder weniger starre Festhalten an subjektiven Zielen oder Ansichten.<br />

Die Einfügung in erkannte übergreifende Zusammenhänge, <strong>die</strong> gegenseitige<br />

Einigung, <strong>die</strong> einen Verzicht <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Einseitigkeit und Enge der eigenen Wünsche<br />

oder Ziele erfordert, scheint dem Egoismus des einzelnen, der Gruppe und größerer<br />

Verbände zutiefst zu widerstreben. Egozentrismus dürfte daher eine grundlegende<br />

(Mit-)Ursache ungezählter Probleme und Krisen sein und stellt vermutlich <strong>die</strong><br />

bedeutsamste Begrenzung des Bewußtseins dar. Diese Begrenzung braucht<br />

keineswegs unbewußt zu sein, denn es ist nicht ungewöhnlich, daß wir<br />

1<br />

Hesse 1953, S. 3.<br />

6


Schädigungen anderer oder der Umwelt bewußt in K<strong>auf</strong> nehmen, weil uns <strong>die</strong><br />

Verfolgung der eigenen Interessen so bedeutsam scheint.<br />

Da wir vermutlich alle mehr oder weniger in <strong>die</strong>ser Weise denken, fühlen und<br />

handeln, kann man annehmen, daß jeder einzelne sowohl am Fortbestehen wie an<br />

der Veränderung derartiger Zustände einen - wenn auch noch so begrenzten -<br />

Anteil hat. Wenn man nun davon ausgeht, daß es eine Aufgabe von Bildung ist, <strong>die</strong><br />

subjektive Begrenztheit zumindest etwas zu verringern, dann stellt sich <strong>die</strong> Frage,<br />

<strong>auf</strong> welche Weise <strong>die</strong>s geschehen kann. Zwei grundlegende Ansätze hat <strong>die</strong><br />

Pädagogik hierzu entwickelt.<br />

0.1 Objektive und subjektive Bildung<br />

Der objektive Ansatz ist zu verstehen <strong>als</strong> Bildung durch Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten<br />

und Anpassung an bestehende Entwicklungen von Lebensformen, an<br />

deren Ziele und Werte. Er besteht in der Steuerung oder Formung des Menschen<br />

durch <strong>die</strong> Konfrontation mit äußeren Bedingungen.<br />

Subjektive Bildung sucht im Gegensatz dazu Sinn und Gesetz des Seins im Innern<br />

des Subjekts, in der verborgenen "Seele", im Selbst. Ihr Weg ist <strong>als</strong>o nicht der der<br />

Konfrontation des Individuums mit planvoll ausgewählten Bildungsgegenständen,<br />

sondern der der Selbsterkenntnis oder Selbstentfaltung. Da das Selbst in <strong>die</strong>ser<br />

Vorstellung <strong>die</strong> Ego-Abgrenzung überschreitet, bedeutet seine Erkenntnis zugleich<br />

<strong>die</strong> Entdeckung und Entwicklung der idealen Grundlage des sozialen Lebens.<br />

Bildung <strong>als</strong> Selbsterkenntnis oder Selbstentfaltung impliziert <strong>die</strong> Annahme, daß im<br />

Individuum zumindest anlagemäßig verschiedene Schichten oder Formen des<br />

Selbst existent sind, <strong>die</strong> entwickelt oder entdeckt werden können. Ansätze<br />

subjektiver Bildung findet man etwa bei Ellen Key, bei Berthold Otto und überhaupt<br />

in der Reformpädagogik. Man ging allgemein von einer an sich guten Natur des<br />

Menschen aus, <strong>die</strong> sich durch behutsames Wachsenlassen entwickele (man sieht<br />

hier den Einfluß der Ideen Rousseaus). Selbsterkenntnis <strong>als</strong> radikale methodische<br />

Disziplin wie in manchen Systemen des Yoga kannte und kennt <strong>die</strong> westliche<br />

Psychologie und Pädagogik dagegen kaum, wenn auch manche psychoanalytische<br />

Schulen Entwicklungen in <strong>die</strong>se Richtung zeigen. 2<br />

2<br />

Zur stärker subjektivistischen indischen Psychologie vgl. <strong>die</strong> Einführung von Petzold 1986.<br />

7


Bei objektiver Bildung geht es vor allem darum, das Individuum durch <strong>die</strong> Auseinandersetzung<br />

mit dem Objektiven, d. h. mit den Naturgesetzen, den Gesetzen der<br />

Logik, den Anforderungen der sozialen Umwelt und ihren <strong>Institution</strong>en zu formen.) 3<br />

Bildung, wie wir sie heute verstehen, richtet sich weitgehend <strong>auf</strong> das Äußere, das<br />

Objektive, <strong>auf</strong> das Wissen von den Dingen und deren Handhabung, <strong>auf</strong> <strong>die</strong><br />

Anpassung an <strong>die</strong> sozialen Erwartungen und Rollen. Diese Orientierung nach<br />

außen läßt uns sowohl unsere Probleme wie auch das Feld unserer Handlungsmöglichkeiten<br />

in <strong>die</strong>sem Außen sehen, in den objektiv vorfindbaren Regelungen<br />

oder funktionalen Abläufen, in Besitzverhältnissen, in Rechtsgrundlagen und anderen<br />

Bedingungen, <strong>die</strong> der konstruktiven Manipulation zugänglich sind. 4 ) Außen sind<br />

mithin alle <strong>die</strong> Dinge oder Erscheinungen, mit denen wir interagieren können, <strong>die</strong><br />

unabhängig von uns zu bestehen "und für unsere Wirklichkeit grundlegender zu sein<br />

scheinen <strong>als</strong> unser bestimmtes, beobachtetes Selbst.“ 5<br />

Wenn <strong>die</strong> Gesetzmäßigkeiten der Außenwelt uns auch zu bestimmen scheinen, so<br />

daß es so aussieht, <strong>als</strong> wären beispielsweise unsere sozialen Probleme nur durch<br />

<strong>die</strong> Veränderung von Regelungen oder <strong>Institution</strong>en lösbar, muß doch <strong>die</strong>se<br />

Veränderung von Menschen, von Individuen zustandegebracht werden, d. h. daß<br />

<strong>als</strong> erstes <strong>die</strong> Lösung (oder <strong>die</strong> scheinbare Lösung) im Subjekt, in den Vorstellungen<br />

des Individuums <strong>auf</strong>taucht und erst dann <strong>auf</strong> <strong>die</strong> äußeren Zustände übertragen wird.<br />

Zudem werden institutionelle Änderungen ihren Sinn <strong>auf</strong> Dauer wohl nur dann erfüllen<br />

können, wenn <strong>die</strong> davon Betroffenen das auch wollen. C. F. von Weizsäcker,<br />

der sich über viele Jahre und in zahlreichen Veröffentlichungen mit derartigen<br />

Fragen auseinandergesetzt hat, geht hier noch weiter:<br />

"Man kann sogar mit schlichter Vernunft, eigentlich mit dem Alltagsverstand<br />

sagen, was geschehen müßte, damit sie [<strong>die</strong> sozialen Probleme, <strong>die</strong><br />

Kriegsgefahr, <strong>die</strong> ökologische Krise (H. L.)] gelöst würden. Es ist <strong>als</strong>o nicht so,<br />

daß ein besonders gescheiter Mensch kommen muß, um Manager- und<br />

Steuerungs<strong>auf</strong>gaben zu lösen, <strong>die</strong> komplex sind; aber daran liegt es nicht,<br />

sondern es liegt letzten Endes daran, daß unsere seelische Verfassung so ist,<br />

daß jeder von uns an irgendeiner Stelle und viele von uns an vielen Stellen<br />

das einzig Heilsame abweisen, weil jeder Angst hat, daß ihm etwas passieren<br />

würde, wenn er hier <strong>die</strong> Konzession machte, <strong>die</strong> letztlich <strong>die</strong> einzige ist, <strong>die</strong> ihn<br />

retten würde. Und <strong>die</strong>se Struktur der angstvollen Selbstbeschützung des Ich,<br />

3<br />

4<br />

5<br />

Genauer besehen, handelt es sich bei <strong>die</strong>sen objektiven Zusammenhängen um<br />

biologisch, subjektiv und gesellschaftlich bedingte Sichtweisen. Denn nichts ist uns an<br />

sich, sondern immer nur durch unsere Auffassung gegeben, <strong>als</strong>o vermittelt über unsere<br />

Sinnesorgane und Kategorien.<br />

Allgemein zum Konstruktivismus und objektivismus vgl. Schelsky 1965, S. 439f.; Lehner<br />

1986.<br />

Tulku 1983, S. 278<br />

8


denn <strong>die</strong>se Angst ist nichts anderes <strong>als</strong> eine Selbstbehütung des Ich, kann<br />

überwunden werden, wenn das Ich sich erfährt <strong>als</strong> nicht <strong>die</strong> letzte und<br />

unbedingt zu behütende Wirklichkeit ... Und ich glaube deshalb, daß da, wo<br />

<strong>die</strong>se Erfahrung wirklich gemacht wird, ... eine Aussicht besteht, daß <strong>die</strong><br />

Menschen sich nicht mehr so angstvoll selbstzerstörerisch verhalten, wie es<br />

heute fast überall geschieht. In dem Sinn könnte ich den Leuten mit den<br />

großen Hoffnungen zustimmen; aber es muß natürlich erst einmal soweit<br />

kommen." 6<br />

Diese Lösung mag naiv und einfach klingen. Naiv mag man sie berechtigt nennen,<br />

aber dann müssen wir auch das Streben nach Gerechtigkeit <strong>als</strong> naiv bezeichnen.<br />

Einfach jedoch ist <strong>die</strong>se Lösung kaum, denn was könnte schwieriger sein, <strong>als</strong> uns<br />

selbst grundlegend zu verändern? Die wichtigste Methode dazu wurde und wird<br />

wohl in der Belehrung gesehen. Sie scheint aber zugleich eine wenig wirksame zu<br />

sein, wie Jean Paul es dargestellt hat:<br />

"Himmel, wären Worte zu Taten dicht zu schlagen, nur tausend zu einer:<br />

könnt' es dann <strong>auf</strong> einer Erde, wo von Kanzeln, Lehrstühlen, Bücherschränken<br />

aller Zeiten un<strong>auf</strong>hörlich <strong>die</strong> Flocken der reinsten kalten Ermahnungen<br />

schneien, noch eine einzige Leidenschaft geben, <strong>die</strong> vulkanisches Feuer<br />

auswürfe? Wäre <strong>die</strong> Geschichte rund herum dann nicht mit lauter<br />

Schneekratern und Eisbergen besetzt? - Ach! verehrteste Schullehrer, wenn<br />

wir selber nicht einmal von starken Gymnasium-Bibliotheken, welche<br />

jahrzehendelang predigen können, dahin gebracht werden, daß wir<br />

Monatheilige, ja nur Wochenheilige werden: was dürfen wir uns viel von den<br />

wenigen Bänden von Worten versprechen, <strong>die</strong> wir in der Schulstunde fallen<br />

lassen? - Oder auch mehr <strong>die</strong> Eltern sich zu Hause?" 7<br />

Wie intensiv <strong>die</strong> Belehrung auch betrieben werde, setzt Jean Paul noch hinzu,<br />

werde sie doch kaum zu etwas Besonderem führen. Dies sei zwar nur schwer<br />

"glaublich", aber schließlich sähen wir "täglich <strong>die</strong> kläglichsten Fälle davon ... - in<br />

uns selber." Und weiter sei es "in der Gelehrtengeschichte etwas sehr Gewöhnliches<br />

..., daß treffliche Männer sich mehre Jahrzehende hindurch vorsetzten,<br />

morgens früher <strong>auf</strong>zustehen, ohne daß - wenn sie es nicht etwa am Jüngsten Tage<br />

durchtreiben - viel daraus geworden'.' 8<br />

Da Jean Paul aber nicht eine absolute<br />

Wirkungslosigkeit von Belehrung und Erziehung nachweisen will, preist er in<br />

dialektischer Manier mit einer weiteren Rede Wert und Nutzen erzieherischer<br />

Eingriffe.<br />

6<br />

7<br />

8<br />

v.Weizsäcker 1978, S. 543-544.<br />

Jean Paul 1973 (1807), 5 8 (S. 541).<br />

Jean Paul 1973, § 8 (S. 541).<br />

9


Viele Bedingungen von Bildung liegen in objektiven, steuerbaren Außenverhältnissen,<br />

in Werten, in Materialien, in Aufgaben, Strategien, institutionellen Rahmenbedingungen<br />

usw. Es ist ein Allgemeinplatz, daß <strong>die</strong> Pädagogik immer nur über<br />

<strong>die</strong>se Bedingungen von Bildung verfügen kann, während <strong>die</strong> eigentlichen Bildungsprozesse<br />

von den lernenden Individuen selbst vollzogen werden müssen. In <strong>die</strong>ser<br />

Hinsicht unterscheidet sich <strong>die</strong> Erziehungswissenschaft nicht von den Naturwissenschaften<br />

- außer, daß in der Erziehungswissenschaft das Ergebnis nicht mit Sicherheit<br />

vorhersagbar ist. Auch ein Physiker kann lediglich Bedingungen herbeiführen,<br />

unter denen Naturkräfte in <strong>die</strong> ihnen gemäße Aktion treten können. Die Errichtung<br />

einer schiefen Ebene mit einer Rinne in der Mitte, in <strong>die</strong> eine Kugel gesetzt wird, ist<br />

ein Beispiel dafür. Entsprechend der vom Experimentator vorgegebenen Bedingungen<br />

und der der Kugel inhärenten Kraft, wird <strong>die</strong>se sich bewegen. Der Physiker wird<br />

nicht behaupten, er habe <strong>die</strong> Kugel bewegt oder ihre Bewegung unmittelbar hervorgebracht.<br />

Er hat lediglich <strong>die</strong> Bedingungen für <strong>die</strong>se ganz bestimmte Bewegung<br />

geschaffen.<br />

Aber zwischen dem Pädagogen und dem "Zögling" besteht ein anderes Verhältnis<br />

<strong>als</strong> zwischen dem Physiker und der Materie. Bildungsmaßnahmen werden getragen<br />

von einem Subjekt, einem Selbst, einem irgendwie inneren Wesen, was immer es<br />

sei, und <strong>die</strong>s wirkt <strong>auf</strong> ein solches im Lernenden. 9 So wie es nicht möglich ist,<br />

jemandem einen objektiven Sachverhalt zu erklären, von dem man selbst keine<br />

klare Vorstellung hat, so wird es nicht möglich sein, jemanden zur Veränderung oder<br />

Formung (d. h. Bildung) seiner selbst anzuregen, wenn man nicht selbst an sich<br />

arbeitet. 10 Diese Arbeit erfordert aber Selbsterkenntnis, sie erfordert, daß wir uns<br />

intensiver, theoretisch und praktisch, mit unserem subjektiven Sein auseinandersetzen.<br />

Dieses Sein kann im weitesten Sinn <strong>als</strong> Bewußtsein bezeichnet werden;<br />

Bewußtsein von den Dingen um uns herum und von den Dingen in uns. So wie <strong>die</strong><br />

Untersuchung der Materie zu neuen Sichtweisen und Formen der Weltbetrachtung<br />

geführt hat, könnte auch <strong>die</strong> Untersuchung unseres Inneren, unserer Psyche zu<br />

einer Revolutionierung unserer Auffassungen beitragen, zu Auffassungen, <strong>die</strong> über<br />

9<br />

Annahmen oder Erkenntnisse <strong>die</strong>ser Art sind natürlich in den ältesten Philosophien und<br />

Religionen zu finden. In der Pädagogik hat sich z.B. und vor allem Maria Montessori damit<br />

auseinandergesetzt und <strong>die</strong> vielleicht erfolgreichste Pädagogik <strong>auf</strong> <strong>die</strong>ser Grundlage<br />

entwickelt (man vgl. z.B. ihre Behandlung der sittlichen Erziehung, Montessori 1979, S.<br />

91ff.).<br />

10<br />

Wir werden später in Teil II sehen, daß differenziertere Erklärungen möglich sind,<br />

Erklärungen, <strong>die</strong> von einer verborgenen Einheit oder Ganzheit ausgehen (vgl hierzu etwa<br />

Montessori 1979, S. 132ff; Oswald 1977; Steiner 1975 (1932), S. 22).<br />

10


<strong>die</strong> bestehenden individuellen, sozialen und kulturellen Beengtheiten hinausweisen<br />

und so ungetrübtere Möglichkeiten der Lebensgestaltung und tieferer Befriedigung<br />

eröffnen könnten. Wenn das Ego nicht <strong>die</strong> letzte Instanz in uns ist, sondern andere,<br />

erweiterte Formen der Erlebnis- und Bewußtseinsweisen erschlossen werden<br />

können, mag <strong>die</strong>s zu einer Lösung vieler gegenwärtiger Probleme beitragen.<br />

Falls eine derartige Entwicklung des Bewußtseins überhaupt möglich sein sollte, 11<br />

kann man Bildung verstehen <strong>als</strong> <strong>die</strong> Ausweitung von Bewußtheit, wobei <strong>die</strong>se<br />

Ausweitung oder Entwicklung sich einerseits <strong>auf</strong> das Äußere, das Objektive, und<br />

andererseits <strong>auf</strong> das Innere, das Subjektive, bezieht. In der Störung des Gleichgewichts<br />

zwischen <strong>die</strong>sen beiden Seiten von Bewußtheit scheint <strong>die</strong> Ursache<br />

unserer grundlegenden Probleme zu liegen. Durch <strong>die</strong> weitgehende Beschränkung<br />

<strong>auf</strong> das Äußere wird wachsendes Wissen und zunehmende Macht einem Wesen<br />

zur Verfügung gestellt, das seine inneren Antriebe und Bestrebungen nur sehr<br />

begrenzt zu erkennen und zu beherrschen vermag. Im Gegensatz dazu kann eine<br />

Beschränkung <strong>auf</strong> das Innere <strong>die</strong> Vernachlässigung der Gestaltungsmöglichkeiten<br />

der äußeren Gegebenheiten nach sich ziehen und so ebenfalls zu einem entwürdigenden<br />

Dasein führen. 12<br />

0.2 Bewußtseinsentwicklung <strong>als</strong> Streben nach Ganzheitlichkeit<br />

Bewußtseinsentwicklung ist ein so allgemeiner Ausdruck, daß wir darunter sozusagen<br />

alle Formen und Bereiche von Bildung fassen können. Es geht bei Bildung<br />

darum, das Wissen und <strong>die</strong> Persönlichkeit zu strukturieren und auszuweiten, d.h.<br />

sich mehr und mehr irgendwelcher Dinge, Prozesse, Beziehungen, Erfahrungs-,<br />

Erkenntnis- und Erlebensweisen bewußt zu werden und <strong>auf</strong>grund <strong>die</strong>ses Bewußtseins<br />

<strong>die</strong> objektiven und subjektiven Vorgänge besser steuern zu können.<br />

Im Sinne der Bewusstseinsentwicklung kann alles bildend wirken, denn „alles was<br />

uns begegnet, läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei<br />

...“ 13 wie es im Wilhelm Meister heißt. Es erübrigt sich, <strong>die</strong> potentiell bildenden<br />

11 v.Weizsäcker, 1978, S. 545, glaubt, <strong>die</strong>se Frage entschieden mit Ja beantworten zu<br />

können.<br />

12 Zu den Gefahren eines f<strong>als</strong>ch verstandenen Subjektivismus vgl. auch Lehner 1986, S.<br />

59f.<br />

13 Vgl. auch Goethe 1977 (1795-1796) 7. Buch, 1. Kap., S. 454: Die Annahme, daß alles<br />

bildend wirke, hat eine gewisse Parallelität zur Philosophie oder Theorie der Karma-Lehre,<br />

11


Wirkungen der humanistischen Geisteswissenschaften gegen <strong>die</strong>jenigen der Naturwissenschaften<br />

oder <strong>die</strong> der Allgemein- gegen <strong>die</strong> der Berufsbildung <strong>auf</strong>zurechnen.<br />

14 Es ist auch nicht nötig, uns zwischen einem <strong>auf</strong> Innerlichkeit und einem <strong>auf</strong><br />

Entäußerung beruhenden Weg der Bildung zu entscheiden; es kann vielmehr nur<br />

darum gehen, alle Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen und zu integrieren.<br />

Da alles bildet bzw. bildend wirken kann, d. h. <strong>als</strong>o zur Erweiterung von Bewußtheit<br />

<strong>die</strong>nen kann, stellen <strong>die</strong> genannten Unterscheidungen Möglichkeiten dar, <strong>die</strong> sich<br />

ergänzen. All <strong>die</strong>s bedeutet, daß Bildung <strong>als</strong> Bewußtseinsentwicklung <strong>auf</strong> Ganzheitlichkeit<br />

hin ten<strong>die</strong>rt; Bewusstsein ist jedoch immer partiell, solange etwas<br />

außerhalb seiner selbst existiert, das es nicht umfaßt oder umfassen kann.<br />

Was Ganzheit ist, kann ebensowenig abschließend definiert werden wie Wahrheit, 15<br />

Gerechtigkeit usw. Aber wie <strong>die</strong>se letzteren Ideen, so kann auch Ganzheit <strong>als</strong><br />

regulative Idee <strong>die</strong>nen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Arbeit der Bewußtseinsentwicklung leiten kann.<br />

Etwas "ganz machen" bedeutet, es zu reparieren, <strong>die</strong> Funktionstüchtigkeit<br />

wiederherzustellen. Im Gegensatz dazu bedeutet <strong>die</strong> Zerteilung, <strong>die</strong> Fragmentierung<br />

eines ursprünglich Ganzen, es zu zerstören, seine Funktionsfähigkeit zumindest<br />

solange <strong>auf</strong>zuheben, bis der ursprüngliche Zustand durch Zusammensetzung der<br />

Teile wiederhergestellt ist. 16 Gegensätzlichkeiten bestehen aus <strong>die</strong>ser Sicht lediglich<br />

in der Trennung einer ursprünglicheren oder auch anzustrebenden Ganzheitlichkeit<br />

oder Synthese. 17 Eine <strong>die</strong>ser Gegensätzlichkeiten wurde weiter oben <strong>als</strong> <strong>die</strong> von<br />

Subjekt und Objekt beschrieben. Wenn wir <strong>die</strong>se <strong>als</strong> völlig voneinander getrennt<br />

sehen und uns im Denken <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Objektseite beschränken, führt <strong>die</strong>s offenbar zu<br />

vielen Problemen, weil wir unsere Wünsche <strong>als</strong> weitgehend unabhängig und<br />

selbstexistent empfinden und unsere Umwelt <strong>als</strong> mehr oder weniger verfügbares<br />

Mittel zur Erreichung unserer Ziele betrachten. Dies führt häufig zu Disharmonie und<br />

Unordnung, und beides sind Störungen innerhalb eines Ganzen, dessen ganzheitliche<br />

Ordnung nicht erkannt oder berücksichtigt wird.<br />

<strong>die</strong> in etwa besagt, daß alles, was jemand tut, denkt, fühlt, Wirkungen hinterlasse, <strong>die</strong><br />

sich, wo nicht eine willentliche Unterbrechung erfolge, ewig fortpflanzen. Vgl. etwa Steiner<br />

1976, insbesondere S. 9f.<br />

14 Vgl. Litt 1967, 1969a, 1969b.<br />

15 Zu verschiedenen Wahrheitsdefinitionen vgl. Beckmann 1981, KE 2, S. 67-87.<br />

16 Zur Idee der Ganzheit vgl. vor allem Bohm 1985, S. 19ff. sowie Smuts 1927. In den<br />

dreißiger Jahren wurde eine Didaktik entwickelt, <strong>die</strong> von der Vorstellung der Ganzheitlichkeit<br />

der Erfahrung ausging und Ganzheit <strong>als</strong> Stimmigkeit verstand; vgl. vor allem wittmann<br />

1967 (11929).<br />

17 Das ist zweifellos eine Vorstellung, <strong>die</strong> im Denken Hegels und des ganzen Idealismus<br />

eine herausragende Rolle spielte.<br />

12


Da Uneinheitlichkeit oder Zwiespalt mit Reibung und Konflikt einhergeht, bedeutet<br />

sie zudem einen Verschleiß von Kräften. Daher können beispielsweise auch<br />

Konflikte zwischen unseren Vorstellungen zu einer Herabminderung der geistigen<br />

und körperlichen Vitalität führen, wie James ausgeführt hat:<br />

"Der Mangel an Vitalität, unter dem wir leiden, entsteht durch <strong>die</strong> Hemmung,<br />

<strong>die</strong> der eine Teil unserer Vorstellungen <strong>auf</strong> andere Teile unserer Vorstellungen<br />

ausübt. Das Denken macht Feiglinge aus uns allen. Die gesellschaftlichen<br />

Gewohnheiten hindern uns daran, <strong>die</strong> Wahrheit zu sagen nach<br />

Art der Helden und Heldinnen von Bernhard Shaw. Unsere wissenschaftliche<br />

Respektabilität hält uns davon zurück, <strong>die</strong> mystischen Seiten unserer Natur<br />

frei zu entfalten ... Wir alle kennen Menschen, <strong>die</strong> Muster von Vortrefflichkeit<br />

sind, aber dennoch dem extremen Philistertypus angehören. So tötlich ist<br />

ihre intellektuelle Respektabilität, daß wir über gewisse Gegenstände uns<br />

nicht mit ihnen unterhalten, ja <strong>die</strong>se in ihrer Gegenwart nicht einmal erwähnen<br />

können." 18<br />

Die Begrenztheit unserer Vorstellungen, unseres Wissens, bedeutet <strong>als</strong>o <strong>die</strong><br />

Störung einer Ganzheit, der wir zwar angehören, <strong>die</strong> aber über das, dessen wir<br />

gegenwärtig bewußt sind, hinausgeht. Angenommen etwa, wir wären Teil einer<br />

geistigen Wirklichkeit, <strong>die</strong> unseren Verstand überschreitet und <strong>die</strong> <strong>die</strong>sem<br />

unerkennbar oder vielleicht auch nur intellektuell nicht anerkennbar scheint, dann<br />

würde <strong>die</strong>s bedeuten, daß wir einen Teil unserer selbst zurückweisen und unser<br />

eigentliches Selbst verstümmeln würden, was sich irgendwie auch <strong>auf</strong> das<br />

auswirken müßte, was wir zu sein glauben. Wahrscheinlich würden wir subjektiv gar<br />

nichts <strong>als</strong> Mangel oder Störung empfinden können, aber in unseren Handlungen<br />

und in unserem Fühlen und Denken wären wir abgetrennt, und das würde<br />

notgedrungen Disharmonie, Streit usw. verursachen.<br />

Wie sehr wir uns an das analysierende, zerteilende, diskutierende Denken und<br />

Wahrnehmen gewöhnt haben und wie fremd uns Versuche einer ganzheitlichen<br />

Weltsicht anmuten, läßt sich auch aus dem Vergleich unserer biologisch-ökologischen<br />

Auffassungen mit dem folgenden Zitat aus einer Rede des Häuptlings<br />

Seattle erkennen. Während unsere Sichtweise unverbindlich für unser Handeln ist<br />

und sein muß, ist <strong>die</strong>s dem Indianer (noch) nicht möglich.<br />

"Die Erde ist unsere Mutter. Was <strong>die</strong> Erde befällt, befällt auch <strong>die</strong> Söhne der<br />

Erde. Wenn Menschen <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Erde spucken, bespeien sie sich selbst. Denn<br />

18 James 1941, S. 262-263. (Die deutsche Übersetzung ist der Einführung zu James 1914<br />

von J. Goldstein, S. VI-VII entnommen.)<br />

13


das wissen wir, <strong>die</strong> Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört zur<br />

Erde - das wissen wir. Alles ist miteinander verbunden, wie das Blut, das<br />

eine Familie vereint. Alles ist verbunden. Was <strong>die</strong> Erde befällt, befällt auch<br />

<strong>die</strong> Söhne der Erde. Der Mensch schuf nicht das Gewebe des Lebens, er ist<br />

darin nur eine Faser. Was immer Ihr dem Gewebe antut, das tut Ihr Euch<br />

selbst an." 19<br />

Es dürfte kaum möglich sein, zu einer solchen ganzheitlich-mythischen Sichtweise<br />

zurückzukehren; <strong>die</strong> heutige Welt ist zudem weitaus komplexer <strong>als</strong> es <strong>die</strong> indianische<br />

war. Aber es ist auch heute einsichtig oder sollte es sein, daß, um aus den<br />

immer verzwickter, größer und unlenkbarer werdenden organisatorischen Apparaten,<br />

aus dem Chaos von Meinungen, Schlagworten, Werten, sonstigen Anschauungen<br />

und der unüberschaubaren Ansammlung wissenschaftlicher Kenntnisse, aus<br />

den künstlichen Konstruktionen unseres Denkens, <strong>die</strong> zu schwach und unvollkommen<br />

sind, um uns ein umfassendes Verständnis der Erscheinungen und ihre sichere<br />

Handhabung zu erlauben, daß es, um aus <strong>die</strong>sem Labyrinth zu entkommen, eines<br />

ganzheitlichen Weltbildes bedürfte, das das gegenwärtige fragmentierende Fühlen,<br />

Denken und Handeln ersetzen könnte. 20 Ein derartiges ganzheitliches Weltbild kann<br />

aber nur wirksam sein, wenn es keine bloße Ausgeburt der Phantasie ist, sondern<br />

der Realität entspricht. Spirituelle Erfahrungen, <strong>die</strong> nicht selten - weil vom Gewohnten<br />

abweichend – <strong>als</strong> psychopathologisch klassifiziert werden, 21 lassen <strong>die</strong> Annahme<br />

von Welten, durch <strong>die</strong> wir Teil einer größeren geistigen Ganzheit sind, nicht so<br />

ganz unwahrscheinlich erscheinen. Oder wie James es formuliert:<br />

"Wir mögen uns vielleicht in dem Universum in einer Lage befinden wie <strong>die</strong><br />

Hunde und Katzen in Bibliotheken, <strong>die</strong> unsere Bücher sehen und unsere<br />

Unterhaltung hören, ohne <strong>die</strong> geringste Ahnung davon zu haben, was das<br />

alles bedeutet. Die intellektualistischen Einwände hiergegen fallen weg, wenn<br />

<strong>die</strong> Autorität der intellektualistischen Logik kritisch untergraben ist, und es<br />

bleibt dann das Zeugnis der positiven Erfahrungen bestehen. Die Tatsachen<br />

der normalen Psychologie und der Pathologie, . . und <strong>die</strong> der religiösen Erfahrung<br />

liefern uns Analogien, <strong>die</strong> zusammengenommen zweifellos eine überaus<br />

starke Wahrscheinlichkeit zugunsten einer Weltanschauung bilden," 22<br />

<strong>die</strong> sehr viel umfassender und in <strong>die</strong>sem Sinne vielleicht "ganzheitlicher" ist <strong>als</strong><br />

unsere gewöhnliche und auch wissenschaftliche Sichtweise.<br />

19 Seattle o.J., S. 25-26.<br />

20 Zur religiösen Erfahrung vgl. z.B. James 1979 (1901-1902), sowie Kap. 6.3 <strong>die</strong>ser Arbeit<br />

und <strong>die</strong> dort zitierte Literatur.<br />

21 Zur sogenannten psychopathologischen Erfahrung vgl. z.B. Custance 1954.<br />

22 James 1914, S. 199.<br />

14


Als Ergebnis <strong>die</strong>ser Überlegungen bleibt festzuhalten, daß Ganzheit nicht ausgedacht<br />

und mit Hilfe eines Buches oder Lehrprogrammes angeeignet werden kann.<br />

Man muß aber wohl Schritte <strong>auf</strong> <strong>die</strong>ses Ziel hin machen können, wobei jedoch der<br />

intellektuellen Erfahrung Grenzen gesetzt zu sein scheinen. Aber auch wenn man<br />

<strong>die</strong>se Grenzen erkennt, braucht <strong>die</strong>s kein Grund zu sein, Erfahrungen, <strong>die</strong> darüber<br />

hinausgehen, <strong>als</strong> einen rational nicht voll zugänglichen und zu beurteilenden<br />

Bereich abzulehnen. Die Frage ist, was jenseits <strong>die</strong>ses Denkens ist. Vielleicht sind<br />

es einfach andere Formen des Erkennens, <strong>die</strong> nicht den "Umweg" des Denkens,<br />

des Vermutens und Diskutierens, brauchen, sondern in mehr oder weniger unmittelbarer<br />

Erfahrung geistiger Strukturen bestehen. Das wäre nicht so sonderbar, denn<br />

auch so ist es möglich, verschiedene Formen des Denkens zu unterscheiden. Da ist<br />

das an konkrete Dinge und Formen gebundene Denken, dann das abstrakt-konzeptuelle<br />

oder wissenschaftliche Denken und schließlich das mit allgemeinen Ideen<br />

jonglierende Denken.<br />

Jene Formen unmittelbarer geistiger Erfahrungen 23 (wie sie etwa von Mystikern<br />

berichtet werden) können uns recht fragwürdig scheinen, weil es uns in der Regel<br />

nicht möglich ist, sie selbst nachzuprüfen – es sei denn, wir unterziehen uns der<br />

dazu nötigen Schulung. Aber früher mußten sich <strong>die</strong> Geographen auch <strong>auf</strong> <strong>die</strong><br />

Beschreibung einzelner Entdecker verlassen, wenn sie noch unbekannte Gebiete<br />

kartographisieren wollten. Sie konnten <strong>die</strong> erhaltenen Angaben ja später mit<br />

anderen vergleichen. Das gleiche ist auch in Bezug <strong>auf</strong> mystische Erfahrungen<br />

möglich. 24 Es scheint so durchaus rational oder vernünftig, <strong>die</strong>se Erfahrungen zu<br />

akzeptieren und sie in unser Weltbild miteinzubeziehen. Dies ist das Grundprinzip<br />

von James' Radikalem Empirizimus, 25 das Goldstein zusammenfaßt: "... nichts soll<br />

<strong>als</strong> Tatsache zugelassen werden, was nicht irgendwie Gegenstand der Erfahrung<br />

werden kann. Und umgekehrt: alles, was irgendwie Gegenstand der Erfahrung ist,<br />

muß im System der Dinge <strong>als</strong> eine Wirklichkeit gelten." 26 Es dürfte <strong>auf</strong> eine wenig<br />

fruchtbare Selbstbestätigung hinausl<strong>auf</strong>en, wenn wir, wie <strong>die</strong> Naturalisten oder<br />

Physikalisten, 27 mystische Erfahrungen <strong>auf</strong>grund dogmatischer Annahmen (d. h.<br />

dogmatischer Grenzsetzungen) hinwegerklären wollten.<br />

23 Mit James, 1976, z.B. wird hier das durch Selbstbeobachtung Gewonnene zur Empirie<br />

gezählt.<br />

24 Vgl. Bergson 1980 (11932), S. 243.<br />

25 James 1976; vgl. auch <strong>die</strong> Untersuchung von Herms 1976.<br />

26 J. Goldstein in seiner Einführung zu James 1914, S. VIII.<br />

27 Zur Beschreibung und Kritik physikalistischer bzw. materialistischer Positionen vgl.<br />

Popper in Popper/Eccles 1977, S. 51ff.<br />

15


Ein derartiges Wegerklären scheint auch dann nicht gerechtfertigt, wenn <strong>die</strong>se<br />

Erfahrungen zunächst nicht mit unserer Logik, insbesondere dem Satz von<br />

Widerspruch übereinstimmen. Tatsächlich gibt es Erfahrungsbereiche, in denen A<br />

und Nicht-A scheinbar gleichzeitig möglich sind. Aber für uns, d. h. für unser<br />

rationales Denken machen solche Erfahrungen ganz einfach keinen Sinn. Tatsächlich<br />

gilt der Satz vom Widerspruch aber auch in Fällen, in denen <strong>auf</strong> den ersten Blick<br />

Widersprüche <strong>als</strong> zugelassen erscheinen. So sind beispielsweise bei vielen<br />

zunächst widersprüchlichen Aussagen Hegels häufig Interpretationen möglich (etwa<br />

<strong>die</strong> Veränderungen von Ereignissen im L<strong>auf</strong>e der Zeit von A zu Nicht-A 28 oder <strong>die</strong><br />

Betrachtung <strong>die</strong>ser Erscheinungen von unterschiedlichen Ebenen, <strong>die</strong> den<br />

Widerspruch <strong>als</strong> nur scheinbar erweisen. 29 Wäre das nicht möglich, würden wir bei<br />

der Beschäftigung damit vielleicht ebenso "verrückt", wie jene armen Tiere, <strong>die</strong> im<br />

Experiment vor Bedingungen gestellt wurden, <strong>die</strong> sich von Mal zu Mal verkehrten,<br />

und <strong>die</strong> schließlich nichts mehr ausprobierten, sondern stumpfsinnig <strong>die</strong>selbe<br />

Reaktion wiederholten, ob sich nun ihr Leiden minderte oder verschlimmerte, und<br />

<strong>die</strong> auch den eigenen Tod dann nicht gescheut hätten. Auch Beispiele aus der<br />

Mathematik und Physik zeigen, daß von einem Standpunkt a-logische Annahmen<br />

durchaus logisch sein können, logisch eben in einem anderen Rahmen. Man denke<br />

an <strong>die</strong> widersprüchlich scheinende Annahme von Materie und Anti-Materie; oder in<br />

der Quantenphysik <strong>die</strong> Möglichkeit von Teilchen, <strong>die</strong> sich nicht nur im Raum,<br />

sondern auch in der Zeit vor und zurück bewegen können; oder in der Mathematik<br />

den Bereich der transfiniten Zahlen, wo Unterschiede zwischen unendlichen<br />

Mengen von Zahlen gemacht werden, obgleich auch der Satz gilt, daß unendlich<br />

gleich unendlich ist. 30 Die Wirklichkeit braucht sich nicht um unsere Logik zu<br />

"kümmern"; sie zeigt uns, daß vieles gleichzeitig bestehen kann, das sich für uns<br />

auszuschließen scheint. Für <strong>die</strong> Erde etwa bestehen <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Jahreszeiten oder Tag und Nacht stets gleichzeitig, während sie für uns nur<br />

<strong>auf</strong>einander folgen können. Es ist offenbar eine Frage des Standpunktes. Es gilt,<br />

nicht verschiedene Ebenen der Betrachtungsweise zu vermischen. Beispielsweise<br />

ist <strong>die</strong> Behauptung, der Tisch, <strong>auf</strong> dem ich schreibe, existiere so, wie ich ihn sehe,<br />

und er existiere nicht so, natürlich widersprüchlich; aber aus der Sicht der<br />

subatomaren Physik unterliegt meine Wahrnehmung einer Täuschung, und <strong>die</strong><br />

Verneinung der ersten Behauptung kann ebenfalls wahr sein. Die am häufigsten<br />

28 Vgl. Popper 1972, S. 312f.<br />

29 Vgl. James 1941, S. 369f.<br />

30 Vgl. Guillen 1984, S. 46f.<br />

16


<strong>auf</strong>tretenden Widersprüche dürften jedoch <strong>die</strong> zwischen Theorien oder Auffassungen<br />

derselben Ebene sein. Wenn man <strong>die</strong> eigene Auffassung <strong>als</strong> unbedingt wahr<br />

voraussetzt, dann wird man auch <strong>die</strong> davon abgeleiteten Behauptungen <strong>als</strong> wahr<br />

(im logischen Sinn) darstellen können, und <strong>die</strong> anderen haben immer Unrecht. Es ist<br />

aber nicht ausgeschlossen, daß auch andere Auffassungen einer Sache nicht ganz<br />

f<strong>als</strong>ch sind, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se unter einem anderen Blickwinkel betrachten, so daß dann<br />

auch <strong>die</strong> daraus abgeleiteten Behauptungen nicht so ganz f<strong>als</strong>ch zu sein brauchen.<br />

Widersprüche sollten <strong>als</strong>o, zunächst jedenfalls, eher zum Nachdenken <strong>als</strong> zum<br />

Urteilen anregen. Zuverlässiges Urteilen über andere Auffassungen ist eigentlich<br />

erst möglich, wenn man sich darin bewegen kann wie in eigenen (ein Grundsatz,<br />

gegen den wir fast alle leider häufig verstoßen).<br />

Wenn nun Rationalität eine Abgrenzung gegenüber einem Unter- und Überrationalen<br />

31 darstellt, wobei <strong>die</strong>se Bereiche einen Einfluß <strong>auf</strong> uns ausüben, dann ist<br />

es durchaus vernünftig, sich <strong>die</strong>ser Bereiche - soweit und sofern das möglich ist -<br />

bewußt zu werden und sie in das eigene Selbst- und Weltbild zu integrieren. Man<br />

befaßt sich ja auch mit der Untersuchung der Materie, und Materie ist sicher nichts<br />

an sich Rationales. Eine solche Bewußtmachung und Integration wird ja weithin<br />

auch <strong>als</strong> eine Vorbedingung zur Erzielung oder Erhaltung psychischer Gesundheit<br />

betrachtet. Man denke hier an jene Formen der Psychotherapie, wie sie durch <strong>die</strong><br />

von Combs und Snygg gegebene Definition charakterisiert werden: "Psychotherapie<br />

ist eine Beziehung, <strong>die</strong> bewußt und sorgfältig dar<strong>auf</strong> abzielt, Menschen bei der<br />

Erforschung ihrer selbst und der Welt, in der sie leben, zu unterstützen, so daß sie<br />

zu neuen und adäquateren Beziehungen zwischen sich selbst und der Welt, in der<br />

sie agieren, finden können." 32 (Die Verhaltenstherapie kann <strong>als</strong>o nicht hierunter<br />

gezählt werden.) Bei vielen besteht natürlich auch eine Angst vor und eine Abwehr<br />

gegen das "Irrationale" in einem selbst und möglicherweise ist <strong>die</strong>s auch in vielen<br />

Fällen angebracht, insbesondere dann, wenn man nicht in der Lage ist, <strong>die</strong> damit<br />

verbundenen Energien zu beherrschen.<br />

Die Aufgabe <strong>die</strong>ser Arbeit ist es, Begrenzungen <strong>die</strong>ser Art in unseren Vorstellungen<br />

zu untersuchen (Teil I) und bestehende, wenn auch vielleicht nicht allgemein<br />

akzeptierte Möglichkeiten der Überschreitung <strong>die</strong>ser Begrenzungen darzustellen<br />

und so teilweise neue Formen und Möglichkeiten der Bildung zu entwickeln (Teil III).<br />

31 Vgl. hierzu <strong>die</strong> Ausführungen in Kap. 4 bzw. 6.2 und 6.3.<br />

32 Combs/Snygg 1959, S. 412. Die Übersetzung <strong>die</strong>ses und der meisten englischen Zitate,<br />

für <strong>die</strong> keine deutschen Fassungen vorlagen, verdanke ich Nicola=Maria Blickmann, M.A.<br />

17


Dazu wird es allerdings notwendig sein, eine möglichst umfassende Vorstellung von<br />

Bewußtsein zu gewinnen (Teil II).<br />

18


TEIL I: BEGRENZUNGEN DES BEWUßTSEINS: BILDUNGSPROBLEME<br />

Wenn, wie einleitend dargestellt, Bildung <strong>als</strong> Bewußtseinsentwicklung oder –ausweitung<br />

verstanden werden kann, dann können wir alle Bildungsprobleme <strong>auf</strong> Ursachen<br />

der Nicht-Entwicklung oder Begrenzung des Bewußtseins zurückführen. Es<br />

gibt zahlreiche solche Begrenzungen; sie sind individueller, institutioneller und<br />

kultureller Art, wobei institutionelle und kulturelle Begrenzungen (z. B. soziale,<br />

moralische oder religiöse Vorstellungen, Rollenerwartungen in Beruf und Familie<br />

usw.) sich natürlich immer im Individuum auswirken, sei es unterstützend und fördernd<br />

oder auch hindernd. Das Bestreben, <strong>die</strong> bestehenden eigenen Begrenzungen<br />

zu bewahren, ist nahezu universal; weder Individuen noch <strong>Institution</strong>en ändern sich<br />

bereitwillig zu etwas, das ihr bisheriges Selbstverständnis überschreiten würde, und<br />

Gesellschaften und Kulturen scheinen so beschaffen, daß sie den Widerstand<br />

gegen derartige Entwicklungen weitgehend unterstützen. Der schlimmste Feind<br />

etablierter Kirchen ist <strong>die</strong> Entwicklung neuer religiöser Bewegungen (abwertend<br />

dann <strong>als</strong> Sekten bezeichnet), und auch Wirtschaft, Staat und <strong>die</strong> übrigen<br />

<strong>Institution</strong>en der Gesellschaft sind daran interessiert, daß <strong>die</strong> Dinge mehr oder<br />

weniger so bleiben wie sie sind bzw. sich nur in ganz bestimmten Grenzen<br />

entwickeln oder verändern. Gesellschaftliche Realität kommt <strong>die</strong>sen begrenzenden,<br />

aber natürlich auch strukturierenden sowie Halt und Orientierung vermittelnden<br />

Auffassungen dadurch zu, daß <strong>die</strong> Individuen sie zu ihren eigenen machen. Die<br />

einzige Stelle, wo sie <strong>als</strong>o direkt greifbar und veränderbar sind, ist im Einzelnen<br />

selbst. Der Zugang zu den Begrenzungen oder Hindernissen einer Bewusstseinsentwicklung,<br />

<strong>die</strong> zur Bildung eines sich stärker selbstbestimmenden Individuums<br />

führen könnte, liegt in <strong>die</strong>sem selbst. Wenn wir Bildung <strong>als</strong> Bewußtseinsentwicklung<br />

verstehen, <strong>die</strong> grundsätzlich dar<strong>auf</strong> aus ist, <strong>die</strong> bestehenden begrenzenden<br />

Ansichten und Auffassungen zu überschreiten, dann muß unsere erste Aufgabe in<br />

der Untersuchung <strong>die</strong>ser Begrenzungen bestehen.<br />

Auf einer konkreteren Ebene sehen wir <strong>die</strong> Begrenzungen darin, daß <strong>die</strong> Lernenden<br />

zuwenig wissen, oder daß ihr "besseres" Wissen sich nicht oder nicht hinreichend in<br />

ihrem Handeln ausdrückt. Und <strong>die</strong>ses Problem kehrt immer wieder, bei Eltern, bei<br />

19


Lehrenden und auch bei anderen Berufen wie Ärzten, Ingenieuren, Architekten,<br />

Politikern, Wissenschaftlern usw. Man kann <strong>die</strong>se Begrenztheit zu erklären versuchen<br />

mit Theorien der Begrenztheit der menschlichen Informationsverarbeitungskapazität<br />

und der grundsätzlichen Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens.<br />

Man kann davon ausgehen, Bewußtseinsbegrenzung sei ein Faktum, und<br />

es ergebe keinen Sinn, Fakten nicht anerkennen zu wollen. Aber Fakten sind<br />

keineswegs etwas Letztgültiges, sondern lediglich Beschreibungen von Zuständen<br />

oder Prozessen, <strong>die</strong> wir <strong>als</strong> gegeben erfahren, wobei <strong>die</strong>se Erfahrungen aber immer<br />

innerhalb des jeweiligen Interpretationsrahmens erfolgen und daher Deutungen<br />

beinhalten. 33 Was <strong>die</strong> Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens betrifft, gibt<br />

es sehr voneinander abweichende Behauptungen. So meinte schon Sextus<br />

Empiricus (3. Jh.), daß wir nicht wissen könnten, was wir wissen und was wir nicht<br />

wissen können. Der Agnostizismus sei daher ein Dogma. 34 Wir versuchen<br />

außerdem ständig, <strong>die</strong> Grenzen unseres Wissens und Bewußtseins auszudehnen;<br />

wie <strong>die</strong> Wissenschaft, ist auch Bildung ein Versuch, <strong>die</strong>se Begrenzung der<br />

Bewußtheit zu erweitern, <strong>die</strong> Grenze immer weiter hinauszuschieben. Dies bedeutet<br />

allerdings, daß wir vom Bestehen einer solchen Grenze überzeugt sind.<br />

1. DAS INDIVIDUUM: UNEINHEITLICHKEIT DER BEGRENZUNG<br />

1.1 Die Person <strong>als</strong> Konglomerat<br />

Wir sind gewohnt, Individuen wie in sich einheitliche Wesen zu sehen und zu<br />

behandeln. Aber <strong>die</strong>se Einheit der Person ist eine Illusion. Bekanntlich hat Freud<br />

den "psychischen Apparat" in das Es, das Ich und das Über-Ich und das<br />

Bewußtsein in das Bewußte, Vorbewußte und Unbewußte unterteilt. 35 Wir müssen<br />

<strong>als</strong>o davon ausgehen, daß das, was eine Person ausmacht, aus sehr<br />

verschiedenen Teilen besteht, <strong>die</strong> sich häufig im Widerspruch zueinander befinden.<br />

So kann der Wunsch nach Geselligkeit und Aktivität dem Ruhebedürfnis des<br />

Körpers widersprechen; der Appetit, <strong>die</strong> Eß- und Trinkgewohnheiten dürften nicht<br />

33 Vgl. Popper 1971, S. 60f.<br />

34 Vgl. Sextus Empiricus 1911, Bd. 1.<br />

35 Vgl. Freud 1953 (11939), S. 6ff. u. 20ff.<br />

20


selten gegen den Organismus gerichtet sein; der Verstand kann wünschen, daß<br />

eine bestimmte Arbeit erledigt wird, während ein weiterer Wesensteil sich gegen<br />

<strong>die</strong>se Arbeit sträubt und andere Befriedigungen sucht. Ängste oder Ärger und<br />

sonstige emotional sich äußernde Kräfte oder Energien können den Einzelnen<br />

überfallen; auch wenn er <strong>die</strong>se Dinge in einem anderen Teil seiner Person ablehnt,<br />

gelingt es ihm vielleicht nicht, sich erfolgreich gegen sie zu wehren. Eine starke<br />

Persönlichkeit wie Dostojewski fühlte sich jahrelang von einem Spieltrieb besessen,<br />

gegen den er verzweifelt ankämpfte und doch immer wieder unterlag. Nachdem er<br />

wieder einmal alles, was er besaß, verspielt hatte, machte er <strong>die</strong> innere Erfahrung,<br />

daß <strong>die</strong> Sucht zu spielen von ihm genommen sei. Er bezeichnete <strong>die</strong>s <strong>als</strong> ein<br />

Wunder, das nicht er selbst bewirkt habe. 36 Das zeigt, daß es Möglichkeiten der<br />

Überwindung von Uneinheitlichkeiten innerhalb der Person gibt, wie auch immer<br />

<strong>die</strong>se Vereinheitlichung zustandekommen mag. Diese Uneinheitlichkeit kann vor<br />

allem in schweren Fällen vom Individuum sehr deutlich <strong>als</strong> Zerrissenheit, <strong>als</strong><br />

Störung erlebt bzw. erlitten werden.<br />

Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Sie zeigen, daß der Mensch weder<br />

eine Einheit ist, noch daß der einzelne immer über eine Steuerungsinstanz verfügt,<br />

<strong>die</strong> klar über <strong>die</strong> verschiedenen Tendenzen bestimmen könnte. Die Psychologen<br />

zogen daraus den Schluß, daß das, was wir <strong>als</strong> persönliche Entscheidungen<br />

bezeichnen, nichts weiter sei, <strong>als</strong> <strong>die</strong> Ergebnisse von miteinander konfligierenden<br />

psychologischen Kräften, von denen <strong>die</strong> jeweils stärkeren den Sieg davontrügen.<br />

Wir brauchen hier nicht anzunehmen, daß das immer so sein müsse (es wird später,<br />

in Kap. 5.4 noch ausführlicher dar<strong>auf</strong> zurückzukommen sein), aber der Schluß<br />

zumindest dürfte gerechtfertigt sein, daß <strong>die</strong> Herrschaft, <strong>die</strong> wir bewußt über uns<br />

und unser Tun ausüben, begrenzt ist und daß auch das Bewußtsein dessen, was<br />

wir sind und was in uns vorgeht, ebenfalls mehr oder weniger begrenzt ist.<br />

1.2 Probleme <strong>auf</strong>grund individueller Bewußtseinsbegrenzungen<br />

Bedenkt man, zu welchen Störungen oder Disharmonien <strong>die</strong>ses begrenzte<br />

Bewußtsein unseres Selbst und folglich <strong>die</strong> begrenzte Beherrschung unserer selbst<br />

führen kann, dann legt <strong>die</strong>s den Gedanken nahe, daß <strong>die</strong>se Begrenzungen auch <strong>die</strong><br />

Ursache für soziale Probleme sind, für einen f<strong>als</strong>chen Umgang mit Dingen,<br />

36 Vgl. hierzu Dostojewskaja 1985.<br />

21


Schwierigkeiten im Arbeitsprozeß, beim Lehren und Lernen und auch für<br />

Begrenzungen des Erkenntnisprozesses.<br />

Was den Erkenntnisprozeß betrifft, so ist er wesentlich abhängig vom Instrument<br />

des Verstands und der Fähigkeit zu möglichst unvoreingenommener Beobachtung<br />

und intuitiver Einsicht. 37<br />

Wenn wir absehen von mangelnder Übung, dann kann<br />

unser Verstand in seiner Funktionsweise beeinflußt oder gestört werden u. a. durch<br />

körperliche oder nervliche Ermüdung (vorausgesetzt, wir identifizieren den Verstand<br />

nicht mit dem physischen Nervensystem 38 , durch verengende Einstellungen oder<br />

Vorlieben. Wenn Gedanken oder Intuitionen <strong>auf</strong> ein durch derartige Erscheinungen<br />

getrübtes oder beeinträchtigtes Denken stoßen, dann werden sie zu so etwas wie<br />

vagen, unklaren Vorstellungen oder Ideen, d. h. der Verstand ist gar nicht fähig, Gedanken<br />

und Intuitionen zu erfassen. 39 Da derartige Störungen der Funktionsweise<br />

des Verstandes <strong>auf</strong>grund unseres begrenzten Bewußtseins aber nicht oder nur<br />

begrenzt wahrgenommen werden, können sie Teil unserer Wahrnehmungen,<br />

unserer Urteile, Theorien usw. werden. Es kommt hier nicht dar<strong>auf</strong> an, ob "reine"<br />

Wahrnehmungen möglich sind, 40<br />

sondern es geht vorerst nur darum, daß<br />

Wahrnehmungen und Denken in unterschiedlichem Grad gestört sein können und<br />

daß <strong>die</strong>se Störungen unter Umständen vom Subjekt unbemerkt bleiben, so daß es<br />

<strong>auf</strong> seinen Fehlern beharrt, auch wenn andere es dar<strong>auf</strong> hinweisen. Individuen mit<br />

scharf abgegrenzten Vorstellungen oder Theorien werden Informationen eher <strong>auf</strong><br />

<strong>die</strong>se Vorstellungen oder Theorien beziehen, sie von ihnen aus bewerten oder in sie<br />

einfügen. Dies hat Goethe in folgender Äußerung gegenüber Eckermann zum<br />

Ausdruck gebracht:<br />

"Sobald man in der Wissenschaft einer gewissen beschränkten Konfession<br />

angehört, ist sogleich jede unbefangene treue Auffassung dahin. Der<br />

entschiedene Vulkanist wird immer nur durch <strong>die</strong> Brille des Vulkanisten sehen<br />

37 Man vergleiche hierzu etwa <strong>die</strong> Beschreibung des Denkvorganges, der Einstein zur<br />

Relativitätstheorie führte (Wertheimer 1964, S. 194ff.). Von großem Interesse sind auch<br />

<strong>die</strong> Ausführungen von Bergson, 1948, zu Intuition und Intellekt. Es gibt natürlich auch<br />

Auffassungen, <strong>die</strong> Intuition überhaupt nicht berücksichtigen oder anerkennen oder sie<br />

einfach bestreiten. Hier wäre etwa der Sensualismus zu nennen (Locke 1960 (11690))<br />

und der Behaviorismus (Skinner 1969 oder Correll 1967). Im weiteren vgl. auch Kap. 5.2.<br />

38 Zur relativen Unabhängigkeit beider voneinander vgl. Popper/Eccles 1977 oder Penfield<br />

1975.<br />

39 Das bedeutet, wir nehmen an, daß der Verstand nicht <strong>die</strong> Gedanken macht, sondern sie<br />

erkennt. Vgl. hierzu <strong>die</strong> Ausführungen in Kap. 5.1, 5.4.<br />

40 Zu den gegensätzlichen Positionen hierzu vgl. <strong>die</strong> Phänomenologie Husserls, 1973, oder<br />

den Emperizismus, z.g. Locke 1960, und <strong>als</strong> Gegenposition hierzu beispielsweise Popper<br />

1973, S. 172ff. und S. 369ff.<br />

22


... Die Weltanschauung aller solcher in einer einzigen ausschließenden<br />

Richtung befangener Theoretiker hat ihre Unschuld verloren, und <strong>die</strong> Objekte<br />

erscheinen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben sodann <strong>die</strong>se<br />

Gelehrten von ihren Wahrnehmungen Rechenschaft, so erhalten wir, ungeachtet<br />

der höchsten persönlichen Wahrheitsliebe des einzelnen, dennoch<br />

keineswegs <strong>die</strong> Wahrheit der Objekte; sondern wir empfangen <strong>die</strong> Gegenstände<br />

immer nur mit dem Geschmack einer sehr starken subjektiven Beimischung.<br />

Weit entfernt aber bin ich zu behaupten, daß ein unbefangenes<br />

rechtes Wissen der Beobachtung hinderlich wäre, vielmehr behält <strong>die</strong> alte<br />

Wahrheit ihr Recht, daß wir eigentlich nur Augen und Ohren für das haben,<br />

was wir kennen. . . Es gehört zur Naturbeobachtung eine gewisse ruhige<br />

Reinheit des Innern, das von gar nichts gestört und präokkupiert ist." 41<br />

Individuen mit der Bereitschaft, ihre eigenen Auffassungen <strong>als</strong> begrenzt zu sehen,<br />

werden ungewohnten Ideen vermutlich offener begegnen können, indem sie ihren<br />

eigenen Bezugsrahmen umformen oder versuchen, auch ihren Vorstellungen<br />

entgegengesetzte Gedanken oder Phänomene zumindest vorläufig zu akzeptieren<br />

und zu verstehen.<br />

Die Fähigkeit zu lernen, beruht zu einem guten Teil <strong>auf</strong> einer derartigen Haltung,<br />

und auch <strong>die</strong> wissenschaftliche Einstellung bedeutet ja, möglichst ohne Vorurteile<br />

an <strong>die</strong> Dinge heranzugehen, <strong>als</strong>o nicht immer nur das Bekannte, sondern im<br />

Bekannten das Neue, das noch nie Wahrgenommene zu sehen und staunen zu<br />

können. Das bedeutet, um einem Mißverständnis vorzubeugen, nicht, <strong>die</strong><br />

Vorstellungen unstrukturiert zu lassen, sondern im Gegenteil, <strong>die</strong> in hohem Maße<br />

vorhandene Bereitschaft zu haben, ständig neu zu strukturieren, zu erweitern,<br />

anstatt Informationen oder Eindrücke den schon vorhandenen Denkschemata<br />

anzupassen.<br />

Die Begrenzung der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung <strong>auf</strong>grund von sehr<br />

partikularen Gefühlen, Wünschen, Annahmen oder Zielen ist vor allem auch für den<br />

Lehrer eine Quelle zahlreicher Behinderungen und Verfälschungen. Wenn man das<br />

Verhalten von Schülern (Partnern, Kollegen usw.) an den eigenen Vorstellungen<br />

mißt, fühlt man sich gestört, wenn es damit nicht übereinstimmt. Dann wird deren<br />

Verhalten zum eigenen Problem, das man glaubt, regeln zu müssen. Hätte man<br />

dagegen <strong>als</strong> Lehrer (<strong>als</strong> Partner, <strong>als</strong> Kollege usw.) <strong>die</strong> Fähigkeit, sich selbst<br />

herauszuhalten (d. h. <strong>die</strong> begrenzenden Maßstäbe, Gefühle usw.) und <strong>die</strong> Vorgänge<br />

sozusagen von höherer Warte aus zu beobachten, würde <strong>die</strong>s vermutlich helfen, <strong>die</strong><br />

41 Eckermann 1976 (11835), 18. Mai 1924.<br />

23


Schwierigkeiten der Lernenden und ihr Verhalten aus deren eigener Sicht oder<br />

Situation zu sehen, und dadurch angemessenere Reaktionen ermöglichen. Der<br />

"gute Lehrer" ist vielleicht eher derjenige, der <strong>die</strong> Fähigkeit hat, <strong>die</strong> Verhaltensweisen<br />

und Gefühle der Lernenden aus deren Erlebnis- und Erfahrungshorizont zu<br />

verstehen und <strong>als</strong> schlichte momentane Gegebenheit zu akzeptieren, anstatt mehr<br />

oder weniger feste Maßstäbe und Regeln <strong>auf</strong>rechtzuerhalten, an <strong>die</strong> es das<br />

Verhalten der Lernenden anzupassen gilt. Diese Fähigkeit, zu verstehen und<br />

anzunehmen oder zu akzeptieren, bedeutet, sich selbst, <strong>die</strong> eigenen Ansichten,<br />

Maßstäbe, Regeln, Wünsche, Impulse und Empfindungen zunächst in den<br />

Hintergrund zu verschieben und sich nicht davon einengen zu lassen. 42 Die Folge<br />

solcher Übung dürfte eine Ausweitung des Verständnisses sowohl des eigenen<br />

Verhaltens wie auch des anderer sein. Es wäre interessant zu untersuchen, ob und<br />

in welcher Weise sich <strong>die</strong>s <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Fähigkeit zur Aneignung fachlicher Zusammenhänge<br />

auswirken würde. 43<br />

Von erheblicher Bedeutung sind <strong>die</strong> Begrenzungen des Bewußtseins von Individuen<br />

auch im Hinblick <strong>auf</strong> sonstige soziale Beziehungen. Wenn der einzelne in seinem<br />

Innern großen Disharmonien ausgesetzt ist, d. h. wenn zwischen seinen Wünschen,<br />

seinen Empfindungen, seinem Denken und Handeln unvereinbare Tendenzen<br />

bestehen, dann werden <strong>die</strong>se widersprüchlichen Tendenzen auch in seinem<br />

Verhalten gegenüber seiner Familie, seinen Freunden, Kollegen und anderen zum<br />

Ausdruck kommen, und wenn <strong>die</strong>se ihrerseits ähnlich reagieren, dann können sich<br />

unter Umständen <strong>die</strong> Mißverständnisse und Disharmonien potenzieren. Der<br />

einzelne fühlt sich dann berechtigterweise unverstanden oder abgelehnt, und wenn<br />

derartige Erfahrungen sich jahrelang wiederholen, können je nach individuellen und<br />

sozialen Bedingungen Leistungsunfähigkeit, Krankheiten oder auch Kriminalität <strong>die</strong><br />

Folge sein.<br />

"Immer wieder stellt sich heraus, daß Menschen, <strong>die</strong> in psychologische<br />

Kliniken kommen, Menschen, <strong>die</strong> beim Berater, beim Sozialarbeiter und beim<br />

Priester Hilfe suchen, Menschen, <strong>die</strong> mit dem Gesetz in Konflikt kommen<br />

oder in <strong>die</strong> Nervenheilanstalt eingeliefert werden, unter tiefen Gefühlen der<br />

Depersonalisation oder Entfremdung leiden. Sie fühlen sich von ihren<br />

42 Vgl. hierzu Rogers 1982, S. 53ff.<br />

43 Welche Konsequenzen <strong>die</strong>s etwa für schriftliches Lehrmaterial haben würde, ist schwer zu<br />

sagen. Es könnte sein, daß es zu einer Art didaktischen Gesprächs führt, wie Holmberg,<br />

1983, es beschrieben hat, und zu einer an Problemen orientierten Darstellungsweise, vgl.<br />

dazu Weingartz 1981.<br />

24


Mitmenschen abgeschnitten. Weit davon entfernt, sich frei zu fühlen, fühlen<br />

sie sich vom Leben eingezwängt, bedrängt und unfähig, Erfüllung zu finden.<br />

Sie werden <strong>die</strong> Einzelgänger, <strong>die</strong> Unfreien, <strong>die</strong> Getriebenen, Feindseligen ...<br />

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß <strong>die</strong> allerbeste Kur, <strong>die</strong> wir für <strong>die</strong><br />

Jugendkriminalität haben finden können, das Heiraten ist. Von allen<br />

Umständen, <strong>die</strong> bei sich bessernden Delinquenten zu finden sind, scheint das<br />

Heiraten wirksamer und sicherer zu sein <strong>als</strong> jede andere Einzelmaßnahme,<br />

<strong>die</strong> wir kennen. Wenn man jemand hat, dem an einem liegt, für den man<br />

leben kann, mit dem man etwas teilen kann, erfährt man eine gewisse<br />

Befreiung von der Langeweile und den Gefühlen der Entfremdung, <strong>die</strong> am<br />

Grund eines Großteils des delinquenten Verhaltens liegen." 44<br />

Eine Konsequenz von Bewußtseinsbegrenzungen scheint <strong>als</strong>o im Auftreten von<br />

innerpsychischen Schwierigkeiten zu bestehen. Eine andere Konsequenz sind<br />

Soziopathien, durch beabsichtigte oder unbeabsichtigte Rücksichtslosigkeit der<br />

begrenzten Wünsche des einzelnen gegenüber den Mitmenschen oder auch<br />

gegenüber der Natur. Jedoch führt <strong>die</strong> Begrenzung des Bewußtseins nur beim<br />

Menschen zu derartigen Problemen, bei Tieren entstehen sie nicht; letztere denken<br />

auch nicht über ihre Grenzen nach. Indem der Mensch sich seines Ich bewußt wird<br />

und sein Tun plant, überschreitet er naturgegebene Ordnungen, ohne eine neue<br />

gefunden zu haben, <strong>die</strong> von allen gleichermaßen anerkannt werden könnte. Das<br />

Finden und <strong>die</strong> Anerkennung einer solchen Ordnung erfordern vermutlich eine<br />

Weite des Bewußtseins, <strong>die</strong> wir nicht besitzen.<br />

Innere Begrenzungen stellen nicht nur Barrieren zwischen Menschen dar. Es gibt<br />

auch Grenzen zwischen Mensch und Maschine oder Mensch und Gegenstand. Man<br />

kann <strong>die</strong>s am "gefühllosen" Umgang mit Gegenständen oder Maschinen erkennen.<br />

Dies gilt auch für den Umgang mit Tieren, <strong>die</strong> nach dem BGB (Bürgerliches<br />

Gesetzbuch) <strong>als</strong> Sachen behandelt werden. Wo immer nur ein Teil gesehen wird<br />

und nicht das Ganze - und <strong>die</strong>s dürfte selbst bei sehr offenen Auffassungen der Fall<br />

sein -, scheinen Probleme irgendwelcher Art <strong>die</strong> Folge. Wenn Individuen oder<br />

Gruppen zunehmend Begrenzungen ihres Bewußtseins erkennen und zu überwinden<br />

trachten, dürfte <strong>die</strong>s <strong>als</strong>o keineswegs das Verschwinden von Schwierigkeiten<br />

bedeuten, sondern es wird eher ihre Veränderung oder Verschiebung<br />

bewirken. Man kann <strong>als</strong>o annehmen, daß viele unserer Probleme <strong>auf</strong> jeder neu<br />

erreichten Bewußtseinsebene in gewandelter Weise wieder <strong>auf</strong>tauchen und gelöst<br />

werden müssen, bis <strong>die</strong> Menschheit vielleicht irgendwann jenen Zustand der<br />

Ganzheitlichkeit erreicht.<br />

44 Combs/Avila/Purkey 1975, S. 189.<br />

25


2. BILDUNGSINSTITUTIONEN: VERFESTIGUNG UND SICHERHEIT<br />

DURCH BEGRENZUNGEN<br />

2.1 Zur Funktion von <strong>Institution</strong>en<br />

<strong>Institution</strong>en kann man verstehen <strong>als</strong> Systeme, <strong>die</strong> Handlungsabläufe entsprechend<br />

ihrer institutionellen Ziele strukturieren und schematisieren. 45 Diese Strukturierung<br />

und Schematisierung erzeugt das, was man <strong>als</strong> soziale Wirklichkeit bezeichnen<br />

kann. 46 Diese Wirklichkeit ist in ständiger Veränderung begriffen, d.h. <strong>die</strong> übergeordneten<br />

Ziele werden l<strong>auf</strong>end in neuer Weise konkretisiert und dadurch verändert.<br />

Diese Veränderung und Konkretisierung besteht in einer jeweils andersgearteten<br />

"Selektion und Reduktion" (Luhmann) der Fülle latenter Sinn- und Handlungsmöglichkeiten<br />

und eröffnet dadurch dem einzelnen ein immer wieder neu vereinfachtes<br />

Sinnverständnis und vereinfachte Formen des Reagierens <strong>auf</strong> Ereignisse im<br />

Rahmen der <strong>Institution</strong>en.<br />

Selektion und Reduktion von Sinn- und Handlungsmöglichkeiten bedeutet in<br />

Bildungsinstitutionen, daß durch <strong>die</strong> Organisation der Abläufe - durch Stundenpläne,<br />

Lehrpläne, Jahrgangsstufen, durch <strong>die</strong> Ausbildung der Lehrer, <strong>die</strong> Lehrproben bzw.<br />

Prüfungen, <strong>die</strong> Verbeamtung - durch <strong>die</strong> tagtägliche Erfüllung der Aufgaben und <strong>die</strong><br />

dabei erfolgenden Interaktionen mit anderen Beteiligten ein von allen mehr oder<br />

weniger gemeinsam geteilter Hindergrund von Selbstverständlichkeiten geschaffen<br />

wird. Dieser Hintergrund umfaßt etwa Bestimmungen wie Lehrpläne oder<br />

allgemeine Regeln des Stunden<strong>auf</strong>baus, von Übungen oder Prüfungen. Dazu<br />

gehören auch Überzeugungen, <strong>die</strong> dem reflektierenden Bewußtsein nicht so einfach<br />

zugänglich sein mögen. Diese Überzeugungen können etwa in Ansichten davon<br />

bestehen, wie bestimmte Typen oder Klassen von Lernenden sind, woher ihre<br />

Schwierigkeiten oder des Lehrenden Schwierigkeiten mit ihnen herkommen, in<br />

einem bestimmten allgemeinen Menschenbild, in impliziten Lern- oder Bildungstheorien<br />

usw.. Im Gegensatz zu objektiviert vorliegenden Bestimmungen wie<br />

Lehrplänen, <strong>die</strong> der einzelne eher <strong>als</strong> etwas außer sich Liegendes betrachten und<br />

behandeln kann - obgleich es durchaus möglich ist, daß der einzelne sie derart<br />

internalisiert, daß er sie wie persönliche Überzeugungen empfindet -, bilden<br />

45 Hierzu und zum folgenden vgl. vor allem Luhmann 1969.<br />

46 Vgl. Berger/Luckmann 1980.<br />

26


persönliche Überzeugungen integrierte Elemente der Person; werden sie angegriffen,<br />

dann wird <strong>die</strong> Person <strong>als</strong> solche angegriffen.<br />

Da man seinen Überzeugungen selten distanziert gegenübersteht, kann man sie -<br />

zumindest solange eine solche Distanz nicht <strong>auf</strong>gebracht wird – auch nicht weiter<br />

reflektieren, sondern sie stellen einen Teil der nicht hinterfragten Selbstverständlichkeiten<br />

dar, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Grundlage allen Denkens und Handelns zu bilden scheinen.<br />

Diese persönlichen Überzeugungen oder Haltungen sind nun aber nicht so<br />

persönlich, daß sie nur einem bestimmten Individuum zukämen, sie entwickeln sich<br />

vielmehr im Umgang miteinander, wobei der Rahmen der institutionellen Anforderungen,<br />

aber auch sonstige gesellschaftliche Erwartungen, eine bedeutsame Rolle<br />

spielen. Erst <strong>auf</strong>grund <strong>die</strong>ser uns nicht weiter bewußten Selbstverständlichkeiten ist<br />

es möglich, "gerechtfertigte" Erwartungen an das Verhalten anderer zu stellen. 47<br />

<strong>Institution</strong>en grenzen <strong>die</strong> Möglichkeiten solcher Erwartungen ab, bringen sie in<br />

spezifische, sinnhafte Zusammenhänge und entlasten dadurch das Bewußtsein des<br />

einzelnen, indem sie sein Handeln, Denken und Fühlen leiten, ohne daß ihm <strong>die</strong>s im<br />

Detail bewußt würde. Es ist sogar eher so, daß <strong>die</strong> Bewußtwerdung <strong>die</strong>ser<br />

Hintergründe ihn hindern könnte, so selbstverständlich zu handeln, wie er es tut - so<br />

wie <strong>die</strong> bewußte Steuerung des Gehens oder des Schreibens den freien Abl<strong>auf</strong><br />

<strong>die</strong>ser Vorgänge hemmt.<br />

Wenn man <strong>Institution</strong>en <strong>als</strong> unser Fühlen, Denken und Handeln leitende Wissensoder<br />

Bedeutungssysteme versteht, kann man sie in <strong>die</strong>ser Hinsicht mit der<br />

Steuerung des Verhaltens durch Instinkte vergleichen, wenngleich es Unterschiede<br />

gibt, wie <strong>die</strong> zumindest potentiell größere Anpassungsfähigkeit der institutionellen<br />

Methode. 48 Die Natur scheint hier wie auch sonst recht verwandte Wege zu gehen.<br />

Man kann <strong>als</strong>o annehmen, daß <strong>Institution</strong>en von Menschen nicht in völliger<br />

Autonomie geschaffen wurden. 49<br />

Bildungsinstitutionen leiten das Denken, Handeln und Fühlen der Individuen durch<br />

Schemata, wobei <strong>die</strong>se explizit <strong>als</strong> Vorschriften oder implizit in Form von sozialen<br />

Erwartungen gegeben sind. Wie <strong>die</strong> Instinkt-Schemata, so enthalten auch <strong>die</strong><br />

institutionell entwickelten Verhaltens- und Erwartungsschemata Wissen über<br />

komplexere Zusammenhänge in stark vereinfachten Formen. Auf <strong>die</strong>se Weise wird<br />

47 Vgl. etwa Luhmann 1973.<br />

48 Vgl. z.B. v.Uexküll/Kriszat 1962.<br />

49 Vgl. etwa Lorenz 1977.<br />

27


der einzelne davon befreit, in ähnlichen Situationen <strong>die</strong> Bedingungen, Erwartungen -<br />

alles das, was uns eben schon selbstverständlich ist - neu zu definieren, seine<br />

Handlungsmöglichkeiten zu durchdenken, zu begründen und dann erst zu wählen,<br />

sofern man sich rational, d.h. für <strong>die</strong> anderen Beteiligten mehr oder weniger<br />

vorhersehbar, verhalten will; denn sich irgendwie zu verhalten, würde zu völliger<br />

Unsicherheit führen. Die schematisierend-begrenzende Einengung des Denkens<br />

und Handelns (aber auch des Fühlens, wie Elias gezeigt hat 50 ) ist <strong>als</strong>o <strong>auf</strong>grund<br />

unserer beschränkten Bewußtseinskapazität notwendig, und wir scheinen -<br />

möglicherweise <strong>auf</strong>grund eines allgemeinen Trägheitsprinzips derartige institutionelle<br />

Begrenzungen <strong>als</strong> <strong>die</strong> grundlegende Weise der Gewinnung von Sicherheit und<br />

sozialer Stabilität zu betrachten.<br />

Je differenzierter nun <strong>die</strong> sozialen Beziehungen und Aufgaben werden - und <strong>die</strong>se<br />

Differenzierung ist in hohem Maße abhängig von der Erkenntnis von Zusammenhängen<br />

-, umso differenzierter und detaillierter werden auch <strong>die</strong> institutionellen<br />

Begrenzungen. Denn wenn z.B. das Wissen über pädagogische Prozesse<br />

differenzierter und vielfältiger und daher für den einzelnen immer unübersichtlicher<br />

wird, kann Verhaltenssicherheit durch eine entsprechende Gestaltung der institutionellen<br />

Strukturen erreicht werden. Lange Zeit - und vielleicht noch immer oder auch<br />

im Wechsel von Hoffnung und Enttäuschung - glaubte man an <strong>die</strong> Möglichkeit einer<br />

wissenschaftlich begründeten Festlegung bestimmter didaktischer Strukturen, und<br />

zwar sowohl in methodischer <strong>als</strong> auch in inhaltlicher Hinsicht. So meinte man etwa,<br />

<strong>die</strong> Auswahl von Lehrinhalten, durchaus mit einer gewissen Flexibilität, durch<br />

entsprechende Curriculumtheorien oder Strukturgitter in allgemein verbindlicher<br />

oder zumindest in allgemein zustimmungsfähiger Weise vornehmen zu können. 51<br />

So wie man versucht, angemessene, den Bedürfnissen des einzelnen und der<br />

Gesellschaft entsprechende Lerninhalte für bestimmte Klassen von Lernenden<br />

abzustecken, versucht man, erfolgreiche von weniger erfolgreichen Methoden der<br />

Unterrichtung abzugrenzen. Weitere Abgrenzungen bestehen darin, daß man <strong>die</strong><br />

Lernenden nach Alter, nach Fähigkeiten, Behinderungen usw. klassifiziert, sie<br />

entsprechenden, <strong>auf</strong> ihre jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenen <strong>Institution</strong>en<br />

zuweist. Eine entsprechende Differenzierung folgt dann auch in der Ausbildung und<br />

Prüfung der Lehrenden.<br />

50 Vgl. Elias 1978, Bd. 1, z.B. S. 23off. oder allgemeiner, Bd. 2, S. 369ff.<br />

51 Vgl. zusammenfassend hierzu Frey u.a. 1975 oder Zimmermann u.a. 1977.<br />

28


All <strong>die</strong>s wird unternommen im Hinblick <strong>auf</strong> wechselnde Ziele; zu <strong>die</strong>sen zählen: das<br />

Lernen von Schülern und Studenten und das Handeln der Lehrenden effektiver zu<br />

gestalten, mehr Gleichheit oder auch nur Chancengleichheit zu erreichen, das<br />

Lernen und Lehren zu humanisieren usw. Was auch immer <strong>die</strong> Ziele sein mögen, es<br />

ist grundsätzlich davon auszugehen, daß man glaubt, <strong>die</strong> Bildungsprozesse dadurch<br />

in irgendeiner Weise oder Hinsicht zu verbessern, d.h. gegenüber den vorherigen<br />

Zuständen einen wie auch immer gearteten Fortschritt zu erzielen.<br />

2.2 <strong>Auswirkungen</strong> <strong>auf</strong> Lehrende<br />

Nehmen wir <strong>als</strong> Beispiel <strong>die</strong> <strong>Institution</strong>alisierung der Lehrerbildung. Sind Lehrer, <strong>die</strong><br />

eine oder mehrere spezielle Ausbildungen theoretischer und praktischer Art hinter<br />

sich haben, "bessere" Lehrer <strong>als</strong> Lehrer ohne derartige spezielle pädagogische<br />

Ausbildung, d.h. bestehen irgendwelche bedeutsamen Unterschiede in ihrem<br />

Verhalten und ihrer Wirkung <strong>als</strong> Lehrer? Es scheint allerdings so zu sein, und<br />

empirische Untersuchungen legen <strong>die</strong>se Annahme nahe, daß eine spezielle<br />

Ausbildung der Lehrer keine wesentlichen Unterschiede in den Leistungen ihrer<br />

Schüler bewirkt. Wenn eine pädagogische Ausbildung eine Gewähr für gute Lehrer<br />

wäre, dann wären unsere Schulen vermutlich sehr viel besser, <strong>als</strong> sie es tatsächlich<br />

sind.<br />

Die Kriterien für bessere oder effektivere Lehrer und Schulen ändern sich natürlich<br />

entsprechend den jeweils vorherrschenden Ansichten und Zielen. Auf dem<br />

Hintergrund heute mehr oder weniger allgemein geteilter Auffassungen dürften<br />

„bessere“ Lehrer <strong>die</strong>jenigen sein, <strong>die</strong> es verstehen, <strong>die</strong> Lernenden zu selbständigem<br />

Lernen anzuregen, <strong>die</strong> Disziplin ohne Zwang erreichen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Lernenden <strong>als</strong><br />

Personen respektieren, <strong>die</strong> nicht versuchen, sich relativ starr an Schemata zu<br />

halten, sondern offen und flexibel sind, u. ä., wie eine Untersuchung von Campbell<br />

zeigt. 52 Diese Untersuchung bezieht sich zwar <strong>auf</strong> Lehrer allgemeinbildender<br />

Schulen, doch können <strong>die</strong> oben genannten Kriterien wohl auch <strong>auf</strong> Hochschullehrer<br />

angewandt werden.<br />

Gemessen an der Lernleistung von Schülern konnten in verschiedenen<br />

Untersuchungen keine Unterschiede zwischen Lehrern und Nicht-Lehrern<br />

(Durchschnittsbürgern) festgestellt werden. Popham und Baker gaben je dreizehn<br />

52 Vgl. Campbell 1972.<br />

29


Lehrern und Nicht-Lehrern Listen mit Lernzielen und Unterrichtshinweisen zu einer<br />

vierstündigen Unterrichtseinheit über sozialwissenschaftliche Methoden. Lehrer und<br />

Nicht-Lehrer erzielten vergleichbare Ergebnisse. 53 Popham wiederholte den Versuch<br />

zweimal mit insgesamt je 44 Lehrern und Nicht-Lehrern und 1900 Schülern. Es<br />

gab keine bedeutsamen Unterschiede in der Lernleistung der Schüler; Hausfrauen<br />

waren ebenso erfolgreich wie ausgebildete Lehrer. 54 Bei Berücksichtigung von in<br />

etwa vergleichbarer Vorbildung könnte <strong>die</strong>ses Ergebnis auch bei Hochschullehrern<br />

und Nicht-Hochschullehrern eintreten.<br />

Das bedeutet nun nicht, daß eine pädagogische Ausbildung, wie sie heute an<br />

Hochschulen vermittelt wird, nichts nützen oder sogar schaden würde, sondern<br />

lediglich, daß ihre Wirkungen zu einem großen Teil irgendwo "verschwinden". Das<br />

liegt zum Teil vermutlich daran, daß <strong>die</strong> Ausbildung sich vor allem <strong>auf</strong> das Wissen<br />

der künftig Lehrenden beschränkt, aber <strong>die</strong> Beziehungen zwischen Wissen,<br />

Einstellungen und Verhalten aber nur selten kongruent sind, d. h. daß Wissen sich<br />

nicht notgedrungen oder automatisch in Einstellungen und im Handeln niederschlägt.<br />

55 Weiterhin ist das in der Ausbildung Gelernte in der Regel unverbunden,<br />

vieles widerspricht sich und <strong>die</strong>se Widersprüche werden noch gravierender, wenn<br />

man <strong>die</strong> Praxis berücksichtigt (man spricht ja auch vom "Praxisschock" der Lehrer).<br />

Hinzu kommt, daß Theorien, wie sie an der Hochschule diskutiert werden, in der<br />

Regel nur Elemente der sehr viel komplexeren pädagogischen Situationen herausgreifen<br />

und zueinander keineswegs konsistent sind. Ihre Anwendung in der<br />

Praxis ist daher nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres möglich. 56 Die Folge ist,<br />

daß <strong>die</strong> an der Hochschule erworbene Bereitschaft zur Innovation, sich in der<br />

Unterrichtspraxis sehr oft ins Gegenteil, in ein starres Festhalten an überkommenen<br />

Schemata verkehrt. Solange man an der Hochschule war, bestimmten <strong>die</strong> idealen<br />

theoretischen Vorstellungen, wie <strong>die</strong> Praxis zu sein hätte. In der Schulpraxis<br />

machen sich dann aber deren eigene Zwänge geltend, und <strong>die</strong> theoretischen<br />

Vorstellungen von ehem<strong>als</strong> rücken in den Hintergrund. 57<br />

53 Popham/Baker 1968, zit. nach Stones/Morris 1976, S, 4.<br />

54 Popharn 1969, zit. nach Stones/Morris 1976, S. 4.<br />

55 Vgl. hierzu etwa Tausch/Tausch 1970, S. 123f. oder Argyle 1972, S. 406-407, Am<br />

schwächsten dürfte <strong>die</strong> Korrelation zwischen Einstellungen und Verhalten sein.<br />

56 Vgl. etwa Zifreund 1966, Loser 1973.<br />

57 Vgl. hierzu auch <strong>die</strong> Ergebnisse der Einstellungsforschung, z.B. <strong>die</strong> von Thomas (Hrsg.),<br />

1971, zusammengetragenen Untersuchungen.<br />

30


"Wir können mit einiger Sicherheit behaupten, daß <strong>die</strong> an der Hochschule (ob<br />

Universität oder Pädagogische Hochschule) betriebene Form der Lehrerausbildung<br />

keinerlei nachhaltigen Einfluß <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Werthaltungen, Einstellungen<br />

und Verhaltensrichtlinien ihrer Absolventen hat, soweit <strong>die</strong>se für Schul-,<br />

Erziehungs- und Unterrichtsbelange von Betracht sind." 58<br />

Bedenkt man jedoch <strong>die</strong> Geschichte der Pädagogik, kann man, zumindest in Bezug<br />

<strong>auf</strong> Wissensinhalte, durchaus von einem gewissen Fortschritt der durch Lehre<br />

bewirkten Lernleistungen sprechen. Aber möglicherweise ist <strong>die</strong>s eher <strong>auf</strong> eine Art<br />

säkularer Akzeleration zurückzuführen und weniger <strong>auf</strong> bewußtes, individuelles<br />

Lernen. So ist <strong>die</strong> Zeit, <strong>die</strong> für das Lesenlernen bei den Griechen gebraucht wurde,<br />

heute sehr viel kürzer geworden. Während heute manche Schüler perfekt lesen<br />

können, noch bevor sie eingeschult werden, war Platon der Ansicht, daß vier Jahre<br />

"zur Erlernung des Lesens nicht zuviel" seien. "Im Jahre 265 (n.Chr.) treffen wir <strong>auf</strong><br />

Kinder von zehn, dreizehn Jahren, von denen man uns sagt, daß sie noch im Begriff<br />

sind, 'ihre Buchstaben zu lernen'." 59<br />

Doch kommen wir zurück zur geringen Wirksamkeit der Lehrerbildung im Hinblick<br />

<strong>auf</strong> veränderte Einstellungen, Werthaltungen und Verhaltensrichtlinien. Man macht<br />

es sich vermutlich zu einfach, wenn man <strong>die</strong> festgestellte Zuwendung zu den<br />

institutionell vorfindbaren, vereinfachenden Schemata des Lehrerverhaltens dem<br />

Druck der <strong>Institution</strong> Schule anlastet. Dieser Druck ist zweifellos vorhanden, 60 aber<br />

ebenso vorhanden ist <strong>die</strong> Begrenztheit des Individuums, <strong>die</strong> Begrenztheit seiner<br />

Fähigkeit etwa, <strong>die</strong> bestehende Wirklichkeit der <strong>Institution</strong>en umzugestalten oder<br />

seine mehr oder weniger begrenzte Fähigkeit, den institutionell vorgegebenen<br />

Rahmen in selbstbestimmter und selbstgestaltender Weise auszufüllen. Diese<br />

Begrenztheit zeigte sich etwa in einem Versuch, in dem verschiedene Lehrer<br />

gebeten wurden,<br />

"einzeln eine Stunde lang mit einem in der Schule schwierigen Kind in einem<br />

kindertherapeutischen Spielraum zusammen zu sein und sich nur der<br />

Erziehung <strong>die</strong>ses einzelnen Kindes zuzuwenden ... Die Auswertung ergab<br />

folgenden Tatbestand: Steht Zeit in größerem Maße zur Verfügung und sind<br />

keine Aufgaben und Tätigkeiten durchzuführen, so wissen Lehrer ... meist<br />

58 Koch/Peifer 1971, S. 440. 2) 3) 4)<br />

59 Marrou 1977, S. 303-304.<br />

60 Vgl. z.B. Fürstenau 1968; Rumpf 1966; Vogel 1977.<br />

31


nicht, wie sie eine derartige Zeit, frei von Anforderungen und Leistungen,<br />

adäquat erzieherisch nutzen sollen ..." 61<br />

Dies zeigt sich vermutlich auch in anderen institutionell unstrukturierten Situationen,<br />

d.h. Situationen, in denen für einzelne keine Erwartungen erkennbar sind, wie beispielsweise<br />

in Encounter-Gruppen (nach Rogers). Die Situation in einer Encounter-<br />

Gruppe ist nicht vergleichbar mit nur scheinbar unstrukturierten geselligen Treffen<br />

oder Bierabenden. Bei letzteren bestehen ja gewisse allen bekannte Erwartungen,<br />

während solche beim Encounter im wesentlichen erst hervorgebracht werden<br />

müssen. Das Problem der Encounter-Teilnehmer ist zunächst, daß sie erwarten, der<br />

Gruppenleiter werde <strong>die</strong> Initiative ergreifen und sagen, "wo es lang gehen soll", der<br />

das aber nicht tut. Ergreifen <strong>die</strong> Teilnehmer nicht <strong>die</strong> Initiative, dann bleibt es bei<br />

<strong>die</strong>ser Unstrukturiertheit und damit Unsicherheit des einzelnen, was er tun soll, was<br />

von ihm erwartet wird.<br />

Auch wenn wir glauben, unser Verhalten selbst zu lenken, in der Regel sind es <strong>die</strong><br />

schematisierenden Erwartungen und Regelungen der <strong>Institution</strong>en, <strong>die</strong> unser<br />

Denken, Fühlen und Tun leiten. 62 Was wir denken und tun, ist immer verschmolzen<br />

mit <strong>die</strong>sen Mustern, und was wir sind - oder zu sein glauben -, sind wir vor allem<br />

durch <strong>die</strong>se Muster sozialer Erwartungen. 63<br />

Doch zwingt uns das nicht zu der<br />

Annahme, daß wir nichts darüber hinaus sein oder werden könnten. Denn<br />

tatsächlich scheint es fast immer in hohem Ausmaß <strong>auf</strong> jenes "Etwas" der Person,<br />

des einzelnen Lehrers anzukommen, ob Unterricht gelingt und bei den Lernenden<br />

ein Bildungsprozeß oder Bildungswille ausgelöst und <strong>auf</strong>rechterhalten wird. 64 So ist<br />

oder gilt ja auch "Dienst nach Vorschrift" <strong>als</strong> sehr ineffizient, weil <strong>die</strong> genaue<br />

Beachtung von Regeln sich eher <strong>als</strong> hinderlich zu erweisen scheint. Einerseits sind<br />

wir <strong>als</strong>o Produkte der <strong>Institution</strong>en, d. h. unser individuelles Bewußtsein wird von der<br />

Umgebung weitgehend geleitet; andererseits ist aber auch das Individuum von<br />

großer Bedeutung für das Funktionieren institutioneller Regelungen und der<br />

Erfüllung von Aufgaben. Das deutet dar<strong>auf</strong> hin, daß wir doch mehr zu sein scheinen<br />

<strong>als</strong> das, was <strong>die</strong> Umgebung aus uns macht.<br />

61 Tausch/Tausch 1970, S. 17-18; vgl. auch Tausch/Tausch 1956.<br />

62 Vgl. hierzu etwa <strong>die</strong> sozio- und psychogenetischen Untersuchungen von Elias 1978 oder<br />

Dahrendorf 1970.<br />

63 Vgl. etwa auch Mead 1969.<br />

64 Vgl. Campbell 1972, S. 543f.<br />

32


Die Umwelten bzw. <strong>die</strong> <strong>Institution</strong>en kann man in Teilen ihrer Funktion <strong>als</strong> Gewebe<br />

externalisierter und interindividueller Bewußtseinsstrukturen verstehen, <strong>die</strong> Handeln,<br />

Fühlen und Denken der einzelnen leiten und in sinnvoll erscheinender Weise zur<br />

Bewältigung von Aufgaben miteinander verknüpfen. Das ist in dem Maße möglich,<br />

<strong>als</strong> der einzelne bereit und in der Lage ist, <strong>die</strong> von der <strong>Institution</strong> geforderten<br />

Gewohnheiten oder Handlungstendenzen zu erwerben. Die Hochschulausbildung<br />

der Lehrer scheint nach den oben referierten Befunden nicht zu einer solchen<br />

Entsprechung von schulischen Anforderungen sowie der Kenntnisse und Einstellungen<br />

zu führen. Es muß daher eine Neuanpassung erfolgen. Die verschiedenen<br />

Umwelten erfordern und führen auch zu jeweils verschiedenem Verhalten.<br />

Diese Anpassungsleistung ist zwar institutionell geleitet, aber sie muß vom<br />

Individuum erbracht werden. Dadurch sind interindividuelle Abweichungen unvermeidlich.<br />

Die Anforderungen institutioneller Situationen scheinen jedenfalls das individuelle<br />

Verhalten weit stärker zu bestimmen <strong>als</strong> ein noch so sehr ausgeweitetes Studium<br />

für solche Situationen. Dies wird besonders deutlich in Fällen, in denen man von<br />

<strong>die</strong>sem Studium eine Verbesserung und Veränderung der Praxis erhofft. Eine<br />

solche Verbesserung dürfte durch Umgestaltungen schulischer <strong>Institution</strong>en sicherer<br />

und effizienter erreichbar sein. So konnte Maria Montessori durch anders geartete<br />

Erwartungen an <strong>die</strong> Lehrerrolle und damit übereinstimmende schulische Rahmenbedingungen<br />

durchschlagende Erfolge erzielen (vgl. dazu Kap. 8.1.3).<br />

Dies sollte allerdings nicht zu der Auffassung verleiten, daß institutionelle Änderungen<br />

ausreichend wären, um wünschenswerte Verhaltensänderungen der in<br />

ihnen tätigen Individuen zu erzielen. <strong>Institution</strong>elle Regelungen werden von Individuen<br />

in Gewohnheiten übersetzt. Eingeschliffene Gewohnheiten aber setzen, weil<br />

sie eine hohe Verhaltenssicherheit gewährleisten, Änderungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Sicherheit<br />

bedrohen, einen starken Widerstand entgegen. Die einzige erfolgversprechende<br />

Möglichkeit scheint daher in der Gründung neuer <strong>Institution</strong>en zu liegen. Es ist<br />

jedoch zu bedenken, daß menschliches Verhalten so sehr von institutionell<br />

vermittelten Gewohnheiten - sei es durch <strong>die</strong> Familie, <strong>die</strong> Massenme<strong>die</strong>n oder <strong>die</strong><br />

mit der Sprache verborgen gegebenen Erwartungen und Beeinflussungen - geprägt<br />

ist, daß Erwartungen, <strong>die</strong> deutlich von dem in <strong>die</strong>sem Sinn Gewohnten abweichen,<br />

nur noch von wenigen akzeptiert und befolgt werden. Es besteht <strong>als</strong>o eine enge<br />

Abhängigkeit zwischen institutionellen und individuellen Begrenzungen des Bewußtseins.<br />

33


Die Möglichkeit der Veränderung institutioneller Strukturen zeigt aber auch, daß sie<br />

unser Denken und Handeln nur zum Teil determinieren. Nur Individuen können mit<br />

ihren Ideen und Aktionen institutionelle Änderungen bewirken. Wir haben eine<br />

gewisse Freiheit.<br />

3. KULTURELLE IDEALE: DER WANDEL DER GRENZEN<br />

Kulturelle Ideale werden hier verstanden <strong>als</strong> ursprüngliche geistige oder ideelle<br />

Strömungen oder Kräfte, <strong>die</strong> hinter den konkreten Ausformungen in Religion,<br />

Literatur, Kunst, Wissenschaft, Technik, hinter sozialen, politischen, pädagogischen<br />

und anderen Vorstellungen stehen. 65 In <strong>die</strong>sem Verständnis von Kulturidealen steckt<br />

<strong>die</strong> Voraussetzung oder Annahme einer dynamischen geistigen oder ideellen<br />

Realität. Man kann <strong>die</strong>se geistige Realität <strong>als</strong> <strong>die</strong> Kraft verstehen, <strong>die</strong> den von<br />

sozialen Gesetzmäßigkeiten oder Mechanismen <strong>auf</strong>rechterhaltenen Abl<strong>auf</strong> des<br />

sozialen und individuellen Lebens in eine Richtung zunehmender Bewußtheit treibt.<br />

Diese dynamische geistige Realität wäre es dann, <strong>die</strong> einen evolutiven Prozeß (und<br />

damit Kreativität) überhaupt erst ermöglichte. Ohne sie wäre der Weltprozeß nichts<br />

weiter <strong>als</strong> der unendlich komplexe Abl<strong>auf</strong> einer Maschinerie; aber <strong>die</strong>ser Abl<strong>auf</strong><br />

könnte, ebensowenig wie der Abl<strong>auf</strong> einer Maschine, zu etwas führen, das sich<br />

selbst zu überschreiten sucht. 66 Mit Kulturidealen sind <strong>als</strong>o nicht bewußte ideale<br />

Zielvorstellungen von Kultur und Bildung gemeint, sondern allgemeine Ideen, <strong>die</strong><br />

das Leben leiten, ob sie nun den Einzelnen in irgendeiner Weise bewußt sind oder<br />

nicht, und <strong>die</strong> eine bestimmte Modellierung der Persönlichkeit, ihres Denkens,<br />

Fühlens, Wollens und Tuns sowie auch des kollektiven Ausdrucks <strong>die</strong>ser individuellen<br />

Vorgänge bedeuten.<br />

Was wir wahrnehmen, sind natürlich nicht jene allgemeinen geistigen Kräfte (<strong>die</strong><br />

Annahme <strong>die</strong>ser Kräfte ist ein theoretisches Konstrukt), sondern <strong>die</strong> Ausformungen<br />

von sich ähnlichen Ideen; <strong>die</strong> Ähnlichkeiten, <strong>die</strong> <strong>Institution</strong>en in ihren Zielen und<br />

Strukturen <strong>auf</strong>weisen; <strong>die</strong> Ähnlichkeiten der Lebensziele von Individuen usw. Und in<br />

<strong>die</strong>sen Ähnlichkeiten, in <strong>die</strong>sen notwendigen gegenseitigen Anpassungsvorgängen,<br />

in den gemeinsamen Zielen und den <strong>als</strong> solchen hingenommenen Selbstverständ-<br />

65 Vgl. hierzu Beard 1955.<br />

66 Vgl ders.<br />

34


lichkeiten, liegen jene Begrenzungen, <strong>die</strong> jeder Kultur eigentümlich sind und sie<br />

ausmachen.<br />

Sicherlich ist keine Kultur lebensfähig bzw. überhaupt <strong>als</strong> Kultur erkennbar, wenn<br />

sie nicht begrenzende Prinzipien oder Leitlinien hat. Dennoch scheint es so, daß<br />

<strong>die</strong>se Begrenzungen nach einiger Zeit (gemessen an der Lebensspanne einer<br />

Kultur) vielen Menschen <strong>als</strong> zu eng erscheinen. Neue geistige Kräfte breiten sich<br />

dann aus, und <strong>die</strong> überkommenen Grenzen werden verändert oder zerstört, und<br />

neue Richtpunkte tauchen <strong>auf</strong>. 67<br />

Um <strong>die</strong>se aus kulturellen Strömungen folgenden Begrenzungen des individuellen<br />

Verhaltens etwas deutlicher und greifbarer zu machen, werden im folgenden einige<br />

der kulturellen Wandlungen im Menschenbild der europäischen Geschichte<br />

idealtypisch beschrieben. Dabei zeigt sich, daß <strong>die</strong> Suche nach dem Selbst, nach<br />

dem Subjektiven des Menschen, ein beständiges Ziel darzustellen scheint, das <strong>auf</strong><br />

immer wieder veränderte Art und Weise zu erreichen versucht wird. 68<br />

3.1 Das Ideal des ethischen Menschen<br />

Die Ideale einer Epoche sind oft dem entgegengesetzt, was nachträglich <strong>als</strong> das<br />

hervorstechende Merkmal jener Zeit erscheint. So kommt uns gerade das Mittelalter<br />

fern aller ethisch geordneten Verhältnisse vor. Huizinga beispielsweise schreibt über<br />

das ausgehende Mittelalter:<br />

"Wo man auch sucht in der Überlieferung jener Zeit, bei Geschichtsschreibern<br />

und Dichtern, in Predigten und religiösen Traktaten und sogar in<br />

den Urkunden, es scheint darin nichts anderes lebendig geblieben <strong>als</strong> nur <strong>die</strong><br />

Erinnerung an Zwist, Haß und Bosheit, Habsucht, Roheit und Elend." 69<br />

Die weiteren Ausführungen Huizingas machen allerdings deutlich, daß <strong>die</strong>s nur <strong>die</strong><br />

halbe Wahrheit sein kann. Denn das Ideal des Mittelalters ist der von ethischen<br />

Normen bzw. von Traditionen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Normen enthalten, bestimmte Mensch. Die<br />

Normen gelten jeweils für bestimmte Gruppen, denn jedes Individuum steht an einer<br />

für es bestimmten Stelle einer hierarchischen Stufenordnung, an deren Spitze im<br />

67 Vgl. etwa Bury's 1955 (11932) Darstellung der Idee des Fortschritts, ihres Ursprungs,<br />

Wachstums und Wandels.<br />

68 Vgl. ebenda.<br />

69 Huizinga 1969, S. 36.<br />

35


Himmel Gott selbst und <strong>auf</strong> Erden der Papst steht und <strong>die</strong> nach Ständen gegliedert,<br />

einen jeden <strong>als</strong> Teil einer Gemeinschaft erfaßt, <strong>die</strong> ihrerseits wieder organisch in<br />

das Ganze der Hierarchie eingeordnet ist.<br />

Dieses Leben in der Gemeinschaft ist es, das den einzelnen formt und bildet. Die<br />

Traditionen, Sitten, Gewohnheiten, Regeln, <strong>die</strong> im gesellschaftlichen Leben einen<br />

Platz gewonnen haben, üben einen prägenden Einfluß aus. Der ethische Mensch,<br />

das war z. B. der fromme, an seine Aufgaben hingegebene Leibeigene. Als<br />

Ausdruck <strong>die</strong>ser Ethik galten auch <strong>die</strong> Standesehre und der Heldenmut des Ritters,<br />

<strong>die</strong> Weltentsagung und Frömmigkeit des Mönchs, <strong>die</strong> ethische Haltung des<br />

Denkers. Das jedenfalls sind <strong>die</strong> hohen Ideale einer Zeit, in der vielleicht eher das<br />

Gegenteil der Realität entsprochen hat. (Könnte man aber unsere rationalistische<br />

Zivilisation, gemessen am Ideal einer vollkommenen Rationalität, <strong>als</strong> rational<br />

bezeichnen?) Im späteren Mittelalter sucht man jede Sitte, jede Tradition moralisch<br />

zu begründen. 70 Auch wo es um Lernen, um Wissen und Wissenschaft geht, geht es<br />

immer um Moral, denn <strong>die</strong>se gilt <strong>als</strong> <strong>die</strong> Herrin allen Wissens.<br />

"Jede Wissenschaft" sagt Roger Bacon (1214-1292) "hat eine praktische<br />

Seite ... Aber nur von der Moralphilosophie kann man sagen, sie sei ihrem<br />

innersten Wesen nach praktisch, denn sie befaßt sich mit dem menschlichen<br />

Verhalten, mit Tugend und Laster, mit Glück und Unglück ... Alle anderen<br />

Wissenschaften zählen für nichts, solange sie nicht zum rechten Tun<br />

anhalten. In <strong>die</strong>sem Sinne sind <strong>die</strong> 'praktischen' Wissenschaften, wie das<br />

Experiment, <strong>die</strong> Chemie (alkimia) und <strong>die</strong> übrigen <strong>als</strong> spekulativ anzusehen,<br />

wenn man sie den Betätigungen entgegenhält, welche mit der moralischen<br />

oder politischen Wissenschaft zusammenhängen. Diese Wissenschaft der<br />

Ethik ist Herrin über alle Zweige der Philosophie." 71<br />

Moral oder Ethik ist zu jener Zeit angewandte Religion. In ihren Ursprüngen ist<br />

Religion vermutlich immer <strong>die</strong> Verbindung oder <strong>die</strong> Suche der Verbindung von<br />

Mensch und Gott - wie bei den Mystikern -, später wird sie dann zum ethischen<br />

Gesetz, zur moralischen Regel, <strong>die</strong> man <strong>auf</strong> irgendeine Weise durch <strong>die</strong> heiligen<br />

Schriften zu begründen sucht. 72<br />

Das Ideal des ethischen Menschen im europäischen<br />

Mittelalter entspricht Riesmans Typus des traditions-geleiteten Menschen. 73<br />

70 Vgl. hierzu Huizinga 1969, S. 326ff.<br />

71 Roger Bacon, Opus maius, VII. Buch, ad initium. Zit. nach Durant 1982, Bd. 7, S. 186.<br />

72 Zum Verhältnis von Mystik und Moral vgl. Bergson 1980. Als allgemeine historische<br />

Gesetzmäßigkeit wird <strong>die</strong>se und <strong>die</strong> weitere Entwicklung von Lamprecht 1902-1909<br />

dargestellt.<br />

73 Vgl. Riesman, 1977 (11958), S. 27ff.<br />

36


Traditionsleitung ist der Versuch, den Charakter, das Handeln und Denken durch<br />

äußere Zwänge, gesellschaftlicher und religiöser Art, zu formen. Die Seele, das<br />

Selbst des Menschen, soll dadurch Gott gefällig und der Erlösung fähig werden.<br />

Eine individuelle Entwicklung im Wachsen und Werden des einzelnen ist <strong>die</strong>sen<br />

Vorstellungen eher fremd. Es gibt vielmehr eine Form des "rechten" Lebens für<br />

jeden Stand und jeden Christen und <strong>die</strong>se Form muß übernommen werden.<br />

Obgleich das ursprüngliche Ziel in so etwas wie der subjektiven Bewußtheit einer<br />

innigen Beziehung zu Gott bestand, "erstarrt alles ... zu einer erschreckenden<br />

Alltäglichkeit, zu einer erstaunlichen Diesseitigkeit in jenseitigen Formen." 74 So läuft<br />

am Ende des Mittelalters <strong>die</strong> Suche nach dem Subjektiven in Veräußerlichung, in<br />

objektiven Formen aus, <strong>die</strong> der Entwicklung des Selbst alle nur möglichen<br />

Begrenzungen <strong>auf</strong>erlegen.<br />

Diese Begrenzungen des Einzelnen durch äußere Formen regen, wenn sie immer<br />

vielfältiger und komplexer werden, das Denken an, da durch das Denken eher ein<br />

richtiges Verhalten im Sinne <strong>die</strong>ser künstlich geschaffenen Regeln möglich<br />

erscheint. Auch <strong>die</strong> Schaffung der Regeln selbst erfordert Denken, und <strong>die</strong>ses<br />

Denken entfernt sich mit dem sich entwickelnden Regelsystem, von der lebendigen<br />

Religion, von der Suche einer unmittelbaren Verbindung zu Gott. Es gibt vermutlich<br />

viele Faktoren, <strong>die</strong> schließlich zur Befreiung des Denkens von der über es gesetzten<br />

Religion beigetragen haben. Es ist zudem zu berücksichtigen, daß wir nur <strong>die</strong> an der<br />

Oberfläche befindlichen Bestrebungen und Entwicklungen erkennen können,<br />

während uns <strong>die</strong> vielleicht entscheidenderen treibenden Kräfte im Unbewußten<br />

jener Zeiten verborgen bleiben. Wesentlich könnte jedoch gewesen sein, daß <strong>die</strong><br />

Herausforderung des Denkens <strong>die</strong> Fähigkeiten der mentalen Vorstellung, Analyse<br />

und Kombination entwickelt und damit eine Kraft in den Vordergrund gebracht hat,<br />

<strong>die</strong> ihren eigenen Gesetzen folgt. Das Denken entdeckt Widersprüche und es<br />

versucht, ein klares System zu entwickeln, wo es nur eine Vielfalt nicht eindeutig<br />

miteinander verknüpfter Regeln gibt. So macht sich das Denken allmählich<br />

unabhängig, befreit sich von der über es gesetzten Religion. Dadurch verdunstet der<br />

religiöse Gehalt der traditionellen Formen zunehmend, und sie erscheinen nur noch<br />

akzeptabel, wenn sie durch Argumente anderer Art, d. h. durch eine anderweitige<br />

Orientierung der Vernunft begründet werden können. Diese neue Orientierung findet<br />

<strong>die</strong> Vernunft, indem sie <strong>auf</strong> ihren Träger blickt (und nicht mehr <strong>auf</strong> Gott), im<br />

74 Huizinga 1969, S. 210.<br />

37


Individuum. So beginnt vielleicht <strong>die</strong> Entwicklung des Individualismus, das Zeitalter<br />

der individuellen Vernunft und des Denkens.<br />

3.2 Das Ideal des individualistisch-rationalen Menschen<br />

Das Ideal des Individualismus ist das Individuum, das <strong>die</strong> Werte seiner Kultur<br />

verinnerlicht hat und sein Leben entsprechend <strong>die</strong>ser Werte und seiner Vernunft<br />

gemäß führt. Es ist insofern identisch mit dem Typus des innengeleiteten Menschen.<br />

75 Mit der wachsenden Selbständigkeit von Städten und Staaten, der sich<br />

bessernden Wirtschaft mit ihrer Zunahme von Handel und Gewerbe, nahm auch <strong>die</strong><br />

Erfordernis zu rationalem Handeln zu, wobei Rationalität im Sinne einer Orientierung<br />

an Sachzusammenhängen und deren Abwägung zu verstehen ist, anstelle<br />

einer Orientierung an christlichen Lehren oder Dogmen.<br />

Damit verstärkten sich auch <strong>die</strong> Erwartungen an <strong>die</strong> Individuen, für sich selbst<br />

denken zu können (<strong>die</strong>s betrifft zunächst natürlich nur <strong>die</strong> höheren Stände). Die<br />

Verhaltenssteuerungen durch traditionell verfestigte Gewohnheiten wurden<br />

zunehmend ersetzt durch das Handeln nach internalisierten Werten, <strong>die</strong> dem<br />

einzelnen, solange er sich an gemeinsame Überzeugungen hielt, einen größeren<br />

Spielraum im Handeln ermöglichten. In den bürgerlichen Kreisen wurde individuelle<br />

Initiative erwartet, und wer sie in situationsangemessener Weise (d.h. dem bürgerlichen<br />

Denken und Leben entsprechend) <strong>auf</strong>brachte, wurde mit Erfolg belohnt. Nicht<br />

mehr so sehr christliche Werte waren <strong>die</strong> Ziele <strong>die</strong>ses individualistischen Bürgertums,<br />

obgleich es <strong>die</strong>se aus seinem Leben nicht ausschloß, sondern "Geld, Besitz,<br />

Macht, Wissen, Ruhm". 76<br />

Der Individualismus sollte das Individuum von den Begrenzungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

traditionelle Macht der Kirche dem Denken und Handeln <strong>auf</strong>erlegte, befreien. Die<br />

Kirche mit ihrem christlich-ethischen Ideal hatte es nicht vermocht, eine dauerhaft<br />

befriedigende Ordnung der Verhältnisse zu schaffen. Der Individualismus gab nun<br />

dem einzelnen <strong>die</strong> Aufgabe, mittels seiner Vernunft, Grund, Ziel und Weg des<br />

Lebens zu finden, <strong>die</strong> Grenzen abzustecken, an denen man sich orientieren konnte<br />

und sollte. Gemessen an <strong>die</strong>ser Vorstellung war der Individualismus aber eher ein<br />

Fehlschlag, denn <strong>die</strong> Begrenzungen durch <strong>die</strong> Traditionen der Kirche wurden ersetzt<br />

75 Vgl. Riesman, 1977, S. 30ff.<br />

76 ebenda, S. 32.<br />

38


durch <strong>die</strong> Begrenzungen der nun vielfältigeren wirtschaftlichen und politischen<br />

Verhältnisse. Die Suche nach dem Selbst endete sozusagen an der Oberfläche der<br />

Dinge. Der Subjektivismus des Individualismus hat kaum weiter gereicht <strong>als</strong> zur<br />

Untersuchung der materiellen und wirtschaftlichen Bedingungen des Lebens - und<br />

darin sah er auch <strong>die</strong> Möglichkeiten seines weiteren Fortschritts: in der weiteren<br />

Entwicklung der Naturwissenschaft und der Wirtschaft. Dies aber führte, wie wir<br />

sehen werden, auch zu einer Vervielfältigung der Begrenzungen.<br />

3.3 Das Ideal des rationalistisch-sozialen Menschen<br />

Der eher wirtschaftlich orientierte Individualismus, der <strong>die</strong> Fähigkeit des sachlich<br />

orientierten und konstruktiven Denkens erforderte und daher so sehr gefördert hat,<br />

führte eben dadurch auch zur Verwissenschaftlichung, 77 zur Entwicklung der<br />

Großtechnik, zu zunehmender bürokratischer Erfassung und Regelung des bürgerlichen<br />

Lebens und damit zur Verrechtlichung der Beziehungen der Menschen<br />

untereinander. Diese Verrechtlichung und Bürokratisierung wiederum förderte <strong>die</strong><br />

Entwicklung zur Gleichheit. 78 Es gibt nun nicht mehr in jedem Ort jene ehrwürdigen<br />

Honoratioren, <strong>die</strong> <strong>die</strong> kulturellen Werte verkörpern und <strong>die</strong> das allgemeine Leben<br />

bestimmen, sondern sie alle sind nun mehr oder weniger abhängig von größeren<br />

Mächten, vom Staat und von Parteien, von der Wirtschaft und vor allem von der<br />

öffentlichen Meinung. 79 Man orientiert sich nicht mehr so sehr an Werten oder an<br />

leitenden Individuen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Werte repräsentieren, sondern man orientiert oder<br />

bestätigt sich untereinander, und <strong>die</strong>s ist vor allem ein gegenseitiges Sich-Anpassen<br />

und Einfügen. Dieses Sich-Anpassen und Einfügen hat <strong>die</strong> Auflösung der<br />

festgefügten Werte der individualistischen Kultur und Zivilisation zur Folge. Das wird<br />

noch unterstützt durch <strong>die</strong> kulturellen Verflechtungen, hervorgerufen durch Kriege<br />

und <strong>die</strong> vor ihnen Flüchtenden, so daß heute Menschen aus unterschiedlichen<br />

Zivilisationen <strong>auf</strong> engem Raum zusammenleben. Vorstellungen von der Überlegenheit<br />

einer Rasse oder Kultur gegenüber anderen werden daher auch immer weniger<br />

toleriert, während sie vor kurzem noch selbstverständlich waren. Weiterhin trägt <strong>die</strong><br />

77 Zu den sozialen <strong>Auswirkungen</strong> der Verwissenschaftlichung vgl. u.a. Schelsky 1965, S.<br />

439ff.; Gehlen 1957; Jonas 1974.<br />

78 Über den Zusammenhang von Gleichheit und Bürokratie bzw. von Rationalität, Bürokratie<br />

und Gleichheit vgl. vor allem Weber 1976, S. 825ff. Vorausgesagt wurde <strong>die</strong>se Entwicklung<br />

etwa von Tocqueville, dt.Ausg. 1976 (11840), S. 793f.<br />

79 Zu <strong>die</strong>ser Entwicklung vgl. insbesondere <strong>die</strong> Auffassungen und Voraussagen von Tocqueville<br />

1976, etwa S. 494 und auch an vielen anderen Stellen.<br />

39


Wissenschaft mit ihrer wertfreien Betrachtungsweise auch zu einer distanzierenden<br />

Haltung gegenüber Werten bei. Und schließlich wirken <strong>die</strong> Massenkommunikationsmittel<br />

durch <strong>die</strong> Verbreitung von unterschiedlichen Auffassungen, wobei <strong>die</strong>se sich<br />

zudem ständig ändern, ebenfalls <strong>auf</strong> eine Einebnung festgefügter, eindeutiger<br />

Wertkonturen hin. Und auch <strong>die</strong> Industrialisierung wirkt entsprechend, indem sie mit<br />

ihrem hohen Ausstoß mehr oder weniger standardisierter Waren und der damit<br />

zusammenhängenden Konsumption das Bewußtsein sehr stark <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Dinge und<br />

<strong>die</strong> mit <strong>die</strong>sen gegebenen Möglichkeiten der persönlichen Bedürfnisbefriedigung<br />

lenkt. Wenn man dagegen bedenkt, in welch hohem Ausmaß im Mittelalter <strong>die</strong><br />

dam<strong>als</strong> doch recht begrenzten Mittel <strong>auf</strong> durch religiöse Werte motivierte<br />

Unternehmungen hingeführt wurden, können wir uns eine ungefähre Vorstellung<br />

von den Wandlungen des Bewußtseins machen, <strong>die</strong> mit den Wandlungen der<br />

Machtstrukturen einhergehen.<br />

Die Strukturen der industrialisierten Gesellschaften verlangen nicht <strong>die</strong> Individualisierung<br />

der Person, sondern sie erfordern <strong>die</strong> rationale Einpassung des einzelnen in<br />

<strong>die</strong> sich ständig differenzierenden Funktionsabläufe. Die Folge ist, daß der Einzelne,<br />

wie Elias es formuliert,<br />

"gezwungen [wird], sein Verhalten immer differenzierter, immer gleichmäßiger<br />

und stabiler zu regulieren. Daß es sich dabei keineswegs nur um eine<br />

bewußte Regulierung handelt, ist schon hervorgehoben worden. Gerade <strong>die</strong>s<br />

ist charakteristisch für <strong>die</strong> Veränderung des psychischen Apparats im Zuge<br />

der Zivilisation, da <strong>die</strong> differenziertere und stabilere Regelung des Verhaltens<br />

dem einzelnen Menschen von klein <strong>auf</strong> mehr und mehr <strong>als</strong> ein Automatismus<br />

angezüchtet wird, <strong>als</strong> Selbstzwang, dessen er sich nicht erwehren kann,<br />

selbst wenn er es in seinem Bewußtsein will." 80<br />

Erreicht wird <strong>die</strong>s durch den Aufbau einer "automatisch arbeitenden" inneren<br />

"Selbstkontrollapparatur" (Elias). Sie besteht in der Tendenz oder Bereitschaft, das<br />

eigene Verhalten und Denken an den Erfordernissen oder Gegebenheiten der<br />

jeweiligen Situation bzw. an dem Verhalten und den Erwartungen der anderen in<br />

<strong>die</strong>ser Situation auszurichten. Die Selbstkontrollapparatur des einzelnen besteht<br />

<strong>als</strong>o in der einer Gruppe und der allen gemeinsamen Rationalität. Denn was wir <strong>als</strong><br />

Rationalität bezeichnen, kann man <strong>als</strong> <strong>die</strong> gesellschaftliche Modellierung unseres<br />

Verhaltens und Denkens im Geflecht unserer sozialen Abhängigkeiten verstehen.<br />

"Es gibt nicht eigentlich eine 'Ratio"', stellt Elias fest, "es gibt bestenfalls eine<br />

80 Elias 1978, Bd. 2, S. 317.<br />

40


'Rationalisierung'." 81 Indem wir von gemeinsamen Voraussetzungen ausgehen und<br />

<strong>die</strong>se <strong>als</strong> <strong>die</strong> "richtigen" akzeptieren, könnten wir zu gleichen Schlußfolgerungen<br />

kommen. Und <strong>die</strong> gemeinsamen Voraussetzungen sind das, was man glaubt oder<br />

meist denkt und tut und wovon man überzeugt ist, ob es sich dabei um <strong>die</strong><br />

gemeinsam geteilten Vorstellungen von Angehörigen eines Betriebes, einer Partei,<br />

einer Schulklasse, einer Wissenschafts-Schule, 82 einer bestimmten Staatsform, oder<br />

einer bestimmten Gruppe von Konsumenten handelt. Da es aber Gruppen mit sehr<br />

unterschiedlichen, mehr oder weniger gemeinsamen Voraussetzungen gibt und der<br />

Informationsfluß kaum Grenzen kennt und auch festgefügte Auffassungen zu<br />

durchdringen scheint, ist es für den Einzelnen notwendig, sich ständig der gemeinsamen<br />

Voraussetzungen seiner jeweiligen Gruppen zu versichern, und in <strong>die</strong>sem<br />

Sinne ist er, wie Riesman ausführt, außen-gelenkt. 83<br />

Ohne Zwang und ohne<br />

Vorschrift entsteht so eine relativ hohe Verhaltenskonformität, in der der Einzelne<br />

Sicherheit finden kann.<br />

Das heutige Ideal des gebildeten Menschen ist daher vor allem der rationale oder<br />

sich rational verhaltende Mensch. Er ist selbständig und tüchtig, und das bedeutet,<br />

daß er in jeder Situation jene Entscheidungen trifft, von denen auch andere<br />

erkennen, daß sie <strong>die</strong> "richtigen" sind oder waren, d. h. daß sie im Sinn gemeinsamer<br />

und vorausgesetzter Überzeugungen erfolgreich sind oder waren. Der<br />

rationale Mensch<br />

"identifiziert ein Problem, registriert und prüft <strong>die</strong> Daten, spezifiziert seine<br />

Ziele und produziert Ideen zu ihrer Erreichung, <strong>die</strong> er <strong>als</strong> Hypothesen<br />

formuliert. Diese Hypothesen prüft, f<strong>als</strong>ifiziert oder verifiziert er, hält Ausschau<br />

nach Gründen und Erklärungen für Erfolg und Mißerfolg, baut Erwartungen<br />

über mögliche alternative Handlungen <strong>auf</strong> und nähert sich so schrittweise der<br />

Lösung des Problems. Durch ein solches Vorgehen verbessert er seine<br />

kognitive Orientierung an der Umwelt und seine kognitive Kontrolle über <strong>die</strong><br />

Umwelt ..." 84<br />

Die in <strong>die</strong>sem Zusammenhang gesellschaftlich bedeutende Persönlichkeit ist daher<br />

<strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> im sich ändernden Strom <strong>die</strong>ser Überzeugungen, <strong>die</strong>se immer wieder<br />

für möglichst viele deutlich zu machen versteht. Sie prägt nicht so sehr das<br />

81 Vgl. Elias 1978, Bd. 2, S. 378. Vgl. aber auch Berger/Luckmann 1980<br />

82 Zur Analyse leitender Paradigmen in den Wissenschaften vgl. Kuhn 1976.<br />

83 Vgl. Riesman 1977, S. 35ff.<br />

84 Weinert, F.E., Theoretical relationships between the development of metacognition,<br />

attribution style, and self-directed learning. Vorlage eines Vortrages beim Heidelberger<br />

Symposion über Metakognition, 14.-16.7.1980, S. 4, zit. nach Fischer/Mandl 1981, S. 391.<br />

41


Bewußtsein anderer oder ihrer selbst, sondern macht mehr oder weniger bewußt<br />

bzw. bestätigt mit einer gewissen Autorität etwas, wovon sowohl sie selbst wie auch<br />

jene, <strong>die</strong> glauben, sich in der gleichen Situation zu befinden, beeinflußt und geprägt<br />

sind. 85 Zudem ist der gebildete außen-gesteuerte Mensch immer gut informiert 86 ,<br />

denn er zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß er in der Lage ist, Informationen<br />

situations- und sachgerecht und immer unter Einbezug der gemeinsamen Überzeugungen<br />

seiner Gruppenzugehörigkeiten zu verarbeiten.<br />

Diese Informiertheit, <strong>die</strong> sozusagen eine Notwendigkeit für den außengeleiteten<br />

Menschen darstellt, erzeugt eine Offenheit gegenüber allem Neuen, d. h. gegenüber<br />

allem, das vom Bekannten gerade soweit abweicht, daß es interessant erscheint. 87<br />

Diese relative Offenheit begünstigt ständige Veränderungen im Denken und<br />

Handeln und dadurch auch in den Produkten, aber es sind wohl Veränderungen, <strong>die</strong><br />

im wesentlichen <strong>die</strong> Form betreffen, sich an der Oberfläche bewegen. 88 In der<br />

Pädagogik äußert sich <strong>die</strong>s in der Suche nach neuen, aber den bestehenden<br />

Vorstellungen entsprechenden und sie ergänzenden Methoden, Organisationsformen,<br />

Inhalten, Theorien. Die Offenheit für Information hat zudem eine gewisse<br />

und stetige Überwindung geographischer und kultureller Grenzen zur Folge, eine<br />

Tendenz zur Internationalität, in der Pädagogik zur Angleichung in den Inhalten,<br />

Methoden, Tests und Theorien. Es scheint, daß <strong>die</strong> Begrenzungen des individuellen<br />

Denkens und Handelns dadurch erweitert und zugleich vervielfacht werden.<br />

85 Die mit derartigen Theorien zusammenhängenden erkenntnistheoretischen Fragen (wie<br />

kann man wissen, daß unser Wissen prinzipiell relativ ist? Muß <strong>die</strong>ses Wissen der<br />

Relativität von Wissen nicht selbst relativsein?) sind im europäischen Kulturkreis von der<br />

Antike bis zur Gegenwart immer wieder <strong>auf</strong>gegriffen und behandelt worden (von Platon<br />

bis Popper). Nichtsdestotrotz gibt es keine allgemein anerkannte Lösung der Frage und<br />

wenn es sie gäbe, so würde <strong>die</strong>s ja nicht automatisch bedeuten, daß sie wahr wäre.<br />

86 Siehe Riesman 1977, S. 193ff.<br />

87 Vgl. hierzu <strong>die</strong> Neugiertheorie von Berlyne 1974, S. 42: "Wir sind Dingen gegenüber<br />

gleichgültig, <strong>die</strong> unserer Erfahrung entweder zu fern oder zuvertraut sind. Eine relativ<br />

leichte Veränderung in einem vertrauten Reizmuster hat etwas einmalig Pikantes. Eine<br />

Jahrmarktbude, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> einem Messegelände eine zweiköpfige Dame zur Schau stellt,<br />

kann sehr wohl mehr Leute anziehen <strong>als</strong> eine, <strong>die</strong> eine Sammlung geologischer Proben<br />

anbietet. Nichtsdestoweniger können <strong>die</strong> geologischen Proben völlig verschieden von<br />

allem sein, was <strong>die</strong> meisten Besucher jem<strong>als</strong> gesehen haben, während alle schon viele<br />

Damenköpfe gesehen haben, und zwei Köpfe <strong>auf</strong>einer Dame sind zwei Köpfen <strong>auf</strong> zwei<br />

Damen nicht so unähnlich." Berlyne referiert auch eine Reihe empirischer Untersuchungen,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Hypothese bestätigen, daß Neuartigkeit, Überraschung, widersprüchliche<br />

Information und zunehmende Komplexität zu erhöhter Aufmerksamkeit führt. Die Hypothese,<br />

daß Lebewesen relative Neuartigkeit von Reizen bevorzugen, wurde auch durch<br />

Untersuchungen an Ratten, Sheldon 1968, 1969, und an Affen, Menzel 1964, Mason<br />

1974, bestätigt.<br />

88<br />

Vgl. z.B. Riesman 1977, S. 60ff.<br />

42


Einerseits erschließt man immer neue Möglichkeiten des Denkens und Handelns<br />

und andererseits wird <strong>die</strong> dadurch gegebene Vielfalt zur Begrenzung. Man kann<br />

<strong>die</strong>se Vielfalt nicht mehr überblicken und frei nutzen. Zudem kann <strong>die</strong> Vielfalt<br />

verunsichernd und verwirrend wirken, aber <strong>die</strong>se Unsicherheit kann <strong>auf</strong>gehoben<br />

werden durch Teilnahme am Denken und Handeln der anderen. Man hält sich an<br />

<strong>die</strong> Moden seiner Zeit, man nimmt teil an den Diskussionen, den Maßstäben, den<br />

allgemeinen Vorstellungen, den Paradigmen des Denkens und Forschens und ist so<br />

<strong>auf</strong>gehoben in einem mehr oder weniger begrenzten Geschehen, das einen mit sich<br />

fortträgt. Wir sind Teilnehmende in einem Strom sich verändernder Bedingungen<br />

und Möglichkeiten, aber wir sehen nicht das Ganze und können nicht <strong>die</strong> Fülle der<br />

Möglichkeiten ausschöpfen und frei darüber verfügen. 89 Wenn wir gleichzeitig<br />

teilnehmen und das Ganze sehen und in bewußter Weise nutzen wollten, müßten<br />

wir sozusagen eine neue Qualität von Bewußtheit entwickeln.<br />

3.4 Die Infragestellung des Ide<strong>als</strong> des rationalen Menschen<br />

Die Haupttendenz - und zwar auch <strong>als</strong> Folge der Außenlenkung - mag in <strong>die</strong> Richtung<br />

immer globalerer wissenschaftlicher, politischer, sozialer "Lösungen" unserer<br />

Probleme gehen, mit einem entsprechenden Beitrag des Bildungsbereichs zu <strong>die</strong>ser<br />

Entwicklung. Gleichzeitig mit <strong>die</strong>ser Entwicklung scheint sich - wenn auch nur im<br />

Ansatz - eine Bewegung anzubahnen, <strong>die</strong> vermutlich <strong>auf</strong> eine neue Form der<br />

Innenlenkung bzw. <strong>auf</strong> einen Subjektivismus hinausläuft. Es ist <strong>die</strong> Suche nach<br />

einer Instanz oder Wahrheit, <strong>die</strong> uns leiten kann, im eigenen Innern und nicht in den<br />

Traditionen oder verinnerlichten Traditionen oder in den objektiven Gesetzmäßigkeiten<br />

von Natur und Gesellschaft. Man denke hier nur an <strong>die</strong> rasche Verbreitung<br />

und Akzeptierung von sogenannten Selbsterfahrungs- oder Encounter-Gruppen,<br />

von Meditation usw.<br />

Die gegenwärtig zu beobachtende Ausbreitung <strong>die</strong>ser Bewegung scheint damit<br />

zusammenzuhängen, daß <strong>die</strong> Außenlenkung Lücken bzw. subjektiv empfundene<br />

Lücken <strong>auf</strong>weist, d. h. es treten Felder oder Bereiche <strong>auf</strong>, in denen <strong>die</strong><br />

Außenlenkung ausfällt und das Individuum <strong>auf</strong> sich selbst zurückverwiesen wird. So<br />

werden etwa in der Arbeitswelt, im Gewebe der gesellschaftlichen bzw. institutionell<br />

89 Vgl. hierzu auch <strong>die</strong> Aussage von McLuhan: "Je mehr <strong>die</strong> Menschen einbezogen werden,<br />

desto weniger wissen sie." (Zit. nach Stearn 1969, S. 19.) Vgl. hierzu auch <strong>die</strong><br />

Ausführungen von Walker 1969, S. 50f.<br />

43


geregelten Abläufe immer mehr Funktionen von informationsverarbeitenden<br />

Systemen übernommen. Viele sehen und empfinden erstaunt oder betroffen, daß<br />

komplexe Tätigkeiten, an denen Individuen ihre Fähigkeiten entwickeln konnten und<br />

mit deren Ausübung und durch <strong>die</strong> damit gegebene Einbindung in den gesellschaftlichen<br />

Prozeß sie sich selbst oder einen Teil ihrer selbst identifizieren konnten, daß<br />

<strong>die</strong>se Tätigkeiten auch ohne sie ausgeführt werden können. Es ist so, <strong>als</strong> würde ein<br />

Teil dessen, was ein Mensch ist, überflüssig. Wenn dem Individuum aber irgendein<br />

Wert in sich zukommen soll, dann muß man annehmen, daß er etwas anderes, daß<br />

er mehr ist <strong>als</strong> ein tüchtiger, anpassungsfähiger Apparat zur Ausführung von mehr<br />

oder weniger komplexen Tätigkeiten. Eine derartige Situation hat in der Mitte des<br />

19. Jhts. J.St. Mill vorausgenommen, aber auch er wußte nicht mehr <strong>als</strong> einen<br />

vagen Eindruck dessen zu vermitteln, was das eigentlich Menschliche sei.<br />

"Angenommen, es wäre möglich, Häuser zu bauen, Korn wachsen zu lassen,<br />

Schlachten zu schlagen, Prozesse zu führen und selbst Kirchen zu errichten<br />

und darin Gebete zu sprechen durch Maschinerie, durch Automaten in<br />

menschlicher Gestalt, so wäre es doch ein beträchtlicher Verlust, wenn man<br />

solche Automaten selbst gegen <strong>die</strong> Männer und Frauen, <strong>die</strong> gegenwärtig <strong>die</strong><br />

zivilisierte Welt bewohnen, eintauschen würde, und <strong>die</strong> doch sicher nur<br />

kärgliche Beispiele dessen sind, was <strong>die</strong> Natur vermag und hervorbringen<br />

kann. Die Menschennatur ist nicht eine nach einem Modell gebaute<br />

Maschine, <strong>die</strong> ein vorgeschriebenes Werk zu leisten hat, sondern ein Baum,<br />

der wachsen und sich entwickeln will nach allen Seiten, seiner inneren<br />

Triebkraft gemäß, <strong>die</strong> ihn zu einem organischen Wesen macht." 90<br />

Wo ein für den Einzelnen so wesentlicher Bereich wie der Beruf ausfällt, wo deutlich<br />

wird, daß <strong>die</strong> Steuerungen in <strong>die</strong>sem Bereich, mit denen er sich in einem subjektiv<br />

bedeutsamen und dem vielleicht stabilsten Teil seiner Persönlichkeit identifizieren<br />

konnte, nichts grundlegend Menschliches zu haben scheinen, wird deutlich, daß<br />

Außensteuerung in unserem Leben zwar eine außerordentlich wichtige Funktion<br />

hat, daß aber <strong>die</strong> Fixierung dar<strong>auf</strong> das eigentlich Menschliche (wenn wir zunächst<br />

einfach mit dem gesunden Menschenverstand annehmen wollen, daß es das gibt)<br />

verfehlt. Wenn nun auch unsere Identifikationen mit unserem Beruf, unserem<br />

Körper, unseren Gefühlen, Überzeugungen usw. nicht das Eigentliche, nicht den<br />

"wahren Kern" unserer selbst erfassen, stellen <strong>die</strong>se Identifikationen, solange sie<br />

bestehen, eine Realität für uns dar. Nimmt man - sei es durch wirtschaftliche<br />

Entwicklung oder auch durch direkte und absichtliche Gewalt - einem Menschen<br />

90 Mill 1973 (11859), S. 192.<br />

44


<strong>die</strong>se Identifikationsmöglichkeit, so nimmt man ihn sich selbst, und es wird offenbar<br />

auch wie eine Verurteilung empfunden, wie in dem folgenden Brief von Ossip<br />

Mandelstam deutlich wird, den er aus einem sibirischen Arbeitslager schreibt,<br />

nachdem er dort zum Invaliden geworden war:<br />

"Um <strong>die</strong>se Zeit hat man mir ohne jedes Verschulden alles genommen: das<br />

Recht <strong>auf</strong> Leben, <strong>auf</strong> Arbeit, <strong>auf</strong> ärztliche Behandlung. Ich bin versetzt in <strong>die</strong><br />

Lage eines Hundes, eines Körpers ... Ich bin ein Schatten. Mich gibt es nicht.<br />

Ich habe nur noch das Recht zu sterben." 91<br />

Es stellt sich <strong>die</strong> Frage, ob das Individuum nicht doch mehr ist <strong>als</strong> das, was aus dem<br />

sozusagen naturhaften Werden und Gestalten von immer komplexeren Prozessen<br />

sich <strong>als</strong> individuelle psychische und soziale Dispositionen herausbildet und sich zu<br />

immer neuen Fähigkeiten und Reaktionsweisen oder Handlungsregulationen<br />

verdichtet. Dieser Prozeß mag zu immer zivilisierteren Zuständen führen, und wir,<br />

<strong>die</strong> wir Teil und Ergebnisse <strong>die</strong>ses Prozesses sind, würden unseren Sinn und<br />

unsere Ziele in jenem sich ständig wandelnden Geflecht der sozialen Bedingungen<br />

finden. 92<br />

Eines Tages käme es vielleicht zu einem Gleichgewicht zwischen den<br />

gesellschaftlichen Aufgaben und Anforderungen und den individuellen Neigungen<br />

und Bedürfnissen. 93<br />

Aber irgendwie scheint uns all <strong>die</strong>s nicht befriedigend,<br />

irgendetwas in uns scheint zu widersprechen, was natürlich nicht bedeuten muß,<br />

daß <strong>die</strong> gegebene Beschreibung f<strong>als</strong>ch ist, sondern nur, daß <strong>die</strong>se innere<br />

Unzufriedenheit einen Grund für weiteres Suchen darstellen kann.<br />

Ein ganz anders gearteter blinder Fleck der Außensteuerung zeigt sich uns in den<br />

Naturwissenschaften. Der Wissenschaftler versucht ja, sich in der Beschreibung und<br />

Erklärung ganz von den Phänomenen leiten zu lassen und subjektive Auffassungen<br />

oder Ansichten möglichst auszuschalten. Aber mit der Entwicklung immer<br />

komplexerer und technisch <strong>auf</strong>wendigerer experimenteller Methoden, insbesondere<br />

in der Quantenphysik, zeigt sich, daß <strong>die</strong> Annahme, "daß wir <strong>die</strong> Welt beschreiben<br />

können oder wenigstens Teile der Welt beschreiben können, ohne von uns selbst zu<br />

sprechen" <strong>auf</strong> einer Illusion beruht. 94 Das heißt, daß wir bei der Beobachtung und<br />

Erklärung der Natur bzw. der Materie <strong>auf</strong> uns selbst zurückverwiesen werden, daß<br />

91 Ossip Mandelstam 1937, zit. nach Rakusa 1985, S. 61.<br />

92 Siehe hierzu Elias 1978, Bd. 2, S. 312ff.<br />

93 Vgl. ebenda, S. 454.<br />

94 Heisenberg 1978, S. 684.<br />

45


wir <strong>die</strong> Natur bzw. Materie nur ganz verstehen können, wenn wir uns selbst ganz<br />

verstehen. 95<br />

Eine ganz ähnliche Situation ergibt sich in der Neurophysiologie. Da es nicht<br />

möglich scheint, physiologisch zu erklären, "<strong>auf</strong> welche Weise, <strong>die</strong> über weite<br />

Bereiche des Gehirns und über eine Unzahl von Neuronen verteilte Information zu<br />

einer Einheit, wie wir sie im Bewußtsein erfahren, zusammengefaßt wird" 96 , wird der<br />

Physiologe <strong>auf</strong> das Bewußtsein, das er neurophysiologisch erklären wollte,<br />

zurückverwiesen, denn gerade das Bewußtsein könnte <strong>die</strong> integrierende Instanz<br />

darstellen. Das bedeutet, daß das Bewußtsein <strong>als</strong> etwas immateriell Seiendes eine<br />

Wirkung <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Materie ausübt. Es scheint einerseits so zu sein, daß<br />

physiologische Gehirnprozesse Einfluß <strong>auf</strong> unser Bewußtsein haben, und damit <strong>auf</strong><br />

das, <strong>als</strong> was wir uns erfahren; andererseits üben aber Bewußtseinsprozesse auch<br />

Einfluß <strong>auf</strong> physiologische Vorgänge aus. Das ist <strong>die</strong> Grundlage des Lügendetektors<br />

bzw. der psychogalvanischen Hautreaktion (PGR). Ein anderes Beispiel der<br />

Wirkung des Bewußtseins <strong>auf</strong> physiologische Prozesse ist das im Trancezustand<br />

erfolgende L<strong>auf</strong>en über glühende Kohlen ohne Verbrennungen. Weiter zeigte sich<br />

beispielsweise in einem Experiment mit Mäusen, denen man, während man ihnen<br />

Kampfer zu riechen gab, eine Chemikalie zur Anregung körpereigener Abwehrstoffe<br />

spritzte, daß ihr Körper nach der neunten Wiederholung eine entsprechende<br />

Produktion von Abwehrstoffen (Killerzellen) auch dann bildete, wenn sie nur den<br />

Kampferduft schnupperten (<strong>als</strong>o ein bedingter Reflex). Das Gehirn oder irgendeine<br />

andere Bewußtseinsinstanz (auch UnterBewußtsein ist Bewußtsein) scheint den<br />

Befehl zu ihrer Erzeugung gegeben zu haben. 97 Die Untersuchung der Wirkung von<br />

Bewußtseinsprozessen kann uns etwas über <strong>die</strong> Möglichkeiten des Bewußtseins<br />

zeigen, aber das bedeutet nicht, daß Bewußtsein mit seinen physiologischen<br />

Prozessen identisch ist, d.h. wir erfahren dadurch nichts darüber, was wir eigentlich<br />

sind und was Bewußtsein ist.<br />

Diese Frage nach dem Sein und Bewußtsein ist nun allerdings eine Frage nach<br />

etwas Essentiellem. Es scheint, daß auch <strong>die</strong> hartnäckigsten Versuche, alle<br />

Erscheinungen der Welt und des Lebens ausschließlich durch gesetzmäßig sich<br />

vollziehende Prozesse verstehen zu wollen, irgendwann <strong>auf</strong> das Problem eines<br />

essentiell Seienden zurückverwiesen werden. Dieses Problem, das <strong>die</strong> Philosophen<br />

95 Vgl. ausführlicher <strong>die</strong> hierzu referierten oder zitierten Beiträge in Lehner 1986, S. 49-52.<br />

96 Creutzfeldt 1981, S. 274.<br />

97 Vgl. DER SPIEGEL, 7, 1985, S. 194-195; ferner Thompson 1975, S. 379-381.<br />

46


seit jeher beschäftigt, hat offenbar alle Versuche überlebt, es zu lösen, und taucht<br />

auch nach Zeiten der Ablehnung unvermittelt wieder <strong>auf</strong>. Denn wenn es etwas gibt,<br />

das nicht nur Prozeß ist, nicht nur Abl<strong>auf</strong> einer unvorstellbar komplexen<br />

Maschinerie, dann könnte das Individuum im Verborgenen, und für uns selbst<br />

unerkannt, etwas sein, das nicht identisch wäre mit dem immerwährenden Abl<strong>auf</strong><br />

physischer bzw. physiologischer, sozialer, mentaler und emotionaler Prozesse und<br />

der dadurch gegebenen Begrenzungen.<br />

Die dargestellten Entwicklungen (es könnten noch entsprechende Entwicklungen<br />

z.B. in der Kunst oder des religiösen Lebens hinzugefügt werden) können jedenfalls<br />

dazu führen, daß <strong>die</strong> Frage nach dem Selbst, nach dem, was wir eigentlich sind<br />

oder sein können, neu, d. h. von einem neuen Blickwinkel aus, gestellt wird.<br />

Man mag <strong>die</strong>sem Verlangen nach tieferer "Einsicht ins Ich" 98 entgegenhalten, daß<br />

es den herrschenden - d. h. den scheinbar endgültig fixierten und abgegrenzten -<br />

Auffassungen von Psychologie und Philosophie widerspreche oder daß es sich<br />

dabei schlicht um ein Abgleiten in Irrationalismus handle. Aber das bedeutet nur, der<br />

oben entwickelten Problemstellung auszuweichen und sich hinter <strong>die</strong> (scheinbar)<br />

sicheren Grenzen herrschender Anschauungen zurückzuziehen. Wie stark <strong>die</strong>se<br />

Begrenzungen unserem gegenwärtigen Bewußtsein auch eingeprägt sein mögen,<br />

scheinen sie doch durch einen neuen oder wiederholten Subjektivismus unterhöhlt<br />

und infragegestellt zu werden. Das zeigt sich auch in den immer deutlicher<br />

geäußerten Zweifeln am Wahrheits- und Gültigkeitsanspruch wissenschaftlicher<br />

Rationalität:<br />

"Die Wissenschaft ist durch <strong>die</strong> Wissenschaftstheorie längst in jenes Stadium<br />

der Selbstreflexion übergegangen, das stets das Ende einer Sache ankündigt.<br />

Erst versuchte man, <strong>auf</strong>kommenden Zweifeln in der naiven Überzeugung<br />

zu begegnen, man werde sie leicht und <strong>als</strong>bald abweisen können. Das war<br />

das Stadium des logischen Positivismus der Wiener Schule. Als <strong>die</strong>s<br />

fehlschlug, glaubte man durch Preisgabe von Terrain einen festen Besitz in<br />

der Hand behalten zu können. Das war <strong>die</strong> Stunde des kritischen Rationalismus,<br />

der wenigstens im sog. F<strong>als</strong>ifikationsprinzip eine absolute Grundlage<br />

wissenschaftlicher Forschung und ein festes 'Abgrenzungskriterium' zu<br />

anderen Formen der Welterklärung gefunden zu haben glaubte. Als auch<br />

<strong>die</strong>se Hoffnung trog, versuchten einige, durch immer neue Verfeinerungen<br />

und ad hoc entworfene Spitzfindigkeiten das F<strong>als</strong>ifikationsprinzip, wenn auch<br />

in sehr <strong>auf</strong>geweichter Form, zu retten und 'harte' von 'weichen' Kernen im<br />

98 So der Titel des Buches von Hofstadter und Dennet 1986.<br />

47


Forschungsprozeß zu unterscheiden, (etwa an der London School of<br />

Economics); andere (vor allem P. Feyerabend) stellten überhaupt <strong>die</strong><br />

wissenschaftliche Methode zur Disposition und forderten, nicht ohne<br />

erfrischende Fröhlichkeit wie <strong>die</strong> ersten Dadaisten, <strong>die</strong> allen Ballast von<br />

Zwängen abwerfende Methoden-Anarchie." 99<br />

Es könnte sein, daß <strong>die</strong> gegenwärtige, von Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und<br />

Politik mitbewirkte Veräußerlichung oder Verobjektivierung unseres Daseins einen<br />

Subjektivismus provoziert, der bereit ist, das Wagnis einzugehen, jenseits der<br />

Sicherheit vermittelnden religiösen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und sonstigen<br />

Traditionen, jenseits auch sozialer Übereinstimmungen, deren Begrenzungen<br />

keinen Raum mehr für ein freies Subjekt zu bieten scheinen, nach einem Grund,<br />

Ziel und Weg des Lebens im Subjekt selbst zu suchen. Ein derartiges Experiment<br />

kann unabschätzbare Folgen (Gefahren) in sich bergen, da (scheinbar ohne Not)<br />

<strong>die</strong> gegenwärtigen Grundlagen unseres Existierens in Frage gestellt werden. Im<br />

folgenden Versuch soll eine "theoretische" Basis entwickelt werden, <strong>die</strong> vielleicht ein<br />

etwas größeres Verständnis der Probleme, Möglichkeiten und Methoden <strong>die</strong>ses<br />

Subjektivismus erlaubt.<br />

99 Hübner 1985, S. 413. Vgl. auch Bischof 1984, S. 329: "Als höchster Wert gesetzt, hört <strong>die</strong><br />

Rationalität <strong>auf</strong>, rational zu sein..."<br />

48


TEIL II: EIN DENKMODELL DES BEWUSSTSEINS<br />

Begrenzungen, wie sie in Teil I dargestellt wurden, sind Begrenzungen des Bewußtseins.<br />

Könnten wir über das, was wir <strong>als</strong> objektive Begrenzungen erkennen, hinausblicken,<br />

könnten wir vielleicht weniger begrenzte Räume entdecken. Wir haben<br />

gesehen, daß unsere Einstellungen, unsere Gefühle und Handlungen recht beengte<br />

Seinszustände darstellen, daß wir <strong>die</strong> Handlungs- und Wissensräume, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

<strong>Institution</strong>en (hier insbesondere <strong>die</strong> Bildungsinstitutionen) uns geben, nur selten zu<br />

nutzen und zu erweitern wissen, daß wir <strong>die</strong> Möglichkeiten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> kulturellen oder<br />

sozialen Strömungen uns eröffnen, vor allem zur Vervielfältigung unserer Einengungen<br />

und Begrenzungen nutzen. und dadurch unser subjektives Sein mit einer Mauer<br />

objektiver oder quasi-objektiver Sachbestände und Gesetzmäßigkeiten umgeben.<br />

Die Frage ist nun, ob Bewußtsein und damit auch subjektives Sein jenseits <strong>die</strong>ser<br />

Begrenzungen denkbar ist.<br />

4. SKIZZE EINER KONZEPTION DES BEWUSSTSEINS (ÜBERBLICK)<br />

Es wurde schon dar<strong>auf</strong> hingewiesen, daß Bewußtseinsbegrenzungen nicht einseitig<br />

<strong>als</strong> negativ zu beurteilt sind, da Grenzen zugleich Orientierungsmarken darstellen<br />

und dem Einzelnen sowie größeren gesellschaftlichen Gebilden Sicherheit verleihen.<br />

Bewußtsein 100 existiert jedoch nicht nur innerhalb, sondern auch jenseits<br />

<strong>die</strong>ser Begrenzungen, auch wenn es vielleicht <strong>als</strong> Unterbewußtes oder Unbewußtes<br />

bezeichnet werden muß. So wie man unter dem Ausdruck "Tag" Tag und Nacht<br />

verstehen kann, oder wie <strong>auf</strong> der Erde gleichzeitig alle Tages- und Jahreszeiten<br />

vorhanden sind, so kann das Bewußtsein bewußte, unterbewußte und überbewußte<br />

Zustände gleichzeitig enthalten.<br />

Der im folgenden zu gebende Überblick orientiert sich an dem unten abgebildeten<br />

Diagramm, in dem versucht wurde, <strong>die</strong> wesentlichen Elemente der hier entwickelten<br />

Vorstellung von Bewußtsein schematisch zu erfassen.101<br />

100<br />

101<br />

Bewußtsein wird hier <strong>als</strong> Oberbegriff für Zustände, Felder, Funktionen, Produkte des<br />

Bewußtseins verwendet.<br />

Das Diagramm lehnt sich an das sogenannte "Ei-Diagramm" von Assagioli1984 (1965),<br />

S. 17, an. Die Psychosynthese Assagiolis stellt einen umfassenden Versuch einer<br />

wissenschaftlichen Konzeption von Bewusstsein dar, und <strong>die</strong> hier gegebene Konzeption<br />

beruht in vieler Hinsicht dar<strong>auf</strong>,ohne <strong>die</strong> Kategorien von Assagioli (1984, S. 17ff) im<br />

einzelnen zu übernehmen. Weiter ist <strong>die</strong> hier entwickelte Vorstellung von Bewußtsein<br />

49


Schema des Bewußtseins (Bewußtseins-Ei)<br />

1: Objektivierendes Bewußtseinsfeld 6: Unterbewußtsein<br />

oder Ich im engeren Sinn<br />

7: Archaische Identität<br />

2: Mittelbares Bewußtsein oder Ich 8: Magisch-mythisches Bewußtsein<br />

im weiteren Sinn<br />

9. Überbewußtsein<br />

3: Umgebungs-Bewußtsein 10: Überbewußtes Selbst<br />

4: Personales Selbst 11: Individuelles Unter- und<br />

5: Universales Bewußtsein Überbewußtes<br />

Das Diagramm zeigt ein transparentes "Bewußtseins-Ei", in dessen Mitte sich eine<br />

horizontale Ebene befindet; <strong>die</strong>se Ebene bezeichnet das, was man gemeinhin unter<br />

menschlichem Bewußtsein versteht. Der Raum unter <strong>die</strong>ser Ebene wird <strong>als</strong> Unter-,<br />

der darüber <strong>als</strong> Überbewußtsein bezeichnet; beides zusammen wird <strong>als</strong> universales<br />

Bewußtsein verstanden.<br />

sehr stark auch von der den Yoga-Systemen zugrundeliegenden Psychologie bzw.<br />

Philosophie beeinflußt, insbesondere von Sri Aurobindo 1972. Zu Yoga vgl. allgemein<br />

Eliade 1977.<br />

50


Die einzelnen Bereiche können wie folgt charakterisiert werden:<br />

1. Objektivierendes Bewußtseinsfeld oder Ich im engeren Sinn 102 (vgl. Kap.<br />

5.1, 5.31, 5.3.2, 5.3.3). Das Bewusstseinsfeld umfasst sowohl das Wach- <strong>als</strong><br />

auch das Traumbewußtsein. Unser Wachbewusstsein ist zunächst ein<br />

Bewußtseinsfeld, welches jeweils das umfaßt, dessen wir uns in einem<br />

gegebenen Augenblick gerade bewußt sind. Entscheidend ist jedoch, daß<br />

wahrgenommene Objekte dabei <strong>als</strong> etwas von unserem Ich oder Bewußtsein<br />

Verschiedenes erfahren werden. Das bedeutet, daß wir uns <strong>als</strong> bewußte,<br />

individualisierte Wesen erleben, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> jene um uns liegenden Erscheinungen<br />

einwirken können oder <strong>die</strong> den Einwirkungen <strong>die</strong>ser Erscheinungen unterworfen<br />

sind. Auch im Traum können wir uns <strong>als</strong> im Rahmen des Traumgeschehens<br />

handelnde Wesen erfahren. Eindrücklicher in <strong>die</strong>ser Hinsicht sind aber vielleicht<br />

Angstträume, in denen man das Opfer des Geschehens darstellt.<br />

Weiter ist das Bewußtseinsfeld nichts Stabiles, sondern es ist in ständiger<br />

Veränderung begriffen. Die Wahrnehmungen, Gedanken, Wünsche, Hoffnungen,<br />

Ängste, <strong>die</strong> es bevölkern, ändern sich ununterbrochen; es schwindet in der<br />

Bewußtlosigkeit und ersteht danach wieder neu. Daß wir dennoch den Eindruck<br />

einer Kontinuität unseres Ich oder Seins haben, dürfte daher <strong>auf</strong> Prozessen und<br />

Bewußtseinsstrukturen beruhen, <strong>die</strong> unter oder über dem Bewußtseinsfeld<br />

liegen und weiterbestehen und <strong>die</strong> Struktur des letzteren auch nach Unterbrechungen<br />

<strong>auf</strong>rechterhalten bzw. immer wieder neu erzeugen und ordnen<br />

können. Eine <strong>die</strong>ser strukturierenden Instanzen ist das<br />

2. mittelbare Bewußtsein oder Ich im weiteren Sinn (vgl. Kap. 5.2 und.4). Was<br />

in einer gegebenen Situation wahrgenommen wird, was <strong>als</strong>o überhaupt Zutritt<br />

zum Bewußtseinsfeld erhält, hängt unter anderem ab von den Aufgaben, den<br />

Fähigkeiten, den Zielen, dem Wissen, den Gewohnheiten eines Individuums.<br />

Diese bilden sozusagen einen Programmfundus, durch den Wahrnehmen,<br />

Denken, Fühlen, Wollen und Handeln zu einem Teil gelenkt werden. Diese<br />

"Programme" können durch Lernen verändert und erweitert werden. Dabei sind<br />

sie dem Individuum nicht eigentlich bewußt, sondern nur prinzipiell, d. h.<br />

mittelbar, dem Bewußtsein zugänglich. Das gilt auch oft für Ziele und Motive des<br />

Handelns - denn man handelt mehr aus Gewohnheit, so wie man eben handelt.<br />

102<br />

Zur Literatur vgl. <strong>die</strong> jeweils angegebenen Kapitel, in denen der Gegenstand<br />

ausführlicher behandelt wird.<br />

51


Gewohnheiten, Wissen, Ziele, Fähigkeiten usw. werden darüber hinaus vom<br />

Individuum <strong>als</strong> konstitutiv für sein Ich erfahren.<br />

3. Umgebungs-Bewußtsein: Die Bildung oder Formung des mittelbaren<br />

Bewußtseins ist weitgehend abhängig von der natürlichen und vor allem sozialen<br />

Umwelt. Was <strong>als</strong> Umwelt in <strong>die</strong>sem weiten Sinn erfahren und vermittelt wird, ist<br />

aber seinerseits immer schon interpretiert oder kategorisiert. Dieser Bereich wird<br />

hier <strong>als</strong> Umgebungs-Bewußtsein bezeichnet. Man kann darunter etwa das in den<br />

gesellschaftlichen <strong>Institution</strong>en und in den technischen Produkten implizit<br />

enthaltende Bewußtsein verstehen, das unsere Reaktionen weitgehend leitet,<br />

auch wenn wir uns dessen nicht bewußt sind. Es ist weiter zu verstehen <strong>als</strong><br />

kodifiziertes (wissenschaftliches, künstlerisches usw.) Wissen und <strong>die</strong> durch <strong>die</strong><br />

Sprache vermittelte Sichtweise der Welt. In <strong>die</strong>ser Hinsicht ist es so etwas wie<br />

Poppers Welt 3 103 , d. h. es besteht in geistigen Strukturen oder Bedeutungen,<br />

<strong>die</strong> Individuen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen, wenn sie mit<br />

ihnen in Kontakt kommen. Diese Beeinflussung ist aber nur möglich, wenn<br />

bereits ähnliche Bedeutungen im mittelbaren Bewußtsein des Individuums<br />

vorhanden sind, <strong>die</strong> dann allerdings differenziert werden können.<br />

Dieser Bereich wird hier nur in seiner Wechselwirkung mit dem mittelbaren<br />

Bewußtsein und dem Bewußtseinsfeld (oder allgemein dem Ich) berücksichtigt<br />

und ist bereits unter dem Aspekt der Bewußtseinsbegrenzung (Kap. 2 u. 3)<br />

behandelt worden.<br />

4. Das personale Selbst (Kap. 5.3.4, 5.3.5. 5.3.6) bzw. das, was hier mit <strong>die</strong>sem<br />

Namen bezeichnet wird, ist - im Unterschied zum Bewußtseinsfeld oder Ich im<br />

engeren Sinn - <strong>die</strong> Instanz, <strong>die</strong> weiß, daß wir denken, fühlen usw.; denn <strong>die</strong><br />

Beobachtung der Vorgänge im Bewußtseinsfeld, das Auftreten von Denken bzw.<br />

von Gedanken, von Wünschen usw. scheint eine davon zumindest nicht völlig<br />

abhängige Instanz vorauszusetzen, <strong>die</strong> eine Art unmittelbares Bewußtsein<br />

darstellt, aber nicht jenes Denken, jener Gedanke, jenes Gefühl oder Fühlen ist,<br />

das es beobachten oder erkennen kann. Das personale Selbst kann erfahren<br />

werden, wenn man es ablehnt, sich mit irgendeinem der Bewußtseinsinhalte zu<br />

identifizieren und sie stattdessen nur beobachtet wie in einem Film. Diese<br />

Beobachtung scheint zu zeigen, daß das personale Selbst einem Bereich<br />

103 Popper 1973, S. 172f. Man kann es aber auch <strong>als</strong> <strong>die</strong> gesellschaftliche Wirklichkeit verstehen,<br />

wie sie in der Wissenssoziologie von Berger/ Luckmann, 1980, dargestellt wird.<br />

52


angehört, der quasi den Überblick von oben ermöglicht. 104 Die Weite des<br />

Überblicks und damit der Grund der Selbst-Bewußtheit hängen von der Fähigkeit<br />

und Stärke der Distanzierung ab. In der Identifikation mit Wünschen, Gedanken<br />

und Handlungen im Bewußtseinsfeld vergißt sich das personale Selbst und wird<br />

zum Ich, d.h. es ist der Wunsch, der Gedanke; es verliert <strong>als</strong>o den neutralen<br />

Überblick, <strong>die</strong> Selbst-Bewußtheit. So wie man nun verschiedene Grade der<br />

Ich-Stärke unterscheiden kann, dürfte es auch möglich sein, verschiedene<br />

Grade der Entwicklung des personalen Selbst zu unterscheiden. Die<br />

Charakterisierung der hier betrachteten Form des Selbst <strong>als</strong> personales beruht<br />

dar<strong>auf</strong>, daß es in der Erfahrung <strong>als</strong> eine Art personales oder individuelles<br />

Zentrum erscheint.<br />

5. Universales Bewußtsein (Kap. 6.1). Verschiedene Formen von Bewußtsein<br />

und insbesondere des individuellen Bewußtseins wurden bisher <strong>als</strong><br />

Gegebenheiten hingenommen. Wie aber können <strong>die</strong>se Bewußtseinsformen<br />

entstehen, wenn man nicht annehmen will, sie würden sich durch Zufall aus der<br />

Materie bzw. dem Leben entwickeln? Es sind verschiedene Antworten <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se<br />

Frage gegeben worden. Hier wird sie so beantwortet, daß Voraussetzung ein<br />

universales Bewußtsein sei. Dieses universale Bewußtsein wird nicht <strong>als</strong><br />

strukturlose Einheit betrachtet. Nach <strong>die</strong>ser Konzeption bringt es <strong>die</strong> Fülle der<br />

Strukturen hervor und wird selbst <strong>als</strong> gegliedert und hierarchisch geordnet<br />

angenommen. Was hier <strong>als</strong> universales Bewußtsein bezeichnet wird, wurde von<br />

Hartmann <strong>als</strong> Unbewußtes dargestellt. 105 Es wird <strong>als</strong> Grundlage so<br />

verschiedener Phänomene gesehen, wie es z. B. instinktgesteuertes Verhalten<br />

und <strong>die</strong> Erfahrung mystischer Einheit darstellen. Hier wird nun versucht, eine<br />

Differenzierung in Unter- und Überbewußtsein vorzunehmen.<br />

6. Das Unterbewußtsein (vgl. Kap. 6.2) wird <strong>als</strong> <strong>die</strong> ursächliche Instanz der<br />

Hervorbringung und Steuerung all jener Prozesse gesehen, <strong>die</strong> unterhalb der<br />

individuellen Bewußtseinsebene liegen. Die Steuerungen umfassen z. B. das<br />

Geschehen in den Zellen, in den Organen, <strong>die</strong> Formung der unwillkürlichen<br />

Bewegungen, <strong>die</strong> Instinkte und alles das im Menschen, was man <strong>auf</strong>grund der<br />

104 Das, was hier <strong>als</strong> personales Selbst bezeichnet wird, kann man vermutlich <strong>als</strong> identisch<br />

mit dem transzendentalen Selbst Kants sehen. Doch beruht <strong>die</strong> Annahme des<br />

personalen Selbst hier nicht so sehr <strong>auf</strong> logischen Schlußfolgerungen, sondern <strong>auf</strong><br />

individuellen Erfahrungen (vgl. Kap. 5.3.5), <strong>die</strong> im Sinne des James'schen "Radikalen<br />

Empirizismus", James 1976, <strong>als</strong> empirische Daten gewertet werden.<br />

105 Hartmann 1882.<br />

53


stammesgeschichtlichen Entwicklung mehr zu seiner animalischen Natur<br />

rechnet. Es ist davon auszugehen, daß jede Stufe der Evolution des<br />

Bewußtseins im Unterbewußtsein bewahrt wird und dort weiterwirkt. Die<br />

Entwicklung des menschlichen Bewußtseins wird oft so gedeutet, daß sie mit<br />

einem unbewußten Ich, sozusagen mit einem bloßen und noch undifferenzierten<br />

Keim beginnt. Diese Stufe soll hier <strong>als</strong><br />

7. archaische Identität (vgl. Kap. 6.2.4.) bezeichnet werden. Natur- und Ich sind<br />

hier noch nicht geschieden, innen und außen sind sozusagen eins. Es besteht<br />

kein Bewußtsein des Todes und damit keine Existenzangst. Die Instinkte leiten<br />

das Handeln im Einklang mit der Natur. Das Leben in <strong>die</strong>ser archaischen<br />

Identität kann von außen gesehen anmuten wie ein para<strong>die</strong>sischer Zustand.<br />

Dieser Zustand wird vom <strong>auf</strong>dämmernden Ich durchbrochen. Dies ist der<br />

"Sündenfall", der durch <strong>die</strong> Entwicklung des<br />

8. magisch-mythischen Bewußtseins (vgl. Kap. 6.2.4) ausgelöst wird. Die<br />

Erkenntnis der Trennung von Ich und Natur führt auch zum Aufdämmern des<br />

Wissens um den eigenen Tod, zur Angst um <strong>die</strong> eigene Existenz. Im<br />

magisch-mythischen Bewußtsein erlebt sich der Mensch <strong>als</strong> Körper und Gefühl,<br />

aber er hat noch kein Ich in unserem Sinn. Das Leben ist mehr ein Traum, denn<br />

der Mensch ist noch nicht derjenige, der <strong>die</strong> Dinge in der Hand hat. Das Ich ist<br />

noch lange nicht ausgebildet und damit ist das rationale Denken, das <strong>auf</strong> einer<br />

klaren Trennung und immer feineren Differenzierungen von Subjekt und Objekt<br />

beruht, noch nicht da; es herrscht der Zauber, der eine frühe Form des Strebens<br />

nach Macht, nach dem "Machen" der Dinge darstellt. Wie <strong>die</strong> Entwicklungspsychologie<br />

gezeigt hat, tauchen <strong>die</strong>se Bewußtseinsformen auch in der Individualentwicklung<br />

<strong>auf</strong>. 106<br />

Wenn nun das objektivierende Bewußtseinsfeld bzw. das Ich <strong>die</strong> Mittelstellung in<br />

der angenommenen evolutionären Entwicklung einnimmt, kann jenseits davon<br />

ein<br />

9. Überbewußtsein (vgl. Kap. 6.3) angenommen werden. Das Überbewußte wird<br />

verstanden <strong>als</strong> <strong>die</strong> Ursache z. B. von Intuitionen, Inspirationen, von mystischen<br />

Erlebnissen oder allgemein von in erweiterter Einsicht bestehenden Erfahrungen;<br />

denn grundsätzlich scheinen überbewußte Erfahrungen eine Qualität der<br />

106<br />

Vgl. z.B. Remplein 1960, S. 276ff.<br />

54


Weite, des Überblicks zu besitzen, wie sie den Erfahrungen des gewöhnlichen<br />

oder rationalen Bewußtseins nicht zukommt. Insbesondere mystische Bewußtseinszustände<br />

"sind absolut autoritativ für Individuen, denen sie zuteil<br />

werden." 107 Sie erscheinen ihnen unbezweifelbar und weit wirklicher <strong>als</strong><br />

Sinneserfahrungen. In mystischen Bewußtseinszuständen gewonnene oder<br />

erhaltene Erkenntnisse werden <strong>als</strong>o rationaler Erkenntnis <strong>als</strong> weit überlegen<br />

empfunden; sie machen deutlich, daß das rationale Bewußtsein nur eine Form<br />

von Bewußtsein und vielleicht sogar nur eine untergeordnete Form ist. 108 Auf der<br />

anderen Seite verstehen wir z. B. Verhaltensweisen, <strong>die</strong> durch Schlüsselreize<br />

ausgelöst werden <strong>als</strong> Automatismen, <strong>die</strong> (in der Hierarchie evolutionärer<br />

Phänomene) dem individuellen Bewußtsein untergeordnet interpretiert werden.<br />

Vorausgesetzt <strong>als</strong>o, daß alle <strong>die</strong>se Phänomene ihren Ursprung in einem<br />

universalen Bewußtsein haben, kann <strong>die</strong> Unterscheidung nach Unter- und<br />

Überbewußtsein nur in Bezug <strong>auf</strong> das individuelle Bewußtsein erfolgen, das den<br />

Erscheinungen verschiedene Qualitäten zuweist.<br />

In Bezug <strong>auf</strong> viele Einzelphänomene allerdings erweist sich, daß <strong>die</strong><br />

Unterscheidung nach Unter- und Überbewußtsein sehr schwierig durchzuführen<br />

ist. So dürfte es beispielsweise nicht einfach sein, Wahrnehmungs- oder<br />

Gestaltgesetze en bloc einem der beiden Bereiche zuzuordnen.<br />

Verdrängungen von ehem<strong>als</strong> Bewußtem ins Unbewußte (im Sinne der<br />

klassischen Psychoanalyse) wären zu verstehen <strong>als</strong> ins Unterbewußte<br />

verdrängte Inhalte, <strong>die</strong> von dort in Form von Mechanismen <strong>auf</strong> das Bewußtsein<br />

einwirken können. Im übrigen wird <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Psychoanalyse im Rahmen <strong>die</strong>ser<br />

Darstellung nicht weiter eingegangen.<br />

10. Das überbewußte Selbst (vgl. Kap. 6.3.3). Die Erfahrung überbewusster<br />

Zustände weist <strong>auf</strong> eine Instanz oder ein Zentrum derartiger Erfahrungen hin,<br />

das hier <strong>als</strong> überbewußtes Selbst bezeichnet wird. Die Erfahrung <strong>die</strong>ses Selbst<br />

geht - obwohl individualisiert - dahin, daß es sich mit dem Universum, mit dem<br />

Immanenten und dem Transzendenten <strong>als</strong> Einheit weiß. (Dies soll im Diagramm<br />

durch gestrichelte Linien, <strong>die</strong> von jenem Zentrum in alle Richtungen ausgehen,<br />

angedeutet werden.) Wie <strong>die</strong> Erfahrung des personalen Selbst, so scheint auch<br />

<strong>die</strong> Erfahrung des überbewußten Selbst Wirkungen <strong>auf</strong> das gewöhnliche<br />

107 James 1979, S. 329.<br />

108 Vgl. ebenda.<br />

55


Bewußtsein und <strong>auf</strong> das Leben <strong>die</strong>ser Individuen zu haben. Diese Wirkungen<br />

könnten im Sinne des radikalen Empirizismus James' <strong>die</strong> Wirklichkeit <strong>die</strong>ser<br />

Instanzen oder Zentren bestätigen (vgl. Kap. 5.3.4 u. 6.3.3).<br />

Obgleich nun <strong>die</strong> Berichte von Erfahrungen des überbewußten Selbst durch<br />

verschiedene Personen eindeutige inhaltliche und strukturelle Gemeinsamkeiten<br />

<strong>auf</strong>weisen, scheinen sie doch eine mehr oder weniger deutliche individuelle<br />

Komponente oder eine individuelle Form zu haben. Überbewußte Einflüsse oder<br />

Erfahrungen - ebenso wie unterbewußte Einflüsse - scheinen, sobald sie mit den<br />

bestehenden individuellen Bewußtseinsstrukturen zusammentreffen, von <strong>die</strong>sen<br />

in gewissem Grad umgeformt, individualisiert zu werden. Man kann daher ein<br />

11. individuelles Unter- und Überbewußtes vermuten, das <strong>die</strong>se Veränderungen<br />

mitbewirkt und das zum Verständnis individueller Unterschiede in Bezug <strong>auf</strong><br />

Begabungen, Charakter usw. <strong>als</strong> zusätzliche Komponente herangezogen<br />

werden kann. Es kann darüber hinaus <strong>als</strong> ein Bewußtseinskomplex betrachtet<br />

werden, der <strong>die</strong> Neukonstituierung des objektivierenden Bewußtseinsfeldes <strong>als</strong><br />

Wachbewußtsein nach Bewußtlosigkeit oder Schlaf steuert oder <strong>die</strong> Aufrechterhaltung<br />

des Bewußtseinsfeldes im Traum <strong>als</strong> Traumbewußtsein bewirkt.<br />

56


5. INDIVIDUELLE BEWUßTSEINSFORMEN UND -FUNKTIONEN<br />

5.1 Das objektivierende Bewußtseinsfeld<br />

Die Bezeichnung objektivierendes Bewußtseinsfeld deutet an, daß es sich hierbei<br />

einerseits um ein passives Feld handelt, in dem Eindrücke erscheinen und dadurch<br />

wahrgenommen werden können, das andererseits aber auch eine strukturierende,<br />

d. h. objektivierende Funktion ausübt, durch <strong>die</strong> das Ich erfahrbar wird, das sich <strong>als</strong><br />

von Objekten geschieden weiß.<br />

5.1.1 Ich und Feld<br />

Das Ich kann verstanden werden <strong>als</strong> eine Formation von Bewußtseinsprozessen,<br />

<strong>die</strong> zustandekommt durch eine Identifikation mit Gefühlen, mit Fähigkeiten, mit<br />

Gedanken oder Zielen. Was <strong>die</strong>ser Ich-Formation entgegensteht, ist sozusagen das<br />

Nicht-Ich. Es erfolgt dadurch eine Trennung von Subjekt und Objekt. Das, womit<br />

keine Identifikation besteht oder erfolgt, wird im Bewußtseinsfeld <strong>als</strong> Objekt erkannt.<br />

Der Akt der Objektivierung besteht <strong>als</strong>o in der Unterscheidung von Ich und Objekt.<br />

Die Prozesse nun, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Ich-Bildung oder Ich-Formation erzeugen, sind dem<br />

Individuum unbewußt. Wir haben ein Ich, aber wir können seine Entstehung nicht<br />

beobachten; wir unterscheiden unser Ich automatisch von Objekten, <strong>als</strong>o ohne<br />

Reflexion (vgl. hierzu aber ausführlicher Kap.-5.3). Das Ich ist eine Art Zentrum, das<br />

entsprechend seiner Ziele oder Wünsche und Vorstellungen - <strong>die</strong> eigentlich ein Teil<br />

des Ich sind und es charakterisieren - <strong>auf</strong> <strong>die</strong> es umgebende, <strong>als</strong> Objekt und nicht<br />

<strong>als</strong> Teil seines Ich, wahrgenommene Umwelt einzuwirken versuchen kann. Das<br />

bedeutet auch <strong>die</strong> Möglichkeit einer zunehmend differenzierteren Analyse der<br />

vorfindbaren Dinge oder Erscheinungen. Das "Hantieren" mit Vorstellungen von<br />

Dingen (Denken <strong>als</strong> inneres Tun) erlaubt schließlich <strong>die</strong> Konstruktion oder Kombination<br />

von Vorstellungen und führt damit auch zur Entwicklung der Technik.<br />

Diese aktive, objektivierende Funktion des Bewußtseinsfeldes wird ergänzt durch<br />

eine passive. In letzterem Sinn ist es ein Feld oder Gedächtnis, in dem <strong>die</strong><br />

Ergebnisse der objektivierenden Funktion wahrgenommen bzw. bewußt werden.<br />

Dabei kann man zwei Sta<strong>die</strong>n unterscheiden, nämlich den Zustand des<br />

Wachbewußtseins und den Zustand des Traumbewußtseins. Sowohl im Wachen <strong>als</strong><br />

im Träumen werden im Bewußtseinsfeld Ich und Objekt, zumindest in der Regel, <strong>als</strong><br />

57


deutlich voneinander geschieden erfahren. Allerdings scheint bei den meisten<br />

Individuen im Traum <strong>die</strong> Möglichkeit des aktiven Eingreifens in das Geschehen zu<br />

fehlen. Es kommt hier nicht <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Unterschiede zwischen Wachen und Träumen<br />

an, sondern dar<strong>auf</strong>, daß sie Formen von Bewußtseinszuständen darstellen und daß<br />

sie ein Bewußtseinsfeld voraussetzen, in dem es zur unmittelbaren Vergegenwärtigung<br />

des Geschehens bei gleichzeitiger Unterscheidung des Ich von anderem<br />

kommt. Im Bewußtseinsfeld werden <strong>als</strong>o Ereignisse wahrgenommen und eine<br />

gewisse Zeitspanne gegenwärtig gehalten. Es umfaßt das, was uns unmittelbar<br />

oder gleichzeitig bewußt ist. Dabei kann man zwischen dem Zentrum und dem Rand<br />

<strong>die</strong>ses Bewußtseinsfeldes unterscheiden. Das am Rand befindliche scheint<br />

fließend, eher etwas unklar, jedenfalls aber ein nicht genauer beachteter, aber<br />

irgendwie doch bewußter Hintergrund, so wie wir uns zwar <strong>auf</strong> einen Gesprächspartner<br />

konzentrieren, aber anderseits auch noch erkennen, daß andere Personen<br />

ein- und ausgehen, das Tapetenmuster und <strong>die</strong> Bücher <strong>auf</strong> dem Tisch sehen usw.<br />

Aber genauer erinnern können wir uns meist nur an das, was im Zentrum der<br />

Aufmerksamkeit stand. So weist z. B. Dewey dar<strong>auf</strong> hin - und ein jeder kann es<br />

leicht nachprüfen -, daß <strong>die</strong> meisten Menschen nur sehr ungenaue, vage<br />

Vorstellungen vom Zifferblatt ihrer Uhr besitzen, das sie doch mehrm<strong>als</strong> täglich<br />

ansehen. 109 Das Bewußtseinsfeld ist zwar nicht identisch, aber eng verknüpft mit der<br />

dem Kurzzeit- bzw. Gegenwartsgedächtnis. 110<br />

5.1.2 Die Grenzen des Bewußtseinsfeldes<br />

Die Menge der Information, <strong>die</strong> wir in unserem Bewußtsein gleichzeitig gegenwärtig<br />

halten können, ist offensichtlich sehr begrenzt. Man denke etwa an Millers berühmte<br />

"magische Zahl Sieben". 111 Miller selbst stellt allerdings dar, wie selbst bei <strong>die</strong>ser Art<br />

109 Vgl. Dewey 1951, S. 203.<br />

110 Es ist allerdings zu unterscheiden vom nicht- bzw. unbewußten Ultrakurzzeitgedächtnis,<br />

dessen Annahme <strong>als</strong> notwendig erachtet wird, da etwa <strong>die</strong> Wahrnehmung eines<br />

Buchstabens erst bewußt wird, nachdem er (bei kurzzeitiger Darbietung) schon 150<br />

Millisekunden verschwunden ist. Vgl. hierzu etwa Sperling 1960, Averbach/Coriell 1961.<br />

Allerdings bezeichnen <strong>die</strong>se Autoren jenes Gedächtnis selbst <strong>als</strong> Kurzzeitgedächtnis; <strong>die</strong><br />

Bezeichnungen sind <strong>als</strong>o offenbar nicht eindeutig; man muß aus dem Inhalt entnehmen,<br />

um welche Form des Gedächtnisses es sich gerade handelt.<br />

Zum Kurzzeitgedächtnis, wie es oben verstanden wird, vgl. Waugh/Norman 1965, Miller<br />

1956. Eine differenzierte Darstellung der Grenzen der Aufmerksamkeit unter verschiedenen<br />

Bedingungen geben Vernon 1974, S. 84ff, sowie Baddeley 1976, S. 121ff; eine<br />

informationspsychologische Analyse liefert Frank 1971, S. 169ff.<br />

111<br />

Miller 1956. Diese magische Zahl Sieben plus-minus zwei ist vermutlich in allen theoretischen<br />

und praktischen Systemen oder Handlungsanleitungen berücksichtigt, denen er<br />

58


der Einschränkung eine Erweiterung der Grenzen möglich ist, nämlich durch<br />

Zusammenfassung von Einheiten einer Ebene zu größeren Einheiten einer höheren<br />

Ebene, <strong>als</strong>o etwa <strong>die</strong> Zusammenfassung von Einzelziffern zu Zifferpaaren. 112<br />

Überhaupt scheint <strong>die</strong> Bildung von Zeichen höherer Ebene der Trick in der Evolution<br />

des Denkens zu sein. Wenn jemand komplexe Berechnungen mit Hilfe der<br />

Arithmetik durchführen muß, wird er viel mehr Zeit und Mühe zur Erzielung des<br />

Ergebnisses <strong>auf</strong>wenden müssen, <strong>als</strong> er mit Hilfe der Algebra bräuchte. Die<br />

Verwendung der allgemeineren oder höheren Rechenart bedeutet offensichtlich<br />

eine enorme Abkürzung, vorausgesetzt allerdings, daß man sie beherrscht, denn<br />

natürlich ist sie <strong>als</strong> eine Rechenweise höherer Stufe auch schwieriger zu erlernen.<br />

Obwohl Gehirn und Gedächtnis sich ja nicht verändern, gelingt es uns, durch allgemeinere<br />

oder höhere Begriffe das Feld des Bewußtseins erheblich auszuweiten,<br />

und sehr viel größere Mengen an Daten zu ordnen oder zu überblicken, <strong>als</strong> <strong>die</strong>s<br />

möglich ist, wenn man mit einem Zeichenrepertoire niedrigerer Stufe arbeiten muß.<br />

Physiologische Grenzen können <strong>als</strong>o <strong>auf</strong> mentaler bzw. Bewußtseins-Ebene<br />

überschritten werden. Was wir <strong>als</strong> Grenzen des Bewußtseins verstehen, sind<br />

möglicherweise nicht mehr <strong>als</strong> Gewohnheiten. Die Psychologie <strong>die</strong>ser Gewohnheiten<br />

wäre demnach eine Psychologie des Durchschnittsmenschen, während<br />

Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten über ein deutlich weiteres Bewußtseinsfeld<br />

verfügen können. So war beispielsweise Mozart imstande,<br />

"gleichzeitig ein 'im Kopf schon fertiges' Musikstück niederzuschreiben,<br />

während er ein anderes komponierte. So entschuldigte er sich in einem Brief<br />

an seine Schwester, der er ein 'Präludio und eine dreystimmige Fuge'<br />

schickte, daß <strong>die</strong>ses Stück 'ungeschickt geschrieben' sei. '... Das Präludio<br />

gehört vorher, dann folgt <strong>die</strong> Fuge dar<strong>auf</strong>. - Die Ursache aber war, weil ich <strong>die</strong><br />

Fuge schon gemacht hatte, und sie, unterdessen, daß ich das Präludium<br />

ausdachte, abgeschrieben" - Mozart meint: "aus dem Kopf abgeschrieben". 113<br />

Aber allein durch systematisches Üben lässt sich eine gewisse Ausweitung des<br />

Bewußtseinsfeldes erreichen. Übung ermöglicht es zum Beispiel Simultandolmetschern,<br />

eine Sache in einer Sprache zu hören und gleichzeitig (natürlich mit<br />

112<br />

113<br />

gelungen ist, allgemeine Anerkennung zu finden. Wir sehen <strong>die</strong>s etwa an Unterrichtsmodellen<br />

oder -rezepten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Komplexität von Unterricht in wenige Faktoren oder<br />

Regeln zusammenpressen. Man denke etwa an Herbarts (1913, 11806, Bd. 1, S. 274ff)<br />

Form<strong>als</strong>tufen, <strong>die</strong> Kategorien von Heimann 1962 und Schulz 1970, das Mastery<br />

Learning, <strong>die</strong> Unterrichtsrezepte von Grell/Grell 1979, <strong>die</strong> Formeln für Verständlichkeit<br />

oder das Hamburger Verständlichkeitskonzept von Langer/Schulz v.Thun/Tausch 1974.<br />

Vgl. Miller 1956. Man bezeichnet <strong>die</strong>s auch <strong>als</strong> Superzeichenbildung, vgl. z.B. v.Cube<br />

1982, S. 189ff.<br />

Zit. nach Hildesheimer 1977, S. 248.<br />

59


einer geringfügigen Zeitverschiebung), <strong>als</strong>o während des Hörens, das Gesagte in<br />

eine andere Sprache zu übersetzen; sie üben <strong>als</strong>o gleichzeitig zwei Aufmerksamkeit<br />

erfordernde Tätigkeiten aus. 114 Im Experiment haben Versuchspersonen, wenn auch<br />

mühsam und über lange Zeit, gelernt, gleichzeitig Diktate zu schreiben und Texte zu<br />

lesen und sowohl <strong>die</strong> Inhalte des Lesens <strong>als</strong> des Schreibens bewußt <strong>auf</strong>zunehmen<br />

und zu verarbeiten. Die Experimentatoren kommen zu dem Schluß, "daß es durchaus<br />

möglich ist, sich mit zwei sinnvollen Aufgaben gleichzeitig zu beschäftigen." 115<br />

Wo dann eine endgültige Grenze liegt, bleibt unklar. So meinen auch <strong>die</strong> oben<br />

erwähnten Experimentatoren:<br />

"Gleichzeitiges Lesen und Schreiben wird wahrscheinlich niem<strong>als</strong> zum<br />

allgemeinen Zeitvertreib werden, schon weil es so schwer zu erlernen ist.<br />

Aber <strong>die</strong> bloße Tatsache, daß es möglich ist, stellt viele populäre Ansichten<br />

über Bewußtsein und Aufnahmefähigkeit des Menschen in Frage. Der Erwerb<br />

einer neuen kognitiven Fähigkeit ist nicht unbedingt mit der Notwendigkeit<br />

verbunden, <strong>die</strong> Grenzen der zentralen Informationsverarbeitung zu umgehen.<br />

Vielmehr handelt es sich hier um organisches Wachsen durch Erfahrung.<br />

Einige Fähigkeiten werden sehr viel langsamer entwickelt <strong>als</strong> andere. Aber<br />

wenn man <strong>auf</strong> einer bestimmten Stufe der Entwicklung etwas noch nicht tun<br />

kann, so ist das noch kein Beweis dafür, daß es nicht später erreicht werden<br />

kann. Das Unmögliche braucht vielleicht nur ein bißchen länger." 116<br />

Nun stellt <strong>die</strong> weiter oben erwähnte Methode der Bildung von Zielen und Verfahren<br />

höherer Stufe, im Gegensatz zur doppelten Aufmerksamkeit, keine Ausweitung des<br />

Bewußtseinsfeldes dar, sondern ist ein Verfahren (ein "Trick"), um ohne eine solche<br />

Ausweitung besser mit großen Informationsmengen umgehen zu können. Die<br />

<strong>auf</strong>steigende Ordnung einer Hierarchie von Zeichen, Superzeichen, Super-Superzeichen<br />

usw. hat aber nicht nur den Vorteil der Informationsverdichtung, sondern<br />

auch den Nachteil des Verlusts von Einzelheiten <strong>auf</strong> den tieferen Ebenen. Man kann<br />

<strong>die</strong>s sehr gut an den Denkern des Idealismus sehen. Auf der einen Seite ist da <strong>die</strong><br />

Wirklichkeit mit ihrer Mannigfaltigkeit der Erscheinungen und <strong>auf</strong> der anderen das<br />

Absolute, das alles in sich schließt und das notwendig blaß und farblos bleiben<br />

muß, da alle Versuche der Detaillierung immer nur äußerst unvollkommen sein<br />

können. 117 Der Aufstieg des Denkens zu immer allgemeineren Ideen bleibt somit<br />

folgenlos für <strong>die</strong> unmittelbare Wirklichkeit. So läßt sich verstehen, daß man<br />

114 Vgl. Heisser 1976, S. 97ff, sowie Hirst/Heisser/Spelke 1980.<br />

115 Hirst/Heisser/Spelke 1980, S. 39.<br />

116 Ebenda, S. 43.<br />

117 vgl. auch <strong>die</strong> dar<strong>auf</strong> abzielende Kritik von James 1914.<br />

60


schließlich ideale Welten für real und <strong>die</strong> physische Welt für irreal oder zur Illusion<br />

erklärt. 118 Wenn entweder allgemeine Ideen oder materielle Dinge und Zusammenhänge<br />

im Vordergrund des Bewußtseins stehen und den Gegenpol jeweils ausblenden,<br />

dann scheint <strong>die</strong>s zu zeigen, daß unser Bewußtsein nicht in der Lage ist,<br />

das Ganze zu denken, außer vielleicht in einer unklaren, verschleierten Form, <strong>die</strong><br />

keine Einzelheiten mehr erkennen läßt.<br />

5.1.3 Beschränkung durch <strong>die</strong> Anschauungsformen von Raum und Zeit<br />

Eine grundlegende Beschränkung des Bewußtseinsfeldes ist durch unsere Anschauungsformen<br />

von Raum und Zeit gegeben. Wie Kant 119 dargelegt hat, ist es<br />

uns ganz unmöglich, ein "Ding an sich" zu erkennen. Denn <strong>die</strong> Form eines Dinges,<br />

<strong>die</strong> wir erkennen, ist nichts <strong>als</strong> das, wofür wir es <strong>auf</strong>grund unserer<br />

dreidimensionalen Anschauung, <strong>als</strong>o <strong>auf</strong>grund "unserer Sinnlichkeit", halten.<br />

"Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert<br />

von aller <strong>die</strong>ser Receptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns<br />

gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts <strong>als</strong> unsere Art, sie wahrzunehmen, <strong>die</strong><br />

uns eigentümlich ist, <strong>die</strong> auch nicht notwendig jedem Wesen, obzwar jedem<br />

Menschen zukommen muß." 120<br />

Wie genau und differenziert wir auch immer eine Erscheinung unserer physischen<br />

Welt untersuchen, seiner Wirklichkeit oder dem "Ding an sich" können wir dadurch<br />

nicht näher kommen. Man kann sagen, daß <strong>die</strong> Wissenschaft sich schlicht nicht um<br />

<strong>die</strong>se zwingende Analyse Kants gekümmert hat, sondern in der Überzeugung<br />

handelt, <strong>die</strong> "Wahrheit" oder das "Ding an sich" im Prinzip eben doch zunehmend<br />

besser erkennen zu können. Offensichtlich müßte eine Erweiterung des Bewußtseinsfeldes<br />

über <strong>die</strong> Anschauungsformen von Raum und Zeit, wenn sie möglich<br />

sein sollte, eine unerhörte Ausweitung unserer Fähigkeiten und Erkenntnismöglichkeiten<br />

zur Folge haben. Die Beschränkung unseres Bewußtseinsfeldes liegt vor<br />

allem in seiner Zeitbegrenzung. Die Integration von Raum und Zeit zu einem<br />

vierdimensionalen Raum - wenn <strong>die</strong>s <strong>als</strong> eine uns natürliche Anschauungsweise<br />

118 Vgl. etwa <strong>die</strong> Philosophie Shankaras. Etwas Ähnliches scheint aber auch aus der immer<br />

detaillierteren Aufschlüsselung der Materie zu folgen. So zeigt sich, daß unser Eindruck<br />

von "festem" Stoff eine bloße grobsinnliche Illusion ist und <strong>die</strong>se "in Wirklichkeit" einen<br />

"Tanz von Energie" darstellt, vgl. hierzu z.B, Capra 1980.<br />

119 Kant 1911 (21787), 59ff (S. 65).<br />

120 Kant 1911 (21787), 59 (S. 65).<br />

61


möglich wäre - müßte <strong>die</strong> Grenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft<br />

<strong>auf</strong>heben. Dies würde bedeuten, daß sich das Bewußtseinsfeld ähnlich wie das<br />

Gesichtsfeld erweitern würde, wenn man (im dreidimensionalen Raum) <strong>auf</strong> einen<br />

Berg steigt und von dort <strong>die</strong> links und rechts davon liegenden Ebenen <strong>auf</strong> einen<br />

Blick erfassen kann. Man würde sich <strong>als</strong>o ganz ähnlich über <strong>die</strong> Zeitgrenzen<br />

erheben und <strong>die</strong> Augenblicksspanne unseres jetzigen Bewußtseinsfeldes nach den<br />

Seiten der Vergangenheit und Zukunft hin ausweiten.<br />

Einstein versuchte beharrlich, eine derartige Anschauungsweise wenigstens zu<br />

denken. So schrieb er beispielsweise in einem Brief an <strong>die</strong> Schwester und den Sohn<br />

seines verstorbenen Freundes Michele Besso:<br />

"Nun ist er mir mit dem Abschied von <strong>die</strong>ser sonderbaren Welt ein wenig<br />

vorausgegangen. Dies bedeutet nichts. Für uns gläubige Physiker hat <strong>die</strong><br />

Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur <strong>die</strong><br />

Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion ..." 121<br />

Einsteins verstand demnach <strong>die</strong> übliche Begrenzung unserer Anschauung lediglich<br />

<strong>als</strong> eine hartnäckige Gewohnheit und keineswegs <strong>als</strong> eine biologische oder mentale<br />

Gesetzmäßigkeit.<br />

5.1.4 Intuition<br />

Bei sehr wenigen Menschen - und auch bei <strong>die</strong>sen nur blitzartig und selten - scheint<br />

ein solches, unsere gewohnten Anschauungsweisen überschreitendes Bewußtseinsfeld<br />

durchaus möglich zu sein, wie man Berichten über plötzliche <strong>Institution</strong>en<br />

entnehmen kann. So schreibt etwa Rousseau über eine Erfahrung im Sommer<br />

1749, <strong>als</strong> er <strong>auf</strong> dem Weg von Paris nach Vincennes den "Mercure de France" las<br />

und sein Blick dabei <strong>auf</strong> <strong>die</strong> folgende Preisfrage der Akademie von Dijon fiel: ‚Ob<br />

der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zum Verderben oder zur Veredelung<br />

der Sitten beigetragen hat?’."In <strong>die</strong>sem Augenblick", schildert Rousseau sein<br />

Erlebnis, "sah ich eine andere Welt und ich wurde ein anderer Mensch." 122 Leider<br />

sagt er uns nichts Genaueres über den Inhalt seiner Intuition. Tatsächlich scheint<br />

ein charakteristisches Merkmal derartiger Intuitionen deren relative Unbeschreibbarkeit<br />

zu sein.<br />

121<br />

122<br />

Brief vom 21. März 1955, zit. nach Hoffmann 1978, S. 302-303.<br />

Rousseau 1920, S. 341.<br />

62


Nach Bergson besteht <strong>die</strong> Eigenart der Intuition im gleichzeitigen Erfassen aller<br />

Eigenschaften und Elemente eines Gegenstandes, aber eben nicht in "allgemeinen<br />

Kategorien, sondern <strong>als</strong> eine Schau" der Einmaligkeit und Einzigartigkeit des<br />

Gegenstandes, ohne ihn <strong>als</strong>o in bekannten Begriffen beschreiben und so<br />

zergliedern zu müssen. Intuitionen scheinen daher nur in einer Form mitteilbar, <strong>die</strong><br />

das, was sie enthalten, nicht voll zum Ausdruck bringen können. 123<br />

Intuitionen stellen Anschauungsweisen dar, <strong>die</strong> unserer gewöhnlichen in vieler<br />

Hinsicht widersprechen. Für uns sind Vergangenheit und Zukunft immer durch <strong>die</strong><br />

Gegenwart getrennt. Was wir wahrnehmen und beschreiben, ist immer ein<br />

abgegrenzter Augenblickszustand von Zusammenhängen. Die Veränderung <strong>die</strong>ses<br />

Zustandes in der Zeit erfassen wir nie <strong>als</strong> kontinuierlichen Vorgang, sondern wir<br />

stellen zu einem späteren Zeitpunkt einen veränderten Zustand fest, wobei wir dann<br />

<strong>die</strong> Ursache <strong>die</strong>ser Veränderung suchen können. Wir sehen nie das Ganze <strong>die</strong>ses<br />

Prozesses. Wenn er aber durch Intuition <strong>als</strong> Ganzes gesehen wird, dann sind <strong>die</strong> so<br />

erfahrenen Zusammenhänge ganz anderer Natur, und ihre "Übersetzung" muß<br />

notgedrungen zum Verlust von Wesentlichem führen. Eine Art der Annäherung an<br />

ein derartiges intuitives Bewußtseinsfeld beschreibt Bergson:<br />

"Ohne Zweifel vermag <strong>die</strong> Intuition sehr viele verschiedene Grade der<br />

Intensität anzunehmen und <strong>die</strong> Philosophie sehr viele verschiedene Grade<br />

der Tiefe; aber der Geist, der zur wahren Dauer zurückgeführt worden ist, hat<br />

dadurch ohne weiteres teil an der lebendigen Intuition ... An Stelle einer<br />

Diskontinuität von Momenten, <strong>die</strong> in einer unendlich teilbaren Zeit sich<br />

nebeneinander setzen, wird er das kontinuierliche Fließen der wirklichen Zeit<br />

wahrnehmen, <strong>die</strong> unteilbar dahinfließt. An Stelle von erstarrten Zuständen an<br />

der Oberfläche, <strong>die</strong> abwechselnd ein indifferentes Ding überdecken und mit<br />

ihm in der mysteriösen Beziehung der Erscheinungen zur Substanz stehen<br />

sollen, wird er ein und <strong>die</strong>selbe Veränderung erfassen, <strong>die</strong> wie eine Melo<strong>die</strong><br />

sich entfaltet, in der alles Werden ist, aber in der das Werden, das selber zur<br />

Substanz wird, keines Trägers mehr bedarf. Hier gibt es keine starren<br />

Zustände mehr, keine toten Dinge, sondern nur noch <strong>die</strong> reine Beweglichkeit,<br />

aus der <strong>die</strong> Stabilität des Lebens besteht. Eine Vision <strong>die</strong>ser Art, in der <strong>die</strong><br />

Realität <strong>als</strong> kontinuierlich und unteilbar erscheint, ist <strong>auf</strong> dem Wege, der zur<br />

... Intuition führt." 124<br />

123 Vgl. Bergson 1948, S. 44f.<br />

124 Bergson 1948, S. 146-147. Bergson scheint <strong>als</strong>o davon auszugehen, daß es uns<br />

möglich ist, <strong>die</strong> durch unsere Sinne und unser Bewußtsein (<strong>die</strong> Anschauungsformen<br />

Kants) "pulverisierte Zeit" wieder "einzuschmelzen" und <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Weise unser<br />

Bewußtseinsfeld zu erweitern.<br />

63


Intuitionen scheinen <strong>als</strong>o einer Quelle zu entspringen, <strong>die</strong> jenseits unseres<br />

gewöhnlichen Bewußtseins liegt, d. h. nach der hier vertretenen Vorstellung im<br />

Überbewußtsein.<br />

Nun wird Intuition oft gleichgesetzt mit mentalen Prozessen, <strong>die</strong> dem Individuum in<br />

automatischer, unbewußter Weise Einfälle, Vorstellungen, Verständnisakte oder<br />

andere Leistungen ermöglichen. 125 Will man hierbei aber zwischen verschiedenen<br />

Leistungshöhen differenzieren, wird man wiederum irgendwelche Unterscheidungen<br />

einführen müssen. Es wird daher vorgeschlagen, den Begriff der Intuition für<br />

Leistungen zu verwenden, <strong>die</strong> <strong>als</strong> unmittelbar empfundene Einsichten von großer<br />

Klarheit im Bewußtseinsfeld <strong>auf</strong>tauchen. Die Frage, wodurch <strong>die</strong>se Leistung erzeugt<br />

wird, braucht hier nicht geklärt zu werden; wesentlich ist, daß es sich um Leistungen<br />

handelt, <strong>die</strong> den Eindruck erwecken, daß sie unsere gewohnte Erfahrung und das<br />

gewohnte Denken überschreiten. Auch hier kann man dann verschiedene<br />

Qualitäten unterscheiden, verschiedene Grade der Weite oder Tiefe der Einsicht,<br />

der Differenziertheit und Klarheit. Leistungen dagegen, wie <strong>die</strong> automatische<br />

Steuerung grammatikalisch richtigen Sprechens, würde eine zwar ebenso<br />

komplexe, aber in der Hierarchie mentaler Prozesse niedrigere Stufe bedeuten und<br />

könnte so von Intuitionen im hier gebrauchten Sinn unterschieden werden.<br />

5.1.5 Ein Feld von Interaktionen<br />

Die objektivierende Funktion - wurde in Abschnitt 5.1.2 ausgeführt – stellt <strong>die</strong> aktive<br />

Seite des Bewußtseinsfeldes dar, aber <strong>die</strong>se Funktion wird nur durch ihre<br />

Ergebnisse, nicht <strong>als</strong> Tätigkeit bewußt. Weiter ist das Bewußtseinsfeld sozusagen<br />

der Schauplatz der Interaktionen zwischen Wünschen, Gefühlen, Gedanken,<br />

Willensimpulsen und Handlungsvollzügen. Nicht <strong>die</strong> Interaktionen finden unbedingt<br />

in <strong>die</strong>sem Feld statt, sondern ihre Ergebnisse zeigen sich darin und werden bewußt.<br />

Wenn das Bewußtsein eines Individuums entwickelter ist, nimmt es derartige<br />

Verknüpfungen auch bewußt vor (zumindest scheint es so; in Kap. 5.4 wird<br />

ausführlicher dar<strong>auf</strong> eingegangen werden), d. h. <strong>die</strong> Verknüpfung erfolgt durch<br />

Entscheidungen, <strong>die</strong> im Bewußtsein geformt werden. Die Frage ist, ob der Prozeß,<br />

125 Vgl. etwa Bastik 1982. Neisser 1974, S. 117 bezeichnet derartige unbewußte mentale<br />

Vorgänge <strong>als</strong> präattentive Prozesse, <strong>als</strong>o vor der Aufmerksamkeit liegende Selektionsund<br />

Kombinationsprozesse. Die Frage ist, wodurch <strong>die</strong>se Vorgänge gesteuert sind.<br />

Sollte <strong>die</strong>se Steuerung im Überbewußtsein liegen, wären alle <strong>die</strong>se Prozesse der<br />

Intuition zuzurechnen.<br />

64


der zur Entscheidung führt, bewußt ist oder nur das Ergebnis, d.h. <strong>die</strong> Entscheidung<br />

selbst.<br />

Tatsächlich sieht es so aus, <strong>als</strong> ob unsere bewußte mentale Aktivität etwas ist, das<br />

geschieht, das wir <strong>als</strong>o nicht selbst in der Hand haben. Gedanken vollziehen sich,<br />

Gefühle scheinen <strong>auf</strong> und verblassen wieder. Man könnte auch sagen, daß "es<br />

denkt", so wie "es regnet". 126 Angst und Schrecken können sich im Bewußtsein<br />

ausbreiten und eine Weile alles andere verdrängen. 127 Wünsche oder Bedürfnisse<br />

erscheinen und lenken <strong>die</strong> Gedanken und Handlungen. Ein Wille kann <strong>auf</strong>tauchen<br />

und eine Konzentration zustandebringen, <strong>die</strong> im Zentrum des Bewußtseinsfeldes<br />

nur zuläßt, was zu einer gestellten Aufgabe oder Sache gehört. Und - aber<br />

unendlich selten - Stille oder Ruhe kann eintreten und den Weg für Intuitionen<br />

bahnen, denn Stille und Ruhe bedeuten, daß man keine Kategorien oder sonstwie<br />

vorgeformte Auffassungsweisen in Anschlag bringt.<br />

Es ist ganz offenbar, daß das, was in <strong>die</strong>sem Feld vor sich geht, in verschiedener<br />

Hinsicht entscheidend ist für das, <strong>als</strong> was der einzelne sich fühlt, für <strong>die</strong> Leistungen,<br />

<strong>die</strong> er erbringen kann, für <strong>die</strong> Disziplin, <strong>die</strong> er zeigt usw. Wenn es aber ein Feld ist,<br />

in dem <strong>die</strong> Dinge eher zu geschehen scheinen, <strong>als</strong> daß sie erzeugt werden, dann<br />

müssen <strong>die</strong> Ursachen für alles, was sich in ihm abspielt, ebenso wie <strong>die</strong> Kontrolle<br />

dessen, was sich darin abspielen kann oder darf, an anderen Stellen oder Instanzen<br />

des Bewußtseins zu suchen sein. Eine <strong>die</strong>ser Instanzen ist in unseren Vorerfahrungen<br />

zu sehen, <strong>die</strong> wie Filter wirken können, <strong>die</strong> nur Ähnliches, Verwandtes<br />

durchlassen. Vorerfahrungen sind Teil des mittelbaren Bewußtseins, dem wir uns<br />

jetzt zuwenden wollen.<br />

5.2 Der Bereich des mittelbaren Bewußtseins<br />

Der Bereich des mittelbaren Bewußtseins umfaßt alles das, was man an potentiellem<br />

Wissen über sich, über seine Umwelt, über gesellschaftliche Werte und<br />

Zusammenhänge usw. im L<strong>auf</strong>e der Zeit erfahren hat. Diese Erfahrungen sind<br />

verknüpft mit Wünschen bzw. Gefühlen und Handlungsmöglichkeiten bzw.<br />

126<br />

127<br />

Vgl. James 1950 (11890), Bd. 1, S. 224.<br />

Zu den Einflüssen von Ängsten, anderen Gefühlen usw. <strong>auf</strong> das wahrnehmungsfeld vgl.<br />

<strong>die</strong> zusammenfassende Darstellung entsprechender Befunde bei Combs/Snygg 1959, S.<br />

165ff.<br />

65


Handlungsverboten. Wir können <strong>als</strong>o sagen, daß kognitive, emotionale und Handlungs-Strukturen<br />

ineinander, sozusagen zu einer Dreieinigkeit, verwoben sind. 128<br />

Die Zugänglichkeit oder Verwendbarkeit <strong>die</strong>ses "Wissens" kann direkt oder indirekt<br />

sein. Man mag es <strong>als</strong> in Worten formulierbares Wissen besitzen oder auch <strong>als</strong><br />

"implizites Wissen", d. h. <strong>als</strong> Wissen, das zwar nicht formulierbar, aber im Handeln<br />

und in der Wahrnehmung, in der Empfindung enthalten ist. 129 So kann man ein<br />

bestimmtes Gesicht auch unter vielen anderen ähnlichen Gesichtern erkennen,<br />

obwohl man nie in der Lage wäre, das Aussehen <strong>die</strong>ses einen Gesichtes genau zu<br />

beschreiben. Jemand mag einen Hebel anwenden können, <strong>als</strong>o implizit wissen -<br />

vielleicht, weil er es gesehen und erfahren hat -, wie man ihn ansetzt, aber nicht<br />

erklären können, warum der Hebel <strong>die</strong>se Wirkung hat. 130<br />

Das mittelbare Bewußtsein arbeitet aber nicht nur mit einem Erfahrungsspeicher,<br />

sondern reduziert oder vereinfacht an sich komplexe Informationen und Prozesse.<br />

Durch eine Art "Reduzierventil" 131 sortiert es einl<strong>auf</strong>ende Informationen, so daß nur<br />

alles das <strong>die</strong> Schwelle des Bewusstseins passieren kann, was eine gewisse Ähnlichkeit<br />

mit den Inhalten <strong>die</strong>ses Bewußtseins hat, und daher irgendwie verstanden,<br />

irgendwie <strong>auf</strong>gefaßt werden kann. Das mittelbare Bewußtsein hat <strong>als</strong>o eine<br />

Steuerungsfunktion. Die Beeinflussung der Wahrnehmung ebenso wie <strong>die</strong> <strong>auf</strong>grund<br />

von Erfahrung vorgegebene Auswahl von Handlungsmöglichkeiten und Wertungen<br />

zählen dazu.<br />

5.2.1 Strukturen des mittelbaren Bewußtseins<br />

Damit ein Organismus anfangen kann, sich in seiner Umwelt zu orientieren, muß<br />

ihm umfassendes Wissen in Form von Dispositionen und Erwartungen angeboren<br />

sein. Dieses angeborene „Wissen“ bildet zusammen mit der Umwelt oder Kultur, in<br />

<strong>die</strong> das Lebewesen hineingeboren wird, <strong>die</strong> Grundlage für <strong>die</strong> Konstruktion immer<br />

umfassenderer und besser angepaßter Strukturen. Neuartige Reize, <strong>die</strong> mit<br />

128 Die meisten Arbeiten hierzu scheinen <strong>die</strong>se Strukturen <strong>auf</strong> der kognitiven Ebene zu<br />

behandeln. Vgl. Dörner 1976; Kintsch 1974; Rumelhart/Lindsay/Norman 1972; Lindsay/<br />

Norman 1972. Zur Theorie der kognitiven Strukturen gibt es eine umfangreiche Literatur;<br />

vgl. Argyle 1972; Neubauer 1975; Laing u.a. 1971; Jahnke 1975; Schroder/Driver/<br />

Streufert 1975; Seiler 1973. Seiler gibt auch eine Zusammenfassung der Literatur über<br />

kognitive Strukturen.<br />

129 Vgl. Polanyi 1969, 123f.; 1967 (11966).<br />

130 Vgl. hierzu auch <strong>die</strong> Ausführungen von Oakeshott 1966, S. 16f.<br />

131 Huxley 1977 (11954), S. 20.<br />

66


isherigen Erfahrungen nicht vereinbar sind, und unerwartete Ereignisse erregen<br />

<strong>die</strong> Aufmerksamkeit. 132 Insbesondere reagieren Organismen <strong>auf</strong> Bewegungen von<br />

Objekten. Das tun schon Säuglinge unmittelbar nach der Geburt. 133 Sie werden <strong>als</strong>o<br />

beispielsweise mit der Erwartung oder der "Theorie" geboren, daß bewegte Objekte<br />

von besonderer Bedeutung für sie sind. Tatsächlich ist ja ihr körperliches und<br />

seelisches Wohl von Menschen abhängig, <strong>die</strong> sich ihnen nähern, da sie selbst sich<br />

kaum fortbewegen können. 134<br />

Auch <strong>auf</strong>grund logischer Überlegungen läßt sich zeigen, daß wir von angeborenen<br />

Erwartungen ausgehen. 135 Wie ist es beispielsweise möglich, dar<strong>auf</strong> zu vertrauen,<br />

"daß noch nicht vorliegende Erfahrungen den vorliegenden entsprechen<br />

werden?" 136 Tatsächlich können wir ihnen nicht deshalb vertrauen, weil <strong>die</strong>se<br />

Ereignisse sich mehrm<strong>als</strong> wiederholt haben. Wiederholung beruht <strong>auf</strong> der<br />

Ähnlichkeit zweier Ereignisse, da auch wiederholte Ereignisse kaum jem<strong>als</strong> völlig<br />

identisch sind. Ähnlichkeit aber ist nur möglich <strong>auf</strong>grund eines Gesichtspunktes,<br />

einer Erwartung. Daraus folgt, daß Erwartungen den Beobachtungen sowohl logisch<br />

<strong>als</strong> auch psychologisch vorausgehen müssen. 137<br />

Auch eine noch so umfassende angeborene "Wissens"-Struktur kann natürlich nur<br />

ein Ausgangspunkt sein. Dieser Ausgangspunkt besteht darin, daß man von<br />

vornherein fähig ist, den Erscheinungen eine Bedeutung, und sei es auch nur für<br />

sich selbst, zuzumessen. So kann man z. B. Ereignisse danach einteilen, ob sie für<br />

einen angenehm oder unangenehm sind oder sein könnten, ob etwas zu einem<br />

selbst oder zu anderen gehört. Durch zunehmende Differenzierung und Integration<br />

wird <strong>die</strong>ser Bereich immer mehr ausgeweitet (vgl. Kap. 7.1). Man kann <strong>die</strong>se<br />

Bedeutungen auch selbst zum Ausdruck bringen durch Worte oder Gesten,<br />

Ablehnung oder Zustimmung, Angst und Freude über etwas deutlich machen,<br />

wodurch andere in <strong>die</strong> Lage versetzt werden, zu reagieren, z. B. mitzulachen oder<br />

aber auch feindselig zu werden. Durch das Mittel der Sprache können wir auch eine<br />

132 Vgl. Vernon 1974, S. 81.<br />

133 Vgl. ders., S. 24 sowie Ball/Tronick 1971.<br />

134 Die Hypothese angeborener Erwartungen wurde von einer Reihe von Vertretern<br />

verschiedener Disziplinen erhärtet, z.B. Eibl-Eibesfeldt 1973; Bower 1966, 1971;<br />

Hubel/Wiesel 1962, 1963, 1968; Gibson/Walk 1960; Sinz 1974; Vernon 1974; Nickel<br />

1972 (Bd. 1). Über endogene Programme zur Steuerung der Sprachentwicklung vgl.<br />

Chomsky 1970; McNeill 1968, 1970a, 1970b; Lenneberg 1972.<br />

135 Der folgende Text bezieht sich <strong>auf</strong> Poppers logische Lösung von Humes psychologischem<br />

Induktionsproblem (Popper 1973, S. 13f.).<br />

136 Popper 1973, S. 16.<br />

137 Vgl. ders., S. 36.<br />

67


Beschreibung der Bedeutungen von Phänomenen jeder Art geben, wie wir sie<br />

sehen, und schließlich können wir unter Zuhilfenahme übergeordneter Bedeutungen<br />

wie Wahrheit, Gültigkeit (<strong>als</strong>o regulativer Ideen) für oder gegen bestimmte Bedeutungszumessungen<br />

argumentieren. 138<br />

Kultur oder Gesellschaft und damit vor allem <strong>die</strong> Sprache, sind <strong>als</strong>o für <strong>die</strong><br />

Entwicklung des mittelbaren Bewußtseins, des "Reiches der Bedeutungen" 139 , entscheidend.<br />

Durch <strong>die</strong> Familie, <strong>die</strong> Bildungsinstitutionen, das Arbeitsleben, <strong>die</strong><br />

Massenme<strong>die</strong>n, wird der Einzelne mit der ihn umgebenden Kultur vertraut und<br />

entfaltet in der Interaktion damit sein subjektives Deutungssystem. 140 Je nachdem,<br />

in welcher Umgebung er <strong>auf</strong>wächst, werden seine Vorstellungen, Ziele und Werte<br />

enger oder weiter, einfacher oder vielfältiger, <strong>auf</strong> bestimmte Bereiche begrenzt oder<br />

viele Bereiche umfassend sein. Das kulturelle oder Umwelt-Bewußtsein, von dem<br />

der einzelne umgeben ist und mit dem er im Austausch steht, übt somit<br />

entscheidende Wirkungen <strong>auf</strong> ihn aus, wenngleich <strong>die</strong>s nicht bedeuten muß, daß er<br />

dadurch vollständig determiniert wäre oder sein müßte.<br />

Da nun aber das gesellschaftliche oder Umwelt-Bewußtsein immer ein relatives<br />

ist 141 , muß <strong>die</strong>s auch für das individuelle (mittelbare) Bewußtsein gelten, sofern und<br />

soweit es davon geprägt ist. Zwar kann der einzelne innerhalb <strong>die</strong>ser Strukturen<br />

immer weitere Differenzierungen erkennen und handelnd ausgestalten oder den<br />

einen oder anderen Bereich betonen: <strong>die</strong> Wirtschaft, das Ethische, das Ästhetische,<br />

aber das muß nicht heißen, daß er über bloße Auffassungsweisen, <strong>die</strong> immer relativ<br />

sind, und von denen <strong>die</strong> eine der anderen gegenübergestellt werden kann, in<br />

Richtung einer absoluten Erkenntnis hinausgehen würde. Das mittelbare<br />

Bewußtsein des Einzelnen ist daher ein Bewußtsein des Relativen. Alle Sicherheit,<br />

<strong>die</strong> der Einzelne darin zu finden vermeint, hat <strong>die</strong>sen Anschein nur, weil innerhalb<br />

seines Denkens ein Element das andere stützt – vorausgesetzt allerdings, daß es<br />

sich um ein wohlorganisiertes individuelles mittelbares Bewußtsein handelt – und<br />

weil seine Vorstellungen von so vielen anderen geteilt werden.<br />

138 Vgl. Popper 1973, S. 260ff.<br />

139 ders. S. 256.<br />

140 Vgl. hierzu etwa Loch 1969, S. 122ff.<br />

141 Vgl. hierzu vor allem <strong>die</strong> Wissenssoziologie, insbesondere Mannheim 1952 und Berger/-<br />

Luckmann 1980. Über <strong>die</strong> Rolle der Sprache in <strong>die</strong>sem Zusammenhang vgl. Whorf 1963.<br />

68


5.2.2 Drei Seiten des mittelbaren Bewußtseins<br />

Unsere Vorstellungen, unsere Werte, unsere Handlungen und Handlungsergebnisse<br />

stehen nicht jeweils für sich. Vorstellungen rufen Empfindungen der Sympathie oder<br />

Antipathie wach, und sie regen meist zu Handlungen bzw. Reaktionen an, z. B.<br />

fühlen wir uns genötigt etwas zu sagen. Ebenso haben aber Handlungen, sowohl<br />

<strong>die</strong> eigenen <strong>als</strong> <strong>die</strong> anderer, sofern sie uns irgendwie betreffen, emotionale<br />

Wirkungen <strong>auf</strong> uns; wir stimmen damit überein oder lehnen sie ab oder freuen uns<br />

darüber, und sie regen zugleich unsere Vorstellungen, unser Denken an.<br />

Die Betonung einer <strong>die</strong>ser Seiten kann ganze Kulturen oder Weltanschauungen<br />

formen. Ein von den physischen Gegebenheiten geprägtes Bewußtsein wird<br />

versuchen, alles, selbst Bewußtsein, <strong>auf</strong> rein physische Ursachen zurückzuführen.<br />

Wert hat dann vor allem das, was sich in physisch greifbare Dinge umsetzt. So<br />

kommen wir zum Materialismus. Lassen wir uns von unseren Gefühlen leiten oder<br />

sehen wir unsere höchsten Werte durch oder in unseren Gefühlen repräsentiert,<br />

dann kommen wir zum Romantizismus, der im täglichen Leben andere<br />

Ausdrucksformen findet <strong>als</strong> der Materialismus. Stellen wir <strong>die</strong> Ideen an <strong>die</strong> Spitze,<br />

dann kommen wir zum Idealismus und vielleicht zu einer gewissen Verachtung von<br />

Gefühl und physischem Sein. 142<br />

Die innere Verknüpfung von Denken, Fühlen und Wollen oder Tun gilt insbesondere<br />

auch für <strong>die</strong> Sprache, <strong>die</strong> - wie Topitsch sagt - ein "geniales Medium menschlicher<br />

Orientierung in der Welt" ist. Die Sprache<br />

"gibt dem Menschen genau das, was er in der praktischen Auseinandersetzung<br />

mit seiner Umgebung in Gesellschaft und Natur am allernotwendigsten<br />

benötigt: ein Sign<strong>als</strong>ystem, in welchem mit der Nennung eines Gegenstandes<br />

zugleich ein Gefühlston und eine Regel gegeben ist, wie man sich zu<br />

ihm verhalten solle." 143<br />

So hat z. B. das Wort "Mord" <strong>die</strong> denotative Bedeutung "Tötung eines Menschen".<br />

Die konnotative Bedeutung besteht in dem negativen Gefühlston "Mord ist<br />

abscheulich!" und der Handlungsanweisung "Begehe keinen Mord!".<br />

Es bestehen <strong>als</strong>o Interaktionen zwischen dem Denken und der Vorstellung, dem<br />

Fühlen und Wollen und dem Handeln, das durch den Körper zum Ausdruck<br />

142 Vgl. hierzu Jaspers 1985<br />

143 Topitsch 1971, S. 164.<br />

69


gebracht wird, z. B. in Tanz oder anderen Bewegungen sowie in physischen<br />

Erzeugnissen. So benutzt man etwa in der Werbung Bilder, <strong>die</strong> zunächst Wünsche<br />

und schließlich entsprechende (K<strong>auf</strong>-)Handlungen auslösen sollen. Religionen<br />

drücken ihre Ideen durch Bild-Symbole aus, <strong>die</strong> in den Gläubigen Emotionen und<br />

Handlungen der Hingabe hervorrufen.<br />

Aufgrund der Interaktionen <strong>die</strong>ser Bereiche kommen Störungen in einem Bereich<br />

zugleich in den anderen zum Ausdruck. Fühlt man sich bedrückt oder niedergeschlagen,<br />

so zeigen auch <strong>die</strong> Sprache und eine entsprechende Körperhaltung <strong>die</strong>s<br />

an. So ist es naheliegend, daß Therapien, <strong>die</strong> derartige Störungen beheben sollen,<br />

ebenfalls an allen <strong>die</strong>sen Punkten ansetzen können. Tanztherapie nimmt <strong>als</strong> Ausgangspunkt<br />

den Körper. Frei fließende harmonische Bewegungen entkrampfen<br />

zugleich das Gefühl und <strong>die</strong> Vorstellungen von sich und der Welt. 144<br />

Andere<br />

Therapien, wie <strong>die</strong> klienten-zentrierte Psychotherapie von Rogers, legen das<br />

Schwergewicht eher <strong>auf</strong> <strong>die</strong> mentalen Vorstellungen, während <strong>die</strong> Therapien, <strong>die</strong><br />

auch mit Musik 145 , Literatur 146 oder Malerei arbeiten, eher am Gefühl ansetzen.<br />

Nun sind aber <strong>die</strong> Beziehungen zwischen <strong>die</strong>sen drei Bereichen - dem kognitiven<br />

Wissen, den emotionalen oder motivationalen Strukturen und den Handlungs- und<br />

Bewegungsmustern - nicht festgelegt und einheitlich, sondern können sehr<br />

verschieden sein, ja, jeder Bereich kann den anderen dominieren. Gefühle oder<br />

Wünsche können sich in den Vordergrund schieben und schließlich das Denken und<br />

Handeln beherrschen. Aber auch Handlungs-Gewohnheiten können so stark<br />

werden, daß sie Denken und Fühlen mit sich ziehen, wie eine fehlerhafte<br />

Schallplatte den Tonabnehmer immer in <strong>die</strong>selbe Rille zwingt. Und ein einseitig<br />

intellektualistisches Verhalten kann dazu führen, daß der Verstand alle Werte und<br />

damit alle Gefühle entwertet und damit auch für das Handeln nur Unsicherheit<br />

hinterläßt. Oder eine begrenzte Idee oder Ideenkombination wird herausgegriffen<br />

und unter Mißachtung der Komplexität des Lebens an <strong>die</strong> Spitze gesetzt und alles<br />

danach zurechtgeschnitten.<br />

Das ist vielleicht <strong>die</strong> häufigste Folge der relativen Herrschaft des Verstandes, und<br />

<strong>die</strong>se fragmentarischen Sichtweisen führen zweifellos zu vielen der Probleme, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> Menschheit hat. Die Begrenztheit <strong>die</strong>ser Sichtweisen ist auch daran zu<br />

erkennen, daß sie immer wieder scheitern bzw. von anderen abgelöst werden, was<br />

144 Vgl. Espenak 1985.<br />

145 Vgl. z.B. Pontvik 1948; Assagioli 1984, S. 237ff.<br />

146 Vgl. v.Werder 1986.<br />

70


sowohl <strong>auf</strong> unsere Theorien und Philosophien <strong>als</strong> auch <strong>auf</strong> <strong>die</strong> institutionellen<br />

Formen oder Ordnungen des Lebens zutrifft.<br />

Der Versuch einer völlig wertfreien Betrachtung der Erscheinungen könnte<br />

allerdings darüber hinausgehen. Denn wertfreie Betrachtung meint eine distanzierte<br />

Untersuchung von Zusammenhängen, <strong>die</strong> Gefühle, Handlungen und mentale<br />

Vorstellungen gleichermaßen und gleichwertig einschließen kann; es ist der<br />

Versuch, sich über <strong>die</strong>se Qualitäten zu erheben. Gelingt er nicht, so ist das Denken<br />

entweder von verborgenen Wünschen beherrscht oder das Denken versucht, <strong>die</strong><br />

anderen Bereiche seiner Steuerung zu unterwerfen. Die beiden zuletzt genannten<br />

Möglichkeiten dürften häufig anzutreffen sein. Wenn es <strong>als</strong>o möglich sein soll, zu<br />

dauerhaften Lösungen, zu so etwas wie "Ganzheitlichkeit" zu kommen, dann muß<br />

es <strong>als</strong>o Bewußtseinsbereiche oder Einflüsse geben, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> bisher behandelten<br />

hinausgehen (vor allem in Kap. 6.3, aber auch in Kap. 5.3 wird teilweise dar<strong>auf</strong><br />

eingegangen).<br />

5.2.3 Mittelbares Bewußtsein und Persönlichkeitsbildung<br />

Die Bildung der Persönlichkeit besteht in der Formung des Denkens, des Fühlens<br />

und Wollens und damit des mittelbaren Bewußtseins. Dieses Bewußtsein<br />

differenziert und entwickelt sich <strong>auf</strong>grund von Umwelteindrücken. Diese Eindrücke<br />

werden vom Individuum in Bedeutungen umgeformt, wobei <strong>die</strong>se Umformung bzw.<br />

das Ergebnis <strong>die</strong>ser Umformung nur teilweise bewußt werden dürfte. Die<br />

Bedeutungen, <strong>die</strong> - bewußt und unbewußt - Worten, Gefühlen, Handlungen und<br />

Gegenständen gegeben werden, besitzen psychische Wirkungen. Eine Maschine<br />

z.B. kann <strong>als</strong> Symbol des Erfolgs und der Macht des technischen Denkens gesehen<br />

werden, und in <strong>die</strong>sem Sinne können sie (besonders große Maschinen wie<br />

Lokomotiven, Schiffe oder Flugzeuge) eine enorme Faszination <strong>auf</strong> Kinder und<br />

Jugendliche, aber auch Erwachsene ausüben. Werbefachleute gebrauchen <strong>die</strong><br />

lenkende Kraft von Worten, Bildern und Handlungen mit großem Geschick.<br />

Assagioli bezeichnet Symbole jeder Art <strong>als</strong> "Akkumulatoren, Transformatoren und<br />

Dirigenten psychischer Energien". 147 Popper, der das Problem des Einflusses von<br />

Bedeutungen <strong>auf</strong> menschliches Verhalten untersucht, kommt zu dem Schluß, daß<br />

<strong>die</strong> "Fähigkeit zur Beeinflussung ... einfach zum Gehalt und zur Bedeutung"<br />

147 Assagioli 1984, S. 178.<br />

71


dazugehört, "denn ein Teil der Funktion von Gehalten und Bedeutungen ist <strong>die</strong><br />

Steuerung." 148<br />

Mit welchem Erfolg Symbole zur Steuerung und Selbststeuerung von Individuen<br />

genutzt werden können, zeigte ein amerikanischer Geschichtslehrer durch ein<br />

Experiment, das er mit seinen Schülern durchführte, um ihnen <strong>die</strong> scheinbar<br />

unbegreifliche Frage zu beantworten, wie es möglich ist, daß so viele Deutsche<br />

behaupten, sie hätten nicht gewußt, was während der Nazizeit passierte. Er zeigte<br />

damit zugleich <strong>die</strong> steuernde Kraft von Symbolen.<br />

Am ersten Tag befahl Lehrer Jones "eine neue Sitzhaltung: Füße flach <strong>auf</strong><br />

den Boden, <strong>die</strong> Hände hinter dem Rücken gekreuzt, um <strong>die</strong> Wirbelsäule zu<br />

strecken. 'Könnt ihr so nicht freier atmen?' fragte er, 'fühlt ihr euch so nicht<br />

besser?' Nächste Anweisung: Die Schüler sollten sich bei allen Fragen oder<br />

Antworten neben ihre Tische stellen und so knapp wie möglich formulieren.<br />

Jedem Beitrag mußte <strong>die</strong> Anrede 'Mister Jones' vorangehen." Am zweiten<br />

Tag paukte Jones seinen Schülern <strong>die</strong> beiden Sätze ein:"'Stark durch<br />

Disziplin' - Mächtig in der Gemeinschaft'. Wieder und wieder ließ er <strong>die</strong><br />

Schüler <strong>die</strong>se beiden Maximen im Chor nachsprechen. Schließlich, gegen<br />

Ende der Stunde, zeigte er ihnen einen neuen Gruß, den er ausdrücklich <strong>als</strong><br />

'nur für <strong>die</strong> Teilnehmer meines Geschichtsunterrichts bestimmt' deklarierte:<br />

<strong>die</strong> rechte Hand in Schulterhöhe erhoben, <strong>die</strong> Finger angewinkelt. Das sei,<br />

erläuterte er, der 'Gruß der Dritten Welle'. Die angebogenen Finger<br />

symbolisierten <strong>die</strong> Welle, <strong>die</strong> 'dritte' heiße sie deshalb, weil jede dritte der<br />

heranrollenden Wogen am Strand kräftiger <strong>als</strong> <strong>die</strong> anderen sei. So sollten sie<br />

sich von nun an immer grüßen, wo immer sie sich träfen." Am dritten Tag<br />

"registrierte Jones 13 neue Schüler in seinem Unterricht ... Jones verteilte<br />

Mitglieder-Karten und be<strong>auf</strong>tragte drei Schüler, ihm jeglichen Verstoß gegen<br />

<strong>die</strong> Regeln zu melden." "Den vierten Tag . . nutzte Jones, um den -<br />

inzwischen 80 versammelten Schülern das 'wahre Anliegen' der 'Dritten<br />

Welle' zu erklären. Es handele sich um mehr <strong>als</strong> einen Schulversuch, sagte<br />

er, dahinter stehe ein 'nationales Konzept', für das es Schüler zu gewinnen<br />

gelte, <strong>die</strong> bereit seien, 'an einer politischen Veränderung mitzuwirken'. Für <strong>die</strong><br />

Mittagsstunde des nächsten Tages kündigte er einen Präsidentschaftskandidaten<br />

der 'Dritten Welle' an, der im Fernsehen <strong>auf</strong>treten werde. ... Mehr<br />

<strong>als</strong> 200 Schüler strömten in den Saal. Jones ... grüßte - und 200 Arme<br />

erhoben sich, um zurückzugrüßen. Beschwörend rief er 'stark durch Disziplin',<br />

immer wieder, und jedesmal donnerte <strong>die</strong> Antwort lauter <strong>als</strong> zuvor. Um zwölf<br />

Uhr schaltete er das Fernsehgerät ein. Alle starrten <strong>auf</strong> <strong>die</strong> flimmernde<br />

Scheibe. Fast zehn Minuten vergingen, bis einer der Schüler plötzlich rief: 'Da<br />

148 Popper 1973, S. 267.<br />

72


ist doch gar kein Führer - seht ihr einen?' Ungläubig drehten sich <strong>die</strong> anderen<br />

ihm zu, dann wandten sie sich wieder zu Jones." 149<br />

Wesentlich für <strong>die</strong> Bildung des mittelbaren Bewußtseins, so wurde weiter oben<br />

ausgeführt, ist vor allem <strong>die</strong> Umwelt. Aber was ist <strong>die</strong> Umwelt? Sie ist zunächst <strong>die</strong><br />

physische Umwelt mit ihren Häusern, Straßen, Geschäften, Waren usw., in deren<br />

Gestaltungen sich <strong>die</strong> Ziele, <strong>die</strong> Werte, Gefühle, <strong>die</strong> Denkstrukturen materialisieren<br />

und in entsprechender Weise <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Einzelnen wirken. Dazu gehören weiter <strong>die</strong><br />

Kleidung, das Aussehen, <strong>die</strong> Bewegungen und Handlungen der Menschen. Auch<br />

darin kommen Harmonie, Disharmonie, Trauer, Freude, Wünsche usw. zum Ausdruck.<br />

Dann sind es vor allem <strong>die</strong> Worte, <strong>die</strong> gesprochenen und geschriebenen,<br />

Musik, Tanz, <strong>die</strong> Bilder, sei es im Fernsehen, der Wohnung oder im Museum.<br />

Schließlich scheinen auch Gefühle, selbst bei ihnen entgegengesetztem äußeren<br />

Verhalten, zu wirken - vor allem <strong>auf</strong> Kinder, <strong>die</strong> so vieles erspüren, was Erwachsenen<br />

verborgen bleibt:<br />

"Ein Kind überträgt <strong>auf</strong> seinen Lehrer bestimmte Einstellungen, <strong>die</strong> sich in<br />

seinem Leben mit seinen Eltern entwickelt haben. Wenn <strong>die</strong> Eltern sich<br />

ausweichend verhalten haben und Versprechen gebrochen haben, oder einer<br />

Situation nicht <strong>auf</strong> eindeutige Weise begegnet sind, erwartet das Kind vom<br />

Lehrer eine ähnliche Haltung. Was <strong>als</strong> grundsätzlicher Mangel an Vertrauen<br />

im Kind erscheint, ist in Wirklichkeit <strong>die</strong> Projektion elterlicher Attribute <strong>auf</strong> den<br />

Lehrer.<br />

Je jünger das Kind, desto weniger direkt gehen wir mit den unbewußten<br />

Elementen um, <strong>die</strong> seine Ängste und mangelnde Anpassung verursachen,<br />

und desto mehr müssen wir den Grund im Unbewußten der Erwachsenen<br />

suchen, <strong>die</strong> es umgeben; denn alles, was sich hinter dem bewußten Leben<br />

befindet, trägt zur Gesamtsumme der Persönlichkeit bei, der Gesamtsumme<br />

des Charakters, zum Eindruck, den man macht, und dem Einfluß, den man<br />

<strong>auf</strong> andere ausübt. Wir alle wissen, daß das Schweigen der einen Person<br />

Feindseligkeit oder Böswilligkeit in sich tragen kann, während das einer<br />

anderen ein Gefühl von Ruhe und Frieden vermitteln kann.<br />

Kinder spüren in uns <strong>die</strong> Atmosphäre all dessen, was wir höchst sorgfältig in<br />

uns selbst ignorieren. Wenn unsere bewußt gezeigte Güte sich <strong>auf</strong> Furcht<br />

und Verdrängung gründet, strahlen wir nach außen notwendigerweise eine<br />

Atmosphäre der Angst, der Zurückhaltung oder der Unehrlichkeit aus. Wenn<br />

das Kind solche destruktiven Unterströmungen intuitiv erfaßt, kann es sein,<br />

daß es sich bei manchen Anweisungen widersetzt, obwohl <strong>die</strong>se vernünftig<br />

erscheinen. So wird Widerstand hervorgerufen und ein Geist der Rebellion<br />

149 Horn 1976, S. 14-17; deutsche Übersetzung zitiert nach "DER SPIEGEL" 1976/31, S.<br />

128.<br />

73


gegen <strong>die</strong> Autorität erzeugt. Wenn dagegen unsere Einstellung ein bewußtes<br />

Akzeptieren unseres eigenen obersten Gesetzes ist, und <strong>die</strong> Bereitschaft, uns<br />

mit den immer vorhandenen Kräften in uns selbst auseinanderzusetzen, <strong>die</strong><br />

sich sowohl im Bösen wie auch im Guten manifestieren können, dann regen<br />

wir durch eben <strong>die</strong>se Haltung ein Wachsen hin zum Leben und zum Mut an.<br />

Das Kind reagiert dann <strong>auf</strong> das Motiv, das uns lenkt, ebenso wie <strong>auf</strong> das von<br />

uns gesprochene Wort." 150<br />

Wir wirken <strong>als</strong>o <strong>auf</strong> andere durch das, was wir innerlich sind. Darüber hinaus wirken<br />

wir durch <strong>die</strong> Wiederholung von Gedanken, Handlungen oder <strong>die</strong> wiederholte<br />

Zulassung des Auftretens von Gedanken, Handlungsimpulsen, Gefühlen usw. auch<br />

<strong>auf</strong> uns selbst. Denn jede Wiederholung stärkt <strong>die</strong> Tendenz in entsprechender<br />

Weise auch weiterhin zu denken, zu sprechen, zu fühlen, zu handeln. Und was wir<br />

sagen, fühlen oder tun, hat jeweils <strong>die</strong> Tendenz, sich <strong>auf</strong> <strong>die</strong> anderen Bereiche<br />

auszuweiten. Sofern uns eine derartige Selbstkontrolle möglich ist, können wir auch<br />

unsere engere "Umwelt" selbst schaffen, nämlich <strong>die</strong> Umwelt, <strong>die</strong> das mittelbare<br />

Bewußtsein bildet und so zumindest mitbestimmen, wie wir <strong>die</strong> Dinge sehen oder<br />

interpretieren und <strong>auf</strong> sie reagieren. 151<br />

Wenn wir <strong>die</strong> Vielfalt der Einflüsse und <strong>die</strong> in ihnen enthaltenen Gegensätzlichkeiten<br />

bedenken, drängt sich <strong>die</strong> Frage <strong>auf</strong>, wie der Einzelne überhaupt eine Ordnung<br />

finden oder entwickeln kann. Offenbar ist <strong>die</strong>s nur möglich <strong>auf</strong>grund von<br />

angeborenen übergeordneten Kriterien oder Zielen. Die Art unserer Ziele, ihre Weite<br />

oder Enge wird aber auch von der Umwelt mitbestimmt. Das weist einmal mehr <strong>auf</strong><br />

<strong>die</strong> Bedeutung einer förderlichen Umwelt im Bereich der Bildung hin. Denn, so<br />

betont Goethe im Wilhelm Meister,<br />

"niemand glaube <strong>die</strong> ersten Eindrücke der Jugend überwinden zu können. Ist<br />

er in einer löblichen Reinheit, umgeben von schönen und edlen Gegenständen,<br />

in dem Umgange mit guten Menschen <strong>auf</strong>gewachsen, haben ihn<br />

seine Meister das gelehrt, was er zuerst wissen mußte, um das übrige leichter<br />

zu begreifen, hat er gelernt, was er nie zu verlernen braucht, wurden seine<br />

ersten Handlungen so geleitet, daß er das Gute künftig leichter und bequemer<br />

vollbringen kann, ohne sich irgend etwas abgewöhnen zu müssen, so wird<br />

<strong>die</strong>ser Mensch ein reineres, vollkommneres und glücklicheres Leben führen,<br />

<strong>als</strong> ein anderer, der seine ersten Jugendkräfte im Widerstand und im Irrtum<br />

zugesetzt hat. Es wird so viel von Erziehung gesprochen und geschrieben,<br />

und ich sehe nur wenig Menschen, <strong>die</strong> den einfachen aber großen Begriff, der<br />

150 Wickes 1966, S. 21-22.<br />

151 Vgl. hierzu Assagioli 1973, S. 49f.<br />

74


alles andere in sich schließt, fassen und in <strong>die</strong> Ausführung übertragen<br />

können." 152<br />

Die Art unserer Ziele ist von großer Bedeutung für <strong>die</strong> Bildung der Persönlichkeit,<br />

denn von ihrer Beschaffenheit hängt es ab, ob <strong>die</strong> dadurch zu gewinnende Ordnung<br />

des Bewußtseins nur <strong>auf</strong> kleine Bereiche beschränkt oder allgemein und<br />

weitgreifend ist.<br />

Je begrenzter unsere Ziele, umso begrenzter wird der Lebenssinn sein, den wir<br />

daraus gewinnen können. Gewöhnlich orientieren wir uns an beruflichen oder<br />

wirtschaftlichen Aussichten, an familiären und anderen sozialen Erwartungen. Das<br />

bedeutet, daß wir dann von den Situationen gesteuert werden, in denen wir uns<br />

befinden und Ziele und Sinn sich aus deren Abfolge ergeben. Da <strong>die</strong> Abfolge der<br />

Situationen, <strong>die</strong> unser Leben auszumachen scheinen, zu einem großen Teil durch<br />

das Geflecht unserer sozialen Beziehungen determiniert wird, erweckt <strong>die</strong>s für uns<br />

den Eindruck, <strong>als</strong> sei unser Lebensl<strong>auf</strong> eine strukturierte Einheit, <strong>die</strong> <strong>als</strong> solche in<br />

den Fluß der Ereignisse und der uns umgebenden Strukturen eingebettet ist. Aber<br />

<strong>die</strong>se im Fluß der Ereignisse sich bildende Ordnung und Sinnhaftigkeit kann nichts<br />

Stabiles haben. Sie gerät durcheinander, sobald in den sozialen Strukturen Brüche<br />

entstehen, wenn der Tod mit uns verbundene Menschen wegnimmt, wenn Krankheit<br />

uns trifft, wenn uns Leidenschaften und Wünsche erfassen, <strong>die</strong> wir nicht beherrschen<br />

können, oder wenn Arbeitslosigkeit <strong>auf</strong> uns zukommt. 153 Um <strong>die</strong>s etwas zu<br />

differenzieren, sollen im folgenden drei idealtypische Sta<strong>die</strong>n der Geordnetheit bzw.<br />

Ungeordnetheit des Bewußtseins konstruiert, und damit zugleich entsprechende<br />

idealtypische Persönlichkeitsformen dargestellt werden.<br />

Individuen der ersten Gruppe sind wie Herbstlaub im Wind; ihr Leben, ihre<br />

Wünsche, ihre Gefühle, ihr Denken und Handeln ist bestimmt von den Erwartungen<br />

anderer, von den Impulsen, <strong>die</strong> beim Anblick bestimmter Objekte oder durch<br />

Bedürfnisse ausgelöst werden, und von all den Gewohnheiten, <strong>die</strong> sich im L<strong>auf</strong>e der<br />

Zeit gebildet haben. Aber Erwartungen, Impulse und Gewohnheiten, alles scheint<br />

unkoordiniert, sich widersprechend und der zufälligen Ordnung durch <strong>die</strong> Umstände<br />

überlassen.<br />

Individuen der zweiten Gruppe sind das, was man gefestigte Menschen nennt. Es<br />

ist ihnen gelungen, ihr Leben entsprechend den jeweils allgemein herrschenden<br />

152 Goethe 1977, z. Buch, 9. Kap. (S. 129).<br />

153 Vgl. hierzu etwa <strong>die</strong> Arbeiten in Katschnig (Hrsg.) 1980.<br />

75


Vorstellungen zu ordnen und davon bestimmen zu lassen. Hierher gehören <strong>die</strong><br />

geordnete Existenz des "Durchschnittsbürgers" ebenso wie der erfolgreiche oder<br />

gebildete Mensch. Hin und wieder allerdings geschieht es auch hier, daß plötzliche<br />

Leidenschaften ein derartiges Gefüge von wohl erworbenen Gewohnheiten und<br />

Zielen stören und auch zerstören. Und solange sie dann bestehen, stellen sie für <strong>die</strong><br />

betreffenden Individuen in sich gültigere Ziele oder Werte dar <strong>als</strong> alles, was ihr<br />

Leben bis dahin bestimmte. Aber sobald <strong>die</strong> Kraft <strong>die</strong>ser Bewegung schwindet,<br />

schwindet auch ihr subjektiver Wert, und <strong>die</strong> alte Ordnung nimmt den frei<br />

gewordenen Platz allmählich wieder ein.<br />

Das Leben von Individuen der letzten Gruppe dagegen könnte bestimmt sein von<br />

einer Vorstellung von Vollkommenheit oder Bildung oder einer sonstigen allgemeinen<br />

Idee, <strong>die</strong> zwar irgendwo auch im sozialen Zusammenhang eine Rolle spielt,<br />

<strong>die</strong> aber doch entschieden über das hinausweist, was allgemein akzeptiert und für<br />

richtig oder den Bedingungen angemessen erachtet wird. Sie versuchen, ihr<br />

Denken, Handeln und Fühlen daran auszurichten. Natürlich muß sich <strong>die</strong> konkrete<br />

Ausformung <strong>die</strong>ser Ideen mit zunehmender Entwicklung ändern, entscheidend aber<br />

ist das Streben <strong>auf</strong> sie zu. Obwohl <strong>die</strong>ser Prozeß für andere nicht beobachtbar sein<br />

mag, so erwecken <strong>die</strong>se Individuen vermutlich doch unter allen Veränderungen den<br />

Anschein einer mehr oder weniger in sich gerundeten oder geschlossenen<br />

Individualität: Sie vermitteln den Eindruck einer Einheit oder scheinen immer mehr<br />

dazu zu werden. Wenn ihre Vorstellungen sehr vielfältig und komplex sind, werden<br />

sie vielleicht solange unverständlich und seltsam erscheinen, bis es ihnen gelungen<br />

ist, <strong>die</strong>se Komplexität unter übergeordneten, d.h. allgemeineren Ideen oder<br />

Gesichtspunkten zu koordinieren. Doch sind <strong>die</strong>s nur graduelle Unterschiede<br />

innerhalb <strong>die</strong>ses Typs.<br />

Ein <strong>auf</strong> hoher Stufe integriertes und differenziertes mittelbares Bewußtsein ist aber<br />

keineswegs aus jeder Sicht erstrebenswert. Es könnte z. B. wenig hilfreich sein,<br />

wenn man nach gesellschaftlich anerkanntem Erfolg strebt. Differenziertheit<br />

bedeutet ja, <strong>die</strong> Dinge von verschiedenen Seiten sehen und beurteilen zu können,<br />

<strong>als</strong>o immer <strong>die</strong> Relativität ihrer Bedeutung zu erkennen. Solche Relativierung<br />

schränkt aber <strong>die</strong> Möglichkeit, alle Kräfte für <strong>die</strong> Erreichung eines nur begrenzt<br />

bedeutsamen Zieles zu verwenden, ein. Vermutlich wird man einen Teil seiner<br />

Energie <strong>auf</strong> Dinge oder Ziele richten, denen man im Rahmen seines Denkens (<strong>als</strong>o<br />

hier: im Rahmen des mittelbaren Bewußtseins) einen über das bloß Relative<br />

hinausgehenden Wert beimessen zu können glaubt. Damit stellt sich <strong>die</strong> Frage,<br />

76


welche Instanz überhaupt eine solche Abschätzung des Sinns und Wertes von<br />

Zielen vornehmen und sie anstreben kann, denn bislang müssen wir annehmen,<br />

daß es <strong>die</strong> Energien der verschiedenen Vorstellungen sind, <strong>die</strong> wir von unserer<br />

Umgebung übernehmen und von denen sich <strong>die</strong>, <strong>die</strong> sich unter den individuellen<br />

Bedingungen <strong>als</strong> am kräftigsten erweist, durchsetzt.<br />

5.3 Ich und personales Selbst<br />

Das Ich wurde bisher <strong>als</strong> Folge der objektivierenden Funktion des Bewusstseinsfeldes<br />

beschrieben. Dieses Verständnis des Ich <strong>als</strong> bloße Scheidung von Subjekt<br />

und Objekt ist nun zu ergänzen. So ist das Empfinden, der Verursacher und<br />

Besitzer der "eigenen" Bewußtseinsvorgänge zu sein, das, was man <strong>als</strong> Ich oder<br />

inneres Ich bezeichnen kann, nur ein Aspekt des Ich, den wir vor allem <strong>auf</strong>grund<br />

unserer starken mentalen Orientierung hervorheben. Von mindestens ebenso<br />

großer Bedeutung sind <strong>die</strong> Aspekte des physischen Ich (des Körpers und des<br />

Besitzes) wie auch des sozialen Ich. 154<br />

5.3.1 Das physische Ich<br />

Die Empfindung, daß der Körper ein Teil des eigenen Ich darstellt, ist offensichtlich.<br />

Man sagt nicht, "mein Körper ist krank", sondern "ich bin krank". Man empfindet<br />

auch nicht, daß der Körper <strong>als</strong> eine Art Anhängsel krank ist, sondern daß man<br />

wirklich selbst krank ist, d.h. man identifiziert sich durchaus mit seinem Körper.<br />

Wenn <strong>die</strong>s auch nicht unter allen Umständen so sein muß, so ist es doch <strong>die</strong> Regel.<br />

Tatsächlich ist man ja <strong>als</strong> Person, <strong>als</strong> Ich, abgegrenzt von anderen Personen durch<br />

<strong>die</strong> physische Form. Ein Ich, das nur aus seinen Gedanken, Gefühlen und<br />

Wünschen bestehen würde, wäre etwas höchst Unbestimmtes und Fließendes und<br />

154<br />

Vgl. hierzu James 1950 (Kap. X, S. 291-401, hier besonders S. 292), <strong>auf</strong> das sich auch<br />

<strong>die</strong> folgende Darstellung des Ich bezieht. James' Auffassung ist empirisch orientiert -<br />

wobei er unter Empirie auch Introspektion begreift - und scheint im Vergleich mit allen<br />

anderen mir bekannten Auffassungen, <strong>die</strong> differenzierteste und umfassendste zu sein.<br />

Zu verschiedenen anderen Auffassungen vgl. Adler 1935; Allport 1974; Angyal 1941;<br />

Bertocci 1945; Bühler 1962; Cattell 1966; Chein 1944; Combs/Snygg 1959; Erikson<br />

1959; Freud 1953; Hilgard 1954; Jung 1950; Koffka 1935; Lundholm 1940; G.H.Mead<br />

1978; Moustakas 1956; Murray/Kluckhohn 1953; Sarbin 1952; Sherif/Cantril 1947;<br />

Stephenson 1953; Sullivan 1964; Symonds 1951; Rogers 1982. Einen zusammenfassenden<br />

Überblick geben Hall/Lindzey 1970, S. 517f oder Schultz 1976.<br />

77


würde sich mit den Gedanken und Gefühlen anderer nahezu beliebig vermischen<br />

können. Natürlich gibt es auch im Bereich der Gedanken und Gefühle scharfe<br />

Gegensätze und Trennungen, aber da dort alles so beweglich und veränderlich ist,<br />

könnte kaum eine so überdauernde Identität entstehen, wie sie uns das Empfinden<br />

des individuellen Körpers gibt.<br />

Das physische Ich erstreckt sich nicht nur über den eigenen Körper, sondern hat <strong>die</strong><br />

Bestrebung, sich sehr viel weiter auszudehnen. Der Besitz, <strong>die</strong> Kleidung, das Auto,<br />

das Haus, das Einkommen, selbst der Partner und <strong>die</strong> Kinder werden <strong>als</strong> zum<br />

eigenen Ich gehörig empfunden. Sicher ist <strong>die</strong> Beziehung nicht ganz so stark wie<br />

zum eigenen Körper, aber wenn eines <strong>die</strong>ser Dinge genommen wird oder wenn sie<br />

alle genommen werden, wenn man sozusagen reduziert wird <strong>auf</strong> seinen Körper,<br />

seine Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse, dann erfährt man deutlich, wie sehr wir<br />

<strong>auf</strong>grund <strong>die</strong>ser Dinge sind, was wir sind. Nur leichthin kann man <strong>die</strong>se Dinge <strong>als</strong><br />

äußerlich (im Sinne von: nicht den Lebensnerv betreffend, nicht wirklich wesentlich)<br />

bezeichnen, weil man in der Regel ohne weiteres einen einzigen Gegenstand durch<br />

einen anderen ersetzen kann. Ist aber der Verlust so groß, daß ein Ersatz nicht<br />

möglich ist, dann wird eine solche spürbare Beschneidung des Besitzes auch <strong>als</strong><br />

eine Verstümmelung des eigenen Ich empfunden.<br />

Insofern Individuen sich stark mit ihrem materiellen Besitz identifizieren, stellt auch<br />

<strong>die</strong> Verhinderung der Ausweitung darin eine erhebliche Selbstbeschränkung dar.<br />

Ebenso kann eine sehr starke Identifizierung mit dem Körper, mit dessen<br />

allmählichem, aber un<strong>auf</strong>haltbarem Verfall, zur Schwächung oder Störung des<br />

Selbstgefühls führen. In der Regel allerdings finden sich irgendwelche<br />

Kompensationen.<br />

Wenn nun das Ich sich im Körper, in der Kleidung, in den Dingen, mit denen es sich<br />

umgibt, sieht und sich sozusagen darin darstellt, dann besteht - wie schon in Kap.<br />

5.2.3 erwähnt - eine Möglichkeit der Bildung darin, daß <strong>die</strong>ses physische Ich in<br />

seinem physischen Ausdruck durch <strong>die</strong> Vorstellungen und Ausdrucksweisen<br />

anderer beeinflußt wird. Das physische Ich wird <strong>als</strong>o auch geformt durch <strong>die</strong><br />

Vorstellungen und Ziele der Umwelt in Bezug <strong>auf</strong> den Körper, den Besitz usw. und<br />

durch den eigenen Umgang damit. Man kann sich leicht vorstellen, welche<br />

Wirkungen etwa eine einfache, schöne und harmonische Umgebung hat, in der alles<br />

Physische dem Ausdruck der höchsten Bestrebungen <strong>die</strong>nt, im Gegensatz etwa zu<br />

einer physischen Umgebung, <strong>die</strong> sich bloß an Nützlichkeit und Kosten orientiert.<br />

78


Das bedeutet, daß jeder - bewußt oder unbewußt - innerhalb seiner Möglichkeiten<br />

und seines Bereiches Bildungswirkungen irgendwelcher Art <strong>auf</strong> andere ausübt,<br />

allerdings auch selbst entsprechende Wirkungen <strong>auf</strong>nimmt.<br />

Die Frage, <strong>die</strong> sich hier stellt - und <strong>die</strong> später zu beantworten versucht werden soll -,<br />

ist, ob und wie man über <strong>die</strong> Begrenzung von gesellschaftlich verankerten<br />

Vorstellungen hinauskommen kann. Denn wenn jeder jeden beeinflußt, dann kann<br />

es zwar Wandlungen (Moden) geben, aber Entwicklungen zu qualitativ anderen<br />

Vorstellungen und Ausdrucksweisen dürften dann kaum möglich sein. Wenn aber<br />

qualitativ andersartige Vorstellungen möglich sind, dann können sie nicht nur<br />

gesellschaftlich bedingt sein.<br />

5.3.2 Das soziale Ich<br />

Während das physische Ich <strong>als</strong> ein handelndes, denkendes und fühlendes Zentrum<br />

seines Körpers, seines Eigentums und des Erwerbs materieller Güter erscheint,<br />

kann das soziale Ich <strong>als</strong> ein Knotenpunkt gesellschaftlicher, familiärer, beruflicher<br />

Beziehungen <strong>auf</strong>gefaßt werden. Aber auch hier ist das Ich nicht nur der Knoten, in<br />

dem <strong>die</strong> Beziehungen zusammenl<strong>auf</strong>en und erfahren werden, sondern es ist jene<br />

Beziehungen selbst, und es ändert sich mit ihnen. Man kann mit James auch sagen,<br />

jede soziale Beziehung sei ein Ich. Dadurch würde jene Uneinheitlichkeit und stete<br />

Veränderlichkeit des Ich zum Ausdruck gebracht.<br />

"Eigentlich verfügt ein Mensch über so viele soziale Ichs, wie es Individuen<br />

gibt, <strong>die</strong> Notiz von ihm nehmen und <strong>die</strong> ein Bild von ihm in ihrem Kopf tragen.<br />

Eines <strong>die</strong>ser Bilder verletzen heißt, <strong>die</strong>sen Menschen zu verletzen." 155<br />

Wenn beispielsweise unsere Freunde uns anders sehen würden, würde sich damit<br />

auch unsere Selbsteinschätzung ändern. 156 Das soziale Ich entwickelt sich durch <strong>die</strong><br />

Erfahrung dessen, wie es von seinen Angehörigen, Freunden, Feinden, ihm<br />

angenehmen und unangenehmen Mitmenschen gesehen wird und indem es sich<br />

mit seiner Erfahrung <strong>die</strong>ser Sichtweisen identifiziert. 157<br />

Durch den beständigen<br />

sozialen Austausch werden <strong>die</strong>se Sichtweisen immer <strong>auf</strong>s Neue bestätigt, oder sie<br />

155 James 1950, S. 294.<br />

156 Vgl. etwa Festingers "soziale Vergleichsprozesse", Festinger 1954.<br />

157 Vgl. hierzu vor allem G.H.Mead 1976, S. 55ff.<br />

79


verändern sich. Auf <strong>die</strong>se Weise wird nicht nur das soziale Ich, sondern auch unser<br />

Bild der "gesellschaftlichen Wirklichkeit" <strong>auf</strong>rechterhalten und zugleich konstruiert. 158<br />

In welchem Ausmaß soziale Beziehungen das Ich konstituieren, wird unter anderem<br />

deutlich, wenn sich <strong>die</strong>se Beziehungen ändern. Wenn Kinder z. B. sich selbständig<br />

machen oder andere Beziehungen eingehen und <strong>auf</strong>grund <strong>die</strong>ser Prozesse ihre<br />

Eltern anders sehen <strong>als</strong> zuvor, dann führt <strong>die</strong>s für <strong>die</strong> Eltern oft zu schweren<br />

emotionalen Problemen, d.h. ihr Selbst-Bild ist von <strong>die</strong>sen Veränderung betroffen 159 ,<br />

vorausgesetzt allerdings, daß <strong>die</strong> Beziehung der Eltern zu den Kindern derart war,<br />

daß sie <strong>die</strong>se wie einen Besitz, wie einen Teil ihrer selbst betrachteten, was aber<br />

nicht do selten ist. Der gleiche Prozeß vollzieht sich, wenn <strong>die</strong> Schüler oder<br />

Anhänger eines Lehrers oder Vorbildes beginnen, eigene Wege zu gehen. Nicht<br />

selten hat <strong>die</strong>s zu persönlicher Feindschaft geführt. 160 Die Beziehung beruhte<br />

zunächst ja dar<strong>auf</strong>, daß der Schüler <strong>die</strong> Auffassungen seines Lehrers akzeptierte<br />

und vertrat. Für beide ergab sich daraus eine gewisse Befriedigung und Bestätigung<br />

des jeweils eigenen Ich, wobei aber das Ich des Schülers dem des Lehrers wie ein<br />

Satellit zugehörig war - wovon auch der Schüler profitierte, denn er wurde ja durch<br />

jenes größere Ich des Lehrers selbst in seiner Bedeutung gehoben.<br />

Aber das soziale Ich wird nicht nur durch Freunde und Angehörige erweitert,<br />

sondern auch durch Feindschaften und Kämpfe; natürlich gilt <strong>die</strong>s nur, wenn man<br />

häufiger der Siegreiche <strong>als</strong> der Unterlegene ist. Der Streit mit einem Gegner läßt <strong>die</strong><br />

Begrenzung des Ich besonders deutlich fühlbar werden und kann dadurch das<br />

Ich-Gefühl stärken. So spielt etwa im Geschäftsleben nicht nur <strong>die</strong> Möglichkeit der<br />

Besitzausweitung (<strong>als</strong> Ich-Ausweitung), sondern auch, und vielleicht in höherem<br />

Maße, der Erfolg vor anderen Wettbewerbern eine wesentliche Rolle für <strong>die</strong> Ich-<br />

Bestätigung und -Ausweitung.<br />

Jede Ich-Erweiterung ist mit einem Energieumsatz verbunden. Es kann einerseits<br />

eine erhebliche Anstrengung bedeuten, <strong>die</strong>se Ausweitung, d. h. einen Erfolg,<br />

zustandezubringen, gleichzeitig aber, und vielleicht nur durch eine derartige<br />

Anstrengung und Verausgabung von Energie, ist man in der Lage, gleich große<br />

oder möglicherweise noch größere Energiemengen an sich zu ziehen. Man kann<br />

<strong>als</strong>o soziale Beziehungen <strong>als</strong> einen gegenseitigen Transfer vitaler Energie<br />

158 Vgl. hierzu Berger/Luckmann 1980, S. 49f.<br />

159 Vgl. etwa <strong>die</strong> Schilderung der Auseinandersetzungen C.G. Jungs mit seinem Vater; Jaffe<br />

1963, S. 96f.<br />

160 Vgl. etwa <strong>die</strong> Trennung von Freud und Jung; vgl. hierzu Jaffe 1963, S. 151ff.<br />

80


verstehen. So strömt vielleicht einer Frau durch <strong>die</strong> Bewunderung der Männer<br />

Energie zu, so wie sie selbst Energie ausströmt. Ebenso vermittelt <strong>die</strong> Bewunderung<br />

der Schüler dem Lehrer Energie, so daß er sich nach dem Unterricht keineswegs<br />

geschwächt zu fühlen braucht. Wenn aber <strong>die</strong> Schüler kein Interesse für seinen<br />

Unterricht <strong>auf</strong>bringen können und der Lehrer sie ständig zur Aufmerksamkeit<br />

zwingen zu müssen glaubt, wird er sich eher völlig ausgezehrt fühlen, ebenso wie<br />

<strong>die</strong> Schüler den Unterricht ermüdend finden werden. Nicht-Beachtung ist eine der<br />

schlimmsten und wirksamsten Beeinträchtigungen des Ich und damit auch eine<br />

bedeutsame Einflußmöglichkeit. Die Verhaltenstheorie hat nachgewiesen, daß Lob<br />

oder Strafe weit weniger effektiv sind <strong>als</strong> Nicht-Beachtung. So meint z.B. James:<br />

"Man könnte keine unmenschlichere Strafe erfinden, wäre so etwas physisch<br />

möglich, <strong>als</strong> daß man uns in <strong>die</strong> Gesellschaft anderer Menschen gehen ließe,<br />

wir jedoch von absolut niemandem bemerkt würden. Wenn niemand sich<br />

umdrehen würde, wenn wir hereinkämen, niemand antworten würde, wenn<br />

wir sprechen, oder sich darum kümmern würde, was wir tun, sondern wenn<br />

jeder, den wir treffen, uns 'schneiden' würde und sich so verhielte, <strong>als</strong> wären<br />

wir nichtexistente Dinge, würde in kurzer Zeit eine Art Wut und ohnmächtige<br />

Verzweiflung in uns <strong>auf</strong>kommen, im Vergleich zu der <strong>die</strong> grausamsten<br />

körperlichen Foltern eine Erleichterung darstellen würden; denn <strong>die</strong>se würden<br />

uns das Gefühl geben, daß wir, wie schlimm auch immer unsere Lage sei,<br />

noch nicht soweit abgesunken seien, jeglicher Aufmerksamkeit unwürdig zu<br />

sein." 161<br />

Da das soziale Ich durch <strong>die</strong> Bilder, <strong>die</strong> andere von uns haben, geformt wird,<br />

besteht eine wesentliche Möglichkeit des Einflusses <strong>auf</strong> andere darin, ein positives<br />

Bild von ihnen bzw. ihrer potentiellen Entwicklung zu haben. Man gibt <strong>als</strong>o innerlich<br />

der Entwicklung eines Menschen Raum, obgleich <strong>die</strong> Wirklichkeit <strong>auf</strong> ein vielleicht<br />

tristes und sehr begrenztes Bild eingeschränkt zu sein scheint. Die empirischen<br />

Befunde von Rosenthal zeigen, daß positive Erwartungen, <strong>die</strong> Lehrer von ihren<br />

Schülern hatten - weil man ihnen sagte, <strong>auf</strong>grund von (angeblichen) objektiven<br />

Tests, seien besondere Leistungen von ihnen wahrscheinlich -, insbesondere <strong>auf</strong><br />

jüngere Kinder einen <strong>die</strong> Intelligenz deutlich steigernden Einfluß hatten. 162 Shaw ließ<br />

im Pygmalion seine Eliza <strong>die</strong> Wirkungen von Erwartungen folgendermaßen<br />

formulieren:<br />

"... Sehen Sie, wenn man davon absieht, was ein jeder sich leicht aneignet,<br />

sich anziehen, richtige Aussprache und so weiter, dann besteht der<br />

161 James 1950, S. 293-294.<br />

162 Vgl. Rosenthal/Jacobsen 1974 (11971), S. 82f und S. 215f (Zusammenfassung<br />

81


Unterschied zwischen einer Dame und einem Blumenmädchen wahrhaftig<br />

nicht in ihrem Benehmen, sondern darin, wie man sich gegen sie benimmt.<br />

Für Professor Higgins werde ich immer ein Blumenmädchen sein, weil er<br />

mich immer wie ein Blumenmädchen behandelt und behandeln wird. Aber ich<br />

weiß, daß ich für Sie eine Dame sein kann, weil Sie mich immer wie eine<br />

Dame behandeln und behandeln werden." 163<br />

Goethe hat <strong>die</strong>s <strong>als</strong> Methode folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:<br />

"Wenn wir . . <strong>die</strong> Menschen nur nehmen wie sie sind, so machen wir sie<br />

schlechter; wenn wir sie behandeln, <strong>als</strong> wären sie, was sie sein sollen, so<br />

bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind."164<br />

Das soziale Ich unterliegt auch der Eigensteuerung, denn wir entwickeln uns nicht<br />

nur nach dem Bild, das andere von uns haben, sondern vielleicht noch stärker nach<br />

dem Bild, von dem wir glauben und wünschen oder fürchten, daß andere es von uns<br />

haben. Wer <strong>die</strong> Kraft hat, sein Selbstbild entsprechend entwicklungs- und erweiterungsfähig<br />

zu sehen und nach außen hin zum Ausdruck zu bringen, kann dadurch<br />

zu seiner eigenen Entwicklung beitragen. Denn schließlich sehen uns andere oft so,<br />

wie wir gesehen werden möchten, und das Fremd- bestätigt dann unser Selbstbild.<br />

5.3.3 Das innere Ich<br />

Die meisten Intellektuellen dürften davon ausgehen, daß das wirkliche Ich und <strong>die</strong><br />

einzige dauerhafte Ich-Bestätigung in dem zu finden sei, was James <strong>als</strong> das geistige<br />

Ich (spiritual Self) bezeichnet 165 und das hier „inneres Ich“ genannt werden soll.<br />

Darunter sind vor allem <strong>die</strong> intellektuellen, künstlerischen, praktischen, moralischen<br />

u.a. Fähigkeiten, Überzeugungen und Werte zu verstehen. Man fühlt sich <strong>als</strong> ein Ich<br />

<strong>auf</strong>grund eines überlegenen Intellekts, und man fühlt sich begrenzt oder eingeschränkt,<br />

wenn man merkt, daß andere viel weiterreichende Fähigkeiten haben <strong>als</strong><br />

man selbst.<br />

Die dauernde Erfahrung des Ich entsteht aber außer durch sein Können und seine<br />

Bestrebungen, vor allem durch den nahezu ununterbrochenen Gedankenstrom und<br />

163 Zit. nach Rosenthal/Jacobson 1974, S. 225.<br />

164 Goethe 1977, B. Buch,'. Kap. (S. 570).<br />

165 James 1950, S. 296ff.<br />

82


<strong>die</strong> fortwährenden Gefühlseindrücke.166 Es ist das, was wir früher (Kap. 5.1) <strong>als</strong><br />

objektivierendes Bewußtseinsfeld beschrieben haben und das sich, geleitet von<br />

Eindrücken oder Anforderungen, <strong>die</strong> von außen und aus dem mittelbaren<br />

Bewußtsein (Kap. 5.2) kommen, in einem mehr oder weniger schnellen, jedenfalls<br />

aber beständigen Wandel befindet. Diesen Strom von Empfindungen hat James<br />

Joyce in dem 55 Seiten langen Gedankenmonolog der Mary Bloom am Ende seines<br />

Romans „Ulysses“ 167 wiederzugeben versucht:<br />

„... eine unirdische Stunde ich glaube dass sie in <strong>die</strong>sem Augenblick in China<br />

<strong>auf</strong>stehen sich <strong>die</strong> Schweinsschwänze für den Tag kämmen und bald läuten <strong>die</strong><br />

Schwestern den Angelus keiner stört ihren Schlaf ausgenommen ein oder zwei<br />

Priester wegen der Nachtmesse der Wecker nebenan mit dem Hahnenschrei dem<br />

schnappt gleich <strong>die</strong> Stimme über will mal probieren ob ich wieder einduseln kann 1<br />

2 3 4 5 was sind das noch für Blumen <strong>die</strong> man erfunden hat wie Sterne <strong>die</strong> Tapete<br />

in der Lombard Street war viel schöner <strong>die</strong> Schürze <strong>die</strong> er mir schenkte war fast so<br />

habe sie nur zweimal getragen will doch lieber <strong>die</strong> Lampe runterschrauben ich pfeife<br />

<strong>auf</strong> all <strong>die</strong> Weisheit derer <strong>die</strong> sagen es gibt keinen Gott oft fragte ich ihn warum<br />

schaffen <strong>die</strong> denn nicht mal was <strong>die</strong> Atheisten oder wie sie heißen sollen sich erst<br />

mal den Dreck abwaschen und dann schreien sie nach dem Priester wenn sie<br />

sterben ... <strong>die</strong> Sonne scheint für dich sagte er an dem Tage <strong>als</strong> wir zwischen den<br />

Alpenrosen oben <strong>auf</strong> dem Howth lagen er trug den grauen Tweedanzug und dazu<br />

einen Strohhut an <strong>die</strong>sem Tage brachte ich ihn so weit mir einen Antrag zu machen<br />

zuerst gab ich ihm den Bissen Streukuchen aus meinem Munde und es war dam<strong>als</strong><br />

ein Schaltjahr wie jetzt ja vor 16 Jahren war es lieber Gott nach dem langen Kuss<br />

ging mir fast der Atem aus ... und zuerst wollte ich nicht antworten sah hinaus <strong>auf</strong><br />

das Meer und in den Himmel ich dachte an so vieles von dem er nichts wusste ... an<br />

das Meer das Meer das oft feuerrot ist und <strong>die</strong> herrlichen Sonnenuntergänge und<br />

<strong>die</strong> Feigenbäume in den Alameda Gärten ja und all <strong>die</strong> seltsamen Gassen und rosa<br />

roten blauen und gelben Häuser und <strong>die</strong> Rosengärten an Jasmin und Geranien an<br />

Kakteen und Gibraltar <strong>als</strong> ich noch Mädchen war wo ich eine Blume der Berge war<br />

ja <strong>als</strong> ich <strong>die</strong> Rose mir ins Haar steckte wie <strong>die</strong> andalusischen Mädchen es immer<br />

taten oder soll ich eine rote tragen ja und wie er mich unter der maurischen Mauer<br />

küsste und da dachte ich er so gut wie ein anderer ..."<br />

Der Bewußtseinsstrom kann natürlich auch eine geordnetere Bewegung annehmen,<br />

meist erzwungen durch institutionelle Regelungen der Tätigkeiten, durch Aufgaben<br />

usw. Das innere Ich ist <strong>als</strong>o ein äußerst vages und unbestimmtes, ständig sich<br />

änderndes Bewußtseinsfeld, das seine Ordnung eher von außen <strong>als</strong> von innen<br />

erhält.<br />

166 Vgl. James 1950, S. 297: "... der Strom <strong>als</strong> Ganzes wird wegen mehr <strong>als</strong> nur<br />

irgendetwas Äußerlichem mit dem Ich identifiziert ..."<br />

167<br />

Zit. nach der Übersetzung von Georg Goyert. Joyce 1966.<br />

83


Man empfindet <strong>die</strong> sich in <strong>die</strong>sem Feld vollziehenden Prozesse <strong>als</strong> sein Ich, weil<br />

man sich in jedem Augenblick damit identifiziert. Man hat einen Gedanken, d. h.<br />

man erlebt ihn, man macht ihn <strong>als</strong>o nicht wirklich oder willentlich selbst, und<br />

verbindet automatisch das Gefühl damit, ja das bin ich, das ist mein Gedanke. Man<br />

hat Hunger, man ist müde, fühlt sich krank, irgendeine Erregung breitet sich in<br />

Körper und Geist aus, und man fühlt all das <strong>als</strong> seinen Hunger, seine Müdigkeit,<br />

seine Erregung. Aber was ist dasjenige, das sich damit identifiziert, jenes Zentrum,<br />

das offenbar das eigentliche Selbst darstellen muß und vielleicht <strong>die</strong> objektivierende<br />

Funktion des Bewußtseinsfeldes hervorruft. Es scheint auch dasjenige zu sein, das<br />

Gedanken, Gefühle usw. ablehnt, andere akzeptiert und sich willentlich bestimmten<br />

Dingen zuwenden kann. 168 Dies in der Regel verborgene Etwas soll hier <strong>als</strong><br />

personales Selbst bezeichnet werden.<br />

5.3.4 Das personale Selbst<br />

Da nun das personale Selbst kaum jem<strong>als</strong> spontan erfahren wird, sind wir geneigt,<br />

seine Existenz zu verneinen oder es für ein bloß theoretisches Konstrukt zu halten,<br />

obgleich es auch <strong>als</strong> solches durchaus sinnvoll ist. Auch James weist den<br />

Gedanken des personalen Selbst, das er ausführlich diskutiert, (er nennt es "pure<br />

Ego"; "Self of selves") zurück. Er kommt zu dem Schluß, es sei ein Gedanke und<br />

keine Wirklichkeit an sich, der Gedanke z. B., man sei der Denker seiner Gedanken.<br />

Der Gedanke, "der Denker seiner Gedanken" zu sein, schließt andere Gedanken<br />

ein; es scheint ein Gedanke zu sein, der <strong>die</strong> anderen hervorbringt. 169<br />

Die Annahme des personalen Selbstes erklärt jedoch, warum wir uns trotz aller<br />

Veränderungen, denen unser Körper, unsere Gefühle, unsere Gedanken, ja unser<br />

ganzes Wesen unterliegen, immer <strong>als</strong> ein und <strong>die</strong>selbe Person, <strong>als</strong> dasselbe Ich<br />

erfahren. Betrachten wir einen Menschen in seiner Entwicklung vom Kind zum<br />

Jugendlichen, zum Erwachsenen, so haben wir mindestens drei verschiedene<br />

Individuen vor uns. Natürlich können wir erkennen, daß wir uns verändert haben,<br />

aber das Empfinden der Identität ist dennoch stärker. Es scheint zweifelhaft, ob ein<br />

bloßer Gedanke <strong>die</strong>ses Identitätsgefühl hervorrufen und <strong>auf</strong>rechterhalten könnte.<br />

Der Verlust des Identitätsempfindens wird zudem <strong>als</strong> belastend erfahren und führt<br />

168 Vgl. auch James 1950, S. 297-298.<br />

169 Vgl. James 1950, S. 297-305.<br />

84


ei längerer Dauer zu psychischen Erkrankungen 170 . Identität kann <strong>auf</strong>grund widerstreitender<br />

Identifikationstendenzen schwierig zu erreichen sein. Der Mensch stellt<br />

ja offenbar keine Einheit, sondern eine Vielheit dar. Unterschiedliche und vor allem<br />

gegensätzliche Bestrebungen ereignen sich in ihm, obgleich er das Gefühl hat, alles<br />

<strong>die</strong>s sei er. Indem er sich aber mit <strong>die</strong>sen widerstreitenden Bewegungen in ihm<br />

identifiziert, leidet er darunter, weil es eine Zerrissenheit in ihm erzeugt.<br />

Eine Identität, <strong>die</strong> nicht von all <strong>die</strong>sen höchst relativen Identifikationen abhängig ist,<br />

kann nur gefunden werden, wenn dahinter jenes personale Selbst existiert, das wir<br />

oben angenommen haben. Diejenige Instanz, <strong>die</strong> den Bewußtseinsstrom zumindest<br />

im Prinzip beobachten könnte, können wir <strong>als</strong> <strong>die</strong>ses personale Selbst bezeichnen.<br />

Stillschweigend und im Bewusstseinsfeld nicht erfahren und erkannt, akzeptiert es<br />

das Geschehen dort, bleibt selbst aber im Hintergrund. Sich <strong>die</strong>ser Instanz bewusst<br />

zu werden, wenn <strong>als</strong>o das Bewusstsein sich über <strong>die</strong> bestehende Grenze bis hin<br />

zum Einschluß des personalen Selbst ausdehnt, würde bedeuten, sich in <strong>die</strong>sem<br />

Bewußtsein über das gewöhnliche Ich zu erheben und es wie etwas Fremdes<br />

beobachten und womöglich verändern zu können.<br />

James allerdings sieht <strong>die</strong>se beobachtende Instanz <strong>als</strong> einen sich nur zeitweilig<br />

absondernden Teil des Gedankenstroms. 171 Tatsächlich könnte der Versuch, sich<br />

über seine Gedanken und Gefühle zu erheben, zu Beginn kaum etwas anderes<br />

sein. Man kann das personale Selbst wie ein unterentwickeltes Organ verstehen,<br />

das im übrigen Zellverband untergeht, eigentlich nur latent, der Anlage nach<br />

vorhanden ist. Erst durch geeignete und andauernde Übungen könnte sich <strong>die</strong>ses<br />

Organ mit seinen Fähigkeiten entwickeln. Die Fähigkeit der Distanzierung, des<br />

unbeteiligten, nicht involvierten Beobachtens, wenn sie systematisch geübt und<br />

entwickelt wird, führt aber vielleicht allmählich zur Erfahrung des personalen Selbst,<br />

das dann <strong>als</strong> unabhängige Einheit, <strong>als</strong> reines Bewußtsein, <strong>als</strong> bloßer Beobachter<br />

den Kern des Individuums in <strong>die</strong>sem bestehen könnte. 172<br />

Kant hat das personale Selbst <strong>als</strong> transzendentales Selbst bezeichnet, da es vor<br />

unserer unmittelbaren Erfahrung liegt. Doch um eine Wahrnehmung vor aller<br />

Erfahrung zustande zu bringen, wäre es erforderlich, sich von allen Identifikationen<br />

vollständig zu befreien, d.h. tatsächlich nichts anderes zu sein <strong>als</strong> reines, beobach-<br />

170 Erikson 1966 spricht in <strong>die</strong>sem Zusammenhang von "neurotischer Wurzellosigkeit" (S.<br />

91). Über Identitätskrisen im Jugendalter vgl. Erikson 1974.<br />

171 Vgl. James 1950, S. 297f u. S. 304.<br />

172 Vgl. hierzu Assagioli 1.984, S. 111 ff Ferrucci 1986, S. 59ff.<br />

85


tendes Bewußtsein. Hierbei könnte es sehr unterschiedliche Grade der Dis-<br />

Identifikation oder "Befreiung" geben.<br />

5.3.5 Erfahrung des personalen Selbst<br />

Die Möglichkeit der Erfahrung des personalen Selbst durch Dis-Identifikation ist in<br />

der Psychosynthese 173 (einer Form der Psychotherapie, <strong>die</strong> auch das Überbewußte<br />

miteinbezieht) grundlegend für <strong>die</strong> Behandlung der meisten psychischen Störungen.<br />

Ferrucci berichtet u.a. den Fall eines Studenten, der häufig von panischer Angst<br />

"überfallen" wurde, <strong>die</strong> er nicht anders denn <strong>als</strong> "seine" Angst erleben konnte,<br />

obgleich er sehr deutlich sah und selbst empfand, daß es "mehr <strong>als</strong> nur seine Angst<br />

war, ja daß es eine universale Angst war". 174 Der Klient berichtet weiter:<br />

"Wenn mich <strong>die</strong>se Angst überkommt, fühle ich mich in eine Unzahl einzelner<br />

Teile zersplittert, jeder in eine andere Richtung gehend. Es ist, <strong>als</strong> verliere ich<br />

den Boden unter meinen Füssen, <strong>als</strong> fehlte mir plötzlich ein Bezugspunkt, an<br />

den ich mich klammern könnte.“ 175<br />

Natürlich genügt es in einem solchen Fall nicht, einfach nur zu versuchen, sich nicht<br />

mit <strong>die</strong>ser Angst zu identifizieren. Denn <strong>auf</strong>grund der Stärke des Gefühls ist man gar<br />

nicht in der Lage dazu. Es kann u. a. erforderlich sein, unbewußte Ursachen <strong>auf</strong>zuspüren<br />

und verborgene psychische Mechanismen <strong>auf</strong>zudecken. Aber nur, wenn es<br />

letztlich gelingt, das eher zentrale personale Selbst stärker zu empfinden oder darin<br />

zu leben <strong>als</strong> in den <strong>die</strong>sem Selbst äußerlichen Ängsten, ist es möglich, sie<br />

handzuhaben und sich nicht von ihnen beherrschen zu lassen. Doch lassen wir den<br />

Betroffenen selbst berichten:<br />

"Mehrere Faktoren haben zu meinem Wachstum beigetragen: <strong>die</strong> Entdeckung,<br />

dass es jemanden gab, der mich verstand; <strong>die</strong> Erforschung des<br />

Unbewussten; das Wiedererwachen meiner Fähigkeit zu lieben ... Und<br />

dennoch gibt es noch einen Stern, der stärker glänzt <strong>als</strong> alle anderen: das<br />

Selbst. In meinem Innern fand ich eine Lebensquelle, deren Existenz ich bis<br />

dahin vollkommen ignoriert hatte.<br />

Was mich am meisten daran begeistert, ist <strong>die</strong> Tatsache, dass nicht Sie es<br />

waren, der mir <strong>die</strong>se Kraft gab. Ich habe sie auch nicht von Freunden bekommen,<br />

durch irgendwelche Glücksumstände oder durch eine Wunderpille. Ich<br />

173 Vgl. vor allem Assagioli 1984.<br />

174 Ferrucci 1986, S. 74.<br />

175 Ebenda, S. 60.<br />

86


selber habe sie ganz alleine gefunden. Auch heute noch befällt mich von Zeit<br />

zu Zeit ein Gefühl der Angst und Entfremdung, doch im Gegensatz zu früher<br />

bin ich heute viel stärker <strong>als</strong> <strong>die</strong>se Gefühle; und so kann ich sie einfach über<br />

mich hinweggehen lassen, ohne davon betroffen zu sein, wie, ein<br />

Wassertropfen, der über ein Blatt rinnt." 176<br />

Man könnte nun den Eindruck gewinnen, <strong>die</strong>ses personale Selbst müsse doch eine<br />

recht trockene und uninteressante Angelegenheit sein, da es so von allem Aufruhr,<br />

aller Erregung oder Freude frei zu sein und zu bleiben scheint. Aber man muß auch<br />

sehen, daß <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Möglichkeit zu freien Entscheidungen schafft, daß man<br />

zumindest sehr viel weniger gezwungen ist, mehr oder weniger automatisch zu<br />

reagieren. Ferrucci zitiert hierzu eine entsprechende Antwort eines Klienten:<br />

"Am Anfang schien mir <strong>die</strong> Disidentifikation eine recht leblose Sache zu sein,<br />

etwa so, <strong>als</strong> ginge ich in das Zentrum eines ausgestorbenen Ortes, während<br />

sich das wahre Leben draußen abspielte, in den Außenbezirken. Was konnte<br />

denn hier drinnen schon geschehen? Ich war mehr für das, was ich <strong>als</strong> den<br />

Weg Blakes und Whitmans ansah - Identifikation mit allem. Trotzdem<br />

entschied ich mich, einen Versuch zu machen. Und dann stellte ich fest, dass<br />

ich mich besser mit allem identifizieren konnte <strong>als</strong> vorher. Ich erkannte, dass<br />

ich mich anhin aus Angst nie wirklich und total hatte identifizieren können.<br />

Jetzt kann ich mich jederzeit und viel leichter mit jedem Teil von mir identifizieren,<br />

je nach Wahl. Meine Hingabe ist viel leichter möglich geworden." 177<br />

Die Existenz des personalen Selbst und <strong>die</strong> Möglichkeit seiner Erfahrung bedeuten<br />

auch, daß wir nur, solange uns <strong>die</strong> Existenz <strong>die</strong>ses Selbst verborgen ist, annehmen<br />

müssen, wir seien, was wir sind <strong>auf</strong>grund von Sozialisationsprozessen. Das personale<br />

Selbst kann seine Existenz nicht seiner sozialen Umgebung verdanken, es ist<br />

ja <strong>die</strong> Voraussetzung dafür, daß überhaupt ein Ich sich bilden kann, ein Ich, das<br />

Bewußtsein erlangt und dabei Sozialisationsprozesse zu durchl<strong>auf</strong>en hat.<br />

Wenn das personale Selbst eine Voraussetzung des Ich darstellt, muß es dem<br />

objektivierenden Bewußtseinsfeld, dem mittelbaren und dem kulturellen bzw. gesellschaftlichen<br />

Bewusstsein vor- oder übergeordnet sein. Diese Überordnung würde<br />

zudem bedeuten, daß <strong>die</strong> Kriterien seines Handelns anderen Bereichen entstammen<br />

<strong>als</strong> <strong>die</strong>jenigen des Ich. Offenbar müßte es etwas sein, das Bereichen des<br />

Bewußtseins oder Überbewußtseins angehört, <strong>die</strong> gesellschaftlich nicht oder kaum<br />

erschlossen sind in dem Sinne, daß sie keine deutlichen Spuren in den gesellschaft-<br />

176 Ebenda, S. 74.<br />

177 Ferrucci 1986, S. 79.<br />

87


lichen <strong>Institution</strong>en hinterlassen haben. Dahinter steht <strong>die</strong> Annahme von zunehmend<br />

komplexeren Bewußtseinszuständen. Eine derartige Folge jeweils umfassenderer<br />

Bewusstseinszustände oder -welten kann man analog der Umwelten McLuhans<br />

verstehen.<br />

" 'Sobald ein Mensch seine Umwelt erkennt, wird sie zu etwas anderem,<br />

seiner alten Umwelt, und ist <strong>als</strong> solche Inhalt seiner neuen oder echten<br />

Umwelt, <strong>die</strong> wiederum natürlich unsichtbar ist.' (McLuhan) ... Sagen wir's<br />

anders: Nehmen wir an, eine Ameise hätte ihr junges Leben ganz in einem<br />

Ameisenh<strong>auf</strong>en verbracht. Sie ist sich nicht bewußt, daß <strong>die</strong>ser Ameisenh<strong>auf</strong>en<br />

ihre Welt ist; er ist es ganz einfach. Sie wird <strong>als</strong>o eines Tages mit<br />

ihrem ersten wichtigen Auftrag hinausgeschickt, etwa um einen toten Käfer<br />

zurückzuschleppen. Sie verläßt den Ameisenh<strong>auf</strong>en. Es geschieht dann<br />

zweierlei: 1. Sie sieht zum ersten Mal den Ameisenh<strong>auf</strong>en. 2. Sie wird sich<br />

bewußt, daß <strong>die</strong> Welt sehr groß ist. Bedeutet das nun, daß sie sich ihrer<br />

Umwelt bewußt ist? Nein, denn sie weiß nicht, daß der Ameisenh<strong>auf</strong>en in<br />

einem Gewächshaus steht. Sie kann sich des Gewächshauses nur bewußt<br />

werden, wenn sie es verläßt. Und auch das hilft wenig, weil nämlich das<br />

Gewächshaus im überdachten Baseball-Stadion von Houston in Texas steht.<br />

Und so weiter. Es wird Ihnen klar sein, daß stets <strong>die</strong> alte Umwelt zum Inhalt<br />

der neuen wird und nie umgekehrt. .•. Gewahrwerden heißt <strong>als</strong>o, sich bewußt<br />

werden, daß wir von etwas Höherem gelenkt werden, <strong>als</strong> wir gedacht hatten.<br />

Der Haken ist nur, daß wir den Vorsprung nie einholen können; wir hinken<br />

immer einen Schritt hinterher, denn überhaupt ist alles in irgendetwas<br />

Größerem enthalten." 178<br />

5.3.6 Personales Selbst und Kreativität<br />

Die behauptete Existenz eines personalen Selbst könnte auch hilfreich zur<br />

Erklärung von bewußter Kreativität 179 , kreativem Denken, kreativem Gestalten usw.<br />

sein. Denn nur, wenn es möglich ist, daß das Selbst sich von dem, was es vorfindet,<br />

distanzieren und Intuitionen <strong>auf</strong>nehmen oder akzeptieren kann (<strong>die</strong> wir vorläufig<br />

einfach <strong>als</strong> aus unter- oder überbewußten Bereichen stammend annehmen wollen),<br />

<strong>die</strong> über das hinausgehen, was bekannt ist, kann man <strong>die</strong> Entdeckung von<br />

178 Gossage 1969, S. 27-28.<br />

179 Unbewußte Kreativität finden wir in der Natur, in der Evolution - wobei wir Unbewußtheit<br />

in <strong>die</strong>sem Fall so zu verstehen haben, daß es uns nicht möglich ist bzw. bisher nicht<br />

möglich war, einen bewußten Willen, und das heißt einen bewußten Zweck, zu<br />

entdecken. Das Problem ist <strong>auf</strong> breiter Ebene abgehandelt worden von Hartmann,1882,<br />

wenn natürlich auch <strong>auf</strong> der Grundlage der damaligen Kenntnisse in Biologie,<br />

Physiologie usw.<br />

88


Zusammenhängen, <strong>die</strong> Konstruktion von Geräten oder <strong>die</strong> Gestaltung von Kunstwerken<br />

erklären, <strong>die</strong> in mehr bestehen <strong>als</strong> in bloßer Veränderung oder Neukombination<br />

von schon Bekanntem. Auf letztere Art versuchte ja der Behaviorismus <strong>die</strong><br />

Entstehung alles Neuen zu erklären. 180 Weiterhin, und das hängt natürlich unmittelbar<br />

mit der Kreativitätsproblematik zusammen, ist der Versuch der Distanzierung,<br />

der Dis-Identifikation und <strong>die</strong> Einnahme der Position eines reinen Beobachters eine<br />

ideale oder idealisierte grundlegende Voraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens.<br />

Solange man zu sehr an seinen Vorurteilen oder Lieblingstheorien hängt (d.h. sich<br />

mit ihnen identifiziert, sie nicht <strong>als</strong> etwas betrachten kann, das nichts mit einem<br />

selbst zu tun hat, und <strong>die</strong> man daher nicht unvoreingenommen und mitleidlos<br />

sezieren kann), wird man kaum Zusammenhänge sehen können, <strong>die</strong> darüber<br />

hinausgehen. So fragte sich beispielsweise Einstein, warum er der einzige war, der<br />

<strong>die</strong> Relativitätstheorie <strong>auf</strong>stellte, und er beantwortete <strong>die</strong>se Frage mit der Behauptung,<br />

daß er sich im Gegensatz zu anderen nur sehr langsam entwickelt habe, d.h.<br />

aber doch wohl, daß er immer deutlich fühlte oder wußte, daß er anderen Fragen,<br />

anderen Überlegungen nachging <strong>als</strong> seine Mitschüler, daß es - wie Thuillier darlegt -<br />

nicht möglich war, ihn in dasselbe Schema zu zwängen wie all <strong>die</strong> anderen.<br />

"Eine 'erfolgreiche' Erziehung besteht darin, den Zögling dazu zu bringen,<br />

eine Anzahl Konzepte und Interpretationen der 'Realität' <strong>als</strong> natürlich anzuerkennen.<br />

Es ist <strong>die</strong>s somit per Definitionem auch eine Erziehung, <strong>die</strong> jene,<br />

denen sie zuteil wird, konformistisch werden läßt und ihnen <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

nimmt, <strong>die</strong> - in der Regel stillschweigenden - Voraussetzungen in Frage zu<br />

stellen, <strong>auf</strong> denen <strong>die</strong> vermittelten 'Kenntnisse' beruhen. Einstein liebte ferner<br />

einen weiteren Gedanken: Gewisse Schwierigkeiten, <strong>die</strong> durch ein Erkenntnissystem<br />

entstehen, können nicht behoben werden, wenn man nicht zuerst<br />

<strong>die</strong> mehr oder weniger willkürlichen und unbewußten Grundlagen <strong>die</strong>ses Systems<br />

durchschaut. Ein zu sehr 'sozialisierter', 'modellgetreuer' Geist verfügt<br />

hierzu nicht über <strong>die</strong> erforderliche innere Freiheit. Die kritische Arbeit, <strong>die</strong> zur<br />

Relativitätstheorie führte, war daher nur möglich dank einer wirklichen<br />

intellektuellen Selbständigkeit." 181<br />

Folgerichtig interpretiert Thuillier <strong>die</strong> von Biographen berichteten Sprechschwierigkeiten<br />

des kleinen Albert Einstein "<strong>als</strong> einen Widerstand gegen gewisse von der<br />

180 Eine zusammenfassende Darstellung von Kreativitätstheorien findet sich bei Seiffge-<br />

Krenke 1974; vom kognitivistischen Standpunkt aus siehe etwa König/Schrell 1973;<br />

Ausubel 1974, S. 595f. Zu Kreativität und Unterricht vgl. Mühle/Schell (Hrsg.) 1970, und<br />

unter dem Gesichtspunkt künstlerischer Gestaltung vgl. Lowenfeld 1960. Interessant<br />

sind auch <strong>die</strong> Ausführungen von Koestler 1980, S. 34f.<br />

181 Thuillier 1979, S. 29.<br />

89


Gesellschaft <strong>auf</strong>gedrängte Erkenntnismuster". 182 Ein derartiger Widerstand gegen<br />

ein vorgegebenes Erkenntnismuster, das zu akzeptieren eigentlich nahe liegt, weil<br />

es vieles einfacher und bequemer macht, können wir auch verstehen <strong>als</strong> einen<br />

bewußten oder unbewußten Willen des personalen Selbst gegen etwas, das es <strong>als</strong><br />

fremd oder f<strong>als</strong>ch empfindet. D. h. allerdings, davon auszugehen, daß ein "höherer<br />

Wille" hier eingreift, der einen größeren Überblick hat und <strong>die</strong> Sache entsprechend<br />

lenkt. Es scheint, daß sinnvoll sein kann bei allen Entwicklungsprozessen, wie auch<br />

bei kreativen Prozessen mit v.Hayek <strong>die</strong> Existenz abstrakter Regeln oder Instanzen<br />

anzunehmen:<br />

"Wenn meine Annahme richtig ist, daß abstrakte Regeln, deren wir uns nicht<br />

bewußt sind, <strong>die</strong> sensorischen (und andere) 'Qualitäten' bestimmen, <strong>die</strong> wir<br />

bewußt erfahren, so bedeutet <strong>die</strong>s, daß wir uns vieles dessen, was in<br />

unserem Geist vorgeht, nicht bewußt sind, und zwar nicht deshalb, weil es <strong>auf</strong><br />

einer zu niedrigen, sondern weil es <strong>auf</strong> einer zu hohen Ebene vor sich geht.<br />

Es wäre passender, derartige Vorgänge nicht unterbewußt, sondern "überbewußt"<br />

zu nennen, da sie <strong>die</strong> bewußten Vorgänge steuern, ohne in ihnen<br />

vorzukommen. Das würde bedeuten, daß das, was wir bewußt erfahren, nur<br />

einen Teil oder das Ergebnis von Prozessen darstellt, <strong>die</strong> uns nicht bewußt<br />

sein können, da nur <strong>die</strong> mehrfache Klassifizierung durch <strong>die</strong> Über-Struktur<br />

einem Ereignis jenen Platz in einer verstandesmäßigen Ordnung anweist,<br />

durch den es erst zu einem bewußten wird ... Das schwierigste Problem ... ist<br />

<strong>die</strong> Klarstellung der Tatsache, daß <strong>die</strong> Bildung einer neuen Abstraktion<br />

offenbar niem<strong>als</strong> das Ergebnis eines bewußten Vorganges ist und daß sie<br />

niem<strong>als</strong> mit Absicht angestrebt werden kann. Sie ist vielmehr immer <strong>die</strong><br />

Entdeckung von etwas, das schon vorher <strong>die</strong> geistige Tätigkeit bestimmt hat.<br />

Das hängt damit zusammen, ... daß unsere ... Handlungen viele Hinweise<br />

dar<strong>auf</strong> enthalten, daß sie von abstrakten Regeln gesteuert werden, deren wir<br />

uns nicht bewußt sind." 183<br />

5.4 Der Wille<br />

Wenn hier der in der Psychologie des 19. Jahrhunderts übliche Begriff des Willens<br />

benutzt wird, bedeutet das nicht, daß <strong>die</strong> dam<strong>als</strong> damit verbundene Auffassung<br />

eines mehr oder weniger souveränen Ich wieder belebt werden soll. 184 Das heißt<br />

182 Ebenda.<br />

183 v.Hayek 1970, S. 309-310.<br />

184 Zur Willenspsychologie vgl. etwa James 1950, Bd. 2, S. 486ff.; Meumann 1925; Ziehen<br />

1927; Ach 1935; Fischel 1971; vgl. auch den historischen Überblick zur Willenspsychologie<br />

bei Assagioli 1973, S. 235ff<br />

90


natürlich nicht, daß in jener Zeit nur <strong>die</strong> Auffassung eines souveränen Ich vertreten<br />

worden wäre. Der Liberalismus hat eine derartige Sichtweise zweifellos unterstützt<br />

und zu ihrer Verbreitung beigetragen. Aber es gab auch entgegengesetzte<br />

Meinungen, man denke nur an Schopenhauers Auffassung 185 , daß der Wille des<br />

Einzelnen nichts <strong>als</strong> <strong>die</strong> Puppe eines allgemeinen Weltwillens sei. Eine weitere<br />

breite Strömung wurde vom materialistischen Denken geformt und unterstützt; von<br />

Bedeutung sind hier vor allem La Mettrie, der wegen seiner Auffassung, der Mensch<br />

sei eine Maschine, aus Paris fliehen mußte und dessen erstes Buch vom Henker<br />

öffentlich verbrannt wurde. So muß man wohl grundsätzlich davon ausgehen, daß<br />

verschiedene, einander entgegengerichtete Ideen immer zu gleicher Zeit bestehen.<br />

Vielleicht ist es so, daß sie zusammengenommen so etwas wie ein Ganzes<br />

ergeben, was allerdings nur möglich ist unter Einführung eines ihnen übergeordneten<br />

Gesichtspunktes.<br />

Die Idee eines souveränen Ich ist heute nicht mehr akzeptierbar - zu vieles spricht<br />

dagegen. So wurde ja im letzten Kapitel ausgeführt, daß man kaum von einem Ich<br />

<strong>als</strong> einer Einheit sprechen kann, denn jeder Wunsch, jedes Gedankengebilde, jedes<br />

Besitztum ist ein Ich, wobei ein einzelnes Ich mit all den anderen Ich-en in einem<br />

Individuum nicht übereinzustimmen braucht. Der Wille wird <strong>als</strong> Funktion <strong>die</strong>ses Ich-<br />

Konglomerats wahrgenommen. Da aber das Ich selbst <strong>als</strong> eine Funktion anderer<br />

Instanzen erscheint, kann man annehmen, daß <strong>die</strong> Willensfunktionen des Ich<br />

ebenfalls von anderen Instanzen hervorgebracht, gelenkt oder beeinflußt werden.<br />

5.4.1 Wille <strong>als</strong> Identifikation des Selbst mit zielgerichteten Prozessen<br />

Beginnen wir mit dem einfachsten Fall: Ich habe Hunger, Durst und bin müde. Als<br />

erstes identifiziere ich mich (d.h. eigentlich das Selbst, aber der Vorgang bleibt mir<br />

unbewußt) mit meinem Hunger; in der Regel bin ich schon identifiziert, ich tue es<br />

nicht erst, denn ich habe ja überhaupt nicht das Empfinden, daß - wie für einen<br />

unbeteiligten Beobachter - sich ein Bedürfnis bemerkbar macht, das <strong>als</strong> Hunger,<br />

Durst oder Müdigkeit zu bezeichnen ist und das zu der Frage führt, was ich tun soll.<br />

Ich fühle mich <strong>als</strong>o, wenigstens zu einem Teil, identisch mit dem in meinem<br />

Bewußtseinsfeld <strong>auf</strong>tauchenden Hungergefühl usw., und <strong>die</strong>ses Gefühl (mit dem<br />

dahinter stehenden Bedürfnis) zwingt mich zum Essen, Trinken, Schlafen. Man mag<br />

einwenden, daß man ja selber Essen, Trinken oder Schlafen will. Aber häufiger sagt<br />

185 Vgl. Schopenhauer 1968<br />

91


man wohl "ich muß etwas essen" usw., d. h. man ist sich bewußt, daß es nicht um<br />

ein freies Wollen geht. Das, was <strong>als</strong> Wille empfunden wird, ist aber sicher ebenfalls<br />

da; es ist <strong>die</strong> Identifikation mit dem Bedürfnis. Wenn man ein Bedürfnis ist, dann will<br />

man es auch befriedigen. Wenn man im Moment eigentlich etwas anderes zu tun<br />

hat, <strong>als</strong>o zu gleicher Zeit zwei verschiedene Identifikationen da sind, kann <strong>die</strong>s<br />

manchmal zu einem Konflikt zwischen zwei Willensstrebungen führen. Nun kann<br />

man sich freilich zu Tode hungern, aber man kann es nur, weil eine andere<br />

Identifikation und damit ein anderer Wille (etwa das Motiv, dadurch moralische<br />

Gewalt über andere auszuüben) stärker ist <strong>als</strong> der Hunger.<br />

Nun ist jede Bedürfnisbefriedigung in eine Situation eingebettet, und <strong>die</strong>se Situation<br />

ist in aller Regel so beschaffen, daß sie der Bedürfnisbefriedigung irgendwelche<br />

Hindernisse in den Weg legt. Ohne ein derartiges Hindernis käme es zu einer<br />

reibungslos abl<strong>auf</strong>enden, schematischen Handlung. Der Widerstand führt dazu, daß<br />

der Wunsch, das Bedürfnis, das Ziel zurückgeworfen und dadurch im Bewußtseinsfeld<br />

<strong>als</strong> ungelöstes Problem wahrgenommen wird: Der Widerstand erhöht <strong>als</strong>o <strong>die</strong><br />

Bedeutsamkeit des Bedürfnisses. Man kann <strong>die</strong>s leicht an einem Gespräch<br />

erkennen, in dem ein Widerspruch geäußert wird; sofort glaubt man, den anderen<br />

nun erst recht von der eigenen Meinung überzeugen zu müssen. Die mit dem<br />

Bedürfnis verbundene und durch den Widerstand zurückgestaute Energie kann<br />

weitere Prozesse und Energien auslösen, beispielsweise Ärger und entsprechendes<br />

Verhalten, verdoppelte Anstrengungen oder auch eine Verlagerung <strong>auf</strong> einfacher zu<br />

befriedigende Bedürfnisse. Die rückgestaute Energie und <strong>die</strong> von ihr in der<br />

psychischen Struktur ausgelösten Prozesse empfinden wir durch Identifikation <strong>als</strong><br />

unseren eigenen Willen.<br />

Da, je nach Situation und individuellen Voraussetzungen (Gesundheitsgrad oder<br />

Grad der allgemeinen Vitalität, der Intelligenz, des relevanten Vorwissens usw.), <strong>die</strong><br />

Lösung des Problems <strong>auf</strong> individuelle Weise gefunden werden muß, können wir <strong>auf</strong><br />

<strong>die</strong>ser Ebene der Identifikation auch von einem individuellen Willen oder selbstgesteuerter<br />

Aktivität sprechen. Wer ein Haustier, z. B. eine Katze hat und beobachten<br />

konnte, mit welcher Zielstrebigkeit, Hartnäckigkeit und unter Einsetzung verschiedener<br />

Strategien ein solches Tier vorgeht, wird kaum umhin kommen, ihm einen<br />

individuellen Willen zuzugestehen. Eine Katze ist zudem ein gutes Beispiel für eine<br />

Form des starken Willens; sie bleibt fixiert <strong>auf</strong> ein Ziel oder Bedürfnis und verfolgt es<br />

mit ruhiger und überlegener Ausdauer.<br />

92


Diese Überlegungen zeigen, daß der eigentliche Auslöser unserer Aktivität immer<br />

ein Bedürfnis, ein Ziel, ein Motiv zu sein scheint, mit dem man identifiziert ist. Jedes<br />

Ziel, das der Mensch verfolgt, erweckt, wie William James ausführt,<br />

"… eine gewisse spezifische Art interessierter Erregung und sammelt eine<br />

gewisse Gruppe von Vorstellungen <strong>als</strong> seine untergeordneten Assoziationen<br />

um sich; und wenn <strong>die</strong> Ziele und Erregungen ihrer Art nach verschieden sind,<br />

haben <strong>die</strong> mit ihnen verbundenen Vorstellungsgruppen u. U. wenig gemein.<br />

Wenn eine Gruppe gegenwärtig ist und das Interesse an sich reißt, können<br />

alle Vorstellungen, <strong>die</strong> mit anderen Gruppen verbunden sind, vom Rest des<br />

Bewußtseins ausgeschlossen sein. Wenn der Präsident der Vereinigten<br />

Staaten mit Paddel, Gewehr und Angelrute während des Urlaubs in der freien<br />

Natur kampiert, verändert sich sein Vorstellungssystem von oben bis unten.<br />

Die Präsidentensorgen sind völlig in den Hintergrund getreten; an <strong>die</strong> Stelle<br />

des offiziellen Benehmens tritt das Benehmen eines Sohnes der Natur, und<br />

<strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> den Mann nur <strong>als</strong> strengen Amtsträger kannten, würden,<br />

sähen sie ihn <strong>als</strong> einen Camper, in ihm nicht <strong>die</strong>selbe Person wiedererkennen.<br />

Würde er nun niem<strong>als</strong> zurückkehren und nie wieder zulassen, daß<br />

politische Interessen <strong>die</strong> Herrschaft .über ihn erlangen, würde er ein <strong>auf</strong><br />

Dauer für praktische Absichten und Zwecke transformiertes Wesen sein.<br />

Unsere alltäglichen Charakterschwankungen, wenn wir von einem Ziel zum<br />

anderen übergehen, werden gewöhnlich nicht Transformationen genannt, weil<br />

jede von ihnen so schnell einer anderen in <strong>die</strong> umgekehrte Richtung folgt;<br />

aber immer wenn ein Ziel so stabil wird, daß es seine früheren Rivalen<br />

definitiv aus dem Leben des Individuums vertreibt, neigen wir dazu, das<br />

Phänomen <strong>als</strong> eine 'Transformation' anzusprechen und vielleicht zu bestaunen."<br />

186<br />

Die Ziele, mit denen wir uns identifizieren, legen sozusagen fest, was wir sind, sie<br />

energetisieren uns und leiten unsere Tätigkeiten.<br />

5.4.2 Problem der Willensfreiheit<br />

Die bisherige Darstellung impliziert <strong>die</strong> Auffassung, daß unsere Willensfreiheit eine<br />

Fiktion sei. Man könnte einwenden, daß der Mensch sich willentlich von einem<br />

Bedürfnis oder Ziel ab- und einem anderen Bedürfnis oder Ziel zuwenden kann.<br />

Doch könnte auch <strong>die</strong> dazu notwendige Entscheidung von der psychischen Struktur<br />

her <strong>als</strong> allgemeine Regel vorprogrammiert sein, wobei das jeweils <strong>auf</strong>grund<br />

irgendwelcher Bedingungen stärkere Bedürfnis sich im Parallelogramm der Kräfte<br />

186 James 1979, S. 189.<br />

93


durchsetzt. Das subjektive Empfinden einer willentlichen Entscheidung könnte dann<br />

wiederum durch <strong>die</strong> unbewußte Identifikation mit dem stärkeren Bedürfnis erklärt<br />

werden.<br />

Richtet man den Blick von den unmittelbaren Bedürfnissen <strong>auf</strong> <strong>die</strong> verschiedenen<br />

kulturellen Überformungen der Art der Befriedigung von Bedürfnissen, dann<br />

kommen zusätzliche Motive oder Ziele ins Spiel, z. B. ästhetische oder <strong>die</strong><br />

Gesundheit betreffende Motive oder ganz einfach Gewohnheiten oder Sitten, <strong>die</strong><br />

einem selbstverständlich geworden sind. 187 Was <strong>die</strong> Gewohnheiten betrifft (z. B. drei<br />

Mahlzeiten am Tag anstelle von zweien, wie bei den alten Griechen oder heute<br />

noch bei manchen "primitiven" Völkern), brauchen wir <strong>die</strong>se nicht zu diskutieren. In<br />

der Regel gehen wir davon aus, daß ihre Befolgung keine freie Willenshandlung<br />

darstellen kann. Gewohnheiten sind Verhaltensschablonen, denen man ohne<br />

weitere Entscheidung oder Überlegung folgt. Aber bei der Art der Zubereitung von<br />

Speisen, sofern das nicht schon bloße Gewohnheit ist, und noch deutlicher bei der<br />

Auswahl einer bestimmten Speise oder auch bei der Menge des zu Essenden (hört<br />

man <strong>auf</strong>, wenn man "satt" ist, oder erst, wenn man muß) oder bei der Frage, ob man<br />

der Figur zuliebe eine Weile fasten oder nur Obst essen soll, trifft man Entscheidungen<br />

zwischen verschiedenen Möglichkeiten.<br />

Wenn wir versuchen, zwischen Entscheidungen und Gewohnheiten einen<br />

eindeutigen Unterschied zu machen, müssen wir feststellen, daß <strong>die</strong>s zwar<br />

bezüglich der Begriffe, kaum aber bezüglich der psychologischen Vorgänge möglich<br />

ist. Angenommen, wir gehen davon aus, daß eine Entscheidung eine bewußte Wahl<br />

zwischen Alternativen sei, schließt <strong>die</strong>se <strong>die</strong> Bewußtheit der Kriterien bzw. Motive<br />

ein, <strong>auf</strong>grund derer <strong>die</strong>se Wahl erfolgt? Was bedeutet aber Bewußtheit der Motive?<br />

Wenn man jemanden fragt, "warum hast du <strong>die</strong>se oder jene Wahl getroffen?", dann<br />

kann man sich mit der ersten Nennung eines Motivs zufrieden geben; man kann<br />

aber weiterfragen, warum <strong>die</strong>ses Motiv vom Betreffenden höher bewertet wird <strong>als</strong><br />

ein anderes, d. h. wir fragen nach der Bewußtheit der Hierarchie der Motive.<br />

Schließlich dürften in allen unseren Entscheidungen Motive eine Rolle spielen, <strong>die</strong><br />

der Bewußtheit nicht mehr zugänglich sind. Von Bedeutung sind weiterhin <strong>die</strong><br />

Gegebenheiten der Situation, insbesondere auch <strong>die</strong> Erwartungen anderer für<br />

unsere Entscheidungen. All <strong>die</strong>ser Faktoren und ihrer Einflüsse sind wir uns kaum<br />

jem<strong>als</strong> voll bewußt. Da wir nicht angeben können, bei welchem Grad von<br />

187 Eine differenzierte feldtheoretische Analyse zum Beispiel von Ernährungsgewohnheiten<br />

findet man bei Lewin 1982 (1943 und 1947), Bd. 4, S. 291-312.<br />

94


Bewußtheit oder Unbewußtheit wir von Gewohnheit und bei welchem wir von<br />

bewußter Entscheidung sprechen können, müssen wir fließende Übergänge<br />

annehmen und davon ausgehen, daß in allen Fällen sowohl der eine Fall wie der<br />

andere vorkommt. Die Unterscheidung muß <strong>als</strong>o recht vage bleiben und ist<br />

abhängig von unserer Bewertung der Bewußtheit der einen oder anderen Elemente<br />

(der Motive, der Situation, den Erwartungen usw.). Und selbst dann können wir nicht<br />

wissen, welchen Unterschied <strong>die</strong> Bewußtheit einzelner Elemente im Hinblick <strong>auf</strong> den<br />

Grad der Bewußtheit der psychologischen Gesamtsituation (<strong>die</strong> wir ebenfalls nicht<br />

kennen) macht.<br />

Nehmen wir nun an, jemand sei sich seiner Entscheidungen, der Wahl seiner Ziele<br />

und der ihn treibenden allgemeinen Lebensziele sehr bewußt. Gerade <strong>die</strong>se<br />

Bewußtheit wird ihm vermutlich deutlich machen, wie sehr er von den hinter <strong>die</strong>sen<br />

Zielen oder Motiven wirkenden Kräften bewegt wird, ohne sie wirklich beherrschen<br />

zu können. Man vergleiche hierzu nur einmal Bertrand Russells Lebensbekenntnis:<br />

"Drei einfache, doch übermächtige Leidenschaften haben mein Leben<br />

bestimmt: das Verlangen nach Liebe, der Drang nach Erkenntnis und ein<br />

unerträgliches Mitgefühl für <strong>die</strong> Leiden der Menschheit. Gleich heftigen<br />

Sturmwinden haben mich <strong>die</strong>se Leidenschaften bald hier-, bald dorthin<br />

geweht in einem launenhaften Zickzackkurs über ein Weltmeer von Qual<br />

hinweg bis zum letzten Rand der Verzweiflung. Nach Liebe trachtete ich,<br />

einmal, weil sie Verzückung erzeugt, eine Verzückung so gewaltig, daß ich oft<br />

mein ganzes, mir noch bevorstehendes Leben hingegeben haben würde für<br />

ein paar Stunden <strong>die</strong>ses Überschwangs. Zum anderen habe ich nach Liebe<br />

getrachtet, weil sie von der Einsamkeit erlöst, jener entsetzlichen Einsamkeit,<br />

in der ein einzelnes erschauerndes Bewußtsein über den Saum der Welt<br />

hinabblickt in den kalten, leblosen, unauslotbaren Abgrund. Und letztens habe<br />

ich nach Liebe getrachtet, weil ich in der liebenden Vereinigung, in mystisch<br />

verkleinertem Abbild, <strong>die</strong> Vorahnung des Himmels erschaute, wie er in der<br />

Vorstellung der Heiligen und Dichter lebt. Danach habe ich gesucht und<br />

wiewohl es zu schön erscheinen mag für ein Menschenleben: ich habe es -<br />

am Ende - gefunden.<br />

Mit gleicher Leidenschaft habe ich nach Erkenntnis gestrebt. Ich wollte das<br />

Herz der Menschen ergründen. Ich wollte begreifen, warum <strong>die</strong> Sterne<br />

scheinen. Ich habe <strong>die</strong> Kraft zu erfassen gesucht, durch <strong>die</strong> nach den<br />

Pythagoreern <strong>die</strong> Zahl den Strom des Seins beherrscht.<br />

Ein wenig davon, wenn auch nicht viel, ist mir gelungen. Liebe und<br />

Erkenntnis, soweit sie erreichbar waren, führten empor in himmlische Höhen.<br />

Doch stets brachte mich das Mitleid wieder zur Erde zurück. Widerhall von<br />

Schmerzensgeschrei erfüllt mein Herz: Verhungernde Kinder, gefolterte Opfer<br />

95


von Unterdrückern, hilflose alte Menschen, ihren Kindern zur verhaßten<br />

Bürde geworden - <strong>die</strong> ganze Welt der Verlassenheit, der Armut, des Leids, all<br />

das macht ein hohnvolles Zerrbild aus dem, was Menschenleben eigentlich<br />

sein soll. Es verlangt mich danach, dem Übel zu steuern, allein ich vermag es<br />

nicht und so leide auch ich.<br />

So war mein Leben. Ich habe es lebenswert gefunden, und ich würde es mit<br />

Freuden noch einmal leben, wenn sich mir <strong>die</strong> Möglichkeit dazu böte." 188<br />

So offenherzig nun <strong>die</strong>ses Bekenntnis eines großen Philosophen ist, von seinen<br />

Leidenschaften "in einem launenhaften Zickzackkurs" "bald hier-, bald dorthin<br />

geweht" worden zu sein, scheint es doch absurd, behaupten zu wollen, ein Mensch<br />

wie Russell sei von seinen Leidenschaften getrieben gewesen und habe sein Leben<br />

nicht nach eigenem Willen bestimmt.<br />

Dieser Eindruck von Absurdität mag nichts anderes sein <strong>als</strong> der Ausdruck unseres<br />

Widerstrebens, <strong>die</strong> Illusion eines eigenen Willens <strong>auf</strong>zugeben. Der individuell<br />

autonome Wille mag ein Bild sein, das wir gerne <strong>auf</strong>rechterhalten würden. Sagt man<br />

beispielsweise jemandem, er erliege einer Illusion, wenn er glaube, einen eigenen<br />

Willen zu haben, dann kann er antworten, "gut, dann kann ich Sie ja ungestraft<br />

beleidigen." Hat er damit gezeigt, daß er doch einen eigenen Willen hat, oder nur,<br />

daß er sich mit dem von der Behauptung und <strong>auf</strong>grund vorhandener "Programmierungen"<br />

ausgelösten Gefühl, nicht ernst genommen zu werden und sich wehren zu<br />

müssen, identifiziert hat? Dann wäre eben <strong>die</strong>se Identifikation der Auslöser für das<br />

Tätigwerden eines schon vorhandenen Motivs geworden, einer Willenskraft <strong>als</strong>o, <strong>die</strong><br />

er nicht wirklich beherrscht, weil der Prozeß ja weitgehend unbewußt und<br />

automatisch ablief.<br />

Russell sieht, daß <strong>die</strong> letzten Gründe seines Handelns und Wollens nicht in seinem<br />

Bewußtsein oder Ich liegen, sondern jenseits. Er erkennt <strong>die</strong>se Abhängigkeit <strong>als</strong><br />

nicht hintergehbar. Das Verlangen nach Liebe, der Drang nach Erkenntnis und das<br />

unerträgliche Mitgefühl stellen eine Gegebenheit dar, wie auch der Körper eine<br />

solche Gegebenheit ist. Derartige Gegebenheiten nehmen wir in der Regel und im<br />

Gegensatz zu Russell eher unreflektiert hin. In Russells Leben waren <strong>die</strong> drei<br />

genannten "Leidenschaften" <strong>die</strong> "übermächtigen" Motive, <strong>die</strong> sein Denken, Fühlen<br />

und Tun beherrschten. Sie stellten sozusagen <strong>die</strong> höchsten Autoritäten seines<br />

Daseins dar, <strong>die</strong> er akzeptierte und denen er sein Leben mit allem, was darin war,<br />

188 Russell 1972, Bd. 1, S. 7-8.<br />

96


unterordnete. 189 Der Raum, der durch <strong>die</strong>se "Leidenschaften", Motive oder Ziele<br />

bestimmt wird, eröffnet nahezu unendliche Möglichkeiten eines durch <strong>die</strong>se<br />

Autoritäten bestimmten Lebens; wenn <strong>die</strong>se Autoritäten <strong>als</strong> Teil des Ich akzeptiert<br />

werden, ist es ein quasi selbstbestimmtes Leben. Die Freiheit des Willens besteht in<br />

der Akzeptierung, <strong>als</strong>o im Bewußtsein von Autoritäten, <strong>die</strong> man - wenn vielleicht<br />

auch nur immer vorläufig - <strong>als</strong> höchste Instanz seines Denkens, Fühlens und Tuns<br />

anerkennt und nach deren Urteil oder vermutetem Urteil man seine Entscheidungen<br />

trifft. Und das bedeutet eigentlich eine Unterwerfung oder Hingabe an <strong>die</strong>se Ziele,<br />

Werte oder Motive.<br />

Eine bewußte Akzeptierung von übergeordneten Zielen und Werten bedeutet, daß<br />

eine gewisse Distanz zum Akzeptierten besteht, daß <strong>die</strong> Identifikation <strong>als</strong>o entweder<br />

nicht unmittelbar und automatisch erfolgt, sondern reflektiert oder, falls <strong>die</strong> Identifikation<br />

automatisch erfolgt (wenn sie sozusagen <strong>auf</strong> höherer Ebene erzwungen wird;<br />

vgl. Kap. 5.4.5), man sich ihrer zumindest nachträglich bewußt werden kann. Es<br />

handelt sich <strong>als</strong>o um eine mehr oder weniger begrenzte Bewußtheit. Und sich seiner<br />

selbst bewußt zu sein, heißt auch, zu sehen oder jedenfalls irgendwie erkennen zu<br />

können, daß man nicht selbst derjenige ist (und sein kann), der all das tut bzw.<br />

anregt, was getan wird, daß der dem vordergründigen Ich bewußte Wille eine<br />

Illusion ist und daß irgendetwas im Hintergrund jenen Willen ausmacht. Napoleon<br />

wußte <strong>die</strong>s sehr wohl. Er behauptete zwar: "Was ich bin, danke ich meiner<br />

Willensstärke, meinem Charakter, Fleiß und meiner Verwegenheit.“ 190 Doch sind <strong>die</strong><br />

Äußerungen zahlreich, in denen er dar<strong>auf</strong> hinweist, daß er sich von Kräften oder<br />

Verhältnissen gelenkt sah, über <strong>die</strong> er nicht bestimmen konnte.<br />

"Ich habe viele Pläne ausgearbeitet", sagt er, "doch konnte ich nie einen<br />

davon unbehindert durchführen. Obwohl ich das Steuer mit starker Hand hielt,<br />

waren <strong>die</strong> Wogen noch viel stärker. In Wirklichkeit war ich niem<strong>als</strong> mein<br />

eigener Herr. Ich wurde immer durch <strong>die</strong> Verhältnisse beherrscht." 191<br />

Er scheint sehr häufig <strong>die</strong>se Einsicht oder <strong>die</strong>se Empfindung des Ausgeliefertseins<br />

an einen höheren Willen gehabt zuhaben. Er sagte u. a.:<br />

" 'Ich hänge von den Ereignissen ab. Ich habe keinen Willen.' ... 'Je größer<br />

einer ist' - d. h. je höher seine Autorität ist -, 'umso weniger frei wird sein Wille<br />

189 Der Begriff der Autorität, <strong>als</strong> pädagogischer Begriff, wird hier zusätzlich für Ziel bzw.<br />

Motiv eingeführt, weil damit Möglichkeiten von Erziehung oder Bildung angedeutet<br />

werden können.<br />

190 Zit. nach Durant 1982, Bd. 17, S. 291.<br />

191 Zit. nach Durant 1982, " 17, S. 290.<br />

97


sein', umso mehr und stärker werden <strong>die</strong> Kräfte sein, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> ihn einwirken.<br />

'Man hängt von den Umständen und Ereignissen ab. Ich bin der größte<br />

Sklave unter den Menschen; mein Herr ist <strong>die</strong> Natur der Dinge.' " 192<br />

Als er <strong>auf</strong> St. Helena war, fragte er sich, ob er überhaupt jem<strong>als</strong> habe frei und<br />

schöpferisch handeln können oder ob er "das hilflose Werkzeug irgendeiner<br />

kosmischen Kraft gewesen sei."<br />

" 'Das Geschick drängt mich zu einem mir unbekannten Ziel. Bis <strong>die</strong>ses Ziel<br />

erreicht ist, bin ich unverwundbar, unangreifbar', vom Strom getragen. 'Wenn<br />

das Schicksal sein Ziel erreicht hat, mag eine Fliege hinreichen, um mich zu<br />

vernichten.' Er fühlte sich an ein großartiges, aber gefahrvolles Geschick<br />

gefesselt. Sein Stolz und <strong>die</strong> Verhältnisse trieben ihn: 'Das Geschick muß<br />

erfüllt werden.' " 193<br />

So scheint das Bewußtsein seiner selbst den Blick zu öffnen <strong>auf</strong> <strong>die</strong> unter- oder<br />

überbewußten Antriebe unseres Handelns. Die Antriebe selbst mögen im Dunkeln<br />

bleiben, aber man entdeckt, daß man ohne sie ein Nichts wäre und daß der<br />

individuelle Wille nur durch <strong>die</strong> Anerkennung und Akzeptierung jener höheren<br />

Autorität etwas ist oder sein kann. Wenn wir uns mit jenen Kräften identifizieren,<br />

scheint es, <strong>als</strong> seien wir es selbst gewesen, <strong>die</strong> jene Handlungen vollbrachten.<br />

Das Problem des freien Willens ist im Verl<strong>auf</strong> der Geistesgeschichte in so vielfältiger<br />

Weise behandelt worden, daß es im Rahmen <strong>die</strong>ses Abschnitts unmöglich ist,<br />

ausführlicher dar<strong>auf</strong> einzugehen. Die hier vertretene Auffassung scheint in mancher<br />

Hinsicht mit derjenigen Spinozas übereinzustimmen. Für Spinoza ist der Wille <strong>die</strong><br />

jeweils stärkste Begierde und unsere Freiheit besteht darin, unseren Begierden<br />

Ausdruck zu geben. Wir sind sozusagen unsere Begierde.<br />

"Es gibt in der Seele keinen unbedingten oder freien Willen, sondern <strong>die</strong><br />

Seele wird bestimmt, <strong>die</strong>s oder jenes zu wollen, von einer Ursache, <strong>die</strong><br />

ebenfalls von einer anderen und so weiter bis ins Unendliche."194<br />

"Die Menschen meinen frei zu sein, da sie sich ihres Wollens und ihrer Triebe<br />

bewußt sind und an <strong>die</strong> Ursachen, von denen sie veranlaßt werden, etwas zu<br />

erstreben oder zu wollen .... nicht denken!"195<br />

192 Zit. nach Durant 1982, " 17, S. 308.<br />

193 Zit. nach Durant 1982, " 17, S. 309.<br />

194 Spinoza, Ethik, II, S. 48.<br />

195 Ebenda, I, Anhang.<br />

98


Spinoza vergleicht unseren Willen mit der Vorstellung, <strong>die</strong> ein durch den Raum<br />

geschleuderter Stein haben könnte, wenn er dächte, er bewege sich und falle, weil<br />

er es so wolle. 196<br />

Wenn uns letztlich auch nur <strong>die</strong> Illusion eines freien Willens möglich sein sollte, so<br />

gibt es doch einen Unterscheid zwischen völligem Ausgeliefertsein an vitale Impulse<br />

und der relativen Freiheit, <strong>die</strong> in der Bewußtheit und der Hingabe an übergeordnete,<br />

"höhere" Motive besteht. Ähnlich meint auch Bergson, daß wir frei sind, insofern es<br />

uns gelingt, uns mit jenen Kräften zu identifizieren, <strong>die</strong> unsere Persönlichkeit in<br />

vollkommenem Einklang bestimmen, wenn es uns gelingt, sie durch uns wirken zu<br />

lassen, ohne daß sie durch andere Kräfte oder Motive gestört werden, d.h. wenn es<br />

uns gelingt, ganz wir selbst zu sein:<br />

"Wir sind frei, wenn unsere Handlungen aus unserer ganzen Persönlichkeit<br />

hervorgehen, wenn sie sie ausdrücken, wenn sie jene undefinierbare Ähnlichkeit<br />

mit ihr haben, wie man sie zuweilen zwischen dem Kunstwerk und<br />

seinem Schöpfer findet." 197<br />

Wenn nun auch der Wille nichts anderes ist <strong>als</strong> das Bewußtsein der Wirkung uns<br />

verborgener Ursachen (oder Motive), könnte es doch wenigstens zum Teil möglich<br />

sein, sich darüber zu erheben, sich von "der Knechtschaft der Begierden" ein Stück<br />

weit zu befreien und durch vernunftgemäße Einsicht eine Art von übergeordnetem<br />

Willen zu entfalten. 198<br />

Wenn das möglich ist, dann erfordert es ein Bewußtsein, das nicht einfach nur das<br />

Bewußtsein unseres Ich sein kann. Denn <strong>die</strong> Entwicklung übergeordneter Willensfunktionen<br />

setzt voraus, daß Wille und Bewußtsein nicht eine undifferenzierte<br />

Einheit bilden, sondern daß es hierarchisch geordnete Formen des Willens und<br />

Bewußtseins gibt. Auf <strong>die</strong>se Weise können hierarchisch niedere Funktionen von<br />

hierarchisch höheren gesteuert und verändert werden. Das verborgene Wirken<br />

höherer Funktionen kann es beispielsweise verständlicher machen, warum<br />

Menschen manchmal Ratschlägen oder Vorbildern folgen, <strong>die</strong> sie in eine Richtung<br />

drängen, <strong>die</strong> ihren momentanen Wünschen zu widersprechen scheint. Denn <strong>die</strong><br />

Entwicklung des Willens erfordert <strong>die</strong> Anerkennung oder Einsicht in <strong>die</strong> Autorität<br />

eines höheren Willens. In <strong>die</strong>sem Sinne äußerte sich Goethe gegenüber Eckermann:<br />

196 Vgl. Spinoza, Briefwechsel, LVIII, S. 236.<br />

197 Bergson 1911, S. 135-136.<br />

198 Vgl. Spinoza, Ethik, Buch V.<br />

99


"Nicht das macht frei, daß wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern<br />

eben daß wir etwas verehren, das über uns ist. Denn indem wir es verehren,<br />

heben wir uns zu ihm hin<strong>auf</strong> und legen durch unsere Anerkennung an den<br />

Tag, daß wir selber das Höhere in uns tragen und wert sind seinesgleichen zu<br />

sein. Ich bin bei meinen Reisen oft <strong>auf</strong> norddeutsche K<strong>auf</strong>leute gestoßen,<br />

welche glaubten meinesgleichen zu sein, wenn sie sich roh zu mir an den<br />

Tisch setzten. Dadurch waren sie es nicht, allein sie wären es gewesen, wenn<br />

sie mich hätten zu schätzen und zu behandeln gewußt." 199<br />

5.4.3 Einheitlicher und geteilter Wille<br />

Wenn nun <strong>die</strong> Identifikation mit einem übergeordneten Ziel (wobei das Ziel durch<br />

Identifikation damit zum Motiv wird oder werden kann) erfolgt, dann bedeutet <strong>die</strong>s<br />

nicht, daß nicht gleichzeitig auch andere Identifikationen bestehen können. Wir<br />

sagten ja (in Kap. 5.3), daß das Ich sich prinzipiell mit allem identifizieren kann, was<br />

in das Bewußtseinsfeld gelangt. Es gibt keinen Glauben, keine Lehre, keine<br />

Dogmen, <strong>die</strong> zu abstrus wären, <strong>als</strong> daß sie nicht Einzelnen oder Gruppen <strong>als</strong><br />

Leitbild hätten <strong>die</strong>nen können und für deren Verteidigung Menschen nicht<br />

bereitwillig ihr Leben hingegeben hätten. Wenn <strong>die</strong> Identifikation mit dem jeweils<br />

höchsten individuellen Ziel oder Ideal stärker ist <strong>als</strong> alle anderen Identifikationen,<br />

können wir von einem einheitlichen oder vereinheitlichten Willen sprechen. Es ist<br />

klar, daß Einheit zugleich Stärke bedeutet, da es dann ja keine Widersprüche zu<br />

überwinden gilt.<br />

Die Stärke des Willens ist somit abhängig von der Stärke der Identifikation mit<br />

einem Ziel. So sind Menschen, <strong>die</strong> über einen starken Glauben an ihre Ideale<br />

verfügen, kaum von ihren Zielen abzubringen, und sie ordnen <strong>die</strong>sen alles andere in<br />

ihrem Leben unter. Was in ihnen wirkt, sind jene psychischen Kräfte, <strong>die</strong> mit <strong>die</strong>sen<br />

Idealen verbunden sind und <strong>die</strong> durch Identifikation damit zum eigenen Willen<br />

werden.<br />

Manchen Menschen scheint eine in sich harmonische Motivstruktur angeboren zu<br />

sein, während andere in sich zerrissen sind und mit gegensätzlichen Tendenzen zu<br />

kämpfen haben. William James, der <strong>die</strong>ses Thema des geteilten und vereinheitlichten<br />

Willens in aller Breite behandelt hat, meint bezüglich des ersteren:<br />

199 Eckermann 1976, 18. Januar 1827, S. 216f.<br />

100


"Es gibt Leute, deren Existenz wenig mehr <strong>als</strong> eine Reihe von Zickzacksprüngen<br />

ist, je nachdem jetzt <strong>die</strong> eine und dann <strong>die</strong> andere Tendenz <strong>die</strong><br />

Oberhand gewinnt ... Sie streben nach Unvereinbarem, launische Einfälle<br />

unterbrechen ihre wohlüberlegten Pläne und ihr Leben ist ein langes Drama<br />

der Reue und angestrengter Versuche, Pannen und Fehler zu reparieren." 200<br />

Das im folgenden zitierte Beispiel von Augustinus zeigt sehr klar, wie <strong>die</strong> Annahme<br />

bzw. <strong>die</strong> Hingabe an ein "neues" in der Hierarchie höherstehendes Ziel bei gleichzeitigem<br />

Fortbestehen der "alten" Ziele, <strong>die</strong> zu Gewohnheiten geworden sind, zu<br />

einem solchen inneren Kampf führt.<br />

"Der neue Wille aber, der in mir <strong>auf</strong>keimte, ... war noch nicht hinreichend, den<br />

früheren, den <strong>die</strong> Länge der Zeit hatte baumstark werden lassen, zu<br />

besiegen. So war ein doppelter Wille in mir, ein alter und ein neuer, ein Wille<br />

des Fleisches und ein Wille des Geistes, und sie lagen miteinander im Streit,<br />

und ihr Zwist riß mir <strong>die</strong> Seele entzwei. So verstand ich nun aus eigenem<br />

Erleben, was ich gelesen hatte, daß 'das Fleisch wider den Geist begehrt und<br />

der Geist wider das Fleisch'. Natürlich war ich in beidem zu Hause, aber in<br />

höherem Grade doch in dem, was ich an mir gut fand, <strong>als</strong> in dem, worin ich<br />

mir schlecht vorkam. In letzterem nämlich war ich schon in geringerem Grade<br />

ich selbst, da ich es großenteils nur widerwillig über mich ergehen ließ, statt<br />

es aus Überzeugung zu tun. Aber aus mir selbst war es ja soweit gekommen,<br />

daß <strong>die</strong> Gewöhnung hartnäckiger ihr Recht gegen mich verlangte; denn es<br />

war ja mein Wille, der mich dorthin hatte kommen lassen, wohin ich nicht<br />

hätte verlangen sollen. ... So war ich denn von der Last der Welt, wie es<br />

einem oft im Schlaf vorkommt, angenehm bedrückt, und mein Denken, das<br />

ich <strong>auf</strong> Dich richtete, war ähnlich dem Tun derer, <strong>die</strong> sich ganz dem Schlafe<br />

entwinden wollen, aber immer wieder <strong>auf</strong>s neue darein versinken, von der<br />

Tiefe ihres Schlafes bezwungen. Und wie es niemand gibt, der ständig<br />

schlafen wollte, und wie es nach dem allgemeinen Urteil der Vernunft doch<br />

besser ist, zu wachen, wie aber der Mensch dennoch zögert, den Schlaf von<br />

sich zu tun, wenn er ihm bleischwer in den Gliedern sitzt, ja, wie er, obgleich<br />

es ihm nicht recht wohl dabei ist, dennoch nur ungern von ihm lassen will,<br />

mag <strong>die</strong> Zeit zum Aufstehen ihn noch so bedrängen: nicht anders stand es<br />

auch für mich absolut fest, daß es besser wäre, Deiner Liebe zu pflegen <strong>als</strong><br />

meinem eigenen Lustbegehren zu folgen; aber jenes gefiel mir und obsiegte<br />

in meinem Denken, <strong>die</strong>ses aber war mir angenehm und ließ mich nicht los.<br />

Denn nichts hatte ich dir zu antworten gewußt, <strong>als</strong> Du zu mir sprachst:<br />

'Erhebe dich, du Schläfer, ...' Und da Du mir immer wieder <strong>die</strong> Wahrheit<br />

Deiner Worte bezeugtest, so fand ich ... keine andere Antwort, <strong>als</strong> <strong>die</strong> trägen,<br />

schlafseligen Worte: 'Ja, gleich, nur ein wenig noch!' Aber jenes 'ja, gleich'<br />

sollte nicht 'gleich' sein, und jenes 'ein wenig noch' sollte noch lange dauern.<br />

200 James 1979, 5. 168.<br />

101


Woher <strong>die</strong>ser unglaubliche Zustand? Warum war <strong>die</strong>s möglich? Die Seele ...<br />

befiehlt, daß sie will; sie könnte es nicht befehlen, wenn sie es nicht wollte,<br />

doch sie tut es nicht, was sie befiehlt. Aber sie will es nicht in ihrer Ganzheit,<br />

und so gebietet sie es auch nicht aus ihrer Ganzheit; denn sie gebietet nur,<br />

insoweit sie will, und insoweit wird auch nicht vollzogen, was sie gebietet,<br />

insoweit sie nicht will ..." 201<br />

Der sich widerstreitende, der geteilte Wille ist sozusagen der Normalzustand des<br />

Menschen. Wie Buridans Esel weiß er manchmal nicht recht, welchem Büschel Heu<br />

er sich zuwenden soll.<br />

"Wir werden", so drückt Spinoza es aus, "von äußeren Ursachen <strong>auf</strong> viele<br />

Weisen bewegt und schwanken hierhin und dorthin wie <strong>die</strong> von entgegengesetzten<br />

Winden bewegten Wellen ..., unkundig des Ausgangs und unseres<br />

Schicks<strong>als</strong>." 202<br />

Selbstbeobachtung kann dem Einzelnen widerstreitende Willenstendenzen erkennbar<br />

machen. Man erfährt <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Weise den Willen oder <strong>die</strong> Kräfte, <strong>die</strong> einen<br />

antreiben, <strong>als</strong> etwas Äußeres oder Fremdes und man erkennt, daß eine Willenstendenz<br />

nur durch Identifikation des Ich mit <strong>die</strong>ser Tendenz zum eigenen Willen<br />

wird. Aber das ist nur ein Aspekt und sehr viel bedeutsamer scheint, daß es<br />

offenbar irgendwo eine Instanz im Individuum gibt, <strong>die</strong> weiß, welches <strong>die</strong> "richtige"<br />

Entscheidung, <strong>die</strong> "richtige" Identifikation ist oder wäre und <strong>die</strong>, zumindest eine<br />

Weile, ein Gefühl der Unzufriedenheit oder Trauer erzeugt, wenn man <strong>die</strong> f<strong>als</strong>che<br />

Entscheidung getroffen hat.<br />

Das heißt jedoch nicht, daß bei allen Individuen ein Bewußtsein oder auch nur eine<br />

Ahnung <strong>die</strong>ser Instanz oder ihrer "Hinweise" vorhanden sein müßte. Manche Menschen<br />

haben es besonders schwer, während für andere alles ganz einfach scheint.<br />

Letzteren genügt oft eine kurze und einmalige Entscheidung zur Identifikation mit<br />

einer bestimmten Auffassung oder Einstellung, und <strong>die</strong>s führt zur völligen Änderung<br />

ihres Lebens, so "wie <strong>die</strong> reife Frucht bei der leisesten Berührung zu Boden fällt." 203<br />

William James zitiert <strong>als</strong> Beispiel hierfür aus Horace Fletchers Buch "Menticulture".<br />

204<br />

Fletcher berichtet von den Folgen eines Gesprächs mit einem im<br />

Zen-Buddhismus erfahrenen Freund:<br />

201 Augustinus, Ausg. 1963, B. Buch Kap. 5 - 9 (gekürzt), S. 163f.<br />

202 Spinoza, Ethik III, S. 59, Anm.<br />

203 James 1979, S. 176, dem ich auch das folgende Zitat entnehme.<br />

204 Horace Fletcher, Menticulture or the ABC of True Living, 1899, S. 26-36 abgekürzt, zit.<br />

nach James 1979, S. 177ff.<br />

102


"Du mußt erst Kummer und Ärger loswerden.' 'Aber', sagte ich, 'ist das<br />

möglich?' 'Ja', antwortete er, 'es ist den Japanern möglich und muß auch für<br />

uns möglich sein.' Auf meinem Rückweg konnte ich an nichts anderes denken<br />

<strong>als</strong> an <strong>die</strong> Worte 'loswerden, loswerden'; und <strong>die</strong> Idee muß mich auch<br />

während des Schlafes weiter beschäftigt haben, denn das erste Bewußtsein<br />

am Morgen enthielt wieder denselben Gedanken zusammen mit der<br />

Enthüllung einer Einsicht, <strong>die</strong> sich <strong>als</strong> <strong>die</strong> Überlegung darstellte: 'Wenn es<br />

möglich ist, Kummer und Ärger loszuwerden, warum ist es dann notwendig,<br />

sie überhaupt zu haben?' Ich empfand <strong>die</strong> Stärke des Argumentes und<br />

akzeptierte den Gedanken sofort. Das Baby hatte entdeckt, daß es l<strong>auf</strong>en<br />

konnte. Es hatte keine Lust mehr, weiterhin zu kriechen. Mit dem Augenblick,<br />

in dem ich erkannte, daß <strong>die</strong>se Krebsflecken von Kummer und Ärger entfernt<br />

werden konnten, verließen sie mich. Mit der Entdeckung ihrer Schwäche<br />

waren sie ausgetrieben. Von <strong>die</strong>ser Zeit an gewann das Leben ein völlig<br />

anderes Aussehen. Obwohl es für mich von <strong>die</strong>sem Moment an eine Realität<br />

war, daß Freiheit von niederdrückenden Leidenschaften möglich und<br />

wünschenswert sei, brauchte ich einige Monate, um mich in meiner neuen<br />

Position absolut sicher zu fühlen; aber wie sich nun <strong>die</strong> gewöhnlichen<br />

Gelegenheiten für Kummer und Ärger immer wieder einstellten und ich für<br />

<strong>die</strong>se Gefühle gänzlich unanfällig blieb, fürchtete ich sie nicht mehr, nahm<br />

mich vor ihnen nicht mehr in acht und bin erstaunt über meine Kraft,<br />

Situationen aller Art zu bestehen, und über meine Neigung, alle Dinge zu<br />

lieben und ihre Art zu schätzen.<br />

Seit jenem Morgen hatte ich Bahnreisen von insgesamt mehr <strong>als</strong> 10.000<br />

Meilen zu machen. Ich habe <strong>die</strong>selben Schlafwagenschaffner, Zugführer,<br />

Hotelkellner, Hausierer, Zeitschriftenhändler, Taxifahrer u.a., <strong>die</strong> früher förmlich<br />

eine Quelle von Belästigungen und Ärger waren, wiedergetroffen, kann<br />

mich aber an keine einzige Unhöflichkeit erinnern. Mit einem Mal hat sich mir<br />

<strong>die</strong> ganze Welt zum Guten gewandelt. Ich fühle sozusagen nur noch <strong>die</strong><br />

Strahlen des Guten. Ich könnte viele Erfahrungen berichten, <strong>die</strong> eine völlig<br />

neue Geistesverfassung beweisen, aber eine wird ausreichen. Ohne das<br />

geringste Gefühl von Ärger oder Ungeduld habe ich einen Zug, dessen<br />

Benutzung ich mit vielen interessierten und angenehmen Vorgefühlen geplant<br />

hatte, ohne mich aus dem Bahnhof fahren sehen, weil mein Gepäck nicht<br />

ankam. Der Gepäckträger des Hotels kam im L<strong>auf</strong>schritt und außer Atem <strong>auf</strong><br />

dem Bahnsteig an, gerade <strong>als</strong> der Zug den Blicken entschwand. Als er mich<br />

sah, guckte er, <strong>als</strong> wenn er Schelte fürchtete, und fing an zu erzählen, daß er<br />

in einer vollen Straße <strong>auf</strong>gehalten worden sei und nicht habe herauskommen<br />

können. Als er zu Ende war, sagte ich zu ihm: 'Es macht nichts, Sie können<br />

nichts dafür, wir werden es morgen noch einmal versuchen. Hier ist Ihr Lohn,<br />

es tut mir leid, daß Sie ihn mit so viel Mühe ver<strong>die</strong>nen mußten.' Der Ausdruck<br />

des Erstaunens, der sich über seinem Gesicht ausbreitete, war so mit Freude<br />

gefüllt, daß ich für <strong>die</strong> Verzögerung meiner Abreise <strong>auf</strong> dem Fleck entschädigt<br />

103


war. Am nächsten Tag wollte er keinen Cent für <strong>die</strong> Dienstleistung annehmen,<br />

und er und ich sind Freunde fürs Leben.<br />

Während der ersten Wochen meiner neuen Erfahrung war ich nur wachsam<br />

gegen Kummer und Ärger; mittlerweile habe ich aber das Fehlen der anderen<br />

niederdrückenden und kleinmachenden Leidenschaften bemerkt, fing an, eine<br />

Beziehung herzustellen, und bin nun überzeugt, daß sie alle Auswüchse jener<br />

beiden Wurzeln sind, <strong>die</strong> ich angegeben habe. Ich habe jetzt <strong>die</strong> Freiheit so<br />

lange genossen, daß ich mir meiner Beziehung zu ihr sicher bin; und ich<br />

könnte den <strong>die</strong>bischen niederdrückenden Einflüssen, <strong>die</strong> ich einst <strong>als</strong> Erbe<br />

der Gattung bei mir nährte, ebensowenig mehr Obdach gewähren, wie sich<br />

ein <strong>auf</strong> sein Äußeres bedachter Mensch freiwillig in einer schmutzigen Gosse<br />

wälzen würde."<br />

James schildert auch andere Fälle und verdeutlicht dadurch <strong>die</strong> unterschiedlichen<br />

Formen, <strong>die</strong> das Wirken des Willens in verschiedenen Naturen annehmen kann. Ob<br />

<strong>die</strong>se Fälle nun einfach sind (wie bei Horace Fletcher) oder kompliziert und mit<br />

inneren wie äußeren Kämpfen (wie bei Augustinus, Tolstoi oder John Bunyan -<br />

letzterer war ein in England sehr bekannter Priester und Prediger des 17. Jhts.),<br />

immer zeigt sich, daß der "eigene" Wille ein abgeleiteter Wille ist und <strong>die</strong> eigene<br />

Entscheidung in einer Art Zustimmung besteht, jenen Willen bzw. jenes Motiv oder,<br />

was dasselbe wäre, jene psychische Kraft in oder durch sich wirken zu lassen.<br />

Ein anderes Beispiel eines einheitlichen Willens und eines <strong>auf</strong>grund <strong>die</strong>ser Einheit<br />

starken Willens finden wir am Beispiel Napoleons, der von sich selber sagte, daß er<br />

immer arbeitete: "... ich arbeite beim Essen, ich arbeite im Theater, mitten in der<br />

Nacht wache ich <strong>auf</strong> und arbeite." 205 Er widmete sich seinen Aufgaben mit solcher<br />

Konzentration, daß seine nächsten Untergebenen <strong>die</strong>ses Tempo nur jeweils wenige<br />

Jahre durchhielten. Wenn er Briefe diktierte, so verbrauchte er keine Zeit mit<br />

Überlegungen zwischen den Sätzen. Es war Schwerstarbeit, sein Sekretär zu sein.<br />

Man zählt allein 41.000 veröffentlichte Briefe. Goethe und Lord Acton waren der<br />

Meinung, "Napoleons Geist sei der größte, den <strong>die</strong> Welt jem<strong>als</strong> hervorgebracht<br />

habe." Meneval, einer seiner Sekretäre, schrieb ihm "den schärfsten Verstand [zu],<br />

der jem<strong>als</strong> einem menschlichen Wesen gewährt worden ist." Und Taine, einer seiner<br />

schärfsten Gegner, bewunderte seine Fähigkeit zu andauernder, intensiver geistiger<br />

Arbeit. "Man hat", meinte er, "niem<strong>als</strong> ein so diszipliniertes und selbstbeherrschtes<br />

Gehirn gesehen." 206<br />

So mag es nicht verwundern, daß solch ein Mann in nicht<br />

205 Zit. nach Durant 1982, Bd. 17, S. 287. Hinweise <strong>auf</strong> Quellen und weitere Literatur siehe<br />

ebenda.<br />

206 Ebenda.<br />

104


einmal zwanzig Jahren ganz Europa umgestaltete, das Rechtswesen neu ordnete,<br />

eine zuverlässige, effektive Verwaltung <strong>auf</strong>baute, wie man sie erst aus späteren<br />

Zeiten wieder kennt und vieles andere mehr. Es kommt hier nur <strong>auf</strong> den<br />

unbestreitbar enormen Umfang der Leistungen an, es geht nicht um ihre Bewertung.<br />

Eine solch unerhörte Leistungsfähigkeit war Napoleon möglich, weil seine schon an<br />

sich außergewöhnlichen Fähigkeiten seinem Willen beliebig zu Gebote standen.<br />

Das soll heißen, daß es in ihm keinen Streit oder Zweifel darüber gab, was er tun<br />

sollte oder wollte, vielmehr schien alles zu funktionieren, wie von einer einzigen<br />

Befehlszentrale geleitet. Das mag einem General entsprechen, aber es wird selten<br />

einen geben, bei dem es tatsächlich so ist. "Er erklärte, seine vielen verschiedenen<br />

Angelegenheiten seien in seinem Kopf oder Gedächtnis geordnet, wie in einem<br />

Schrank mit vielen Fächern: 'Wenn ich meine Gedanken von einer Sache abwenden<br />

will, so schließe ich das Fach, in dem sie liegt und öffne ein anderes ... Wenn ich<br />

schlafen möchte, so schließe ich alle Fächer und bin rasch eingeschlafen:" 207 So ist<br />

es zu verstehen, daß er trotz <strong>die</strong>ser rastlosen Aktivität selten weniger <strong>als</strong> sieben<br />

Stunden pro Tag schlief und meist noch einmal kurz zwischendurch. 208<br />

Diese<br />

beliebige Verfügbarkeit aller Leistungen von Körper und Verstand ist nur möglich,<br />

wenn keine Zeit und Kraft für das Ordnen von hin- und hervagabun<strong>die</strong>renden<br />

Gedanken verbraucht werden muß.<br />

In ähnlicher Weise schien Napoleon fähig, seine Gefühle zu beherrschen und nicht<br />

oder jedenfalls kaum von ihnen beherrscht zu sein. Er konnte wohl über den Tod<br />

seiner Generale Tränen weinen und doch gleichzeitig sein Frühstück einnehmen. 209<br />

Aber er sagte auch:<br />

"Ich habe in Schlachten komman<strong>die</strong>rt, in denen das Schicksal ganzer Armeen<br />

entschieden wurde, und ich habe keinerlei Gefühlsregung verspürt. Ich habe<br />

<strong>die</strong> Ausführung von Manövern beobachtet, <strong>die</strong> das Leben von vielen unter<br />

uns fordern mußten und meine Augen blieben trocken." 210<br />

Im persönlichen Umgang mit seinen Soldaten und Untergebenen war er eher<br />

liebenswürdig. Offenbar konnte er seine Gefühle ebenso wie <strong>die</strong> der anderen relativ<br />

unbeteiligt beobachten und sie, wenn sie nicht völlig beherrschbar waren, abl<strong>auf</strong>en<br />

207 Zit. nach Durant 1982, Bd. 17, S. 287.<br />

208 Ebenda.<br />

209 Ebenda, S. 293<br />

210 Ebenda, S. 299.<br />

105


lassen und sich mit einem Teil seiner Persönlichkeit darüber hinwegsetzen, seinen<br />

eigentlichen, d. h. höherrangigen Zielen gehorchend.<br />

Man kann aus <strong>die</strong>ser Beschreibung schließen, daß Napoleon nicht wie <strong>die</strong> meisten<br />

Menschen in seinem Ich, jenem fluktuierenden, sich ständig wandelnden Gebilde,<br />

von Augenblick zu Augenblick lebte, sondern wesentlich in dem, was wir oben (Kap.<br />

5.3.4) <strong>als</strong> personales Selbst bezeichneten. Selbst-Bewußtheit bedeutet, daß man<br />

beobachten oder erkennen kann, was innerlich vor sich geht. Solche Bewußtheit ist<br />

damit eine wesentliche Voraussetzung für <strong>die</strong> Koordinierung und Steuerung von<br />

Teilprozessen unter übergeordneten Kriterien.<br />

5.4.4 Wille und Anstrengung<br />

Ein weiteres Problem besteht in der Beziehung von Wille und Anstrengung. Was<br />

bedeutet Anstrengung im Sinne einer bewußten oder mentalen Willenshandlung?<br />

Angenommen, man hat sich für einen Tag vorgenommen, eine bestimmte Anzahl<br />

von Seiten zu schreiben und sich nicht durch irgendwelche anderen Dinge, Personen<br />

oder Gedanken ablenken zu lassen. Man setzt sich an seinen Schreibtisch,<br />

das leere Blatt Papier vor Augen und den Füller in der Hand. Man weiß zwar,<br />

worüber man schreiben will, aber <strong>die</strong> Gedanken wollen nicht folgen, der Kopf<br />

scheint entweder leer oder <strong>die</strong> Gedanken, <strong>die</strong> man mit soviel Mühe aneinanderreiht,<br />

scheinen uninteressant und hohl und so ganz und gar nicht das, was man<br />

beabsichtigt. Diese offenbare Nutzlosigkeit der Anstrengung führt dazu, daß man<br />

schnell ermüdet, daß andere Gedanken, Ereignisse oder Geräusche in das<br />

Bewußtseinsfeld drängen. Man ertappt sich träumend und Füller-kauend, und es<br />

scheint schwerer <strong>als</strong> zuvor, sich wieder <strong>auf</strong> seine Aufgabe zu konzentrieren.<br />

Was ist geschehen, was ist f<strong>als</strong>ch gel<strong>auf</strong>en? Der entscheidende Punkt, der für das<br />

Entstehen der geschilderten Situation verantwortlich ist, dürfte in der alltagspsychologischen<br />

Annahme bestehen, daß der Wille eine Kraft sei, über <strong>die</strong> der einzelne frei<br />

verfügen könne; es komme nur dar<strong>auf</strong> an, <strong>die</strong> im Bewußtseinsfeld abl<strong>auf</strong>enden<br />

Prozesse zu koordinieren, d. h. durch Willenskraft zu steuern. Anstrengung bedeutet<br />

<strong>als</strong>o, das, was zu tun ist, bewußt zu tun, Stück für Stück, Wort für Wort, Gedanke für<br />

Gedanke selbst, mit bewußter Lenkung zu konstruieren. Es ist so, <strong>als</strong> wollte man<br />

anstatt einfach zu gehen, jede dazu nötige Bewegung bewußt aus sich selbst<br />

hervorbringen und nichts ohne seine Aufmerksamkeit geschehen lassen. Diese<br />

106


willentliche Lenkung wird alltagspsychologisch ebenfalls <strong>als</strong> vom Bewußtseinsfeld<br />

bewirkt vorgestellt. Bedenkt man nun, wie begrenzt das Bewußtseinsfeld ist und daß<br />

es uns kaum möglich ist, uns auch nur für eine Minute vor dem Auftauchen nicht<br />

gewollter Gedanken in <strong>die</strong>sem Feld zu schützen, dann wird verständlich, daß <strong>die</strong><br />

Steuerung einer Tätigkeit durch <strong>die</strong>ses begrenzte Bewußtsein nur innerhalb sehr<br />

enger Grenzen erfolgreich sein kann. Eine Folge des so verstandenen Willens ist<br />

auch, daß man sich dadurch in seinen Fähigkeiten stark eingeengt fühlt (und auch<br />

ist); man erfährt, daß man nahezu unfähig ist, einen Gedanken zu konstruieren,<br />

wenn er einem nicht einfällt.<br />

Die Schwierigkeit, seine Gedanken willentlich in dem Sinne zu beherrschen, daß<br />

man nur eine einzige in sich zusammenhängende und schlüssige Gedankenkette im<br />

Bewußtseinsfeld sich ereignen läßt, wird anschaulich von Huxley am Beispiel einer<br />

außergewöhnlichen Persönlichkeit (Abbé Joseph, <strong>die</strong> "Graue Eminenz" hinter oder<br />

neben Kardinal Richelieu) beschrieben, und zwar am Versuch, so zu beten, daß das<br />

Bewußtsein ausschließlich von <strong>die</strong>sem Gebet erfüllt ist und nichts anderes sich<br />

dazwischendrängen kann.<br />

"Mehr <strong>als</strong> fünfundzwanzig Jahre waren vergangen, seit Pater Benet aus<br />

Canfield ihn beten gelehrt hatte. Mehr <strong>als</strong> fünfundzwanzig Jahre - und sein<br />

Geist war noch nicht völlig unter Kontrolle, <strong>die</strong> Teufel der Ablenkung hatten<br />

manchmal immer noch <strong>die</strong> Macht, sogar in das Heiligtum des Gebetes<br />

einzudringen. Es gab kein anderes wirkliches Mittel dagegen <strong>als</strong> <strong>die</strong> Gnade<br />

Gottes. Inzwischen konnte man nur beschließen, <strong>die</strong> ablenkenden Gedanken<br />

zu verbannen, wann immer sie den Weg durch <strong>die</strong> Schutzmauern fanden.<br />

Wenn man in <strong>die</strong>sem Kampf hartnäckig blieb, wenn man hart und geduldig<br />

daran arbeitete, würde das zweifelsohne <strong>als</strong> Ver<strong>die</strong>nst angerechnet werden.<br />

Gott kannte <strong>die</strong> Schwächen, <strong>die</strong> man hatte, und <strong>die</strong> Anstrengungen, <strong>die</strong> man<br />

machte, um sie zu überwinden." 211 (Huxley verwendet insgesamt zwölf Seiten<br />

dar<strong>auf</strong>, dem Leser eindringlich und lebendig <strong>die</strong>se Schwierigkeiten vor Augen<br />

zu stellen.)<br />

Willenskraft, <strong>die</strong> man vom Bewußtseinsfeld her <strong>auf</strong>recht zu erhalten sucht, ist kräftezehrend<br />

und wenig wirkungsvoll. Die angestrengte Aktivität läßt nur wenig Raum für<br />

das Wirken der durch <strong>die</strong> Identifikation mit einem Ziel bewegten Kräfte, es drängt<br />

<strong>die</strong>se sozusagen in den Hintergrund. Diese Kräfte sind es ja, <strong>die</strong> <strong>die</strong> eigentliche<br />

Arbeit tun, und nur <strong>die</strong> Ergebnisse <strong>die</strong>ser Arbeit erscheinen im Bewußtseinsfeld.<br />

Wenn man über etwas spricht, weiß man nicht im vorhinein, wie man im einzelnen<br />

211 Huxley 1982 (11944), S. 11.<br />

107


argumentieren und formulieren wird. Das wirklich erstaunliche ist, daß <strong>die</strong> Argumente<br />

und Formulierungen plötzlich da sind. In seinem Aufsatz "Über <strong>die</strong> allmähliche<br />

Verfertigung der Gedanken beim Reden" beschreibt Kleist <strong>die</strong>sen Vorgang:<br />

"Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, <strong>die</strong> mit dem, was ich<br />

suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist<br />

damit den Anfang mache, das Gemüt, während <strong>die</strong> Rede fortschreitet, in der<br />

Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene<br />

Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß <strong>die</strong> Erkenntnis, zu<br />

meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist." 212<br />

Der Wille - und das stimmt ganz mit unseren Ausführungen weiter oben überein ist<br />

eher eine nicht bewußte, nicht persönliche Kraft. Es ist aber möglich, sich <strong>die</strong>se<br />

Kraft nutzbar zu machen. Beherrscht man <strong>die</strong>s, dann scheint der Prozeß der Durchführung<br />

einer Aufgabe mit Leichtigkeit abzul<strong>auf</strong>en. Die Aktivität wird gespeist und im<br />

wesentlichen auch inhaltlich gelenkt und <strong>auf</strong>rechterhalten von Ereignissen oder<br />

Bewußtseinsbereichen hinter unserem allzu begrenzten Bewußtseinsfeld.<br />

Es sieht nun fast so aus, <strong>als</strong> wäre der Wille, da er ja doch nie wirklich unser eigener<br />

zu sein scheint oder es doch nur in unserer Vorstellung ist, nicht weiter beeinflußbar,<br />

<strong>als</strong> könnte man ihn nicht absichtlich stärken und entwickeln. Dieser Eindruck ist<br />

aber nicht zutreffend. Wir können beispielsweise auch ein uns vorübergehend zur<br />

Verfügung gestelltes Werkzeug gekonnt und wirkungsvoll oder ungeschickt und<br />

nahezu wirkungslos verwenden. Und je besser man ein Werkzeug beherrscht, desto<br />

müheloser erscheint seine Anwendung. Ebenso ist es vermutlich mit dem Willen.<br />

Wie der Umgang mit einem physischen Werkzeug, so dürfte auch der Umgang mit<br />

dem Willen eine Frage der Übung sein. 213<br />

Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor, daß der erste Schritt im Finden<br />

eines erstrebenswert erscheinenden Zieles bestehen muß, denn das Ziel ist es, das<br />

<strong>die</strong> Energien mobilisiert, <strong>die</strong> dann allerdings entsprechend und planvoll dirigiert<br />

werden müssen. Das Finden von Zielen kann aber wohl kaum ein voll bewußter Akt<br />

sein. Es ist eher anzunehmen, daß Ziele einfach in unser Bewußtsein treten. Wenn<br />

das so ist, dann bedeutet das, daß es eher dar<strong>auf</strong> ankommt, sie willkommen zu<br />

212 Kleist 1964, 8d. 5, S. 54 (geschrieben um ca. 1800). Kleist soll es durch <strong>die</strong> Anwendung<br />

der durch das Schreiben <strong>die</strong>ses Aufsatzes gewonnenen Erkenntnisse gelungen sein,<br />

sein Stottern zu überwinden.<br />

213 Vgl. hierzu <strong>die</strong> Übungen bei Assagioli 1984, S. 131ff.; Whitmore 1986, S. 128ff.; sowie<br />

<strong>die</strong> Übungen und Berichte bei Ferrucci 1982, S. 89f.<br />

108


heißen statt sie mit dem begrenzten Verstand <strong>als</strong> unrealistisch, nicht re<strong>als</strong>ierbar<br />

usw. abzuwehren. Solche großen, nicht sofort zu verwirklichende Ziele sind aber<br />

von großer Bedeutung. Akzeptiert man sie, dann ist <strong>die</strong> nächste Frage <strong>die</strong> der<br />

Realisierung. Was kann ich jetzt tun, was muß ich verschieben? Hier beginnt dann<br />

<strong>die</strong> Arbeit des Willens und des Willenstrainings, denn hier sind Denken, Handeln<br />

und bewusste Entscheidungen gefordert. In <strong>die</strong>sem Sinne sind Träume sicherlich oft<br />

der Ausgangspunkt für große Entdeckungen und <strong>als</strong> bedeutend eingeschätzte<br />

Unternehmungen oder Abenteuer gewesen.<br />

Damit es aber zu großen Unternehmungen kommen konnte, mußten <strong>die</strong>se<br />

Menschen erst einmal ihr Fühlen, Denken und Handeln <strong>auf</strong> ihr übergeordnetes Ziel<br />

hin integrieren. Sie mußten <strong>als</strong>o zahllose Entscheidungen gegen Impulse der Angst,<br />

des Ausweichens, der Verlockung durch Vergnügungen, <strong>die</strong> unmittelbare Befriedigung<br />

versprachen, treffen. Statt mit Freunden auszugehen oder ihre finanziellen<br />

Mittel für bessere Kleidung oder wohlschmeckenderes Essen auszugeben, haben<br />

sie sich entschieden, an der Verwirklichung ihres Ziels zu arbeiten und alle<br />

verfügbaren Mittel dafür zu verwenden. Das ist <strong>die</strong> Arbeit, <strong>die</strong> den Willen stärkt, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> Energien, <strong>die</strong> in einem Ziel stecken, sich entwickeln und wachsen läßt. Bei<br />

jedem Ausweichen, jeder Abwendung von meinem übergeordneten Ziel muß ich<br />

mich nach dem Warum fragen: Weiche ich aus, weil das Ziel nicht wirklich „mein<br />

Ding“ ist? Wenn ich das verneine, sollte ich mich fragen, ob meine Anforderungen<br />

für den Moment zu hoch sind, ob ich <strong>die</strong> erforderlichen Schritte <strong>als</strong> zu groß<br />

empfinde. Es kommt <strong>als</strong>o dar<strong>auf</strong> an, realistische Pläne zu machen und auszuführen.<br />

Realistische Pläne und <strong>die</strong> Ausdauer bei ihrer Verwirklichung sind vermutlich <strong>die</strong><br />

entscheidenden Mittel zur Stärkung des Willens.<br />

Für <strong>die</strong> Bildungsinstitutionen bedeutet <strong>die</strong>s, daß - wenn der Wille geübt werden soll -<br />

den Einzelnen (Schülern, Studenten und Lehrern) Gelegenheit oder Freiheit<br />

gegeben werden muß, eigene Ziele zu verfolgen und <strong>die</strong>se <strong>auf</strong> selbstgewählten<br />

Wegen zu erreichen, wie <strong>die</strong>s z. B. in Montessori-Schulen üblich ist. Ist das Interesse<br />

erst einmal da, dann führt <strong>die</strong> fortschreitende Arbeit zu einem immer freieren<br />

Fließen der Energien. Diesen Prozeß mag das folgende von James wiedergegebene<br />

Zitat verdeutlichen:<br />

"Ein Athlet . . erwacht manchmal plötzlich zu einem Verständnis der<br />

Feinheiten des Spieles und zu seinem wahren Genuß, geradeso wie der<br />

Konvertit zu einer Wertschätzung der Religion erwacht. Wenn er sein<br />

Engagement für den Sport fortsetzt, kann ein Tag kommen, an dem mit einem<br />

109


Male das Spiel sich durch ihn spielt - an dem er sich in einen großen Kampf<br />

verliert. In der gleichen Weise kann ein Musiker plötzlich einen Punkt<br />

erreichen, an dem das Vergnügen an der Technik seiner Kunst völlig wegfällt<br />

und er in einem inspirierten Augenblick das Instrument wird, durch das <strong>die</strong><br />

Musik fließt." 214<br />

Was <strong>die</strong> im obigen Zitat angesprochenen Wirkungen der Beherrschung der handwerklichen<br />

Technik anbelangt, so erinnere ich mich an ein Rundfunkinterview mit<br />

dem italienischen Tenor Luciano Pavarotti, in dem <strong>die</strong>ser berichtete (ich muß aus<br />

dem Gedächtnis zitieren), daß er im Zustand äußerster Konzentration immer wieder<br />

erfahre, ja wisse, und zwar mit größter Deutlichkeit und Sicherheit wisse, daß nicht<br />

er singe, sondern daß "es" singe, daß er nur ein Instrument für jenes sich vollziehende<br />

Singen sei. Und er fügte hinzu, daß <strong>die</strong>s der beglückendste Zustand sei,<br />

den er je kennengelernt habe.<br />

Dieses Beispiel zeigt, daß Konzentration gleichbedeutend zu sein scheint mit der<br />

Fähigkeit, nur ein einziges Motiv wirken zu lassen. 215<br />

Die Stärke der Glücksempfindung<br />

beruht vermutlich <strong>auf</strong> der Einheit <strong>die</strong>ses Zustandes. Diese grundlegende<br />

Einheit führt dazu, daß auch das erlebte Gefühl nicht zerstreut und damit in seiner<br />

Intensität gesteigert wird. Es scheint darüber hinaus so zu sein, daß Einheit<br />

grundsätzlich positiv erfahren wird, während Angst, Neid und ähnliche Gefühle<br />

<strong>auf</strong>grund einer Einengung und Abgrenzung des Individuums von Ereignissen oder<br />

von anderen Menschen, deren Erfolgen oder deren <strong>als</strong> unver<strong>die</strong>nt empfundenen<br />

Erfolgen zu entstehen scheinen - es liegt ihnen <strong>als</strong>o das Empfinden der Teilung<br />

oder Zwie-tracht zugrunde.<br />

Ein anderes Beispiel größter Konzentrationsfähigkeit berichtet Russell.<br />

"Whiteheads Konzentrationsfähigkeit <strong>auf</strong> seine Arbeit war ganz außerordentlich.<br />

Als ich einmal an einem heißen Sommertag draußen in Grantchester bei<br />

ihm war, kam unser Freund Crompton Davies an, und ich nahm ihn mit in den<br />

Garten, damit er dem Hausherrn Guten Tag sage. Whitehead saß da und<br />

schrieb irgendetwas Mathematisches. Davies und ich blieben im Abstand von<br />

höchstens einem Meter vor ihm stehen und sahen zu, wie er Seite um Seite<br />

mit Formeln bedeckte. Er gewahrte uns überhaupt nicht, und so gingen wir,<br />

von ehrfürchtiger Scheu erfüllt, nach einiger Zeit weg." 216<br />

214 Starbuck, E.D. The Psychology of Religion, S. 385, zit. nach James 1979, S. 201.<br />

215 Vgl. hierzu auch Herrigel 1964.<br />

216 Russell 1972, S. 196.<br />

110


Wenn nun gelungene Konzentration <strong>die</strong> absolute Dominanz eines Motivs bedeutet,<br />

kann <strong>die</strong>se im Bewußtsein doch verschieden erlebt werden. Man sieht, daß der<br />

Sänger im Zustand höchster Konzentration sich selbst wie ein Objekt wahrnehmen<br />

kann. Er ist voll <strong>auf</strong> seine Aufgabe konzentriert, aber er verliert sich nicht darin,<br />

sondern <strong>die</strong> Instanz des personalen Selbst tritt ins Bewußtseinsfeld und so ist er<br />

sich für eine Weile seiner selbst bewußt.<br />

Dies ist der vermutlich seltener anzutreffende Fall. Zunächst ist üblich und entspricht<br />

der Erfahrung der meisten, daß man völlig in der Sache "<strong>auf</strong>geht", d. h. sein Ich,<br />

dessen Bedürfnisse oder Wünsche und <strong>die</strong> Umwelt für eine Weile vergißt. Zudem<br />

weiß man - das entspricht auch der Literatur zur intrinsischen Motivation 217 - daß<br />

eine mit Interesse, d. h. mit voller persönlicher Hingabe (das Ich identifiziert sich mit<br />

seiner Aufgabe, löst sich darin sozusagen <strong>auf</strong>) durchgeführte Arbeit zu Befriedigung<br />

und Ich-Stärkung führt, wenngleich natürlich eine körperliche Ermüdung nicht zu<br />

vermeiden ist. Eine lustlos ausgeführte Tätigkeit oder Aufgabe dagegen (d. h. das<br />

Ich will sich aus irgendwelchen Gründen, nicht voll mit seiner Aufgabe identifizieren)<br />

führt schon nach kurzer Zeit zu Ermüdung und Erschöpfung und einer Art innerer<br />

Leere, weil man keine angemessene Bestätigung oder Erfüllung finden kann.<br />

Jede mit Interesse und Konzentration, d. h. einem eindeutigen Willen ausgeführte<br />

Tätigkeit energetisiert das Ich, stärkt und bestätigt es. Aber es scheint ein Irrtum zu<br />

sein, anzunehmen, daß <strong>die</strong>s immer gleichbedeutend mit einer positiven oder<br />

vertrauensvollen Einstellung zu allem Geschehen sei. Schopenhauer und Eduard<br />

von Hartmann etwa kamen trotz eines höchst arbeitsreichen und insofern befriedigenden<br />

Lebens zu einer überaus pessimistischen Auffassung des Lebens, ja sie<br />

sahen das Ziel des ganzen Weltprozesses in der Bewußtwerdung der Vergeblichkeit<br />

und Schalheit und letztlich unvermeidlichen Enttäuschung allen Lebens. 218 Jedoch<br />

scheint nach Hartmann viel von der Art des Lebenszieles abzuhängen. Während<br />

seiner Auffassung nach das <strong>auf</strong> Wahrheit gerichtete Streben des Philosophen und<br />

Mystikers doch eine gewisse Befriedigung ohne letztlich unumgängliche Enttäuschung<br />

möglich mache, gelte <strong>die</strong>s für alles sonstige Streben nicht. 219<br />

Unter den Lebenszielen, <strong>die</strong>, wie Hartmann ausführt, notwendig zur Enttäuschung<br />

führen müssen, nennt er: Gesundheit, Jugend, Freiheit, auskömmliche Existenz,<br />

217 Vgl. Portele 1975 und <strong>die</strong> dort referierten und zitierten Befunde.<br />

218 Schopenhauer 1968 und Hartmann 1882, 8d. 2, insbesondere Kap. XIII (S. 285f.) über<br />

"Die Unvernunft des Wollens und das Elend des Daseins". Vgl. auch Hartmann 1891.<br />

219 Vgl. Hartmann 1882, 8d. 2, S. 295f.<br />

111


Zufriedenheit, Hunger und Liebe, Mitleid, Ehrgeiz, Ruhmsucht und Herrschsucht,<br />

religiöse Erbauung (d.h. den üblichen Kirchgang, nicht <strong>die</strong> Mystik), Unsittlichkeit,<br />

Schlaf und Traum, Erwerbstrieb und Bequemlichkeit, Neid, Ärger, Reue, Hoffnung.<br />

Am besten sei es, unwissend zu sein, "in der durch den instinktiven Trieb geschaffenen<br />

Illusion befangen" zu sein. "Dieses Glück des Illusionsdusels ist besonders<br />

der Charakter der Jugend. Jeder Jüngling, jedes Mädchen sieht sich mehr oder<br />

weniger <strong>als</strong> den Helden oder <strong>die</strong> Heldin eines Romanes an", wobei allerdings in<br />

ihrem Leben der "glänzende Schluß" ausbleibe. 220 Außerdem würden sie vergessen,<br />

„daß hinter dem scheinbar glänzenden Romanschlusse auch bloß <strong>die</strong> gemeine<br />

Misere des Tages lauert.“ 221<br />

Allerdings gibt es auch glücklichere Philosophen. Zu ihnen gehört - nach eigener<br />

Aussage - Karl R. Popper:<br />

"Zwar habe ich, wie es niemandem erspart bleibt, Sorgen und Kummer erlebt,<br />

doch glaube ich nicht, daß ich <strong>als</strong> Philosoph eine unglückliche Stunde<br />

verbracht habe, seit wir nach England zurückgekehrt sind. (Das wurde 1969<br />

geschrieben.) Ich habe viel gearbeitet, und ich bin oft tief in unlösbare<br />

Schwierigkeiten geraten. Aber ich habe das Glück gehabt, neue Probleme zu<br />

finden, an ihnen arbeiten zu können und hier und da auch einige Fortschritte<br />

zu machen. Das ist, denke ich, <strong>die</strong> beste Art zu leben; unendlich viel besser<br />

<strong>als</strong> ein Leben bloßer Beschaulichkeit oder Kontemplation (ganz zu schweigen<br />

von der von Aristoteles gepriesenen göttlichen Selbstkontemplation). Es ist<br />

ein rastloses Leben, aber es ist in hohem Maße unabhängig; autark, im Sinne<br />

von Sokrates, obwohl natürlich kein Leben wirklich autark sein kann. Weder<br />

meine Frau noch ich lebten gern in London; seit wir aber im Jahre 1950 nach<br />

Penn in Buckinghamshire gezogen sind, bin ich, so vermute ich, der<br />

glücklichste Philosoph, der mir je begegnet ist. Das ist für meine intellektuelle<br />

Entwicklung durchaus nicht unwichtig, denn es hat mir bei meiner Arbeit sehr<br />

geholfen. Andererseits besteht hier auch eine Art von Rückkoppelung: Es ist<br />

eine der vielen Quellen des Glücks, hier und da den Schimmer einer neuen<br />

Ansicht von der unwahrscheinlichen Welt zu erhaschen, in der wir leben, und<br />

von unserer unwahrscheinlichen Rolle in ihr." 222<br />

So verschieden <strong>die</strong> Auffassungen von Popper und Hartmann in Bezug <strong>auf</strong> das<br />

Lebensglück sein mögen, stimmen sie doch darin überein, daß ihre Arbeit und<br />

Philosophie ihrem Leben eine wesentliche Befriedigung verschafft habe. Arbeit wird<br />

man in <strong>die</strong>sen Fällen <strong>als</strong> gerichtetes Bestreben und Anstrengung zur Erreichung<br />

220 Ebenda, 8d. 2, 5. 353.<br />

221 Vgl. ebenda, Bd. 2, besonders S. 285f.<br />

222 Popper 1979, S. 180.<br />

112


einer mentalen Ordnung bezeichnen können, wobei <strong>die</strong>ses Ziel trotz einiger früher<br />

Festlegungen, nie endgültig erreicht wird, <strong>die</strong> Bemühung darum <strong>als</strong>o auch nicht<br />

<strong>auf</strong>hört 223 oder in eine bloße Verteidigung eines erstarrten Systems übergeht. Dies<br />

führt vermutlich zu einer immer bestimmteren Motivstruktur, in der ein Motiv bzw.<br />

einige wenige Motive eindeutig anderen übergeordnet sind. Sie leiten das Denken<br />

und Handeln. Da der Kampf der Motive um <strong>die</strong> Vorherrschaft sich abschwächt,<br />

gewinnen Denken und Handeln zunehmend den Charakter einer frei fließenden<br />

Tätigkeit. Dies wiederum kann zu einem Gefühl des Glücks beitragen, selbst wenn<br />

<strong>die</strong>ses dann <strong>als</strong> Illusion demaskiert werden sollte.<br />

Abschließend kann <strong>als</strong>o festgehalten werden, daß Anstrengung, wenn sie zu einem<br />

dauerhaften Erfolg beitragen soll, mehr <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Etablierung übergeordneter Ziele<br />

und Werte und deren Aufrechterhaltung gegenüber Störungen aller Art gerichtet<br />

sein sollte, <strong>als</strong> <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Steuerung von Prozessen des Denkens und Handelns im<br />

Detail. Das bedeutet freilich nicht, daß <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Detailsteuerung völlig verzichtet<br />

werden könnte, sondern lediglich, daß sie nur in bestimmten Fällen von Bedeutung<br />

ist - beispielsweise wenn irgendwelche Operationen oder Vorstellungsreihen<br />

eingeübt werden müssen. 224<br />

5.4.5 Der Wille in Interaktion mit Bewußtseinsinstanzen<br />

Wenn <strong>die</strong> großen Ziele sozusagen zu uns kommen, und wir nur <strong>auf</strong> sie <strong>auf</strong>merksam<br />

werden und sie willkommen heißen müssen, dann bleibt immer noch <strong>die</strong> Frage,<br />

woher denn <strong>die</strong>se Ziele stammen und welche Aufgabe unser begrenztes Bewußtsein<br />

dabei hat.<br />

Wenn wir ein Ziel akzeptieren, dann spielt unser Bewußtsein dabei zwar eine Rolle,<br />

aber letztlich muß vieles an unseren Entscheidungen unbewußt bleiben. Offenbar<br />

können wir weder <strong>die</strong> vielfältigen Konsequenzen einer solchen Entscheidung - und<br />

damit alle nachfolgend notwendig werdenden Entscheidungen - überschauen, noch<br />

können wir wirklich wissen, warum wir so überzeugt von einem uns bedeutend<br />

erscheinenden Ziel sind. Je mehr Gründe wir angeben können, je genauer wir zu<br />

wissen glauben, warum wir uns für ein bestimmtes allgemeines Ziel entschieden<br />

haben und nicht für irgendein anderes, umso begrenzter und alltäglicher ist<br />

223<br />

224<br />

Vgl. den englischen Titel von Poppers Autobiographie: "Unended Quest" (1977).<br />

Vgl. hierzu etwa Galperin 1974.<br />

113


vermutlich das gewählte Ziel, d.h. es ist bedingt durch Meinungen oder Kriterien<br />

unserer Umwelt. Aufgrund unseres begrenzten Wissens (sicherlich gibt es<br />

individuell unterschiedliche Grenzen) können wir in der Regel nur für recht bescheidene<br />

Ziele differenzierte Begründungen angeben. Ist das Ziel oder Ideal sehr weit<br />

gesteckt, müssen wir eigentlich von einem Glauben sprechen. 225 So hielt Einstein<br />

das Ziel der Grundlagenforschung - <strong>die</strong> Erkenntnis der Wahrheit - für ein religiöses<br />

Ziel:<br />

"Sie werden schwerlich einen tiefer schürfenden wissenschaftlichen Geist<br />

finden, dem nicht eine eigentümliche Religiosität eigen ist ... Der Forscher ...<br />

ist von der Kausalität allen Geschehens durchdrungen. Die Zukunft ist ihm<br />

nicht minder notwendig und bestimmt wie <strong>die</strong> Vergangenheit. Das Moralische<br />

ist ihm keine göttliche, sondern eine rein menschliche Angelegenheit. Seine<br />

Religiosität liegt im verzückten Staunen über <strong>die</strong> Harmonie der Naturgesetzlichkeit,<br />

in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, daß alles Sinnvolle<br />

menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz<br />

ist. Dies Gefühl ist das Leitmotiv seines Lebens und Strebens, insoweit<br />

<strong>die</strong>ses sich über <strong>die</strong> Knechtschaft selbstischen Wünschens erheben kann.<br />

Unzweifelhaft ist <strong>die</strong>s Gefühl nahe verwandt demjenigen, das <strong>die</strong> religiös<br />

schöpferischen Naturen aller Zeiten erfüllt hat." 226<br />

Ein derartiger Glaube ist aber, der Natur eines zu realisierenden Zieles entsprechend,<br />

dynamisch, d.h. er ist <strong>auf</strong> eine Ausweitung der Bewußtheit gerichtet. Was zunächst<br />

geglaubt wird, weil man es nicht wissen kann, dessen versucht man sich<br />

zunehmend bewußter zu werden. Der Glaube etwa an eine Hypothese, <strong>die</strong> völlig<br />

neue, <strong>als</strong>o den bisherigen Vorstellungen widersprechende Wege weist, kann durch<br />

entsprechende Untersuchungen zu Wissen werden. So ist auch <strong>die</strong> Idee des<br />

Fortschritts nichts anderes <strong>als</strong> ein kollektiver Glaube 227 , denn ob Fortschritt wirklich<br />

möglich ist, kann recht zweifelhaft sein, aber unzweifelhaft hat <strong>die</strong>se Idee das<br />

Fühlen, Denken und Handeln der Menschen inspiriert und geleitet; sie tut es sicher<br />

noch, wenngleich <strong>die</strong> Schwungkraft <strong>die</strong>ser Idee nachgelassen hat, und wir ihr nicht<br />

mehr mit ungeteilter Begeisterung folgen mögen. So meinte Bury schon vor dem<br />

Zweiten Weltkrieg, eine Schwächung der Idee des Fortschritts erkennen zu können<br />

und sagt voraus:<br />

225 Vgl. hierzu etwa <strong>die</strong> Ausführungen von Polanyi (in Schwartz 1974), S. 67ff. u. S. 116ff.,<br />

sowie Polanyi 1976 (11958), S. 266-267.<br />

226<br />

Einstein 1974, S. 18.<br />

227<br />

Vgl. Bury 1955, S. 346, der <strong>die</strong> Idee des Fortschritts <strong>als</strong> einen allgemeinen Glaubensartikel<br />

(general article of faith) bezeichnet.<br />

114


"Ein Tag wird kommen im L<strong>auf</strong> der Jahrhunderte, an dem eine neue Idee sich<br />

den Platz <strong>als</strong> Leitidee der Menschheit erobert. Ein anderer Stern, der jetzt<br />

noch unbemerkt oder unsichtbar ist, wird am intellektuellen Himmel emporsteigen,<br />

und menschliche Gefühle werden <strong>auf</strong> seinen Einfluß reagieren, <strong>die</strong><br />

menschlichen Pläne werden sich seiner Führung unterwerfen. Er wird das<br />

Kriterium sein, mit dessen Hilfe der Fortschritt und alle anderen Ideen<br />

beurteilt werden. Und auch er wird Nachfolger haben.<br />

In anderen Worten, legt nicht der Fortschritt selbst den Gedanken nahe, daß<br />

sein Wert <strong>als</strong> Doktrin nur relativ ist, entsprechend einem bestimmten, nicht<br />

sehr weit fortgeschrittenen Zivilisationsstadium, genauso wie <strong>die</strong> göttliche<br />

Vorsehung zu ihrer Zeit eine Idee mit relativem Wert war, <strong>die</strong> einem noch<br />

etwas weniger fortgeschrittenen Stadium entsprach?" 228<br />

Das, was uns <strong>als</strong>o weitertreibt, was uns zur Anerkennung oder Akzeptierung von<br />

Zielen bringt, <strong>die</strong> mehr oder weniger weit über uns hinausweisen und dadurch eine<br />

Vereinheitlichung unserer Ziele in größerem oder geringerem Grade zustandebringen<br />

kann, ist nichts <strong>als</strong> eine vage Ahnung, ein Glaube an oder ein Überzeugtsein<br />

von einem Ideal oder einem Ziel, das wir in seinen Konsequenzen nicht zu<br />

überblicken vermögen. Der Glaube an einen Gott, an eine Idee wie Freiheit oder<br />

Gerechtigkeit, Schönheit, Wahrheit usw. bedeutet <strong>die</strong> Identifikation mit Symbolen,<br />

<strong>die</strong> offenbar erhebliche psychische Energie tragen, konzentrieren, integrieren,<br />

umwandeln und kanalisieren oder leiten können (vgl. hierzu auch Kap. 5.2.3). Wir<br />

werden dadurch von größerer Energie durchströmt, <strong>als</strong> wenn wir nur einer Folge<br />

eng begrenzter Bedürfnisse oder Impulse gehorchen. Es vermittelt uns weiter <strong>die</strong><br />

Empfindung eines stärker ausgedehnten Ich, eines Mehr an Bewußtheit, einer<br />

Erweiterung unserer eingegrenzten, beengten Existenz. 229<br />

Unsere Ausgangsfrage war, warum wir tendenziell dazu neigen, <strong>die</strong> allgemeineren,<br />

an der Spitze der Hierarchie stehenden Motive höher zu bewerten <strong>als</strong> <strong>die</strong> weiter<br />

unten rangierenden. Die Antwort könnte sein, daß das Streben höherer Bewußtseinsinstanzen<br />

nach Ausweitung des jeweils aktuellen Bewußtseins <strong>die</strong>se Wahl für<br />

uns trifft, während wir dann das Ergebnis mit dem Nutzen, mit der größeren<br />

228<br />

Bury 1955, 5. 352.<br />

229 Ein Grundproblem <strong>die</strong>ser ganzen Untersuchung ist, daß wir ständig gezwungen sind,<br />

Wertbegriffe zu gebrauchen, <strong>die</strong> eine Über- und Unterordnung ausdrücken. Tatsächlich<br />

jedoch geht es um <strong>die</strong> bloße Darstellung unterschiedlicher Qualitäten des Bewußtseins,<br />

und jede moralische Wertung widerspricht den hier verfolgten Absichten. Das Problem<br />

besteht vielleicht einfach darin, daß wir gewohnt sind, Alltagsbegriffe mit Wertungen zu<br />

verknüpfen. Schon wenn wir von etwas sagen, es sei nicht rational, so scheint <strong>die</strong>s eine<br />

negative Wertung zu implizieren, da wir Rationalität <strong>als</strong> ein sehr erstrebenswertes,<br />

positiv besetztes Ideal begreifen.<br />

115


Befriedigung usw. rationalisieren. Wenn Bewußtsein etwas Allgemeines, ja Universales<br />

ist, das unser individuell begrenztes Sein umfaßt und enthält, warum sollte es<br />

sich dann mit der Begrenztheit der individuellen Bewußtheit zufrieden geben?<br />

Gehen nicht alle Bestrebungen <strong>auf</strong> eine Ausweitung unserer Grenzen hinaus? Die<br />

Menschen wollen mehr Macht, mehr Wissen, mehr Besitz, mehr Genuß, mehr<br />

Liebe. Hier wird <strong>die</strong>ses Streben <strong>als</strong> <strong>die</strong> gesellschaftliche und subjektive Interpretation<br />

eines uns immanenten und zugleich mehr oder weniger latenten größeren<br />

oder Über-Bewußtseins verstanden, das jene ihm eigene Fülle auch für unser<br />

Vordergrundbewußtsein anstrebt. So gesehen, ist unser Bemühen um allgemeinere<br />

Ziele und <strong>die</strong> Bereitschaft, uns mit ihnen zu identifizieren, lediglich <strong>die</strong> Folge übergeordneter<br />

und uns zugleich überbewußter Steuerungen.<br />

Allerdings sind wir nicht nur <strong>die</strong>sen „höheren“, sondern auch „niederen“ Einflüssen<br />

ausgesetzt. Denn <strong>die</strong> unsere mentalen Ideale beengenden oder störenden Wünsche,<br />

Vorstellungen und Impulse unserer vitalen Natur entstehen ja ebenfalls nicht<br />

durch voll bewußte Entscheidungen. Vielmehr tauchen sie aus dem Unterbewußten<br />

<strong>auf</strong> und üben ihre Macht über unser Bewußtsein aus, das sich oft bereitwillig mit<br />

ihnen identifiziert und <strong>die</strong>se Elemente rechtfertigt. Ohne <strong>die</strong>se allgegenwärtigen<br />

„Widerstände“ würden sich <strong>die</strong> „höheren“ Ziele viel einfacher verwirklichen lassen.<br />

Die Aufgabe des Bewusstseins besteht darin zu erkennen, was „wahr, schön und<br />

gut“ (Platon) ist und <strong>die</strong>ses gegen alle Anfechtungen und durch alle Niederlagen<br />

gegenüber solchen Anfechtungen zu verfolgen. Dadurch wird nicht nur der Wille<br />

gestärkt, sondern dadurch wird das erreicht, was wir „Bildung“ nennen. Der Prozess<br />

der Bildung wird <strong>als</strong>o von den „höheren“ Zielen, <strong>die</strong> sich im Einzelnen manifestieren,<br />

geleitet, auch wenn <strong>die</strong> Arbeit des „Bildens“ vom Einzelnen selbst zu leisten ist.<br />

Da das Überbewußte hinter oder über den scheinbar undurchdringlichen Grenzen<br />

unseres gewohnten Bewußtseins verborgen wirkt, ist es auch erklärbar, wie<br />

plötzliche, gegen <strong>die</strong> eigenen Vorstellungen gerichtete Verwandlungen bzw. Bekehrungen<br />

möglich sind, <strong>die</strong> das Fühlen, Denken, Handeln und Wollen "in eine neue<br />

Richtung, <strong>auf</strong> neue Wege, zu neuen Zielen" zwingen. 230 James berichtet hierzu<br />

unter anderem den Fall von M. Alphonse Ratisbonne, einem Freidenker und Juden,<br />

der a-religiös war und während eines Rom-Aufenthalts den Bekehrungsversuchen<br />

eines Bekannten ausgesetzt war, der ihn etwas scherzhaft bat, sich "ein Amulett um<br />

den H<strong>als</strong> zu hängen und den Text eines kurzen Gebets an <strong>die</strong> heilige Jungfrau<br />

230 Das Zitat ist dem weiter unten folgenden Bericht entnommen.<br />

116


entgegenzunehmen und zu lesen." 231 Einige Tage fühlte sich Ratisbonne unfähig,<br />

"<strong>die</strong> Worte des Gebets aus seinem Geiste zu vertreiben", aber ansonsten behielt er<br />

"einen klaren Kopf und verbrachte seine Zeit mit unbedeutenden Unterhaltungen." 232<br />

M. Ratisbonne, er war zur Zeit des Erlebnisses 29 Jahre, schreibt:<br />

"Wenn in <strong>die</strong>sem Augenblick irgend jemand mit den Worten an mich<br />

herangetreten wäre: Alphonse, in einer Viertelstunde wirst du Jesus Christus<br />

<strong>als</strong> deinen Gott und Heiland anbeten; du wirst zu Füßen eines Priesters an<br />

deine Brust schlagen; du wirst den Karneval in einem Jesuitenkolleg damit<br />

verbringen, dich <strong>auf</strong> den Empfang der T<strong>auf</strong>e vorzubereiten, bereit, dein Leben<br />

für den katholischen Glauben hinzugeben, du wirst der Welt, ihrer Pracht und<br />

ihrem Vergnügen entsagen; du wirst deinem Glück, deinen Hoffnungen und<br />

notfalls deiner Verlobten entsagen, der Liebe zum jüdischen Volk; du wirst<br />

keine andere Sehnsucht haben, <strong>als</strong> Christus eng zu folgen und sein Kreuz bis<br />

zum Tode zu tragen - wenn, sage ich, ein Prophet mit einer solchen<br />

Weissagung zu mir gekommen wäre, würde ich der Meinung gewesen sein,<br />

daß nur eine Person verrückter <strong>als</strong> er sein könne - nämlich <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> mit<br />

der Möglichkeit rechnen würde, daß so törichter Unsinn wahr werden würde.<br />

Und doch ist <strong>die</strong>se Torheit im Augenblick meine einzige Weisheit, mein<br />

einziges Glück. Als ich aus dem Cafe kam, begegnete mir der Wagen von M.<br />

B. (des Bekannten, der ihn zu bekehren versucht hatte). Er hielt an und lud<br />

mich ein, mitzufahren, aber bat mich zunächst, ein paar Minuten zu warten,<br />

während deren er sich irgendeiner religiösen Pflicht in der Kirche San Andrea<br />

delle Fratte widmete. Statt im Wagen zu warten, ging ich selber auch in <strong>die</strong><br />

Kirche, um sie anzuschauen. Die Kirche San Andrea war arm, klein und leer.<br />

Ich glaube, daß ich mich fast alleine in ihr befand. Kein Kunstwerk zog meine<br />

Aufmerksamkeit <strong>auf</strong> sich. Ich ließ meine Augen mechanisch über ihr Inneres<br />

wandern, ohne durch irgendeinen besonderen Gedanken <strong>auf</strong>gehalten zu<br />

werden. Ich kann mich nur an einen tiefschwarzen Hund erinnern, der,<br />

während ich in Gedanken versunken dastand, vor mir hin und her trabte.<br />

Plötzlich war der Hund verschwunden, <strong>die</strong> Kirche war in nichts zergangen, ich<br />

sah überhaupt nichts mehr, ... oder, genauer, ich sah, o mein Gott - nur noch<br />

ausschließlich eines.<br />

Mein Gott, wie kann ich es in Worte fassen? Nein, menschliche Worte reichen<br />

nicht aus, das Unausdrückbare auszudrücken. Jede Beschreibung, wie<br />

sublim sie auch sein mag, könnte nur eine Profanisierung der unaussprechlichen<br />

Wahrheit sein. Ich lag hingestreckt <strong>auf</strong> dem Boden, schwamm in<br />

meinen Tränen, mein Herz war außer sich, <strong>als</strong> M. B. mich zum Leben zurückrief.<br />

Ich konnte <strong>die</strong> Fragen nicht beantworten, <strong>die</strong> er mir eine nach der<br />

anderen stellte. Aber schließlich nahm ich das Amulett, das ich <strong>auf</strong> der Brust<br />

trug, und mit aller Hingabe der Seele küßte ich das gnadenstrahlende Bild der<br />

231 James 1979, S. 216.<br />

232 Ebenda.<br />

117


Heiligen Jungfrau, das es trug. Oh, wirklich, sie war es! Es war wirklich sie!<br />

[Was er gesehen hatte, war eine Vision der Heiligen Jungfrau gewesen.] Ich<br />

wußte nicht, wo ich war; ich wußte nicht, ob ich Alphonse war oder ein<br />

anderer. Ich fühlte mich nur verwandelt und hielt mich für ein anderes Selbst;<br />

ich suchte in mir nach mir, aber fand mich nicht. In der Tiefe meiner Seele<br />

fühlte ich eine Explosion glühendsten Jubels; ich konnte nicht sprechen; ich<br />

hatte keinen Wunsch, mir zu erklären, was geschehen war. Aber ich fühlte<br />

etwas Feierliches und Heiliges in mir … Ich konnte mir selbst keine<br />

Rechenschaft von der Wahrheit geben, in <strong>die</strong> ich Einsicht und zu der ich<br />

Vertrauen gewonnen hatte. Alles, was ich sagen kann, ist, daß in der Kürze<br />

eines Augenblicks <strong>die</strong> Binde von meinen Augen gefallen war; und nicht nur<br />

eine Binde, sondern eine ganze Menge von Binden, in denen ich erzogen<br />

worden war. Rapide verschwand eine nach der anderen, so wie schmutziger<br />

Schnee und Eis unter den Strahlen der brennenden Sonne verschwinden. Ich<br />

kam heraus wie aus einem Grab, aus einem dunklen Abgrund; und ich war<br />

lebendig, vollkommen lebendig. … <strong>auf</strong> dem Boden jener Schlucht sah ich das<br />

äußerste Elend, aus dem ich durch eine unendliche Gnade gerettet worden<br />

war; und mich schauderte beim Anblick meiner Schlechtigkeit, betäubt,<br />

<strong>auf</strong>gelöst, überwältigt von Erstaunen und Dankbarkeit. Sie mögen mich<br />

fragen, wie ich zu <strong>die</strong>ser neuen Einsicht kam, denn ich hatte in der Tat<br />

niem<strong>als</strong> zu einem religiösen Buch gegriffen oder auch nur eine einzige Seite<br />

der Bibel gelesen; und das Dogma von der Ursünde wird im zeitgenössischen<br />

Judentum entweder geleugnet oder ist vergessen, so daß ich so wenig über<br />

alles nachgedacht hatte, daß ich nicht einmal weiß, ob ich überhaupt seinen<br />

Namen kannte. Aber wie gelangte ich dann zu <strong>die</strong>ser Wahrnehmung des<br />

Sachverhalts? Ich kann dar<strong>auf</strong> nichts antworten außer <strong>die</strong>sem: Als ich in <strong>die</strong><br />

Kirche eintrat, befand ich mich in völliger Dunkelheit, und <strong>als</strong> ich herauskam,<br />

sah ich <strong>die</strong> Fülle des Lichts. Ich kann den Wandel nicht besser erklären <strong>als</strong><br />

durch das Gleichnis eines tiefen Schlafes oder <strong>die</strong> Analogie eines Blindgeborenen,<br />

dessen Augen sich plötzlich im Tageslicht öffnen. Er sieht, aber<br />

er kann das Licht nicht definieren, das ihn umflutet und vermittels dessen er<br />

<strong>die</strong> Gegenstände sieht, <strong>die</strong> seine Bewunderung erregen. Wenn wir das<br />

physische Licht nicht erklären können, wie können wir das Licht erklären, das<br />

<strong>die</strong> Wahrheit selber ist? Und ich bleibe, denke ich, in den Grenzen der<br />

Aufrichtigkeit, wenn ich sage, daß ich jetzt ohne irgendeine Kenntnis des<br />

Buchstabens der religiösen Lehre <strong>auf</strong> intuitive Weise deren Sinn und Geist<br />

durchschaute. Besser, <strong>als</strong> wenn ich sie gesehen hätte, fühlte ich <strong>die</strong>se<br />

verborgenen Dinge; ich fühlte sie durch <strong>die</strong> unerklärliche Wirkung, <strong>die</strong> sie in<br />

mir hervorriefen. Alles vollzog sich im Inneren meines Geistes; und <strong>die</strong>se<br />

Eindrücke - schneller <strong>als</strong> das Denken - erschütterten meine Seele, kehrten<br />

das Unterste zuoberst und lenkten sie gewissermaßen in eine neue Richtung,<br />

<strong>auf</strong> neue Wege, zu neuen Zielen." 233<br />

233 Biografia del Sig. m.A. Ratisbonne, Ferrara 1843, zit nach James 1979, S. 216-218.<br />

118


Der Berichterstatter fühlt und erfährt sich selbst offenbar <strong>als</strong> einen passiven<br />

Zuschauer "eines höchst erstaunlichen Prozesses, der von oben her an ihm<br />

vollzogen wird." 234 Der Wille, der ihn lenkt und seinem Leben eine "neue Richtung"<br />

gibt, ist zunächst jedenfalls nicht sein eigener, auch wenn er ihn dann akzeptiert<br />

bzw. sich damit identifiziert. Es ist nun zwar ein bewußter Wille, der aber vorher im<br />

Verborgenen bestanden haben muß.<br />

Wieso ist es nun möglich, <strong>die</strong>se Erfahrung <strong>als</strong> über- und nicht <strong>als</strong> unterbewußt zu<br />

klassifizieren? Wir können nur antworten: weil sie vom Subjekt der Erfahrung <strong>als</strong><br />

solche erlebt wird. Dies mag <strong>als</strong> eine schwache Begründung erscheinen, aber sie ist<br />

nicht schwächer <strong>als</strong> <strong>die</strong> uns selbstevident scheinende Empfindung der Überlegenheit<br />

und Übergeordnetheit der Vernunft gegenüber Trieben und Instinkten.<br />

Das obige Beispiel ist dem religiösen, oder genauer, dem christlichen Leben<br />

entnommen. Aber es gibt vermutlich auch Bekehrungen, d. h. Bewußtseinswandlungen<br />

nichtreligiöser Art. Möglicherweise könnten Erlebnisse oder Erfahrungen<br />

eines religiösen Menschen (im philosophischen Sinn), <strong>die</strong> ihn zum Materialisten<br />

"bekehren" ähnlich sein wie in <strong>die</strong>sem Bericht. Wenn wir Religion wie James <strong>als</strong><br />

"Gesamtreaktion eines Menschen <strong>auf</strong> das Leben" 235 verstehen, dann müssen wir<br />

allerdings auch <strong>die</strong> materialistische Haltung <strong>als</strong> Religion bezeichnen.<br />

Ein Beispiel <strong>die</strong>ser Art beschreibt Huxley in seinem Roman "Island". Er schildert<br />

zunächst <strong>die</strong> Kindheit des genialen Arztes Andrew MacPhail und seiner Geschwister,<br />

<strong>die</strong> bedrückende geistige Enge, <strong>die</strong> Blindheit, Grausamkeit und den finsteren<br />

und verstümmelnden Zwang von religiösem Dogmatismus, <strong>die</strong> obligatorischen<br />

Betstunden vor dem Frühstück und Mittagessen, das sture Auswendiglernen von<br />

Episteln, <strong>die</strong> abendliche Beichte der täglichen Sünden und das Knien <strong>auf</strong> groben<br />

Holzscheiten mit bloßen Beinen. Durch sein Medizinstudium entgeht Andrew der zu<br />

erwartenden Neurose. Im Sektionssaal hört er blasphemische Äußerungen,<br />

während er faulende Leichen seziert. Zuerst reagiert er mit Schrecken. Als er sieht,<br />

daß kein rächender Gott eingreift, wird er mutiger und schließlich riskiert er einen<br />

Fluch - "welch eine Befreiung, welch ein ursprünglich religiöses Erlebnis!" Und dann<br />

<strong>die</strong>se Theorien: der Mensch eine Maschine, Denken das Erzeugnis verschiedener<br />

Sekrete der Leber. So einfach ist das alles! So kann man sich aus dem Sumpf der<br />

234 James 1979, S. 219.<br />

235 Ders., S. 45.<br />

119


Kindheit herausziehen und <strong>die</strong> scheußlichen Erinnerungen und Zwänge ablegen.<br />

"What bliss!" 236<br />

Auch <strong>die</strong>se Erfahrung wirkt wie eine Wiedergeburt, führt zu einem neuen Leben,<br />

neuen Zielen, neuen Horizonten. Aber es gibt einen Unterschied. Während letzteres<br />

Beispiel eine Befreiung durch den Verstand darstellt, geht es im Fall davor um eine<br />

Befreiung durch eine Instanz, <strong>die</strong> dem Verstand <strong>als</strong> übergeordnet erfahren wird.<br />

5.4.6 Bildung <strong>als</strong> Willensentwicklung<br />

Entwicklung des Willens ist <strong>als</strong> Bildung der Persönlichkeit zu verstehen. Der Wille ist<br />

sozusagen <strong>die</strong> aktive Seite des Bewußtseins, <strong>die</strong> Steuerung des Denkens, Fühlens<br />

und Handelns durch <strong>die</strong> im Bewußtsein gebildeten Bedeutungsstrukturen. 237<br />

WILLE einheitlich geteilt<br />

bewußt d c<br />

unbewußt b a<br />

Die Pfeile zeigen eine der möglichen Entwicklungsrichtungen an, <strong>die</strong> auch der<br />

folgenden Beschreibung der einzelnen Sta<strong>die</strong>n zugrundegelegt wird. zu a): Diese<br />

Grundform des geteilten und wesentlich unbewußten Willens finden wir beispielsweise<br />

bei Kindern, <strong>die</strong> wir <strong>als</strong> unkonzentriert, ungezogen. beständig von einem zum<br />

anderen wechselnd erleben. Ähnliches Verhalten ist natürlich auch bei Erwachsenen<br />

anzutreffen; nur erscheint deren Verhalten <strong>auf</strong>grund der Steuerungen durch<br />

institutionelle Rahmenbedingungen und einige grundlegende eingeschliffene<br />

Gewohnheiten mehr oder weniger geordnet. Selten scheint bei solchen Personen<br />

ein Motiv stark genug, um dem Handeln und Denken für einen längeren Zeitraum<br />

eine klare Richtung zu geben.<br />

Man kann <strong>die</strong>sen Zustand eines unkoordinierten und von zufälligen Impulsen<br />

abhängigen Wollens bei Kindern <strong>als</strong> unnatürlich empfinden. Das ist wohl auch der<br />

236 Huxley 1976b,S. 134-139.<br />

237 Vgl. hierzu etwa <strong>die</strong> Diskussion verschiedener Motivationstheorien bei Schiefele 1974,<br />

wobei <strong>die</strong>ser zu dem Schluß kommt, daß Motive grundsätzlich <strong>als</strong> Bedeutungszusammenhänge<br />

verstanden werden müssen (S. 145). Weiter oben (Kap. 5.2.3) zitierten wir<br />

Popper 1973, S. 267, der Steuerung einfach <strong>als</strong> einen Teil der Funktion von Bedeutungen<br />

und Gehalten erklärt. Bedeutungen und Gehalte aber sind Formen des Bewußtseins.<br />

120


Grund, warum Maria Montessori <strong>die</strong> Vereinheitlichung <strong>die</strong>ses zerstreuten Willens <strong>als</strong><br />

"Normalisierung" bezeichnet. 238 Diese Vereinheitlichung erfolgt <strong>auf</strong>grund eines dem<br />

Kind nicht bewußten inneren Antriebs.<br />

zu b): Wir kommen somit zur Grundform des einheitlichen, unbewußten Willens. Der<br />

unbewußte innere Antrieb zur Vereinheitlichung zeigt sich im Interesse an einer<br />

Sache und in der Konzentration <strong>auf</strong> sie. Montessori erzählt von einer Beobachtung<br />

an einem dreijährigen Kind, das eine Übung mit ihrem Material "40mal oder öfter"<br />

wiederholte. 239 Während <strong>die</strong>ses Kind in "seine" Aufgabe vertieft war, bat Montessori<br />

<strong>die</strong> Erzieherin, <strong>die</strong> anderen Kinder singen zu lassen:<br />

"Sie sangen alle, aber <strong>die</strong>ses Kind blieb immer noch von seiner Arbeit<br />

gefesselt. Dann hörte das Kind plötzlich <strong>auf</strong>. Es hatte sich nicht stören lassen.<br />

Es hörte <strong>auf</strong>, <strong>als</strong> innerlich etwas beendet war, ein Zyklus der Aktivität. Dieser<br />

Zyklus der Aktivität endet in einem Augenblick. Etwas hatte sich innerlich<br />

ereignet, was von großer Bedeutung war, auch wenn es sich nur bei einem<br />

<strong>die</strong>ser 45 Kinder ereignete. Wir dürfen ein sich konzentrierendes Kind nicht<br />

stören, denn in <strong>die</strong>sem Kind ereignet sich innerlich etwas. Allmählich beginnen<br />

<strong>die</strong> anderen Kinder sich zu konzentrieren. An einem Tag ein Kind, am<br />

anderen Tag zwei oder drei Kinder. Wenn sie sich konzentriert haben, sind<br />

<strong>die</strong> Kinder anders. Sie haben keine besonderen Unarten mehr. Sie lösen sich<br />

und arbeiten selbständig. Unordentliche Kinder fangen an, Ordnung zu lieben.<br />

Alle werden so ordentlich, daß Unordnung etwas Außergewöhnliches wird.<br />

Sie sind genau. Sie betreten einen neuen Pfad." 240<br />

Diese Vereinheitlichung des Willens mag vorübergehend sein, aber solange sie<br />

besteht, bedeutet <strong>die</strong>s, daß das Individuum ohne irgendwelche Überlegungen 241 ,<br />

ohne Wenn und Aber in einer Sache <strong>auf</strong>geht. Das konzentrierte Kind, wie Montessori<br />

es beschreibt, fragt nicht nach Vorteilen, nach Belohnungen, es vergleicht sich<br />

nicht mit anderen; es existiert sozusagen keine Abgrenzung zwischen ihm und der<br />

Aufgabe, in der es sich verliert.<br />

Diese Erfahrung der Einheit ist offenbar etwas sehr Bedeutsames, so etwas wie ein<br />

Versprechen <strong>auf</strong> umfassendere Einheit. Sie zu machen, bedeutet, sich selbst für<br />

eine Weile zu vergessen, d.h. <strong>die</strong> Vordergrundidentifikationen, <strong>die</strong> das Ich abgrenzen,<br />

in etwas Größerem <strong>auf</strong>gehen zu lassen.<br />

238 Montessori 1979, S. 22.<br />

239 Vgl. Montessori 1975, S. 43 u. 1966, S. 48ff.<br />

240 Montessori 1979, S. 22-23.<br />

241 In der Motivationspsychologie wird meist von "Kalkulationen" gesprochen.<br />

121


Die begrenzten bzw. abgeteilten Vordergrundidentifikationen (das Ich) sind es ja, <strong>die</strong><br />

zu beständiger Disharmonie und Auseinandersetzung führen. Indem man <strong>auf</strong> <strong>die</strong>sen<br />

Grenzen besteht, sie <strong>auf</strong>rechterhalten will, stößt man sich an anderen Grenzen<br />

derselben Art. Beispielsweise identifiziert sich ein Kind mit dem Wunsch, einen<br />

Gegenstand besitzen zu wollen; ein anderes Kind identifiziert sich mit dem gleichen<br />

Wunsch; der Erzieher identifiziert sich vielleicht mit der Auffassung, daß man nicht<br />

jedem Wunsch nachgeben dürfe, sowie mit "seinem" Ärger über <strong>die</strong>sen kleinen<br />

Streit. In den durch <strong>die</strong>se begrenzten Identifikationen (<strong>als</strong> begrenzten Willenstendenzen)<br />

ausgelösten Interaktionen können sich <strong>die</strong>se Identifikationen noch<br />

verhärten.<br />

Die Erfahrung der Einheit des Willens, in der <strong>die</strong>se begrenzenden Identifikationen<br />

"vergessen" werden, vermittelt <strong>die</strong> Empfindung von etwas Größerem, von etwas, zu<br />

dem man Vertrauen haben kann und das <strong>die</strong> Dinge "normalisiert". Allerdings ist<br />

<strong>die</strong>se "Normalisierung" oder Vereinheitlichung des Willens in den meisten Schulen<br />

und Elternhäusern nicht <strong>die</strong> Regel. Weitaus häufiger wird das Verhalten durch<br />

Gebote und Verbote normiert und dadurch in relativ geordnete Bahnen gebracht,<br />

was aber keine Vereinheitlichung des Willens bedeutet. Es ist eher eine Zwangs-<br />

Vereinheitlichung, wobei <strong>die</strong> nicht geduldeten Impulse <strong>auf</strong>grund eines externen,<br />

stärkeren Willens eine Weile in den Hintergrund gedrängt werden. In <strong>die</strong>sem Fall<br />

erfolgt <strong>die</strong> Entwicklung nicht von a) nach b) und dann nach c), sondern direkt von a)<br />

nach c). 242<br />

zu c): Die Konfrontation mit den gesellschaftlichen Werten und Normen führt zur<br />

Auseinandersetzung und Bewußtwerdung der Begrenzung des Individuums in<br />

seinen Wünschen und seinem Denken gegenüber Ansprüchen von außerhalb<br />

<strong>die</strong>ser Grenzen.<br />

Die Identifikation mit den gesellschaftlichen oder institutionellen Zielen und Werten<br />

kann einen Teil der Person darstellen, während <strong>die</strong> Identifikation mit den Gefühlen<br />

oder Wünschen einen anderen, damit nicht integrierten Teil bildet. So kann sich<br />

etwa durch eine besonders autoritäre Erziehung oder <strong>auf</strong>grund der Drohung mit<br />

Liebensentzug ein (in der psychoanalytischen Terminologie) so starkes Über-Ich<br />

bilden, daß das Ich "den Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität"<br />

nicht mehr gleichzeitig genügen kann. 243 Die Folge ist ein in seinen Bestrebungen<br />

242 Zu den unterschiedlichen Wirkungen von Erziehungsmaßnahmen <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Motivation vgl.<br />

<strong>die</strong> zusammenfassende Diskussion der Literatur bei Schiefele 1974, S. 199ff.<br />

243 Freud 1953, S. 8.<br />

122


und seinem Willen zerrissenes Individuum. Das Leben kann für es zu einer Auseinandersetzung<br />

werden zwischen dem, was es soll, und dem, was ein anderer Teil<br />

der Person will. Auch <strong>die</strong> Umwelt wird in <strong>die</strong>sen Kategorien gesehen und danach<br />

beurteilt. Man sieht überall Menschen, <strong>die</strong> Dinge tun, <strong>die</strong> sie entsprechend der<br />

Identifikation mit den eigenen (d. h. den durch Identifikation mit den Normen von<br />

<strong>Institution</strong>en zueigen gewordenen) Normen unterlassen sollten. Man kann sich<br />

jenen anderen überlegen fühlen, weil man glaubt, in der "Wahrheit" jener Normen zu<br />

leben. Da <strong>die</strong>s aber nur ein kleiner Teil des Ich ist, fühlt man, daß man eigentlich in<br />

einer "Lüge", d. h. zugleich getrennt von jenen Normen lebt, und sowohl das eine<br />

wie das andere will.<br />

Der Normalfall ist vermutlich eher eine milde Form des geteilten Willens. Man gibt<br />

sich nie ganz und gar und ohne Rückhalt einem übergreifenden Ziel hin, sondern<br />

man findet Kompromißlösungen. Die Identifikationen mit verschiedenen Zielen oder<br />

Bedürfnissen werden so kombiniert, daß ihre Befriedigung nacheinander möglich ist<br />

und ihre Aneinanderreihung ein Ganzes zu ergeben scheint. So sind Familien- und<br />

Berufsleben - oder Beruf und Freizeit - nicht durch ein übergreifendes Ziel integriert,<br />

sondern man findet Wege, Ansprüche von und an <strong>die</strong>se Lebensformen nebeneinander<br />

zu befriedigen. Dies gelingt aber doch nur durch einen übergeordneten Wert,<br />

nämlich den der Vernünftigkeit. Diesen Typ des sozusagen vernünftigen, geteilten<br />

Willens scheinen <strong>die</strong> meisten Motivationstheorien im Auge zu haben. Sie berücksichtigen<br />

<strong>die</strong> Kalkulationen des Individuums, das Zusammenwirken verschiedener<br />

Motivkräfte samt den positiv oder negativ verstärkenden Einflüssen sozialer Beziehungen<br />

bzw. <strong>Institution</strong>en. Das Ergebnis eines derartigen mehr oder weniger komplexen<br />

Prozesses besteht dann aber immer darin, daß wenigstens für eine Weile ein<br />

Motiv <strong>die</strong> Überhand gewinnt bzw. das Individuum seiner Wirksamwerdung <strong>auf</strong>grund<br />

einer abwägenden Kalkulation zustimmt und das dann Denken, Fühlen und Handeln<br />

bestimmt. 244<br />

Vergleichen wir nun einen Menschen mit klar erkennbar geteiltem Willen, wie er<br />

weiter oben darzustellen versucht wurde, mit einem anderen, der jene milde oder<br />

Normalform des geteilten bzw. nicht voll geeinten Willens repräsentiert. Während<br />

der erstere irrational und übertrieben reagiert, ist unser jetziger Typ in allem eher<br />

244 Besonders deutlich zeigt sich <strong>die</strong>s an dem differenzierten Konzept der Leistungsmotivation<br />

(vgl. Weiner 1975, Meyer 1973, Heckhausen 1965, 1966, 1972, Schiefele 1974;<br />

vgl. auch den Überblick über verschiedene Motivationskonzepte bei Knörzer 1976 sowie<br />

den Reader zu verschiedenen Problemen der Motivation von Thomae 1968).<br />

123


moderater und eben vernünftig. Vernünftigkeit bedeutet in <strong>die</strong>sem Zusammenhang,<br />

daß man in der Lage ist, Gefühle zurückzuweisen, <strong>die</strong> der Akzeptierung einer<br />

allgemeineren Ordnung und der Identifikation mit ihr allzu sehr im Wege stehen. Auf<br />

<strong>die</strong>se Weise gelingt es, größere innere Konflikte zu vermeiden.<br />

Das Streben nach der Identifikation mit allgemeineren Ordnungen könnte man <strong>als</strong><br />

Streben nach (relativer) Vereinheitlichung des Willens bezeichnen. 245 Wenn dann<br />

aber <strong>die</strong>se allgemeinere Ordnung sehr weit vom Gewohnten entfernt liegt, kann es<br />

wieder zu einem deutlich erkennbar geteilten Willen kommen, wie wir es am Beispiel<br />

von Augustinus dargestellt haben (vgl. Abschnitt 5.4.3). An <strong>die</strong>sem Beispiel ist<br />

schließlich auch zu erkennen, wie der bewußte (wobei es zweifellos unendlich viele<br />

Gradunterschiede der Bewußtheit geben kann) geteilte Wille zu einem bewußten<br />

einheitlichen Willen <strong>auf</strong> hoher (Bewußtseins-) Ebene werden kann.<br />

zu d): Der vereinheitlichte, bewußte Wille bedeutet <strong>die</strong> Akzeptierung und Identifikation<br />

mit einem hohen oder höchsten Ziel oder Wert unter Zurückweisung aller<br />

anderen Identifikationsmöglichkeiten. Es kann somit keine Kalkulation der Vor- und<br />

Nachteile geben, sondern nur eine rückhaltlose Hingabe, wie sie vermutlich in<br />

einem relativ hohen Grad bei Napoleon oder M. Ratisbonne (vgl. das Beispiel aus<br />

Kap. 5.4.5) der Fall war.<br />

In partikularer Weise wird <strong>die</strong>se Einheit des Willens aber auch in Fällen hoher<br />

Konzentration erreicht, wie aus den Beispielen in Kap. 5.4.4 ersichtlich ist. Es ist<br />

<strong>die</strong>s eine nicht ganz identische Form des Willens, wie Montessori sie von konzentrierten<br />

Kindern berichtet, denn sie scheint <strong>auf</strong> einem höheren Niveau der Bewußtheit<br />

angesiedelt. Während das Kind sich fast automatisch in einem Interesse<br />

verliert, muß der Erwachsene bewußt alle Ablenkungen, alle anderen möglichen<br />

Identifikationen zurückweisen. Und während Kindern <strong>die</strong>se Konzentration in einer<br />

geeigneten Umgebung grundsätzlich sehr leicht zu fallen scheint (sie bemühen sich<br />

ja nicht darum, sondern "sie kommt zu ihnen"), gelingt sie nur wenigen der<br />

Erwachsenen und dann auch nicht allzu häufig; das Feld der Bewußtheit ist größer,<br />

vielfältiger, und daher ist <strong>die</strong> Einheit des Willens in der vollständigen Konzentration<br />

weniger einfach zu erreichen. Man kann es auch so sagen, daß <strong>die</strong> Hindernisse, <strong>die</strong><br />

beiseitezuschieben sind, um ein einziges Ziel oder Motiv zur Wirkung kommen zu<br />

245 Hier wäre etwa das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung zu nennen, wie Maslow es<br />

formuliert hat (Maslow 1977, S. 88-89 u. S. 216f.).<br />

124


lassen, zu viele geworden sind. Wenn nun eine Einheit trotzdem erreicht wird, ist sie<br />

<strong>auf</strong> einem etwas höheren Niveau der Bewußtheit erreicht worden.<br />

125


6. UNIVERSALES BEWUßTSEIN<br />

Wovon sind Menschen in ihrem Fühlen, Handeln und Denken bestimmt? Im letzten<br />

Kapitel wurde versucht, eine Antwort <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Frage zu geben, wobei insbesondere<br />

<strong>die</strong> Annahme von Motiven in hierarchischer Schichtung eine Rolle spielte. Es wird<br />

nun angenommen, daß <strong>die</strong>se Motive oder Steuerungsinstanzen weitgehend universalen<br />

Charakter haben auch wenn sie gesellschaftlich überformt und vom Einzelnen<br />

individuell interpretiert werden. Es wird zudem angenommen, daß nur <strong>die</strong> nicht<br />

bewussten, <strong>als</strong>o in der Hierarchie tiefer stehenden Motive unterbewußt sind (vgl.<br />

Kap. 6.2), während <strong>die</strong> nicht bewußten, aber in der Hierarchie höher angesiedelten<br />

Motive überbewußt sind (vgl. Kap. 6.3). Man könnte es daher so sehen, daß der<br />

Mensch von entgegengesetzten Bereichen oder Mächten – gewissermaßen <strong>als</strong>o<br />

von der Unterwelt und der Oberwelt – mal in <strong>die</strong> eine, mal in <strong>die</strong> andere Richtung<br />

gedrängt wird. Eine Frage ist daher, wie und ob <strong>die</strong>ser Gegensatz sich in einer<br />

Ganzheit <strong>auf</strong>lösen läßt (vgl. <strong>die</strong> Kap. 6.4.2).<br />

6.1 Die hierarchische Ordnung des Bewußtseins<br />

Bevor wir <strong>die</strong>se Hierarchie zu erläutern suchen, ist zu klären, warum <strong>die</strong> Annahme<br />

einer derartigen Hierarchie überhaupt notwendig erscheint. Es können wenigstens<br />

zwei Argumente dafür angeführt werden. Erstens gibt es Erfahrungsberichte, <strong>die</strong> nur<br />

so verstehbar erscheinen (vgl. besonders Kap. 6.3), und zweitens – darum wird es<br />

im folgenden noch ausführlicher gehen – ist <strong>die</strong> Entstehung von Neuem (individuelle<br />

und evolutionäre Kreativität), wenn man sie nicht <strong>als</strong> Zufall verstehen will, besser<br />

durch <strong>die</strong> Annahme eines hierarchisch strukturierten Bewußtseins erklärbar. Diese<br />

Annahme ist nicht neu, <strong>die</strong> idealistische Philosophie z. B. hat längst mit solchen<br />

Hypothesen gearbeitet, und nachdem <strong>die</strong> Wissenschaft derartige Annahmen lange<br />

Zeit abgelehnt hatte, gibt es, seltsamerweise gerade einige Naturwissenschaftler,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong>ser Annahme eines in und hinter der Materie verborgenen hierarchisch<br />

strukturierten Geistes oder Bewußtseins zuneigen. 1<br />

Es mag an <strong>die</strong>ser Stelle eine Rechtfertigung angebracht sein. Wieso kann es im<br />

Rahmen <strong>die</strong>ser von einer pädagogischen Fragestellung ausgehenden Arbeit, <strong>als</strong><br />

1<br />

Der folgende Abschnitt stützt sich im wesentlichen <strong>auf</strong> beiden britischen Astronomen Sir<br />

Fred Hoyle und Chandra Wickramasinghe. Weitere Namen und Literatur finden sich im<br />

Text.<br />

126


erforderlich betrachtet werden, metaphysisch-kosmologische Vorstellungen <strong>auf</strong>zugreifen?<br />

Welcher Zusammenhang kann zwischen <strong>die</strong>sen und pädagogischen<br />

Fragen bestehen? Wenn Pädagogik <strong>als</strong> <strong>die</strong> Aufgabe verstanden wird, herauszufinden<br />

wozu und wie Menschen erzogen oder gebildet und wie <strong>die</strong>se Möglichkeiten<br />

bewertet werden können, dann ist dazu unsere Vorstellung vom Menschen<br />

grundlegend. Dazu zählen aber auch Vorstellungen darüber, woher wir kommen<br />

und wohin wir gehen und damit <strong>die</strong> Frage nach dem Ursprung. Sollte eine gewisse<br />

Aussicht bestehen, daß pädagogische Probleme dadurch in ein neues Licht gerückt<br />

oder Zugänge zu neuen Antworten freigelegt werden, dann dürfte ein solcher<br />

Versuch nicht ganz unberechtigt und nutzlos sein.<br />

6.1.1 Das Problem evolutionärer Kreativität<br />

Das Problem ist <strong>die</strong> Entstehung von Neuem, <strong>die</strong> Entstehung von Leben, wo zuvor<br />

nur Materie war, und <strong>die</strong> Entstehung von Bewußtsein, wo zuvor nur unbewußtes<br />

Leben war. Die Darwinsche Evolutionstheorie, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Entstehung des Neuen<br />

durch Mutation und Selektion erklärt 2 , gerät unter Druck von verschiedenen Seiten. 3<br />

Versuchen wir, uns <strong>die</strong> Schwierigkeit durch ein einfaches Gedankenexperiment zu<br />

verdeutlichen. Nehmen wir irgendeinen Zeitpunkt der Evolution <strong>als</strong> gegeben, etwa<br />

den Punkt, <strong>als</strong> es noch keine Menschen, aber bereits hoch entwickelte Tiere gab.<br />

Nehmen wir weiter an, durch irgendeinen Umstand wäre es möglich gewesen, daß<br />

einige tausend oder hunderttausend hochqualifizierte Wissenschaftler von einem<br />

anderen Himmelskörper gekommen wären und <strong>die</strong> Erscheinungen der Erde für<br />

zwei- oder dreihundert Jahre hätten beobachten und untersuchen können,<br />

allerdings ohne jede Möglichkeit, auch nur im geringsten in <strong>die</strong> Prozesse<br />

einzugreifen. Wenn nun ihre Theorien im Grundsatz unseren Vorstellungen von<br />

Wissenschaft entsprochen hätten, hätten sie <strong>die</strong> Entwicklung des Menschen und der<br />

menschlichen Kultur aus den damaligen Zuständen vorhersagen oder auch nur<br />

irgendwie voraussehen können? Sicher nicht. Wenn aber, dann wäre es eine<br />

Prophetie gewesen und hätte mit Wissenschaft nichts zu tun gehabt. Und<br />

2<br />

3<br />

Es wäre natürlich höchst naiv zu glauben, <strong>die</strong>se Theorien seien in <strong>die</strong>ser Form erhalten<br />

geblieben und nicht weiter entwickelt und differenziert worden (vgl. hierzu etwa Jantsch<br />

1982 mit einer Fülle weiterer Literaturhinweise). Dennoch ist das Darwinsche Grundschema<br />

erhalten geblieben.<br />

Vgl. etwa Hoyle/Wickramasinghe 1978, 1979, 1983; Ditfurth 1981; Spaemann/Löw 1981;<br />

Illies 1978, 1983; Vollmert 1985.<br />

127


tatsächlich kann <strong>die</strong> Wissenschaft - wie wir sie verstehen - eigentlich nur<br />

wiederkehrende und keine einmaligen Ereignisse erklären. Man kann "den Ursprung<br />

neuer Formen entweder dem kreativen Handeln einer <strong>die</strong> Natur durchdringenden<br />

und sie transzen<strong>die</strong>renden Instanz zusprechen, ihn <strong>auf</strong> einen der Natur immanenten<br />

kreativen Impuls zurückführen oder ihn einem blinden und sinnlosen Zufall<br />

überlassen." 4 Aber eine Entscheidung über <strong>die</strong> hypothetischen Möglichkeiten kann<br />

nicht <strong>auf</strong> empirischer Basis erfolgen, zumindest aber nicht <strong>auf</strong> einer Basis, <strong>die</strong> den<br />

Ansprüchen gegenwärtiger Naturwissenschaft gerecht würde. "Aus <strong>die</strong>ser Sicht der<br />

Naturwissenschaft muß" daher "<strong>die</strong> Frage nach der evolutionären Kreativität<br />

unbeantwortet bleiben." 5 Wenn das Neue sich aber wiederholt, mit wie vielen<br />

Variationen auch immer (<strong>die</strong> wir dann <strong>als</strong> das Neue ansehen), ist es nichts Neues<br />

mehr. Andererseits kann <strong>die</strong>s nicht bedeuten, daß der Versuch einer Erklärung des<br />

Neuen unzulässig wäre.<br />

Sir Fred Hoyle und Chandra Wickramasinghe haben in ihrer Auseinandersetzung<br />

mit der Evolutionstheorie dargestellt, daß das Leben keinen zufälligen Anfang<br />

gehabt haben kann, d. h., daß es z. B. nicht durch zufällige Bildung biochemischer<br />

Substanzen in einer angenommenen Ursuppe erklärt werden könne. Die<br />

Mikrobiologie habe gezeigt, daß selbst <strong>die</strong> einfachsten biochemischen Substanzen<br />

derart komplex sind, daß <strong>die</strong> Wahrscheinlichkeit ihrer Bildung durch zufällige<br />

Mischung einfacher organischer Moleküle so außerordentlich klein sei, daß sie<br />

kaum von einer Wahrscheinlichkeit von Null unterschieden werden könne.<br />

Unendlich komplizierter und entsprechend mehr Information erfordernd sei dann<br />

aber <strong>die</strong> Entwicklung so hoch organisierter materieller Strukturen, wie sie einer<br />

Blume, einer Maus, einem Pferd oder einem Menschen zugrundeliegen. 6 Eine <strong>auf</strong><br />

Zufall beruhende Entwicklung würde unendliche Zeitspannen benötigen, während<br />

<strong>die</strong> tatsächliche Entwicklung eher in einem, im Vergleich zur ungeheuren<br />

Komplexität des Geschehens, rasenden Tempo vor sich ging. 7 Sie versuchen, <strong>die</strong><br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

Sheldrake 1983, S. 146.<br />

Ebenda.<br />

Hoyle/Wickramasinghe 1983, S. XV.<br />

Dies., S. 163-164. Die Hauptthese des Buches ist allerdings, daß <strong>die</strong> Evolution des<br />

Lebens nur verstehbar sei, wenn man sie nicht <strong>als</strong> eine rein irdische Angelegenheit betrachte,<br />

wie <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Biologen ja tun (und <strong>die</strong> daher auch einer vorkopernikanischen<br />

Weltsicht bezichtigt werden), sondern daß <strong>die</strong> Entwicklung des Lebens verstanden<br />

werden müsse <strong>als</strong> ein Ergebnis kosmischer Evolution und zugleich eines dem Kosmos<br />

inhärenten universalen Bewußtseins. Hier muß allerdings eingewandt werden, daß das<br />

Wissen darum, woher das Leben kommt, <strong>die</strong>ses selbst wohl kaum verständlicher<br />

machen kann.<br />

128


(Un-)Wahrscheinlichkeit der Schöpfung <strong>auf</strong>grund von Zufall durch folgende Analogie<br />

zu verdeutlichen:<br />

"Wie groß <strong>die</strong> Umwelt auch ist <strong>die</strong> man betrachtet: Das Leben kann nicht<br />

zufällig entstanden sein. Riesige Affenhorden, <strong>die</strong> beliebig <strong>auf</strong> Schreibmaschinen<br />

herumhämmern, könnten Shakespeares Werke schon deshalb nicht<br />

zustande bringen, weil das ganze beobachtbare Universum nicht groß genug<br />

ist, <strong>die</strong> dazu erforderlichen Affenhorden, Schreibmaschinen und natürlich<br />

auch <strong>die</strong> Papierkörbe zu beherbergen, in denen <strong>die</strong> fehlgeschlagenen Versuche<br />

Platz hätten. Das gilt für lebende Materie ebenso." 8<br />

Hoyle und Wickramasinghe behaupten <strong>als</strong>o, daß <strong>die</strong> Entwicklung des Lebens <strong>auf</strong><br />

der Basis von Kohlenstoff nicht ohne Intelligenz - oder vielleicht besser: Bewußtsein<br />

- vorstellbar sei. Aber es müßte natürlich eine Art von Bewußtsein sein, das von<br />

dem unseren völlig verschieden wäre. Denn es wäre uns unmöglich, jene Zusammenhänge<br />

von uns aus zu erzeugen, <strong>die</strong> wir mit größter Mühe hinter den Erscheinungen<br />

entziffern. So stellen wir uns vor, das Leben habe sich zufällig entwickelt.<br />

Aber auch wenn<br />

"man <strong>die</strong> Annahme hätte <strong>auf</strong>rechterhalten können, das Leben sei zufällig aus<br />

anorganischer Materie entstanden, wäre aus <strong>die</strong>ser Situation nicht viel zu<br />

machen gewesen. Alles wäre ein Ergebnis des Zufalls. Aber sobald wir<br />

erkennen, daß <strong>die</strong> Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Entstehung des Lebens<br />

so winzig ist, daß <strong>die</strong>ses Zufallskonzept absurd wird, ist der Gedanke<br />

vernünftig, daß <strong>die</strong> günstigen Voraussetzungen der Physik, von denen das<br />

Leben abhängt, in jeder Hinsicht absichtlich herbeigeführt worden sind." 9<br />

Wenn eine zufällige Entwicklung so extrem unwahrscheinlich ist 10 , wie ist dann eine<br />

nicht-zufällige, d. h. irgendwie gesteuerte Entwicklung möglich, wie kann sie erklärt<br />

werden? Sicherlich nicht durch <strong>die</strong> naive und durch <strong>die</strong> Naturwissenschaften zu Fall<br />

gebrachte Annahme, Gott habe den Menschen, <strong>die</strong> Tiere und alles geschaffen. 11<br />

Aber wenn <strong>die</strong> Evolution <strong>als</strong> gesteuert angenommen werden muß, dann kann auch<br />

ein Bewußtsein angenommen werden, das <strong>die</strong>se Steuerung irgendwie ausübt. Da<br />

<strong>die</strong>s keine direkte oder unmittelbare Steuerung durch eine einzige Intelligenz<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

Hoyle/Wickramasinghe 1983 D, S. 164.<br />

Dies., S. 158.<br />

Warum <strong>die</strong> Biologen oder Evolutionstheoretiker dennoch so stark an der Zufallstheorie<br />

hängen, versuchen Hoyle und Wickramasinghe 1983, S. 145f., recht ausführlich zu<br />

klären.<br />

Ebenda, S. 156-157.<br />

129


jenseits von allem sein dürfte, könnte es sich um eine sequentielle Form der<br />

Steuerung handeln, <strong>die</strong> sie folgendermaßen darstellen:<br />

... ???? ??? ?? ? Mensch ... 12<br />

Die links vom Menschen in der Folge zunehmenden Fragezeichen stellen Terme<br />

dar und weisen jeweils <strong>auf</strong> eine Intelligenz oder Bewußtsein hin. So gibt es irgendwo<br />

eine Intelligenz, "<strong>die</strong> <strong>die</strong> biochemischen Substanzen konstruiert und damit den<br />

Ursprung des vom Kohlenstoff abhängigen Lebens ermöglicht hat." 13 Diese<br />

Konstruktions-Hypothese ist sicher eine nicht unproblematische Übertragung<br />

unserer Denkformen <strong>auf</strong> eine kosmische oder universale Intelligenz. Die Autoren<br />

scheinen ihre "Hypothese" auch nur <strong>als</strong> eine vorläufige Formulierungsweise zu<br />

betrachten, denn im weiteren Verl<strong>auf</strong> ihrer Darstellung entwickeln sie eine zunehmend<br />

komplexere Vorstellung von Intelligenz oder Bewußtsein. Diese Entwicklung<br />

wird an der obigen Folge von Fragezeichen demonstriert.<br />

Die Folge, <strong>die</strong> nach links geht, hört nirgends <strong>auf</strong>; sie geht vielmehr immer weiter mit<br />

immer mehr Fragezeichen. Wie eine unendliche mathematische Folge strebt sie<br />

einem Grenzwert zu (den <strong>die</strong> Autoren offenbar im Unendlichen selbst annehmen).<br />

Dieser Grenzwert, meinen sie, sei Gott (oder besser: das Absolute), und Gott sei<br />

das Universum 14 , d.h. <strong>als</strong>o nicht nur jener Grenzwert, sondern ebenso <strong>die</strong> gesamte<br />

Folge. Die Folge ergäbe keinen Sinn, wenn nicht jede der durch Fragezeichen<br />

bezeichneten Intelligenzen (oder Bewußtseinsebenen) in allen weiter links stehenden<br />

Intelligenzen enthalten wäre. Sie folgern darum, es sei "nahezu unvermeidlich,<br />

daß unser eigenes Maß an Intelligenz <strong>die</strong> "höheren Intelligenzen" <strong>auf</strong> der linken<br />

Seite ebenfalls reflektiert, und zwar bis hin zum idealen Grenzwert, den sie etwas<br />

provokatorisch immer <strong>als</strong> Gott bezeichnen. Da unsere Intelligenz <strong>die</strong>sem Idealbild<br />

aber offenbar nicht entspricht, muß ein Fehler vorliegen, den sie in der Begrenzung<br />

unseres Intellektes sehen, wobei wir aber <strong>die</strong> Fähigkeit besäßen, "innerhalb der uns<br />

gegebenen Möglichkeiten, korrekt zu denken und zu folgern." 15<br />

Als Beispiel für <strong>die</strong> Begrenzung unseres Verstandes nennen sie <strong>die</strong> Untersuchung<br />

der Eigenschaften der Enzyme. Obwohl wir mit der "unglaublichen Menge an<br />

Details" nicht fertigwerden könnten, sei es uns doch möglich, "<strong>die</strong> allgemeine<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

Hoyle/Wickramasinghe 1983, S. 158.<br />

Ebenda, S. 158.<br />

Ebenda, S. 158.<br />

Ebenda, S. 159.<br />

130


Richtung zu verstehen." Es sei <strong>als</strong>o anzunehmen, daß wir zwar nicht im einzelnen<br />

nachahmen könnten, was <strong>die</strong> Intelligenzen (oder Bewußtseinsebenen) "ganz links in<br />

der Folge tun", aber doch verstehen könnten, "mit was für einer Art Unfug sie sich<br />

beschäftigen." Und das sei es eigentlich, was Wissenschaft ausmache. 16<br />

Es handelt sich <strong>als</strong>o nicht um eine einfache unendliche Folge, sondern um eine<br />

Hierarchie von Intelligenzen oder Bewußtseinsebenen, wobei <strong>die</strong> höheren Ebenen<br />

<strong>die</strong> niederen enthalten, <strong>die</strong> niederen Ebenen allerdings können <strong>die</strong> höheren und<br />

höchsten prinzipiell zum Ausdruck bringen (vgl. dazu auch Kap. 6.4).<br />

Wenn wir nun versuchen, <strong>die</strong> Vorstellung von Hoyle und Wickramasinghe <strong>auf</strong> das in<br />

Kap. 4 dargestellte Diagramm des Bewußtseins zu übertragen, sind wir gezwungen,<br />

an deren sequentiellem Steuerungsmodell einige Änderungen vorzunehmen. Geht<br />

man aus vom ideellen "Grenzwert" in der Terminologie von Hoyle und Wickramasinghe,<br />

dann könnte man <strong>die</strong>sen <strong>als</strong> den Urgrund oder Ursprung allen Seins<br />

verstehen, <strong>als</strong> das Absolute Bewußtsein, das alles in sich enthält, alles aus sich<br />

hervorbringt und alles ist. In unserem Diagramm wäre <strong>die</strong>ser Urgrund symbolisch im<br />

weißen Blatt zu sehen, das alles andere enthält und doch nicht davon begrenzt wird.<br />

Dieser Urgrund, <strong>die</strong>ses Absolute Bewußtsein, das man sich unbegrenzbar und<br />

undefinierbar vorstellen muß, da es sonst ja nicht mehr absolut wäre, bringt aus sich<br />

selbst unser endliches Universum und <strong>die</strong> Evolution des noch begrenzteren<br />

individuellen Bewußtseins hervor. Es enthält in eingefalteter, impliziter Weise alle<br />

Ordnungen und Formen, <strong>die</strong> es entfalten, entwickeln kann. 17 Die Werkzeuge oder<br />

<strong>die</strong> Zwischenstufen, <strong>die</strong> vom Absoluten, vom Undefinierbaren und Unbegrenzbaren<br />

zum Endlichen führen, werden hier - wie bei Hoyle und Wickramasinghe - in<br />

hierarchisch gestuften Bewußtseinsebenen bzw. Ebenen impliziter Ordnung<br />

vorgestellt. In jeder <strong>die</strong>ser Ebenen ist das Ganze oder Absolute enthalten, obgleich<br />

es nicht durch sie begrenzt oder definiert werden kann.<br />

Materie könnte sich demnach durch Bewußtseins-Ebenen entwickelt haben, in<br />

denen das Absolute Bewußtsein sich vergißt und unbewußt wird, sich sozusagen<br />

einfaltet, involviert, obgleich es immer auch darin enthalten wäre. So wie das<br />

Bewußtsein von Zielen und Werten uns zum Handeln treibt, ist auch <strong>auf</strong> <strong>die</strong>sen<br />

Ebenen ein eingefaltetes Bewußtsein <strong>als</strong> Energie denkbar. Durch seine implizite<br />

Ordnung könnte das Absolute Bewußtsein energetische Strukturen und dadurch<br />

16<br />

17<br />

Ebenda, S. 159.<br />

Vgl. hierzu insbesondere <strong>die</strong> Theorie der impliziten Ordnung von Bohm, 1985.<br />

131


Formen erzeugen. Und Materie ist nach den Erkenntnissen der heutigen Physik<br />

eine energetische Struktur.<br />

Wenn ein hierarchischer Aufbau von universalen Bewußtseinsebenen angenommen<br />

wird, in denen das Absolute Bewußtsein sich in zunehmend weniger verhüllter oder<br />

eingefalteter Weise reflektiert, dann würde <strong>die</strong>s Evolution in einer Weise verständlich<br />

machen, <strong>die</strong> ohne einen Demiurgen auskommt und "erklärt", wie Gesetz und<br />

Zufall <strong>auf</strong>grund einer impliziten Ordnung zur Wirkung kommen.<br />

Nimmt man das individuelle Bewußtsein <strong>als</strong> Schnittstelle in der Evolution (und nicht<br />

<strong>als</strong> Höhepunkt), dann wäre <strong>die</strong> Entstehung der Formen der Materie und des<br />

unbewußten Lebens von den Ebenen des Unterbewußtseins gesteuert. Das<br />

Auftauchen des individuellen Bewußtseins aus dem Unbewußten, das eines der<br />

größten Wunder der Evolution darstellt, kann, ähnlich wie bei Hoyle und<br />

Wickramasinghe, durch hierarchisch höhere, <strong>als</strong>o in <strong>die</strong>sem Fall überbewußte<br />

Ebenen des universalen Bewußtseins verstanden werden, ebenso wie <strong>die</strong> weitere<br />

Entwicklung, wenn sie über den Menschen oder das menschliche Bewußtsein<br />

hinausführen sollte.<br />

Diese hier nur knapp skizzierte Vorstellung ist keineswegs neu oder revolutionär.<br />

Sie wurde und wird in verschiedenen Philosophien und Religionen vertreten. 18 Man<br />

findet sie teils aber auch in der modernen Physik. 19 Die Vorstellungen wandeln sich<br />

ständig in ihren Einzelheiten, aber <strong>die</strong> grundlegenden Schemata scheinen erhalten<br />

zu bleiben. Während beispielsweise Kant und Laplace sich <strong>die</strong> Entwicklung des<br />

Universums aus feinverteilter Materie vorstellten (der eine nahm Staub an, der<br />

andere Gas), vermuten <strong>die</strong> heutigen Physiker, daß schwarze Strahlung und<br />

Temperaturen um 60.000 Grad Celsius für den Start in <strong>die</strong> Evolution genügten. So<br />

verschieben sich im L<strong>auf</strong>e der Zeit <strong>die</strong> Vorstellungen der Philosophen und<br />

Wissenschaftler von gröberen zu immer feineren Stoffen. Hoyle und Wickramasinghe<br />

brauchen nur noch eine völlig unstoffliche universale Intelligenz. Bohm<br />

nimmt einen transzendenten Urgrund aller Erscheinungen an, der aber zugleich<br />

18<br />

19<br />

Man kann sich hierbei z.8. auch <strong>auf</strong> <strong>die</strong> indische Philosophie stützen (vgl. Mohanty<br />

1978). Man könnte auch einen großen Teil der abendländischen Philosophie dazu<br />

heranziehen (besonders Hegel). Eine geschichtliche Darstellung relativ früher Auffassungen<br />

(besonders der griechischen Philosophie) gibt, wenn auch in etwas ablehnender<br />

Weise, Topitsch 1972. Eine Diskussion religiöser und mythischer Vorstellungen findet<br />

man bei Eliade 1973, 1976.<br />

Vgl. Bohm 1985.<br />

132


auch wieder <strong>die</strong>sen Erscheinungen immanent ist. 20 Er nähert sich damit sehr an <strong>die</strong><br />

indische Philosophie an. Wie <strong>die</strong>se, so schlägt auch Bohm <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Weise eine<br />

Brücke zur Psychologie. Denn nach <strong>die</strong>ser Vorstellung hat das individuelle<br />

Bewußtsein letztlich denselben Ursprung wie Materie. Er versucht von daher einen<br />

Ansatz zu entwickeln, der <strong>die</strong> "Fragmentierung" (Bohm) unseres Weltbildes <strong>auf</strong>hebt<br />

und eine mehr ganzheitliche Sichtweise möglich machen soll. Sicher ist <strong>die</strong>s ein<br />

gewagter Versuch, und er mag in vieler Hinsicht unzureichend und unbefriedigend<br />

sein. Aber vermutlich sind solche Versuche nötig, um durch sie Erfahrungen zu<br />

gewinnen, <strong>die</strong> zur Entwicklung befriedigender Vorstellungen beitragen.<br />

Nun kann man weiter argumentieren, daß all <strong>die</strong>s ohnehin "nur" metaphysische<br />

Spekulation sei und eine wissenschaftliche Prüfung und Beantwortung grundsätzlich<br />

unmöglich sei. Aber auch <strong>die</strong> Ansichten über das, was beantwortbar und was<br />

unbeantwortbar ist, gehen naturgemäß auseinander. Ditfurth z. B., hält den Anfang,<br />

den "Ursprung der Urmaterie", den Bau des Wasserstoffatoms für ein Geheimnis,<br />

das wir grundsätzlich nicht entschlüsseln können. Alles aber, was danach komme,<br />

sei ein legitimer und prinzipiell zugänglicher Gegenstand der Naturwissenschaft. 21<br />

Dagegen weisen z. B. Sheldrake 22 und Pauli 23 dar<strong>auf</strong> hin, daß sich <strong>die</strong> Wissenschaft<br />

<strong>auf</strong> das beschränken müsse, was reproduzierbar sei, während alles Einmalige sich<br />

der wissenschaftlichen Untersuchung entziehe. Aber <strong>die</strong>ses Einmalige, Kreative tritt<br />

im L<strong>auf</strong>e der Evolution immer wieder <strong>auf</strong>. Nicht nur <strong>die</strong> Entstehung der Materie war<br />

ein einmaliger kreativer Vorgang, sondern auch (wenn wir nur <strong>die</strong> großen Sprünge<br />

berücksichtigen) <strong>die</strong> Entstehung des Lebens und <strong>die</strong> Entstehung des Bewußtseins.<br />

Bergson 24 weist andererseits dar<strong>auf</strong> hin, daß es nicht stimme, daß eine<br />

wissenschaftliche Beobachtung immer der Wiederholung zugänglich sei, wie das<br />

Beispiel extrem seltener astronomischer Ereignisse zeige.<br />

In der Wissenschaft, wie sie ist, kann selbstverständlich nur Bestand haben, was mit<br />

heutigen Methoden prüfbar ist. In <strong>die</strong>sem Rahmen hat nun Sheldrake eine Theorie<br />

vorgelegt, <strong>die</strong> der Vorstellung hierarchischer Bewußtseinsebenen, <strong>die</strong> <strong>auf</strong>grund<br />

impliziter Ordnungen Steuerungsprozesse ausüben, sehr nahe kommen.<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

Ebenda.<br />

Vgl. Ditfurth 1976, S. 119.<br />

Vgl. Sheldrake 1983.<br />

Vgl. Pauli 1961.<br />

Vgl. Bergson 1980, S. 243.<br />

133


6.1.2 Morphogenetische Felder <strong>als</strong> Formationen von Bewußtsein<br />

Die Annahme von Steuerungssystemen <strong>auf</strong> verschiedenen Ebenen ist (allerdings<br />

ohne ein universales Bewußtsein ins Spiel zu bringen) in der Biologie zur Erklärung<br />

der Morphogenese seit längerem vorgeschlagen worden 25 , zuletzt von Sheldrake. 26<br />

Eines der Grundprobleme der Biologie ist, <strong>die</strong> "Entstehung der charakteristischen<br />

Formen von Embryos und anderer sich entwickelnder Systeme zu beschreiben oder<br />

zu erklären." 27 Das Problem ist, warum überhaupt Form entsteht, wie <strong>die</strong>se Form im<br />

weiteren <strong>auf</strong>rechterhalten wird und wie <strong>die</strong> Entwicklung der Form vor sich geht.<br />

Denn in der Entwicklung treten Formen oder Strukturen <strong>auf</strong>, <strong>die</strong> nicht "schon zu<br />

Beginn der Entwicklung im Ei angelegt waren." 28<br />

Die am ehesten allgemein bekannte und in weitesten Kreisen akzeptierte Erklärung<br />

hierfür scheint in der Steuerung <strong>die</strong>ser Prozesse durch genetische Programme zu<br />

bestehen. 29 Aber das Konzept ist nicht schlüssig, denn <strong>die</strong> chemische Struktur der<br />

DNS wird in identischer Weise <strong>auf</strong> alle Zellen übertragen, obgleich <strong>die</strong>se sich sehr<br />

verschieden entwickeln. Diese unterschiedlichen Entwicklungsmuster könnte man<br />

nur durch Superprogramme innerhalb der DNS erklären, <strong>die</strong> genauer festlegen,<br />

welche Informationen in den höchst differenzierten Gewebestrukturen gerade<br />

wirksam werden müssen. 30<br />

Zur Lösung <strong>die</strong>ses Problems (und auch zahlreicher anderer) stellt Sheldrake <strong>die</strong><br />

Hypothese <strong>auf</strong>, "daß spezifische morphogenetische Felder für <strong>die</strong> charakteristische<br />

Form und Organisation von Systemen <strong>auf</strong> allen Ebenen unterschiedlicher Komplexität<br />

zuständig sind ..." 31 Man kann sich <strong>die</strong> morphogenetischen Felder <strong>als</strong>o hierarchisch,<br />

d.h. entsprechend der Komplexität geordnet vorstellen. "Zum Beispiel enthält<br />

ein Kristall Moleküle, <strong>die</strong> Atome enthalten, <strong>die</strong> wieder subatomare Teilchen enthalten."<br />

32 Und in <strong>die</strong>ser hierarchischen Ordnung bestehen auch <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen Formen<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

31<br />

32<br />

Vgl. Goodwin 1979; Gurwitsch 1922; Waddington 1975; Weiss 1939.<br />

Sheldrake 1983.<br />

Ebenda, S. 12-13.<br />

Ebenda, S. 17.<br />

Vgl. ebenda, S. 19, S. 24 u. S. 32ff. Es gibt auch andere Theorien der Morphogenese,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Entwicklung von Formen nicht vollständig von der DNS abhängig machen, aber<br />

sie sind vermutlich weniger allgemein bekannt. Vgl. aber ausführlich dazu Sheldrake<br />

1983, S. 30f.<br />

Das ist nur eines der Probleme <strong>die</strong>ser Theorie. Vgl. ausführlicher Sheldrake 1983, S.<br />

32ff.<br />

Ebenda, S. 13.<br />

Ebenda, S. 70-71.<br />

134


entsprechenden, sie hervorbringenden und <strong>auf</strong>rechterhaltenden morphogenetischen<br />

Felder. In gleicher Weise enthalten z. B. Tiere Organe, <strong>die</strong> Organe Gewebe, <strong>die</strong><br />

Gewebe Zellen usw.<br />

Sheldrakes Ansatz versucht <strong>als</strong>o, <strong>die</strong> Aufrechterhaltung und Entwicklung von<br />

Formen nicht nur im Bereich der Biologie, sondern auch "in den Bereichen der<br />

Chemie und Physik" 33 , <strong>als</strong> auch im Bereich der Formen menschlichen bzw.<br />

kulturellen oder gesellschaftlichen Verhaltens (<strong>als</strong>o Bereichen sehr hoher Komplexität)<br />

zu erklären. 34<br />

Morphogenetische Felder sind zu verstehen <strong>als</strong> nicht-materielle Steuerungssysteme,<br />

<strong>die</strong> "in der Tat physikalische Effekte haben". 35 Da <strong>die</strong> von ihnen gesteuerten<br />

Systeme ihre Strukturen ändern, müssen auch <strong>die</strong> Strukturen der morphogenetischen<br />

Felder sich ändern. Die Antwort Sheldrakes ist, daß <strong>die</strong>se Felder einerseits<br />

ihre Struktur von früheren Feldern ableiten 36 und anderseits auch durch das aktuelle<br />

Verhalten, z. B. der Menschen, beeinflußt werden können, d. h. es besteht eine<br />

Wechselwirkung.<br />

"Die morphogenetischen Felder aller vergangenen Systeme werden für jedes<br />

folgende System gegenwärtig, <strong>die</strong> Strukturen vergangener Systeme wirken<br />

<strong>auf</strong> folgende ähnliche Systeme durch einen sich verstärkenden Einfluß, der<br />

über Raum und Zeit hinaus wirksam ist. Aus <strong>die</strong>ser Hypothese folgt, daß<br />

Systeme in einer bestimmten Weise organisiert werden, weil ähnliche<br />

Systeme <strong>auf</strong> eben <strong>die</strong>se Weise in der Vergangenheit organisiert wurden. So<br />

kristallisieren <strong>die</strong> Moleküle eines komplexen organischen Präparats deshalb<br />

zu einem charakteristischen Muster, weil <strong>die</strong> gleiche Substanz <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Art<br />

zuvor kristallisierte; eine Pflanze nimmt <strong>die</strong> für ihre Art charakteristische Form<br />

an, weil frühere Exemplare ihrer Art <strong>die</strong> gleiche Form annahmen; und ein Tier<br />

handelt instinktiv <strong>auf</strong> eine bestimmte Weise, weil ähnliche Tiere sich zuvor<br />

ebenso verhielten." 37<br />

Wie es möglich ist, daß neue Formen oder Muster entstehen, wird von <strong>die</strong>ser<br />

Theorie <strong>als</strong>o nicht geklärt. Diese Frage "liegt außerhalb ihres Betrachtungsfeldes". 38<br />

33<br />

34<br />

35<br />

36<br />

37<br />

38<br />

Sheldrake 1983, S. 13.<br />

Vgl. ebenda, S. 189ff.<br />

Ebenda, S. 13.<br />

Vgl. ebenda, S. 88ff.<br />

Ebenda, S. 13 u. 14.<br />

Ebenda, S. 14.<br />

135


Der Annahme <strong>die</strong>ser Theorie steht allerdings ein psychologisches Hindernis entgegen.<br />

Man kann sich nicht gut vorstellen, wie etwas Physisches von einem raum-<br />

und zeitunabhängigen "Feld" ursächlich beeinflußt werden kann. 39<br />

Wir verbinden<br />

Kausalität zumeist mit Kontiguität, aber Kontiguität ist keineswegs notwendig mit<br />

Kausalität verbunden. 40<br />

Im übrigen ist <strong>die</strong> Vorstellung von Fernwirkungen schon<br />

immer <strong>auf</strong> Mißtrauen gestoßen. 41 Und <strong>die</strong>s, obgleich vom<br />

"Standpunkt des gesunden Menschenverstandes <strong>die</strong> Art der Fernwirkung, <strong>die</strong><br />

<strong>als</strong> Telepathie bezeichnet wird, nicht rätselhafter [ist], <strong>als</strong> jene andere<br />

Fernwirkung, <strong>die</strong> man universale Schwerkraft nennt. Als Kepler achtzig Jahre<br />

vor Newton mit der abenteuerlichen Vermutung hervortrat, daß <strong>die</strong> Gezeiten<br />

durch <strong>die</strong> Anziehungskraft des Mondes verursacht würden, lehnte Galilei<br />

<strong>die</strong>se Idee <strong>als</strong> okkulte Wahnvorstellung ab, <strong>die</strong> im Widerspruch zu den<br />

Naturgesetzen stehe. Und Newton selbst lehnte <strong>die</strong> Vorstellung einer<br />

universalen Schwerkraft ab, falls es nicht irgendein interstellares Medium<br />

gebe, welches <strong>als</strong> ihr Träger wirken könne. In seinem dritten Brief an Bentley<br />

schrieb er: 'Daß ein Körper über eine Entfernung, durch ein Vakuum<br />

hindurch, wirken könne, ohne Vermittlung irgendeines stofflichen Trägers ...<br />

ist für mich ein solcher Widersinn, daß kein Mensch, der seine fünf Sinne<br />

beisammen hat, ihm verfallen kann.' "Und doch verfielen wir ihm alle, wie<br />

Schuljungen in einem Klassenzimmer, ohne daß wir uns unseres Zustands<br />

des Gefallenseins bewußt wurden. So groß ist <strong>die</strong> Macht der Gewohnheit im<br />

Denken." 42<br />

Sheldrakes Theorie läßt viele Folgerungen zu und kann <strong>auf</strong> zahlreiche Phänomene<br />

unseres Verhaltens angewandt werden. Das, was wir <strong>als</strong> Kultur oder Zeitgeist oder<br />

auch <strong>als</strong> Gesellschaft beschreiben (das trifft auch <strong>auf</strong> andere Abstrakta zu), sind <strong>als</strong><br />

solche nicht greifbar, und doch üben sie offenbar Wirkungen aus. Wir können sie<br />

nun verstehen <strong>als</strong> <strong>die</strong> komplexen Formationen entsprechender morphogenetischer<br />

Felder.<br />

In ähnlicher Weise kann man Gedanken, Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen,<br />

Worte <strong>als</strong> Bildungen derartiger Formationen interpretieren und nicht nur <strong>als</strong><br />

vorübergehende und unwirksame Schallwellen (wenn sie ausgesprochen werden)<br />

oder <strong>als</strong> ephemere Bewegungen des Bewußtseins. Sie können daher eine<br />

39<br />

40<br />

41<br />

42<br />

Sheldrake 1983, S. 100f., hat allerdings selbst Vorschläge für einen experimentellen Test<br />

gemacht. Tatsächlich ist <strong>die</strong> Theorie prüfbar und zumindest vorläufig (soweit mir<br />

bekannt) nicht widerlegt.<br />

Vgl. hierzu auch <strong>die</strong> Ausführungen und Zitate bei Sheldrake 1983, S. 90-91.<br />

Koestler 1980, S. 243-244.<br />

Koestler 1980, S. 243-244.<br />

136


leibende oder immer wiederkehrende Wirkung <strong>auf</strong> uns ausüben (vgl. auch Kap.<br />

5.2.3). Unser Denken wäre sozusagen <strong>die</strong> Wiederholung oder Umformung von<br />

überzeitlichen Formationen des Mentalen und unsere Gefühle <strong>die</strong> Wiederholung<br />

und Umformung von entsprechenden Formationen eines universalen und überzeitlichen<br />

Emotionalen.<br />

Wenn der Mensch ein evolutionäres Wesen ist, das sich vom Tier zum Menschen<br />

entwickelt hat, dann wird dadurch verständlich, daß jene frühen Verhaltensmuster<br />

auch heute <strong>auf</strong> uns wirken und von uns zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Kap.<br />

6.2). Wenn wir schließlich <strong>die</strong> Theorie der morphogenetischen Strukturen - mit<br />

Sheldrake - durch <strong>die</strong> Annahme eines "transzendentalen Bewußtseins" ergänzen,<br />

"das <strong>die</strong> Ursache des Universums und alles darin Existierenden wäre" 43 , dann wird<br />

auch <strong>die</strong> Entstehung neuer Strukturen verstehbar. Alles hätte teil an jenem<br />

transzendenten bewußten Sein oder dem Absoluten und könnte "<strong>als</strong> Spiegelung der<br />

transzendenten Einheit betrachtet werden." 44<br />

6.2 Das Unterbewußte<br />

Das Unterbewußte bezeichnet in unserem Zusammenhang jenen im Prinzip<br />

unendlichen Bereich des Nicht-Bewußten unterhalb der Ebene des individuell<br />

Bewußten oder mittelbar Bewußten. Weite Bereiche unseres Daseins unterliegen<br />

zwar geregelten Steuerungen, aber <strong>die</strong>se Steuerungen sind unterhalb der Schwelle<br />

unseres Bewußtseins. Das Unterbewußte wird hier <strong>als</strong>o im Sinne eines universalen<br />

Unbewußten verstanden, im Gegensatz zum individuellen oder personalen<br />

Unbewußten, das aus einst bewußten Erfahrungen besteht, <strong>die</strong> unterdrückt,<br />

vergessen, verdrängt worden sind. 45<br />

6.2.1 Steuerungfunktionen des Unterbewußten<br />

Beginnen wir mit den Steuerungen des Unterbewußten <strong>auf</strong> der Ebene des<br />

Organischen. Die Funktion der Zellen und Organe unterliegt keiner bewußten<br />

43<br />

44<br />

45<br />

Sheldrake 1983, S. 201.<br />

Ebenda.<br />

Vgl. hierzu etwa Freud 1975 (11915). Zur Geschichte der Entdeckung und Erforschung<br />

des Unbewußten im engeren, mehr individuellen Sinn, vgl. Ellenberger 1973, Whyte<br />

1960.<br />

137


Steuerung, und zweifellos wären wir unfähig, jene hochkomplexen Prozesse mit<br />

unserem begrenzten Bewußtsein auch nur annähernd zu beherrschen. Nehmen wir<br />

<strong>als</strong> Beispiel unsere Leber. Die Prozesse, in denen sie <strong>die</strong> vielfältigen Stoffe<br />

gleichzeitig verarbeitet und umwandelt, würden, wenn wir sie im Labor<br />

nachvollziehen wollten, enorme Anlagen erfordern. 46<br />

Die Entscheidungen, <strong>die</strong> im<br />

Verl<strong>auf</strong> <strong>die</strong>ser Prozesse notwendig werden und <strong>die</strong> sich nach den jeweils<br />

unterschiedlichen Bedingungen der Ernährung, des Gesundheitszustandes usw.<br />

unterscheiden und ständigen Änderungen unterliegen, <strong>die</strong>se in <strong>die</strong>sen<br />

Zusammenhängen zu treffenden Entscheidungen wären so komplex, daß wir mit<br />

ihrer Erledigung nicht nur ausgelastet, sondern überlastet wären. So schreibt der<br />

Biologe Lewis Thomas, daß nichts ihn und seine Leber retten würde, wenn er <strong>die</strong><br />

Verantwortung trüge. Denn er sei "erheblich weniger intelligent" <strong>als</strong> seine Leber. 47<br />

In vergleichbarer Weise trifft <strong>die</strong>s <strong>auf</strong> das Gehirn zu. Wären wir gezwungen, unsere<br />

Gedanken selbst zu formen und in Worte zu bringen, es würde vermutlich alles<br />

durcheinandergeraten, oder - wie Thomas es formuliert: "Ich bezweifle, ob ich je<br />

imstande wäre, meine eigenen Gedanken zu denken.“ 48 Durch Biofeedback ist es<br />

nun möglich etwa den Herzschlag und andere sonst der bewußten Kontrolle<br />

entzogene Funktionen auch willentlich zu beeinflussen. Aber es geht bei <strong>die</strong>sen<br />

Techniken weniger darum, jene organischen Funktionen bewußt zu steuern,<br />

sondern sie sollen dazu <strong>die</strong>nen, zu lernen, nicht unterbewußt einen Einfluß <strong>auf</strong><br />

<strong>die</strong>se Funktionen zu nehmen, was offenbar häufig der Fall ist, sondern<br />

"loszulassen", zu entspannen und dem Unterbewußten <strong>die</strong> Heilung oder<br />

Regeneration des Körpers anzuvertrauen.<br />

Auch unserem Fühlen, Denken und Tun liegen unterbewußte Prädispositionen<br />

zugrunde, <strong>die</strong> es in teilweise festen und immer wiederkehrenden Bahnen abl<strong>auf</strong>en<br />

lassen. So bekennt der englische Schriftsteller Charles Lamb:<br />

"Für mich selbst, erdgebunden und gefesselt an das Schauspiel meiner<br />

Tätigkeiten, muß ich bekennen, daß ich wirklich <strong>die</strong> Verschiedenheiten der<br />

Menschheit, nationale und individuelle, empfinde ... Ich bin, offen gesagt, ein<br />

Bündel von Vorurteilen zusammengesetzt aus Vorlieben und Abneigungen -,<br />

ein Spielball von Sympathien, Apathien und Antipathien." 49<br />

46<br />

47<br />

48<br />

49<br />

Vgl. Sherlock 1978.<br />

Thomas 1976, S. 96.<br />

Ebenda, S. 97.<br />

Charles Lamb, zit. nach Allport 1971, S. 17.<br />

138


Wenn wir <strong>die</strong>s für uns selbst und vor uns selbst auch nicht so offen zugeben<br />

möchten, so können wir doch <strong>auf</strong>grund der Ergebnisse der Vorurteilsforschung 50<br />

davon ausgehen, daß wir sie in Form von unbemerkten Selbstverständlichkeiten,<br />

Erwartungen, Rollenerwartungen usw. in uns beherbergen. Wie selbst herausragende<br />

Philosophen <strong>die</strong> Vorurteile ihrer Zeit teilen, ohne <strong>die</strong>s zu wissen, zeigt<br />

folgendes Zitat aus Hartmanns "Philosophie des Unbewußten":<br />

"Ferner sollte man sich ganz besonders hüten, das weibliche Geschlecht zu<br />

vernünftig machen zu wollen ... Das Weib verhält sich nämlich zum Manne,<br />

wie instinctives oder unbewusstes zum verständigen oder bewußten Handeln;<br />

darum ist das echte Weib ein Stück Natur, an dessen Busen der dem<br />

Unbewussten entfremdete Mann sich erquicken und erholen und vor dem<br />

tiefinnersten lauteren Quell alles Lebens wieder Achtung bekommen kann;<br />

und um <strong>die</strong>sen Schatz des ewig Weiblichen zu wahren, soll auch das Weib<br />

vom Manne vor jeder Berührung mit dem rauhen Kampfe des Lebens, wo es<br />

<strong>die</strong> bewusste Kraft zu entfalten gilt, möglichst bewahrt werden, und den<br />

süssen Naturbanden der Familie <strong>auf</strong>behalten bleiben." 51<br />

Vorurteile teilen wir immer mit anderen; denn hätten einige sie nur allein, wären sie<br />

leicht <strong>als</strong> solche erkennbar. Aber es ist ebenso wahrscheinlich, daß das, was<br />

Einzelne in abweichender Weise von anderen denken oder glauben, <strong>als</strong> Vorurteil,<br />

Unsinn, Unmöglichkeit verstanden wird, eben weil es von dem, was <strong>die</strong> meisten<br />

meinen oder glauben, abweicht. Das Grundgefühl scheint zu sein, daß das, was <strong>die</strong><br />

Mehrheit denkt, auch das Richtige ist. 52 Dieses Grundgefühl wird zwar individuell<br />

erfahren, aber es ist doch etwas Allgemeines, man teilt es mit anderen.<br />

Das Grundgefühl, daß <strong>die</strong> Gruppe und besonders <strong>die</strong> Mehrheit eine Kraft darstellt,<br />

<strong>die</strong> das Recht <strong>auf</strong> ihrer Seite hat, scheint eine unterbewußte Voraussetzung sozialer<br />

Zusammenschlüsse bei Menschen und Tieren zu bilden. Man denke beispielsweise<br />

daran, wie Fremdlinge in Bienenstöcken oder Ameisenh<strong>auf</strong>en behandelt werden. 53<br />

Die Ähnlichkeiten mit menschlichem Verhalten sind frappant, sogar im Vergleich mit<br />

Insekten:<br />

50<br />

51<br />

52<br />

53<br />

Allgemein zum Vorurteil vgl. etwa Harding/Proshansky/Kutner/Chein 1969; Ehrlich 1979;<br />

Allport 1971; Körner 1976. Zur "Vorurteilshaftigkeit von Philosophie" vgl. Jankowitz<br />

1975. Zum Vorurteil in der Pädagogik vgl. Sacher (Hrsg.) 1976.<br />

v.Hartmann 91882, Bd. 1, S. 359.<br />

Vgl. hierzu <strong>die</strong> empirischen Untersuchungen von Asch 1952; Sherif 1936; Crutchfield<br />

1955.<br />

Vgl. z.B. v.Frisch 1965 (zum Verhalten von Bienen).<br />

139


"Die Verfasser von Büchern über das Verhalten von Insekten bemühen sich<br />

im allgemeinen ... warnend dar<strong>auf</strong> hinzuweisen, ... Insekten ... seien wie vollendet<br />

ausgerüstete, aber verrückte kleine Maschinen, und wir vergewaltigen<br />

<strong>die</strong> Wissenschaft, wenn wir versuchen, in ihrer Lebensweise menschliche<br />

Vorgänge zu erkennen. Es ist schwer für einen Außenstehenden, es nicht zu<br />

tun. Ameisen sind Menschen derartig ähnlich, daß es geradezu peinlich ist.<br />

Sie legen Pilzgärten an, halten Blattläuse <strong>als</strong> Nutzvieh, schicken Armeen in<br />

Kriege, versprühen chemische Stoffe, um Feinde zu erschrecken und zu<br />

verwirren, und machen Gefangene zu ihren Arbeitstieren . ... Unablässig<br />

tauschen sie Informationen aus. Sie tun alles, was auch wir tun - bis <strong>auf</strong><br />

fernsehen vielleicht ..." 54<br />

Franz Kafka hat <strong>die</strong>se unterbewußten Automatismen in seinen Erzählungen und<br />

Romanen <strong>auf</strong> menschliches Fühlen, Denken und Handeln übertragen. Die Unausweichlichkeit<br />

<strong>die</strong>ser Automatismen wird ja auch oft <strong>als</strong> "kafkaesk" bezeichnet;<br />

andere Wörter scheinen den durch derartige Situationen ausgelösten Horror nicht in<br />

entsprechender Adäquatheit beschreiben zu können.<br />

Es ist nun <strong>als</strong>o anzunehmen, daß <strong>die</strong> Entwicklung sozialer Lebensformen ebenso<br />

wie ihre Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung gelenkt oder beeinflußt wird von<br />

verhaltensbildenden Formationen des universalen Unterbewußten. Wir können<br />

zudem davon ausgehen, daß eine Wechselwirkung zwischen jenen Formationen<br />

und unserem Verhalten besteht, daß unser Verhalten <strong>als</strong>o vorhandene Formationen<br />

verändern oder durch Bildung neuer Formationen überlagern kann. 55 Unser soziales<br />

Verhalten ist sicher nur zu einem Teil (wenn auch vielleicht zu einem sehr großen)<br />

durch jene Formationen des Unterbewußten bestimmt. Zumindest einige <strong>die</strong>ser<br />

Steuerungen können wir uns teilweise bewußt machen und verändern.<br />

6.2.2 Die stabilisierende Funktion unterbewußter Steuerungen<br />

Wenn wir nun durch das universale Unterbewußte mit der gesamten Evolution<br />

verbunden bleiben, können prinzipiell alle in deren Verl<strong>auf</strong> gebildeten Formationen<br />

des Unterbewußten weiterhin einen Einfluß <strong>auf</strong> uns ausüben (vgl. Kap. 6.1.2). Man<br />

kann das Unterbewußte <strong>als</strong> eine Art Lagerhaus latenter Gedächtnisspuren<br />

verstehen, das der Mensch aus seiner Vergangenheit <strong>als</strong> Rasse und aus den<br />

vormenschlichen Entwicklungsstufen ererbt. Diese Auffassung entspricht C. G.<br />

54<br />

55<br />

Thomas 1976, S. 23-24. Vgl. aber insbesondere <strong>die</strong> Ergebnisse der Vergleichenden Verhaltensforschung<br />

(Ethologie).<br />

Vgl. hierzu Sheldrake 1983, S. 88f.; S. 191-192.<br />

140


Jungs "kollektives Unbewußte", wobei Jung allerdings keine Differenzierung von<br />

unter- und überbewußten Schichten vornimmt. 56 Es fallen darunter nicht nur <strong>die</strong><br />

Jungschen Archetypen, sondern auch solch allgemein bekannte Dinge wie <strong>die</strong><br />

Abgrenzung von Revieren oder Intimbereichen bei Mensch und Tier ("my home is<br />

my castle") und zahlreiche andere offensichtliche Parallelen wie <strong>die</strong> Ähnlichkeit des<br />

Beschwichtigungsverhaltens, der Unterwerfung, des Zusammenschließens in<br />

geselligen Lebensformen usw. Die Annahme eines universalen Unterbewußten<br />

scheint zumindest <strong>die</strong> einfachste Möglichkeit der Erklärung der bei Mensch und Tier<br />

gleichermaßen und nur mit unterschiedlichen individuellen Ausprägungen <strong>auf</strong>tretenden<br />

Verhaltensweisen. Es gibt nichts Personales in <strong>die</strong>sem Unterbewußten,<br />

alles ist universal, und alle Menschen scheinen demnach mehr oder weniger das<br />

gleiche (kollektive) Unterbewußte zu besitzen.<br />

Jung sieht darüber hinaus im kollektiven Unbewußten <strong>die</strong> Ursache der Gleichheit<br />

der Gehirnstruktur aller menschlichen Rassen. Es scheint tatsächlich so, daß <strong>die</strong><br />

Unterschiede zwischen Individuen weit größer sind <strong>als</strong> zwischen Rassen. Es ist<br />

möglich, <strong>die</strong> Mitglieder - insbesondere natürlich <strong>die</strong> Jugendlichen und Kinder - eines<br />

Eingeborenenstammes (<strong>die</strong> man früher eigentlich immer <strong>als</strong> "Primitive" bezeichnet<br />

hat), <strong>die</strong> nie mit der Zivilisation in Berührung gekommen sind, wie ein Mitglied jener<br />

"Kulturnationen" zu erziehen. Die Fähigkeiten und Leistungen sind <strong>die</strong> gleichen wie<br />

<strong>die</strong> von Individuen, deren Vorfahren aus den fortgeschrittenen Kulturen kommen,<br />

mit den üblichen individuellen Variationen natürlich 57 .<br />

Die Einflüsse des Unterbewußten können uns helfen zu verstehen, warum es so<br />

schwierig ist, im Verhalten von Menschen Entwicklungen oder Veränderungen<br />

herbeizuführen. Betrachtet man <strong>die</strong> Kulturgeschichte der Menschheit, dann gewinnt<br />

man den Eindruck, daß es im L<strong>auf</strong>e der Jahrtausende zwar einen beständigen<br />

Wandel, ein beständiges Zerstören und Wieder<strong>auf</strong>bauen gegeben hat, daß aber <strong>die</strong><br />

Menschen, <strong>die</strong> all <strong>die</strong>s zuwege brachten oder zumindest <strong>als</strong> Hauptakteure in <strong>die</strong>sem<br />

Stück erscheinen, sich im wesentlichen gleich geblieben sind. Die Revolutionen<br />

haben wohl <strong>die</strong> Organisationsformen verändert, aber <strong>die</strong> Frage ist, ob <strong>die</strong>ser<br />

Veränderung der Formen auch eine innere Veränderung der Individuen entspricht.<br />

56<br />

57<br />

Vgl. Jung 1976<br />

Vgl. Jung 1976. Andere Hinweise <strong>auf</strong> ein gleichermaßen ererbtes Unterbewußtes<br />

(allerdings nicht im Sinne Jungs) scheint <strong>die</strong> Soziobiologie zu liefern (vgl. Wilson 1975,<br />

1978), ebenso <strong>die</strong> Ethologie (vgl. z.B. Eibl-Eibesfeldt 1969; Hinde 1966; Lorenz 121981).<br />

Folgerungen für <strong>die</strong> Pädagogik versuchten in <strong>die</strong>sem zusammenhang v.Cube/Alshuth,<br />

1986, zu ziehen.<br />

141


Es mag sein, daß, je nach dem Maßstab, den man gerade anwendet (wobei man<br />

notgedrungen andere Maßstäbe unberücksichtigt läßt, denn es gibt sehr viele<br />

Möglichkeiten von Maßstäben), man behaupten kann, es gehe vorwärts oder es<br />

werde alles schlechter, oder es habe sich <strong>auf</strong>s Ganze gesehen nichts verändert<br />

(vgl. hierzu Kap. 6.2.4).<br />

Ein anderes stabilisierendes Element unseres Verhaltens sind <strong>die</strong> Gewohnheiten.<br />

Auch psychologische und soziologische Gesetzmäßigkeiten kann man <strong>als</strong> <strong>die</strong><br />

Beschreibung von Gewohnheiten <strong>auf</strong>fassen. Und was sind Gewohnheiten anderes<br />

<strong>als</strong> <strong>die</strong> Routinen des Unterbewußten? Eine wesentliche "Gewohnheit" bzw.<br />

Gesetzmäßigkeit ist <strong>die</strong> empirisch sehr leicht zu überprüfende und immer wieder<br />

bestätigte Annahme der Begrenztheit unseres Bewußtseins. Es könnte sich damit<br />

so verhalten wie Hume vermutete: Wir haben uns daran gewöhnt, bzw. wir haben es<br />

nie anders erfahren, und nun glauben wir, es sei ein Gesetz. 58 Und mit wie vielen<br />

unserer "Gesetze" und Annahmen könnte es sich so verhalten?<br />

Wenn wir <strong>die</strong> scheinbar ewigen Routinen menschlichen Verhaltens durch <strong>die</strong> tief<br />

eingeschliffenen Mechanismen des Unterbewußten erklären, das Unterbewußte<br />

aber schon in der Materie wirksam ist, dann könnte es sein, daß <strong>die</strong> Stabilität <strong>die</strong>ser<br />

Mechanismen aus sehr frühen Sta<strong>die</strong>n der Evolution herrührt. Die Evolution, so wird<br />

es üblicherweise gesehen, beginnt im oder mit dem Physischen, entwickelt daraus<br />

das Leben und schließlich das Bewußtsein oder Denken. Wenn wir höhere<br />

Lebensformen betrachten, so ist es kaum möglich, <strong>die</strong>se Bereiche voneinander zu<br />

trennen. Sie scheinen vielmehr ineinander verwoben zu sein. Das Physische, der<br />

Körper <strong>als</strong>o, ist nirgendwo klar trennbar vom Leben, es sei denn beim Toten. Auch<br />

das Denken ist überall mit dem Leben, seinen Bedürfnissen und Trieben und mit<br />

dem Körper, d.h. mit dem physischen Gehirn, den Bewegungsmöglichkeiten<br />

verknüpft. Man kann sogar sagen, daß das Denken eng mit dem physischen<br />

Ordnen, mit der körperlichen Erfahrung verbunden ist.<br />

Das Physische stellt sich unserem Auge <strong>als</strong> etwas Stabiles, Bleibendes, Objektives<br />

dar, <strong>als</strong> eine Masse, <strong>die</strong>, wenn sie ruht, nur mit Mühe zu bewegen ist, wenn sie aber<br />

in Bewegung ist, gleichförmig weiterläuft und nur schwer zu bremsen ist. Schwere<br />

und Trägheit scheinen somit grundlegende Merkmale des Physischen. Der<br />

tiefgründigeren Untersuchung des heutigen Physikers jedoch stellt sich Materie <strong>als</strong><br />

ein überaus komplexes Muster energetischer Prozesse dar, <strong>die</strong> in unendlicher<br />

58<br />

Vgl. Hume 1976 (1758), 1973 (1740).<br />

142


Wiederholung jene Stabilität des Grob-Physischen erst erzeugen. Das heißt, daß<br />

hinter dem, was unserem Auge so stabil erscheint, das Wirken von Mechanismen<br />

steht, <strong>die</strong> jene "feste" Form überhaupt erst schaffen. Diese Mechanismen könnten in<br />

formverursachenden (morphogenetischen) Feldern des Unterbewußten gesehen<br />

werden. 59<br />

Die Wirkung <strong>die</strong>ser universalen Strukturen des Unterbewußten, <strong>die</strong> in der Materie<br />

zum Ausdruck kommen, könnte sich <strong>auf</strong> der Ebene des Lebens und des Menschen<br />

in der Tendenz zur mechanischen Wiederholung auswirken. Und <strong>die</strong>se Tendenz ist<br />

überall zu beobachten: in der Mechanisierung oder Stereotypisierung des Handelns<br />

durch <strong>Institution</strong>en, im unverrückbaren Beharren <strong>auf</strong> einmal gebildeten Auffassungen,<br />

in der nahezu mechanischen Wiederholung von Schlagworten, politischen<br />

Parolen, Glaubensbekenntnissen religiöser, politischer, wissenschaftlicher Art; in<br />

der rhythmischen Wiederholung von Schlafen und Wachen (in den physiologischen<br />

Prozessen ist <strong>die</strong>se Wiederholung ohnehin überall grundlegend), im ewig<br />

wiederkehrenden Vollzug von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung.<br />

Die Erkenntnis der Universalität der hartnäckigsten und stupidesten unserer Denk-,<br />

Handlungs- oder Reaktionsweisen sollte uns <strong>die</strong> Möglichkeit eröffnen, sie distanziert<br />

und eher humorvoll und gelassen <strong>als</strong> Automatismen einer fernen und doch<br />

unablässig gegenwärtigen Vergangenheit, <strong>als</strong> Atavismen eines Teils unserer Natur<br />

zu betrachten, und zwar sowohl in uns <strong>als</strong> auch in anderen. Wenn wir Bildung <strong>als</strong><br />

Bewußtseinsentwicklung verstehen, dann folgt daraus, daß Schüler und Lehrer sich<br />

gemeinsam um <strong>die</strong> Aufklärung jener unterbewußten Prozesse kümmern, denen wir<br />

alle unterworfen sind und sich bemühen, deren Einfluß zu verringern. Denn trotz der<br />

Fortschritte, insbesondere <strong>auf</strong> dem Gebiet der Technik und der Organisation,<br />

scheint der Mensch selbst sich immer noch das größte Hindernis. Oder wie Allport<br />

es formuliert:<br />

"Der zivilisierte Mensch hat über Energie, Materie und unbelebte Natur eine<br />

bemerkenswerte Herrschaft gewonnen, und auch seine Herrschaft über<br />

körperliches Leiden und vorzeitigen Tod macht Fortschritte. Im Gegensatz zu<br />

<strong>die</strong>ser Entwicklung aber leben wir in unserer Bewältigung zwischenmenschlicher<br />

Beziehungen immer noch in der Steinzeit." 60<br />

59<br />

60<br />

Vgl. Sheldrake 1983, S. 110.<br />

Allport 1971, S. 9.<br />

143


6.2.3 Entwicklung durch unterbewußte Steuerungen<br />

Die Erzeugung von Stabilität kann nur eine Seite oder eine Klasse von Funktionen<br />

des Unterbewußten betreffen. Die Tatsache, daß es eine Evolution gegeben hat,<br />

zeigt, daß auch Veränderung und Entwicklung möglich sein müssen. Wie Popper<br />

ausführt, kann man <strong>die</strong> Entwicklung der Organismen verstehen <strong>als</strong> <strong>die</strong> vielfältigen<br />

Versuche, mit Problemen fertig zu werden, <strong>die</strong> sich aus Veränderungen der Umwelt<br />

für sie ergeben.<br />

"Alle Organismen sind ständig, Tag und Nacht, mit dem Lösen von Problemen<br />

beschäftigt; das gilt auch für alle in der Entwicklungsgeschichte<br />

<strong>auf</strong>tretenden Folgen von Organismen – <strong>die</strong> Arten, <strong>die</strong> mit den primitivsten<br />

Formen begannen und deren neueste Beispiele <strong>die</strong> jetzt lebenden<br />

Organismen sind." 61<br />

Popper begreift jeden Organismus "<strong>als</strong> ein hierarchisches System plastischer<br />

Steuerungen", wobei <strong>die</strong> "gesteuerten Teilsysteme" Versuchs- und Irrtums-Schritte<br />

machen, "<strong>die</strong> vom steuernden System teils unterdrückt, teils beschränkt werden.“ 62<br />

Das steuernde System ist nicht bewußt, aber, so argumentiert Popper, auch <strong>die</strong><br />

bedeutendsten Wissenschaftler sind sich manchmal nicht der Probleme bewußt, <strong>die</strong><br />

sie lösen. So gesehen sei es von "der Amöbe zu Einstein ... nur ein Schritt.“ 63 Das<br />

bedeutet, daß Popper <strong>die</strong> Lösung des Problems, warum jene steuernde Instanz<br />

manche Lösungen teils unterdrückt und teils beschränkt, <strong>auf</strong> hierarchisch höhere<br />

Instanzen des Unterbewußten verschiebt. Das heißt, daß nur durch das<br />

Wirksamwerden von jeweils höheren Ebenen <strong>die</strong> Probleme, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> tieferen Ebenen<br />

entstehen, gelöst werden können. Konsequenterweise müßte man sagen, daß<br />

Probleme der Ebene des Denkens bzw. jeweils bestimmter Formen des Denkens<br />

nur <strong>auf</strong> Ebenen darüber gelöst werden können.<br />

Der bewußten oder unbewußten Wahrnehmung von Problemen scheint der Wille zu<br />

deren Lösung bereits inhärent zu sein. Das Empfinden eines Problems, etwa in<br />

Form von Unlust, von Mangel, von Unbefriedigtsein, von Angst, Ärger, Neid usw.<br />

bildet so den Antrieb zu Problemlösungsaktivitäten. 64<br />

Wenn wir immer zufrieden<br />

wären und wie im Para<strong>die</strong>s lebten, das bedeutet, wenn wir nicht von Wünschen,<br />

Ängsten, Hoffnungen geplagt wären, von Gefühlen aller Art und einem<br />

61<br />

62<br />

63<br />

64<br />

Popper 1973, S. 268-269.<br />

Ebenda, S. 268-287. Diese Ansicht vertrat im übrigen vor Popper auch Bergson 1912.<br />

Popper 1973, S. 272-273.<br />

Vgl. hierzu bei Tieren das Lernen <strong>auf</strong>grund von Reizempfindlichkeitsänderungen (Thorpe<br />

1963).<br />

144


unbezähmbaren Streben danach, mehr zu besitzen, es besser zu haben, berühmt<br />

zu werden, den Stein der Weisen zu finden usw., dann würden wir aus den einmal<br />

gefundenen Routinen nie ausbrechen. Es würde uns vieles erspart bleiben, aber wir<br />

würden auch nicht nach etwas suchen, das vielleicht besser sein könnte <strong>als</strong> das,<br />

was wir haben. Es wurde schon mehrfach erwähnt, daß <strong>die</strong>se Antriebe nicht nur<br />

individuell sind, wenn ihnen auch im Individuum etwas entspricht, denn Bedürfnisse,<br />

Wünsche, Freuden, Hoffnungen, Ängste, Erregungen aller Art treten <strong>auf</strong> im<br />

Zusammenhang mit irgendwelchen Vorstellungen oder Ereignissen, ohne daß wir<br />

sie bewußt haben wollen, sie können im Gegenteil recht störend sein. In vieler<br />

Hinsicht scheinen sie Naturereignissen ähnlich.<br />

Wir gehen <strong>als</strong>o davon aus, daß unterbewußte "Willens"-Strebungen weite Teile<br />

unseres Denkens, Fühlens und Handelns leiten (vgl. auch Kap. 5.4.2), wobei aber<br />

große interindividuelle Unterschiede bestehen. Man kann annehmen, daß <strong>auf</strong> den<br />

unteren Ebenen der Hierarchie des Unterbewußten <strong>die</strong>se vitalen Antriebe vor allem<br />

<strong>auf</strong> <strong>die</strong> Lösung der täglichen Probleme ausgerichtet sind, <strong>auf</strong> den Genuß der<br />

alltäglichen Freuden. Auch jene Antriebe, <strong>die</strong> man <strong>als</strong> Süchte bezeichnet wie<br />

Habsucht, Eifersucht, Neid 65 und <strong>die</strong> zahlreichen übrigen weniger schönen Eigenschaften,<br />

dürften <strong>die</strong>sem Bereich angehören. Ihre Universalität ist ebenso offenbar<br />

wie ihre interindividuelle Differenzierung. Margaret Mead berichtet allerdings über<br />

Gesellschaften, in denen, wie sie beobachten zu können glaubte, nur <strong>die</strong> positiveren<br />

Antriebe vorherrschten und so eine nahezu para<strong>die</strong>sische Harmonie des Lebens<br />

herbeiführten. 66<br />

Das Fortbestehen der Wirkungen eines universalen oder auch kollektiven<br />

Unbewußten im Menschen kann uns viele Regungen und Verhaltensweisen<br />

verständlicher machen. Jeder kann Dinge in sich selber finden, wie sie <strong>auf</strong> den<br />

vorhergehenden Seiten beschrieben wurden; sie sind ein Teil unserer Natur. Damit<br />

ist nichts darüber ausgesagt, daß wir <strong>die</strong>se Natur <strong>als</strong> letztgültige Norm anerkennen<br />

müßten. Aber sofern wir nicht erkennen und anerkennen, was und wie wir sind,<br />

können wir auch nicht lernen, <strong>die</strong>se Bereiche unserer Natur unter <strong>die</strong> Herrschaft<br />

höherer Instanzen zu stellen und sie so vielleicht zu transformieren bzw. von jenen<br />

überbewußten Steuerungsinstanzen transformieren zu lassen.<br />

65<br />

66<br />

Vgl. <strong>die</strong> Abhandlung über den Neid von Schoeck 1966.<br />

M. Mead 1970 (11928).<br />

145


6.2.4 Das Unterbewußte in der Entwicklungsgeschichte individuellen Bewußtseins<br />

Die Evolution menschlichen Bewußtseins könnte in Schichten oder Stufen erfolgen.<br />

Wenn es ist, dann sollten <strong>die</strong>se Schichten oder Stufen irgendwie erkennbar sein. In<br />

der Entwicklung des Individuums könnte sich <strong>die</strong> Evolution menschlichen Bewußtseins<br />

in verkürzter Form wiederholen. Das heißt, daß in der Entwicklung vom<br />

Säugling zum Erwachsenen <strong>die</strong>se Stufen ebenfalls anzutreffen sind. 67 Da aber das<br />

Unterbewußte, wie oben ausgeführt, stets gegenwärtig und wirksam ist, können<br />

seine Wirkungen in jedem von uns in Ansätzen beobachtet werden. Doch wenden<br />

wir uns zunächst der Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins zu.<br />

Individuelles oder Ich-Bewußtsein besteht im Wissen um <strong>die</strong> Abgetrenntheit des Ich.<br />

Im Anfang jedoch bestehen <strong>die</strong> Gegensätze zwischen dem Ich und den andern,<br />

dem Ich und der Welt der Dinge noch nicht. Der Mensch ist vielmehr noch eins mit<br />

der Natur, mit der "Mutter" oder Allmutter", er lebt in einer archaischen Identität. In<br />

<strong>die</strong>sem Zustand der Identität oder Einheit gibt es kein Gestern oder Morgen,<br />

sondern nur ein "Jetzt und Immer", es gibt weder Geburt noch Tod, sondern nur<br />

"Da-Sein". Der Mensch lebt noch in einer nulldimensionalen Welt ohne Zeit und<br />

Raum 68 ; er ist noch nicht er selbst, vielmehr ist alles, er eingeschlossen, <strong>die</strong> Welt.<br />

Die Lebensfunktionen des Essens, Trinkens, Schlafens, Zeugens, Gebärens<br />

ereignen sich - so wie es regnet - nichts wird bewußt gewollt oder getan. 69 Wo<br />

<strong>die</strong>ses Wollen beginnt, beginnen Trennung und schmerzlich empfundene Gegensätze.<br />

Diese Trennung ist sozusagen <strong>die</strong> Geburt des Individuums.<br />

Die Vergangenheit der archaischen Identität lebt unterbewußt in uns fort abgesehen<br />

davon, daß auch das Neugeborene sich noch eine Weile in einem ähnlichen<br />

Zustand zu befinden scheint. Unsere Sehnsucht nach Geborgenheit, das Streben<br />

nach Sicherheit, nach einer sicheren Lebensstellung könnten z. B. Ausdruckformen<br />

sein, <strong>die</strong> durch jene unterbewußte Struktur der archaischen Identität in uns<br />

hervorgerufen werden. Entsprechend wird eine erzwungene Trennung vom Partner,<br />

von der Arbeitsstelle, von der Heimat <strong>als</strong> schmerzlich empfunden, und den Zwang,<br />

das Ich zu behaupten, erfahren wir oft <strong>als</strong> Bürde. Das Ende der täglichen<br />

Auseinandersetzungen, das fraglose Einssein scheinen <strong>die</strong> Lösung unserer<br />

Probleme zu sein. Diese Lösung ist es wohl auch, <strong>die</strong> manche im Suizid suchen.<br />

67<br />

68<br />

69<br />

Vgl. v.Neumann 1986, S. 316f.<br />

Vgl. hierzu Gebser 1973.<br />

Vgl. hierzu v.Neumann 1986, S. 18f.; Gebser 1973 (11949/53), S. 35f., 83f.; Wilber<br />

1984, S. 37f.<br />

146


Eine derartige Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit ist vermutlich in folgender<br />

Stelle von Leonardo da Vinci gemeint:<br />

"Sieh, wie <strong>die</strong> Hoffnung und der Wunsch, in den früheren Zustand<br />

zurückzukehren, ganz ebenso wirken wie das Licht <strong>auf</strong> den Falter. Denn der<br />

Mensch, der in ewiger Sehnsucht stets wieder mit Jauchzen den neuen<br />

Frühling erwartet, stets den neuen Sommer, stets neue Monate und neue<br />

Jahre, indem es ihm scheint, <strong>als</strong> kämen <strong>die</strong> Dinge immer erst viel zu spät, er<br />

gewahrt nicht, daß er damit immer nur seine eigene Auflösung<br />

herbeiwünscht. Diese Sehnsucht aber ist <strong>die</strong> geheime Kraft (quintessenzia),<br />

welche <strong>die</strong> Elemente bewegt, und welche <strong>als</strong> Seele, in dem menschlichen<br />

Körper eingeschlossen, stets zu dem zurückzukehren trachtet, der sie<br />

entsandt. Wisse, daß <strong>die</strong>ser Wunsch <strong>die</strong> geheime Kraft ist, welche untrennbar<br />

mit der Natur verbunden ist. Der Mensch aber ist das Abbild der Welt." 70<br />

Die Verschmolzenheit des Menschen mit der Welt hält auch nach dem ersten<br />

Erwachen des Ich an. Der Mensch "tritt aus der nulldimensionalen, archaischen<br />

Struktur der Identität in <strong>die</strong> eindimensionale der Unität hinaus." 71 Dies bedeutet eine<br />

punktartige Zentrierung; es ist zugleich ein Ausdruck für <strong>die</strong> weiterhin bestehende<br />

Raum- und Zeitlosigkeit <strong>die</strong>ser Stufe. 72<br />

Das Selbstsein und das Sein der Dinge<br />

haben noch keine feststehende Konstanz, sind noch nicht "durch bestimmte<br />

unverrückbare Merkmale voneinander gesondert. 73<br />

„Im magischen Bewußtsein<br />

verschieben sich immerfort "jene Grenzlinien, wie sie unsere empirischen Gattungs-<br />

und Artbegriffe zu ziehen pflegen." 74 So kann ein Wesen ganz verschiedene und<br />

sogar entgegengesetzte Formen annehmen, der Teil kann sozusagen noch alles<br />

werden und sein. 75 Dies kommt beispielsweise im Zauber zum Ausdruck, bei dem<br />

<strong>die</strong> symbolische Tötung oder Heilung einer Puppe, <strong>die</strong> für ein Tier oder einen<br />

Menschen steht, <strong>die</strong> Tötung oder Heilung <strong>die</strong>ses Tieres oder Menschen ist. 76<br />

Während nun <strong>die</strong> magische Bewußtseinsstufe noch <strong>als</strong> eine Art Traumzustand<br />

verstanden werden kann, bedeutet das sich später entwickelnde mythische<br />

Bewußtsein einen Schritt zu bewußterer Trennung von Ich und Welt. Der Mensch<br />

70<br />

71<br />

72<br />

73<br />

74<br />

75<br />

76<br />

Zit. nach v.Neumann 1986, S. 223.<br />

Gebser 1973, S. 87.<br />

Ebenda.<br />

Cassirer 1977, Bd. III, S. 71.<br />

Ebenda.<br />

Vgl. Gebser 1973, S. 88, sowie Cassirer 1977, Bd. III, S. 71. Allgemein zur magischen<br />

Struktur - siehe auch v.Neumann 1986, S. 43f.; Wilber 1984, S. 57f. sowie <strong>die</strong> dort<br />

gegebenen Literatur hinweise.<br />

Vgl. Gebser 1973, S. 89.<br />

147


tritt aus der eindimensionalen Unität in eine "zweidimensionale Polarität.“ 77 Aber das<br />

Ich, das seiner Welt gegenübersteht, ist noch schwach. Es<br />

"fühlt und weiß sich nur, sofern es sich <strong>als</strong> Glied einer Gemeinschaft faßt,<br />

sofern es sich mit anderen zur Einheit einer Sippe, eines Stammes ... zusammengeschlossen<br />

sieht. Nur in ihr und durch sie besitzt es sich selbst ... Nur<br />

ganz allmählich kann <strong>die</strong>se Bindung sich lockern und lösen, kann es zu einer<br />

Selbständigkeit des Ich gegenüber den es umfassenden Lebenskreisen kommen."<br />

78<br />

So ist es verständlich, daß noch bei den Griechen <strong>die</strong> Verbannung, der Verstoß aus<br />

der Gemeinschaft, zu den schwersten Strafen zählt. Aber auch für uns kann der<br />

Ausschluß von einer Gruppe, zu der eine emotionale Bindung besteht, einen nicht<br />

so leicht zu überwindenden Schmerz bedeuten.<br />

Das Ich der Gruppe wie des einzelnen wird erhalten und gefestigt durch den<br />

Mythos. Das Wort bildet "für das Bewußtsein das erste Stadium und den ersten<br />

Beleg der Objektivität, weil durch dasselbe zuerst dem stetigen Wandel der<br />

Bewußtseinsinhalte Halt geboten, weil in ihm ein Bleibendes bestimmt und<br />

herausgehoben wird." 79 Das Bleibende ist <strong>die</strong> Vorstellung, der bildhafte Ausdruck<br />

vom Sinn, der das Leben der Gruppe und in der Gruppe leitet. Das Wort oder Bild<br />

ist aber nicht Symbol für etwas anderes - wie für uns -, sondern es ist noch ein<br />

realer und bestimmter Teil des Seins. Das Wesen der Dinge ist im Zeichen<br />

beschlossen. 80 Insofern <strong>die</strong>ses Wesen ein Allgemeines ist, wird damit eine Form<br />

allgemeiner Gesetzmäßigkeit in <strong>die</strong> Welt eingeführt und so eine differenziertere<br />

Erkenntnis der Welt ermöglicht <strong>als</strong> im magischen Denken, in dem noch jeder Teil für<br />

das Ganze stehen kann und noch keinen ihn bestimmenden Bezug zum Ganzen<br />

<strong>auf</strong>weist.<br />

Was in <strong>die</strong>sem Kapitel <strong>als</strong> mythische und magische Bewußtseinsstruktur gesondert<br />

behandelt ist, wurde in Kap. 4 zusammenfassend <strong>als</strong> magisch-mythisches<br />

Bewußtsein bezeichnet. Diese magisch-mythische Bewußtseinsstufe kann ebenfalls<br />

beim modernen Menschen beobachtet werden. Man kann es in der Art von<br />

Massensuggestion sehen, wie sie sich im Freudentaumel zu Beginn der meisten<br />

auch heutigen Kriege oder bei Fußballspielen zeigt. Der Krieg ebenso wie <strong>die</strong><br />

77<br />

78<br />

79<br />

80<br />

Ebenda, S. 113.<br />

Cassirer 1977, Bd. II, S. 209-210.<br />

Cassirer 1977, Bd. 1, S. 23.<br />

Ebenda, S. 56.<br />

148


Gegnerschaft beim Spiel ist ein Gruppenereignis, ein emotionaler Zusammenschluß<br />

gegenüber den Außenstehenden und <strong>als</strong> solcher höchst populär. 81<br />

Wie frühere magisch-mythische Bewußtseinsstrukturen im Unterbewußtsein z. B.<br />

neurotisches Verhalten erzeugen können, zeigt folgendes von Wilber angeführte<br />

Beispiel: Ein "Erwachsener leidet an einer ihn quälenden Phobie gegenüber allen<br />

rothaarigen Frauen." Die Analyse ergibt, daß er <strong>als</strong> kleines Kind "von einer<br />

rothaarigen Tante oft in Angst versetzt und verhauen wurde." Die <strong>auf</strong> magischer<br />

Stufe operierende unterbewußte Struktur kann <strong>die</strong> Abgrenzung zwischen <strong>die</strong>ser<br />

einen und allen anderen rothaarigen Frauen nicht vollziehen, sondern <strong>die</strong>se eine ist<br />

für ihn identisch mit allen rothaarigen Frauen. Im Bann <strong>die</strong>ses unterbewußten<br />

Vorganges gerät er "in Gegenwart jeder beliebigen rothaarigen Frau in Panik ... Das<br />

ist ein klassisches Beispiel für magische Verschiebung und Verdichtung." 82<br />

Wie <strong>die</strong> Entwicklungspsychologie gezeigt hat, sind solche Stufen des Unterbewußtseins<br />

an der Kindheit gut zu beobachten. 83 Die Entwicklung scheint von Anfang an<br />

sowohl in einer allgemein gesetzmäßigen, <strong>als</strong> auch in einer individualisierten Weise<br />

zu erfolgen. Schon Kleinkinder unterscheiden sich im Sozialverhalten, in der<br />

Aggressivität, ja in ihrem ganzen Gemüt. Fragt man, wodurch <strong>die</strong>se Unterschiede<br />

zustandekommen - denn nur zum Teil dürften sie <strong>auf</strong> unterschiedliche genetische 84<br />

und Umwelteinflüsse 85 zurückzuführen sein -, dann besteht einer der möglichen<br />

Erklärungsansätze in der Annahme eines individuellen Unter- und Überbewußtseins.<br />

Dieses könnte einerseits <strong>die</strong> individuelle Entwicklung, <strong>die</strong> unterschiedlichen<br />

Reaktionsweisen <strong>auf</strong> Außenreize, <strong>die</strong> Formung von Intelligenz, Charakterstrukturen<br />

usw. zusammen mit genetischen und Umwelteinflüssen leiten. Insbesondere sehr<br />

große individuelle Unterschiede, beispielsweise zwischen Genies wie Shakespeare,<br />

Bach oder Einstein und Durchschnittsmenschen läßt sich durch <strong>die</strong> Annahme eines<br />

individuellen Unter- und Überbewußtseins, das spezielle Begabungsmuster zur<br />

Entwicklung bringt, vermutlich besser verstehen. Es scheint wenig aussichtsreich,<br />

derartige Unterschiede durch zufällige genetische und Umwelteinflüsse hinreichend<br />

erklären zu können, denn wie bringt der Zufall einen Shakespeare hervor? Doch<br />

wirft <strong>die</strong> Annahme eines individuellen Unter- und Überbewußten eine Reihe von<br />

81<br />

82<br />

83<br />

84<br />

85<br />

Vgl. auch Wilber 1984, S. 187, sowie Bergson 1980, S. 283f.<br />

Wilber 1984, S. 105.<br />

Vgl. hierzu z.B. den Literaturüberblick von Remplein 81960.<br />

Zum Problem des Determinismus im Allgemeinen, aber durchaus übertragbar <strong>auf</strong> den<br />

genetischen Determinismus, vgl. Popper 1973, S. 230f.<br />

Kritisch zu den "Grenzen der Erziehung" vgl. Brezinka 1981, S. 181f.<br />

149


Problemen <strong>auf</strong>, wovon das entscheidende vermutlich in der Frage besteht, wie es<br />

selbst entsteht oder sich entwickelt. Es sei hier nur angedeutet, daß eine Antwort<br />

dar<strong>auf</strong> in den Karma- bzw. Wiedergeburtstheorien verschiedener Kulturen versucht<br />

worden ist. 86<br />

Kehren wir zurück zur Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins. Man kann von den<br />

früheren Stufen der Entwicklung individuellen Bewußtseins sagen, daß sie im<br />

Unterbewußten enthalten, gegenwärtig und wirksam sind. Aber <strong>die</strong> Frage, wie<br />

schließlich, <strong>auf</strong>bauend <strong>auf</strong> <strong>die</strong>sen Vorstufen, das objektivierende Bewußtsein sich<br />

entwickelt, bleibt dadurch unbeantwortet. Man kann annehmen, daß ein oder<br />

mehrere wesentliche Elemente hinzukommen müssen, damit <strong>die</strong>se qualitativ neue<br />

Bewußtseinsstruktur entstehen kann. Gebser bezeichnet sie <strong>als</strong> <strong>die</strong> perspektivische,<br />

dreidimensionale Bewußtseinsstruktur. In der Malerei bedeutet <strong>die</strong>s den Übergang<br />

von der flächigen zur räumlichen Darstellung; in der Zeitvorstellung den Übergang<br />

von einer zyklischen Zeit - wie noch bei den Griechen - zu einer fortschreitenden,<br />

linearen Zeit 87 , mithin auch zur Idee des Fortschritts 88 , In der perspektivischen<br />

Sichtweise erhalten <strong>die</strong> Dinge eine genaue Bestimmbarkeit in Zeit und Raum und es<br />

besteht eine klare Trennung zwischen Subjekt und Objekt.<br />

Sozialwissenschaftlich wird <strong>die</strong>se Entwicklung durch veränderte Bedingungen<br />

politischer, sozialer oder technischer Art zu erklären versucht. Die Veränderung<br />

<strong>die</strong>ser Bedingungen wird aber – jedenfalls an der Oberfläche – durch <strong>die</strong> Menschen<br />

selbst verursacht. Andererseits kann man nicht behaupten, daß <strong>die</strong>s ein bewußter<br />

oder gewollter Prozeß sei, denn es ist offensichtlich, daß wir handeln, ohne zu<br />

wissen, was <strong>die</strong> langfristigen Folgen unseres Handelns sind. 89 Es kann <strong>als</strong>o sehr<br />

wohl angenommen werden, daß wir von Faktoren bestimmt sind, <strong>die</strong> außerhalb<br />

unseres (Oberflächen-) Bewußtseins liegen. Diese stammen im Rahmen des hier<br />

vorgelegten Denkmodells aus den Bereichen des Unter- und des Überbewußten.<br />

86<br />

87<br />

88<br />

89<br />

Popper (1987) z.B. verneint in einem Interview <strong>die</strong> Notwendigkeit der Annahme eines<br />

individuellen unsterblichen Geistes (den man vielleicht <strong>als</strong> individuelles Unter- und<br />

Überbewußtsein identifizieren könnte), während Eccles (1970, S. 83) an seine<br />

Möglichkeit zu glauben scheint; Lessing (o.J., 55 92-100) wiederum betrachtet <strong>die</strong>se<br />

"Hypothese" (§ 95) <strong>als</strong> wesentlich für <strong>die</strong> "Erziehung des Menschengeschlechts."<br />

Vgl. Gebser 1973, S. 38f.<br />

Vgl. Bury 1955.<br />

Vgl. hierzu etwa Elias 1978, S. 312f.<br />

150


6.3 Das Überbewußte<br />

Die These <strong>die</strong>ser Arbeit ist, daß unser Bewußtsein durch höhere Formen von<br />

Bewußtsein, d.h. durch Überbewußtsein erklärbar sein könnte. Wenn ein derartiges<br />

überbewußtes Sein existiert, dann sollte es ebenso wie das Unterbewußte,<br />

zumindest stellenweise unserer Erfahrung zugänglich sein, und zwar in einer Weise,<br />

daß <strong>die</strong> Erfahrung <strong>die</strong>ses Überbewußten <strong>als</strong> eine Erweiterung unseres gewohnten<br />

Bewußtseins erlebt wird, während das Unterbewusste vor allem eine Beschränkung<br />

<strong>auf</strong> Automatismen bedeutet. Es ist <strong>als</strong>o zu klären, welcher Art in <strong>die</strong>sem Sinn<br />

überbewußte Inhalte sind, durch welchen Prozeß oder Mechanismus sie unserer<br />

Erfahrung zugänglich werden und wie <strong>die</strong>se Erfahrungen charakterisiert werden<br />

können.<br />

6.3.1 Erfahrungen des Überbewußten<br />

Es gibt Erfahrungen, <strong>die</strong> uns mehr oder weniger deutliche Hinweise für <strong>die</strong> Annahme<br />

eines universalen wie auch individuellen Überbewußten geben. Man kann<br />

solchen Erfahrungen zwar nahezu alltäglich begegnen, aber weil sie uns meist nicht<br />

<strong>als</strong> so außergewöhnlich erscheinen, achten wir in der Regel nicht <strong>auf</strong> sie. So hat<br />

zum Beispiel Doris Lessing in den Vorbemerkungen zu ihrem Roman Shikasta<br />

dar<strong>auf</strong> hingewiesen, daß ein Schriftsteller wohl kaum etwas erfinden kann, das nicht<br />

auch Realität werden könne. Man denke etwa an Jules Vernes phantastische<br />

Romane, <strong>die</strong> im großen und ganzen von der Wirklichkeit eingeholt wurden. D.<br />

Lessing schreibt:<br />

"Zum Beispiel habe ich in ‚Die Memoiren einer Überlebenden’ ein Tier<br />

'erfunden', das halb Katze, halb Hund war und erst später gelesen, daß<br />

Wissenschaftler dabei sind, an einer solchen Kreuzung zu experimentieren.<br />

Ja ich glaube daran, daß es möglich ist, und nicht nur für Schriftsteller, sich in<br />

ein Über-Bewußtsein oder Ur-Bewußtsein oder Unbewußtes, wie immer man<br />

es nennen will, 'einzuschalten', und daß <strong>die</strong>s eine Vielzahl von Unwahrscheinlichkeiten<br />

und 'reinen Zufällen' erklärt." 90<br />

Ideen <strong>die</strong>ser Art mögen uns durchaus <strong>als</strong> gewöhnlich erscheinen, <strong>als</strong> Beispiele<br />

schöpferischer Phantasie oder Kreativität. Fragt man nun, wie solche Kreativität<br />

(wenn wir sie nicht <strong>als</strong> unerklärbares Faktum akzeptieren) möglich ist, dann bildet<br />

90<br />

Lessing 1979, S. 7-8.<br />

151


<strong>die</strong> Annahme von hierarchisch höheren Bewußtseinsebenen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Ideen in<br />

irgendeiner Weise schon enthalten, eine Möglichkeit des Verstehens. Eine andere<br />

Möglichkeit des Verstehens besteht in der Annahme gesellschaftlicher Kräfte, <strong>die</strong><br />

den einzelnen durch <strong>die</strong> Zuspitzung bestimmter Fragestellungen sozusagen zur<br />

Entwicklung bestimmter Ideen drängen. 91 Aber <strong>die</strong> gesellschaftlichen Kräfte stellen<br />

vermutlich kaum <strong>die</strong> Quelle neuartiger Ideen dar, auch wenn sie im Prozeß ihrer<br />

Entstehung eine Rolle spielen. Es kommt letztlich wieder <strong>die</strong> individuelle Kreativität<br />

ins Spiel und damit auch <strong>die</strong> Frage, ob man <strong>die</strong>se <strong>als</strong> letztgültiges Faktum sehen<br />

oder ob man weiterfragen will. Die Verstehenssituation hier scheint der des<br />

Phänomens elektrischer Entladungen beim Gewitter zu ähneln. Zunächst nahm man<br />

an, <strong>die</strong>se Entladungen entstünden aus der Reibung von Wolkenpartikeln und<br />

Wassertropfen oder Eiskörnern. Aber <strong>die</strong> genauere Untersuchung zeigte, daß <strong>die</strong><br />

elektrische Energie sowohl Wasser <strong>als</strong> auch Wolkenpartikel selbst konstituiert und<br />

aus <strong>die</strong>sen durch bestimmte Prozesse wieder freigesetzt wird. Analog kann man -<br />

wie es hier getan wird - gesellschaftliche Kräfte und individuelle Kreativität <strong>als</strong><br />

Formen universaler Bewußtseinsstrukturen <strong>auf</strong>fassen. Das Auftreten neuartiger<br />

Ideen bei Individuen könnte durch gesellschaftliche Prozesse mit bedingt aber nicht<br />

verursacht sein. Was in den Ideen zum Ausdruck gelangt, wären vielmehr<br />

Teilstrukturen jener universalen Bewußtseinsebenen im individuellen Bewußtsein.<br />

Wenn <strong>die</strong>s zuträfe, wäre es vermutlich nicht mehr verwunderlich, daß Erfahrungen<br />

des Überbewußten häufig <strong>als</strong> Erfahrungen der Realität rein geistiger Entitäten oder<br />

Geschehnisse erlebt werden. Erfahrungen <strong>die</strong>ser Art können allerdings keine<br />

Beweise für <strong>die</strong> Existenz solcher geistiger Realitäten oder Geschehnisse darstellen.<br />

Die Erfahrungen können ungenau sein, es können unbewußte mentale Konstruktionen<br />

hineinspielen und sie können möglicherweise <strong>auf</strong> Täuschungen beruhen.<br />

Aber so wie wir im großen und ganzen sinnliche Erfahrungsdaten akzeptieren -<br />

auch wenn sie vielfach täuschend sein können (z. B. wenn wir <strong>die</strong> Sonne <strong>als</strong> bewegt<br />

und <strong>die</strong> Erde <strong>als</strong> ruhend wahrnehmen) -, kann man auch <strong>die</strong> Erfahrung geistiger<br />

oder spiritueller Erscheinungen <strong>als</strong> mehr oder weniger zutreffend annehmen.<br />

Ein ungelöstes Problem besteht allerdings in der Prüfung derartiger Erfahrungen,<br />

wenn nur relativ wenige Individuen in der Lage sind, solche Erfahrungen zu<br />

machen. Der Vergleich <strong>die</strong>ser Erfahrungen miteinander mag eine hohe Übereinstimmung<br />

ergeben, aber <strong>die</strong>s braucht nicht mehr zu sagen, <strong>als</strong> daß sich alle<br />

Personen in gleicher Weise täuschen, so wie unsere Wahrnehmung uns bezüglich<br />

91<br />

Vgl. Ogburn 1969.<br />

152


der Bewegung der Sonne täuscht. Andererseits gilt aber auch, daß, wenn wir <strong>die</strong>se<br />

Erfahrungen nicht zum Ausgangspunkt unserer Untersuchungen nehmen, wir<br />

<strong>die</strong>sen Bereich insgesamt aus unserem Denken aussperren. So meint z. B. William<br />

James:<br />

"Das erste, wor<strong>auf</strong> wir achten müssen (besonders wenn wir selber zum<br />

geistlich-akademisch-wissenschaftlichen Typ gehören, zum offiziell und<br />

gewohnheitsmäßig 'korrekten Typ', zum 'totehrbaren' Typ, der unwiderstehlich<br />

versuchen wird, andere zu ignorieren), ist, daß nichts gedankenloser sein<br />

kann, <strong>als</strong> Phänomene von unserer Wahrnehmung auszusperren, bloß weil wir<br />

für unsere Person unfähig sind, an irgend etwas wie ihnen teilzunehmen." 92<br />

Es gibt nun eine Fülle von Erfahrungsberichten, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Existenz einer über<br />

unser gewöhnliches Bewußtsein, das sich weitgehend <strong>auf</strong> sinnliche Erfahrung<br />

stützt, hinausgehenden geistigen Realität. Dabei scheint das Erlebnis der Evidenz,<br />

das unsere sinnliche Erfahrung kennzeichnet, hier noch erheblich stärker und noch<br />

weniger abweisbar zu sein. Manchmal sind Erfahrungen, wie der folgende Bericht<br />

eines engen Freundes von William James (wie <strong>die</strong>ser Hochschullehrer) zeigt, auch<br />

unangenehm.<br />

"Nachdem ich zu Bett gegangen war und <strong>die</strong> Kerze ausgeblasen hatte, lag<br />

ich ein Weilchen wach und dachte ... nach, <strong>als</strong> ich plötzlich etwas in den<br />

Raum hereinkommen und nahe bei meinem Bett haltmachen fühlte. Es blieb<br />

nur eine Minute oder zwei. Ich nahm es mit keinem der normalen Sinne wahr,<br />

doch war eine fürchterlich unangenehme 'Sensation' damit verbunden. Es<br />

erregte etwas viel näher an den Wurzeln meines Seins <strong>als</strong> irgendeine<br />

normale Wahrnehmung. Das Gefühl war etwa von der Art eines sehr großen,<br />

wütenden, heftigen Schmerzes, der hauptsächlich über <strong>die</strong> Brust sich<br />

ausbreitete aber innerhalb des Körpers - und dennoch war das Gefühl nicht<br />

so sehr Schmerz <strong>als</strong> vielmehr Abscheu. Auf alle Fälle, irgend etwas war bei<br />

mir gegenwärtig, und ich wußte um seine Gegenwart weit gewisser, <strong>als</strong> ich<br />

jem<strong>als</strong> um <strong>die</strong> Gegenwart einer im Fleische lebenden Kreatur gewußt habe.<br />

Ich nahm seinen Weggang ebenso bewußt wahr, wie sein Kommen: eine<br />

ganz kurze, leichte Bewegung durch <strong>die</strong> Tür, und <strong>die</strong> 'fürchterliche Sensation'<br />

verschwand." 93<br />

92<br />

93<br />

James 1979, S. 115. Eine Verteidigung der Mystik <strong>als</strong> Gegenstand der philosophischen<br />

und wissenschaftlichen Analyse findet man auch bei Bergson 1980, S. 243f. oder bei<br />

Staal 1975, der dar<strong>auf</strong> hinweist, daß kein Gegenstand rationaler Analyse rational zu sein<br />

braucht (ein Fels z.B. ist nicht rational, S. 14).<br />

Zit. aus James 1979, S. 69<br />

153


Bei einer weiteren Erfahrung <strong>die</strong>ser Gegenwart konnte der Berichterstatter sie<br />

zwingen, zu verschwinden, d.h. er erfuhr, daß er mächtiger war <strong>als</strong> jene Erscheinung.<br />

Dieselbe Person teilte James weitere "Erfahrungen einer Gegenwart"<br />

mit, <strong>die</strong> eine andere Grundtönung zeigen. Die ganze Erfahrung war "mit einer Art<br />

Freude angefüllt." 94<br />

"Da war nicht ein bloßes Bewußtsein des 'da ist etwas', sondern, eingeschmolzen<br />

in sein zentrales Glücksgefühl, das verblüffende Innesein von<br />

etwas unaussprechlich Gutem. Weder vage, noch ähnlich der gefühlsmäßigen<br />

Wirkung irgendeines Gedichtes, oder einer Szene, oder einer Blüte,<br />

oder von Musik, sondern das sichere Wissen um <strong>die</strong> nahe Gegenwart einer<br />

Art mächtigen Person. Und nachdem es verschwand, hielt sich eine<br />

Erinnerung durch: <strong>die</strong> Wahrnehmung von Realität. Alles sonst mag ein Traum<br />

sein, aber nicht <strong>die</strong>s." 95<br />

Es scheint, daß James' Freund keine sehr tiefgehende religiöse Erziehung erhalten<br />

hat oder daß er ganz einfach nicht sehr empfänglich dafür war, denn er<br />

interpretierte, so versichert uns James, seine Erlebnisse in keiner Weise religiös. 96<br />

Die meisten Zeugnisse, <strong>die</strong> James wiedergibt, haben dagegen eindeutig religiösen<br />

Charakter, wie das folgende:<br />

"Ich war bei völliger Gesundheit: Wir waren den sechsten Tag <strong>auf</strong> unserer<br />

Wanderung und in guter Übung ... Und der Zustand meines Geistes war<br />

ebenso gesund ... Da, <strong>auf</strong> einmal, erfuhr ich ein Gefühl, <strong>als</strong> würde ich über<br />

mich selbst erhoben, ich fühlte <strong>die</strong> Gegenwart Gottes - ich erzähle <strong>die</strong> Sache<br />

gerade so, wie sie mir zu Bewußtsein kam -, <strong>als</strong> wenn seine Güte und Macht<br />

mich ganz und gar durchdrängen. Die hämmernde Emotion war so heftig, daß<br />

ich den Jungen nur sagen konnte, sie sollten weitergehen und nicht <strong>auf</strong> mich<br />

warten.<br />

... Ich danke Gott, daß er mich im L<strong>auf</strong>e meines Lebens gelehrt hatte, ihn zu<br />

erkennen ... Ich bat ihn glühend, daß mein Leben der Erfüllung seines Willens<br />

geweiht sein möge. Ich fühlte seine Antwort, <strong>die</strong> besagte, ich solle seinen<br />

Willen von Tag zu Tag tun, in Demut und Armut, indem ich ihm, dem<br />

allmächtigen Gott, <strong>die</strong> Entscheidung darüber überließe, ob ich eines Tages<br />

berufen sein sollte, <strong>auf</strong> noch bemerkbarere Weise Zeugnis abzulegen. Dann,<br />

langsam, verließ <strong>die</strong> Ekstase mein Herz; d. h., ich fühlte, Gott hatte <strong>die</strong><br />

Gemeinschaft, <strong>die</strong> er gewährt hatte, beendet, und ich war fähig weiterzugehen.<br />

94<br />

95<br />

96<br />

James 1979, S. 70.<br />

Zit. aus James 1979, S. 70.<br />

James 1979, S. 70.<br />

154


.. Der Eindruck war so stark gewesen, daß ich mich, langsam bergan<br />

steigend, fragte, ob es möglich wäre, daß Moses <strong>auf</strong> dem Sinai in intimerer<br />

Kommunikation mit Gott gestanden haben könnte. Ich halte es für gut,<br />

hinzuzufügen, daß Gott in <strong>die</strong>ser meiner Ekstase weder Form, Farbe, Geruch<br />

noch Geschmack hatte; außerdem, daß das Gefühl seiner Gegenwart von<br />

keiner bestimmten Lokalisierung begleitet war. Es war eher, <strong>als</strong> wenn meine<br />

Persönlichkeit durch <strong>die</strong> Gegenwart eines geistlichen Geistes umgewandelt<br />

worden wäre. Aber je mehr ich nach Worten suche, um <strong>die</strong>se intime<br />

Verbindung auszudrücken, desto mehr fühle ich <strong>die</strong> Unmöglichkeit, <strong>die</strong> Sache<br />

durch irgendeines unserer üblichen Bilder zu beschreiben. Letztlich ist der zur<br />

Wiedergabe meines Gefühls geeignetste Ausdruck <strong>die</strong>ser: Gott war gegenwärtig,<br />

obwohl unsichtbar; er fiel in keinen einzigen meiner Sinne, dennoch<br />

nahm mein Bewußtsein ihn wahr." 97<br />

Die beiden letzten Berichte zeigen, daß Erfahrungen <strong>die</strong>ser Art eine unbezweifelbar<br />

scheinende positive Realität betreffen. Während wir unsere Erfahrungen der<br />

physischen Wirklichkeit sehr wohl in Frage stellen können, scheint das bei <strong>die</strong>ser Art<br />

von Erfahrung nicht möglich. Diese Realität wird zudem deutlich <strong>als</strong> etwas erfahren,<br />

das von zentraler Bedeutung für das Leben ist. Sie wird <strong>als</strong> Macht erfahren, <strong>die</strong><br />

unendlich größer <strong>als</strong> <strong>die</strong> eigene ist und <strong>die</strong> - ganz unähnlich etwa der Macht der<br />

Umstände oder der Macht der sozialen Zwänge - <strong>als</strong> etwas "unaussprechlich Gutes"<br />

und offenbar auch Schönes wie ein Geschenk oder eine Gnade empfunden wird,<br />

und das man nicht missen möchte. So beeindruckend derartige Erfahrungen sein<br />

mögen, es kann wohl kaum irgendein Anspruch <strong>auf</strong> Wahrheit bezüglich der Inhalte<br />

der Erfahrung daraus abgeleitet werden.<br />

Viele Formulierungen im letzten Zitat - das ich stark gekürzt wiedergegeben habe -<br />

sind christlich geprägt. "Ich unbedeutender Sünder", "in Armut <strong>die</strong>nen" usw. sind<br />

Worte, <strong>die</strong> eine christliche Erziehung erkennen lassen. Aber bedeutet <strong>die</strong>s, daß <strong>die</strong><br />

Erfahrung eine christliche war? Könnte denn ein Atheist, ein Buddhist, ein<br />

Mohammedaner nicht <strong>die</strong> gleiche Erfahrung machen, und würde er sie nicht anders<br />

<strong>auf</strong>nehmen und darstellen? Wir brauchen hier nur <strong>die</strong> Analogie der sinnlichen<br />

Erfahrung anzuführen. Man denkt, ein Apfel z. B. wäre eben ein Apfel. Aber ein<br />

hungriges Kind wird einen Apfel anders sehen und empfinden <strong>als</strong> etwa ein<br />

Obstbauer. Und wie würde ihn ein Wüstenbewohner sehen und beschreiben, der<br />

zuvor nie einen Apfel gesehen hat? Die Wahrnehmung ist immer abhängig von<br />

unserem Wissen. Ein Biologieschüler, der nie zuvor einen Zellschnitt gesehen hat,<br />

wird beim ersten Blick durch das Mikroskop kaum etwas erkennen. Aber je mehr er<br />

97<br />

Zit. nach James 1979, S. 77-78.<br />

155


darüber erfährt, umso mehr sieht er auch. Und würde man verschiedenen Schülern<br />

etwas Unterschiedliches dazu erzählen, würden sie höchstwahrscheinlich auch<br />

Unterschiedliches sehen (sie müßten dabei allerdings getrennt voneinander<br />

arbeiten).<br />

Unsere Wahrnehmung ist biologisch 98 und sozial 99 mitbedingt. Dieser Bedingtheit<br />

dürfte auch <strong>die</strong> spirituelle Erfahrung (d. h. <strong>die</strong> Erfahrung geistiger Realität) zum Teil<br />

unterliegen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der kognitive Apparat Erfahrungen im<br />

Sinne des individuellen Vorstellungshintergrundes interpretiert oder färbt. Auch der<br />

Gebrauch der Sprache nötigt uns gewisse Vorstellungsmuster <strong>auf</strong>, innerhalb deren<br />

<strong>die</strong> spirituelle Erfahrung sich irgendwie zum Ausdruck bringen muß. 100<br />

Deshalb<br />

dürfte <strong>die</strong> spirituelle Erfahrung, wie autoritativ sie auch immer empfunden wird,<br />

tatsächlich inhaltlich keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Das an ihr möglicherweise<br />

Allgemeingültige könnte eher aus der vergleichenden Untersuchung<br />

spiritueller Erfahrungen in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten<br />

erschlossen werden. Doch kommt es uns hier nicht so sehr <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Gültigkeit <strong>als</strong> <strong>auf</strong><br />

<strong>die</strong> Möglichkeit spiritueller bzw. überbewußter Erfahrung an.<br />

Im folgenden brauchen wir den meist christlichen oder religiösen Charakter der<br />

berichteten geistigen Erfahrungen nicht zu beachten. Wor<strong>auf</strong> es ankommt, ist, ob<br />

sie <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Möglichkeit einer Wirklichkeit "höherer" Art und ihrer Erfahrung<br />

hinweisen. Um uns einen deutlicheren Eindruck von mystischen Erfahrungen zu<br />

verschaffen, seien hier noch einige Zitate wiedergegeben. 101 James gibt folgende<br />

Zeilen aus einer Autobiographie (von J. Trevor) wieder:<br />

"Ungefähr eine Stunde wanderte ich <strong>die</strong> Straße entlang ... Auf dem Weg<br />

zurück hatte ich plötzlich, ohne Vorwarnung, das Gefühl, daß ich im Himmel<br />

sei - ein Zustand innerer Friedlichkeit und Freude und Gewißheit von<br />

unbeschreiblicher Intensität, begleitet mit dem Gefühl, in einer warmen Glut<br />

von Licht gebadet zu werden, <strong>als</strong> wenn <strong>die</strong> äußeren Verhältnisse den inneren<br />

Effekt bewirkt hätten - ein Gefühl, <strong>die</strong> Grenzen des Körpers verlassen zu<br />

haben, obwohl <strong>die</strong> Szene, <strong>die</strong> mich umgab, klare Konturen hatte und mir<br />

<strong>auf</strong>grund des hellen Lichts, in dessen Mitte ich zu stehen schien, näher zu<br />

sein schien <strong>als</strong> vorher. Diese tiefe Emotion dauerte an, obschon mit<br />

98<br />

99<br />

100<br />

101<br />

Vgl. Riedl 1980, Lorenz 1977.<br />

Vgl. Berger/Luckmann 1980.<br />

Vgl. James 1979, S. 36f. und S. 401-402.<br />

Die Fülle entsprechender Quellen kann hier unmöglich angegeben werden; vgl. aber <strong>die</strong><br />

vielfachen Literaturhinweise bei James 1979, Huxley 1970; Ruhbach/Sudbrack 1984,<br />

Underhill 1955; R. Otto 1957; Scholem 1954; Bucke 1982 (11901); Stace 1961.<br />

156


abnehmender Stärke, bis ich mein Haus erreichte und einige Zeit danach, nur<br />

mählich schwindend."<br />

Man könnte einwenden, derartige Erfahrungen seien wie intensive Träume oder<br />

Phantasien. Diese Einwände glaubt unser Berichterstatter (Trevor) nach genauer<br />

Untersuchung seiner Erfahrungen aber gerade nicht gelten lassen zu können. Er<br />

schreibt:<br />

"Das geistliche Leben rechtfertigt sich selber denen gegenüber, <strong>die</strong> es leben,<br />

aber was können wir denen sagen, <strong>die</strong> es nicht verstehen? Zumindest <strong>die</strong>s<br />

können wir sagen, daß es ein Leben ist, dessen Erfahrungen sich ihren<br />

Besitzern dadurch <strong>als</strong> real erweisen, daß sie ihnen auch erhalten bleiben,<br />

wenn sie in engsten Kontakt mit den objektiven Realitäten des Lebens<br />

gebracht werden. Träume können <strong>die</strong>sen Test nicht bestehen. Wir erwachen<br />

aus ihnen, um festzustellen, daß sie nur Träume sind. Die schweifenden<br />

Vorstellungen eines überanstrengten Gehirns bestehen <strong>die</strong>sen Test nicht.<br />

Diese höchsten Erfahrungen, <strong>die</strong> ich von Gottes Gegenwart gehabt habe,<br />

sind selten und kurz gewesen - Bewußtseinsblitze, <strong>die</strong> mich zu dem<br />

überraschten Ausruf zwangen: Hier ist Gott! oder Zustände des Erhobenseins<br />

und der Einsicht weniger intensiv und nur allmählich schwindend. Ich habe<br />

ernsthaft <strong>die</strong> Frage nach dem Wert <strong>die</strong>ser Momente gestellt. Keiner Seele<br />

gegenüber habe ich sie erwähnt, damit ich nicht mein Leben und Wirken <strong>auf</strong><br />

bloße Phantasien des Gehirns baute. Aber ich finde, daß sie nach jeder Art<br />

Infragestellung und Prüfung heute dastehen <strong>als</strong> <strong>die</strong> allerre<strong>als</strong>ten Erfahrungen<br />

meines Lebens und <strong>als</strong> Erfahrungen, <strong>die</strong> alle früheren Erfahrungen und<br />

Entwicklungen erklärt und gerechtfertigt und zur Einheit gebracht haben. Ihre<br />

Realität und weitreichende Bedeutung wird in der Tat stets klarer und deutlicher.<br />

Als sie mir zuteil wurden, lebte ich das vollste, stärkste, gesündeste,<br />

tiefste Leben. Ich suchte sie nicht. Was ich mit resoluter Entschlossenheit<br />

suchte, war, mein eigenes Leben intensiver zu leben im Gegensatz zu dem,<br />

was ich <strong>als</strong> das andersartige Urteil der Welt kannte. Es geschah in den<br />

realistischsten Lebensphasen, daß <strong>die</strong> wahre Gegenwart mich ergriff und mir<br />

bewußt wurde, daß ich in den unendlichen Ozean Gottes versenkt war." 102<br />

Der Begründer der kanadischen Psychiatrie, R.M. Bucke, der selbst eine Erfahrung<br />

"kosmischen Bewußtseins" hatte, wie er es nennt, und der <strong>die</strong>ses kosmische<br />

Bewußtsein bei vielen anderen untersucht hat 103 , gibt folgenden Bericht von seinem<br />

eigenen Erlebnis: 104<br />

102<br />

103<br />

104<br />

J. Trevor, My Quest for God, London 1897, S. 268-269; zit. nach James 1979, S.<br />

370-371.<br />

Bucke 1982.<br />

Ebenda, S. 7-8y hier jedoch zit. nach der deutschen Übersetzung in James 1979, S.<br />

372-373.<br />

157


"Ich war in einem Zustand ruhigen, fast passiven Genießens, dachte nicht<br />

eigentlich nach, sondern ließ Ideen, Bilder und Gefühle selber wie es gerade<br />

kam durch den Geist fließen. Ganz plötzlich, ohne irgendein Vorzeichen, fand<br />

ich mich in eine flammenfarbene Wolke gehüllt. Einen Augenblick lang dachte<br />

ich an Feuer, an eine ungeheure Feuersbrunst irgendwo nahebei in jener<br />

großen Stadt; <strong>als</strong> nächstes merkte ich, daß das Feuer in mir selber war.<br />

Direkt danach überkam mich ein Gefühl von Jubel, von ungeheurer Freude,<br />

begleitet oder unmittelbar gefolgt von einer intellektuellen Erleuchtung, <strong>die</strong><br />

man unmöglich beschreiben kann. Unter anderem kam ich nicht nur zu der<br />

Überzeugung, sondern sah, daß das Universum nicht aus toter Materie<br />

besteht, sondern im Gegenteil eine lebendige Gegenwart ist; ich wurde mir in<br />

mir selbst des ewigen Lebens bewußt. Es war nicht eine Überzeugung, daß<br />

ich das ewige Leben haben würde, sondern ein Bewußtsein, daß ich das<br />

ewige Leben in dem Augenblick besaß; ich sah, daß alle Menschen<br />

unsterblich sind; daß <strong>die</strong> kosmische Ordnung von der Art ist, daß ohne jeden<br />

Zweifel alle Dinge zum Guten jedes einzelnen und des Ganzen zusammenwirken;<br />

daß das Grundprinzip der Welt, aller Welten, das ist, was wir Liebe<br />

nennen, und daß <strong>die</strong> Glückseligkeit jedes einzelnen und des Ganzen <strong>auf</strong><br />

lange Sicht gesehen absolut sicher ist. Die Vision dauerte ein paar Sekunden<br />

und verging, aber <strong>die</strong> Erinnerung an sie und das Gefühl der Realität dessen,<br />

was sie lehrte, überdauerte das Vierteljahrhundert, das seitdem vergangen<br />

ist. Ich wußte, daß das, was <strong>die</strong> Vision zeigte, wahr sei. Ich hatte einen<br />

Gesichtspunkt erreicht, von dem aus ich sah, daß sie wahr sein müsse. Diese<br />

Anschauung, <strong>die</strong>se Überzeugung, ich darf sagen <strong>die</strong>ses Bewußtsein, habe<br />

ich niem<strong>als</strong>, auch nicht in Perioden tiefster Depression, verloren."<br />

Bucke, der fünfzig weitere derartiger Berichte anderer wiedergibt und analysiert hat,<br />

kommt zu dem Ergebnis, daß kosmisches Bewußtsein ein Bewußtsein des Lebens<br />

und der Ordnung des Universums sei. Damit verbunden sei eine außerordentlich<br />

erhöhte intellektuelle Kraft, ein Gefühl der Erhebung und Freude und ein Gefühl der<br />

Unsterblichkeit oder besser, das unbezweifelbare Wissen, ihrer schon teilhaftig zu<br />

sein. 105<br />

James selbst machte unter dem Eindruck einer Lachgasvergiftung entsprechende<br />

Beobachtungen. Denn Lachgas und Äther, so James, "stimulieren das mystische<br />

Bewußtsein in außerordentlichem Maße.“ 106 Ähnliches wird auch von Rauschgiften<br />

wie LSD oder Meskalin berichtet. 107<br />

"Tiefe über Tiefe der Wahrheit scheint dem<br />

Inhalierenden offenbar zu werden." Aber, und das ist möglicherweise typisch für den<br />

Lachgasrausch, <strong>die</strong> Erfahrung ist überaus flüchtig, "sie entflieht im nächsten<br />

105 Vgl. Bucke 1982, S. z<br />

106 James 1979, S. 365.<br />

107 Vgl. z.B. Huxley 1977 oder Grof 1978.<br />

158


Augenblick." Was zurückbleibt, scheint verstandesmäßig unfaßbar, wenn auch "das<br />

Gefühl, <strong>als</strong> sei etwas tief Bedeutsames da gewesen" anhalte. James schreibt, er<br />

kenne mehrere Leute, <strong>die</strong> davon überzeugt seien, "im Lachgasrausch eine echte<br />

metaphysische Offenbarung empfangen" zu haben. 108 Als Ergebnis seiner eigenen<br />

Erfahrung hält James fest:<br />

"Vor einigen Jahren machte ich selbst einige Beobachtungen über <strong>die</strong>sen<br />

Aspekt der Lachgasvergiftung und berichtete darüber im Druck. Ein Ergebnis<br />

drängte sich mir dam<strong>als</strong> <strong>auf</strong>, und mein Eindruck seiner Wahrheit ist seit dem<br />

unerschüttert geblieben. Es ist der Sachverhalt, daß unser normales waches<br />

Bewußtsein, das rationale Bewußtsein, wie wir es nennen, nur ein besonderer<br />

Typ von Bewußtsein ist, während überall jenseits Bewußtseinsformen liegen,<br />

<strong>die</strong> ganz andersartig sind. Wir können durchs Leben gehen, ohne ihre<br />

Existenz zu vermuten; aber man setze den erforderlichen Reiz ein, und bei<br />

der bloßen Berührung sind sie in ihrer ganzen Vollständigkeit da: wohlbestimmte<br />

Typen von Mentalität, für <strong>die</strong> wahrscheinlich irgendwo ein Bereich<br />

besteht, in dem sie angewendet werden können und passen. Keine Betrachtung<br />

des Universums kann abschließend sein, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se anderen Bewußtseinsformen<br />

ganz außer Betracht läßt. Wie sie zu betrachten sind, ist <strong>die</strong><br />

Frage - denn sie sind so andersartig <strong>als</strong> das normale Bewußtsein. Dennoch<br />

können sie Verhalten bestimmen, obwohl sie Formeln nicht zu bieten haben;<br />

sie können Gelände erschließen, auch wenn sie keine Landkarte dazu geben<br />

können. Auf jeden Fall verbieten sie einen voreiligen Abschluß unserer Rechnung<br />

mit der Realität. Wenn ich <strong>auf</strong> meine eigenen Erfahrungen zurückblicke,<br />

konvergieren sie alle in einer Art von Einsicht, der ich eine gewisse metaphysische<br />

Bedeutung zusprechen muß. Ihr Grundton ist unveränderlich eine<br />

Versöhnung. Es ist, <strong>als</strong> wenn <strong>die</strong> Gegensätze der Welt, deren Widersprüchlichkeit<br />

und Konflikt all unsere Schwierigkeiten und Sorgen begründet, zu<br />

einer Einheit verschmelzen. Sie gehören nicht nur, wie kontrastierende<br />

Species zu ein und demselben Genus, sondern eine der Species, <strong>die</strong> vornehmere<br />

und bessere, ist selbst das Genus und absorbiert ihre Gegensätze,<br />

indem sie sie in sich <strong>auf</strong>saugt. Ich weiß, <strong>die</strong>s ist eine dunkle Aussage, wenn<br />

man sie so mit Ausdrücken der gewöhnlichen Logik formuliert, aber von deren<br />

Autorität kann ich mich nicht ganz freimachen. Ich fühle, daß <strong>die</strong> Aussage<br />

eine bestimmte Bedeutung hat, daß sie etwas Ähnliches besagt wie <strong>die</strong><br />

Hegelsche Philosophie, wenn man <strong>die</strong>se nur etwas klarer erfassen könnte.<br />

Wer Ohren hat zu hören, der höre; mich erfaßt das lebendige Gefühl ihrer<br />

Wahrheit nur in den künstlichen mystischen Bewußtseinszuständen." 109<br />

Dieser letzte Bericht scheint weit weniger <strong>auf</strong> eine unbezweifelbare Autorität eines<br />

überbewußten Seins hinzuweisen, eher <strong>auf</strong> einen bloß andersartigen Bewußtseins-<br />

108 James 1979, S. 365-366.<br />

109 James 1979, S. 366-367.<br />

159


zustand. Es muß aber in Rechnung gestellt werden, daß James' Erinnerung an <strong>die</strong><br />

Erfahrung eigentlich schon entschwunden war und daß er nur noch <strong>die</strong> Erinnerung<br />

an etwas "tief Bedeutsames" hatte. Was James berichtet, ist <strong>die</strong> Reflexion seiner<br />

Erfahrung, und das ist zweifellos etwas anderes <strong>als</strong> <strong>die</strong> Wiedergabe ihres<br />

unmittelbaren Eindrucks. Dennoch kann er sich davon "nicht ganz freimachen" und<br />

der Eindruck, daß andersartige Bewußtseinsweisen existieren, scheint ihm eine<br />

"Wahrheit", <strong>die</strong> seit jenem Erlebnis für ihn "unerschüttert" geblieben ist. Eine<br />

"Betrachtung des Universums", <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Bewußtseinsweisen nicht berücksichtigt,<br />

scheint ihm defizitär.<br />

6.3.2 Merkmale überbewußter Erfahrung<br />

Allen berichteten Erfahrungen des Überbewußten ist gemeinsam, daß sie Grenzen<br />

des Bekannten und Gewöhnlichen überschreiten. Der Raum erweitert sich, <strong>die</strong> Zeit<br />

wird zu Ewigkeit und <strong>die</strong> Erkenntnis ergreift Dinge und Zusammenhänge, <strong>die</strong> uns<br />

gewöhnlich verborgen sind. Im einzelnen sind vor allem folgende Merkmale zu<br />

nennen 110 :<br />

1. Neuheit, Andersartigkeit: - Die Erfahrungen scheinen radikal verschieden von<br />

der gewöhnlichen Sichtweise der Dinge. Alle Berichterstatter betonen, daß ihre<br />

Versuche, <strong>die</strong> Erfahrungen wiederzugeben, höchst unzulänglich seien, daß ihnen<br />

<strong>die</strong> Worte fehlen. Sie beschreiben einen völlig veränderten inneren Zustand und<br />

dadurch eine Veränderung der Sichtweise der Dinge und auch vieler üblicher<br />

Annahmen. Während man beispielsweise gewöhnlich weiß, daß man sterblich ist,<br />

erfährt man sich <strong>als</strong> mit Gewißheit unsterblich. Man erfährt etwas <strong>als</strong> Wirklichkeit,<br />

das wir sonst <strong>als</strong> Wirklichkeit zu bestreiten geneigt sind usw. Andererseits ist es<br />

nicht so, daß <strong>die</strong> gewohnten Sichtweisen ungültig wären, man lebt weiter in der<br />

Welt, wie man sie kennt. Im Rahmen unserer Logik scheint <strong>die</strong>s eine widersprüchliche<br />

Situation, und es ist daher schwierig, sie sprachlich klar zu fassen. Dazu<br />

kommt, daß unsere Begriffe und Kategorien mehr oder weniger bestimmte<br />

Bedeutungen haben und nicht beliebige Inhalte ausdrücken können. Zudem ist es<br />

schwer, etwas darzustellen, das andere nicht kennen und nie erfahren haben. Es ist<br />

vielleicht so, <strong>als</strong> wollte jemand seine Begeisterung für Mozarts Don Giovanni einem<br />

Menschen mitteilen, der beim Hören <strong>die</strong>ser Musik ganz andere Empfindungen<br />

110 Vgl. hierzu auch James 1979, S. 359ff.<br />

160


verspürt oder vielleicht überhaupt kein Verständnis für Musik <strong>auf</strong>bringen kann. 111<br />

Obgleich, oder gerade weil, Erfahrungen des Überbewußten so andersgeartet sind,<br />

können sie - wie weiter oben schon ausgeführt wurde - wohl nur bewußt und<br />

formulierbar werden, weil etwas an ihnen dem individuellen und sozialkulturellen<br />

Hintergrund entspricht. Jedenfalls ist der damit verbundene kognitive Prozeß<br />

schwerlich anders vorzustellen, <strong>als</strong> daß innere Eindrücke in gleichsinnige, entgegengesetzte<br />

oder irgendeine andere Beziehung zu dem Vorstellungshintergrund<br />

gesetzt und so interpretiert bzw. entschlüsselt werden. Allerdings ist anzunehmen,<br />

daß sich <strong>die</strong>ser Hintergrund durch wiederholte spirituelle Erfahrung verändert, wie ja<br />

auch <strong>die</strong> sinnliche Erfahrung zur Differenzierung von Interpretationsrahmen beiträgt.<br />

2. Bewußtheit höherer Art; Unbezweifelbarkeit: - Die Erfahrungen erzeugen den<br />

Eindruck unabweisbarer Autorität. 112 Und sie werden immer <strong>als</strong> etwas der<br />

gewöhnlichen Erfahrung und dem gewöhnlichen Bewußtsein Übergeordnetes<br />

wahrgenommen. Es ist - für denjenigen, der <strong>die</strong> Erfahrung macht - offenbar kein<br />

Zweifel an <strong>die</strong>ser Übergeordnetheit möglich. Es wurde bereits dar<strong>auf</strong> hingewiesen,<br />

daß daraus kein Anspruch <strong>auf</strong> Wahrheit und Allgemeingültigkeit abgeleitet werden<br />

kann.<br />

3. Positive Qualität: - Die Erfahrungen scheinen meistens von einer überwältigenden<br />

Positivität zu sein. 113 Sorgen und Unglück erscheinen <strong>als</strong> etwas<br />

Läppisches, Unwichtiges. Negativität verschwindet in einer umfassenden Einheit<br />

oder Ganzheit, <strong>die</strong> Heil-sein bedeutet. Es besteht häufig <strong>die</strong> unbezweifelbare<br />

Sicherheit, daß alles gut ist oder im Kern gut ist und daß alles Häßliche irgendwie<br />

eine Illusion an der Oberfläche darstellt. In manchen Erfahrungen breitet sich eine<br />

unwiderstehbare Harmonie und Schönheit aus und erfaßt alle Dinge bzw. <strong>die</strong><br />

Wahrnehmung der Dinge.<br />

4. Erkenntnis der Wirklichkeit: - Vermutlich <strong>auf</strong>grund der unter 3. erwähnten<br />

positiven Qualität der meisten berichteten Erfahrungen, werden <strong>die</strong>se vor allem<br />

gefühlshaft beschrieben. Sie erscheinen aber im wesentlichen <strong>als</strong> "Zustände von<br />

Einsicht in Tiefen der Wahrheit, <strong>die</strong> vom diskursiven Intellekt nicht ausgelotet werden.<br />

Sie sind Erleuchtungen, Offenbarungen, voll von Bedeutung und Wichtigkeit,<br />

111<br />

112<br />

113<br />

Vgl. James 1979, S. 359.<br />

Ebenda, S. 392-393.<br />

In dem <strong>auf</strong> Seite 154 zitierten Beispiel einer unangenehmen geistigen Gegenwart wurde<br />

<strong>die</strong>se <strong>als</strong> etwas Untergeordnetes empfunden, etwas, über das im Prinzip individuelle<br />

Macht ausgeübt werden kann.<br />

161


so unartikuliert sie im Ganzen bleiben ..." 114 Sie werden empfunden <strong>als</strong> Erfahrungen<br />

einer Wirklichkeit, <strong>die</strong> weit ".wirklicher" ist <strong>als</strong> das, was wir gewöhnlich mit<br />

<strong>die</strong>sem Wort bezeichnen. Es scheint, <strong>als</strong> wäre <strong>die</strong> gewöhnliche Wahrnehmung,<br />

Analyse und Erklärung von untergeordneter Art und <strong>die</strong> dadurch beschriebene<br />

Wirklichkeit nur eine äußerste Oberfläche von etwas weitaus Tieferem.<br />

An einigen Stellen entsteht der Eindruck, <strong>als</strong> ob mystische und wissenschaftliche<br />

Erkenntnis gar nicht so verschieden voneinander wären. So stellen manche<br />

Physiker ihre Vorstellung von der Materie in ähnlicher Weise dar wie Mystiker ihre<br />

Erfahrungen davon beschrieben haben. 115<br />

Darüber hinaus zeigt eine Analyse<br />

mystischer Erfahrungsberichte, daß sie in dem, was sie <strong>als</strong> Wirklichkeit beschreiben,<br />

zumindest in wesentlichen Punkten, weitgehend übereinstimmen. Das trifft <strong>auf</strong><br />

Erfahrungen aus allen Zeiten und Teilen der Welt zu 116 ; sie scheinen sich hierin von<br />

wissenschaftlicher Erkenntnis zu unterscheiden, <strong>die</strong> einem beständigen Wandel<br />

unterliegt. Die mystische Erfahrung vermittelt eine Erkenntnis der Wirklichkeit, in der<br />

Gegensätze vereinigt oder ausgesöhnt erscheinen, in der <strong>die</strong> Verbundenheit von<br />

allem keine theoretische Annahme, sondern <strong>die</strong> unmittelbare Erfahrung der Realität<br />

darstellt. Insbesondere ist in <strong>die</strong>ser Wirklichkeitswahrnehmung der Sinn mit eingeschlossen.<br />

Die Frage nach dem Sinn scheint <strong>auf</strong> <strong>die</strong>ser Ebene gar nicht gestellt<br />

werden zu können, weil der Sinn so etwas wie eine absolute, unbezweifelbare<br />

Wahrheit zu sein scheint, <strong>die</strong> der Wahrnehmung der Gegebenheiten unmittelbar<br />

inhärent ist. Bergson bezeichnete <strong>die</strong>se Sinnfrage <strong>als</strong> <strong>die</strong> Raison d'étre der<br />

philosophischen Reflexion. Er schreibt:<br />

"Woher kommen wir? Was machen wir hier unten? Wohin gehen wir? - Wenn<br />

<strong>die</strong> Philosophie <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Fragen von vitalem Interesse wirklich nichts zu<br />

antworten hätte, wenn sie außerstande wäre, sie allmählich fortschreitend zu<br />

klären, ... dann wäre es beinahe angebracht, jenes Wort Pasc<strong>als</strong> zu variieren<br />

und zu sagen, <strong>die</strong> ganze Philosophie sei nicht <strong>die</strong> Mühe einer Stunde wert." 117<br />

5. Unlogik oder Überlogik: - Vom Standpunkt unserer alltäglichen Erfahrung aus<br />

sind mystische Erfahrungen unlogisch. Sie gehen über <strong>die</strong>se Logik offenbar hinaus,<br />

sind damit nicht erfaßbar, so wie etwa das Verhalten subatomarer Teilchen, <strong>die</strong> sich<br />

114<br />

115<br />

116<br />

117<br />

James 1979, S. 359-360. Zur Erfahrung von Realität in mystischen Zuständen vgl. auch<br />

den jeder Sympathie für den Mystizismus unverdächtigen Broad 1953, S. 173, 197 usw.<br />

Vgl. hierzu <strong>die</strong> Darstellung der Parallelen von östlicher Mystik und moderner Physik bei<br />

Capra 1980. Er gibt in <strong>die</strong>sem Zusammenhang Zitate von frappierender Ähnlichkeit<br />

wieder, <strong>die</strong> einen von Mystikern, <strong>die</strong> anderen von Physikern.<br />

Vgl. Stace 1961.<br />

Bergson 1928, S. 52.<br />

162


nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit vor und zurück bewegen können, <strong>die</strong><br />

gewöhnliche Logik überschreitet. Dieses Unlogische oder durch Logik nicht<br />

Erfaßbare (und Logik ist schließlich das grundlegende Werkzeug des Denkens, vor<br />

allem des wissenschaftlichen Denkens) ist einer der Hauptgründe, warum mystische<br />

Erfahrung so häufig überhaupt verworfen wird und in <strong>die</strong> Kategorien des Unverständlichen<br />

und daher Sinnlosen gesteckt wurde. 118<br />

Die Gegensätzlichkeit zur<br />

Logik, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> mystische Erfahrung so kennzeichnend ist, kann aber auch - wie v.<br />

Weizsäcker es formuliert - <strong>die</strong> verborgene Subjektivität der Natur der objektiven<br />

Logik enthüllen:<br />

"Antilogik ist nicht Unlogik oder Ferne von Logik; sie ist <strong>auf</strong> Logik bezogen <strong>als</strong><br />

ihr Gegensatz. Sie will etwas, aber eben nicht das, was <strong>die</strong> Logik will. Sie<br />

enthüllt das Willenselement in der Logik. Was hier in den Blick rückt, ist<br />

gleichsam <strong>die</strong> Subjektivität des Objektivismus." 119<br />

Die Annahme der Möglichkeit einer den Erfahrungen des Überbewußten<br />

zugrundeliegenden anti- oder überlogischen Struktur eröffnet zumindest einen Ansatz<br />

zu deren Untersuchung. C.G. Jung hat <strong>die</strong>s mit seiner Arbeit über Synchronizitätsphänomene,<br />

<strong>als</strong>o über akausale Verknüpfungen von Ereignissen gewagt.<br />

Allerdings hat er dabei mystische Erfahrungen ausgespart. Auch der Physiker W.<br />

Pauli hat mit seiner Arbeit über den "Einfluß archetypischer Vorstellungen <strong>auf</strong> <strong>die</strong><br />

Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler" eine Untersuchung zu nichtlogischen<br />

Verknüpfungen unternommen. 120<br />

Was kann man nun aus unserer alltäglichen, vernünftigen Sichtweise der Dinge zur<br />

Verteidigung der in mystischen Zuständen erfahrenen Wirklichkeit anführen? Zunächst<br />

gilt, daß unsere rationalen Überzeugungen <strong>auf</strong> der Evidenz von Argumenten<br />

oder den Ergebnissen von Experimenten beruhen. Wir können schließlich, wenn<br />

man uns dazu drängt, nicht mehr für unsere Überzeugungen anführen, <strong>als</strong> daß uns<br />

eben <strong>die</strong>se oder jene Ergebnisse oder Argumente (<strong>auf</strong> welchen Voraussetzungen<br />

sie auch immer beruhen) vernünftig und einleuchtend erscheinen und irgendwie mit<br />

unserer Erfahrung der Dinge übereinstimmen. Aber <strong>auf</strong> Erfahrung, <strong>auf</strong> direkte<br />

(übersinnliche) Wahrnehmung beruft sich auch der Mystiker. 121<br />

118 Zur Unlogik mystischer Zustände vgl. Ouspensky 1980.<br />

119 v.Weizsäcker 1978, S. 224.<br />

120 Jung/Pauli 1952.<br />

121 Vgl. hierzu James 1979, S. 393-394.<br />

163


Daß <strong>die</strong> rein sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung der Welt kein adäquates Bild<br />

von <strong>die</strong>ser liefert, ist offensichtlich: <strong>die</strong> Beschränkung der sinnlichen Wahrnehmung<br />

z. B. beim Hören und Sehen <strong>auf</strong> einen extrem schmalen Ausschnitt von Frequenzen<br />

verdeutlicht <strong>die</strong>s. Die Physik arbeitet ja weitgehend mit nur indirekt sinnlich<br />

zugänglichen Daten. Manchmal widersprechen <strong>die</strong>se der grobsinnlichen Erfahrung<br />

und erklären sie für f<strong>als</strong>ch. Man könnte sagen, daß <strong>die</strong> Sinnesorgane sich beharrlich<br />

weigern, <strong>die</strong> Welt wissenschaftlich korrekt wahrzunehmen, beispielsweise <strong>die</strong><br />

Sonne <strong>als</strong> unbewegt und <strong>die</strong> Erde <strong>als</strong> bewegt zu erfahren. Die relative Unsicherheit<br />

und Fragwürdigkeit unserer Erkenntnis und der Sinnesdaten ist von Wissenschaftstheoretikern<br />

klar herausgestellt worden. So schreibt Popper, daß unser Wissen "ein<br />

kritisches Raten" sei, "ein Netz von Hypothesen; ein Gewebe von Vermutungen.' 122<br />

Ein anderes Argument besagt, unsere rationalen Erkenntnisse beruhten <strong>auf</strong> einer<br />

universell gültigen Vernunft, während <strong>die</strong> mystische Erfahrung bloß subjektiv sei.<br />

Aber das, was man <strong>als</strong> Vernunft bezeichnet, scheint ein Gebilde von - gleichzeitig<br />

oder in historischer Folge - widerstreitenden und sich bekämpfenden Denkschulen;<br />

und noch nie hat eine es geschafft, alle von ihrer "Wahrheit" zu überzeugen. Da, wo<br />

eine größere Übereinstimmung besteht wie in der Physik, scheint <strong>die</strong>se Übereinstimmung<br />

durch <strong>die</strong> stillschweigende Akzeptierung eines gemeinsamen Denkrahmens<br />

zustandegekommen zu sein. 123 Aber auch hier gibt es in Teilbereichen<br />

Differenzen. So hat beispielsweise ein Teil der theoretischen Physiker den Anspruch<br />

<strong>auf</strong> absolute Objektivität <strong>auf</strong>gegeben. "Für <strong>die</strong> Quantentheorie ... ist <strong>die</strong> Subjektbezogenheit<br />

allen Wissens konstitutiv." 124<br />

Ein weiteres Problem scheint <strong>die</strong> Tatsache, daß nur wenige Menschen über<br />

mystische Erfahrungen verfügen und wir dar<strong>auf</strong> angewiesen sind, ihnen mehr oder<br />

weniger blind zu glauben. Aber wie viele Menschen können <strong>die</strong> Ergebnisse z. B. von<br />

Physikern oder Chemikern nachvollziehen und prüfen? Wir nehmen sie vielmehr <strong>als</strong><br />

geprüft und beglaubigt, mit dem Stempel der Wissenschaftlichkeit versehen, mehr<br />

oder weniger glaubend oder uns dar<strong>auf</strong> verlassend hin.<br />

So scheinen <strong>die</strong> Berichte mystischer Erfahrungen, <strong>die</strong> Analyse einiger der Eigenschaften<br />

derartiger Erfahrungen sowie der Argumente, <strong>die</strong> ihre Gültigkeit bezweifeln,<br />

den Schluß zuzulassen, daß "<strong>die</strong> Welt unseres gegenwärtigen Bewußtseins<br />

122 Popper 1971, S. XXV sowie Popper 1973 oder noch kritischer Feyerabend 1977.<br />

Stegmüller,1960, S. 187, kommt zu dem Schluß, "daß für kein Ereignis eine wissenschaftlich<br />

haltbare kausale Erklärung existiert."<br />

123<br />

Vgl. Kuhn 1976.<br />

124<br />

v.Weizsäcker 1978, S. 194.<br />

164


nur eine aus vielen bewußten Welten, <strong>die</strong> es gibt, ist und daß <strong>die</strong>se anderen Welten<br />

Erfahrungen enthalten müssen, <strong>die</strong> auch für unser Leben eine Bedeutung haben<br />

...“ 125 Wir werden in Teil III noch sehen, daß z. B. <strong>die</strong> Psychosynthese, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Möglichkeit überbewußter Welten akzeptiert, zugleich Möglichkeiten - und vermutlich<br />

zugleich Gefahren - für <strong>die</strong> Erziehung eröffnet, denen bislang nur wenig<br />

Beachtung geschenkt wurde.<br />

Wenn dem Überbewußten eine Wirklichkeit in sich zukommt und wenn, wie Goethe<br />

sagt, Wirklichkeit ist, was wirkt, dann muß es auch <strong>Auswirkungen</strong> <strong>auf</strong> den Körper,<br />

das Gefühl und das Denken des Menschen haben können. Einige Wirkungen <strong>auf</strong><br />

das Denken und Fühlen sind aus den weiter oben zitierten Beispielen hinreichend<br />

ersichtlich. Die Literatur enthält eine Fülle weiterer Beispiele hierzu. So gibt James,<br />

was jene vitalen Leidenschaften betrifft, <strong>die</strong> das Leben häufig genug zu einer<br />

qualvollen Angelegenheit machen, eine Reihe von Berichten wieder, in denen eine<br />

endgültige Heilung von Trunksucht oder von subjektiv unerträglich empfundener<br />

sexueller Leidenschaft und anderen Erschwernissen des Lebens erreicht wurde. Es<br />

ist zu bedenken, daß es sich in <strong>die</strong>sen Fällen nicht um kurzfristige, sondern<br />

überdauernde Verhaltensänderungen handelte, daß <strong>die</strong> Individuen sich selbst stets<br />

zu schwach fühlten, eine solche Änderung herbeizuführen und <strong>die</strong> endgültige<br />

"Konversion" durch etwas zustande kam, das <strong>die</strong> Betroffenen regelmäßig und<br />

deutlich <strong>als</strong> eine unwiderstehliche höhere Macht empfanden. 126<br />

Was <strong>die</strong> möglichen Wirkungen <strong>auf</strong> das Physische bzw. den Körper betrifft, so<br />

scheint es Hinweise dar<strong>auf</strong> aus jener Bewegung zu geben, <strong>die</strong> James <strong>als</strong> Mind-cure<br />

Bewegung bezeichnet und deren Lehre im wesentlichen und vereinfacht dargestellt,<br />

darin besteht, daß unser Sein aus einer spirituellen Macht hervorgehe und von ihr<br />

abhängig sei. Wenn wir uns ihr ganz auslieferten, könne es keine Krankheit mehr für<br />

uns geben. Es verstehe sich dabei von selbst, daß nicht alle Leute <strong>die</strong>s können, so<br />

wie es ja auch viele Leute gebe, <strong>die</strong> unfähig seien, Musik oder Malerei zu genießen<br />

und zu verstehen. Der entscheidende Punkt, so James, sei, daß es eine große Zahl<br />

von Menschen gibt, <strong>die</strong> durch Mind-cure beeinflußt werden können. 127 Und dann<br />

führt er etliche Zitate von Fällen an, in denen der eigene Glaube oder der Glaube<br />

anderer, bei gleichzeitiger großer Skepsis des Kranken, <strong>die</strong> Heilung sehr schwerer<br />

Krankheiten bewirkte, <strong>die</strong> zum Teil allen anderen versuchten Therapien widerstan-<br />

125 James 1959, S. 472.<br />

126 Vgl. ebenda, S. 185f.<br />

127 Vgl. James 1979, S. 104.<br />

165


den hatten. 128 Glaube dürfte darüber hinaus auch bei den oft erstaunlichen<br />

Wirkungen von Placebos eine Rolle spielen. 129 Man kann einwenden, daß es sich<br />

um sogenannte Spontanheilungen oder um Autosuggestion handle, aber zumindest<br />

Autosuggestion dürfte in einem engen Zusammenhang mit Glauben stehen.<br />

6.3.3 Erfahrungen des überbewußten Selbst<br />

Eine weitere, bisher noch nicht behandelte Eigenschaft überbewußter Zustände<br />

betrifft <strong>die</strong> manchmal völlig veränderte Erfahrung des eigenen Selbst. 130 Man sieht<br />

und begreift sich in ihnen offenbar nicht <strong>als</strong> das endliche, begrenzte und wechselnde,<br />

phänomenale Wesen, das unser Ich ausmacht, oder jenen losgelösten,<br />

unidentifizierten Beobachter, den wir <strong>als</strong> personales Selbst beschrieben haben<br />

(Kap. 5.3.4 und 5.3.5). In überbewußten oder mystischen Zuständen wird <strong>die</strong>se<br />

Subjekt-Objekt-Spaltung <strong>auf</strong>gehoben, wird das Selbst deutlich <strong>als</strong> etwas Unbegrenztes,<br />

Ewiges, <strong>als</strong> etwas Diesseitiges und Jenseitiges bzw. Immanentes und<br />

Transzendentes erfahren. Das ist natürlich höchst unlogisch, aber das gehört, wie<br />

weiter oben ausgeführt, eben zur Natur derartiger Erfahrungen. Doch sind jene<br />

Erfahrungen nicht völlig einheitlich, sondern durchaus verschieden. So zitiert James<br />

folgenden Bericht eines mystischen Zustandes, in dem das Selbst ausschließlich <strong>als</strong><br />

transzendent erfahren wird. Nichts <strong>als</strong> das transzendente Selbst scheint zu<br />

existieren, und alles andere erscheint <strong>als</strong> Illusion:<br />

" 'Plötzlich', schreibt Symonds, 'in der Kirche, oder in Gesellschaft, oder beim<br />

Lesen und immer, glaube ich, wenn meine Muskeln in Ruhe waren, fühlte ich<br />

<strong>die</strong> Stimmung nahen. Unwiderstehlich nahm sie Besitz von meinem Geist und<br />

Willen, dauerte wie es schien eine Ewigkeit und verschwand mit einer Reihe<br />

von rapiden Empfindungen, <strong>die</strong> dem Aufwachen aus der Narkose glichen. Ein<br />

Grund, aus dem ich <strong>die</strong>se Art von Trance nicht liebte, war der, daß ich sie für<br />

mich selber nicht beschreiben konnte. Ich kann sogar jetzt keine Worte<br />

finden, <strong>die</strong> sie verständlich machten. Sie bestand in einem gradweisen, aber<br />

langsam zunehmenden Vergessen von Raum, Zeit und Gefühl und den<br />

vielfältigen Faktoren der Erfahrung, <strong>die</strong> dasjenige zu qualifizieren scheinen,<br />

was wir gerne unser Selbst nennen. In dem Maße, in dem <strong>die</strong>se Bedingungen<br />

des normalen Bewußtseins entzogen wurden, nahm das Gefühl für ein<br />

darunterliegendes oder wesentliches Bewußtsein an Intensität zu. Schließlich<br />

128<br />

129<br />

130<br />

Vgl. ebenda, S. 104f., insbesondere <strong>die</strong> Fälle S. 109-111 und in den Anmerkungen, S.<br />

527f.<br />

Vgl. hierzu Kienle 1974, S. 170f.<br />

Vgl. z.B. Stace 1961, S. 85f.<br />

166


lieb nichts zurück <strong>als</strong> ein reines, absolutes, abstraktes Selbst. Das Universum<br />

wurde formlos und entleerte sich jeden Inhalts. Aber das Selbst hielt sich<br />

durch, ungeheuer in seiner lebendigen Schärfe, mit dem Gefühl des schmerzhaftesten<br />

Zweifels hinsichtlich der Realität, wie es schien, bereit, <strong>die</strong> Wirklichkeit<br />

wie eine Seifenblase um sich herum zerbrochen zu finden. Und was<br />

dann? Die Wahrnehmung einer bevorstehenden Auflösung, <strong>die</strong> wütende<br />

Überzeugung, daß <strong>die</strong>ser Zustand der letzte Zustand des bewußten Selbst<br />

war, das Gefühl, daß ich dem letzten Faden des Seins bis zum Scheitel der<br />

Tiefe gefolgt war und zur Demonstration ewiger Maja oder Illusion gelangt<br />

war, <strong>die</strong> wieder einmal <strong>auf</strong>gerührt war oder mich <strong>auf</strong>zurühren schien. Die<br />

Rückkehr zu den normalen Bedingungen der bewußten Existenz begann<br />

damit, daß ich zuerst <strong>die</strong> Kraft der Berührung wieder entdeckte, und dann<br />

durch den gradweisen, obschon rapiden Einfluß von vertrauten Eindrücken<br />

und alltäglichen Interessen. Schließlich fühlte ich mich selbst wieder <strong>als</strong><br />

menschliches Wesen; und obwohl das Rätsel, was das Leben bedeutet,<br />

ungelöst blieb, war ich für <strong>die</strong>se Rückkehr aus dem Abgrund dankbar - <strong>die</strong>se<br />

Befreiung aus einer so schrecklichen Einweihung in <strong>die</strong> Geheimnisse des<br />

Skeptizismus.<br />

Diese Trance kehrte in abnehmender Häufigkeit wieder, bis ich das Alter von<br />

28 Jahren erreichte. Sie führte dazu, meiner heranwachsenden Natur <strong>die</strong><br />

ganze gespensterhafte Unwirklichkeit all der Umstände einzuprägen, <strong>die</strong> zu<br />

einem bloß phänomenalen Bewußtsein gehören. Beim Aufwachen aus<br />

<strong>die</strong>sem formlosen Zustand nackten, scharf empfundenen Seins habe ich mich<br />

oft ängstlich gefragt: Was ist <strong>die</strong> Unwirklichkeit - der Traum vom feurigen,<br />

leeren, wahrnehmenden, skeptischen Selbst, aus dem ich entspringe, oder<br />

<strong>die</strong>se umgebenden Phänomene und Gewohnheiten, <strong>die</strong> jenes innere Selbst<br />

verhüllen und ein konventionelles Selbst aus Fleisch und Blut bilden? Weiter<br />

sind <strong>die</strong> Menschen <strong>die</strong> Elemente irgendeines Traums; <strong>die</strong> traumhafte Unwirklichkeit,<br />

von der sie in solchen ereignisschweren Momenten etwas begreifen?<br />

Was würde passieren, wenn der Endzustand des Traums erreicht würde?'“ 131<br />

Stace, der <strong>die</strong>se Erfahrung Symonds' diskutiert, weist <strong>auf</strong> einige ungewöhnliche<br />

Merkmale hin. Ungewöhnlich sei, daß Symonds <strong>die</strong> Erfahrung nicht mochte und<br />

dankbar war, <strong>als</strong> sie wieder verschwand. Es sei der einzige Fall, den er kenne, in<br />

dem das Element des Gesegnetseins, des Friedens und der Freude fehle. Die<br />

zweite ungewöhnliche Eigenart liege in dem Fehlen des unabweisbaren Eindrucks<br />

einer objektiven Wahrheit (es bleibt ein Zweifel darüber, was nun wahr ist), und das<br />

131<br />

H.F. Brown: J.A. Symonds. A Biography, London 1895, S. 29-31; zit. nach James 1979,<br />

S. 363-364.<br />

167


dritte sei, daß es nicht <strong>die</strong> Erfahrung der Sinnhaftigkeit allen Lebens gegeben<br />

habe. 132<br />

In den anderen Berichten scheinen derartige Zweifel zu fehlen, und das Selbst wird<br />

nicht nur <strong>als</strong> transzendentes Selbst oder Sein, sondern zugleich <strong>als</strong> individuelles<br />

Bewußtsein erfahren. Der Grundzug <strong>die</strong>ser Erfahrungen ist eine unerhörte<br />

Anschauung des Selbst. In manchen Fällen wird das Selbst alles, es ist alles, es<br />

gibt keine eindeutige Trennung von allem anderen; es ist unbegrenzt und<br />

unbegrenzbar durch Raum und Zeit; es ist zugleich individuell und universal,<br />

Beobachter und Beobachtetes. So widersprüchlich <strong>die</strong>s klingen mag, es folgt aus<br />

den Berichten, <strong>die</strong> gegeben werden. So schrieb Traherne über eine Erfahrung<br />

seiner Kindheit:<br />

"Staub und Steine <strong>auf</strong> der Straße schienen kostbares Gold. Die Tore stellten<br />

zunächst das Ende der Welt dar. Die grünen Bäume, <strong>als</strong> ich sie das erste Mal<br />

durch eins der Tore erblickte, entzückten mich und ich geriet außer mir vor<br />

Freude; ihre Lieblichkeit und ungewöhnliche Schönheit ließen mein Herz<br />

hüpfen und machten es fast verrückt vor Ekstase - sie waren so eigentümlich<br />

und wundervoll. Die Menschen! Oh, welch verehrungswürdige achtungseinflößende<br />

Wesen schienen <strong>die</strong> Alten zu sein! Unsterbliche Cherubim! Und <strong>die</strong><br />

jungen Männer glichen glitzernden, schimmernden Engeln, <strong>die</strong> jungen<br />

Mädchen waren fremdartige seraphische Dinge, Elemente von Leben und<br />

Schönheit ... Mir schien nicht, daß sie jem<strong>als</strong> geboren waren oder sterben<br />

würden! Sondern alle Dinge waren ewig, da sie den ihnen zugehörigen Platz<br />

einnahmen. Ewigkeit leuchtete im Licht des Tages und hinter allem schien<br />

etwas Unendliches zu sein; es sprach zu meiner Hoffnung und nährte meine<br />

Sehnsucht. Die Stadt schien in Eden zu liegen, oder im Himmel gebaut zu<br />

sein. Die Straßen waren mein, <strong>die</strong> Menschen waren mein, ihre Kleider, das<br />

Gold und das Silber waren mein, genau wie ihre leuchtenden Augen, ihre<br />

helle Haut und rötlichen Gesichter. Die Himmel waren mein, ebenso Sonne,<br />

Mond und Sterne, und <strong>die</strong> ganze Welt war mein; und ich war der einzige, der<br />

<strong>die</strong>s alles schaute und sich daran erfreute." 133<br />

Die Individualität des Beobachters ist in <strong>die</strong>sem Bericht noch deutlich erkennbar,<br />

obgleich sie sich ins Kosmische zu weiten scheint. Nach anderen Berichten sieht es<br />

so aus, <strong>als</strong> ob <strong>die</strong> Individualität sich <strong>auf</strong>löst, dahinschmilzt. So beschreibt der<br />

bekannte Philosoph und Zen-Buddhist D.T. Suzuki seine Erfahrung des Satori (der<br />

Erleuchtung) folgendermaßen:<br />

132<br />

133<br />

Stace 1961, S. 92.<br />

Thomas Traherne, Centuries of Meditation, London 1908; zit. nach Huxley 1970, S.<br />

75-76.<br />

168


"Die individuelle Schale, in <strong>die</strong> meine Persönlichkeit so fest eingeschlossen<br />

ist, explo<strong>die</strong>rt im Moment des Satori. Das heißt nicht unbedingt, daß ich eins<br />

werde mit einem Sein, größer <strong>als</strong> ich es bin, oder in ihm absorbiert werde;<br />

aber meine Individualität, <strong>die</strong> so stark in ihrer Struktur zusammenhält und so<br />

klar von anderen individuellen Existenzen verschieden ist ... schmilzt dahin in<br />

etwas Unbeschreibliches, etwas, das einer Ordnung angehört, <strong>die</strong> ganz<br />

verschieden ist von dem, an das ich gewohnt bin." 134<br />

Hier wird zwar keine vollkommene Identität des Individuums mit dem "größeren<br />

Sein" erfahren oder behauptet, sie erfahren zu haben. Aber es wird klar beschrieben,<br />

wie <strong>die</strong> Grenzen der Individualität, des individuellen Bewußtseins und seiner<br />

Struktur sich <strong>auf</strong>lösen, "dahinschmelzen". Man kann fragen, wo dann überhaupt<br />

noch ein Selbst sein kann, wenn es sich <strong>auf</strong>löst im All-Selbst. Andererseits ist der<br />

Erfahrende noch da, obgleich sein Bewußtsein sich ins Bodenlose zu weiten<br />

scheint. Betrachten wir ein weiteres Beispiel, <strong>die</strong>smal von dem englischen Dichter<br />

Tennyson, der in einem Brief schreibt:<br />

"Eine Art wacher Trance - in Ermangelung eines besseren Wortes habe ich<br />

von früher Knabenzeit an oft gehabt, wenn ich ganz für mich allein war. ...<br />

Plötzlich, <strong>als</strong> käme es aus der Intensität des Bewußtseins der Individualität,<br />

schien sich <strong>die</strong>se selber <strong>auf</strong>zulösen und sich zu verflüchtigen in ein grenzenloses<br />

Sein. Dies war kein verwirrter Zustand, sondern der klarste, sicherste<br />

aller sicheren, vollständig jenseits aller Worte - wo Tod eine nahezu lächerliche<br />

Unmöglichkeit war. Der Verlust der Persönlichkeit (wenn es so war)<br />

schien keine Auslöschung, sondern das einzige wahre Leben." 135<br />

Seinem Bericht der Erfahrung der Auflösung der Persönlichkeit oder Individualität<br />

fügt Tennyson <strong>die</strong> Worte "wenn es so war" hinzu - allerdings in Klammern.<br />

Seltsamerweise bezeichnet er seine Erfahrung zugleich <strong>als</strong> "klarste, sicherste aller<br />

sicheren". Sollte er sich doch nicht so klar gewesen sein? Stace 136 interpretiert den<br />

Zusatz Tennysons so, daß <strong>die</strong>ser damit nur <strong>die</strong> verwirrende, paradoxe Situation<br />

zum Ausdruck bringen wollte, <strong>die</strong> darin besteht, daß <strong>die</strong> Individualität sich einerseits<br />

<strong>auf</strong>löst, verschwindet und andererseits doch weiterbesteht; denn der beobachtende<br />

und empfindende Tennyson verschwindet ja nicht. Das Paradoxe ist, daß Indivi-<br />

134 D.T. Suzuki: Zen Buddhism: Selected Writings of D.T. Suzuki. Ed. by W. Barrett. New<br />

York o.J., S. 105, zit. nach Stace 1961, S. 117.<br />

135 Zit nach Stace 1961, S. 119.<br />

136 Vgl. ebenda, S. 120.<br />

169


dualität in ihrer Auflösung das "einzig wahre Leben" findet. "Aber schließlich war es<br />

Tennyson, der das Verschwinden von Tennyson erfahren hat." 137<br />

Arthur Koestler berichtet eine Reihe mystischer Erfahrungen, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> ihn kamen <strong>als</strong><br />

er im Spanischen Bürgerkrieg wegen Spionage in einem Franco-Gefängnis saß.<br />

Greifen wir den Kernpunkt heraus:<br />

"Dann schwamm ich <strong>auf</strong> meinem Rücken in einem Fluß von Frieden unter<br />

Brücken des Schweigens. Er kam von nirgendwo und floß nach nirgendwohin.<br />

Dann war da kein Fluß mehr und kein Ich. Ich hatte <strong>auf</strong>gehört zu<br />

existieren. ... Wenn ich sage 'ich hatte <strong>auf</strong>gehört zu existieren', beziehe ich<br />

mich <strong>auf</strong> eine konkrete Erfahrung ... Das Ich hört <strong>auf</strong> zu sein, weil es durch<br />

eine Art mentaler Osmose eine Kommunikation mit dem universalen Tümpel<br />

hergestellt und darin <strong>auf</strong>gelöst wurde. Es ist <strong>die</strong>ser Prozeß der Auflösung, der<br />

<strong>als</strong> ein 'ozeanisches' Gefühl wahrgenommen wird; <strong>als</strong> eine Ableitung aller<br />

Spannungen, eine absolute Katharsis; der Friede, der alles Verstehen überschreitet."<br />

138<br />

Es ist bemerkenswert, daß Suzuki, Tennyson und Koestler keine religiöse Sprache<br />

in ihren Beschreibungen benutzen. Koestler z. B. spricht nicht vom "Frieden Gottes,<br />

der alles Verstehen überschreitet", sondern nur vom Frieden. Stace interpretiert <strong>die</strong>s<br />

so, daß Koestler, erzogen in einem wissenschaftlichen Zeitalter, versuche, seine<br />

Erfahrung so objektiv <strong>als</strong> möglich wiederzugeben. 139 Wie das Beispiel von Suzuki<br />

zeigt, werden derartige Erfahrungen auch im Zen-Buddhismus in einer sich um<br />

Objektivität bemühenden nicht-religiösen Sprache formuliert. Das zeigt auch das<br />

folgende Zitat von Philip Kapleau. Er beschreibt, daß während eines Gespräches<br />

mit seinem geistigen Lehrer (dem roshi),<br />

"der roshi, der Raum ... in einem blendenden Strom festlichen Lichts plötzlich<br />

verschwanden; ich selbst fühlte mich eingetaucht in köstliches, unaussprechliches<br />

Entzücken ... Während einer flüchtigen Ewigkeit war ich allein - ich<br />

allein ... Dann kam der roshi ins Blickfeld. Unsere Augen trafen sich, und wir<br />

brachen in Gelächter aus. . Ich rief mehr mir selbst <strong>als</strong> dem roshi zu: 'Ich<br />

hab's. Ich weiß es! Dort ist nichts, absolut gar nichts. Ich bin alles, und alles<br />

ist nichts." 140<br />

137 Ebenda, S. 120.<br />

138 Arthur Koestler: The Invisible writing. New York 1954, S. 352. Zit. nach Stace 1961, S.<br />

120-121.<br />

139 Vgl. Stace 1961, S. 121.<br />

140 Zit. nach Owens 1978, S. 255.<br />

170


Die Erfahrung der Auflösung des begrenzten Ich-Empfindens stellt auch Martin<br />

Buber dar, der von ähnlichen Erfahrungen berichtet. Aber bei ihm, dem kritischen<br />

Denker, ist der Zweifel deutlich formuliert, ob <strong>die</strong>se Auflösung eine Identifikation<br />

oder Einheit mit dem Ganzen, mit allem bedeuten könne.<br />

"Aus meiner eigenen, mir unvergeßlichen Erfahrung weiß ich gut, daß es<br />

einen Zustand gibt, in dem <strong>die</strong> Fesseln der persönlichen Natur des Lebens<br />

von uns abgefallen zu sein scheinen, und wir eine absolute Einheit erfahren.<br />

Aber dessen - was sich <strong>die</strong> Seele gerne vorstellt, und in der Tat sich<br />

zwangsläufig vorstellen muß (auch meine tat <strong>die</strong>s einst) - bin ich mir nicht<br />

bewußt, daß ich damit zu einer Einheit mit dem Urwesen oder mit Gott<br />

gelangt war. ... Wird das verantwortungsvolle Verstehen ehrlich und nüchtern<br />

dargestellt, so ist <strong>die</strong>se Einheit nichts anderes <strong>als</strong> <strong>die</strong> Einheit meiner Seele,<br />

deren 'Boden' ich erreicht habe, und zwar so sehr ..., daß mein Geist keine<br />

andere Wahl hat, <strong>als</strong> ihn <strong>als</strong> das Bodenlose zu verstehen. Aber <strong>die</strong><br />

grundsätzliche Einheit meiner eigenen Seele ist sicherlich jenseits der Vielfalt<br />

der Dinge, <strong>die</strong> ihr bisher vom Leben zuteil wurde, obwohl <strong>die</strong>se Einheit nicht<br />

im geringsten über <strong>die</strong> Individuation hinausgeht, oder über <strong>die</strong> Vielzahl aller<br />

Seelen der Welt, deren sie eine ist - nur einmal existierend, einzeln, einzig,<br />

nicht reduzierbar, <strong>die</strong>s wesenhaft Eine: eine der menschlichen Seelen und<br />

nicht '<strong>die</strong> Seele des allumfassenden Ganzen." 141<br />

Grundsätzlich scheint auch bei <strong>die</strong>ser Erfahrung <strong>die</strong> Auflösung der "Grenzen der<br />

persönlichen Natur" in das "Bodenlose" oder Unbegrenzte gegeben zu sein, wobei<br />

das Individuum "sicherlich jenseits der Vielfalt der Dinge" steht. Die Erfahrung<br />

beschreibt <strong>als</strong>o das, was hier <strong>als</strong> überbewußtes Selbst bezeichnet wird. 142<br />

Das Zitat ist auch bemerkenswert, weil es sich hier um einen mit Wissenschaft<br />

vertrauten und kritischen Beobachter unserer eigenen Zeit handelt, der <strong>die</strong><br />

Probleme der Introspektion, und <strong>die</strong> Vielfalt möglicher skeptischer Einwände kennt.<br />

Und doch gibt er im Kern eine Beschreibung seiner Erfahrung, wie sie von Mystikern<br />

zu allen Zeiten gegeben worden ist.<br />

Wenn <strong>die</strong>s nun das Selbst ist und <strong>als</strong> solches erfahren werden kann, ebenso wie<br />

jenes fließende Phänomen, das wir unser Ich nennen, dann ist <strong>die</strong> Suche nach dem<br />

Selbst in den sozialen Bedingungen (wie in Kap. 3 und Kap. 5.3.2 dargestellt) eine<br />

Suche an der Oberfläche. Die offenbare Gefährdung jenes Oberflächen-Selbst<br />

(Kap. 3.4) ist hier ohne weitere Bedeutung. Praktisch hilft uns das allerdings nichts,<br />

141 Martin Buber. Between Man and Man, London 1947, S. 24-25; zit. nach Stace 1961, S.<br />

155. (Die deutsche Fassung des Buches von Buber enthält <strong>die</strong>se Stelle nicht.)<br />

142 Vgl. auch <strong>die</strong> Diskussion <strong>die</strong>ser Stelle bei Stace 1961, S. 156-160.<br />

171


solange wir uns nur <strong>als</strong> das kennen, was hier <strong>als</strong> Oberflächen-Ich bezeichnet wird<br />

und solange <strong>die</strong>se tiefere Erfahrung so kurzzeitig und vorübergehend ist. Wenn das<br />

so ist, stellt sich <strong>die</strong> Frage, wie Erfahrungen und Einflüsse des Überbewußten<br />

Denken und Handeln leiten können. Was uns <strong>als</strong> Gefühle, Gedanken usw. bewußt<br />

wird, ist zunächst einmal das Ergebnis von Einflüssen oder Prozessen, <strong>die</strong> uns<br />

verborgen sind. 143 Es ist <strong>als</strong>o nicht so ganz unwahrscheinlich, daß wir Einflüssen<br />

des Überbewußten (wenn es eine Realität ist) ausgesetzt sind, <strong>die</strong> uns in<br />

irgendeiner Weise bestimmen bzw. mitbestimmen. Wenn wir sie auch an uns selbst<br />

nicht erkennen können, scheinen sie doch bei oder von anderen erkennbar. Indem<br />

wir sie aber untersuchen, bauen wir sozusagen ein Instrument zur indirekten<br />

Beobachtung überbewußter Einflüsse.<br />

Gehen wir mit Popper und Eccles oder Penfield davon aus, daß der (individuelle)<br />

Geist (mind) das Gehirn und <strong>die</strong> in ihm angelegten Strukturen benutzt, um sich zum<br />

Ausdruck zu bringen, Ziele zu verfolgen, z. B. Musik oder Mathematik zu machen. 144<br />

Der Geist kann aber nur machen, wozu sich das individuelle Werkzeug eignet oder<br />

wofür es vorgebildet und vorbereitet ist. Wenn man nun den bloß individuellen Geist<br />

- über Popper u. a. hinausgehend - erweitert und differenziert in <strong>die</strong> uns bekannten<br />

hierarchisch geordneten Bewußtseinsebenen und -zentren, dann könnte auch <strong>die</strong><br />

Benutzung unseres Gehirns durch das überbewußte Selbst (wenn <strong>die</strong>ses ein<br />

verborgener Teil unseres individuellen Überbewußtseins ist, wie hier hypothetisch<br />

angenommen wird) möglich sein, vorausgesetzt, es sind Strukturen ausgebildet<br />

worden, durch <strong>die</strong> es <strong>die</strong>s bewerkstelligen kann.<br />

Wie <strong>die</strong> früher zitierten Beispiele zeigen, kann <strong>die</strong> Bewußtwerdung überbewußter<br />

Realität durchaus unerwünscht und unangenehm sein (wie im Fall von Symonds).<br />

Aber sein Intellekt war differenziert genug, um derartige Erfahrungen verstehen und<br />

sie in sein Weltbild integrieren zu können. Nun gibt es jedoch auch Fälle, bei denen<br />

das Überbewußte sozusagen gewaltsam einbricht und das bestehende Weltbild<br />

stört. Die betroffenen Individuen halten sich für verrückt, weil sie geistige Wesen<br />

wahrnehmen, <strong>die</strong> andere nicht sehen können oder weil sie Stimmen hören, <strong>die</strong> für<br />

andere nicht da sind oder Gedanken sehen und lesen können oder Visionen von<br />

zukünftigen Ereignissen sich ihnen <strong>auf</strong>drängen. Auch C.G. Jung, der selbst - wie er<br />

erzählt - viele derartige Erfahrungen, Visionen und "Umgang" mit inneren Stimmen<br />

und geistigen Wesenheiten hatte, fühlte oft "ausgesprochene Angst. Ich fürchtete,<br />

143 Vgl. hierzu das Kapitel über den Willen (5.4).<br />

144 Popper 1987; Popper/Eccles 1977; Eccles 1970; Penfield 1975.<br />

172


meine Selbstkontrolle zu verlieren .... und was das heißt, war mir <strong>als</strong> Psychiater nur<br />

allzu klar." 145 Die Einwirkungen des Überbewußten können <strong>als</strong>o so stark sein, daß<br />

manche Individuen nicht in der Lage sind, sie zu ertragen. Die von vielen Personen<br />

geschilderte Kurzzeitigkeit und oft sogar Einmaligkeit von Erfahrungen des Überbewußten<br />

oder aber ihre nur allmählich zunehmende Häufigkeit könnte einen wichtigen<br />

Schutzmechanismus darstellen. Nur unter einem solchen Schutz sind vielleicht<br />

<strong>die</strong> Entwicklung des eigenen Denkens und <strong>die</strong> Formung des Ich möglich.<br />

Da wir vom stetigen Vorhandensein der Einflüsse des Überbewußten ausgehen,<br />

bedeutet <strong>die</strong>s, daß sie in der Regel nicht mit solcher Stärke wirken. Sie werden in<br />

unserem Bewußtseinsfeld vielleicht <strong>als</strong> Ideen oder Einfälle bewußt, denen wir eine<br />

rationale Form geben können, <strong>die</strong> im Rahmen unserer Kultur oder Umwelt eine<br />

bestimmte Bedeutung annehmen. Es finden <strong>als</strong>o komplexe Interaktionen zwischen<br />

den verschiedenen Bewußtseinsbereichen statt, wobei das Bewußtseinsfeld des<br />

Individuums das Zentrum <strong>die</strong>ses Wirkens darstellt. Die "Einfälle", <strong>die</strong> wir haben,<br />

betrachten wir mehr oder weniger <strong>als</strong> von uns selbst hervorgebracht - schließlich<br />

kann man nicht behaupten, daß wir daran völlig unbeteiligt wären. Dennoch ist es<br />

so, daß "unsere" Einfälle oder Ideen eben <strong>auf</strong>treten oder wegbleiben. Wenn sie<br />

<strong>auf</strong>treten, formen wir sie so um, daß sie in den Rahmen unserer Vorstellungen<br />

passen. D.h., ebenso wie wir mehr animalische Impulse rationalisieren,<br />

rationalisieren wir auch überbewußte Einflüsse. Man kann sagen, daß sie Kultur,<br />

Religion usw. mit hervorbringen, daß sie aber zugleich auch in <strong>die</strong>se integriert<br />

werden. Auch wenn man <strong>die</strong> Werke von Mystikern wie Mohammed, Augustinus oder<br />

Shankara untersucht, sind darin deutlich <strong>die</strong> Einflüsse von Kultur und Zeit sowie von<br />

individuellen Befähigungen, Vorurteilen und Vorlieben erkennbar. So wie <strong>die</strong><br />

Vernunft uns nicht zu rationalen Wesen gemacht hat, wird auch der Mystiker noch<br />

lange nicht zum Gott. Der Gebrauch der Vernunft im Sinne der Impulse des<br />

Unterbewußten ist offensichtlich; Goethe hat es mit den - Mephisto in den Mund<br />

gelegten - bekannten Versen ausgedrückt: "Er nennts Vernunft und brauchts allein /<br />

Nur tierischer <strong>als</strong> jedes Tier zu sein.“ 146 Warum sollten in hohem Maße autoritative<br />

Erfahrungen des Überbewußten von einem Menschen mit hoher Intelligenz und<br />

ausgeprägtem Machtinstinkt nicht in noch sehr viel wirkunsvollerer Weise für Ziele<br />

eingesetzt werden können, <strong>die</strong> ihren Ursprung eher im Unterbewußtsein haben? Die<br />

manchmal extreme Intoleranz, der verstümmelnde Zwang und <strong>die</strong> Grausamkeit<br />

religiöser Gruppierungen scheinen zumindest in <strong>die</strong>se Richtung zu weisen.<br />

145 Jaffe 1963, S. 182.<br />

146 Goethe, Faust, U. 285 u. 286..<br />

173


Die Möglichkeit gerade solcher unerwünschter Interaktionen war und ist vermutlich<br />

der Grund für <strong>die</strong> Gründung von Klöstern, Geheimgesellschaften oder Eremitenklausen.<br />

Man zieht sich vom Leben so weit <strong>als</strong> möglich zurück, man lebt unsozial,<br />

um sich der Erkenntnis des Überbewußten zu widmen. "Die Lebensläufe der Heiligen",<br />

schreibt James, "sind eine Geschichte sukzessiver Aufgabe von Komplexität,<br />

indem eine Form des Kontaktes mit dem äußeren Leben nach der anderen fallengelassen<br />

wird, um <strong>die</strong> Reinheit des inneren Tons zu erhalten." 147 Er illustriert das mit<br />

einem Zitat von Suso, der von sich selber in der dritten Person spricht:<br />

"Als das innere Leben des Dieners (Suso) seinen ersten Anfang nahm,<br />

reinigte er seine Seele gehörig durch Beichten und markierte dann für sich<br />

selber in Gedanken drei Kreise, in <strong>die</strong> er sich selbst wie in eine geistliche<br />

Verschanzung einschloß. Der erste Kreis war seine Zelle, seine Kapelle und<br />

der Chor. Wenn er in <strong>die</strong>sem Kreis war, fühlte er sich in völliger Sicherheit.<br />

Der zweite Kreis war das ganze Kloster bis hin zum äußeren Tor. Der dritte<br />

und äußerste Kreis war das Tor selber, und hier war es für ihn nötig, wohl <strong>auf</strong><br />

der Hut zu sein. Begab er sich über <strong>die</strong>se Kreise hinaus, schien es ihm, <strong>als</strong><br />

wäre er in der Lage eines wilden Tieres, das sich außerhalb seiner Höhle<br />

befindet, von der Meute umringt ist und daher aller seiner Geschicklichkeit<br />

und Wachsamkeit bedarf." 148<br />

Auch für den heutigen Menschen besteht nach Ansicht C.G. Jungs <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />

einer gewissen Isolierung, falls er den Prozeß der Individuierung anstrebt.<br />

Individuierung meint bei Jung <strong>die</strong> Bewußtwerdung des Unbewußten, das hier in<br />

Unter- und Überbewußtsein differenziert wird - eine Differenzierung, <strong>die</strong> Jung nicht<br />

vollzogen hat. Diese Isolierung wird durch "den Besitz eines Geheimnisses"<br />

bewirkt. 149 Jung führt dazu aus:<br />

"Es ist wichtig, daß wir ein Geheimnis haben und <strong>die</strong> Ahnung von etwas nicht<br />

Wißbarem. Es erfüllt das Leben mit etwas Unpersönlichem, einem Numinosum.<br />

Wer das nie erfahren hat. hat Wichtiges verpaßt. Der Mensch muß<br />

spüren, daß er in einer Welt lebt, <strong>die</strong> in einer gewissen Hinsicht geheimnisvoll<br />

ist, daß in ihr Dinge geschehen und erfahren werden können, <strong>die</strong> unerklärbar<br />

bleiben, und nicht nur solche, <strong>die</strong> sich innerhalb der Erwartung ereignen. Das<br />

Unerwartete und das Unerhörte gehören in <strong>die</strong>se Welt. Nur dann ist das<br />

Leben ganz." 150<br />

147<br />

148<br />

149<br />

150<br />

James 1979, S. 331-332.<br />

The Life of the Blessed Henry Suso, verfaßt von ihm selber, übersetzt von Knox, London<br />

1865, S. 168, zit.nach James 1979, S. 558.<br />

Jaffe 1963, S. 346.<br />

Ebenda, S. 358<br />

174


"Sehr viele Individuen können <strong>die</strong>se Isolierung nicht ertragen." Sie suchen <strong>die</strong> Zustimmung<br />

und Anerkennung ihrer Mitmenschen. Um <strong>die</strong>se zu erhalten, tun sie so,<br />

<strong>als</strong> hätten sie kein "Geheimnis"; sie "heucheln" nicht nur vor anderen (was notwendig<br />

scheint), sondern auch vor sich selbst. 151 Denn nur dadurch, daß sie es auch vor<br />

sich selber verbergen, können sie ungeteilt in der Kollektivität <strong>auf</strong>gehen. Wenn ein<br />

Geheimnis aber <strong>als</strong> psychische Tatsache da ist und wirkt, können sie zu Neurotikern<br />

werden. 152<br />

Aber <strong>die</strong> Konzentration des Blicks <strong>auf</strong> negative oder uns negativ scheinende Folgen<br />

der Einwirkung des und der Öffnung zum Überbewußten erinnert an den <strong>auf</strong> jeder<br />

Stufe der Bewußtseinsentwicklung in veränderter Form wiederkehrenden Mythos<br />

des rächenden Gottes - der Strafe für das Übertreten der jeweiligen Grenzen der<br />

Stufe. Die Strafe <strong>auf</strong> der frühesten uns bekannten Stufe der Bewußtseinsentwicklung<br />

ist <strong>die</strong> Vertreibung aus dem Para<strong>die</strong>s; später <strong>die</strong> Heimatlosigkeit und Unrast für<br />

den, der Heim und Herd (<strong>die</strong> Familie, <strong>die</strong> Gemeinschaft) verläßt, heute besteht sie in<br />

der Auslieferung an <strong>die</strong> verderbenden und irre-machenden Kräfte des Irrationalen,<br />

für den, der über <strong>die</strong> Kreise des Rationalen hinauszugelangen sucht.<br />

Die positiven Einflüsse von Erfahrungen des Überbewußten <strong>auf</strong> Fühlen, Denken<br />

und Handeln davon betroffener Individuen mögen uns positiv nur in subjektiver<br />

Hinsicht scheinen, d.h. für <strong>die</strong>se Personen selbst. Aber <strong>die</strong> erfolgreiche psychiatrische<br />

Tätigkeit Jungs beispielsweise dürfte sehr eng mit seinen Erfahrungen des<br />

Überbewußten (d.h. in Jungs Sinn: des Unbewußten) zusammenhängen oder dar<strong>auf</strong><br />

zurückzuführen sein. Denn erst <strong>die</strong>se Erfahrungen ermöglichten ihm den<br />

Zugang zu und das Verständnis von verborgenen seelischen Problemen. 153 Man<br />

denke weiterhin an <strong>die</strong> aus <strong>die</strong>sen Erfahrungen gespeiste umwälzende Psychologie<br />

Jungs, <strong>die</strong> zu rezipieren <strong>die</strong> Sozialwissenschaften bis heute kaum in der Lage zu<br />

sein scheinen. Eine solche Rezeption könnte jedoch vielfältige Wirkungen haben<br />

und würde vermutlich sehr befruchtend - aber wohl auch verwirrend - wirken.<br />

Weiter wird von verschiedenen Autoren <strong>die</strong> Mystik <strong>als</strong> eine der Quellen der Moral<br />

verstanden. Denn <strong>die</strong> mystische Erfahrung der Einheit erscheint <strong>als</strong> der verborgene<br />

Ursprung der Liebe wie auch der Nächstenliebe, während unser gewöhnliches<br />

objektivierendes Bewußtsein das separate Ich betont und damit Egoismus und <strong>die</strong><br />

151<br />

152<br />

153<br />

Vgl. Jaffe 1963, S. 346.<br />

Ebenda, S. 149, S. 346-347 sowie Jung 1984, S. 60f. und viele andere Stellen in Jungs<br />

Werk.<br />

Vgl. hierzu <strong>die</strong> autobiographischen Ausführungen Jungs bei Jaffe 1963.<br />

175


mit <strong>die</strong>sem einhergehenden individuellen, sozialen und moralischen Probleme<br />

erzeugt. Die mystische Erfahrung zeige dagegen, daß der Egoismus überwunden<br />

werden könne und daß gerade darin das Heil des Menschen liege. Unser Glaube an<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit von Gerechtigkeit und anderen sozialen Idealen sei somit eine der<br />

verborgenen Wirkungen des Überbewußten in unserem eingeschränkten Bewußtseinsfeld.<br />

154 Kants Auffassung, <strong>die</strong> Pflicht sei der Ursprung von Moralität, interpretiert<br />

Stace so, daß das Gefühl der Verpflichtung gegenüber anderen "seinerseits in<br />

gemeiner Liebe und Sympathie wurzelt"; das Pflichtbewußtsein sei daher "eine<br />

indirekte und rationalisierte Form" der ursprünglichen Liebe. 155 D.h., daß der Ursprung<br />

der Moral im Überbewußten liege.<br />

Wenn der bewußte Kontakt mit dem Überbewußten bei manchen Individuen eine<br />

vorhandene Tendenz zum Dogmatismus verstärken kann, ist das Gegenteil,<br />

nämlich <strong>die</strong> Entkräftung und Verunmöglichung jeden Dogmas im Denken der<br />

vermutlich wahrscheinlichere Fall. Denn in der Erfahrung der Einheit oder Ganzheit<br />

sind auch <strong>die</strong> Gegensätze eingeschlossen. Die Schwierigkeit ist, daß wir in unserem<br />

gewöhnlichen Bewußtsein und Denken <strong>die</strong>se Vereinigung der Gegensätze auch im<br />

Nachhinein nicht erzeugen können; das Denken wird dadurch höchstens<br />

unbestimmt oder weniger definitiv. So erstaunt es nicht, wenn Jung feststellt: "In<br />

nichts bin ich ganz sicher. Ich habe keine definitive Überzeugung - eigentlich von<br />

nichts." 156 Tatsächlich kann er aber praktisch nicht anders, <strong>als</strong> prononcierte<br />

Standpunkte zu vertreten. Aber <strong>die</strong>se Standpunkte sind weit und flexibel. Vermutlich<br />

wird durch Erfahrungen des Überbewußten, <strong>die</strong> ja zumindest tendenziell eine eher<br />

ganzheitliche Sichtweise darstellen (<strong>auf</strong> der Ebene des überbewußten Selbst sogar<br />

bis hin zur absoluten Einheit), <strong>die</strong> synthetische (und vielleicht auch analytische)<br />

Kraft des Denkens gesteigert. Dadurch können widersprechende Auffassungen, wie<br />

sie in den meisten Gebieten existieren, leichter in allgemeinere Theorien oder<br />

Vorstellungen integriert werden. Auch dafür bietet das Werk von Jung ein gutes<br />

Beispiel. Die Erfahrung der Einheit des Selbst mag so gesehen vielleicht einen<br />

Hinweis <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Möglichkeit zunehmender Integration aller Bereiche und Ebenen<br />

darstellen.<br />

154<br />

155<br />

156<br />

Vgl. Bergson 1980 und Stace 1961, S. 323f.<br />

Stace 1961, S. 327.<br />

Jaffe 1963, S. 360.<br />

176


6.4 Einheit des Bewußtseins<br />

In der bisherigen Darstellung haben wir das Bild eines pluralistischen Bewußtseins-<br />

Universums entwickelt. Wenn nun aber in der Erfahrung des überbewußten Selbst<br />

das Bewußtsein vor allem <strong>als</strong> eine absolute Einheit erscheint, dann sollte es möglich<br />

«-in, das, was <strong>als</strong> eine pluralistische Vorstellung entwickelt wurde, in eine<br />

monistische Vorstellung zu transformieren. Eine derartige Umformung der<br />

Sichtweise stellt in keiner Weise einen Verstoß gegen <strong>die</strong> Logik oder etwas<br />

Mystisches (im abwertenden Sinne von etwas Dunklem) dar. So betrachtet man<br />

beispielsweise <strong>die</strong> Gesellschaft <strong>als</strong> ein abstraktes Ganzes und spricht zugleich von<br />

den Gruppierungen in ihr. Es sollte daher keine Schwierigkeiten bereiten, <strong>die</strong><br />

Sichtweise zu wechseln.<br />

6.4.1 Bewußtsein <strong>als</strong> Dimension<br />

Bewußtsein können wir verstehen <strong>als</strong> eine Dimension wie Raum oder Zeit, an der<br />

jeder einzelne einen größeren oder geringeren Anteil hat. Das Leben des einzelnen<br />

ist, was durch <strong>die</strong>sen Anteil an individueller Bewußtheit hindurchgeht. Huizinga hat<br />

das so formuliert:<br />

"Ein Menschenleben ist ein Stück Zeit, das durch den Mittelpunkt eines<br />

persönlichen Bewußtseins hindurchgeht. Bei manchen scheint es nur ein<br />

sickerndes Rinnsal; bei anderen ist es, <strong>als</strong> ob Strahlenbündel und Schwingungen<br />

von überall her, aus unendlichen Fernen, in <strong>die</strong>sem Mittelpunkt einander<br />

begegneten und sich kreuzten." 157<br />

Wenn man das Bewußtsein <strong>als</strong> weitere Dimension dem Raum hinzufügt (unter<br />

Vernachlässigung der Zeit, aber dar<strong>auf</strong> wird weiter unten zurückzukommen sein),<br />

dann erhalten wir eine Art Bewußtseins-Raum. Dieser Bewußtseinsraum müßte<br />

unseren Raum durchdringen (so daß wir Anteil an <strong>die</strong>ser Dimension haben können)<br />

und zugleich über unseren Raum hinausgehen. Ich will im folgenden versuchen,<br />

<strong>die</strong>s anhand einer Analogie zu verdeutlichen.<br />

Stellen wir uns eine Welt vor, <strong>die</strong> aus einer (zweidimensionalen) Ebene besteht, mit<br />

Lebewesen, <strong>die</strong> ebenfalls nur zwei Dimensionen besitzen, Länge und Breite, d.h. sie<br />

hätten <strong>die</strong> Form geometrischer Figuren. Sie könnten sich nur in oder <strong>auf</strong> ihrer Ebene<br />

157<br />

Johan Huizinga, Leven en werk van Jan Veth. Verzamelde Werken Bd. VI, S. 479;<br />

zit.nach der Einleitung von K. Köster zu Huizinga 1954, S. IX.<br />

177


ewegen, da sie ja, wenn sie sich in <strong>die</strong> Höhe erheben könnten, drei Dimensionen<br />

wahrnehmen würden. 158 Gelänge es einem <strong>die</strong>ser Lebewesen, sich in den Raum zu<br />

erheben, würde es für <strong>die</strong> anderen einfach verschwinden, niemand wüßte wohin, da<br />

jene dritte Dimension für sie ja nicht existierte.<br />

Wenn wir annehmen, daß sie ihre Augen an den Kanten hätten, d. h. an ihrer<br />

äußeren Linie, dann würden sie nur ihre Ebene sehen und sich gegenseitig nicht <strong>als</strong><br />

geometrische Formen, sondern nur <strong>als</strong> Linien wahrnehmen, obgleich sie <strong>auf</strong>grund<br />

taktiler Eindrücke vermutlich <strong>auf</strong> verschiedene Formen schließen könnten. Eine<br />

eckige Form z. B. würde andere taktile Eindrücke hervorrufen <strong>als</strong> ein Kreis. 159<br />

Wenn ein Lebewesen aus dem dreidimensionalen Raum in <strong>die</strong> Welt<br />

zweidimensionaler Wesen käme, würden <strong>die</strong>se es ganz natürlich <strong>als</strong> ein<br />

zweidimensionales wahrnehmen. Eine Kugel oder ein Würfel würde <strong>als</strong> Kreis oder<br />

<strong>als</strong> Quadrat erscheinen. Es wäre absolut nichts Ungewöhnliches oder<br />

Übernatürliches für sie an ihnen zu entdecken, solange sie unempfänglich für <strong>die</strong><br />

vage Idee einer dritten Dimension wären. So kann etwa das Quadrat in Abbots<br />

"Flächenland" partout nicht verstehen, woher sein fremder Besucher, eine Kugel,<br />

kommt: Es fragt <strong>die</strong> Kugel, <strong>die</strong> ihm <strong>als</strong> ein Kreis erscheint und <strong>als</strong> solcher eben ganz<br />

einfach und natürlich da ist, woher sie bzw. er komme:<br />

"Der Fremde: Aus dem Raum, aus dem Raum, mein Herr - woher sonst?!<br />

Ich: Verzeiht, gnädiger Herr, aber befindet Ihr Euch nicht bereits im Raum -<br />

sind der Herr und sein untertäniger Diener nicht eben jetzt, im Moment, im<br />

Raum?<br />

Der Fremde: Bah! Was wißt Ihr vom Raum? Definiert den Raum.<br />

Ich: Der Raum, gnädiger Herr, ist Höhe und Breite, unendlich verlängert.<br />

Der Fremde: Genau. Da seht Ihr, daß Ihr nicht einmal wißt, was der Raum ist.<br />

Ihr denkt ihn Euch <strong>als</strong> nur aus zwei Dimensionen bestehend, aber ich<br />

komme, um Euch anzukündigen, daß es eine dritte gibt: Höhe, Breite und<br />

Länge.<br />

Ich: Der gnädige Herr scherzen. Auch wir reden von Länge und Höhe, von<br />

Breite und Dicke, und benennen so zwei Dimensionen mit vier Bezeichnungen.<br />

158<br />

159<br />

Vgl. hierzu und zum folgenden Ouspensky 1984, S. 83f. Es gibt einen schönen Roman<br />

von Abbot, 1982 (1884) über jene zweidimensionalen Lebewesen, ihre Schwierigkeiten,<br />

sich einen dreidimensionalen Raum vorzustellen und ihre Kommunikation mit Lebewesen<br />

aus jener dreidimensionalen Welt.<br />

All <strong>die</strong>s ist sehr anschaulich in dem Roman von Abbot, 1982, ausgeführt. Vgl. auch<br />

v.B.Rucker 1977, S. 3f.<br />

178


Der Fremde: Ich meine aber nicht nur drei Namen, sondern drei Dimensionen.<br />

Ich: Der gnädige Herr meint offensichtlich nördlich und südlich.<br />

Der Fremde: Keinesfalls meine ich das. Ich meine eine Richtung, in <strong>die</strong> Ihr<br />

nicht sehen könnt, ... um in den Raum sehen zu können, bräuchtet Ihr ein<br />

Auge nicht an Eurem Umfang, sondern an Eurer Seite - das heißt, an dem,<br />

was Ihr wahrscheinlich Eure Innenseite nennt; aber wir in Raumland<br />

würden's Eure Seite heißen.<br />

Ich: Ein Auge in meinem Inneren! Ein Auge in meinem Magen! ...<br />

Der Fremde: ... Ich sage Euch, ich komme aus dem Raum (oder, da Ihr nicht<br />

begreifen wollt, was Raum bedeutet, aus dem Land der Drei<br />

Dimensionen), von wo ich erst vor kurzem <strong>auf</strong> Eure Fläche hinabgeblickt<br />

habe, <strong>die</strong> Ihr - zum Lachen! - Raum nennt. Aus <strong>die</strong>ser vorteilhaften<br />

Position heraus habe ich alles gesehen, was Ihr 'fest' nennt (womit Ihr '<strong>auf</strong><br />

vier Seiten abgeschlossen' meint), Eure Häuser, Eure Kirchen, Eure<br />

geheuren Kisten und Kasten, ja Euer eigenes Inneres, Eure Mägen - alles<br />

lag offen vor meinem Blick.<br />

Ich: Solche Behauptungen, gnädiger Herr, sind leicht <strong>auf</strong>gestellt." 160<br />

Der Fremde unternimmt nun alle möglichen Versuche, um das Quadrat von seinem<br />

höheren Sein zu überzeugen. Aber das Quadrat sieht nichts wirklich Ungewöhnliches,<br />

alles, was es sieht, ist zweidimensional, so wie es das eben gewohnt ist, wie<br />

sein Aufnahmeapparat (Weltbildapparat) es ihm vermittelt. Doch unser Quadrat aus<br />

Flächenland ist ein außergewöhnlich neugieriges Individuum und ein Philosoph<br />

dazu. Es läßt sich schließlich - zur Erklärung allerlei ungewöhnlicher Phänomene,<br />

<strong>die</strong> dreidimensionale Körper in Flächenland hervorrufen wie das immer Kleinerwerden<br />

des Umfangs eines Kreises und sein plötzliches Verschwinden, d.h. <strong>als</strong>o<br />

eigentlich einer Kugel, <strong>die</strong> sich aus Flächenland "erhebt" - überzeugen, bzw. überzeugt<br />

sich selbst von der Möglichkeit dreier Dimensionen. Es reist schließlich in jene<br />

anderen Welten, aber bei seiner Rückkehr wird es <strong>auf</strong>grund seiner Berichte <strong>als</strong><br />

Ketzer und Irrsinniger ins Gefängnis gesperrt.<br />

Falls aber <strong>die</strong> Flächenwesen nun häufiger Besuch aus der dritten Dimension<br />

bekämen, würden zumindest auch einige der unverständlichen Argumente und <strong>die</strong><br />

etwas rätselhaften Erscheinungen des plötzlichen Auftauchens und Verschwindens<br />

(vorausgesetzt, es wird nicht zur Gewohnheit) jener Wesen aus dem anderen Raum<br />

differenzierter zu erklären suchen. Sie würden dann vielleicht <strong>die</strong> Vorstellung einer<br />

weiteren Ebene einführen, eine Ebene jenseits oder parallel zu der ihren. Das<br />

160<br />

Abbot 1982, S. 162-165.<br />

179


Universum kann ihnen insgesamt ja nur <strong>als</strong> Ebene erscheinen. Alles, was sie in<br />

ihrer Ebene nicht verstehen können, werden sie in jener parallelen Ebene<br />

unterbringen, <strong>die</strong> sie vielleicht <strong>als</strong> "übernatürlich" bezeichnen und <strong>die</strong> sie sich <strong>als</strong><br />

von der eigenen Ebene getrennt vorstellen würden, getrennt durch eine "leere<br />

Ebene". Durch das weitere Studium jener unerklärlichen Phänomene könnte ein<br />

Flächenwesen eines Tages <strong>die</strong> Idee einer "dritten Dimension" entwickeln. Es könnte<br />

etwa so argumentieren: "Obwohl wir uns gegenseitig nur <strong>als</strong> Linie wahrnehmen, so<br />

<strong>als</strong> hätten wir nur eine Dimension, ist es uns doch möglich, unser wahres Wesen<br />

(d.h. <strong>die</strong> geometrischen Formen wie Dreiecke, Vierecke usw.) zu erkennen. Diese<br />

Erkenntnis ist aber nur möglich, weil wir uns überhaupt sehen. Wenn ich mir ein<br />

ideales zweidimensionales Wesen vorstelle, dann sehe ich ja nichts, denn eine<br />

ideale Linie ist unsichtbar. Aber das Sehen der Linie und ihrer Bewegung bedeutet,<br />

daß etwas da ist, das irgendwie mehr ist. Das könnte bedeuten, daß ein wirkliches<br />

und nicht bloß vorgestelltes (Flächen-) Individuum über so etwas wie Höhe oder<br />

Dicke, d. h. über eine dritte Dimension, und sei sie noch so klein, verfügt." 161 Es<br />

könnte vielleicht auch noch verstehen, daß es, wenn es ihm nur möglich wäre, sich<br />

in <strong>die</strong>se Dimension zu erheben, <strong>die</strong>s ihm erlauben würde, in das Innere anderer<br />

Flächenwesen unmittelbaren Einblick zu erhalten, was normalerweise nur durch<br />

Aufschneiden der Linie möglich ist.<br />

Mit uns selbst könnte es sich ähnlich verhalten. Nachdem man versuchte, das<br />

Unerklärbare im Rahmen unserer drei Dimensionen (wenn wir <strong>die</strong> Zeit einmal außer<br />

Betracht lassen) zu verstehen, führen auch wir zusätzliche Welten ein, <strong>die</strong> parallel<br />

zu unserer physischen Welt bestehen und deren Interaktionen mit unserer Welt jene<br />

Phänomene verstehbar machen sollen. Man denke etwa an den griechischen<br />

Götterhimmel oder <strong>die</strong> Ideen Platons. 162 Aber auch <strong>die</strong> verschiedenen Vorstellungen<br />

eines transzendenten, über-menschlichen Wesens (in der Regel <strong>als</strong> "Gott"<br />

bezeichnet), das in allmächtiger Weise <strong>die</strong>se Welt hervorgebracht hat und weiterhin<br />

in ihr Geschehen eingreift oder eingreifen kann, muß wohl hierzu gerechnet werden.<br />

Später, in der Zeit der Aufklärung und mit dem Aufkommen des Materialismus,<br />

versucht man, Bewußtsein physiologisch zu verstehen und nicht nur Bewußtsein,<br />

sondern alles wird <strong>auf</strong> materielle Ursachen zurückzuführen versucht. 163 Auch <strong>die</strong><br />

Welt des Geistes, der Ideen - <strong>als</strong>o <strong>die</strong> nicht-materielle Welt wird dann <strong>als</strong> von uns<br />

161<br />

162<br />

163<br />

Vgl. hierzu auch Ouspensky 1984, S. 85-88.<br />

Vgl. hierzu Kranz 1950, S. 145.<br />

Zum Materialismus und zur Kritik des Materialismus vgl. z.B. Popper/Eccles 1977, S. 3f.<br />

180


hervorgebracht und <strong>als</strong> unser Erzeugnis betrachtet. 164 Andere dagegen gehen über<br />

<strong>die</strong>se Annahmen hinaus, weil sie für sie nicht hinreichend scheinen. 165<br />

Wenn wir das unerklärbar Scheinende (etwa - vgl. Kap. 6.1 - <strong>die</strong> Frage der evolutionären<br />

Kreativität oder das Problem des Bewußtseins) <strong>als</strong> Wirkung einer vierten<br />

Dimension verstehen, dann müssen wir - jedenfalls in Analogie zu unserem Beispiel<br />

- weiter folgern, daß wir selbst Anteil an <strong>die</strong>ser Dimension haben, da wir <strong>als</strong> bloß<br />

dreidimensionale Wesen nicht sein könnten, was wir sind. Denken wir nur an jene<br />

Kraft, <strong>die</strong> unsere Identität erhält, obgleich unser Körper sich dauernd verändert. Ein<br />

Zwanzigjähriger hat, wenn er fünfzig geworden ist, einen völlig anderen Körper, der<br />

aus anderen Zellen besteht. Oder man denke an <strong>die</strong> Übertragung von Erwartungen<br />

von Versuchsleitern <strong>auf</strong> Ratten 166 oder <strong>die</strong> Wirkungen von Gebeten 167 oder von<br />

pessimistischen bzw. optimistischen Einstellungen. 168 Selbst ein Stein läßt sich nicht<br />

durch drei Dimensionen verstehen. Was uns <strong>als</strong> feste Materie erscheint, ist ja (so<br />

versichern uns <strong>die</strong> Physiker) nichts <strong>als</strong> eine beständige energetische Bewegung von<br />

Teilchen, <strong>die</strong> aber eigentlich gar keine wirklichen Teilchen sind, d. h. ein Stein ist so<br />

etwas wie eine dynamische Struktur. Man kann sich das so vorstellen: ein<br />

Speichenrad, das sich nur langsam dreht, läßt <strong>die</strong> Zwischenräume zwischen seinen<br />

Speichen erkennen, und wir könnten mit einigem Geschick einen Stock<br />

dazwischenschieben. Dreht sich das Rad nun mit sehr großer Geschwindigkeit (<strong>die</strong><br />

Quanten bewegen sich etwa mit Lichtgeschwindigkeit), dann würden wir eine feste<br />

Scheibe sehen, und es wäre unmöglich, etwas zwischen <strong>die</strong> immer noch<br />

vorhandenen Speichen zu schieben. Nun sind aber <strong>die</strong> dynamischen Strukturen,<br />

aus denen ein Stein <strong>auf</strong>gebaut ist, nicht an eine Nabe gebunden. Diese Strukturen<br />

müssen jedoch irgendwie <strong>auf</strong>rechterhalten werden. Sheldrake erklärt <strong>die</strong>se Dauerhaftigkeit<br />

materieller Formen, d.h. <strong>als</strong>o <strong>die</strong> "ständig neu vollzogene Aktualisierung<br />

des Systems" (<strong>die</strong> wir in der Regel einfach <strong>als</strong> eine dreidimensionale Gegebenheit<br />

hinnehmen), durch den Einfluß morphogenetischer Felder, <strong>die</strong> von Raum und Zeit<br />

unabhängig sind. 169<br />

164<br />

165<br />

166<br />

167<br />

168<br />

169<br />

Vgl. etwa Poppers "Drei-Welten-Theorie": Popper 1973, S. 123f. und Popper/Eccles<br />

1977 (in letzterem Werk finden sich auch Hinweise <strong>auf</strong> weitere Literatur).<br />

Vgl. etwa Hoyle/Wickramasinghe 1983 oder Bergson 1912, 1928; Ouspensky 1980,<br />

1984; James 1979, Sheldrake 1983; Jaffe 1963.<br />

Vgl. <strong>die</strong> Experimente von Rosenthal und Fode 1963.<br />

Vgl. James 1979, S. 429f.<br />

Vgl. den Überblick über "self-fulfilling prophecy" bei Rosenthal/Jacobsen 1974, S. 13f.<br />

Vgl. Sheldrake 1983, S. 110.<br />

181


Wie <strong>die</strong> Flächenwesen sehen wir <strong>die</strong> Dinge nur von außen, das Innere (was wir<br />

eben <strong>als</strong> Innen verstehen) müssen wir erschließen. Wir sehen nie einen Körper,<br />

sondern das Äußere des Körpers und selbst von <strong>die</strong>sem Äußeren nur das, was<br />

unseren Augen zugewendet ist. Aus einer höheren Dimension müßte es, wenn <strong>die</strong><br />

Analogie zutreffend ist, möglich sein, all <strong>die</strong>s <strong>auf</strong> einmal zu sehen, so wie es dem<br />

Flächenwesen möglich wäre, aus der dritten Dimension sein Inneres zu sehen.<br />

In Gedanken können wir uns mühelos in ferne Zeiten und Räume begeben. Also<br />

scheint Denken etwas zu sein, das Zeit und Raum überschreitet. Wenn wir einen<br />

Roman lesen oder einen Film sehen, können wir von dem Geschehen so sehr<br />

absorbiert werden, daß wir sehen, was <strong>die</strong> Personen des Romans oder Films<br />

sehen; fühlen, was sie fühlen; d.h. wir können uns, wie unvollkommen vielleicht<br />

auch immer, in andere Menschen begeben, in sie hineinsehen, ja fast sie selber<br />

sein. Wir können <strong>als</strong>o in gewisser Weise sagen, daß wir teilhaben an einer<br />

Dimension, <strong>die</strong> uns über Raum und Zeit hinaushebt. So wurde (in Kap. 6.2) bereits<br />

dargestellt, daß wir im Unterbewußtsein immer noch mit den Reaktionsweisen<br />

früherer Generationen verbunden sind. Wir, oder zumindest einige von uns, können<br />

aber ebenso teilhaben an überbewußten Einsichten.<br />

Wenn wir Bewußtsein <strong>als</strong> vierte bzw. fünfte (einschließlich der Zeit) Dimension<br />

verstehen, dann können wir seine Einheit vielleicht durch Analogie erschließen. Eine<br />

(zwei-dimensionale) Fläche ist begrenzt von (ein-dimensionalen)Linien. Sie wird<br />

geteilt durch eine Linie, und man kann sie <strong>als</strong> eine unendliche Aneinanderreihung<br />

von Linien verstehen. Ein Würfel ist begrenzt von Flächen; der Querschnitt eines<br />

Würfels ist eine Fläche; ein Würfel kann verstanden werden <strong>als</strong> eine unendliche<br />

Aneinanderreihung von Flächen, d. h. der Würfel kann unendlich viele Flächen<br />

enthalten. In ähnlicher Weise könnte der drei-dimensionale Raum der Querschnitt<br />

eines vier-dimensionalen Raumes sein, und der vier-dimensionale Raum könnte aus<br />

einer unendlichen Folge von drei-dimensionalen Räumen bestehen. D. h. <strong>als</strong>o, <strong>die</strong><br />

vierte Dimension könnte alle niedrigeren Dimensionen in sich enthalten und sie<br />

gleichzeitig transzen<strong>die</strong>ren. 170 Weiterhin können höherdimensionale Dinge in<br />

"Räumen" niedrigerer Dimension sehr verschiedene Phänomene hervorbringen.<br />

Denken wir an <strong>die</strong> Kugel in Flächenland: wenn sie sich hob oder senkte, konnte sie<br />

den Kreis, den sie in Flächenland darstellte, bis <strong>auf</strong> einen Punkt verkleinern oder<br />

den Durchmesser vergrößern. Eine Katze in Flächenland würde vier unregelmäßige<br />

Kreise darstellen, wenn sie nur bis zu den Beinen darin steckte. Diese Form würde<br />

170<br />

Vgl. Ouspensky 1980, S. 33.<br />

182


sich völlig verändern, wenn sie bis zum Körper eintauchte, und wieder, wenn nur<br />

noch der H<strong>als</strong> oder Kopf darin steckte usw. Obwohl alle <strong>die</strong>se Erscheinungen in<br />

Flächenland sehr verschiedene Dinge wären, würden sie doch von einem einzigen<br />

drei-dimensionalen Körper hervorgebracht.<br />

In analoger Weise könnte ein vier-dimensionaler Bewußtseins-Raum <strong>die</strong><br />

dreidimensionale Welt in sich enthalten und sie überschreiten. Die Phänomene<br />

<strong>die</strong>ses Bewußtseins-Raums könnten in der drei-dimensionalen Welt unendlich viele<br />

Erscheinungen hervorbringen, <strong>die</strong> wir alle <strong>als</strong> verschieden begreifen würden und <strong>die</strong><br />

doch allesamt in der Einheit jener vierten Dimension ihren gemeinsamen Grund<br />

haben würden. 171<br />

Nun könnten <strong>die</strong>se Ausführungen etwas verwirrend sein, da <strong>die</strong> vierte Dimension<br />

doch seit der Jahrhundertwende, besonders seit Einsteins Relativitätstheorie, <strong>als</strong> <strong>die</strong><br />

Zeit gilt. Aber es scheint, daß <strong>die</strong> Vorstellung der Physiker von der Raum-Zeit viel<br />

von einem absoluten Bewußtsein oder Bewußtseins-Raum an sich hat, denn wie<br />

Hermann Minkowski ausführte, ist in ihr (der Raum-Zeit)<br />

"alles gegeben: <strong>die</strong> Vergangenheit und Zukunft existieren nicht für sie; sie ist<br />

<strong>die</strong> ewige Gegenwart; sie hat keine Grenzen, weder räumliche noch zeitliche.<br />

Wandlungen gehen in den Individuen vor und entsprechen ihren Ortsveränderungen<br />

<strong>auf</strong> den Weltwegen in einer vierdimensionalen ewigen und grenzenlosen<br />

Mannigfaltigkeit." 172<br />

Wenn alles gegeben ist, bedeutet das aber doch, daß alles, was in der Zeit<br />

geschieht, nicht vorbei ist. Für unser zeitlich begrenztes Bewußtsein ist es vorbei,<br />

aber in der vier-dimensionalen Raum-Zeit, wie auch im absoluten Bewußtsein, das<br />

weder räumlich noch zeitlich begrenzt ist, existiert alles gleichzeitig. Zukünftige<br />

Ereignisse sind darin ebenso enthalten (vgl. das Zitat von Minkowski) wie unsere<br />

Gegenwart. 173<br />

Der Mathematiker v.B. Rucker glaubt, aus solchen Spekulationen<br />

eine Lehre ziehen zu können, <strong>die</strong> an Ratschläge von Mystikern erinnert. Er hält es<br />

für einen Fehler, voraus <strong>auf</strong> gute Zeiten zu hoffen und schlechte zu fürchten. Sie<br />

seien<br />

171<br />

Spekulationen <strong>die</strong>ser Art findet man bei Ouspensky 1980, 1984.<br />

172 Das Zitat hat folgende Fortsetzung: "Diese Begriffe werden im Bereich des philosophischen<br />

Denkens eine beträchtlich größere Revolution hervorrufen <strong>als</strong> jene, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong><br />

Verlagerung der Erde aus dem Zentrum des Universums durch Kopernikus verursacht<br />

wurde." Zit. nach Ouspensky 1980, S. 115 (<strong>die</strong> Quelle des Zitats ist nicht angegeben).<br />

173<br />

Vgl. hierzu auch <strong>die</strong> früher (Kap. 6.1.1) dargestellte Auffassung von Hoyle und<br />

Wickramasinghe 1983.<br />

183


"Teil des vierdimensionalen Wesens, das ein jeder von uns ist. Der beste<br />

Weg nahe dem Ewigen zu sein, ist nahe dem Jetzt zu sein; denn es gibt<br />

keine Zeit außer gerade jetzt. Die Zeit entsteht, wenn wir <strong>die</strong> Welt mit<br />

unserem rationalen Denken zu begreifen suchen." 174<br />

In einer weiteren Analogie können wir das universale Bewußtsein <strong>als</strong> Hologramm<br />

begreifen. Hologramme sind drei-dimensionale Bilder, <strong>die</strong> mittels Lasertechnik<br />

erstellt werden können. Ein Bild wird mit einem Laserstrahl <strong>auf</strong> eine Fotoplatte<br />

kodifiziert. Bei der Durchleuchtung <strong>die</strong>ser Platte entsteht dahinter das plastische<br />

Abbild. Zerschneidet man <strong>die</strong> Platte in kleine Stückchen, so wird bei deren<br />

Durchleuchtung immer wieder das ganze Bild entstehen und nicht nur ein Teil. Die<br />

wesentliche Einbuße besteht in einer Unschärfe, <strong>die</strong> mit immer kleineren Fragmenten<br />

der Platte zunimmt. Im Rahmen <strong>die</strong>ser Analogie würde jedes Teil des<br />

universalen Bewußtseins ein etwas vergröbertes Abbild des Ganzen darstellen, so<br />

daß man sagen könnte, daß jedes Fragment in mehr oder weniger starker<br />

Vergröberung alles wäre. Wenn wir das überbewußte Selbst <strong>als</strong> ein solches<br />

holographisches Fragment verstehen, dann könnte <strong>die</strong>s ein gewisses Verständnis<br />

der Erfahrung der Einheit vermitteln. Während das überbewußte Selbst sich <strong>die</strong>ser<br />

Einheit bewußt ist, ist es das objektivierende Bewußtseinsfeld nicht. Dennoch ist<br />

auch <strong>die</strong>ses ein Teil des Ganzen, aber in so "verdünnter" Weise - sozusagen in<br />

homöopathischer Dosierung -, daß <strong>die</strong>ses Ganze schon völlig nebelhaft und<br />

unkenntlich erscheint. Dennoch finden wir auch hier immer wieder den Gedanken,<br />

daß wir ein Teil des universalen Ganzen seien, wie in folgendem Briefausschnitt von<br />

Albert Einstein:<br />

"Ein menschliches Wesen ist ein Teil jenes Ganzen, das wir 'Universum'<br />

nennen, ein Teil begrenzt in Zeit und Raum. Es erfährt sich selbst, seine<br />

Gedanken und Gefühle <strong>als</strong> etwas vom Rest losgelöstes - eine Art optischer<br />

Täuschung seines Bewußtseins. Diese Täuschung stellt eine Art Gefängnis<br />

für uns dar, es begrenzt uns <strong>auf</strong> unsere persönlichen Wünsche und Gefühle<br />

für <strong>die</strong> wenigen, uns nahestehenden Menschen. Unsere Aufgabe muß es<br />

sein, uns selbst aus <strong>die</strong>sem Gefängnis zu befreien ..." 175<br />

Die Rekonstruktion ursprünglicher Einheit durch das Denken ist jedoch etwas<br />

anderes <strong>als</strong> ihre Erfahrung. Denn das Denken zergliedert <strong>die</strong> Einheit der Erfahrung<br />

in eine Folge verschiedener Standpunkte, <strong>die</strong> nacheinander behandelt werden<br />

müssen, wozu uns ja auch unsere Sprache zwingt. Was wir dann beschreiben, ist<br />

174 v.B. Rucker 1977, S. 117.<br />

175 Zit nach v.B. Rucker 1977, S. 118.<br />

184


keine Erfahrung der Einheit, sondern eine Konstruktion der Einheit. So empfinden<br />

wir keinen Widerspruch, wenn einerseits gesagt wird, Materie habe feste und stabile<br />

Eigenschaften (wir können schließlich damit Stühle und Tische und Autos bauen),<br />

andererseits aber - aus der Sicht der subatomaren Physik -, es gäbe keine stabile,<br />

keine feste Materie (denn, was wir <strong>als</strong> feste Materie sehen, ist Bewegung, Energie<br />

und überhaupt nichts Solides). Die zeitliche Abfolge <strong>die</strong>ser Aussagen ermöglicht uns<br />

einen Wechsel des Interpretationsrahmens. Durch <strong>die</strong>sen Deutungsprozeß wird der<br />

Widerspruch <strong>auf</strong>gehoben. Aber würde es nicht doch verwirrend und widersprüchlich<br />

für uns sein, wenn wir im selben Moment beide Sichtweisen <strong>als</strong> eine Einheit sehen<br />

und erfahren würden und wenn der Eindruck der Untrennbarkeit <strong>die</strong>ser Sichtweise<br />

unabweisbar wäre? 176<br />

6.4.2 Das Streben nach Einheit<br />

Einheit bedeutet <strong>die</strong> Aufhebung von Trennung und kann daher <strong>als</strong> ein Synonym von<br />

Ganzheit <strong>auf</strong>gefaßt werden. Einheit oder Ganzheit ist aber nicht nur ein Ergebnis<br />

mystischer Zustände, sondern ein grundlegendes Ziel menschlichen Daseins, und<br />

wir können es <strong>auf</strong> allen seinen Ebenen wiederfinden. Es ist vielleicht sogar das<br />

"Ziel" der Evolution. 177 So schreibt Jan Smuts, einer der Begründer des modernen<br />

Holismus, bezüglich des individuellen Strebens nach Ganzheit:<br />

"... man kann sagen, daß es kein Ziel über <strong>die</strong> Ganzheit hinaus oder<br />

außerhalb der Ganzheit gibt. Das Ziel der holistischen Bewegung ist einfach<br />

das Ganze, <strong>die</strong> Selbstrealisation und -perfektion des Ganzen. Und das<br />

gleiche gilt für Persönlichkeit insoweit sie eine Ganzheit darstellt. Ihr Ziel ist<br />

es, Selbstverwirklichung zu erreichen, ihre Ganzheit zu verwirklichen; Freiheit<br />

nicht in einem selbstsüchtigen, egoistischen Sinne zu erreichen, sondern in<br />

der universellen holistischen Ordnung. Holistische Selbstverwirklichung ist<br />

zweifellos angenehm für das Individuum, aber das Vergnügen ist ein rein<br />

nebensächlicher Punkt und sozusagen ein Nebenprodukt des Strebens nach<br />

Ganzheit <strong>auf</strong> individueller Ebene und für den individuellen Charakter. Das<br />

gleiche läßt sich in Bezug <strong>auf</strong> all <strong>die</strong> anderen Ziele und Zwecke sagen, <strong>die</strong> wir<br />

im Allgemeinen unserer ernsthaften Bemühungen für würdig erachten. Lerne,<br />

in vollkommener Ehrlichkeit, Integrität und Aufrichtigkeit du selbst zu sein; laß<br />

den universalen Holismus das Höchste in Dir <strong>als</strong> freie Ganzheit der Persönlichkeit<br />

[gemeint ist hier vermutlich das überbewußte Selbst (Anm. H. L. )]<br />

176<br />

177<br />

Vgl. hierzu auch <strong>die</strong> Diskussion bei Staal 1975, S. 60ff.<br />

Vgl. Bresch 1977, der <strong>die</strong> Hypothese <strong>auf</strong>stellt, <strong>die</strong> Evolution l<strong>auf</strong>e <strong>auf</strong> immer stärker<br />

vernetzte, komplexere Musterbildung hinaus. Vgl. auch Smuts 1927.<br />

185


verwirklichen; und alles andere wird Dir gegeben werden - Friede, Freude,<br />

Gesegnetsein, Glück, Güte und all <strong>die</strong> anderen Preise des Lebens. Nein<br />

mehr: <strong>die</strong> größten Übel des Lebens - Schmerz, Leid und Sorgen, werden<br />

schließlich nur dazu <strong>die</strong>nen, den ganzheitlichen Fortschritt der Persönlichkeit<br />

zu beschleunigen, werden in der spirituellen Alchemie der Persönlichkeit<br />

assimiliert und verwandelt werden und <strong>die</strong> Flamme der reinen freien Seele<br />

nähren." 178<br />

Wir finden das Streben nach Einheit auch im Bereich der Nationen und der<br />

internationalen Beziehungen, im Bereich der Gesellschaft und ihrer Funktionen, in<br />

der Wissenschaft und nicht nur bei Individuen. Es wäre vielleicht noch hinzuzufügen,<br />

daß <strong>die</strong>ses Streben sich in der Regel nicht <strong>auf</strong> undifferenzierte Einheit, <strong>auf</strong><br />

einen formlosen Zustand richtet. 179 Der den Freitod Suchende glaubt, im Tod eine<br />

undifferenzierte oder "negative" Einheit zu finden, ein Nichts, in dem es weder<br />

Leiden noch Freuden gibt, sondern alles in der formlosen Einheit des Nicht-Seins<br />

verschwimmt und somit <strong>auf</strong>hebt, was ihn so unerträglich belastet in einer Welt der<br />

Nicht-Einheit, des Streits, der Gegensätze, des Leidens. "Positive" Einheit dagegen<br />

ist zu verstehen <strong>als</strong> eine differenzierte Vielfalt individuellen, abgegrenzten Seins in<br />

einer umfassenderen Einheit, in der das, was gegensätzlich scheint, vereinigt ist.<br />

Ein Beispiel für "positive" Einheit ist in der Wahrnehmung mystischer Erfahrungen<br />

zu finden (vgl. einige der zitierten Beispiele in Kap. 6.3). Was unser gewöhnliches<br />

Leben anbelangt, dürften Formen der Einheit eher durch Kampf und Macht entstehen<br />

und <strong>auf</strong>rechterhalten werden, <strong>als</strong> daß sie sich spontan entwickeln.<br />

Skizzieren wir nun das Streben nach Einheit, wie es sich in verschiedenen<br />

Bereichen zeigt. Auf der Ebene der Nationen und der Beziehungen <strong>die</strong>ser Nationen<br />

untereinander scheint <strong>die</strong>ses Streben offensichtlich. Das Streben der Nationen ist<br />

zunächst <strong>auf</strong> innere Einheit gerichtet 180 , führt dann aber in der Gegensätzlichkeit der<br />

Interessen zur eigenen Gefährdung und so schließlich zu Versuchen, eine übernationale<br />

Einheit, wie schwach zunächst auch immer, zu begründen. 181<br />

Elias drückt das folgendermaßen aus:<br />

Norbert<br />

178<br />

179<br />

180<br />

181<br />

Smuts 1927, S. 324.<br />

Vgl. hierzu James', 1941, Besprechung von Benjamin Paul Blood, den er <strong>als</strong> pluralistischen<br />

Mystiker bezeichnet.<br />

Vgl. H. Kohn 1950.<br />

Vgl. Aurobindo 1973 oder das monumentale Werk von Voegelin 1974-1977, in dem<br />

<strong>die</strong>ser <strong>die</strong> Suche nach politischer Ordnung und Einheit in breiter Perspektive darstellt.<br />

Vgl. auch Blum 1972.<br />

186


"Das Ringen um <strong>die</strong> Vormacht und damit, wissentlich oder nicht, um <strong>die</strong><br />

Bildung von Monopolzentralen über Gebiete einer noch höheren Größenordnung<br />

ist in vollem Gange. Und wenn es auch zunächst noch in erster Linie<br />

um <strong>die</strong> Vormacht über Erdteile geht, so kündigen sich dahinter entsprechend<br />

der immer engeren Verflechtung immer weiterer Gebiete, bereits recht<br />

unzweideutig <strong>die</strong> Vormachtkämpfe in einem Verflechtungssystem an, das <strong>die</strong><br />

ganze bewohnte Erde umfaßt." 182<br />

Einheit ist ein grundlegendes Ziel der Wissenschaft. Die Logik läßt widersprechende<br />

Erklärungen eines Phänomens nicht zu. Scheinen aber (wie im Fall der Interpretation<br />

der Natur des Lichts <strong>als</strong> Welle und <strong>als</strong> Teilchen) einmal verschiedene<br />

Erklärungen gleichermaßen zuzutreffen, versucht man, sie durch übergeordnete<br />

Ideen zu integrieren. In Bezug <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Lerntheorien hat <strong>die</strong>s etwa Gagné getan,<br />

indem er <strong>die</strong> verschiedenen Formen und Erklärungen des Lernens in einer<br />

Hierarchie vereinigte. 183 Überall da, wo eine Zeitlang Relativismus vorherrschte, wie<br />

in der Wissenssoziologie 184 , scheint <strong>die</strong>s nachfolgend zu umso heftigeren Versuchen<br />

zu führen, absolute Ziele wieder zur Geltung zu bringen, um so den<br />

Relativismus zu überwinden 185 :<br />

"Wenn man sich dem Drachen der Relativität erst einmal frontal gestellt hat,<br />

ereignet sich offenbar etwas Sonderbares: Die Frage der Wahrheit behauptet<br />

sich <strong>auf</strong> einmal in fast altertümlicher Schlichtheit, und zwar gerade wenn <strong>die</strong><br />

jeweils anstehenden Relativierungskategorien (der Geschichte, der Wissenssoziologie<br />

usw.) zu Worte gekommen sind. Wir wissen nun, daß alle menschlichen<br />

Überzeugungen sozio-historischen Prozessen ausgesetzt waren und<br />

sind. Aber <strong>die</strong> Frage, welche wahr und welche f<strong>als</strong>ch sind, bleibt übrig und<br />

stellt sich nun erst recht. Jetzt können wir <strong>die</strong>ser Frage nicht mehr ausweichen,<br />

sowenig wie wir zum Stande ihrer vor-relativistischen Unschuld zurückkehren<br />

können. Die verlorene Unschuld des Fragens nach der Wahrheit ist<br />

es, um deren Preis wir den 'Feuer-Bach' hinter uns gebracht haben." 186<br />

Das Streben nach einheitlichen, in sich geschlossenen und möglichst viele Phänomene<br />

erklärenden Theorien finden wir in allen Wissenschaften, am ausgeprägtesten<br />

aber vielleicht in den Naturwissenschaften. So waren Einsteins spätere<br />

Bemühungen vor allem dar<strong>auf</strong> gerichtet, eine vereinheitlichende Theorie zu finden,<br />

<strong>die</strong> nicht mit zwei Gegebenheiten, dem Feld und der Materie, sondern nur noch mit<br />

182<br />

183<br />

184<br />

185<br />

186<br />

Elias 1978, Bd. 2, S. 437.<br />

Vgl. Gagné 1973 (11969). Zur Kritik des daraus abgeleiteten Formalismus der Lernsteuerung<br />

vgl. z.B. Rumpf 1971, S. 255f.<br />

Vgl. Berger 1981.<br />

Vgl. Berger/Luckmann 1980<br />

Berger 1981 (11969), S. 51.<br />

187


einer, dem Feld, zu arbeiten hätte. 187 Und Popper beschreibt das Ziel der<br />

Erfahrungswissenschaft <strong>als</strong> das Finden von "Erklärungen <strong>auf</strong> immer höherer<br />

Universalitätsstufe". Eine letzte Erklärung allerdings hält er nicht für möglich. 188<br />

Einheit ist weiterhin vor allem ein Streben, das in Individuen und in Gruppen von<br />

Individuen vorhanden ist. In Gruppen jeder Art kommt es in der Regel zu Konflikten,<br />

<strong>die</strong> in einer Differenzierung der Interessen, der Vorstellungen usw. entstehen.<br />

Gelingt es nicht, <strong>die</strong> Konflikte zu lösen, bedeutet <strong>die</strong>s oft <strong>die</strong> Auflösung der Gruppe<br />

(oder <strong>die</strong> Anwendung von Zwang), während durch <strong>die</strong> Integration entgegengesetzter<br />

Vorstellungen <strong>die</strong> Gruppe einen stabileren Zusammenhalt herbeiführen kann. 189 In<br />

der Literatur zur Gruppendynamik ist das Streben nach (mehr oder weniger<br />

begrenzter) Einheit <strong>als</strong> Unifikation, <strong>als</strong> "Wir"-Erlebnis, Stereotypbildung usw.<br />

beschrieben und untersucht worden. 190 Man unterscheidet erfolgreiche von nicht<br />

erfolgreichen Gruppen und erfolgreiche von weniger erfolgreichen Methoden oder<br />

Strategien der Führung, der Konfliktlösung, der Kommunikation, was bedeutet, daß<br />

<strong>die</strong>jenigen Gruppen <strong>die</strong> erfolgreicheren, effektiveren sind, <strong>die</strong> eine Form von Einheit<br />

zustandebringen, in der <strong>die</strong> Unterschiedlichkeit der Individuen und der Ziele der<br />

Gruppe mehr oder weniger integriert werden. Und in aller Regel scheint das Mittel<br />

dazu das Gespräch zu sein, das zur Einsicht und damit zur Bewußtheit der<br />

individuellen und Gruppenprozesse führt und somit bewußte und von allen mehr<br />

oder weniger akzeptierte Lösungen ermöglichen soll. 191<br />

Das Streben nach Einheit beim Einzelnen ist offensichtlich, obgleich es selten<br />

bewußt wahrgenommen wird. Die meisten Menschen haben nahezu ständig mit<br />

einander widerstreitenden Tendenzen in sich selber zu kämpfen, mit Zielen und<br />

Wünschen, <strong>die</strong> sich nicht vereinen lassen oder mit Zielen, <strong>die</strong> den Mitteln nicht<br />

angemessen sind, oder mit Vorstellungen, <strong>die</strong> sich widersprechen. Im gegenseitigen<br />

Verkehr ist es oft üblich, <strong>die</strong> abweichenden oder gegensätzlichen Meinungen<br />

anderer <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch zu erklären und <strong>die</strong> eigenen durchzusetzen oder aber sich selber<br />

unterzuordnen. In beiden Fällen wird Einheit erreicht. Es scheint, daß Widersprüche<br />

im Individuum stets eine Reaktion erzeugen, <strong>die</strong> zu ihrer Aufhebung drängt. Wo <strong>die</strong>s<br />

nicht gelingt, ist oft Angst oder Depression <strong>die</strong> Folge. Auch Furcht, Dinge oder<br />

Ereignisse nicht so steuern zu können, daß sie mit den eigenen Wünschen oder<br />

187<br />

188<br />

189<br />

190<br />

191<br />

Vgl. Wickert 1976, S. 100-101.<br />

Popper 1973, S. 216f.<br />

Vgl. hierzu Thelen 1954.<br />

Vgl. zusammenfassend hierzu Bergler/Six 1972, Hofstätter 1957, S. 88f.<br />

Vgl. z.B. Luft 1973, S. 22-26.<br />

188


Zielen vereinbar sind, bedeutet, daß man <strong>die</strong> eigene Einheit bedroht fühlt. Wenn<br />

man nicht genau wissen kann, was mit einem geschehen wird, fühlt man <strong>die</strong> Einheit,<br />

<strong>die</strong> man zu sein glaubt, gefährdet. 192<br />

Die Einheit der Person ist umso bedrohter, je begrenzter sie ist, oder vielmehr, je<br />

begrenzter ihr Bewußtsein ist. Da unser Bewußtsein nur einen schmalen Ausschnitt<br />

zwischen Vergangenheit und Zukunft umfaßt, und aus <strong>die</strong>ser Gegenwart nur einen<br />

Bereich, der wiederum nur unter einseitig begrenzenden Kategorien bewußt ist,<br />

bewegen wir uns mehr oder weniger im Dunkeln und ins Ungewisse. Die Einheit des<br />

Individuums <strong>als</strong> Ich oder Ego scheint daher kaum mehr <strong>als</strong> eine Illusion.<br />

Die meisten unserer Tätigkeiten dürften zur Folge haben, daß wir uns in <strong>die</strong>sem<br />

Tätigsein mit anderen Individuen, mit Dingen, mit Ideen verbinden und dadurch<br />

Gelegenheit haben, das Bewußtsein des Ich ein wenig auszuweiten. Wenn wir uns<br />

<strong>als</strong> Individuen zu unbedeutend empfinden, fühlen wir uns <strong>als</strong> Teil von größeren<br />

Einheiten oder Ganzheiten (das kann z. B. <strong>die</strong> Familie sein, <strong>die</strong> Gruppe, <strong>die</strong> Nation<br />

usw.) eher geborgen oder auch gestärkt. Nach unserer Darstellung gibt es darüber<br />

hinaus aber auch <strong>die</strong> Einheit in der Erfahrung des personalen Selbst (Kap. 5.3.4)<br />

und, stärker noch, in der Erfahrung des überbewußten Selbst (Kap. 6.3.3).<br />

Wenn wir nun Bildung verstehen <strong>als</strong> <strong>die</strong> Befähigung zur Formung einer Einheit,<br />

dann können wir darunter <strong>als</strong> ein Ziel <strong>die</strong> Anpassung an gesellschaftliche oder<br />

kulturelle Verhältnisse verstehen; <strong>als</strong>o <strong>die</strong> Formung der Einheit des sozialen Ich. 193<br />

Ein weitergehendes Ziel könnte nach den hier entwickelten Vorstellungen <strong>die</strong><br />

Formung der Einheit des personalen Selbst sowie des überbewußten Selbst<br />

darstellen. Unser Horizont der Bildungsmöglichkeiten könnte <strong>als</strong>o erheblich erweitert<br />

werden.<br />

192<br />

193<br />

Vgl. Riemann 1982<br />

Vgl. z.B. Fend 19691 Calliess 1968; Kuckartz 1969; Rösel 1972.<br />

189


Teil III: BEWUßTSEINSENTWICKLUNG ALS AUFGABE DER<br />

PÄDAGOGIK<br />

Aufgrund der rationalistischen Weltanschauung verstehen wir <strong>die</strong> Welt und uns <strong>als</strong><br />

Gegebenheiten, deren Existenz <strong>auf</strong> blinden Gesetzmäßigkeiten beruht. Der Mensch<br />

führt Sinn und Ziel in <strong>die</strong>se Welt ein (und sie verschwinden mit ihm wieder). Unsere<br />

Werte, Ziele und Vorstellungen (d. h. Bewußtseinsinhalte) sind danach abhängig<br />

von gesellschaftlichen Umständen und dem kulturellen Wandel. Das trifft auch <strong>auf</strong><br />

den Bereich der Bildung zu. Bildung geht von der Gesellschaft aus; <strong>die</strong> Erziehung<br />

des Individuums <strong>die</strong>nt nur zum Teil ihm selber, vor allem aber den Zielen der Gesellschaft,<br />

in der das Individuum <strong>auf</strong>wächst. Da Bildungsziele in <strong>die</strong>sem Sinn kultur- und<br />

zeitabhängig sind, ist eine große Variationsbreite von Bildungsprogrammen und<br />

entsprechenden <strong>Institution</strong>en möglich.<br />

Bildung selbst bezieht sich wesentlich <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Formung des mittelbaren<br />

Bewußtseins; zum einen <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Vernunft, zum anderen <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Gefühle, <strong>die</strong> Antriebe,<br />

Einstellungen und das Gewissen. Wie könnte aus <strong>die</strong>ser Sicht der Versuch<br />

der Ausweitung von Bildung <strong>auf</strong> das Über- und Unterbewußte für möglich und<br />

sinnvoll erachtet werden?<br />

Christliche und andere monotheistische Weltanschauungen gehen von einem<br />

transzendenten, bewußten Schöpfer aus, der allen Dingen und allem Geschehen in<br />

<strong>die</strong>ser Welt eine Bedeutung und ein Gesetz gibt. Dieses Gesetz kann uns nur durch<br />

Offenbarung vermittelt werden, da es weder in den Dingen noch in uns selbst<br />

enthalten ist. Auf Bildung übertragen bedeutet <strong>die</strong>s, daß deren grundlegende oder<br />

höchste Ziele nicht aus dem, was uns <strong>als</strong> gesellschaftliche Notwendigkeit erscheint,<br />

abgeleitet oder erschlossen werden können. Wesentlich ist aus <strong>die</strong>ser Sicht, daß<br />

der einzelne sich in Glauben und Liebe seinem transzendenten Schöpfer zu und<br />

sich vom Bösen abwendet. Die rationalistische Welt<strong>auf</strong>fassung kann <strong>die</strong> christliche<br />

dadurch integrieren, daß sie <strong>die</strong>se <strong>auf</strong> eine bloß individuelle oder kulturelle<br />

Vorstellung reduziert.<br />

Im Rahmen des hier dargestellten Bewußtseinsmodells ist <strong>die</strong> Welt aber weder eine<br />

bloße Gegebenheit ohne immanenten Sinn, wie für den Rationalismus, noch wird<br />

sie <strong>als</strong> das Erzeugnis eines transzendenten Schöpfers <strong>auf</strong>gefaßt, der allein um den<br />

190


Sinn allen Geschehens weiß, den er seinen Auserwählten offenbart. Es wird<br />

vielmehr <strong>die</strong> Auffassung vertreten, daß im Selbst das Ganze der Realität - <strong>als</strong>o auch<br />

ihr Sinn oder Ziel - enthalten oder vielmehr verborgen sei. Durch Bewußtseinsentwicklung<br />

sollte es daher dem Individuum zumindest prinzipiell möglich sein,<br />

<strong>die</strong>se Ganzheit in sich zu finden. Unter dem Einfluß unter- und überbewußter<br />

Steuerungsebenen oder -felder machen wir ständig Versuchs- und Irrtums-Schritte<br />

<strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Ganzheit zu. Form und Struktur gesellschaftlicher <strong>Institution</strong>en und<br />

Religionen sind danach <strong>als</strong> Ergebnis solcher Versuchs- und Irrtums-Schritte <strong>auf</strong>zufassen.<br />

Entwicklung so gesehen von Individuen abhängig. Die Individuen erhalten<br />

Orientierung durch das in <strong>Institution</strong>en und Traditionen gespeicherte Wissen,<br />

werden dadurch aber auch begrenzt. Über <strong>die</strong>se Begrenzungen hinauszustreben,<br />

bedeutet einerseits Unsicherheit, weil man das Unbekannte, Neue sucht, andererseits<br />

können Schritte zur Ganzheit aber nur <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Weise getan werden.<br />

Bewußtseinsentwicklung <strong>als</strong> Aufgabe der Pädagogik bedeutet daher, Möglichkeiten<br />

weiterreichender Selbsterkenntnis zu suchen, ohne <strong>die</strong> Orientierung im Bestehenden<br />

zu vernachlässigen oder zu entwerten. Im folgenden sollen einige der sich aus<br />

dem dargestellten Bewußtseinsmodell folgenden bzw. der damit zu vereinbarenden<br />

Möglichkeiten pädagogischer Praxis erkundet werden.<br />

191


7. ENTWICKLUNG DER BEWUSSTSEINSZENTREN<br />

In Teil II wurde dargestellt, daß <strong>die</strong> Annahme <strong>auf</strong>steigender Bewußtseinsinstanzen<br />

sinnvoll erscheint. Da sie mit einer zunehmenden Weite des Bewußtseins verknüpft<br />

sind, ist es nicht unwahrscheinlich, daß <strong>die</strong> Entwicklung der höheren, d.h. umfassenderen<br />

Bewußtseinszentren, zunächst eine gewisse Entwicklung der niederen<br />

voraussetzt. Da das Ich-Bewußtsein eine grundlegende Gegebenheit des Individuums<br />

ausmacht, scheint es in der Logik der Bewusstseins-Entwicklung zu liegen, mit<br />

der Bildung oder Formung des Ich zu beginnen.<br />

7.1 Bildung des Ich: Persönlichkeitsstärkung<br />

Das Ich, so führten wir (in Kap. 5.3.1 - 5.3.3) aus, ist eine fließende Einheit, <strong>die</strong> von<br />

ihren jeweiligen Identifikationen mit den im Bewußtseinsfeld erscheinenden Gedanken,<br />

Gefühlen, Wahrnehmungen abhängig ist. Individuen reagieren oft impulsiv<br />

<strong>auf</strong> Worte, Gesten, Bilder usw., d. h. ihre Reaktionen erfolgen meist <strong>auf</strong>grund eines<br />

nicht bewußten Hintergrundes. Ist <strong>die</strong>ser Hintergrund aber dem Bewußtsein<br />

zugänglich, d.h. verfügt das Individuum über ein in hohem Grad differenziertes und<br />

integriertes mittelbares Bewußtsein (vgl. Kap. 5.2), dann ist es auch möglich, <strong>die</strong><br />

Eindrücke von außen in das individuelle Bewußtsein zu integrieren. Das bedeutet,<br />

daß durch <strong>die</strong>se Integration das Ich bereichert und gestärkt wird.<br />

Im Unterschied dazu bedeuten impulsive Reaktionen, daß unterbewußte Automatismen<br />

ausgelöst werden, <strong>die</strong> abl<strong>auf</strong>en, ohne eine (mittelbar) bewußte Struktur zu<br />

erzeugen; das Ich wird in <strong>die</strong>sem Fall nicht strukturiert, es sei denn, daß es zu einer<br />

Kette von Reaktionen und Gegenreaktionen kommt, <strong>die</strong> vielleicht doch <strong>die</strong><br />

Herstellung einer gewissen bewußten Ordnung bewirken. Wenn es <strong>als</strong>o um <strong>die</strong><br />

Bildung des Ich geht, scheint damit im wesentlichen <strong>die</strong> Gestaltung jenes<br />

Hintergrundes gemeint zu sein, der hier <strong>als</strong> das mittelbare Bewußtsein bezeichnet<br />

wird (Kap. 5.2). Das ist es auch, was in den Bildungsinstitutionen mehr oder weniger<br />

erfolgreich versucht wird. Bildung des Ich bedeutet <strong>die</strong> Formung eines Teils der<br />

individuellen Bewusstseinsstruktur. Aber <strong>die</strong> Formung eines Teils verändert auch<br />

das Ganze. Dieses Ganze, d.h. <strong>die</strong> individuelle Bewußtseinsstruktur einschließlich<br />

ihres individuellen Ausdrucks wird <strong>als</strong> Persönlichkeit bezeichnet. Die Stärkung oder<br />

Stabilisierung des Ich <strong>als</strong> eines Teils der Persönlichkeit, dürfte - sofern <strong>die</strong>s nicht mit<br />

192


der Unterdrückung anderer Teile der Persönlichkeit verbunden ist - auch <strong>die</strong> Stärkung<br />

letzterer bedeuten. Es scheint darüber hinaus sinnvoll, nicht in begrenzender<br />

Weise von Ich-Stärkung, sondern Persönlichkeitsstärkung zu sprechen, da <strong>die</strong><br />

Möglichkeit der Entwicklung des Ich - nach den Ausführungen in Teil II -<strong>auf</strong> einem<br />

verborgenen Wirken des Selbst (<strong>als</strong>o einem nicht zum Ich, aber zur Persönlichkeit<br />

gehörenden Teil der individuellen Bewußtseinsstruktur) beruht.<br />

7.1.1 Selbst und Persönlichkeit<br />

Die Frage ist, wie das Ich, das aus Identifikationen mit Bewußtseinsinhalten besteht<br />

und durch <strong>die</strong>se gesteuert wird, sich entwickeln kann. Das ist im Rahmen unseres<br />

Bewußtseinskonzepts nur möglich, weil <strong>die</strong>ses Ich eine sozusagen stellvertretende<br />

Funktion des Selbst ausübt. 1 Es ist immer etwas hinter oder über jenem Ich der<br />

Identifikationen, das <strong>die</strong> Identität unserer selbst sicherstellt, das sich unserer<br />

Beobachtung aber immer zu entziehen scheint. Es wurden in <strong>auf</strong>steigender<br />

hierarchischer Ordnung verschiedene Formen des Selbst angenommen. Wie bei der<br />

Diskussion des Willens ausgeführt, ist letztendlich immer das überbewußte Selbst<br />

jene Instanz, <strong>die</strong> zur Erklärung oder zum Verständnis der Bereitschaft des<br />

Individuums, sich mit übergeordneten Zielen oder Werten zu identifizieren,<br />

erforderlich erscheint.<br />

Dieses Selbst ist zunächst nur im Drang des Individuums zur Selbstausweitung bzw.<br />

zur Erreichung von größerer Einheit erkennbar. In der Literatur findet man <strong>die</strong>sen<br />

Sachverhalt auch unter anderen Namen beschrieben, etwa <strong>als</strong> Streben nach<br />

Identität 2 , <strong>als</strong> Suche nach Gleichgewicht 3 oder <strong>als</strong> Streben nach Ordnung. 4 Dieses<br />

Streben kommt in Interessen zum Ausdruck, <strong>die</strong> von den Gesetzmäßigkeiten und<br />

von sozialen Werten, Zielen und <strong>Institution</strong>en geleitet und eingegrenzt werden. Die<br />

Interessen von Schülern und Studenten führen somit, wenn ihnen Raum gegeben<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Im Rahmen der personal-transzendentalen Pädagogik scheint das, was hier <strong>als</strong> Selbst<br />

bezeichnet wird, <strong>als</strong> Person verstanden zu werden. Die Person bringt <strong>die</strong> Persönlichkeit<br />

hervor, <strong>die</strong> im Vordergrund steht. Vgl. hierzu Dickopp 1983, S. 333f.<br />

Vgl. Erikson 1966, 1974.<br />

Vgl. Bertalanffy 1953 oder Piaget 1970a, S. 115-130, 1976, und all jene Psychologen, <strong>die</strong><br />

<strong>auf</strong> Piagets Untersuchungen <strong>auf</strong>bauen, z.B. Aebli 1973, 1975.<br />

Vgl. v.Cube 1968, S. 112f. Festinger, 1957, geht davon aus, daß der Mensch stets nach<br />

kognitiver Konsonanz strebt und Dissonanz zu vermeiden trachtet; Miller/Galanter/<br />

Pribram, 1973 (11960), nehmen an, daß der Organismus Kongruenz anstrebt und Inkon<br />

gruenz immer wieder beseitigt.<br />

193


wird, höchstwahrscheinlich nicht in beliebige Richtungen, d.h. sie zerstreuen sich<br />

nicht in Bereiche, <strong>die</strong> weit ab dessen liegen, was ansonsten in Bildungsinstitutionen<br />

gelehrt wird. Diese Annahme wird auch durch Unterrichtsversuche bestätigt. 5 Dennoch<br />

nimmt gerade in Bildungsinstitutionen <strong>die</strong> Eingrenzung oder Beschneidung<br />

und Lenkung der individuellen Interessen in lehrplanmäßig vorgegebene Schemata<br />

oft enge Formen an. Es fehlt "jene einfache und alltägliche Großherzigkeit, <strong>die</strong> den<br />

Mut gibt zum Glauben an <strong>die</strong> Mitmenschen, an <strong>die</strong> menschliche Vernunft und an <strong>die</strong><br />

menschliche Freiheit.“ 6<br />

Wenn man mit übergeordneten oder überbewußten Instanzen rechnen kann, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Entwicklung von Vernunft und Charakter ebenso leiten wie andere uns nicht<br />

bewußte Instanzen <strong>die</strong> körperliche Entwicklung 7 , dann ist es durchaus möglich, den<br />

Bestrebungen des einzelnen Raum zu geben. Das Selbst (im Sinne des personalen<br />

oder überbewußten Selbst) ist zwar fast allen Menschen verborgen, aber es nimmt<br />

doch Einfluß <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Entwicklung. Dieser Einfluß ermöglicht <strong>die</strong> Annahme, daß alle<br />

Erziehung Selbsterziehung sein kann. 8 Da der Mensch (bzw. das Selbst in ihm)<br />

nach Ordnung und Einheit sucht, kann <strong>die</strong>se Suche zur Stärkung jener inneren<br />

Instanz bzw. zur Möglichkeit der stärkeren Einwirkung jener inneren Instanz <strong>auf</strong> <strong>die</strong><br />

mehr vordergründigen Bewußtseinsbereiche des Individuums führen. Die Bereitschaft<br />

zur Identifikation mit immer allgemeineren oder "höheren" Zielen, Werten und<br />

Idealen kann so groß werden, daß es letztlich zu einer Vereinheitlichung des Willens<br />

(vgl. Kap. 5.4.3) kommt und damit zur Bildung einer ausgeprägten Persönlichkeit.<br />

Die grundlegende Bedingung für das Wirksamwerden der Leitung durch das Selbst<br />

ist Freiheit - Freiheit, <strong>die</strong> so beschaffen ist, daß sie <strong>die</strong> selbständige Suche nach<br />

Ordnung und Einheit unterstützt und fördert. Die freie und selbständige Auseinandersetzung<br />

mit der Umwelt ermöglicht einen offenen, progressiven Prozeß der<br />

Bewußtseinsentwicklung. Die Entwicklung des Individuums wird nicht <strong>auf</strong> ein Muster<br />

festgelegt. Alle Begrenzungen oder Formen des Bewußtseins und der Persönlichkeit<br />

werden nur <strong>als</strong> Übergang zu neuen. weniger begrenzten Formen <strong>auf</strong>gefaßt.<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Vgl. z.B. Rogers 1974 und <strong>die</strong> dort wiedergegebenen Beispiele oder Bert/Guhlke 1977<br />

und natürlich <strong>die</strong> Arbeiten von Montessori, z.B. 1976.<br />

Popper 1970, Bd. 1, S. 252.<br />

Diesen Vergleich benutzt Montessori häufiger.<br />

Montessori spricht ja auch von der Selbsterziehung und nicht von Erziehung der Kinder.<br />

Der Titel eines ihrer Hauptwerke, 1976, ist: "Die Selbsterziehung in der Grundschule"<br />

(L'autoeducazione nelle schuole elementari). Die deutsche Übersetzung allerdings trägt<br />

den Titel: "Schule des Kindes. Montessori-Erziehung in der Grundschule".<br />

194


Eine begrenztere Form von Bewußtseinsentwicklung, <strong>die</strong> auch zu einer begrenzteren<br />

und mehr in sich geschlossenen Form der Persönlichkeit ("geschlossen"<br />

bedeutet ja auch "weniger entwicklungsfähig") führt, besteht in einer Stabilisierung<br />

durch Identifikation mit gesellschaftlich vorfindbaren Bedingungen, d.h. den Zielen<br />

von <strong>Institution</strong>en und den daraus folgenden Rollen und Aufgaben, <strong>die</strong> dem einzelnen<br />

wie ein Korsett Halt vermitteln. Man kann in dem dadurch abgesteckten Raum<br />

von Zielen, Werten usw. sein Denken und sein Leben einrichten. Fallen aber <strong>die</strong>se<br />

sozialen Bezüge aus irgendeinem Grund fort (z. B. durch Arbeitslosigkeit) und<br />

können sie nicht in annähernd adäquat empfundener Weise ersetzt werden, wird<br />

dem Einzelnen auch <strong>die</strong> dadurch gewährte Stabilität und Identität genommen (vgl.<br />

auch Kap. 3.4 und Kap. 5.3.2).<br />

Das übergeordnete Selbst hinter der Persönlichkeit und dem Ich, sanktioniert<br />

sozusagen <strong>die</strong> Identifikation mit den gesellschaftlichen Zielen oder Werten<br />

sanktioniert. Diese Identifikation gibt zwar Sicherheit, aber sie verhindert auch <strong>die</strong><br />

weitere Entwicklung des Individuums, macht <strong>die</strong>ses abhängig von den Umständen.<br />

Sobald <strong>die</strong>se Umstände sich lockern, wenn z. B. <strong>die</strong> Rollenerwartungen nicht mehr<br />

so klar und eindeutig bestimmt sind, wenn <strong>die</strong> Aufgaben offener definiert werden<br />

und der Einzelne so mit einer Zunahme der Identifikationsmöglichkeiten innerhalb<br />

eines bestimmten Rahmens konfrontiert wird, beginnt eine Suche nach neuen -<br />

lebenswerten Zielen. Diese Zunahme an Freiheit kann, ohne daß der Einzelne weiß<br />

warum und woher, unbestimmte Bedürfnisse freisetzen und eine Vielfalt an Aktionen<br />

auslösen, <strong>die</strong> deren Befriedigung <strong>die</strong>nen sollen. Sie kann auch <strong>die</strong> Quelle von<br />

Verwirrung und Leid darstellen. Und hinter all dem scheint eine Suche nach dem<br />

Grund und Ziel des Seins zu stehen, <strong>die</strong> dann aber durch <strong>die</strong> Umstände meist in<br />

jene Bahnen gelenkt wird, <strong>die</strong> auch von den anderen gegangen werden. Diese<br />

Wiederholung eines Verhaltens durch immer mehr Menschen führt sozusagen zu<br />

einer immer "tieferen" Spur, so daß das Verhalten von immer mehr Menschen in<br />

<strong>die</strong>se Spur hineingleitet, <strong>als</strong>o <strong>die</strong> Wiederholung durch den Einzelnen wahrscheinlicher<br />

wird. Man kommt sozusagen nicht mehr aus <strong>die</strong>ser Spur bzw. <strong>die</strong>sen Spuren<br />

heraus. 9<br />

Die Form der Persönlichkeit, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Identifikation mit äußeren oder objektiven<br />

Autoritäten geprägt wird, stellt vermutlich das Ziel der meisten Bildungsinstitutionen<br />

dar. Erziehung kann <strong>auf</strong>grund <strong>die</strong>ser Auffassung nur erfolgreich sein, wenn eine<br />

9<br />

Vgl. Sheldrake 1983, S. 19o-191.<br />

195


äußere Autorität gegeben ist, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Ziele vorgibt, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> dem Weg zu deren<br />

Erreichung lenkt, kontrolliert und belohnt oder bestraft. Man glaubt, verantwortlich zu<br />

sein für <strong>die</strong> Formung des Individuums. Das ist eine Haltung, <strong>die</strong> Montessori <strong>als</strong><br />

"unbegründete Verantwortung" (weil ja das Selbst jene Entwicklung leitet) und<br />

"gefährliche Illusion" bezeichnet. 10 "Gefährlich" scheint eine derartige Einschränkung<br />

des Prozesses der Bewußtseinsentwicklung, weil neben der Entwicklung des Individuums<br />

indirekt auch <strong>die</strong> Ausdrucksformen gesellschaftlichen Lebens dadurch eine<br />

Beschränkung erfahren.<br />

Eine andere "Illusion" besteht in der naiven Annahme, daß sich, wenn man nur jene<br />

sozialen Ordnungen fallen lasse und <strong>die</strong> Kinder oder Schüler einfach der "Freiheit"<br />

überantworte, eine "natürlichere" und "ursprünglichere" Ordnung herausbilden<br />

würde. 11 Aber eine Ordnung fallen zu lassen und zu hoffen, es werde sich ohne<br />

weiteres Bemühen eine neue von selbst herausbilden, ist etwas ganz anderes <strong>als</strong><br />

der Versuch, eine vielleicht zu sehr begrenzte und <strong>als</strong> begrenzend empfundene<br />

Ordnung, <strong>die</strong> mehr oder weniger der momentanen Bewußtseinsstruktur der Einzelnen<br />

entspricht, durch Erweiterung des eigenen Bewußtseins zu überwinden. Erst<br />

<strong>die</strong> eigene Suche (der Erwachsenen, der Lehrer, Eltern usw.) nach einer weniger<br />

beengenden Ordnung - <strong>die</strong> ein Bemühen um Bewußtseinsausweitung darstellt oder<br />

darstellen muß, da <strong>die</strong> äußeren sozialen Freiräume durch <strong>die</strong> innere Ordnung des<br />

individuellen Bewußtseins strukturiert werden müssen -, erst <strong>die</strong>se eigene Suche<br />

schafft vermutlich das Vertrauen in <strong>die</strong> Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen,<br />

sich selbst zu erziehen. Dieses Vertrauen ist möglich, weil man dann selbst <strong>die</strong><br />

"Atmosphäre" erzeugt, in der <strong>die</strong>se Fähigkeiten sich entwickeln können. Doch sogar<br />

unter ungünstigen Bedingungen scheint <strong>die</strong> Fähigkeit zur Selbsterziehung nicht so<br />

ohne weiteres zu verkümmern, wie sich folgenden Ausführungen Poppers entnehmen<br />

läßt:<br />

"Ich kenne kein besseres Argument zugunsten einer optimistischen Ansicht<br />

von der Menschheit, keinen besseren Beweis ihrer unzerstörbaren Liebe für<br />

<strong>die</strong> Wahrheit und <strong>die</strong> Anständigkeit, ihrer Originalität, ihrer Hartnäckigkeit und<br />

ihrer Gesundheit <strong>als</strong> <strong>die</strong> Tatsache, daß <strong>die</strong>ses verheerende Erziehungssystem<br />

sie nicht völlig zugrunde gerichtet hat. Trotz des Verrats, den so viele<br />

ihrer Führer begangen haben, gibt es eine stattliche Anzahl alter und junger<br />

10 Montessori 1976, S. 15.<br />

11 Die Suche nach dem eigentlichen Wesen des Menschen in der Natur wurde von<br />

Rousseau, 1971 (1762), in einer Weise durchgeführt, <strong>die</strong> noch heute einen Einfluß <strong>auf</strong> <strong>die</strong><br />

Pädagogik auszuüben scheint. zweifellos ist auch Montessori von Rousseaus Denken<br />

beeinflußt.<br />

196


Menschen, <strong>die</strong> anständig und intelligent sind und <strong>die</strong> sich ihrer Aufgabe mit<br />

Hingebung widmen. 'Manchmal denke ich darüber nach, wie es wohl zu<br />

erklären ist, dass das angerichtete Übel nicht klarer zutage trat', sagt Samuel<br />

Butler [Erewhon 1872, S. 135, Everyman-Ausgabe], 'und daß <strong>die</strong> jungen<br />

Männer und Frauen trotz der fast absichtlichen Versuche, ihre Entwicklung<br />

<strong>auf</strong>zuhalten oder <strong>auf</strong> eine f<strong>als</strong>che Bahn zu bringen, so vernünftig und gut<br />

herangewachsen sind. Einige erlitten zweifellos Schaden, und sie litten<br />

darunter bis an ihr Lebensende; aber viele schienen nicht schlechter daran zu<br />

sein, und einige sogar besser. Der Grund scheint darin zu liegen, daß der<br />

natürliche Instinkt der jungen Menschen in den meisten Fällen so unbedingt<br />

gegen ihren Unterricht rebellierte, daß <strong>die</strong> Lehrer sie trotz aller nicht dazu<br />

bringen konnten, ihnen <strong>auf</strong>merksam zu folgen.“ 12<br />

Während direkte Erziehungsmaßnahmen nur einen relativen Einfluß ausüben,<br />

besitzen <strong>die</strong> Einstellungen von Lehrern und Eltern eine große Bedeutung für den<br />

Bildungsprozeß. In <strong>die</strong>sem Fall wäre <strong>die</strong> Aufgabe der Erziehung (wenn man <strong>die</strong>se<br />

Aufgabe akzeptiert) für <strong>die</strong> Lehrer (und eigentlich alle Erwachsenen) <strong>die</strong>selbe wie<br />

<strong>die</strong> der Kinder, nämlich Selbsterziehung:<br />

"Es gibt keine Erzieher. - Nur von Selbst-Erziehung sollte man <strong>als</strong> Denker<br />

reden. Die Jugend-Erziehung durch andere ist entweder ein Experiment, an<br />

einem noch Unerkannten, Unerkennbaren vollzogen, oder eine grundsätzliche<br />

Nivellierung, um das neue Wesen, welches es auch sei, den Gewohnheiten<br />

und Sitten, welche herrschen, gemäß zu machen: in beiden Fällen <strong>als</strong>o<br />

etwas, das des Denkers unwürdig ist, ... - Eines Tages, wenn man längst<br />

nach der Meinung der Welt, erzogen ist, entdeckt man sich selber: da beginnt<br />

<strong>die</strong> Aufgabe ..." 13<br />

Das, was Individuen innerlich sind und was sie aus <strong>die</strong>sem Sein heraus wollen, wirkt<br />

<strong>auf</strong> andere (vgl. auch Kap. 5.2.2 u. 6.1.2). Streben sie nach Werten und Zielen, <strong>die</strong><br />

über gesellschaftliche Zustände hinausweisen (was ja nicht bedeutet, daß sie gegen<br />

<strong>die</strong> Gesellschaft gerichtet sind), wird <strong>die</strong>s eher persönlichkeits- bzw. das Selbst<br />

stärkende Wirkungen haben, <strong>als</strong> wenn sie nach Zielen streben, <strong>die</strong> nur in<br />

gesellschaftlichen Zuständen vorfindbar sind.<br />

Eine Folge ausgeprägter Persönlichkeiten ist, daß sie <strong>auf</strong>grund ihrer inneren<br />

Ordnung auch einen mehr oder weniger gestaltenden Einfluß <strong>auf</strong> ihre Umwelt<br />

ausüben. Sie assimilieren Ideen, Werte, Ziele usw., formen sie entsprechend ihrer<br />

inneren Ordnung um (wodurch zugleich auch <strong>die</strong> Ordnung des eigenen Bewußt-<br />

12 Popper 1970, Bd. 1, S. 189.<br />

13 Nietzsche 1964 (1878), Abs. 267 (S. 295)<br />

197


seins beeinflußt wird), und durch <strong>die</strong> so verwandelten Vorstellungen wirken sie <strong>auf</strong><br />

ihre Umwelt zurück. Je integrierter und differenzierter ihr individuelles Bewußtsein<br />

ist, desto ausgeprägter dürften ihre Möglichkeiten der Umformung, und damit der<br />

Einwirkung <strong>auf</strong> andere sein.<br />

Persönlichkeitsstärkung kann somit auch gesellschaftlich befruchtend wirken. Zunächst<br />

ist es natürlich so, daß <strong>die</strong> Überschreitung gesellschaftlich gegebener Ziele,<br />

Werte, Lebensformen eher Unruhe erzeugt und eine Störung darstellt. Aber letztlich<br />

wird durch <strong>die</strong>se Überschreitung <strong>die</strong> Abnutzung (d.h. der Wertverlust, dem alles<br />

Gegebene zu unterliegen scheint), von der man annehmen kann, daß sie destabilisierend<br />

wirkt, durch neue, erstrebenswert erscheinende Ziele, Werte, Lebensformen<br />

ersetzt und <strong>die</strong> Gesellschaft damit ständig re-energetisiert. Man kann <strong>die</strong> Funktion<br />

von Menschen mit ausgeprägter Persönlichkeit in der Gesellschaft vielleicht mit der<br />

Stoffwechselfunktion vergleichen - sie tragen zur Ausscheidung von belastenden<br />

und verbrauchten Stoffen bei und sorgen für <strong>die</strong> Zufuhr neuer Stoffe und Energien<br />

und deren Anpassung an <strong>die</strong> jeweiligen Bedingungen. 14<br />

Aber auch <strong>die</strong> Verfolgung gesellschaftlich vorfindbarer Ziele und Werte ist wichtig,<br />

weil sie der Aufrechterhaltung bestehender Funktionen <strong>die</strong>nt. Hierbei dürfte es<br />

wiederum wesentlich sein, ob man sich an allgemeinen gesellschaftlichen Werten<br />

orientiert (an kulturellen Traditionen) oder an sehr partikularen Werten und Zielen.<br />

Je begrenzter <strong>die</strong> Ziele, desto begrenzter deren persönlichkeitsstärkende Wirkung,<br />

denn desto weniger sind <strong>die</strong> verschiedenen Bereiche, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Ziele betreffen,<br />

integriert. Die Nicht-Integration oder Widersprüchlichkeit von Bereichen wie Arbeit<br />

und Freizeit oder Familie und Beruf, Wissen und Handeln, wird vielfach <strong>als</strong> Ursache<br />

bzw. Mitursache von Krankheiten betrachtet, weil dadurch im Individuum Spannungen<br />

erzeugt würden, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ses nicht verarbeiten oder ertragen könne. 15 Kriminologen<br />

vermuten eine wesentliche Ursache oder Mitursache von Verbrechen in dem<br />

verbreiteten Bestehen derartiger Nicht-Integration oder Widersprüchlichkeiten, da<br />

dadurch der Identifikationsprozeß für viele Individuen erheblich erschwert und so<br />

das Abgleiten in kriminelle Tendenzen wahrscheinlicher würde. 16<br />

Die Fähigkeit zur Integration ist von schwach entwickelten Persönlichkeiten nicht zu<br />

erwarten. Persönlichkeitsstärkung aber kann, wie oben angedeutet wurde, <strong>auf</strong><br />

14 Vgl. hierzu etwa Leber 1978, S. 78f. u. S. 103 oder v.Hayek 1971, S. 30ff. und S. 49ff.<br />

15 Vgl. hierzu etwa den Literaturüberblick und <strong>die</strong> Diskussion bei Lohmann 1978; ferner<br />

Overbeck 1984.<br />

16 Vgl. Hellmer 1981.<br />

198


einfache Weise durch <strong>die</strong> Gewährung von strukturierten Freiräumen, <strong>die</strong> selbständiges,<br />

selbstbestimmtes Denken und Handeln ermöglichen, erreicht werden. Selbständigkeit<br />

bedeutet <strong>die</strong> vom Selbst geleitete Auseinandersetzung mit den Ordnungen<br />

der Umwelt, wodurch der Aufbau einer Ordnung des individuellen Bewußtseins<br />

angeregt und unterstützt wird.<br />

Dieser "innere Drang" zeigt sich auch im Lernen. Wenn äußerer Druck nicht angewandt<br />

wird, dann ist das Lernen weit eher intrinsisch motiviert.<br />

"Zwei Gruppen von Variablen beeinflussen in der Situation das intrinsisch<br />

motivierte Lernen: Material-Variablen und Kontext-Variablen. Je stärker <strong>die</strong><br />

Aktivation durch <strong>die</strong> Kontext-Variablen abgebaut wird, und je besser <strong>die</strong><br />

Material-Variablen in Komplexität und Strukturiertheit (ihr subjektiver Informationsgehalt)<br />

der Verarbeitungskapazität des Individuums entsprechen,<br />

desto wahrscheinlicher ist intrinsisch motiviertes Lernen." 17<br />

7.1.2 Persönlichkeitsstärkung durch Selbständigkeit<br />

Der innere Antrieb zur Ausweitung von Bewußtheit wird von individuellen und<br />

sozialen Bedingungen beeinflußt, <strong>die</strong> wir weder im einzelnen kennen noch detailliert<br />

steuern können. Das liegt an der Komplexität des Aufbaus des individuellen<br />

Bewußtseins und der in ihm wirkenden allgemeineren Kräfte, den vielfältigen<br />

Wirkungen von Symbolen, von Erwartungen anderer usw. Jeder Versuch einer<br />

detaillierten Steuerung der Bewußtseinsentwicklung läuft daher notgedrungen <strong>auf</strong><br />

<strong>die</strong> Mißachtung vieler <strong>die</strong>ser Bedingungen hinaus. "Ich fürchte", so äußerte<br />

Lichtenberg seine Bedenken, "eine allzu sorgfältige Erziehung liefert uns nur<br />

Zwergobst." 18<br />

Wenn man davon ausgeht, daß jener innere Antrieb oder das hinter <strong>die</strong>sem Antrieb<br />

vermutete Selbst genauer "weiß", wie <strong>die</strong>se Entwicklung zustandegebracht werden<br />

kann, dann kommt es für <strong>die</strong> Erziehung dar<strong>auf</strong> an, <strong>die</strong> Rahmenbedingungen zu<br />

untersuchen, von denen <strong>die</strong>se Entwicklung abhängig ist und <strong>die</strong>se Bedingungen<br />

bereitzustellen.<br />

In Teil II haben wir bereits einige derartiger Bedingungen genannt, wovon <strong>die</strong><br />

vermutlich bedeutsamste ist, daß alles, was wir denken, fühlen, wollen oder tun,<br />

17 Portele 1975, S. 238.<br />

18 Lichtenberg (1742-1799), 1962, S. 36.<br />

199


ebenso wie <strong>die</strong> Produkte unseres Tuns, Wirkungen <strong>auf</strong> uns selbst bzw. <strong>auf</strong> <strong>die</strong><br />

verschiedenen Bereiche unseres Bewußtseins <strong>als</strong> auch <strong>auf</strong> andere Individuen<br />

haben.<br />

Allgemein gilt, daß Bedingungen der individuellen (Bewußtseins-)Entwicklung vor<br />

allem dann förderlich sind, wenn sie so beschaffen sind, daß jeder Einzelne etwas<br />

für ihn Bedeutsames finden kann. Bedeutsam kann nur das für den Einzelnen sein,<br />

was in irgendeiner Weise der Erweiterung seines Bewußtseins <strong>die</strong>nt. Der Erweiterung<br />

des individuellen Bewußtseins <strong>die</strong>nt, was einen engen Zusammenhang mit<br />

dem Wollen, den Zielen oder den Vorstellungen des Einzelnen <strong>auf</strong>weist und was im<br />

Rahmen seines Wissens und seiner Vorstellungen Probleme erzeugt oder löst.<br />

Während ein Problem immer Grenzen bewußt macht, bedeutet seine Lösung <strong>die</strong><br />

Ausdehnung <strong>die</strong>ser Grenzen. 19<br />

Es soll nun kurz zusammengefaßt werden, wie unter derartigen Bedingungen<br />

Selbständigkeit zur Entwicklung von kognitiven Fähigkeiten, zur Ordnung des<br />

Wissens, zu sozialem Verhalten und zur Willensbildung beiträgt 20 (wobei <strong>die</strong>se<br />

Fähigkeiten gemeinsam und nicht gesondert zur Ausbildung kommen).<br />

Selbständigkeit erfordert erfordert <strong>die</strong> eigene Entscheidung für und <strong>die</strong> Konzentration<br />

<strong>auf</strong> einen Gegenstand sowie eine zunehmende Ausdauer in <strong>die</strong>ser Konzentration.<br />

Konzentration ist <strong>die</strong> Fähigkeit, einen Gegenstand längere Zeit im<br />

unmittelbaren Bewußtseinsfeld gegenwärtig zu halten. Das ist aber zunächst nur<br />

möglich <strong>auf</strong>grund eines Interesses. Das Interesse kann erregt werden durch<br />

Materialien, Aufgaben oder Ziele, <strong>die</strong> dem Alter, Willen und Können der Lernenden<br />

entsprechen und aus denen <strong>die</strong> Lernenden individuell wählen oder <strong>die</strong> sie selbst frei<br />

suchen können. Zur Aufrechterhaltung <strong>die</strong>ses Interesses ist es erforderlich, daß der<br />

Lernende durch Diskussion mit anderen oder mit Hilfe des Lehrers seine<br />

Lösungsansätze erproben und verbessern kann bis er schließlich zu einer befriedigenden<br />

Lösung gelangt.<br />

Problembewußtsein und Toleranz entwickeln sich u.a. durch den Vergleich<br />

verschiedener Lösungen. Wenn jeder frei arbeiten kann, entstehen notgedrungen<br />

Unterschiede in der Art der Fragestellung wie der Lösung einer Frage. Man lernt so<br />

19 Vgl. hierzu <strong>die</strong> Literatur zum genetischen oder forschenden Lernen, insbesondere<br />

Wagenschein 1970, 1974, 1975; Wittenberg 1963; Toeplitz 1927; Weingartz 1981. Lehner<br />

1979.<br />

20 Vgl. hierzu Lehner 1981, S. 525f.; Lehner/Weingartz 1985, S. 37f.<br />

200


oder kann lernen, daß man nicht so leicht zu einem Ende kommt mit der<br />

Bearbeitung einer Frage, weil immer neue oder andere Möglichkeiten und Probleme<br />

<strong>auf</strong>tauchen. Die Vielseitigkeit der Ansätze läßt Achtung vor den Möglichkeiten und<br />

Fähigkeiten anderer entstehen und erzeugt damit eine Haltung der Toleranz.<br />

Entscheidend ist nicht, ob man kann, was andere auch können, sondern ob man<br />

das kann, womit man sich befaßt und was <strong>die</strong>se Leistung in Bezug zu den eigenen<br />

Fähigkeiten bedeutet. Beurteilungen verlieren so ihre Rigidität, sie werden sehr viel<br />

komplexer und den individuellen Bedingungen angemessener. Das Montessori-<br />

Modell von Hellbrügge, bei dem gesunde und behinderte Kinder gemeinsam erzogen<br />

werden, zeigt, daß <strong>die</strong>s in sehr schöner und erfolgreicher Weise möglich ist. 21<br />

Toleranz setzt ebenso wie Problembewußtsein ein differenziertes Vertrautsein mit<br />

Dingen, Menschen oder sozialen Situationen voraus.<br />

Durch Vergleichen und Kontrastieren verschiedener Ansätze, Gegenstände,<br />

Lösungsversuche usw. bildet sich <strong>die</strong> Urteilsfähigkeit aus. Da der Lernende vom<br />

Material, von Mitschülern oder auch einmal vom Lehrer <strong>auf</strong> Fehler <strong>auf</strong>merksam<br />

gemacht wird, wird er auch vorsichtiger in seinen Urteilen und achtet eher dar<strong>auf</strong>, ob<br />

alle notwendigen Voraussetzungen für eine Schlußfolgerung gegeben sind.<br />

Die Möglichkeit der Verfolgung der eigenen Interessen führt nicht nur zur Ausbildung<br />

der genannten grundlegenden kognitiven Fähigkeiten und zu einer Ordnung<br />

des Wissens, sondern auch zur Entwicklung der Fähigkeiten des sozialen Zusammenlebens,<br />

wie Montessori-Schulen nachweisen. Das hat seine Ursache unter<br />

anderem auch darin, daß <strong>auf</strong>grund der Verfolgung eigener Interessen eine Vielfalt<br />

von Tätigkeiten entsteht, wie sie auch das soziale Leben <strong>auf</strong>weist. 22 In Montessori-<br />

Schulen z.B. sieht man in der Freiarbeits-Phase<br />

"Kinder bäuchlings <strong>auf</strong> dem Boden liegen, andere in kleinen Gruppen um<br />

einen Tisch herum sitzen, da wird diskutiert und verglichen, gefragt, geholfen<br />

und manchmal auch nur zugeschaut, unbefangen, lebendig, gelöst, jedoch<br />

nie laut, so daß das Kind, das daneben völlig versunken Zahlen in sein Heft<br />

schreibt, nicht gestört wird. Da trifft man Kinder <strong>auf</strong> dem Flur vor langen<br />

ausklappbaren Bildgeschichten, <strong>die</strong> beschriftet werden müssen. Da sitzen<br />

zwei Mädchen vor der Kiste mit den Meerschweinchen und Hasen; sie<br />

schreiben Sätze in ein Heft, das Meerschweinchen sitzt davor und schaut zu.<br />

Ein Junge ist mit dem Metermaß unterwegs; er hat sich <strong>die</strong> Aufgabe gestellt,<br />

21 Vgl. Hellbrügge 1984, (11977), z.B. S. 173-175.<br />

22 Bei Montessori-Schulen wird <strong>die</strong>se Vielfalt (und Ordnung) auch durch den jeweils nur<br />

einmal vorhandenen Materi<strong>als</strong>atz bedingt.<br />

201


das Zimmer auszumessen. ... An der Tafel entsteht ein Gemeinschaftsbild. In<br />

einer stillen Ecke schreiben zwei Mädchen mit Kopfhörern ihr Rechtschreibdiktat<br />

ab Tonband. Am Nebentisch wird gerechnet mit bunten Perlen und<br />

Holzstäbchen. Eine ausgestopfte Taube steht daneben, ein Mädchen schaut<br />

sie sich an und streicht ihr zärtlich über den Kopf. 'Ein stilloses schulisches<br />

Geschehen' nannte das eine bayerische Oberschulrätin. . . 'es fehlen<br />

Planung, Ordnung, Steuerung und Ziel des unterrichtlichen Geschehens.' ...<br />

Wer sich Zeit nimmt zu schauen, und wer vorurteilslos schauen kann, wird<br />

bald einmal merken, daß da <strong>auf</strong> Tischen und Fußböden, im Flur und an der<br />

Wandtafel sehr intensiv gearbeitet und gelernt wird, freiwillig und ohne Zwang<br />

und vor allem sehr selbständig.. Die Lehrerin ... ist da, wenn sie gebraucht<br />

wird. Sie hilft, wo Hilfe nötig ist, sie macht Vorschläge, wenn ein Kind sich<br />

selbst noch nicht entschließen kann, sie kontrolliert, wo das Arbeitsmaterial<br />

nicht aus sich heraus <strong>die</strong> Möglichkeit zur Kontrolle bietet."<br />

Allerdings zeigen sich auch <strong>die</strong> großen Unterschiede in den Fähigkeiten:<br />

"Da gibt es Kinder, <strong>die</strong> in der 4. Klasse bereits Wurzeln ziehen und quadrieren<br />

können, während ein anderes soeben mühsam den Zehnerübergang<br />

beim Ad<strong>die</strong>ren zu begreifen beginnt. Dennoch braucht das behinderte Kind<br />

nicht entmutigt zu werden: Seine Leistungen werden stets nur an seinen<br />

Fähigkeiten gemessen, niem<strong>als</strong> an denjenigen anderer, begabterer Kinder." 23<br />

Einen Sachverhalt zu durchdenken, bedeutet, ihn <strong>auf</strong>grund unserer begrenzten<br />

Bewußtseinskapazität darzustellen. 24<br />

Einen Sachverhalt differenziert und genau<br />

darzustellen, erfordert, <strong>die</strong> Darstellungsmittel differenziert zu beherrschen oder es<br />

zu lernen, gleichgültig, ob das modellhafte, zeichnerische oder schriftliche Darstellungen<br />

betrifft. Den Stil zu verbessern, heißt, nach Nietzsches Diktum, den<br />

Gedanken verbessern. Außerdem enthüllt der Versuch der Darstellung eines<br />

Gedankens sehr oft, daß <strong>die</strong>ser nur unklar und vage war, man stößt <strong>auf</strong><br />

Schwierigkeiten, <strong>auf</strong> unverstandene Zusammenhänge. Das kennt jeder an sich<br />

selbst. Man hört eine sehr einleuchtende Erklärung für irgendetwas und ist zunächst<br />

befriedigt. Versucht man aber, das Gehörte für eigene Zwecke zu verwenden und<br />

<strong>auf</strong>zuschreiben, muß man oft feststellen, daß es so klar doch nicht ist. Aber durch<br />

eigenes Formulieren und Umformulieren versteht man <strong>die</strong> Dinge allmählich besser;<br />

man lernt <strong>die</strong> Schwierigkeiten einer Sache kennen; man erkennt Sackgassen,<br />

Beziehungen und Verästelungen. So werden relativ stabile kognitive Ordnungen<br />

<strong>auf</strong>gebaut, und ein Sachverhalt, bzw. eine Sichtweise eines Sachverhalts wird<br />

sozusagen in <strong>die</strong>se individuelle Ordnung des Wissens eingewoben.<br />

23 Dies ist eine Beschreibung der Münchener Montessori-Schule durch Obermüller 1976, in<br />

Hellbrügge 1977, S. 173-174.<br />

24 Vgl. Aebli 1980-1981, der einen Überblick über Theorien und Formen des Denkens gibt.<br />

202


Die Darstellung von Bewußtseinsinhalten oder Erfahrungen kann weiterhin zur<br />

Entwicklung der Fähigkeit der Imagination oder Phantasie beitragen. Es kommt nur<br />

dar<strong>auf</strong> an, daß der zumindest Kindern noch eigene Sinn für das Geheimnisvolle,<br />

das Verborgene hinter allem erhalten wird. So soll Einstein, <strong>als</strong> er von Freunden<br />

nach dem schönsten Erlebnis seines Lebens gefragt wurde, geantwortet haben:<br />

"Das Schönste, was wir Menschen überhaupt erleben können, ist das Geheimnisvolle.<br />

Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann,<br />

der ist sozusagen tot, seine Augen sind erloschen, seine Ohren taub, seine übrigen<br />

Sinnesorgane abgestumpft." 25 Die Imagination kann <strong>als</strong> Mittel genutzt werden, um<br />

<strong>die</strong> Räume des Unter- und Uberbewußten zu erkunden (vgl. ausführlicher hierzu<br />

Kap. 7.2.6).<br />

Wenn, wie im oben zitierten Beispiel des Lebens und Lernens in einer Montessori-<br />

Schule, eine solche Vielfalt von Tätigkeiten, Fähigkeiten und individuellen Unterschieden<br />

akzeptiert und nicht an eine äußere Norm angepaßt wird, lernen auch <strong>die</strong><br />

Schüler, <strong>die</strong> Unterschiede und <strong>die</strong> impliziten Normen der gegebenen Ordnung zu<br />

akzeptieren. Wesentlich sind dann nicht jene äußeren Normen, sondern eine innere<br />

Haltung der gegenseitigen Akzeptierung und Hilfe, und <strong>die</strong>se führt jene soziale<br />

Ordnung herbei.<br />

Da jede Ordnung mehr oder weniger klare Handlungsanweisungen enthält, ist ihre<br />

Ausbildung immer verknüpft mit der Bildung des Willens. Man kann es auch so<br />

formulieren, daß jener allgemeine Antrieb durch das Selbst zur Identifizierung mit<br />

allgemeinen, inneren oder subjektiven (<strong>als</strong>o nicht von außen <strong>auf</strong>gedrängten)<br />

Standpunkten führt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bildung jener Ordnung ermöglichen. Ein solcher<br />

Standpunkt ist etwa, "ich will wissen, wie es wirklich ist" -, was ein Streben nach<br />

Wahrheit bedeutet. In ähnlicher Weise kann ein Kind <strong>die</strong> Dinge und seine<br />

Handlungen "schön" oder "gut" oder "richtig" haben wollen. Diese Entwicklung<br />

verläuft in einem dynamischen Prozeß der Differenzierung von Kriterien und von<br />

Wissen und der Integration <strong>die</strong>ser Kriterien und des Wissens <strong>auf</strong> immer höheren<br />

Stufen. 26 Die Ordnung des Denkens, Fühlens und Handelns <strong>auf</strong>grund <strong>die</strong>ses<br />

Differenzierungs- und Integrationsprozesses aus einem inneren, eigenen Antriebe<br />

heraus, bedeutet <strong>die</strong> Ausbildung von relativ stabilen Strukturen, <strong>die</strong> dem Ich, das ja<br />

25 Zit. nach Lehr 1983, S. 13.<br />

26 Vgl. Piaget 1970b, 1983 (11954); Aebli 1975 u.a. Wie <strong>die</strong> Untersuchungen Kuhns, 1976,<br />

zeigen, scheinen in der Wissenschaft <strong>die</strong> Phasen der Differenzierung nur selten von<br />

entscheidenden integrierenden Phasen abgelöst zu werden. Diese Integration erzeugt<br />

dann neue leitende Paradigmen.<br />

203


in der Identifikation mit ihnen besteht, einen Platz und einen Halt in der Welt<br />

gewähren und einen Raum, um sich darin zu bewegen.<br />

Im lehrergeleiteten Unterricht dagegen werden <strong>die</strong> Informationen, wenn das<br />

Interesse nicht da ist, auch nicht in eine subjektiv bedeutsame Ordnung gebracht.<br />

Pestalozzi hat das sehr klar gesehen:<br />

"Man rühme was man will von den guten Folgen der Schul, ich werde nicht<br />

widersprechen, alles ist wahr, wenn es da ist; ... - Und noch mehr, Unwissenheit<br />

ist besser <strong>als</strong> Erkenntniß, <strong>die</strong> nur Vorurtheil und Brillen ist, und langsam<br />

selber <strong>auf</strong> eigene Erfahrung kommen, ist besser, <strong>als</strong> schnell Wahrheiten, <strong>die</strong><br />

ander Leute einsehen, durchs auswendiglernen ins Gedächtniß bringen, und<br />

mit Worten gesättiget, den freyen <strong>auf</strong>merksammen und forschenden Beobachtungsgeist<br />

seines eigenen Kopfs verlieren." 27<br />

Das bedeutet aber nicht, daß <strong>die</strong> Einwirkungen eines wesentlich gelenkten Unterrichts<br />

dann bei interesselosen Schülern einfach spurlos verschwinden. Sie geraten<br />

durchaus ins Bewußtsein, und es bleiben auch Teile erhalten. Aber so wie halbgekaute<br />

Nahrung den Stoffwechsel belastet, so kann halbverarbeitetes Wissen das<br />

Bewußtsein stören und beeinträchtigen. Es führt vielleicht bei Einigen sogar zu einer<br />

"Verschmutzung" anstelle einer Ordnung des mittelbaren Bewußtseins. Die mehr<br />

oder weniger bloß zufällige Position einzelner Wissensbrocken kann eine Art "Verschmierung"<br />

erzeugen: alle Beziehungen sind möglich, kaum eine ist klar hervorgehoben.<br />

Die Folge ist Unkonzentriertheit, Zerstreutheit, und es tritt eine große<br />

Abhängigkeit von Augenblicksimpulsen ein. Das mittelbare Bewußtsein, das ja wie<br />

ein Filter und Organisator wirkt für dasjenige, was ins unmittelbare Bewußtseinsfeld<br />

gelangt, kann <strong>auf</strong>grund <strong>die</strong>ses Verschmutzungs- oder Schmiereffekts im Rahmen<br />

irgendwelcher Zusammenhänge kaum eine sinnvolle Auswahl treffen. Zudem kann<br />

ein systemvermittelnder Unterricht, der den "Stoff" in fachsystematischer Ordnung -<br />

wenn auch in kleinen Häppchen - darbietet, <strong>die</strong> Bildung und Integration von<br />

Wissens-, Ziel- und Wertstrukturen noch weiter erschweren. Fachsystematiken<br />

ergeben sich erst aus dem Überblick über Fachgebiete, wobei dann Lebensbezüge,<br />

<strong>die</strong> den Aufbau derartiger Strukturen zunächst leiteten, ausgeblendet wurden. Der<br />

Mathematiker Felix Klein formulierte es so, daß man dem Lernenden "mit einer<br />

kalten, wissenschaftlich <strong>auf</strong>geputzten Systematik ins Gesicht" springe, mit der<br />

<strong>die</strong>ser nichts anfangen kann. 28 Es ist dadurch schwieriger für den Lernenden zu<br />

27 Pestalozzi 1930, Bd. 9, S. 139.<br />

28 Klein 1924, S. 289. Die angesprochene Problematik wird ausführlich in der in Anmerkung<br />

1, S. 197, genannten Literatur zum genetischen Lernen behandelt.<br />

204


einer für sein Leben bedeutsam erachteten Ordnung seiner Vorstellungen zu<br />

gelangen. Es ist nicht uninteressant, daß Disziplinschwierigkeiten sich verringern<br />

oder allmählich ganz verschwinden, wenn es den Lernenden ermöglicht wird, eine<br />

solche Ordnung weitgehend selbständig zu finden. 29<br />

7.2 Erfahrung des Selbst<br />

Die Bildung des Ich (Persönlichkeitsstärkung) erfolgt durch <strong>die</strong> mehr oder weniger<br />

selbständige Erkundung der (Außen-)Welt. Selbständigkeit von Anfang an ist<br />

möglich, weil eine innere Ordnung, <strong>die</strong> durch jene Erkundung der Außenwelt immer<br />

weiter differenziert und <strong>auf</strong> jeweils höheren Stufen integriert wird, schon gegeben<br />

ist. Aber <strong>die</strong> Welt hört im Äußeren nicht <strong>auf</strong>, sie setzt sich im Inneren jedes<br />

Einzelnen fort. Wie <strong>die</strong> äußere, ist auch <strong>die</strong> innere Welt unendlich. Vermutlich<br />

vermissen viele Menschen <strong>als</strong> Kinder <strong>die</strong> Untersuchung jener inneren Welt. Man<br />

vergleiche hierzu <strong>die</strong> folgende Stelle aus der Autobiographie von Jacques<br />

Lusseyrand, der <strong>als</strong> Kind erblindete. Manche Blinde leben vielleicht, der Natur des<br />

Blindseins gemäß, mehr in einer inneren Welt.<br />

"Ich konnte nicht verstehen, warum <strong>die</strong> Lehrer niem<strong>als</strong> über das sprachen,<br />

was in ihnen oder in uns vorging. Sie sprachen in großer Ausführlichkeit von<br />

der Entstehung der Gebirge, der Ermordung Julius Caesars, den Eigenschaften<br />

von Dreiecken, <strong>auf</strong> welche Weise und in welchem Rhythmus sich<br />

Maikäfer fortpflanzen, oder über <strong>die</strong> Verbrennung von Kohlengas. ... sogar<br />

über Menschen, doch immer nur insofern, <strong>als</strong> es sich um Figuren handelte; ...<br />

<strong>die</strong> Figuren der Alten Geschichte, <strong>die</strong> Figuren der Renaissance oder der<br />

Komö<strong>die</strong>n Molieres ... Das Thema aller Themen, <strong>die</strong> Tatsache, daß <strong>die</strong> Welt<br />

nicht draußen <strong>auf</strong>hört, sondern sich in uns fortsetzt, war nicht existent." 30<br />

Diese innere Welt ist <strong>die</strong> Welt des Selbst. Sie zu untersuchen, bedeutet einen<br />

Anfang zur Entwicklung von Selbst-Bewußtheit zu machen. Selbst-Bewußtheit<br />

bedeutet, sich seiner selbst bewußt zu sein, während man fühlt, denkt, handelt usw.<br />

In der Regel ist es uns nur möglich, unsere Gefühle, Gedanken, Handlungen nachträglich<br />

zu reflektieren. Wenn man jemanden unvermittelt fragt, was er gerade<br />

denkt, fühlt usw., weiß er es sehr oft nicht. Selbstbewußtheit bedeutet weiter, zu<br />

29 Vgl. etwa Bert/Guhlke 1977; Rogers 1974, sowie zahlreiche Erfahrungsberichte etwa von<br />

Gaudig 1929 bzw. aus der gesamten Reformpädagogik in den USA und Deutschland oder<br />

der Montessori-Pädagogik.<br />

30 Lusseyrand 1981, S. 67.<br />

205


wissen, woher <strong>die</strong> Gedanken oder Gefühle kommen, <strong>die</strong> man gerade hat. Die<br />

Gleichzeitigkeit der Bewußtheit und des Tuns, Denkens oder Fühlens kann man<br />

sich so vorstellen, daß ein Teil des Bewußtseins, eben das personale Selbst, wie<br />

ein Doppelgänger ständig neben dem Ich steht und das, was in ihm vor sich geht,<br />

registriert. Sicher kennen wir alle Momente solcher Selbst-Bewußtheit, aber es sind<br />

eben nur Momente, und sobald wir uns für irgendetwas engagieren, vergessen wir<br />

uns und verlieren uns in der Sache.<br />

Selbst-Bewußtheit wird nur dann zu einem Ziel des Einzelnen werden können, wenn<br />

<strong>die</strong>ser sich um Selbständigkeit bemüht, wenn er versucht, immer allgemeinere<br />

Standpunkte einzunehmen, sich selbst immer mehr zu erweitern. Wenn er entdeckt,<br />

daß er aus einem Kreis von relativen (d. h. nicht absolut gültigen) Vorstellungen nie<br />

herauskommt und daß nur der Grad oder <strong>die</strong> Form <strong>die</strong>ser Relativität sich ändert,<br />

dann mag das Bedürfnis nach Selbst-Bewußtheit entstehen. Dieser Zustand des<br />

Bewußtseins der völligen Relativität des Ich wird prägnant von Claude Lévi-Strauss<br />

beschrieben:<br />

"Ich habe nie ein Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt, habe es auch<br />

jetzt nicht. Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem<br />

aber kein Ich vorhanden ist. Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, <strong>auf</strong><br />

der sich Verschiedenes ereignet. Die Straßenkreuzung selbst ist völlig passiv;<br />

etwas ereignet sich dar<strong>auf</strong>. Etwas anderes, genauso Gültiges, ereignet sich<br />

anderswo. Es gibt keine Wahl, es ist einfach eine Sache des Zufalls." 31<br />

In einer entsprechenden Umgebung und psychischen Atmosphäre mag das<br />

Bedürfnis nach Selbstbewußtheit schon früh entstehen. Möglicherweise tritt es<br />

schon bei manchen Kindern <strong>auf</strong>. Es wird von Erwachsenen dann vermutlich nicht<br />

beachtet, weil es kein erstrebenswertes Ziel für sie selbst, ja vielleicht nicht einmal<br />

eine Denkmöglichkeit darstellt.<br />

Auch wenn einem klar ist, wie wenig man von sich selbst weiß, folgt daraus nicht,<br />

daß man aus <strong>die</strong>sem Zustand heraus will. Indem man <strong>die</strong> Möglichkeit solcher<br />

Zustände leugnet, hält man sich (und andere) von der Suche danach ab. Meinte<br />

doch selbst Goethe, daß <strong>die</strong> zu allen Zeiten erhobene Forderung nach Selbsterkenntnis<br />

eine seltsame Sache sei, "der bis jetzt niemand genügt hat … Der<br />

Mensch ist ein dunkles Wesen, er weiß nicht, woher er kommt noch wohin er geht,<br />

er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber. 32 Er vermutet, daß<br />

31 Zit. nach Raddatz 1983, S. 33.<br />

32 Eckermann 1976 (1835), 10. April 1829, S. 359.<br />

206


alles Böse durch <strong>die</strong> Unwissenheit und Beschränktheit der Menschen entstehe. Die<br />

wesentliche Aufgabe eines Menschen sei daher <strong>die</strong> Selbstfindung, und <strong>die</strong> dafür<br />

entscheidende Voraussetzung bestehe in der Ermöglichung eigenständigen<br />

Denkens, um sich ganz nach seiner eigenen Art entwickeln zu können. 33<br />

7.2.1 Grade und Stufen des Bewußtseins<br />

Die Unterscheidung von Bewußtseinsebenen oder -zentren läßt <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

gradweiser Zwischenstufen außer acht, ebenso <strong>die</strong> unterschiedliche Ordnung und<br />

Weite <strong>auf</strong> jeder Ebene oder Zwischenstufe. 34 Man muß aber davon ausgehen, dass<br />

entsprechende Unterschiede zwischen Menschen bestehen. Das mag einer egalitären<br />

Sichtweise widersprechen, aber es ist offensichtlich, daß zwischen einem<br />

Platon, einem Newton, Napoleon oder Goethe und einem Durchschnittsmenschen<br />

erhebliche Unterschiede in der Weite des Bewußtseins bestehen. Es ist nicht<br />

unwahrscheinlich, daß zugleich Unterschiede bezüglich der Bewußtseinsebenen<br />

bestehen; so wurde am Beispiel Napoleons gezeigt (Kap. 5.4.2), daß er vermutlich<br />

über einen deutlich höheren Grad an Selbstbewußtheit verfügte <strong>als</strong> <strong>die</strong>s uns<br />

Normalmenschen gegeben ist.<br />

Es gibt aber auch ein anderes Argument für einen gradweisen Aufbau. Wenn das<br />

(normalerweise für uns) überbewußte Selbst nur <strong>die</strong> höchsten Stufen eines<br />

transpersonalen Bewußtseins enthielte, dann gäbe es für uns keine Möglichkeit,<br />

<strong>die</strong>ses Selbstes überhaupt bewußt zu werden. Es wäre dann so völlig anders <strong>als</strong><br />

alles, was wir zu denken und uns vorzustellen imstande sind, daß, selbst wenn wir<br />

durch irgendeine übernormale Anhebung unseres Bewußtseins jene Stufe erfahren<br />

würden, wir bei der Rückkehr keine Erinnerung daran haben könnten. Es gäbe<br />

keine Verbindung zwischen jenem und unserem gewöhnlichen Bewußtsein; wir<br />

hätten vielleicht nur <strong>die</strong> sehr vage Erinnerung an etwas Wunderbares - schließlich<br />

werden nahezu alle Erfahrungen <strong>auf</strong> <strong>die</strong>sem Feld <strong>als</strong> mit unbeschreiblicher Freude<br />

oder Seligkeit erfüllt geschildert. Der einzige Fall (der von Symonds), in dem von<br />

Abneigung gegen <strong>die</strong>se Erfahrung berichtet wird, ist ja tatsächlich so beschaffen,<br />

daß schließlich nahezu jede Verbindung zu unseren üblichen Vorstellungen abreißt.<br />

33 Vgl. hierzu <strong>die</strong> „Bekenntnissen einer schönen Seele“ in: Wilhelm Meisters Lehrjahre,<br />

1795-1796, 6. Buch.<br />

34 Vgl. hierzu <strong>die</strong> Ausführungen von Bucke 1982, S. 55 u. 56, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> der Analyse zahlreicher<br />

Fälle "kosmischen Bewußtseins" beruhen.<br />

207


Wenn es <strong>als</strong>o eine derartige Verbindung durch nur graduell verschiedene Stufen in<br />

fortschreitender Folge gibt, dann könnten wir <strong>auf</strong> dem Weg von Selbständigkeit über<br />

Selbst-Bewußtheit nach und nach zu transpersonaler Bewußtheit gelangen. Dies<br />

könnte zugleich <strong>die</strong> Richtung des möglicherweise noch unabgeschlossenen<br />

Evolutionsprozesses der Menschheit andeuten. 35 Doch geht es hier um das Werden<br />

der individuellen Persönlichkeit. Für jede individuelle Entwicklung - sei es nun <strong>die</strong><br />

Entwicklung musischer oder intellektueller Kräfte - scheinen gewisse Anlagen eine<br />

notwendige Voraussetzung. 36 Hinzu kommen dann aber <strong>die</strong> Anregungen durch <strong>die</strong><br />

Umwelt (wobei dahinter, wie wir versucht haben zu zeigen, wieder andere Kräfte<br />

stehen) und eine Bereitschaft des Individuums, gewisse Ziele überhaupt verfolgen<br />

zu wollen. Ist man mehr oder weniger zufrieden und erfüllt von dem, was das Leben<br />

zu bieten hat, besteht schließlich kein Grund, in irgendeiner Weise darüber hinaus<br />

nach etwas ganz anderem suchen zu wollen. Ein unstillbares Bedürfnis nach etwas<br />

Absolutem, das mit nichts bloß Vorübergehendem, Wechselndem zu befriedigen ist,<br />

scheint <strong>die</strong> notwendige individuelle Voraussetzung zu sein. Was man dann findet<br />

und welche Wege man geht, das wird sicher von den äußeren Umständen<br />

mitbestimmt.<br />

Wie beides zusammenwirkt, kann man am Beispiel von Goethes Faust erkennen.<br />

Obwohl er schon alles stu<strong>die</strong>rt hat und mehr weiß "<strong>als</strong> alle <strong>die</strong> Laffen, Doktoren,<br />

Magister, Schreiber und Pfaffen", sieht er doch, "daß wir nichts wissen können". 37 Er<br />

kann sich damit nicht zufrieden geben. Als mittelalterlicher Mensch ergibt er sich<br />

zunächst der Magie, aber sein innerer Drang zieht ihn immer weiter. Schließlich,<br />

selbst schon fast erschöpft, sagt sogar Mephistopheles: "Ihn sättigt keine Lust, ihm<br />

gnügt kein Glück/So buhlt er fort nach wechselnden Gestalten;/Den letzten,<br />

schlechten, leeren Augenblick ..." 38 Und dann erreicht er schließlich doch das Ziel:<br />

"Wer immer strebend sich bemüht,/Den können wir erlösen!" 39 Dabei behauptet<br />

Goethe nicht, Faust habe gewußt, was er wolle, er sagt vielmehr ganz deutlich: "Ein<br />

guter Mensch in seinem dunklen Drange,/ist sich des rechten Weges wohl<br />

bewußt." 40 Er könnte damit zum Ausdruck bringen wollen, daß immer eine im<br />

35 Vgl. Ditfurth 1981; Aurobindo 1962, 1964.<br />

36 Es kann in <strong>die</strong>sem Zusammenhang nicht <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Diskussion um <strong>die</strong> 'nature-nurture'-<br />

Kontroverse eingegangen werden. Vgl. hierzu <strong>die</strong> entsprechende entwicklungspsychologische<br />

Literatur (Oerter 1970; Hurlock 1970; Mussen/Conger/Kagan 1969; Mussen 1970;<br />

Petter 1966; Ewert 1972).<br />

37 Goethe, Faust 366-367 u. 364.<br />

38 Goethe, Faust 11583-11586.<br />

39 Ebenda, 11932-11933.<br />

40 Ebenda, 329-330.<br />

208


Individuum angelegte Steuerungsinstanz vorhanden ist, <strong>die</strong>, in welche Situation wir<br />

auch immer kommen mögen, irgendwie <strong>die</strong> möglichen Richtungen weist. Diese<br />

Interpretation stützt sich <strong>auf</strong> eine Äußerung Goethes, <strong>die</strong> er Eckermann gegenüber<br />

bezüglich seines Wilhelm Meisters machte: "Denn im Grunde scheint doch das<br />

Ganze nichts anderes sagen zu wollen, <strong>als</strong> daß der Mensch, trotz aller Dummheiten<br />

und Verwirrungen, von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziel<br />

gelange." 41<br />

Und in einem Brief schreibt Goethe von sich selbst, daß er "zeitlebens getrachtet"<br />

habe, sich zur Vollkommenheit hin zu entwickeln. Er fügt dem eine Bemerkung an,<br />

<strong>die</strong> verdeutlicht, daß <strong>die</strong>s nicht allein durch eigene Kraft geschehen könne: "denn<br />

wie kommt man in der Beschränkung seiner Individualität wohl dahin, das Vortrefflichste<br />

gewahr zu werden?“ 42 Man kann daraus wiederum schließen, daß Bewußtseinsentwicklung<br />

auch für Goethe ein verborgenes Selbst vorauszusetzen scheint.<br />

7.2.2 Offenheit für das Unbekannte<br />

Wer nicht so wie Faust bei Goethe zum Suchen - oder auch, wie Kierkegaard, zum<br />

Grübeln - neigt, eher zufrieden ist und seine Interessen, Fähigkeiten und seine<br />

Tüchtigkeit <strong>auf</strong> das begrenzt, was vorfindbar ist, wird kaum wünschen, Dinge zu<br />

unternehmen, <strong>die</strong> dar<strong>auf</strong> gerichtet sind, <strong>die</strong> Entwicklung erweiterter Bewußtseinszustände<br />

zu begünstigen. James zitiert <strong>als</strong> Beispiel hierfür ein Dokument, das <strong>als</strong><br />

Antwort <strong>auf</strong> eine Rundfrage (von Starbuck) eingegangen ist.<br />

"F(rage): Was bedeutet Ihnen Religion?<br />

A(ntwort): Nichts; und sie scheint, soweit ich beobachten kann, nutzlos für<br />

andere. Ich bin 67 Jahre alt und habe in X 50 Jahre gewohnt, und habe 45<br />

Jahre im Geschäftsleben gestanden, folglich habe ich so etwas Erfahrung im<br />

Leben ... Ich glaube überhaupt und ganz und gar nicht an Gott. Die Gottesvorstellung<br />

wurde in einem Zustand der Unkenntnis, Furcht und eines<br />

allgemeinen Mangels an der Naturerkenntnis erworben. Wenn ich jetzt in für<br />

mein Alter guter Gesundheit, sowohl geistig <strong>als</strong> auch körperlich, sterben<br />

müßte, würde ich ebensogerne, ja lieber, sterben mit einem herzlichen Vergnügen<br />

an Musik, Sport oder irgendeinem anderen vernünftigen Zeitvertreib.<br />

Wir sterben, wie ein Zeitraum vergeht - ohne daß es in irgendeinem Sinne<br />

Unsterblichkeit gäbe.<br />

41 Eckermann 1976, 18. Januar 1825, S. 142.<br />

42 Goethe in einem Brief an Sulpiz Boisseree, zit. nach Boerner 1964, S. 134.<br />

209


F: Was kommt Ihnen <strong>als</strong> Entsprechung für <strong>die</strong> Worte Gott, Himmel, Engel<br />

usw. in den Sinn?<br />

A: Überhaupt nichts. Ich bin ein Mensch ohne Religion. Diese Worte meinen<br />

nur mythischen Quatsch.<br />

F: Hatten Sie irgendwelche Erfahrungen, <strong>die</strong> durch Vorsehung bestimmt zu<br />

sein schienen?<br />

A: Überhaupt keine. Es gibt keine Agentur mit Überwachungsfunktion. Ein<br />

bißchen vernünftige Beobachtung, ebenso wie Kenntnis wissenschaftlicher<br />

Gesetze, wird einen jeden von <strong>die</strong>ser Tatsache überzeugen.<br />

F: Welche Dinge haben den stärksten Einfluß <strong>auf</strong> Ihre Emotionen?<br />

A: Lebendige Lieder und Musik; Klavier lieber <strong>als</strong> ein Oratorium. Ich liebe<br />

Scott, Burns, Byron, Longfellow, besonders Shakespeare, usw. ... und alle<br />

Lieder, <strong>die</strong> moralisch sind und <strong>die</strong> seelisch stärken, aber vor Wischiwaschi-<br />

Hymnen hege ich Abscheu. Sehr liebe ich <strong>die</strong> Natur, besonders gutes<br />

Wetter, und bis vor wenigen Jahren machte ich regelmäßig sonntags eine<br />

Wanderung <strong>auf</strong>s Land, oft zwölf Meilen lang, ohne zu ermüden und radelte 40<br />

oder 50. Mit dem Fahrrad habe ich <strong>auf</strong>gehört. Ich gehe niem<strong>als</strong> zur Kirche,<br />

höre aber Vorträge an, wenn gute angeboten werden. Alle meine Gedanken<br />

und Überlegungen sind von einer kräftigen und fröhlichen Art gewesen, denn<br />

statt Zweifel und Furcht sehe ich <strong>die</strong> Dinge wie sie sind; denn ich strebe<br />

danach, mich meiner Umwelt anzupassen. Dies betrachte ich <strong>als</strong> das tiefste<br />

Gesetz. Die Menschheit ist ein progressives Lebewesen. Ich bin überzeugt, in<br />

1000 Jahren wird es einen großen Fortschritt über seinen gegenwärtigen<br />

Status hinaus gemacht haben. ... Wir sollten daran denken, daß in 1.000.000<br />

Jahre Gleichheit, Gerechtigkeit und eine gute Ordnung des Geistes und des<br />

Körpers eine solche organisierte Festigkeit gewonnen haben werden, daß<br />

niemand mehr irgendeine Vorstellung von Übel oder Sünde haben wird.<br />

F: Wie ist Ihr Temperament?<br />

A: Sensibel, aktiv, hellwach, geistig und körperlich. Es tut mir leid, daß <strong>die</strong><br />

Natur uns gelegentlich zum Schlafen zwingt." 43<br />

Eine geistige Haltung <strong>die</strong>ser Art schließt einen Menschen in sich ein. "Seine<br />

Zufriedenheit mit dem Endlichen schirmt ihn", wie James es formuliert, "von jeder<br />

morbiden Unzufriedenheit über seine Entfernung vom Unendlichen ab.“ 44 Es gibt<br />

jedoch auch viele Menschen, insbesondere in der Adoleszenz, aber auch im<br />

späteren Lebensalter, <strong>die</strong> nicht über eine derartige, in gewisser Hinsicht beneidenswerte<br />

Sicherheit und erdverbundene Einfachheit ihres Weltbildes verfügen, sondern<br />

vielmehr immer neue Fragen haben.<br />

43 Zit. nach James 1979, S. 100-102.<br />

44 ebenda, S. 102.<br />

210


7.2.3 Das Wirken allgemeiner Kräfte erkennen<br />

Wer ein Problem hat, braucht einen Einfall, der sein Problem löst. Aber über den<br />

guten Gedanken, den Einfall haben wir keine Macht. Zwar ist es nötig, daß wir uns<br />

darum bemühen, aber das Ergebnis <strong>die</strong>ser Bemühungen ist plötzlich da: ein "Gedankenblitz",<br />

der eine Erhellung unseres Bewußtseins herbeiführt; Bühler spricht<br />

von "Aha"Erlebnis und Copei vom "fruchtbaren Moment". 45 Bleibt der erhellende<br />

Gedanke aus und waren unsere Bemühungen fruchtlos, dann glauben wir meist,<br />

den Grund dafür entweder in der vorläufigen Unlösbarkeit des Problems, in der<br />

Unzulänglichkeit unserer Fähigkeiten oder in der Unvollständigkeit der zur Verfügung<br />

stehenden Informationen finden zu müssen. Zweifellos spielen alle <strong>die</strong>se<br />

Dinge eine Rolle dafür, daß der entscheidende Gedanke nicht erscheint; aber sie<br />

erklären nicht, woher der Gedanke kommt: denn schließlich ist er <strong>als</strong> solcher eben<br />

da oder nicht da. So sagte Goethe, daß er nicht wisse, wie er zu seinen Gedichten<br />

gekommen sei. 46<br />

Wenn wir sehr lange nach einer Idee gesucht haben, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Lösung eines Problems<br />

bringt, dann mag ihr Erscheinen manchmal wie eine Gnade erscheinen. Wie auch<br />

immer, ist <strong>die</strong>s doch nur ein Ausdruck dafür, daß wir deutlich fühlen, daß wir das<br />

Ergebnis einer langen Suche nicht uns selbst zuschreiben können, sondern einer<br />

Kraft, <strong>die</strong> wir nicht kennen. Das ist allerdings keine Erklärung, sondern lediglich <strong>die</strong><br />

Beschreibung einer Empfindung.<br />

Gleichgültig, wie <strong>die</strong> Bemühungen um <strong>die</strong> Lösung eines Problems aussehen und<br />

wie bedeutsam sie für das Zustandekommen eines Ergebnisses sein mögen, an<br />

einem bestimmten Punkt scheint es eher dar<strong>auf</strong> anzukommen, jene allgemeine<br />

Kraft wirken lassen zu können. Das ist vermutlich am ehesten in einem Zustand der<br />

Ruhe möglich. So versucht man ja auch, durch Kreativitätstechniken Kritik und<br />

Kontrolle vorübergehend auszuschalten. 47 Denn solange <strong>die</strong> Gedanken oder<br />

Konstruktionen des Denkens das Bewußtseinsfeld beherrschen, ist es schwierig,<br />

"Einfälle" wahrzunehmen. Eine große Bedeutung kommt auch der Unabhängigkeit<br />

von den Meinungen anderer zu. Solange man allzusehr <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se fixiert ist, ist man<br />

unfähig, etwas anderes überhaupt zuzulassen. Kreative Personen scheinen <strong>die</strong>se<br />

Eigenschaft in hohem Maße zu besitzen. 48<br />

45 Vgl. Copei 1950.<br />

46 Vgl. Eckermann 1976, 6. April 1829, S. 343.<br />

47 Vgl. z.B. Osborn 1957.<br />

48 Zusammenfassend hierzu Seiffge-Krenke 1974, S. 135f.: Oerter 1974, S. 367f.<br />

211


Einstein hat es wohl wie nur wenige verstanden, sich von angestrengter Fixierung<br />

<strong>auf</strong> eine Sache frei zu machen, sich in Ruhe zu sammeln und in stiller und unverspannter<br />

Konzentration <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Lösung eines Problems zu warten. Sein Biograph<br />

und Mitarbeiter Banesh Hoffmann erlebte das so:<br />

"Manchmal entstand während der Arbeit völlige Verwirrung. Bei solchen<br />

Gelegenheiten, wenn selbst <strong>auf</strong>geregte Diskussionen den toten Punkt nicht<br />

überwinden konnten, pflegte Einstein in seinem drolligen Englisch - er konnte<br />

das englische th nicht aussprechen - ruhig zu sagen: 'I will a little tink' - 'ich<br />

will ein wenig nachdenken'; und in der plötzlichen Stille ging er langsam <strong>auf</strong><br />

und ab oder im Kreise herum und spielte dabei mit einer Haarlocke, <strong>die</strong> er um<br />

seinen Zeigefinger wickelte. Sein Gesichtsausdruck war träumerisch, weit<br />

entrückt und doch nach innen gerichtet - keinerlei Anzeichen von Anstrengung<br />

oder intensiver Konzentration, keine Spur mehr von der vorangegangenen<br />

<strong>auf</strong>geregten Diskussion, nur ruhige innere Einkehr - Einstein in größter<br />

Arbeitsintensität. So verstrichen Minuten - dann wandte er sich plötzlich der<br />

Welt wieder zu und beantwortete <strong>die</strong> Schwierigkeit lächelnd, ohne allerdings<br />

auch nur andeutungsweise zu verraten, was für Überlegungen - wenn es sich<br />

dabei überhaupt um solche gehandelt hatte - ihn zu seiner Lösung geführt<br />

hatten.“ 49<br />

Es gibt eine sehr große Zahl von Äußerungen oder Berichten, <strong>die</strong> zeigen, daß <strong>die</strong><br />

Lösungen großer Probleme nur zum Teil durch <strong>die</strong> Persönlichkeit und deren<br />

Bemühungen zustandekommen. Manchen Künstlern scheint sehr bewußt zu sein,<br />

daß das Ergebnis ihres Tuns zum größeren Teil nicht von ihnen abhängt, ja, daß sie<br />

eher so etwas wie ein Medium darstellen. So beschreibt etwa der Dichter John<br />

Masefield eine Zeit seines Lebens, in der seine Inspiration versiegt zu sein schien<br />

und in der er nicht in der Lage war, etwas Wertvolles zu produzieren. Aber eines<br />

Tages, während eines Spaziergangs übers Land, bei dem er sich ganz entspannt<br />

fühlte, sagt er zu sich: "Nun werde ich ein Gedicht über einen Schuft machen, der<br />

bekehrt wird. Unmittelbar dar<strong>auf</strong> erschien mir das Gedicht in seiner vollständigen<br />

Form, jedes Detail war klar und deutlich." Nach seiner Rückkehr brauchte er das<br />

Gedicht nur niederzuschreiben, "und <strong>die</strong> ersten Zeilen flossen <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Seite, so<br />

schnell, wie ich sie niederschreiben konnte.“ 50<br />

Zusammenfassend kann <strong>als</strong>o gesagt werden, daß <strong>die</strong> Erfahrung des personalen<br />

und überbewußten Selbst nicht etwas ist, das man nur durch eigene Bemühungen<br />

zustande bringen kann, auch wenn <strong>die</strong>se eine unabdingbare Voraussetzung sind.<br />

49 Hoffmann 1978, S. 272-273.<br />

50 Masefield 1952, S. 139-140 (zit. nach Stace 1961, S. 82).<br />

212


7.2.4 Selbstbeobachtung <strong>als</strong> Mittel der Entwicklung von Bewußtheit<br />

Wenn man das Ich oder <strong>die</strong> Persönlichkeit <strong>als</strong> eine erste Stufe der Bewußtseinsentwicklung<br />

(mit unterschiedlichen Graden) <strong>auf</strong>faßt und SelbstBewußtheit (d.h.<br />

das Bewußtsein des personalen Selbst) <strong>die</strong> nächste Stufe <strong>die</strong>ser Entwicklung bildet,<br />

dann ist Selbst-Bewußtheit sozusagen der Mittler zwischen unserer gewöhnlichen<br />

Persönlichkeit und dem überbewußten Selbst:<br />

Wie lässt sich nun Selbst-Bewußtheit, d.h. <strong>die</strong> beständige Erfahrung des personalen<br />

Selbst entwickeln? Die Antwort ist einfach. So wie wir Wissen von Dingen dadurch<br />

erwerben, daß wir unsere Sinnes- und Vernunftätigkeit dar<strong>auf</strong> richten, entwickeln wir<br />

Selbst-Bewußtheit, indem wir <strong>die</strong>se Tätigkeiten <strong>auf</strong> uns selbst richten. Jeder weiß<br />

von sich, daß er, wenn er sich dar<strong>auf</strong> konzentriert, etwa seine Gefühle beobachten<br />

kann. Schwieriger ist es zweifellos, das Denken zu beobachten. Versucht man es<br />

probehalber, sieht man gleich, daß <strong>die</strong> Gedanken eher spontan entstehen, <strong>als</strong> daß<br />

wir sie verfertigen. Konsequenterweise zählt daher Pauli Gedanken und andere<br />

Bewußtseinsinhalte zu den unmittelbar gegebenen Phänomenen:<br />

"Zu den unmittelbaren Phänomenen gehören <strong>die</strong> Bewußtseinsinhalte. Die<br />

Beschreibung derselben <strong>als</strong> Wahrnehmungen ist insofern einseitig, <strong>als</strong> auch<br />

Gedanken und Ideen spontan entstehen. Man spricht ja von 'Einfällen', was<br />

bedeutet, daß etwas in das Bewußtsein fällt. Ich möchte deshalb vorschlagen,<br />

auch das Auftreten von Ideen und Gedanken Phänomene zu nennen, ebenso<br />

wie Töne, Farben, Tasteindrücke." 51<br />

Was soll oder kann man <strong>als</strong>o beobachten? Zur Beantwortung <strong>die</strong>ser Frage braucht<br />

man sich nur zu vergegenwärtigen, daß auch <strong>die</strong> Beobachtung von äußeren Objekten<br />

nur unter bestimmten Voraussetzungen zu differenzierten Ergebnissen führt.<br />

Einige werden sich vielleicht noch daran erinnern, <strong>als</strong> im Biologieunterricht das erste<br />

Mal Zellschnitte untersucht werden sollten. Der Blick durch das Mikroskop zeigte<br />

zunächst einmal nichts außer einem verschwimmenden Durcheinander, das so<br />

ganz und gar nicht den Darstellungen in den Biologiebüchern entsprach. Das<br />

Erkennen von Strukturen erfordert eine systematische Übung, und nach und nach<br />

entdeckt man in jenem Chaos tatsächlich klare Strukturen, und schließlich wird man<br />

unfähig, überhaupt noch ein Chaos wahrzunehmen.<br />

So erfordert auch <strong>die</strong> Beobachtung des eigenen Denkens ein systematisches<br />

Training. Zunächst kann man z. B. überlegen (nachträglich), woher denn <strong>die</strong><br />

51 Pauli 1961, S. 94.<br />

213


"eigenen" Gedanken kommen. Man findet dann, daß sie in der Regel irgendwelchen<br />

allgemein bzw. in einem Fachgebiet verbreiteten Theorien, Ideen, Auffassungen<br />

usw. entsprechen, daß das, was wir <strong>als</strong> unsere individuelle Vernunft bezeichnen,<br />

Teil einer Art des Denkens ist, <strong>die</strong> unser Zeitalter <strong>als</strong> gültig empfindet. Wir verstehen<br />

allmählich, daß das, was wir <strong>als</strong> unser Denken empfinden, mehr oder weniger das<br />

Erzeugnis eines allgemeinen gesellschaftlichen oder universalen Mentalen und der<br />

darin gerade vorherrschenden Strukturen ist. In gleicher Weise kann man sein<br />

Fühlen und Wollen, seine Bewegungen, <strong>die</strong> Reaktionen der Organe <strong>auf</strong> Nahrung,<br />

Alkohol usw. beobachten und analysieren. Das Ergebnis einer derartigen <strong>auf</strong> das<br />

Innere gerichteten systematischen Beobachtung und Analyse erzeugt allmählich<br />

eine Distanz zu den psychischen Vorgängen, d.h. daß <strong>die</strong> Funktionen oder<br />

Fähigkeiten des inneren oder personalen Selbst sich entwickeln. Es entfaltet sich<br />

<strong>als</strong>o eine Instanz, <strong>die</strong> hinter oder über der Instanz des Ich - des sich in unbewußten<br />

Abläufen identifizierenden Denkens, Fühlens, Wollens, Handelns - steht und <strong>die</strong>se<br />

beobachtet.<br />

Man kann <strong>die</strong>s im übrigen in gewissem Ausmaß auch bei der wissenschaftlichen<br />

Analyse externer Phänomene feststellen. In der Regel ist mit der Beobachtung<br />

eines Ereignisses oder dem Hören einer Aussage oder Behauptung unmittelbar eine<br />

Bewertung verbunden, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bedeutung <strong>die</strong>ses Ereignisses oder <strong>die</strong>ser Aussage<br />

für einen selbst bestimmt. Die wissenschaftliche Bemühung um Objektivität aber<br />

führt allmählich zu einer stärker distanzierten, vorurteilslosen Beobachtung. Die<br />

bewertende Funktion wird zu einem gesonderten Vorgang, der in einem zusätzlichen<br />

Prozeß durchgeführt wird.<br />

Der Unterschied zwischen Selbstbeobachtung, <strong>die</strong> ein Weg zur Selbst-Bewußtheit<br />

ist, und Wissenschaft, <strong>die</strong> man <strong>als</strong> Weg zur Objekt-Bewußtheit bezeichnen kann,<br />

besteht nur im Objekt, <strong>auf</strong> das sich <strong>die</strong> Bemühungen um Erkenntnis richten. Man<br />

könnte <strong>als</strong>o sehr wohl von der Wissenschaft der Selbst-Erkenntnis sprechen. Wie in<br />

jeder Wissenschaft, müssen auch hier zunächst <strong>die</strong> ihr eigenen Methoden erlernt<br />

und geübt werden. Ihre Anwendung führt zu Ergebnissen, <strong>die</strong> man mit den<br />

Ergebnissen anderer, <strong>die</strong> <strong>auf</strong> demselben Gebiet arbeiten, vergleichen kann. Das<br />

Ziel ist, <strong>die</strong> Wahrheit über <strong>die</strong>se inneren Zustände zu erfahren, <strong>als</strong>o immer tiefer zu<br />

gehen, <strong>die</strong> Methoden immer mehr zu verfeinern, um schließlich Dinge zu erfahren,<br />

<strong>die</strong>, wenn andere sie einem erzählten, ohne daß man selbst sich damit befaßt hätte,<br />

man nur glauben oder ablehnen kann, wie eben auch <strong>die</strong> Ergebnisse der<br />

Wissenschaft von der externen Welt. Vivekananda stellt <strong>die</strong>s anschaulich dar:<br />

214


"Wenn man Astronom werden möchte und sich hinsetzt und ruft "Astronomie!<br />

Astronomie!" wird sie nie zu einem kommen. Genauso ist es mit der Chemie.<br />

Man muß sich einer bestimmten Methode be<strong>die</strong>nen. ... Die Wissenschaft des<br />

Yoga will uns zunächst einmal ein solches Mittel zur Beobachtung der inneren<br />

Zustände an <strong>die</strong> Hand geben. Das Instrument ist der Geist selbst. ... Das ist<br />

unser einziges Mittel, Wissen zu erlangen. Jeder wendet es an, sowohl in der<br />

äußeren wie auch der inneren Welt; aber der Psychologe muß <strong>die</strong> gleiche<br />

sorgfältige Beobachtung der inneren Welt zuwenden, <strong>die</strong> der Naturwissenschaftler<br />

<strong>auf</strong> <strong>die</strong> äußere richtet und <strong>die</strong>s erfordert sehr viel Übung. Von<br />

Kindheit an wurden wir nur gelehrt, unsere Aufmerksamkeit <strong>auf</strong> <strong>die</strong> äußeren<br />

Dinge zu richten, nicht aber <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Dinge des Inneren; daher besitzen <strong>die</strong><br />

meisten von uns <strong>die</strong> Fähigkeit, den inneren Mechanismus zu beobachten,<br />

beinahe nicht mehr. Den Geist gleichsam nach innen zu wenden, ihn daran<br />

zu hindern, nach außen zu gehen, und dann alle Kräfte zu konzentrieren und<br />

sie <strong>auf</strong> den Geist selbst zu richten, so daß er sein eigenes Wesen erkennen,<br />

sich selbst analysieren kann - das ist sehr harte Arbeit. Doch ist das der<br />

einzige Weg, wenn man das Thema <strong>auf</strong> wissenschaftliche Art angehen will. ...<br />

Bisher sehen wir <strong>als</strong>o, daß beim Studium des Yoga kein Glaube oder Vertrauen<br />

nötig ist. Glaube nichts, bis Du es nicht für Dich selbst herausfindest;<br />

das ist es, was Yoga uns lehrt. Die Wahrheit braucht keine Krücke, um stehen<br />

zu können. Man muß seine eigene Vernunft und Urteilskraft anwenden, man<br />

muß üben und sehen, ob <strong>die</strong>se Dinge passieren oder nicht. So wie man mit<br />

jeder anderen Wissenschaft beginnen würde, in eben <strong>die</strong>ser Art sollte man<br />

beginnen, <strong>die</strong>se Wissenschaft zu stu<strong>die</strong>ren. ... Jeder Versuch, <strong>die</strong>se Dinge zu<br />

mystifizieren, kann große Gefahr hervorbringen." 52<br />

7.2.5 Übungen zur Selbstbeobachtung<br />

Es sind verschiedene Methoden oder Systeme entwickelt worden, um Selbst-<br />

Bewußtheit zu erreichen. In In<strong>die</strong>n sind es <strong>die</strong> sehr differenzierten Methoden der<br />

verschiedenen Yoga-Systeme 53 , in anderen Ländern haben <strong>die</strong> Schulen der<br />

Mystiker ähnliche Systeme hinterlassen 54 , und in neuerer Zeit hat insbesondere <strong>die</strong><br />

Psychosynthese Assagiolis derartige Übungen in einer nicht an religiöse Inhalte<br />

52 Vivekananda 1977 (11847), S. 128-134. Vgl. hierzu auch <strong>die</strong> Ausführungen Erismanns zur<br />

Introspektion. Erismann 1965, Bd. 3, S. 24-26. Erismann diskutiert in <strong>die</strong>sem Abschnitt<br />

auch <strong>die</strong> üblichen, gegen <strong>die</strong> Introspektion vorgebrachten Einwände.<br />

53 Vgl. vor allem Eliade 1977, der auch eine Fülle von Literaturhinweisen gibt. Vgl. aber auch<br />

<strong>die</strong> sehr interessanten Ausführungen von James 1941, S. 251f., zu Erfahrungen mit Hatha<br />

Yoga.<br />

54 Vgl. etwa Underhill 1955; Butler 1960; Knowles 1961; Leuba 1927; Shah 1971;Owens<br />

1978; Ornstein 1978; McNamara 1978.<br />

215


gebundenen Form entwickelt bzw. vorhandene Übungen abgewandelt und<br />

erprobt. 55<br />

Ich will im folgenden <strong>auf</strong> einige der im Rahmen der Psychosynthese benutzten<br />

Übungen eingehen. 56<br />

Die erste Fähigkeit, <strong>die</strong> <strong>als</strong> wesentlich erachtet wird, ist<br />

Konzentration <strong>auf</strong> einen inneren oder vorgestellten Gegenstand. Bei sinnlichen<br />

Gegenständen oder auch beim Aufschreiben von Gedanken wird <strong>die</strong> Konzentration<br />

von außen durch den Gegenstand oder das Symbol bzw. <strong>die</strong> Symbolfolge gelenkt.<br />

Das ist, wie man leicht ausprobieren kann, einfacher <strong>als</strong> <strong>die</strong> Konzentration <strong>auf</strong><br />

vorgestellte Gegenstände oder Vorgänge, wenn <strong>die</strong>se Konzentration eine Weile<br />

(fünf bis zehn Minuten) ohne Störungen <strong>auf</strong>rechterhalten werden soll. Ferrucci<br />

schlägt <strong>als</strong>o vor, sich mit geschlossenen Augen z. B. einen Füller vorzustellen, der<br />

den eigenen Namen schreibt, oder farbige Figuren wie einen violetten Zirkel, einen<br />

blauen Fünfstern usw. Diese Übung wird <strong>auf</strong> alle anderen Sinnesempfindungen<br />

angewandt. Es kommt dar<strong>auf</strong> an, daß <strong>die</strong> Vorstellung klar und deutlich ist und stabil<br />

bleibt. 57<br />

Beispiel:<br />

Für den möglichen Nutzen solcher Übungen gibt ein Lehrer folgendes<br />

"Ich ließ ein zwölfjähriges Mädchen Visualisierungs-Übungen mit geometrischen<br />

Formen und Ziffern machen. Zu jenem Zeitpunkt hatte das Mädchen<br />

große Schwierigkeiten in der Schule, vor allem in Englisch und Mathematik<br />

hatte sie schlechte Noten. Sie fand es zum Beispiel schwierig, <strong>die</strong> Präsensformen<br />

des englischen Verbs 'to be' zu lernen. Ich sagte ihr, sie solle eine<br />

Wandtafel visualisieren und sich vorstellen, sie schriebe <strong>die</strong> englischen und<br />

italienischen Formen <strong>die</strong>ses Verbs dar<strong>auf</strong>. Anschließend solle sie zwei- bis<br />

dreimal das lesen, was sie visualisiert hatte. Nach kurzer Zeit hatte sie bereits<br />

gelernt, <strong>die</strong> Verbformen perfekt im Gedächtnis zu behalten. Diese Erfahrung<br />

beeindruckte sie so sehr, dass sie seither jedes Mal, wenn sie Gedächtnisschwierigkeiten<br />

hat, Visualisierungs-Übungen anwendet. In anderen Fächern<br />

wie zum Beispiel in der Mathematik und Geometrie nahm sie <strong>die</strong> Haltung 'ich<br />

kann nicht' ein und verlor dann das Interesse am Fach. Nachdem sie<br />

während einiger Tage <strong>die</strong> Übungen gemacht hatte, sah ich eine grundlegende<br />

Veränderung in ihrem Verhalten in der Schule. Sie war <strong>auf</strong>merksam, und<br />

wenn ihr <strong>die</strong>s einmal nicht gelang, kam sie zu mir und verlangte Erklärungen,<br />

55 Vgl. Assagioli 1984; Ferrucci 1982 und zur Anwendung der Psychosynthese im Bereich<br />

der Erziehung Whitmore 1986.<br />

56 Man findet sie mehr oder weniger, in der Form jeweils verändert, z.B. auch bei Vivekananda<br />

1977 oder bei Steiner 1961, 1962 und bei vielen anderen<br />

57 Vgl. Ferrucci 1982, S. 29f.<br />

216


um zu erfahren, was sie f<strong>als</strong>ch machte. Im L<strong>auf</strong>e der Zeit lernte sie, alleine<br />

zurecht zu kommen." 58<br />

Weiter geht es darum, unterbewußte und meist irgendwie belastende Gewohnheiten,<br />

Gefühle, Gedanken oder sonstige Einflüsse <strong>auf</strong>zudecken. Ferrucci bezeichnet<br />

<strong>die</strong>s <strong>als</strong> eine Art psychischer Hygiene. Der Zugang zu den nicht-bewußten<br />

Schichten des Bewußtseins kann durch "freies Zeichnen" erlangt werden. Man<br />

nimmt Buntstifte und Papier, entspannt und bringt sich in eine ruhige Bewußtheit<br />

und läßt <strong>die</strong> Hand dann zeichnen. Man beobachtet mit einer leichten Neugier, was<br />

da <strong>auf</strong> dem Papier entsteht. Bei der Interpretation versucht man, ohne irgendwelche<br />

Voreingenommenheit "hinzuhören", was das Bild zu sagen hat, später dann<br />

versucht man, es mehr analytisch zu beurteilen. Man läßt alles in Ruhe an sich<br />

vorüberziehen, beobachtet, welche Assoziationen <strong>auf</strong>steigen, welche Gefühle,<br />

Erinnerungen, Gedanken das Bild und der Versuch seiner Analyse wecken oder<br />

zum Vorschein bringen. Nach einer Weile legt man <strong>die</strong> Zeichnung weg und schreibt<br />

nieder, was man an Einsicht gewonnen zu haben glaubt; aber <strong>die</strong>ses Schreiben soll<br />

keine intellektuelle Operation sein, sondern nur der Ausdruck dessen, was mehr<br />

oder weniger von selbst geschieht. 59<br />

Häufig wiederholte Übungen <strong>die</strong>ser Art scheinen unbewußte Ängste oder Charakterzüge<br />

wie verborgenen Geiz, Grausamkeit usw. in großer Deutlichkeit zutage bringen<br />

zu können. Dabei scheint es weiterhin immer so zu sein, daß den negativen, d. h.<br />

beengenden, immer auch <strong>die</strong> positiven, <strong>als</strong>o erweiternden, Eigenschaften in der<br />

Person gegenüberstehen und so eine Verlagerung der Kräfte <strong>auf</strong> jene positive Seite<br />

möglich ist. Entscheidend dafür scheint zu sein, daß man sich offen dar<strong>auf</strong> einläßt,<br />

daß man nicht zurückscheut vor jenen dunkleren Bildern aus dem eigenen Innern,<br />

sondern daß man sie hinnimmt <strong>als</strong> etwas Objektives, etwas, das man verstehen und<br />

ändern kann. 60<br />

Nach <strong>die</strong>sen Beispielen vorbereitender Übungen nun zu einem zentraleren Beispiel.<br />

Diese Übungen sind natürlich nicht für Personen gedacht, <strong>die</strong> kein stabiles Ich entwickelt<br />

haben. Aber Jugendliche z. B., <strong>die</strong> nach einem Sinn ihres Lebens suchen,<br />

58 Zit. nach Ferrucci 1986, S. 32.<br />

59 Vgl. Ferrucci 1982, S. 37-38.<br />

60 Vgl. ebenda, S. 35-42. Whitmore gibt einige andere Übungen zur Durchführung auch mit<br />

Kindern und in der Klasse an. Sie sind gedacht für Kinder ab 7 oder 8 Jahren, aber auch<br />

für Erwachsene. (Vgl. Whitmore 1986, S. 79: The feelings we have; S. 81: Getting to know<br />

your feelings; S. 82: Basic human emotions: Telling it like it is; S. 85: Transforming a<br />

negative feeling.)<br />

217


dürften durchaus Gewinn daraus ziehen können. Diana Whitmore hat sogar<br />

versucht, derartige Übungen in eine für den Klassenunterricht geeignete Form zu<br />

bringen. 61<br />

Aber was den Klassenunterricht betrifft, so kann man starke Zweifel<br />

haben, ob eine Zwangsgemeinschaft, wie sie eine Schulklasse ja immer darstellt,<br />

der geeignete Rahmen für derartige Übungen sein kann und darf. Aber natürlich<br />

kann es, je nach Organisationsform einer Schule, möglich sein, freiwillige Gruppen<br />

zu bilden. In <strong>die</strong>ser Form dürfte nur noch wenig dagegen einzuwenden sein.<br />

Um ein deutlicheres Empfinden des personalen Selbst zu entwickeln, wird folgende<br />

Übung der Selbst-Beobachtung empfohlen 62 :<br />

Man beobachtet zunächst für einige Zeit seinen Körper. Man versucht einfach<br />

nur festzustellen, welche Empfindungen der Körper vermittelt, <strong>die</strong> Füße, <strong>die</strong><br />

den Boden berühren, der Kontakt von Stuhl und Körper, <strong>die</strong> Berührung der<br />

Kleidung, das Schlagen des Herzens, der Atem usw.<br />

Man geht dann über zur Beobachtung der Gefühle, der positiven wie der<br />

negativen: man läßt sein Gefühlsleben an sich wie <strong>auf</strong> einer Leinwand<br />

vorübergleiten und beobachtet ohne jede Wertung, was da ist. Als nächstes<br />

betrachtet man seine Wünsche, dann seine Gedanken, seine Urteile und<br />

Vorurteile (soweit sie sich zeigen), seine Meinungen, Argumente usw.<br />

Schließlich konzentriert man sich im Beobachter, denn Beobachter und<br />

Beobachtetes können nicht dasselbe sein. Das, was beobachtet, einfach nur<br />

bewußt wahrnimmt, was geschieht oder <strong>auf</strong> jener imaginären Leinwand<br />

vorüberzieht, das ist das Selbst, oder zumindest ist es eine leise Andeutung<br />

davon.<br />

Es ist natürlich sehr einfach wahrzunehmen, daß man einen Körper hat, aber nicht<br />

<strong>die</strong>ser Körper ist. Sowie man sich aber z. B. müde fühlt, sagt man sofort, "Ich" bin<br />

müde. Man identifiziert sich unmittelbar mit dem Empfinden der Müdigkeit, des<br />

Schmerzes usw.<br />

Wenn es möglich ist, das Bewusstsein im Selbst zu konzentrieren, müßte es<br />

prinzipiell möglich sein, sich nicht müde zu fühlen, obgleich man <strong>die</strong> Müdigkeit des<br />

Körpers wahrnehmen würde. Tatsächlich kennt fast jeder <strong>die</strong> Erfahrung, wie schnell<br />

eine unüberwindlich scheinende Müdigkeit verschwinden kann, sobald ein Interesse<br />

an einer Sache stark genug ist, genügend Aufmerksamkeit <strong>auf</strong> sich zu ziehen und<br />

<strong>die</strong> Wahrnehmung der Müdigkeit in den Hintergrund zu drängen. Das gilt auch für<br />

61 Vgl. Whitmore 1986, S. 165f.<br />

62 Vgl. Assagioli 1984, S. lllff.; Ferrucci 1982, S. 66-67.<br />

218


<strong>die</strong> Wahrnehmung von Schmerzen oder von störendem Lärm. Hier ist es allerdings<br />

nicht <strong>die</strong> Identifikation mit dem personalen Selbst, sondern <strong>die</strong> Identifikation mit<br />

einer Arbeit, mit einer Idee.<br />

Das bloße Wissen, daß man nicht identisch ist mit seinem Körper, seinen Gefühlen,<br />

Wünschen und Gedanken, ist keine Erfahrung des personalen Selbst. Diese Erfahrung<br />

kann sich aber allmählich entwickeln. Um sie zu erreichen, scheint <strong>die</strong> Übung<br />

in häufig wiederholter Dis-Identifikation ein nicht unwirksames Mittel. Voraussetzung<br />

<strong>die</strong>ser Übung allerdings ist eine gewisse Fähigkeit der Selbst-Beobachtung, <strong>als</strong>o<br />

einer gewissen Distanz zu seinen Gedanken und Gefühlen. Immer wieder, wenn<br />

man gerade spürt, daß man dr<strong>auf</strong> und dran ist, sich z. B. in einer Diskussion zu<br />

engagieren, ein Gefühl oder einen Wunsch übermächtig werden fühlt, versucht man,<br />

eine größere Distanz zu erzeugen, indem man sich sagt, "ich habe ein Argument,<br />

aber ich bin nicht jenes Argument (<strong>als</strong>o hängt auch nichts davon ab, es so engagiert<br />

zu verteidigen, ich will viel lieber in Ruhe sehen, was <strong>die</strong> anderen zu sagen haben<br />

und was wirklich von Bedeutung ist usw.)". Je konsequenter und über je längere Zeit<br />

man <strong>die</strong>s durchführt, umso deutlicher und stabiler wird das Wissen und schließlich<br />

<strong>die</strong> unmittelbare Erfahrung, daß man ein Selbst, ein Zentrum reinen Bewußtseins ist<br />

und nicht alle jene Objekte, <strong>die</strong> es wohl beobachten und handhaben kann, aber <strong>die</strong><br />

es nicht eigentlich ist.<br />

Derartige Übungen sind keineswegs immer harmlos. Insbesondere Personen mit<br />

einer starken Neigung zur Selbstanalyse könnten dadurch zu einer ungesunden<br />

Beschäftigung mit sich selbst verleitet werden und sie von der von ihnen <strong>als</strong><br />

anstrengend empfundenen Teilnahme an der äußeren Welt noch mehr entfernen. 63<br />

Auch bei Neigung zu Zwangsneurosen oder einfach zu Grübelei könnte es zu<br />

Gefährdungen in <strong>die</strong>ser Richtung kommen. Überhaupt kann es <strong>als</strong> unerwünscht<br />

betrachtet werden, wenn durch distanzierende Übungen das "Ego-Involvement"<br />

geschwächt wird.<br />

Das Ziel solcher Dis-Identifikations-Übungen ist jedoch nicht in einer dauerhaften<br />

Distanzierung zu sehen, sondern in einer immer umfassenderen Synthese der Persönlichkeit.<br />

64 Da <strong>die</strong>ser Synthese aber <strong>die</strong> sehr starke Identifikation mit Teilbereichen<br />

entgegensteht, ist zunächst eine Disidentifikation erforderlich. Außerdem ist<br />

63 Vgl. Assagioli 1984, S. 122-124<br />

64 Vgl. Assagioli 1984, S. 123.<br />

219


<strong>die</strong> Synthese nur dann vollständig möglich, wenn das personale Selbst entdeckt<br />

wird und den integrierenden Mittelpunkt bildet.<br />

Auf <strong>die</strong>sem Weg zur Synthese der Persönlichkeit kann <strong>die</strong> Methode der Selbstbeobachtung<br />

vermutlich nur dann ohne unerwünschte Abweichungen oder Nebenwirkungen<br />

zum Ziel führen, wenn zugleich das Denken an Klarheit und Ordnung<br />

gewinnt. In jedem Stadium kann <strong>die</strong> Denkfähigkeit durch meditative Konzentration<br />

<strong>auf</strong> möglichst allgemeine Ideen, Qualitäten oder Zustände (z. B. Wille, Mut, Ruhe,<br />

Klarheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Schönheit) weiter entwickelt werden. Man kann<br />

ganz einfach beginnen. Nehmen wir <strong>die</strong> Idee der Klarheit <strong>als</strong> Beispiel. Man denkt an<br />

einen klaren Tag, <strong>die</strong> Rundsicht reicht von einer erhöhten Stelle aus sehr weit. Was<br />

unterscheidet eine solche Sicht von einer verschwommenen? Was bedeutet Klarheit<br />

bei einem Bild, bei einer schriftlichen Darstellung, in der Musik? Was kann Klarheit<br />

in Bezug <strong>auf</strong> einen Menschen bedeuten, <strong>auf</strong> mich angewandt? Was hindert Klarheit,<br />

was sind ihre Ursprünge usw. Das entscheidende ist, mit dem Denken gerade dann<br />

nicht <strong>auf</strong>zuhören, wenn man glaubt, man habe den Gegenstand erschöpft, er sei<br />

nun uninteressant. Gerade <strong>die</strong>s scheint der Moment zu sein, wo man <strong>die</strong> Grenzen<br />

einer Betrachtungsweise erreicht hat und davor steht, zu einer anderen Ebene oder<br />

Betrachtungsweise durchzustoßen, <strong>die</strong> einem vielleicht neue, klarere und<br />

weiterreichende Ausblicke gewährt. 65<br />

Was das Denken betrifft, so sollte es nicht ein angestrengtes Formulieren von<br />

Gedanken sein, da <strong>die</strong>s zu nichts führt. Man muß vielmehr versuchen, das Denken<br />

<strong>als</strong> eine vom Selbst unabhängige, aber von ihm benutzte Maschinerie zu sehen, <strong>die</strong><br />

man <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Fährte einer Idee setzt. Diese Maschinerie kann man mit einem<br />

Mikroskop oder Fernrohr vergleichen, das uns Bilder von jeder uns interessierenden<br />

Sache liefert. Wir sehen uns <strong>die</strong> Bilder nur an und beurteilen, ob eine Fehleinstellung<br />

vorlag, ob man nur triviale Seiten der interessierenden Sache gesehen<br />

hat oder etwas Neues; man verändert dann <strong>die</strong> Einstellung in der gewünschten<br />

Weise. 66<br />

65 Vgl. Ferrucci 1982, S. 103-105.<br />

66 Vgl. hierzu Ferrucci 1982, S. 10 oder Assagioli 1973, S. 218 ff., siehe ferner Kap. 5.4.4.<br />

220


7.2.6 Selbstausweitung (Übungen)<br />

Selbstbeobachtung führt zur Erkenntnis der Grenzen des Ich-Bewußtseins und<br />

möglicherweise zur Erfahrung des personalen Selbst. Es bedeutet <strong>als</strong>o zugleich<br />

eine Ausweitung der Bewußtheit. Diese Ausweitung kann durch gezieltere Übungen<br />

gefördert werden.<br />

Zunächst scheint es nötig, eine Vorstellung davon zu entwickeln, worin <strong>die</strong>se Ausweitung<br />

bestehen kann. Solange man nur <strong>die</strong> Perspektiven sieht, wie sie uns<br />

gesellschaftlich geboten werden, scheinen wir uns - jedenfalls im subjektiven Rückblick<br />

<strong>auf</strong> <strong>die</strong> Welt- oder Kulturgeschichte - im Kreis zu bewegen. Wer darüber<br />

hinauskommen will, muß versuchen, neue und vor allem weitere Räume zu öffnen.<br />

Und was gibt mehr Raum <strong>als</strong> unsere Fähigkeit zur Imagination? Nicht nur Kinder,<br />

Dichter, Maler, Musiker, sondern auch Wissenschaftler nutzen sie. Einstein versuchte<br />

schon <strong>als</strong> Jugendlicher, sich vorzustellen, wie <strong>die</strong> Welt für ihn aussehen<br />

würde, wenn er <strong>auf</strong> einem Lichtstrahl reiten könnte.<br />

Imagination kann man verstehen wie eine Sonde, <strong>die</strong> man versuchsweise in ein<br />

Gebiet schickt, das einem nicht oder noch nicht direkt bekannt und zugänglich ist,<br />

um näheren Aufschluß darüber zu erhalten. 67 Wenn man <strong>als</strong>o <strong>die</strong>se Art Sonde für<br />

<strong>die</strong> Erkundung der Möglichkeit erweiterter oder auch transpersonaler Bewußtseinszustände<br />

nutzen will, dann ist es zweifellos gut, wenn man weiß, wohin man sie<br />

schicken soll. Diesen Ort kann man durch eine einfache Überlegung finden: Wenn<br />

eine bessere und schönere Welt irgendwo existiert, und ich ihrer bewußt sein oder<br />

werden kann - und da sie in dem, was objektiv vorfindbar ist, nicht ist, ich aber in der<br />

Lage bin, mir eine Vorstellung davon zu bilden -, heißt das, daß sie irgendwo in mir<br />

selber zu finden sein muß.<br />

Von <strong>die</strong>ser Überlegung geht <strong>die</strong> folgende Übung aus, <strong>die</strong> ich Diana Whitmores Buch<br />

entnehme. 68 Notwendig sind Papier und Stift; <strong>die</strong> Übung ist für Gruppen (Alter der<br />

Mitglieder ab acht Jahren) gedacht, kann aber auch einzeln ausgeführt werden:<br />

"Atmen Sie ein und fragen Sie sich: wer bin ich? und lassen Sie eine Antwort<br />

<strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Frage in Ihrem Inneren entstehen. Schreiben Sie <strong>die</strong>se Antwort nun,<br />

wenn Sie möchten, <strong>auf</strong>; aber stellen Sie jedes Mal <strong>die</strong> Frage, schreiben Sie<br />

nicht einfach darüber, wer Sie sind. Versuchen Sie, so tief wie möglich in sich<br />

selbst einzudringen, zum Kern Ihres Wesens vorzustoßen. Fangen Sie <strong>auf</strong><br />

der unmittelbarsten Ebene an und bewegen Sie sich hin zu dem Punkt, an<br />

67 Zur Methode der Imagination vgl. Whitmore 1986, S. 25ff.; Assagioli 1984, S. 143ff.<br />

68 Whitmore 1986, S. 180-182.<br />

221


dem Sie am tiefsten empfinden, wer Sie sind. Sie können <strong>die</strong> Ebenen von<br />

tiefen zu mehr an der Oberfläche liegenden wechseln, aber bewegen Sie sich<br />

allmählich in Richtung <strong>auf</strong> Ihren Kern. (Fünf Minuten).<br />

Nun teilen Sie einem Partner mit, was Sie bisher herausgefunden haben.<br />

Machen Sie ihm dabei deutlich, was Sie <strong>als</strong> den zentralen Kern Ihrer selbst<br />

ansehen, und was zur Peripherie gehört und sich eher an der Oberfläche<br />

befindet. (Zehn Minuten).<br />

Schließen Sie nun wieder Ihre Augen und gehen wieder in sich hinein. Atmen<br />

Sie einen Moment lang tief. Dieses Selbst, das Sie sind, ist ein tiefes Gefühl<br />

des Seins, ein Gefühl unbegrenzten Potenti<strong>als</strong>. Sie haben Ihr Selbst vielleicht<br />

einmal in einem besonderen Augenblick Ihres Lebens erfahren. Erinnern Sie<br />

sich nun an besondere Erfahrungen <strong>die</strong>ser Art, bei denen Sie sich Ihrem<br />

Selbst wirklich nahe gefühlt haben.<br />

Das war vielleicht in der Natur, oder bei Musik, oder mit einem anderen<br />

Menschen. Erschaffen Sie <strong>die</strong>se Erfahrung jetzt noch einmal neu in Ihrer<br />

Vorstellung. Denken Sie nicht nur einfach daran, sondern erleben Sie sie <strong>auf</strong>s<br />

Neue. Wie war das für Sie? Was war das besondere Wesen <strong>die</strong>ser Erfahrung<br />

für Sie? Finden Sie ein Wort, oder Worte, <strong>die</strong> für Sie am besten das Wesen<br />

<strong>die</strong>ses besonderen Augenblicks beschreiben.<br />

Nun erinnern Sie sich bitte einmal an etwas anderes. Rufen Sie sich eine Zeit<br />

in Ihrem Leben ins Gedächtnis zurück, in der Sie das Gefühl hatten, daß alles<br />

genau richtig war. ... Wie war das, zu wissen, daß etwas richtig für Sie war?<br />

... Was war das Besondere <strong>die</strong>ser Erfahrung für Sie? Versuchen Sie wieder<br />

ein Wort oder Worte zu finden, <strong>die</strong> am besten das Wesen <strong>die</strong>ser Erfahrung<br />

des Richtigseins beschreiben.<br />

Nun wechseln Sie wieder Ihre Wahrnehmungen und denken Sie an <strong>die</strong><br />

Menschen, <strong>die</strong> Sie bewundern und respektieren. Diese Menschen können<br />

leben oder tot sein, Sie können sie persönlich kennen oder auch nicht. Wer<br />

sind solche Menschen, <strong>die</strong> Sie wirklich bewundern und respektieren? Während<br />

Sie an <strong>die</strong>se Menschen denken, versuchen Sie, sich <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Eigenschaften<br />

zu konzentrieren, <strong>die</strong> Sie an ihnen bewundern oder respektieren. Was<br />

sind <strong>die</strong> Eigenschaften der jeweiligen Person? Während Sie sich innerlich in<br />

<strong>die</strong> Eigenschaft einfühlen, <strong>die</strong> Sie in <strong>die</strong>sen Menschen respektieren, versuchen<br />

Sie, herauszufinden, ob Sie bereit sind, <strong>die</strong>se Eigenschaft <strong>als</strong> etwas<br />

zu erkennen, das Sie selber auch haben. Man sagt manchmal, daß man nur<br />

dann etwas in jemand anderem spüren kann, wenn man es auch selbst<br />

besitzt, zumindest potentiell. Jetzt schauen Sie, ob Sie bereit sind, <strong>die</strong>se<br />

positiven Projektionen wieder zu erkennen. Jetzt behalten Sie das Wesen<br />

Ihrer außergewöhnlichsten Erfahrung, das Wesen Ihres Gefühls des Richtigseins<br />

und einige positive Projektionen im Kopf. Spüren Sie, daß all das in<br />

Ihnen ist, ein essentieller Teil des Selbst, das Sie wirklich sind. ... Dieser Teil<br />

222


hat einen Wert und einen Sinn ... Versuchen Sie, herauszufinden, ob Sie<br />

bereit sind, <strong>die</strong>sen Qualitäten in ihrem täglichen Leben Ausdruck zu verleihen.<br />

.. Wenn Sie sich dann bereit fühlen, kehren Sie langsam zurück in <strong>die</strong>sen<br />

Raum und nehmen Sie sich einige Minuten Zeit, um Ihre Erfahrungen niederzuschreiben."<br />

69<br />

Nach <strong>die</strong>ser Übung kann man das, was man dabei erfahren und <strong>auf</strong>geschrieben<br />

hat, mit einem Partner besprechen.<br />

Es gibt natürlich eine Fülle solcher Übungen, <strong>die</strong> innere Räume schaffen, Räume für<br />

völlig neue Möglichkeiten. Diese Schaffung neuer Räume ist notwendig, weil <strong>die</strong><br />

alten Denkräume, Gefühlsräume, Sehräume usw. so voller alltäglicher Routinen und<br />

begrenzender Vorstellungen sind. Hier noch zwei weitere raumschaffende imaginative<br />

Übungen:<br />

"Die Sonne<br />

Stellen Sie sich vor, dass Sie in der Morgendämmerung am Strand stehen.<br />

Das Meer ist fast bewegungslos, während <strong>die</strong> letzten hellen Sterne am<br />

Himmel verblassen. Spüren Sie <strong>die</strong> frische und klare Luft. Beobachten Sie<br />

das Wasser, <strong>die</strong> Sterne, den noch dunklen Himmel. Lassen Sie sich etwas<br />

Zeit, <strong>die</strong> Stille vor dem Sonnen<strong>auf</strong>gang zu erleben, <strong>die</strong>se besondere Ruhe,<br />

<strong>die</strong> alle Möglichkeiten birgt. Langsam beginnt <strong>die</strong> Dunkelheit zu weichen und<br />

<strong>die</strong> Farben ändern sich. Der Himmel über dem Horizont wird zuerst rot, dann<br />

golden. Die ersten Strahlen der Sonne erreichen Sie und Sie sehen, wie <strong>die</strong><br />

Sonne allmählich über dem Wasser emporsteigt. Die Sonne hat sich wie eine<br />

Scheibe jetzt halb aus dem Wasser gehoben, halb liegt sie noch unter dem<br />

Horizont. Dadurch bildet sie <strong>auf</strong> dem Wasser eine Bahn goldenen, glänzenden<br />

Lichtes zu Ihnen. Die Wassertemperatur ist angenehm und so entschliessen<br />

Sie sich, hineinzugehen. Sie fühlen Freude, während Sie langsam in der<br />

goldenen Bahn des Wassers zu schwimmen beginnen. Sie spüren, wie das<br />

lichterfüllte Wasser Ihren Körper berührt. Sie bewegen sich ohne jede Anstrengung<br />

im Wasser. Während Sie der Sonne entgegenschwimmen, spüren<br />

Sie immer weniger das Wasser; dafür wird das Licht um Sie herum immer<br />

mehr und heller. Sie fühlen sich wohlig geborgen in goldenem Licht, das Ihren<br />

Körper völlig durchdringt. Jetzt badet Ihr ganzer Körper in der vitalen Kraft der<br />

Sonne. Ihr ganzes Wesen ist durchdrungen und erfüllt und erleuchtet von<br />

Wärme und Licht." 70<br />

69 Whitmore 1986, S. 180-181.<br />

70 Ferrucci 1986, S. 156.<br />

223


"Die Glocke<br />

Stellen Sie sich vor, dass Sie <strong>auf</strong> einer Wiese im Gras liegen, umgeben von<br />

sanften Hügeln. Nehmen Sie den weichen Boden wahr, <strong>auf</strong> dem Sie liegen<br />

und spüren Sie den Duft der Blumen, von denen Sie umgeben sind. Blicken<br />

Sie in den Himmel über sich. Ganz in der Nähe steht eine kleine Kirche und<br />

Sie hören ihre Glocke klingen. Ihr Klang ist zugleich voll Reinheit und Freude.<br />

Die Glockentöne klingen an Ihr Ohr. Es ist Ihr Klang, den Sie hören und er erweckt<br />

<strong>die</strong> Freude, <strong>die</strong> unbekannt in Ihnen ruht. Nun hören Sie wieder <strong>die</strong><br />

Glocke. Dieses Mal ist ihr Klang lauter. Spüren Sie <strong>die</strong> Resonanz <strong>die</strong>ses<br />

Klanges in sich. Werden Sie sich bewusst, wie Ihre in Ihnen ruhenden<br />

Möglichkeiten und Kräfte dadurch geweckt werden. Hören Sie dem Klang zu,<br />

wie er langsam vergeht, wie der Moment kommt, wo der Ton ganz <strong>auf</strong>hört<br />

und <strong>die</strong> Stille beginnt.<br />

Und jetzt hören Sie noch einmal <strong>die</strong> Glocke tönen. Der Klang ist jetzt<br />

irgendwie noch viel näher und Sie spüren, wie er in Ihnen vibriert. Sie spüren<br />

seine Schwingung in jeder Faser Ihres Körpers, in jedem Nerv. Und jetzt,<br />

vielleicht nur für eine Sekunde werden Sie zu <strong>die</strong>sem Ton, rein, grenzenlos<br />

und schwingend." 71<br />

Wenn es mit Hilfe derartiger Übungen gelingt, den Rahmen für eigene Vorstellungen<br />

zu erweitern, so bedeutet das <strong>die</strong> Entwicklung von Wahrnehmungsräumen, <strong>die</strong><br />

offener sind <strong>als</strong> <strong>die</strong>, <strong>die</strong> man bis dahin hatte. Man kann daher Dinge zulassen, <strong>die</strong><br />

man vorher abgelehnt, ausgesperrt hätte. So wie <strong>die</strong> Weite des irdischen Raumes<br />

offen ist für Dinge und Prozesse, hat auch geistiger Raum eine grundsätzlich<br />

gewährende Eigenschaft, wie Tulku ausführt. Wenn man Erscheinungen betrachten<br />

und beschreiben könnte, "ohne einengende Positionen einzunehmen", dann würde<br />

sich <strong>die</strong>s <strong>als</strong> "ein Zulassen vieler verschiedener Sichtweisen" manifestieren,<br />

"<strong>die</strong> alle im RAUM hervorquellen, dahinfließen und einander begegnen.<br />

Obwohl in vollkommener Ruhe, ist RAUM doch von Erscheinungen angefüllt.<br />

Aus <strong>die</strong>sem Grunde ist RAUM nicht statisch, sondern eine friedvolle<br />

Explosion sich weiter und weiter entfaltender Kreativität, <strong>die</strong> alle Äonen von<br />

Vergangenheiten und Zukünften ausfüllt, ohne damit seine Offenheit zu<br />

erschöpfen oder seiner Befähigung Grenzen zu setzen, eine noch größere<br />

Fülle von Anwesenheiten zu offenbaren. In seinem Hervortreten ist alles Teil<br />

eines Balletts, das vom RAUM getanzt wird. Der Tanz ist grenzenlos, weitschwingend,<br />

ja unermeßlich. Jeder Tänzer springt <strong>auf</strong>, sondert sich ab und<br />

tritt wieder zurück, ohne jem<strong>als</strong> von der Offenheit des RAUMES getrennt zu<br />

sein, Farben, Formen, alle Erfahrung - Kunst, Musik, Philosophie - sind Ausdrucksweisen<br />

des RAUMES. Auch wenn sie in ihrem Tanz ineinander ver-<br />

71 Ferrucci 1986, S. 159-160.<br />

224


woben sind und sich gegenseitig vollkommen durchdringen, bleiben sie doch<br />

eine freifließende Anwesenheit durchscheinender Konturen und Oberflächen.<br />

Jede Verwicklung, jedes Zusammentreffen ist ein tiefes und geheimnisvolles<br />

Spiel von zentraler Wichtigkeit, welches das nicht nachweisbare, mittelpunktlose<br />

Zentrum der Wirklichkeit markiert. Jede individuelle Anwesenheit ist<br />

<strong>die</strong>ses unbegrenzte, mittelpunktlose Zentrum ... RAUM.“ 72<br />

Als Beispiel für <strong>die</strong>se gewährenlassende Wirkung erweiterter Räume der Wahrnehmung<br />

sei hier eine Erfahrung eines Grundschullehrers wiedergegeben, nachdem er<br />

solche Übungen gemacht hatte.<br />

"Ich saß im Garten, wo <strong>die</strong> Kinder spielten. Ich sah ihnen zu, wie sie umherrannten,<br />

mit dem Fussball spielten, oder auch wie sie manchmal ganz in<br />

meiner Nähe saßen. Dann begann ich plötzlich, einen größeren Zusammenhang<br />

wahrzunehmen. Ich sah jetzt all <strong>die</strong>se Wesen sich bewegen, <strong>als</strong> seien<br />

wir alle Zellen eines größeren Organismus. Und ich spürte auch eine Ahnung,<br />

<strong>die</strong> wir Schicksal nennen, (<strong>die</strong> aber nichts mit menschlicher Freiheit zu tun<br />

hat), <strong>als</strong> wenn man unter einem Mikroskop <strong>die</strong> Bewegungen eines Mikroorganismus<br />

beobachtet und gleichzeitig spürt, dass das alles Teil eines größeren<br />

Entwurfes und Musters ist. Ich spürte plötzlich große Freude, ein Gefühl der<br />

Befreiung von allen Emotionen. Wenn ich mich jeweils an <strong>die</strong>se Erfahrung<br />

erinnere, schmilzt ein Teil meiner Steifheit und Angst, und ich spüre mehr<br />

direkten Kontakt mit anderen." 73<br />

Wir sehen <strong>als</strong>o, wie derartige Übungen dazu beitragen, das individuelle Bewußtsein,<br />

das so <strong>auf</strong> <strong>die</strong> täglichen Wahrnehmungen, Sichtweisen und Theorien eingerastet ist,<br />

zu lockern, es flexibel und weit zu machen, so daß es schließlich möglich wird, <strong>die</strong><br />

Wahrnehmungen höherer Zentren <strong>auf</strong>zunehmen, d.h. ihrer bewußt zu sein. Es ist,<br />

<strong>als</strong> würden wir ein Loch in jene Mauer schlagen, <strong>die</strong> uns aber auch vor dem<br />

Unbegrenzten in uns sichert. Doch manchmal erhaschen einige dort einen kurzen<br />

und überwältigenden Eindruck unseres überbewußten Seins.<br />

Das vielleicht größte Hindernis für <strong>die</strong> Erreichung <strong>die</strong>ses Zieles kann in der<br />

beständigen Aktivität des Denkens gesehen werden. Sobald irgendetwas sich regt,<br />

tritt es sofort in Aktion und meint, <strong>die</strong> Sache analysieren zu müssen. Übungen, wie<br />

sie oben dargestellt wurden, sollen <strong>die</strong>ser einengend zugreifenden Einstellung<br />

entgegenwirken und ein Geschehenlassen herbeiführen. Das Bewußtsein wird<br />

schließlich zu etwas wie einer "reflektierenden Oberfläche", wie eine Art Spiegel<br />

72 Tulku 1983, S. 23.<br />

73 Zit. Nach Ferucci 1986, S. 279-280.<br />

225


oder wie "<strong>die</strong> Oberfläche eines Sees“. 74 Tulku beschreibt <strong>die</strong>s so, daß alles, "was<br />

sich Ihnen nähert, ... angenommen und reflektiert" wird, "ohne daß Ihre Bewußtheit<br />

irgend etwas tun würde." 75 Weiter, empfiehlt Tulku, soll man auch <strong>die</strong> Vorstellung<br />

<strong>auf</strong>geben, daß einem selbst etwas dargeboten werde, wie auch <strong>die</strong> Vorstellung, daß<br />

<strong>die</strong> Fähigkeit des Wissens <strong>die</strong> eigene sei. Das läuft <strong>auf</strong> den Versuch der Aufhebung<br />

der Subjekt-Objekt-Dichotomie hinaus. Schließlich aber sollte das Bestreben dar<strong>auf</strong><br />

gerichtet sein, das Denken beliebig an- und abstellen zu können. Napoleon scheint<br />

<strong>die</strong>s beherrscht zu haben, wenn er sagte:<br />

"Wenn ich meine Gedanken von einer Sache abwenden will, so schließe ich<br />

das Fach, in dem sie liegt, und öffne ein anderes ... Wenn ich meine<br />

Gedanken von einer Sache abwenden will, so schließe ich das Fach, in dem<br />

sie liegt, und öffne ein anderes. Wenn ich schlafen möchte, so schließe ich<br />

alle Fächer und bin rasch eingeschlafen." 76<br />

7.2.7 Gefahren und Nutzen<br />

Der Gewinn an Lebensbefriedigung durch erweiterte Bewußtseinszustände mag für<br />

Einzelne erheblich sein. Es ist aber auch zu bedenken, welche Gefährdungen ein<br />

solches Unterfangen bei manchen mit sich bringen kann. (Es versteht sich von<br />

selbst, daß "Gefahren und Nutzen" Bewertungen im Hinblick <strong>auf</strong> gesellschaftlich<br />

bedeutsam erachtete Kriterien darstellen.)<br />

Am harmlosesten erscheint <strong>die</strong> Möglichkeit der Selbsttäuschung. Jemand glaubt<br />

von sich, er habe besondere Erfahrungen und <strong>die</strong>se berechtigten ihn zu besonderen<br />

Ansprüchen. Sofern ein solcher Mensch sich durchsetzt und von anderen anerkannt<br />

wird, wird er <strong>die</strong>se <strong>auf</strong> Wege führen können, <strong>die</strong> mit dem eigentlichen Ziel nichts<br />

mehr gemein haben. Er wird vielleicht sektenhaft sich gebärdende Gruppierungen<br />

<strong>auf</strong>bauen, <strong>die</strong> im sozialen Gefüge ebenso wie bei den nachfolgenden Individuen zur<br />

Erzeugung von Spannungen beitragen können. Die Gruppe kann sich in einen<br />

Fanatismus steigern, der schlichte Übungsbestandteile zu Dogmen erklärt, das<br />

Verhalten in starre Rituale zwängt und eine blinde Gefolgschaft fordert. Einzelne<br />

dagegen, <strong>die</strong> keine Anziehungskraft <strong>auf</strong> andere besitzen, können sich selbst in eine<br />

Situation sozialer Isolierung manövrieren.<br />

74 Tulku 1983, S. 232.<br />

75 Ebenda, S. 232 f.<br />

76 Zit. nach Durant 1982, Bd. 17, S. 287.<br />

226


In <strong>die</strong>sem Zusammenhang kann dann auch eine Tendenz zur Selbstverstümmelung<br />

oder Fakirtum <strong>auf</strong>treten, indem "eine negative Einstellung zu den Elementen der<br />

sogenannten niederen Natur, zur Sexualität, zum Intellekt und zum Ich" 77 , zur<br />

Unterdrückung <strong>die</strong>ser Elemente Anlaß geben kann anstelle zu ihrer Integration.<br />

Dieser Versuch kann seinerseits zur Entwicklung von Neurosen und Psychosen<br />

beitragen, oder man entzieht sich der Wirklichkeit und lebt in einer Traumwelt, d.h.<br />

es kann eine Regression in eine Art von verlorenem Kindheitspara<strong>die</strong>s erfolgen. 78<br />

Diese Gefahren sind zweifellos ernst zu nehmen. Aber man braucht daraus kein<br />

Vorurteil oder eine sonstige Ablehnung des Ziels und der Methoden der Bewußtseinserweiterung<br />

zu konstruieren. Es ist zudem eine Alltagsweisheit, daß nahezu<br />

jedes Mittel zur Erreichung von entgegengesetzten Zielen benutzt werden kann.<br />

Man kann einen Hammer verwenden, um ein Haus zu bauen; und man kann ihn<br />

verwenden, um es zu zerstören.<br />

Weiterhin sollte berücksichtigt werden, daß es bei den hier erwähnten Methoden<br />

nicht um eine Herbeiführung von Bewußtseinserweiterung oder -veränderung mittels<br />

Drogen oder Hypnose und ähnlichem geht, wodurch das Individuum in einen<br />

passiven Zustand versetzt wird, sondern um eine Aktivierung der individuellen<br />

Kräfte, insbesondere des Willens. Letzteres trifft auch <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Methoden des Yoga<br />

zu, was James in folgender Anmerkung mit einem Zitat belegt:<br />

"Ein europäischer Zeuge, der <strong>die</strong> Ergebnisse von Yoga sorgfältig mit denen<br />

der hypnotischen und Traumzustände verglichen hat, <strong>die</strong> wir künstlich herbeiführen<br />

können, sagt: 'Yoga macht aus seinen treuen Schülern gute, gesunde<br />

und glückliche Menschen ... Dadurch, daß der Yogi Meister über seine<br />

Gedanken und seinen Leib wird, wird er zu einem Charakter. Indem er seine<br />

Antriebe und Neigungen seinem Willen unterwirft und den letzteren <strong>auf</strong> das<br />

Ideal der Güte fixiert, wird er eine Persönlichkeit, <strong>die</strong> von anderen schwer zu<br />

beeinflussen ist und so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir uns<br />

gewöhnlich unter einem sogenannten Medium oder 'spiritistischen Subjekt'<br />

vorstellen." 79<br />

Worin bestehen nun im einzelnen <strong>die</strong> möglichen Folgen der in den vorangegangenen<br />

Kapiteln erwähnten Übungen, <strong>die</strong> sowohl in individueller <strong>als</strong> in sozialer<br />

Hinsicht positiv bewertet werden können?<br />

77 Chandhuri 1978, S. 389.<br />

78 Vgl. ebenda, S. 388.<br />

79 James 1979, S. 569; das Zitat, das James anfügt, ist entnommen aus: Karl Kellner, Yoga:<br />

Eine Skizze, München 1896, S. 21.<br />

227


Ein erstes und nicht unwesentliches Ergebnis <strong>die</strong>ser Übungen dürfte sein, daß man<br />

eine zunehmende Herrschaft über das Denken gewinnt oder verspürt, daß man sie<br />

gewinnen kann. Das bedeutet eine zunehmende Fähigkeit der Unterscheidung von<br />

Gedanken, Gefühlen, Handlungen in solche, <strong>die</strong> mit den allgemeinsten oder<br />

höchsten Idealen, <strong>die</strong> man hat, übereinstimmen, und in solche, <strong>die</strong> nicht damit<br />

übereinstimmen. Je besser es einem gelingt, "seine" Gedanken zu überblicken,<br />

umso besser kann man Unterschiede erkennen und eine Ordnung herstellen.<br />

Die Beherrschung des Denkens beinhaltet auch <strong>die</strong> Fähigkeit, Urteile zurückzuhalten,<br />

Gegenstände, Menschen, Worte usw. an sich zu betrachten und nicht so<br />

sehr in Bezug <strong>auf</strong> sich selbst und seine Vorstellungen. Dies ist, wie Goethe in<br />

seinem Wilhelm Meister ausführt, von grundlegender Bedeutung im Bildungsprozeß:<br />

"Das Schwerste finde ich <strong>die</strong> Art von Absonderung, <strong>die</strong> der Mensch in sich<br />

selbst bewirken muß, wenn er sich überhaupt bilden will; deswegen finden wir<br />

so viel einseitige Kulturen, wovon doch jede sich anmaßt über das Ganze<br />

abzusprechen ... Wie schwer ist es, was so natürlich scheint, eine gute<br />

Statue, ein treffliches Gemälde an und für sich zu beschauen, den Gesang<br />

um des Gesangs willen zu vernehmen, den Schauspieler im Schauspieler zu<br />

bewundern, sich eines Gebäudes um seiner eigenen Harmonie und seiner<br />

Dauer willen zu erfreuen. Nun sieht man aber meist <strong>die</strong> Menschen entschiedene<br />

Werke der Kunst geradezu behandeln, <strong>als</strong> wenn es ein weicher Ton<br />

wäre. Nach ihren Neigungen, Meinungen und Grillen soll sich der gebildete<br />

Marmor sogleich wieder ummodeln, das festgemauerte Gebäude sich<br />

ausdehnen oder zusammenziehen, ein Gemälde soll lehren, ein Schauspiel<br />

bessern, und alles soll alles werden. Eigentlich aber weil <strong>die</strong> meisten<br />

Menschen selbst formlos sind, weil sie sich und ihrem Wesen selbst keine<br />

Gestalt geben können, so arbeiten sie, den Gegenständen ihre Gestalt zu<br />

nehmen, damit ja alles loser und lockrer Stoff werde, wozu sie auch gehören.<br />

Alles reduzieren sie zuletzt <strong>auf</strong> den sogenannten Effekt, alles ist relativ, und<br />

so wird auch alles relativ, außer dem Unsinn und der Abgeschmacktheit, <strong>die</strong><br />

denn auch ganz absolut regiert." 80<br />

Wenn das Streben nach erweiterter Bewußtheit in <strong>die</strong>ser Weise zur besseren,<br />

willentlichen Beherrschung des Denkens führt, dann ist <strong>die</strong>s zweifellos kein kleiner<br />

Gewinn. Darüber hinaus läßt sich aber lernen, immer bewußter mit seinen Gefühlen<br />

und Handlungen umzugehen. Auf individueller Ebene kann man den Wert daher<br />

darin sehen, daß das Individuum nicht mehr in gleicher Weise seinen vielfältigen<br />

Impulsen ausgesetzt ist, sondern über Selbstbeherrschung verfügt. Man merkt<br />

80 Goethe 1977 (11795-1796), B. Buch, 7, Kap., S. 614-615.<br />

228


eispielsweise eher, wenn man dabei ist, eine Dummheit zu sagen oder zu tun, ein<br />

Gefühl oder einen Wunsch zuhaben, der, wenn man ihm folgte, anderen schaden<br />

würde. Damit ist zugleich der Wert <strong>auf</strong> der zwischenmenschlichen Ebene angesprochen.<br />

Es besteht eine sehr viel größere Chance gegenseitiger Verständigung.<br />

Weiterhin wird durch <strong>die</strong> Ausführung <strong>die</strong>ser Übungen der Wille entwickelt. 81 Ist man<br />

erst einmal soweit, daß man einige Übungen aus eigenem Antrieb täglich<br />

durchführt, dann vermittelt <strong>die</strong>s bereits ein Gefühl der Selbstbeherrschung und der<br />

möglichen Kräfte, <strong>die</strong> man konzentrieren und zur Anwendung bringen kann (wenn<br />

man sich damit identifiziert, dann sind es natürlich <strong>die</strong> "eigenen" Kräfte). Ebenso<br />

kann aber auch erst einmal deutlich bewußt werden, wie begrenzt der Wille ist, den<br />

man gewöhnlich zur Anwendung bringen kann; denn vermutlich befinden wir uns<br />

nur selten <strong>auf</strong> dem Höhepunkt unserer Leistungsfähigkeit, wie auch im folgenden<br />

Zitat von James deutlich wird.<br />

"Die meisten von uns haben das Gefühl, daß eine Art Wolke uns niederdrückt<br />

und uns unterhalb des höchstmöglichen, von uns erreichbaren Punktes der<br />

Klarheit in der Urteilskraft, Sicherheit im Schlußfolgern oder Festigkeit in<br />

Entscheidungen festhält. Verglichen mit dem, was wir sein könnten, sind wir<br />

eigentlich im Halbschlaf." 82<br />

Das, was dem Willen <strong>die</strong> größte Schwungkraft gibt, ist vermutlich <strong>die</strong> Fähigkeit,<br />

Abstand zu nehmen, zu beobachten, was in einem selbst vor sich geht, und dann<br />

<strong>die</strong> Dinge zu wählen, <strong>die</strong> am ehesten in Übereinstimmung mit den allgemeinsten<br />

regulativen Ideen oder Idealen sind. Durch den Abstand (Dis-Identifikation) wird es<br />

zunehmend möglich (man darf natürlich nicht glauben, daß <strong>die</strong>s von heute <strong>auf</strong><br />

morgen der Fall sein kann) zu erkennen, wo man sich durch Argumente, Gefühle<br />

usw. selbst zu betrügen sucht. Und so wird es weiterhin möglich, den Willen<br />

zunehmend zu vereinheitlichen (vgl. Kap. 5.4.3). Manche allgemeinen Ideen oder<br />

Motive haben (vgl. <strong>die</strong> Annahmen und Ausführungen in Kap. 5.4 u. 6.1) ihren<br />

Ursprung in den Regionen des überbewußten Selbst. Sind <strong>die</strong>se höheren Instanzen<br />

in einem Individuum wirksam, dann haben begrenzte Wünsche, Gefühle und<br />

Gedanken keine Kraft. Man befreit sich durch Dis-Identifikation von ihnen: was<br />

bleibt, ist <strong>die</strong> Kraft jener allgemeinen Ideen und Ideale, <strong>die</strong> von großer Weite sind<br />

und reine Freude zu vermitteln scheinen. Ein Arzt beispielsweise beschreibt<br />

folgende Erfahrung:<br />

81 Zu speziellen Übungen des Willens vgl. Assagioli 1984, S. 131f; Assagioli 1973; Ferrucci<br />

1982, S. 74f; Whitmore 1986; S. 128f.<br />

82 Vgl. James 1941, S. 237.<br />

229


"Als ich wenige Minuten nach der Meditation über 'Ruhe' zu Bett gehe, habe<br />

ich den Eindruck, zur Schwelle des Selbst zu gelangen; ich verspüre ein<br />

Gefühl der Ausdehnung, Macht und herrlichen Weite. Mit etwas Humor sage<br />

ich mir, dass es vielleicht dennoch etwas verfrüht ist ... Dann schlafe ich ein.<br />

Am Tage dar<strong>auf</strong>, während der Besuche und Gespräche mit meinen Patienten<br />

habe ich oft das Gefühl, von Licht durchdrungen zu sein, <strong>als</strong> ginge oder<br />

gleitete ich durch Lichtzonen, Waldwege entlang, <strong>die</strong> in sonnige Lichtungen<br />

münden. Ich fühle mich ruhig und voll Licht." 83<br />

Nicht nur das Selbst-Gefühl, auch <strong>die</strong> Wirkung <strong>auf</strong> andere wird in <strong>die</strong>sem Zustand<br />

harmonischer und positiver sein, <strong>als</strong> wenn man von begrenzten Vorstellungen, einer<br />

starren Moral usw. beherrscht ist. Man übertrage den oben beschriebenen Zustand<br />

des Arztes beim Umgang mit seinen Patienten in Gedanken <strong>auf</strong> einen Lehrer und<br />

vergegenwärtige sich <strong>die</strong> mögliche pädagogische Wirkung. Sie wird kaum <strong>als</strong><br />

negative bewertet werden können.<br />

83 Zit. nach Ferrucci 1986, S. 135<br />

230


8. DER EINFLUSS VON SCHULE UND LEHRERN<br />

8.1 Grenzen und Möglichkeiten von Bildungsinstitutionen<br />

<strong>Institution</strong>en sind nur teilweise etwas konkret Faßbares. In gewisser Weise könnte<br />

man sagen, daß sie in jedem Moment <strong>auf</strong>s Neue geschaffen und <strong>auf</strong>rechterhalten<br />

werden durch <strong>die</strong> Annahmen oder Zuschreibungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Einzelnen sich von ihnen<br />

machen. Diese Prägung des Denkens, Fühlens und Handelns gewährleistet <strong>die</strong><br />

regelhaften Beziehungen des Einzelnen in bestimmten Einrichtungen, <strong>die</strong> dadurch<br />

<strong>die</strong> Stabilität erhalten. Die meisten unserer <strong>Institution</strong>en sind lediglich in schriftliche<br />

Regeln und Anweisungen gegossene Verfestigungen und Verhärtungen solcher<br />

Gewohnheiten oder Traditionen. <strong>Institution</strong>en sind so das Werk der Zusammenarbeit<br />

zahlreicher Individuen – und zwar über viele Generationen hinweg –, <strong>die</strong>,<br />

indem sie irgendwelchen ihnen sinnvoll scheinenden Zielen, Gewohnheiten, Annahmen<br />

folgen, <strong>die</strong>se Einrichtungen mitschaffen, verfestigen und erhalten.<br />

Allerdings haben <strong>die</strong> so geschaffenen <strong>Institution</strong>en auch ein Eigenleben und üben<br />

sehr deutliche und weitreichende Einflüsse <strong>auf</strong> <strong>die</strong> Individuen aus, formen ihre Ziele,<br />

ihre Hoffnungen, ihren Glauben, ihr Verhalten. So ist es nicht verwunderlich, daß in<br />

Bildungsinstitutionen <strong>die</strong> Selbständigkeit von Individuen vor allem im Hinblick <strong>auf</strong><br />

den Erhalt der <strong>Institution</strong>en selbst beurteilt und beeinflußt wird. Den meisten<br />

<strong>Institution</strong>en kommt <strong>als</strong>o - aus der Sicht des "fortschrittlich" gesinnten Individuums -<br />

in hohem Maße ein retar<strong>die</strong>rendes Moment zu bzw. - aus der Sicht des eher<br />

konservativ gesinnten Individuums - eine Funktion der Stabilisierung.<br />

8.1.1 Selbständigkeit <strong>als</strong> Bildungsziel<br />

Eine grundlegende Bedingung der Entwicklung individueller Bewußtheit ist, so<br />

wurde oben (vgl. Kap. 7.1) ausgeführt, <strong>die</strong> Gewährung von Freiräumen, <strong>die</strong><br />

selbstbestimmtes Handeln bzw. Selbständigkeit ermöglichen. Nun geben <strong>die</strong><br />

meisten Bildungsinstitutionen vor, eines ihrer wesentlichen Ziele sei <strong>die</strong> Förderung<br />

von Selbständigkeit. In gewisser Weise mag das durchaus zutreffen, aber das<br />

bedeutet nicht, daß man auch danach handelt. Man kann es aber auch so sehen,<br />

231


daß einfach ein Mißverständnis bzw. ein sehr einseitiges oder begrenztes<br />

Verständnis des Ziels der Selbständigkeit besteht.<br />

In der Regel sind in Schulen <strong>die</strong> Ziele und <strong>die</strong> Wege der Zielerreichung durch mehr<br />

oder weniger traditionell gegebene und gewohnte Schemata festgelegt. Selbständigkeit<br />

wird wesentlich <strong>als</strong> <strong>die</strong> Zustimmung der Lernenden zu <strong>die</strong>sen Zielen und<br />

Wegen und <strong>als</strong> <strong>die</strong> Erfüllung gegebener Aufgaben ohne äußeren Druck verstanden.<br />

Strebt man aber eine den individuellen Gegebenheiten entsprechende Entwicklung<br />

der Fähigkeiten, des Wissens oder der Persönlichkeit an, dann darf man nur einen<br />

mehr oder weniger allgemein bestimmten Rahmen von Bildungsmöglichkeiten<br />

vorgeben, innerhalb dessen der Einzelne eigene Ziele und Wege zu ihrer<br />

Erreichung wählen kann, wobei <strong>die</strong> innerhalb des Rahmens bereitgestellten<br />

Materialien ebenso wie <strong>die</strong> Lehrer, lediglich Hilfe und Anregung geben. 84<br />

Ein wesentliches Ziel selbstbestimmten Lernens ist <strong>die</strong> Bewußtwerdung von Zusammenhängen.<br />

Im Unterschied zum üblichen Schulunterricht kann hier berücksichtigt<br />

werden, daß am ehesten da etwas bewußt wird, wo zuvor eine Unklarheit gefühlt<br />

wurde, wo eine Frage war. Eine Frage zu haben, bedeutet Interesse an etwas zu<br />

haben. Eigene Interessen zu verfolgen, ist etwas, das sich nicht gut in ein detailliert<br />

vorgegebenes Curriculum einpassen läßt. Vom Curriculum abweichende Interessen<br />

bilden daher für <strong>die</strong> übliche schulische Organisation eher Störfaktoren. Darüber<br />

hinaus bedeutet <strong>die</strong> Verfolgung eigener Interessen, daß <strong>die</strong> Lernenden mehr oder<br />

weniger eigene Wege gehen, und daß sie Ordnungsschemata finden werden, <strong>die</strong><br />

wenigstens teilweise individuelle Züge <strong>auf</strong>weisen. 85<br />

All <strong>die</strong>s ist zweifellos etwas Ungewöhnliches im Rahmen der meisten Bildungsinstitutionen.<br />

Aber wo immer Versuche <strong>die</strong>ser Art durchgeführt worden sind, scheint<br />

der Erfolg <strong>die</strong>sen Ansatz zu bestätigen, wie in dem weiter oben erwähnten Beispiel<br />

oder in Montessori-Schulen oder auch an Hochschulen. 86 In der jüngeren Ge-<br />

84 Dies ist ein Grundsatz z.B. von Montessori-Schulen, aber auch in den staatlichen Schulen<br />

scheinen hier offenbar entsprechende Wandlungen im Gang zu sein, wie man an den<br />

neuen Richtlinien für <strong>die</strong> Grundschulen in Nordrhein-Westfalen erkennen kann. Vgl. Der<br />

Kultusminister von NordrheinWestfalen 1985.<br />

85 Dies ist verbunden mit intrinsischer Motivierung und dem Streben nach Autonomie. Dem<br />

Streben nach Autonomie wird besonders auch im Fernstudium große Bedeutung beigemessen.<br />

Vgl. z.B. Holmberg 1985, S. 16-18.<br />

86 Vgl. hierzu Bert/Guhlke 1977; zur Montessori-Pädagogik vgl. beispielsweise Montessori<br />

1976; Helming 1975. Über eine Reihe verschiedener Versuche selbständigen Lernens an<br />

Schule und Hochschule, einschließlich einer theoretischen Untermauerung, berichtet<br />

Rogers 1974.<br />

232


schichte der Pädagogik gibt es zahlreiche Beispiele für Versuche in Richtung einer<br />

Erziehung zur Selbständigkeit, wie in der Reformpädagogik in den USA und in<br />

Deutschland. Auch <strong>die</strong> Waldorfschulbewegung scheint von der "Theorie" her<br />

Ansätze zur Förderung von Selbständigkeit zu vertreten.<br />

In der allgemeinen Bildungspraxis jedoch stößt <strong>die</strong> Durchsetzung derartiger Modelle<br />

<strong>auf</strong> Widerstand, oder es wird bei einer Übernahme mehr Wert <strong>auf</strong> <strong>die</strong> äußeren<br />

Organisationsformen, <strong>als</strong>o <strong>auf</strong> einen Schematismus, gelegt <strong>als</strong> <strong>auf</strong> den Geist, der<br />

jenem Schema erst Leben einhauchen muß.<br />

Als Beispiel für letzteres können Gesamtschulen <strong>die</strong>nen, deren übergeordnete Ziele<br />

zwar Durchlässigkeit und Chancengleichheit sind, und <strong>die</strong>, solange sie in der<br />

Versuchsphase waren und daher besonders engagierte Lehrer anzogen, zumindest<br />

teilweise Schulen von "besonderer Qualität" gewesen sein dürften. Als dann mit<br />

ihrer Ausbreitung <strong>die</strong> Organisationsform <strong>als</strong> solche im Mittelpunkt stand, fingen sie<br />

an, Schulen zu werden wie andere auch, mit dem Unterschied der Aufhebung der<br />

Dreigliedrigkeit, was selbstverständlich große Vorzüge hat, an sich aber noch kein<br />

Klima schafft, das Engagement und Einsatz der Lehrer für <strong>die</strong> Schüler hervorbringt.<br />

Es gibt natürlich immer Beispiele engagierter Lehrer, wie auch von außergewöhnlichen<br />

Menschen in anderen Berufen. Was sie leisten, übersteigt den Durchschnitt<br />

und zeigt so, welche Möglichkeiten in uns verborgen liegen. 87<br />

Engagement ist für <strong>Institution</strong>en jedoch nicht immer unproblematisch. Engagement<br />

bedeutet eine starke Identifikation mit Zielen. Selbst wenn <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Ziele der<br />

<strong>Institution</strong> sind, sind solche Identifikationen in der Regel mit einem individuellen<br />

Verständnis, einer individuellen Interpretation der Ziele verbunden. Die so<br />

entstehenden Abweichungen können zu Pflichtenkollisionen führen, was von der<br />

Seite der institutionellen Organisation her <strong>als</strong> unerwünscht betrachtet wird. Es ist<br />

somit leicht vorstellbar, daß ein Engagement von Lehrern für das Ziel der<br />

Selbständigkeit im Sinn von Bewusstseins- und/oder Persönlichkeitsentwicklung<br />

Probleme hervorrufen würde. Auch <strong>die</strong> allgemeine Atmosphäre oder der Geist, der<br />

in den meisten Bildungsinstitutionen herrscht, dürfte <strong>als</strong> überragendes Ziel<br />

87 Vgl. z.B. den Bericht einer Sonderschullehrerin, <strong>die</strong> ein schwergeschädigtes Mädchen,<br />

das versuchte, einen kleinen Jungen zu töten, zur "Normalität" zurückführte (Hayden<br />

1981).<br />

233


keinesfalls jenes Streben nach Bewußtheit enthalten, sondern andere Ziele in den<br />

Vordergrund stellen. 88<br />

Im Rahmen staatlicher Schulsysteme ergibt sich ein weiteres Problem. Denn wie<br />

könnte der Staat für alle Schüler einer Nation ein Curriculum einrichten mit dem<br />

verbindlichen Ziel der Bewußtseins- oder Persönlichkeitsentwicklung? Da <strong>die</strong><br />

Schulen <strong>als</strong> <strong>Institution</strong>en ja von den Bürgern getragen werden müssen, d.h. ihrem<br />

Denken und Fühlen zumindest im Grundsatz entsprechen sollten, ist ein solches<br />

Ziel nicht einfach zu verordnen. Denn Menschen können auch andere Ziele haben,<br />

denen sie höchste Priorität zumessen. Ein staatliches Bildungssystem kann sich nur<br />

nach der Mehrheit richten. Es ist wie im traditionellen Unterricht, in dem sich der<br />

Lehrer auch immer an der Mehrheit und deren Wünschen, Kenntnissen oder<br />

Vorstellungen orientiert.<br />

Die Tatsache der verbreiteten Ablehnung der hier vertretenen Auffassung des Ziels<br />

der Selbständigkeit kann nach der Theorie der Formverursachung von Sheldrake 89<br />

erklärt werden. Danach ist ja davon auszugehen, daß <strong>die</strong> im Bereich der Bildung<br />

anzutreffenden Verhaltensformen, denen ja wenigstens teils implizite Ziele zugrunde<br />

liegen, beeinflußt sind durch das Verhalten von vielen Generationen von Lehrenden<br />

und Lernenden. Diese Verhaltensweisen – z.B. <strong>die</strong> Gewohnheit, nach dem Schulbuch<br />

zu unterrichten; <strong>die</strong> Lernenden in der Mehrheit für uninteressiert oder unintelligent<br />

zu halten; <strong>die</strong> Erfüllung des Lehrplans und einen geordneten Abl<strong>auf</strong> für<br />

wichtiger zu halten <strong>als</strong> <strong>die</strong> Entwicklung der Persönlichkeit der Lernenden; Disziplin,<br />

Fleiß und Konzentration zu fordern, <strong>die</strong> man selbst nur im notwendigsten Maß<br />

<strong>auf</strong>bringt usw. –, alle <strong>die</strong>se Verhaltensweisen bilden dann starke formverursachende<br />

Felder oder Formationen, in deren ausgefahrene Spuren (man kann sie <strong>als</strong> Ideologien,<br />

institutionelle Vorgaben, allgemein herrschendes Gedankengut, Lehrmeinungen<br />

usw. bezeichnen) das Denken und Verhalten von Lehrern, Eltern, Bildungspolitikern,<br />

Erziehungswissenschaftlern geradezu unweigerlich nach jedem Aufschwung,<br />

jedem Versuch der Neuerung mit magischer Kraft angezogen wird und<br />

wieder zurückkehrt. Solche formverursachenden Felder beeinflussen nicht nur das<br />

Erleben und Verhalten, sondern auch <strong>die</strong> Art der Argumente, <strong>die</strong>ses Verhalten zu<br />

verteidigen. Man kann das Ganze <strong>als</strong> ein sich selbst erhaltendes und verstärkendes<br />

88 Zur Interdependenz von Bildung, Gesellschaft und Individuum vgl. den Literaturüberblick<br />

von Strzelevicz 1979, S. 130 ff.<br />

89 Vgl. Sheldrake 1983; vgl. auch Kap. 6.1.1.<br />

234


System von Strukturen des Bewußtseins verstehen. Was individuell bewußt wird, ist<br />

nur <strong>die</strong> Oberfläche, <strong>die</strong> Wirkung jenes Systems.<br />

So wird <strong>die</strong> unerhörte Zähigkeit, mit der sich <strong>die</strong> grundlegenden Züge der Bildungsinstitutionen<br />

erhalten, verständlich. Manche mögen darin eine Entschuldigung für<br />

<strong>die</strong> Verhältnisse sehen, wie sie nun mal sind, oder umgekehrt eine zu starke<br />

Zuschreibung von Verantwortlichkeit <strong>auf</strong> den Einzelnen oder sie vermissen <strong>die</strong><br />

Ideologiekritik, <strong>die</strong> Kritik am herrschenden System. Doch das sehe ich gerade <strong>als</strong><br />

den Vorzug <strong>die</strong>ser Erklärung, daß sie keinen Sündenbock und keine Verschwörergruppe<br />

<strong>auf</strong>baut, <strong>die</strong>, wenn sie nur wollte und <strong>auf</strong> ihre Herrschaftsinteressen<br />

verzichten würde, <strong>die</strong> Zustände leicht ändern könnte. Dabei zeigt <strong>die</strong>se Erklärung,<br />

daß Änderungen über eine hinreichende Anzahl von Individuen möglich sein<br />

könnten und daß es durchaus von Bedeutung ist, was jeder Einzelne unternimmt,<br />

einschließlich dessen, wie er fühlt und denkt. Jeder kann in gewisser Weise zur<br />

Fortdauer des Bestehenden (mit bloß äußerlich bleibenden Wandlungen) oder zu<br />

seiner Entwicklung und Veränderung beitragen. Welches Ausmaß an Kräften jedoch<br />

notwendig ist, um jene Trägheit oder relative Stabilität des Bestehenden, <strong>die</strong> wir ja<br />

nicht bloß <strong>als</strong> soziale und individuelle Gewohnheiten verstehen, sondern <strong>als</strong> <strong>die</strong><br />

Kraft einer Bewegung des Unterbewußten bzw. von Feldern oder Formationen des<br />

Unterbewußten, ist schwer zu ermessen. Vielleicht kann man es annäherungsweise<br />

vergleichen mit der ständig wiederholten Anstrengung eines Suchtkranken, der<br />

entschlossen ist, von seiner Sucht loszukommen, und der doch ständig Rückfälle<br />

erleiden muß.<br />

Aus der Sicht einiger Leser könnte nun aber gerade <strong>die</strong> relative Stabilität von<br />

<strong>Institution</strong>en, Gewohnheiten und sonstiger Umstände das einzig Sinnvolle und<br />

Vernünftige sein, während das Bestreben darüber hinaus zu gehen, <strong>als</strong> Erzeugnis<br />

eines kranken Geistes <strong>auf</strong>gefaßt wird. Hier muß zugegeben werden, daß für ein<br />

abschließendes Urteil absolute Kriterien erforderlich wären, über <strong>die</strong> wir nicht<br />

verfügen können; wir sehen vielmehr einen beständigen Kampf von entgegengesetzten<br />

Ideen, Idealen, Regierungsformen, Philosophien, Erziehungsvorstellungen.<br />

Die Geschichte der Ideen zeigt, daß <strong>die</strong> Suche nach sicheren Grundlagen und<br />

damit nach einem einzig und allein erstrebenswerten Ideal unerfüllt bleiben muß.<br />

Zudem ist zu bedenken, daß <strong>die</strong> Konzentration <strong>auf</strong> ein allen anderen übergeordnetes<br />

Ideal problematisch ist, weil dadurch andere Probleme bzw. Probleme, von<br />

denen man vielleicht meint, sie würden sich nach Erreichung jenes übergeordneten<br />

Ide<strong>als</strong> von alleine lösen, vernachlässigt werden. Solange man nicht fähig oder nicht<br />

235


ewußt genug ist, um in einem Ideal das Ganze in seiner Vielfältigkeit zu sehen,<br />

wird es vermutlich notwendig sein, daß man eine Vielfalt von Zielen oder Idealen<br />

verfolgt. Nur wenn es uns möglich wäre, ein übergeordnetes Ideal mit der<br />

unendlichen Vielfalt möglicher Seinsweisen zu vereinbaren, könnte <strong>die</strong> ausschließliche<br />

Konzentration dar<strong>auf</strong> ohne negative Folgen bleiben. 90<br />

8.1.2 Orientierung an Idealen: Möglichkeiten und Grenzen<br />

Bildungsinstitutionen leiten, wie andere <strong>Institution</strong>en auch, das Handeln der in ihnen<br />

Tätigen. Aber der bloß regelhafte Abl<strong>auf</strong> der Prozesse, der Dienst nach Vorschrift,<br />

ist für <strong>die</strong> Erfüllung der Aufgaben nicht besonders vorteilhaft. Es kommt auch <strong>auf</strong><br />

den Einzelnen und seinen Einsatz an. Eine Orientierung des Einzelnen an dem, was<br />

unter dem Begriff der Bewußtseinsentwicklung in den vorangegangenen Kapiteln<br />

beschrieben worden ist, mag vielleicht für Einige eine gewisse Hilfe sein, ihr Tun in<br />

<strong>die</strong>se Richtung zu lenken.<br />

Die Orientierung an Idealen, wie dem der Bildung der Persönlichkeit durch Selbständigkeit<br />

oder der Wahrheit oder Schönheit, kann Räume für Gestaltungsmöglichkeiten<br />

öffnen, <strong>die</strong> begrenztere Zielvorstellungen nicht geben können. Weit<br />

gespannte Ziele erfordern jedoch ein größeres Vertrauen in den guten Willen und<br />

<strong>die</strong> Fähigkeiten der Ausführenden, weil sie kaum Kontrollmöglichkeiten bieten. Wo<br />

keine eindeutigen Ziele und Wege vorgegeben sind, bleibt vieles der Einsicht und<br />

dem Gefühl für <strong>die</strong> Bedeutsamkeit von Vorgängen und Zielen den Beteiligten<br />

überlassen. Dabei ist insbesondere das Gefühl für uns immer etwas, das wir <strong>als</strong><br />

bloß subjektiv ansehen, etwas, das leicht <strong>auf</strong> Abwege führt. Wir denken an Gefühlsduselei,<br />

an Romantizismus, und dabei vergessen wir dann, daß alles, was wir tun,<br />

vom Gefühl vorangetrieben wird. Wir können handeln, weil wir "zuversichtlich" sind,<br />

weil wir "glauben", daß es zu etwas Sinnvollem führt; wir "fühlen" uns im Recht, wir<br />

"spüren" und erkennen <strong>die</strong> Kraft eines Arguments (und lassen uns davon überzeugen).<br />

Daß wir leben, wie wir eben leben, ist sicher nicht <strong>auf</strong> einen Akt bewußter<br />

Einsicht zurückzuführen, sondern weil wir gefühlsmäßig mehr oder weniger das eine<br />

oder andere akzeptieren, was uns begegnet.<br />

So wie man nun einfache und komplexe oder vage und klare Gedanken<br />

unterscheidet, kann man entsprechende Unterscheidungen auch hinsichtlich der<br />

90 Vgl. hierzu auch <strong>die</strong> Ausführungen von Huxley 1976a (1. Aufl. 1939), S. 92f.<br />

236


Gefühle treffen. Von Bedeutung scheint hier insbesondere <strong>die</strong> Unterscheidung<br />

zwischen Gefühlen, denen wir eher ausgeliefert sind (<strong>als</strong>o vor allem unsere<br />

Wünsche und Vorlieben für etwas), und Gefühlen, <strong>die</strong> eher eine orientierende oder<br />

erkennende Funktion haben. So scheint <strong>die</strong> Orientierung an regulativen Ideen<br />

(Wahrheit, Gerechtigkeit, Schönheit usw.) mit Gefühlen oder Empfindungen<br />

verknüpft, <strong>die</strong> erkennenden Charakter haben. Die Orientierung an regulativen Ideen<br />

beruht ja nur zum Teil <strong>auf</strong> formulierbaren rationalen Erwägungen. Vielmehr sind<br />

solche Erwägungen ihrerseits geleitet von dem Gefühl der Übereinstimmung mit<br />

regulativen Ideen oder Zielen. Man denke etwa an das Sprachgefühl, wo man sich<br />

oft nach dem gefühlshaften Eindruck der Stimmigkeit, der Ordnung des Ganzen<br />

entscheidet. Einstein, so stellt es sein Biograph Banesh Hoffmann dar, hat sich bei<br />

seinen Entdeckungen in erster Linie von einem Gefühl der Schönheit, der Einfachheit,<br />

der Symmetrie von Vorstellungen oder Theorien leiten lassen. Unstimmigkeiten<br />

in <strong>die</strong>sen Hinsichten veranlaßten ihn, nach anderen Formulierungen zu<br />

suchen. So hielt er auch aus rein ästhetischen Gründen beharrlich an Theorien fest,<br />

<strong>die</strong> durch Experimentaldaten widerlegt schienen, und behielt dann schließlich doch<br />

recht. 91 Es ist <strong>als</strong>o möglich, jenes orientierende Gefühl - solange man kein besseres<br />

"Instrument" entwickelt hat - <strong>als</strong> eine Art weitreichendes Sinnesorgan zu begreifen,<br />

das hilft, uns sicherer durch Räume zu bewegen, <strong>die</strong> für unseren Verstand zu<br />

unbegrenzt und unbekannt sind und in denen er zu seiner Orientierung Anhaltspunkte<br />

braucht.<br />

Die Orientierung an Bildungsidealen kann einen Anfang für weiter ausgreifende<br />

Bemühungen um Bewußtseinsentwicklung darstellen. Es sind immer Einzelne, <strong>die</strong><br />

sich aus einem inneren Drang heraus <strong>auf</strong> einen solchen Weg machen (wie andere<br />

den Erwerb von Wohlstand oder politischer Macht <strong>als</strong> höchstes Ziel betrachten), und<br />

<strong>die</strong> damit den <strong>Institution</strong>en, in denen sie tätig sind, neue Aufgaben und<br />

Wirkungsmöglichkeiten erschließen und <strong>die</strong> schließlich für <strong>die</strong> Fortschritte <strong>die</strong>ser<br />

<strong>Institution</strong>en (oder was wir <strong>als</strong> solche beurteilen) verantwortlich sind.<br />

Die entscheidende Frage ist jedoch, ob der Versuch der Einbeziehung oder<br />

Entdeckung anderer Bewußtseinsbereiche der Persönlichkeit nicht eine zu starke<br />

Betonung des Gefühls mit seinen verschiedenen Ursprungsbereichen (im Unter- wie<br />

im Überbewußten) mit sich bringt und so schließlich zu einer gewissen Verachtung<br />

des Denkens führt (wie <strong>die</strong>s teilweise in der "romantischen Ekstase" der Fall war. 92<br />

91 Vgl. Hoffmann 1978, S. 96/99/127/134-135/153 usw.<br />

92 Durant 1982, Bd. 18, S. 360ff.<br />

237


Die Synthese der Bewußtseinsbereiche der Persönlichkeit durch eine allmähliche<br />

Entwicklung der Bewußtheit ist so einfach nicht. Der Versuch, ein solches weitgestecktes<br />

Ziel zu erreichen, ist ein Experiment mit unsicherem Ausgang. Aber<br />

wissen wir von unseren sonstigen Vorstellungen, wohin sie uns letztlich führen<br />

werden? Es ist daher wichtig, daß nicht der Staat oder eine andere Stelle Ziele und<br />

Wege zur Zielerreichung den Schulen vorgibt, sondern nur durch wenige allgemeine<br />

Zielsetzungen Räume strukturiert, in denen Schulen selbständige Wege gehen und<br />

im Wettbewerb mit anderen agieren können. Wenn selbständige Schulen ihr Tun<br />

gegenüber der Öffentlichkeit verantworten, indem sie zeigen, wie ihr Vorgehen sich<br />

nicht nur einseitig im Hinblick <strong>auf</strong> Leistungen, sondern beispielsweise auch <strong>auf</strong> das<br />

Selbstwertgefühl, den Grad der Aggressivität, <strong>die</strong> Orientierungssicherheit in ihrer<br />

beruflichen und privaten Zukunft, ihre Kreativität, Problemlösefähigkeit, Teamfähigkeit,<br />

ihre Beurteilungen durch Arbeitgeber, ihren Stu<strong>die</strong>nerfolg usw. auswirken, dann<br />

lassen sich <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Weise langfristig auch <strong>die</strong> Formen von Schulen und Unterricht<br />

herausfinden, <strong>die</strong> es für eine gute Zukunft der Kinder und Jugendlichen, aber auch<br />

der Gesellschaft, tatsächlich braucht.<br />

8.2 Was Lehrer tun können<br />

Jeder hat wohl Erinnerungen an gute und weniger gute Lehrer. Was man dabei aus<br />

seiner Sicht <strong>als</strong> guten Lehrer verstand, war meist jemand, von dem man sich <strong>als</strong><br />

Schüler verstanden wußte, jemand, der einen nicht nach einem fixen, beengenden<br />

Schema des "guten Schülers“, d.h. nach den Leistungen im Vergleich mit den<br />

Klassenkameraden beurteilte oder zu formen suchte. Aus Schülersicht scheint ein<br />

guter Lehrer eher jemand zu sein, der individuell angemessene Anregungen oder<br />

Hilfen und den erforderlichen Raum gibt, um sich entsprechend der eigenen<br />

Fähigkeiten zu entfalten.<br />

Ein nicht beengendes Schema des "guten Lehrers" wird <strong>als</strong>o ebenfalls dar<strong>auf</strong><br />

hinausl<strong>auf</strong>en müssen, Räume möglicher Entwicklungen anzuzeigen und nach<br />

Möglichkeit bereitzustellen. Derartige Entwicklungen müssen allerdings vom<br />

Einzelnen gewollt und gesucht werden. <strong>Institution</strong>elle Vorgaben, <strong>die</strong> etwa durch ein<br />

zu absolvierendes Lernpensum den Lehrer und seine Tätigkeit verbessern wollen,<br />

ebenso wie eine institutionell vorgegebene Anleitung der einzelnen Tätigkeiten<br />

können zwar Anregungen darstellen, bleiben aber oft äußerlich und verlieren nach<br />

kurzer Zeit meist ihre Wirkung. Man paßt sich an, wie bei einem Landregen, den<br />

238


man über sich ergehen lassen muß; aber schließlich findet man Wege, sein Leben<br />

mehr oder weniger wie gewohnt fortzusetzen. <strong>Institution</strong>en sind hoch bedeutsam,<br />

insoweit es darum geht, Räume für Entwicklung bereitzustellen. Das können<br />

Herausforderungen durch allgemeine Zielvorgaben sein, für <strong>die</strong> Schulen, d.h.<br />

Lehrer, Schüler und Eltern gemeinsam nach den geeignetsten Wegen suchen.<br />

Allerdings wären das ideale Voraussetzungen, wie sie derzeit kaum irgendwo<br />

bestehen. Solange <strong>die</strong> Umstände so ungünstig sind wie sie eben sind, können<br />

Lehrer nur einzeln oder in Gruppen, in freier Kooperation mit Schülern und Eltern<br />

nach Wegen der Verbesserung suchen. Zuerst jedoch muß <strong>die</strong> Notwendigkeit dafür<br />

erkannt und eingesehen werden.<br />

8.2.1 Problemerkennung durch Selbst-Beobachtung<br />

Die grundlegende Voraussetzung, um ein besserer Lehrer zu werden, ist das<br />

Erkennen eines Mangels. Man darf <strong>als</strong>o nicht übermäßig von selbstbestätigenden<br />

Gedankenformationen eingenommen sein. Denn solange man das, was man tut, <strong>als</strong><br />

richtig sieht und empfindet - <strong>die</strong> Fehler scheinen eher bei den anderen zu liegen, bei<br />

den Schülern, den institutionellen Vorgaben usw. -, gibt es keinen Ansatzpunkt,<br />

nach Veränderungsmöglichkeiten bei sich selbst zu suchen. Denn immer, wenn "wir<br />

unsere Erfahrung nach Maßgabe der abstempelnden Konventionen bewerten,<br />

büßen wir <strong>die</strong> Gelegenheit ein, irgendeinen tieferen Wert zu finden." 93 Das Ich<br />

bestärkt sich in seiner Bewußtseinsstruktur. Dies mag in gewisser Weise <strong>als</strong><br />

angenehm empfunden werden, aber es stellt keinen Beitrag zur Lösung aktueller<br />

Probleme dar, zu deren Entstehung <strong>die</strong>se Struktur einen Beitrag leistet. Die erste<br />

Aufgabe wäre <strong>als</strong>o, sich in der Beobachtung seiner selbst zu üben. Man kann mit<br />

dem beginnen, was in der Literatur auch <strong>als</strong> Nachbereitung oder Nachbesinnung<br />

verstanden wird. Man läßt in aller Ruhe und Entspanntheit das Unterrichtsgeschehen<br />

an seinem inneren Auge vorüberziehen und beobachtet einfach nur,<br />

ohne irgendwelche Wertungen zu treffen, das Geschehen, wie man es erlebt und<br />

gesehen hat.<br />

Im weiteren kommt es dar<strong>auf</strong> an, ein umfassenderes Bild zu bekommen. Man kann<br />

dazu <strong>die</strong> Perspektive wechseln und das Geschehen aus der Sicht verschiedener<br />

93 Tulku 1983, S. 239.<br />

239


Schüler beobachten, z. B. eines beliebigen Schülers, eines "Lieblingsschülers" und<br />

eines "schwarzen Schafes". Weiter kann man untersuchen, warum man in<br />

verschiedenen Situationen, bei Unruhe oder Unverständnis in <strong>die</strong>ser bestimmten<br />

Weise und nicht irgendwie anders gehandelt hat. Was hält man von <strong>die</strong>sem und<br />

jenem Schüler, den man zurechtgewiesen hat? Welches Bild hat man von ihm?<br />

Welche eigenen Auffassungen von Unterricht, von Disziplin im Unterricht hat man,<br />

daß man so handelt, wie man handelt? Welche Auffassungen haben <strong>die</strong> Kollegen,<br />

<strong>die</strong> Schüler, <strong>die</strong> Eltern der Schüler und welche Erwartungen haben sie an den<br />

Lehrer? Inwiefern ist man von <strong>die</strong>sen Erwartungen beeinflußt? Der Lehrer hat <strong>als</strong>o<br />

nach und nach das zu entwickeln, was wir (in Kap. 7.2) <strong>als</strong> Selbst-Bewußtheit<br />

beschrieben haben. Selbst-Bewußtheit steigert allmählich <strong>die</strong> Fähigkeit der Selbst-<br />

Kontrolle.<br />

8.2.2 Selbst-Kontrolle statt Fremd-Kontrolle<br />

Man kann nicht lehren und man kann nicht erziehen. Man kann vielmehr nur selber<br />

lernen und andere zum Lernen anregen und man kann auch nur sich selbst<br />

erziehen und andere zur Selbsterziehung ermutigen. Machen wir uns das an einem<br />

einfachen Beispiel deutlich. Wenn ich <strong>als</strong> Lehrer selbst Schwierigkeiten habe, mich<br />

zu konzentrieren, diszipliniert bei einer Sache zu bleiben, was immer an<br />

Ablenkungen auch <strong>auf</strong>treten mag, werde ich mich auch im Unterricht beständig von<br />

dem Tun einiger Schüler gestört fühlen und in einer Form dar<strong>auf</strong> reagieren, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Schüler spüren läßt, daß ich nicht wirklich konzentriert bin. Wenn ich nun von den<br />

Schülern Konzentration und Arbeitsdisziplin fordere, spüren sie genau, daß ja ihr<br />

Lehrer <strong>die</strong>se Forderung selbst nicht erfüllt. Vollends unglaubhaft mache ich mich,<br />

wenn ich <strong>die</strong> Schüler wegen mangelnder Arbeitsdisziplin bestrafe. Sie können mich<br />

nicht mehr ernst nehmen, denn <strong>die</strong>se Strafmaßnahme macht deutlich, daß ich mir<br />

meiner eigenen Fehler und Mängel nicht bewußt bin – obgleich <strong>die</strong> Schüler das<br />

vielleicht nicht formulieren können. Wenn ich mich jedoch selbst um Disziplin<br />

bemühe und den Schülern gegenüber zugeben kann, dass mir <strong>die</strong> Konzentration in<br />

der Klasse schwer fällt und dann versuche, mit ihnen gemeinsam das Problem zu<br />

meistern, dann ist es sehr wahrscheinlich, daß ich sogar sehr viel mehr in <strong>die</strong>ser<br />

Hinsicht erreiche <strong>als</strong> ein äußerst disziplinierter Lehrer, der gleiches von seinen<br />

Schülern fordert, d.h. <strong>als</strong> ein Lehrer der seine Schüler „erziehen“ will.<br />

240


Derselbe Zusammenhang gilt hinsichtlich des Lehrens. Auch wenn ich einen<br />

Gegenstand perfekt kenne, kann ich ihn anderen deswegen nicht „vermitteln“. Da<br />

der Schüler <strong>die</strong> Sache in jedem Falle selber lernen muß, kann meine Darstellung<br />

des Gegenstandes nur eine Anregung oder eine Hilfe sein. Erst wenn ich das<br />

verstanden habe, werde ich in der Lage sein, <strong>die</strong> Schwierigkeiten von Schülern zu<br />

verstehen, weil ich dann nämlich versuche, das Denken meiner Schüler<br />

nachzuvollziehen. Dabei werde ich vielleicht <strong>auf</strong> Zusammenhänge oder Fragen<br />

stoßen, <strong>die</strong> mir bis dahin unbekannt waren. Ich werde <strong>als</strong>o mit meinen Schülern<br />

lernen statt zu versuchen, sie zu belehren. Der Versuch der Belehrung dagegen<br />

bedeutet, dass ich <strong>auf</strong> meine Fragen „richtige“ Antworten erwarte. Diese Erwartung<br />

richtiger Antworten erzeugt bei vielen Schülern Auswendiglernen statt das Bemühen<br />

um Verständnis. Der amerikanische Lerntheoretiker David Ausubel stellt <strong>die</strong>sen<br />

Zusammenhang wie folgt dar:<br />

„Der Lehrer kann nicht für den Schüler lernen noch für ihn denken. Er kann<br />

nur Ideen so sinnvoll wie möglich darbieten. Die eigentliche Arbeit, neue in<br />

Ideen in einen persönlichen Bezugsrahmen zu gliedern [,sie <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Weise<br />

zu drehen, zu wenden und immer besser zu verstehen, (H.L)], kann nur vom<br />

Lernenden selbst geleistet werden. Daraus folgt, daß Ideen, <strong>die</strong> Schülern<br />

gewaltsam eingegeben oder von ihnen passiv und unkritisch akzeptiert<br />

werden, unmöglich im wahren Sinn des Wortes sinnvoll sein können.“ 94<br />

8.2.3 Imagination "idealen Unterrichts" und schrittweise Annäherung<br />

Kontrolle über sich selbst zu haben, d. h. jede Regung erspüren oder wahrnehmen<br />

und unter Kontrolle zu bringen, bedeutet, sich selbst völlig zu kennen. Da <strong>die</strong>s wohl<br />

kaum jemand von sich wird behaupten können, heißt das, daß es hier nur um den<br />

Versuch gehen kann, nach Selbstkontrolle zu streben. Dieser Versuch, wenn er<br />

ernsthaft und beständig durchgeführt wird, kann einen mit Dingen in sich selbst<br />

vertraut machen, <strong>die</strong> vielleicht unangenehm sind und von denen man glaubte, nur<br />

<strong>die</strong> anderen hätten solche Eigenschaften – denn schließlich ist nichts einfacher <strong>als</strong><br />

solche Dinge nach außen, <strong>auf</strong> andere zu projizieren.<br />

Eine Folge des Versuchs, größere Selbstkontrolle zu erlangen und <strong>die</strong> dabei<br />

erlebten Schwierigkeiten zu meistern, ist ein größeres Verständnis für andere. Die<br />

bewußte Erfahrung der eigenen Unvollkommenheiten und der Schwierigkeiten, ein<br />

94 Ausubel 1974, Bd. II, S. 405.<br />

241


Stück weit darüber hinauszukommen, läßt <strong>die</strong> Toleranz wachsen. Je bewußter man<br />

sich der Vorgänge im eigenen Innern ist, umso besser wird man <strong>die</strong> psychischen<br />

Prozesse bei seinen Schülern, Kollegen usw. verstehen können.<br />

Wenn man fähig ist, einengende Positionen <strong>auf</strong>zugeben, besteht <strong>die</strong> Möglichkeit,<br />

<strong>die</strong> Vision eines idealen Unterrichts zu entwickeln, eines Unterrichts, der nicht nur<br />

für den Lehrer, sondern auch für <strong>die</strong> Schüler befriedigend sein kann, eines<br />

Unterrichts, der immer weniger ausschließend ist und zunehmend Raum gewährt für<br />

neue Vorstellungen und Möglichkeiten. Selbständigkeit der Schüler kann sich nur<br />

dort entfalten, wo der Lehrer ein weites, Raum gewährendes Bewußtsein hat, das<br />

verschiedene Tätigkeiten, Ziele, Sichtweisen zulassen kann und ihrer Ausgestaltung<br />

keine beengenden Grenzen setzt. Das bedeutet jedoch nicht, daß keine Grenzen da<br />

wären. Diese stecken zum einen in den Sachverhalten selbst und zum anderen in<br />

den beschränkten Fähigkeiten aller im Prozeß beteiligten, in ihrer Ungeduld, ihrer<br />

Unkonzentriertheit, in der schulischen Organisation. Diese Grenzen gilt es zu<br />

erkennen, <strong>als</strong> Ausgangspunkte für Entwicklungen zu nutzen und womöglich zu<br />

verändern.<br />

Es gibt zahlreiche Beispiele, Modelle oder Methoden dafür, wie ein derartiger Raum<br />

gebender Unterricht aussehen, 95 und von denen man sich anregen lassen kann. Bei<br />

einer Übernahme von Methoden in Form von Rezepten sind bestenfalls kleine<br />

Anfangserfolge zu erwarten. Wirkliche und dauerhafte Erfolge setzen voraus, daß<br />

solche Methoden lediglich <strong>als</strong> Hilfen verstanden werden, um das eigene Verständnis<br />

von Unterricht, von Lernen und von den Schülern zu differenzieren. Der Erfolg etwa<br />

der Montessori-Pädagogik scheint u.a. auch dar<strong>auf</strong> zu beruhen, daß der Lehrer vom<br />

Unterrichtsgeschehen zurücktritt, daß er sich selbst im Zaum halten muß, ja, daß er<br />

lernen soll, von sich selbst abzusehen, sich zu vergessen. "So schafft er Raum für<br />

das zu Sehende“ 96<br />

und wird fähig, Schülern Freiheit für deren Entwicklung zu<br />

geben, wobei <strong>die</strong> Halt und Sicherheit vermittelnden Grenzen durch das Material und<br />

<strong>die</strong> <strong>auf</strong> Ordnung angelegte Organisation der Montessori-Schulen gegeben sind -<br />

wobei <strong>die</strong>se Ordnung in ihrer Tradition bereits erstarrt sein dürfte. Die Erfolge <strong>die</strong>ser<br />

ausgeprägten Ordnungserziehung haben jedoch immer sehr beeindruckt:<br />

"Bertrand Russell hatte seinen dreijährigen Sohn in eine Montessori-Schule<br />

geschickt und ‚festgestellt, daß er rasch ein disziplinierter Mensch wurde'. Er<br />

95 Vgl. z.B. Rogers 1974; Montessori 1976; Hellbrügge 1984; Dowsett 1980; Gaudig 1929;<br />

B. Otto 1952 (11913); Bossing 1942; Stevenson 1921.<br />

96 Vgl. Helming 1975, S. 174.<br />

242


war von der Methode beeindruckt, und seinem Buch Education and the Good<br />

Life schrieb er 1926 über <strong>die</strong> Freude, <strong>die</strong> das Kind über <strong>die</strong> durch eigene<br />

Anstrengung errungenen Erfolge empfand, und spendete Maria Montessori<br />

hohes Lob." 97<br />

Soviel man aus derartigen Systemen auch lernen kann, stellen sie doch<br />

Beschränkungen dar. Braucht man <strong>die</strong>se Begrenzungen, dann ist gegen ihre<br />

Akzeptierung nichts einzuwenden. Möchte man aber darüber hinausgehen, ist zu<br />

bedenken, daß man nur über etwas hinausgehen kann, was man beherrscht oder<br />

versteht.<br />

Im folgenden will ich einige Zitate aus einem Bericht zweier Grundschullehrer<br />

wiedergeben, <strong>die</strong> in einer großen Berliner Grundschule (mit 62 Lehrern, 44 Klassen<br />

und ca. 36 Kindern in jeder Klasse) unterrichteten und unter <strong>die</strong>sen Bedingungen<br />

eine Form des Unterrichts fanden, bei der etwa <strong>die</strong> Hälfte der Stunden "Freie<br />

Arbeitsstunden" darstellten, während <strong>die</strong> anderen Stunden lehrergeleitet waren. Sie<br />

fanden ihre Methode aber erst nach und nach. Das Ausgangsproblem war, daß <strong>die</strong><br />

Schüler in den letzten Stunden "völlig lustlos" und zu keiner geregelten Arbeit mehr<br />

zu bringen waren:<br />

"Unsere Bemühungen, eine Lösung <strong>die</strong>ses Problems zu finden, lassen sich<br />

am besten mit den Bemühungen der Leute vergleichen, <strong>die</strong> eine der beliebten<br />

Denksport<strong>auf</strong>gaben zu lösen versuchen, bei denen es dar<strong>auf</strong> ankommt, eine<br />

Figur aus Streichhölzchen oder Bausteinen mit einem Zug so umzustrukturieren,<br />

daß eine andere, neue Figur entsteht. Solange man in seinem Denken<br />

nicht aus dem angebotenen System ausbricht, findet man keine Lösung. Hat<br />

man sich jedoch von den Vorstellungen, <strong>die</strong> einem <strong>die</strong>ses angebotene<br />

System <strong>auf</strong>zwingt, befreit, wundert man sich, daß man <strong>die</strong> Lösung nicht sofort<br />

sah. So saßen wir <strong>als</strong>o nach Schulschluß und spielten mit Bausteinen der<br />

Pädagogik herum: Sind Einführungsstunden interessanter <strong>als</strong> Übungsstunden?<br />

Sind aber nicht Übungsstunden leichter <strong>als</strong> Einführungsstunden? Ermüdet<br />

Gruppenarbeit weniger? Das System, aus dem wir nicht herauskamen,<br />

hieß: In der Schule bestimmen der Lehrer und der Lernstoff, wozu <strong>die</strong> Kinder<br />

zu einer bestimmten Zeit Lust zu haben; haben sie zufällig Lust, heißen <strong>die</strong>se<br />

Kinder lernmotiviert. Haben sie aus Gründen, <strong>die</strong> wir nicht kennen, gerade<br />

keine Lust, ... heißen sie unmotivierte Kinder ... Wir fanden <strong>die</strong> Lösung, <strong>als</strong> wir<br />

<strong>auf</strong>hörten, wie gebannt <strong>auf</strong> <strong>die</strong> didaktische Speisekarte zu starren, sondern<br />

stattdessen <strong>die</strong> Kinder in den Pausen beobachteten.<br />

Die gleichen Kinder, <strong>die</strong> kurz vor halb eins müde <strong>die</strong> Ergebnisse der<br />

vorhergehenden Stunde <strong>auf</strong>malten, <strong>auf</strong>schrieben oder <strong>auf</strong> Arbeitsbogen<br />

97 Kramer 1983, S. 354.<br />

243


ankreuzten, erwachten beim Klingeln zu neuem Leben. In der kleinen Pause,<br />

<strong>die</strong> dem Klingelzeichen folgte, konnte man <strong>die</strong> unterschiedlichsten Aktivitäten<br />

beobachten: Einige Kinder holten sich <strong>die</strong> Bücher, <strong>die</strong> wir an Stelle der Fibeln<br />

angeschafft hatten. Andere bauten mit Steinen der Mathematik-Kästen Muster<br />

und Gebäude. Manche eilten an <strong>die</strong> Tafel, um zu malen oder zu schreiben.<br />

Wieder andere packten ihre Buntstifte aus, holten sich Zeichenpapier<br />

aus dem Kasten und begannen mit allen Anzeichen höchster Konzentration<br />

ein Bild zu zeichnen. Kleine Gruppen zeigten sich mitgebrachtes Spielzeug;<br />

Kinder, <strong>die</strong> im Unterricht nur schwer dazu zu bewegen waren, im Zusammenhang<br />

zu reden, unterhielten sich. Angesichts der Zielstrebigkeit, mit der<br />

<strong>die</strong> Kinder ihre verschiedenen Pausenvorhaben ansteuerten, drängte sich uns<br />

der vernichtende Gedanke <strong>auf</strong>, daß <strong>die</strong>se unterschiedlichen Aktivitäten, <strong>die</strong><br />

wir beobachten konnten, wohl zu einer Zeit gedacht und geplant worden<br />

waren, <strong>als</strong> wir wähnten, alle Kinder arbeiteten fleißig und konzentriert an dem,<br />

was in der Lehrersprache in Stundenentwürfen '5. Phase, Stillarbeit, Festigung<br />

der Lernergebnisse' heißt. Glücklich über <strong>die</strong> Wendung des Schicks<strong>als</strong><br />

beschäftigten sich alle Kinder mit den Gegenständen ihres Interesses, das<br />

Klingelzeichen, das <strong>die</strong> Pause beendete, wurde von ihnen nicht gehört. ...<br />

Nach Beobachtung unserer Schüler wurde uns klar, daß das, was <strong>die</strong> Kinder<br />

in den Pausen beschäftigte, nicht einfach eingepackt werden konnte. Und<br />

deshalb schien es uns vernünftig, <strong>die</strong>sen Interessen Raum zu geben." 98<br />

Die Umstellung <strong>auf</strong> freie Arbeitsphasen, <strong>die</strong> nach der letzten Pause, <strong>als</strong>o in den<br />

letzten Stunden lagen, erfolgte durch <strong>die</strong> Aufforderung, "mit der Beschäftigung<br />

fortzufahren, <strong>die</strong> sie sich gerade ausgesucht hatten. 'Und was soll ich machen?'<br />

fragte Katharina entgeistert und sieht leicht verstört <strong>auf</strong> den Rest ihrer Banane.“ 99<br />

In Fällen, in denen <strong>die</strong> Schüler nicht wissen, was sie wollen, weil sie plötzlich etwas<br />

wollen dürfen, hilft der Lehrer mit Vorschlägen aus. Das Erstaunliche ist, daß ein<br />

großer Teil der Kinder mit dem fortfährt, was man in der Schule von ihnen erwartet,<br />

mit Lesen, Schreiben und Rechnen. 100 Nur zwei der Jungen spielen mit ihren Autos<br />

und drei andere sehen zu. Die Lehrerin überlegt:<br />

"Wie, wenn alle Kinder morgen ihre Rennautos mitbringen und jene<br />

zermürbenden Geräusche hervorbringen? Also schreite ich - im wahrsten<br />

Sinne des Wortes - ein. Ich lerne an <strong>die</strong>sem Beispiel (und an vielen<br />

folgenden), daß eine vernünftige Art des Einschreitens der Appell an das<br />

Fachmännische ist. 'Darf ich mal Eure Autos bewundern?' sage ich, <strong>als</strong> ich<br />

98 Bert/Guhlke 1977, S. 10-11. Andere Beispiele dafür, wie Lösungen für Schulprobleme gefunden<br />

werden konnten, wenn <strong>die</strong> Lehrer bereit waren, feste Positionen <strong>auf</strong>zugeben<br />

(oder sie vielleicht nie hatten), siehe bei Trezeciok 1978; Janssen 1977.<br />

99 Bert/Guhlke 1977, S. 13.<br />

100 Ebenda, S. 18<br />

244


mich zu den Kindern <strong>auf</strong> den Boden setze. 'Ist das ein Mercedes 200?' -<br />

Empörtes Gemurmel meiner Zuhörer. Ich werde fachmännisch belehrt, um<br />

welche Typen es sich bei <strong>die</strong>sen beiden wundervollen Exemplaren handelt.<br />

Während <strong>die</strong> Kinder mir erklären, woran man <strong>die</strong> Typen unterscheiden kann,<br />

überlege ich mir, welchen Vorschlag ich ihnen machen könnte. Als ich ihnen<br />

sage, daß ihr Spiel ruhiger sein müßte, weil <strong>die</strong> Kinder, <strong>die</strong> schreiben, sonst<br />

gestört werden würden, sehen das zwar alle ein, aber sie finden, daß Autos<br />

eben fahren müssen. Mein Vorschlag, ein Brett zu nehmen und <strong>die</strong> Wagen<br />

<strong>auf</strong> einer schiefen Ebene herunterfahren zu lassen, findet Beifall. 'Dann<br />

können wir auch richtig sehen, daß meiner der Bessere ist' sagt Jan 1 voller<br />

Ehrgeiz. Ich halte es für richtig, solchen Unsinn nicht zu verstärken. 'Es ist<br />

völlig gleichgültig, wessen Auto besser ist', sage ich entschieden, 'aber der,<br />

der besser ist, der ist irgendwie anders gebaut. Ihr solltet lieber überlegen,<br />

wie man den langsameren Wagen so umbauen kann, daß er ebenso schnell<br />

ist.' Am Ende der Stunde sieht der Wagen vom zweiten Jan höchst sonderbar<br />

aus: Er ist mit Knete beladen und trägt einen Ra<strong>die</strong>rgrummi <strong>auf</strong> seinem<br />

Rücken. Im Ganzen ähnelt er mehr einem buckligen Maikäfer <strong>als</strong> einem<br />

schnittigen Rennwagen, aber alle sind stolz <strong>auf</strong> ihr Werk. Sie haben in <strong>die</strong>ser<br />

halben Stunde mehr miteinander gesprochen <strong>als</strong> in den vergangenen drei<br />

Wochen zusammen." 101<br />

Nach und nach bildet sich z.T. auch durch <strong>die</strong> Bedürfnisse und <strong>auf</strong>grund der Beiträge<br />

der Schüler eine Ordnung heraus, <strong>die</strong> nicht <strong>als</strong> einengend, sondern <strong>als</strong> sinnvoll<br />

strukturierend empfunden wird und dadurch <strong>die</strong> Lernprozesse unterstützt.<br />

Die beiden Lehrer kommen zu folgendem Schluß:<br />

"Wir haben - wie andere Lehrer in anderen Klassen leistungsstarke und<br />

-schwache Schüler. Wir haben keinen Schüler, der nicht lernen will, und<br />

keinen, der in seinen Bemühungen entmutigt ist. Kollegen, <strong>die</strong> unseren Plan<br />

übernommen haben, machen ähnliche Erfahrungen. Gemeinsam sind auch<br />

negative Beobachtungen: Fachlehrer, <strong>die</strong> einen anderen Unterrichtsstil praktizieren,<br />

können nur schwer mit unseren Schülern zusammenarbeiten. Einige<br />

Eltern guter Schüler hätten es lieber gesehen, wenn im L<strong>auf</strong>e der Jahre <strong>die</strong><br />

jeweils 3 'schlechteren' Schüler sitzengeblieben wären ..." 102<br />

Unser Beispiel zeigt, wie zunächst ein Problem (Lustlosigkeit der Schüler) gesehen<br />

und akzeptiert wird. Das Verhalten der Schüler könnte ja auch mit der Vor<strong>auf</strong>fassung<br />

gesehen werden, daß sie faul seien und sich nur anzustrengen hätten, was<br />

man durch entsprechende Maßnahmen eben erzwingen müsse. Aber <strong>die</strong>se beiden<br />

101 Bert/Guhlke 1977, S. 14.<br />

102 Bert/Guhlke 1977, S. 71.<br />

245


Lehrer sind bereit, den Sachverhalt in einem allgemeineren Rahmen zu sehen.<br />

Durch <strong>die</strong> Gegenüberstellung des Verhaltens der Schüler und des Unterrichtsziels<br />

ergibt sich ein objektives Problem. Die Lösung <strong>die</strong>ses Problems suchen sie<br />

zunächst in den gewohnten Denkbahnen, können sie aber <strong>auf</strong> <strong>die</strong>se Weise nicht<br />

finden. Sie haben nun den Mut, <strong>die</strong> gewohnten Denkweisen wie auch <strong>die</strong> institutionellen<br />

Schemata zu überschreiten, und <strong>die</strong> Lösung findet sich in <strong>die</strong>sem erweiterten<br />

Feld. Weiterhin untersuchen sie durch Ausprobieren <strong>die</strong>ser Lösung (Experimentalphase),<br />

sowohl ihre <strong>als</strong> auch <strong>die</strong> veränderten Handlungsmöglichkeiten und Reaktionen<br />

der Schüler, bis sie nach und nach ein neues System entwickelt haben, das im<br />

L<strong>auf</strong> der Zeit weitere Verbesserungen erfährt.<br />

Prinzipiell braucht man hier nicht stehenzubleiben, da sich ja immer neue Probleme<br />

zeigen und Lösungen dafür gesucht und gefunden werden können. Aber <strong>die</strong><br />

Voraussetzung ist auch hier wieder, daß der Wahrnehmungsrahmen möglichst<br />

wenig durch Vorannahmen eingeengt ist. Man wird natürlich nie völlig ohne Vorannahmen<br />

sein. Gemeint ist auch nur, daß <strong>die</strong> Vorannahmen mit zunehmender<br />

Bewußtheit immer weniger einengend sein können, <strong>als</strong>o Raum geben für neue oder<br />

veränderte Wahrnehmungen. Die Bewußtheit oder Bewußtwerdung von Vorannahmen<br />

ist <strong>als</strong>o notwendig, um über sich selbst, seine Ansichten, Methoden, Systeme<br />

usw. hinausgehen zu können.<br />

Hindernisse, <strong>die</strong> einem derartigen Verhalten entgegenstehen, sind nicht natürlich<br />

nicht nur individueller, sondern auch sozialer Natur. Sobald man seine Pläne und<br />

Versuche nicht nur mit Gleichgesinnten (<strong>die</strong> ja eher unterstützend wirken), sondern<br />

auch mit Andersgesinnten - seien es Kollegen oder Eltern bespricht, besteht <strong>die</strong><br />

Gefahr, daß <strong>die</strong>se Versuche belächelt, <strong>als</strong> utopisch oder schlicht <strong>als</strong> Unsinn erklärt<br />

werden. Die entsprechenden Gedanken und Aussagen, <strong>die</strong> ja Bewußtseinsfelder<br />

oder –formationen darstellen und <strong>als</strong> solche wirken (vgl. Kap. 6.1.1), können einen<br />

starken und entmutigenden Einfluß ausüben. Letztlich kommt es immer <strong>auf</strong> den<br />

Einzelnen an, <strong>auf</strong> seine Bereitschaft seiner „inneren Stimme“ zu folgen, seine Entschlossenheit<br />

Fühlen, Denken, Handeln in Übereinstimmung zu bringen, Ruhe und<br />

Gelassenheit zu entwickeln und nach und nach Widerstände zu überwinden.<br />

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