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VO Homiletik Handout 1 SS 10

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o. Univ. Prof. Dr. Susanne Heine<br />

susanne.heine@univie.ac.at<br />

020038 <strong>VO</strong>RLESUNG<br />

Die Kunst zu überzeugen: Einführung in die <strong>Homiletik</strong><br />

Sommersemester 20<strong>10</strong><br />

Dokumentation<br />

der auf Folie präsentierten Quellentexte, Tabellen und Graphiken, die im Rahmen der<br />

Vorlesung analysiert und kommentiert werden.<br />

Kapitel I:<br />

Prinzipielle <strong>Homiletik</strong><br />

I, 1 Die Predigt als Überzeugungsrede<br />

„Die <strong>Homiletik</strong> (und die Praxis der Predigt) war stets dann besonders gefährdet, wenn eine<br />

der notwendigen Grundfragen [prinzipielle: Begründung; materiale: Inhalt; formale:<br />

Form/Rhetorik] vernachlässigt wurde, etwa weil eine andere alle Aufmerksamkeit zu<br />

verlangen schien.“<br />

Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin-New York 2 1994, 389.<br />

principium (arché)<br />

passiv (Kant)<br />

• Voraussetzung<br />

• Grundlage / (Ur)Grund / Anlage<br />

• Ursprung<br />

• erste Ursache<br />

initium<br />

aktiv (Kant)<br />

• anfangen / beginnen (beenden)<br />

• initiieren<br />

• geschichtliche Ursache<br />

Susanne Heine/Einführung in die <strong>Homiletik</strong>/<strong>VO</strong>/<strong>SS</strong> 20<strong>10</strong> 1


Das „Homiletische Dreieck“<br />

Ziele informierender Rede<br />

primär sachbezogen-kognitiv, die Darstellung überwiegt:<br />

- neues Wissen vermitteln<br />

- Wissenslücken füllen<br />

- Wissensunterschiede abbauen<br />

- vorhandene Wissensbestände neu gewichten<br />

sekundär appellativ-subjektbezogen, affektiv durch anschauliche Beispiele:<br />

- Auslösen von mentalen Handlungen: mitdenken<br />

- von verbalen Handlungen: nachfragen, erwidern<br />

- von aktionalen Handlungen: etwas tun.<br />

Ziele überzeugender Rede<br />

primär affektiv, Gefallen finden, werten:<br />

- Emotionen (affections) berühren<br />

- Meinungen (opinions) wandeln<br />

- Haltungen, Einstellungen (attitudes) verändern<br />

sekundär kognitiv, Argumente finden:<br />

- den Willen ansprechen durch Argumente<br />

Susanne Heine/Einführung in die <strong>Homiletik</strong>/<strong>VO</strong>/<strong>SS</strong> 20<strong>10</strong> 2


- neues Wissen, neue Sichtweisen vermitteln<br />

- vorhandene Wissensbestände neu gewichten<br />

In der Überzeugungsrede steht nicht ein Wissensgefälle im Mittelpunkt, sondern eine Differenz<br />

der Interessen, Meinungen, Überzeugungen, etwas ‘Strittiges’.<br />

Zum Unterschied zwischen Überreden und Überzeugen:<br />

„Beim Überreden wird das Bezugssystem des Hörers kurzgeschlossen, meist mit emotionalem<br />

Überdruck und der Suggestion, hier verwirkliche sich seine Wunschwelt oder hier beruhige<br />

sich seine Angstwelt, wird er zum Handeln im Reflex gebracht ...“. Beim Überzeugen wird er<br />

„zum Handeln mit Reflexion“ gebracht, „im Zusammenwirken seiner kognitiven (Verstand),<br />

affektiven (oder expressiven, bzw. emotionalen, Gefühl) und voluntativen (Wille) Kräfte“.<br />

Hellmut Geißner, Rhetorik und politische Bildung, Frankfurt/Main, 1986, 134.<br />

Blaise Pascal: Über die Kunst zu überzeugen<br />

„Die Kunst zu überzeugen, steht notwendig mit der Art und Weise in Beziehung, wie<br />

Menschen einer Sache, die man ihnen vorträgt, zustimmen, und dann mit der Eigenart dessen,<br />

was man glauben machen will.<br />

Ein jeder weiß, daß es zwei Zugänge gibt, durch die die Meinungen in die Seele Einlaß<br />

finden, und die ihre wichtigsten Vermögen vorstellen, nämlich das Verstehen und den Willen.<br />

Der natürlichste Zugang ist das Verstehen, denn man sollte nur bewiesenen Wahrheiten<br />

zustimmen. Der häufigste aber ... ist der des Willens, denn der größte Teil der Menschen wird<br />

fast stets nicht durch den Beweis, sondern durch das Gefallen bestimmt, etwas zu glauben. ...<br />

Die Beweggründe des Willens sind gewisse natürliche Verlangen, die allen Menschen<br />

eigentümlich sind, wie: das Verlangen glücklich zu sein, das kein Mensch nicht haben kann,<br />

daneben mehrere besondere Dinge, die ein jeder zu erlangen sucht und die, da sie die Macht<br />

haben, uns zu gefallen, ebenso mächtig ... sind. ...<br />

Die Eigenschaften aber, die sowohl den anerkannten Wahrheiten als auch den Wünschen des<br />

Herzens verbunden sind, sind ihrer Wirkung so sicher, daß es auf der Welt nichts gibt, was es<br />

mehr wäre. ... In ... diesen Fällen gibt es keinen Zweifel. Den gibt es, wenn die Dinge, die<br />

geglaubt werden sollen, zwar auf anerkannten Wahrheiten gründen, zugleich aber den<br />

Vergnügungen, denen wir am meisten zugetan, entgegen sind. ...<br />

Susanne Heine/Einführung in die <strong>Homiletik</strong>/<strong>VO</strong>/<strong>SS</strong> 20<strong>10</strong> 3


Daraus geht klar hervor, daß man, wovon immer man jemanden überzeugen will, auf den<br />

Menschen Rücksicht zu nehmen hat, den man überzeugen will. Man muß seinen Geist und<br />

sein Herz kennen und wissen, welchen Grundsätzen er zustimmt und welche Dinge er liebt,<br />

und bei der Sache, um die es sich handelt, muß man dann beachten, wie sie sich zu den<br />

Grundsätzen, die er anerkennt, verhält, oder zu den verlockenden Dingen durch den Reiz, den<br />

man ihnen verleiht, so daß die Kunst, zu überzeugen ebenso darin besteht, zu gefallen, wie<br />

darin, die Wahrheit sichtbar zu machen. ...<br />

Da es aber außerhalb der Geometrie, die nur sehr einfache Figuren behandelt, nur wenige<br />

Grundsätze jener Art gibt, gibt es fast keine Wahrheit, über die wir immer einig bleiben, und<br />

da es noch weniger Gegenstände des Vergnügens gibt, die wir nicht stündlich wechseln, weiß<br />

ich nicht, ob es möglich ist, feste Regeln zu schaffen, um unsere Ausführungen mit der<br />

Unbeständigkeit unserer Launen in Übereinstimmung zu bringen.<br />

Die Kunst, die, ... genau gesehen, nur die methodische und vollkommene Beweisführung<br />

betrifft, besteht aus drei wesentlichen Teilen: alle Begriffe ... durch klare Definitionen zu<br />

definieren; Grundsätze oder evidente Axiome aufzustellen, um das, was es zu beweisen gibt,<br />

zu beweisen; und im Verlauf des Beweises in Gedanken immer die Definition an dem Ort des<br />

Definierten einzusetzen.<br />

Der Sinn dieser Methode ist einleuchtend, denn es wäre nutzlos, das, was man beweisen will,<br />

zu behaupten ... .<br />

Blaise Pascal, Die Kunst zu überzeugen und die anderen kleineren philosophischen und<br />

religiösen Schriften, übertragen von Ewald Wasmuth, Heidelberg 3 1963, 86-92.<br />

Plausibilität<br />

„Plausibilität ist eine Kategorie der lebens- und handlungsorientierenden Wissenschaften,<br />

nicht eine der methodisch strengeren theoretischen Wissenschaften. Plausibel nenne ich im<br />

Zusammenhang der Lebens- und Handlungsorientierungen etwas, das man aufgrund von hinreichend<br />

vielen Beispielen mit guten Gründen vor sich und anderen rechtfertigen kann, nicht<br />

etwas, das man durch Gewalt oder auch nur durch Gewohnheit und Sitte oder aufgrund empirisch-logischer<br />

Beweise anerkennen muß.“<br />

Willi Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklärung, Frankfurt/Main 1979, Einleitung VIII/IX.<br />

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Syllogismus<br />

„Ein Syllogismus [deduktiver Schluss] ist ein Beweis, bei dem auf der Grundlage bestimmter<br />

Voraussetzungen [Prämissen] etwas anderes als das Vorausgesetzte mit Notwendigkeit folgt.<br />

Von einem wissenschaftlichen Beweis spricht man, wenn der Syllogismus von wahren und<br />

ersten Sätzen ausgeht ... . Dialektisch nennt man einen Syllogismus, wenn er von geltenden<br />

Meinungen ausgeht. Wahre und erste Sätze sind solche, die nicht durch andere, sondern durch<br />

sich selbst evident sind ...; geltende Meinungen sind solche Sätze, die allen oder dem meisten<br />

oder den Verständigen ... wahr erscheinen.“<br />

Aristoteles, Topik, <strong>10</strong>0a-<strong>10</strong>0b, Übersetzung Joseph Kopperschmidt, Allgemeine Rhetorik,<br />

Stuttgart 1973, 127.<br />

„Dabei verfügt der Redner über ein zweifaches Beweismaterial, einmal über die Dinge, die<br />

man sich als Redner nicht ausdenken kann, die vielmehr in der Sache liegen [in re positae],<br />

und methodisch zu behandeln sind, wie Dokumente, Zeugenaussagen, Verträge ...; das andere<br />

ist das, was ganz von der Darstellung und der Argumentation des Redner abhängt [in disputatione<br />

et in argumentatione oratoris conlocata].“<br />

Cicero, de Orat. II, 27.116.<br />

Haltung<br />

„Der Unterschied [zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Methode] resultiert aus<br />

dem unterschiedlichen Gegenstand. Die Wissenschaft bemüht sich, das Subjekt vom Objekt<br />

zu trennen, das Objekt vollkommen rein zu beschreiben; das Objekt ist ihr Gegenstand. Der<br />

Gegenstand der Kunst aber ist jene merkwürdige Einheit von Subjekt und Objekt, von Begriffenem<br />

und Griff. ... Man kann sagen, Gegenstand der Kunst ist die Wirklichkeit, erfahren<br />

durch eine Haltung. ... Natürlich enthält der Gegenstand der Kunst auch Objektives, insofern<br />

fällt auch etwas wie objektive Erkenntnis ab. Aber der Zweck der Kunst ist nicht Nachricht<br />

über die Wirklichkeit. Der Zweck der Kunst ist Nachricht über eine Haltung, die man der<br />

Wirklichkeit gegenüber einnehmen kann.“<br />

Peter Hacks, Das Poetische, Frankfurt/Main 1972, 90/91 (Hervorhebungen S.H.).<br />

Sinn<br />

• „Sinn ist nicht ‘greifbar’ losgelöst von der Situation, sondern begreifbar nur in seiner Entstehung<br />

aus der und seiner Einbettung in die (Sozial-, Handlungs-, Sinn-) Situation.<br />

• Sinn ist kein ‘Produkt’ eines Sprechers oder Hörers, sondern nur gemeinsames, intentionales<br />

‘Erzeugnis’ der sozial situiert situierend Miteinandersprechenden.<br />

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• Sinn ist nicht mit Struktur und Bedeutung der Sprache (Zeichen, Symbole) oder der<br />

Sprechakte gegeben, sondern nur in deren kommunkativem Vollzug in Sprechhandlungen<br />

(Sprech-Hörhandlungen).<br />

• Sinn ist kein Ergebnis spontaner Einfälle, sondern kontingent nur innerhalb tradierter<br />

Formbestimmtheit.<br />

• Sinn ist nicht das rißhafte Konstrukt kognitiver Operationen allein, sondern komplett und<br />

komplex nur in der leibhaften Präsenz sozial-emotionaler Sinnlichkeit.<br />

• Sinn ist nicht zu beobachten, sondern zu verstehen.“<br />

Hellmut Geißner, Sprechwissenschaft, Königstein 1981, 129.<br />

Glaube und Theologie gehen von einem vorausgesetzten Sinn aus, der nicht durch Menschen,<br />

weder durch den einzelnen noch durch rhetorische Kommunikation konstituiert wird.<br />

Dieser Glaubenssinn will jedoch lebensrelevant und wirklich werden.<br />

Dies kann nur (muss nicht) dadurch geschehen, dass sich das vorausgesetzte Sinnpotential<br />

durch rhetorische Kommunikation aktualisiert.<br />

Sinn im Dialog<br />

„Wenn Sinn gebunden ist an die Situation, und wenn sowohl Sinn als Situation gebunden sind<br />

an geschichtliche und gesellschaftliche in mündlicher Kommunikation leibhaft präsente Subjekte,<br />

dann kann der Sinn einer einzelnen Sprechhandlung oder eines Textes weder allein aus<br />

der Sprecherintentionalität verstanden werden, noch allein aus der Hörerintentionalität, noch<br />

allein aus der im Text aktualisierten Sprache, noch allein aus der Sprechweise, sondern von<br />

all dem zusammen in Abhängigkeit von der konkreten Sprechsituation im gesellschaftlichen<br />

Kontext. ... Der Sinn des Gesprochenen ist nichts anderes als die Auslegung des Gemeinten in<br />

die Situation. ...<br />

Folglich gibt es nicht die Auslegung, weil es nicht die Situation und den Sinn gibt.“<br />

Hellmut Geißner, Sprechwissenschaft, Königstein 1981, 130, 131.<br />

Der Schritt vom Gespräch zur Rede ist der Schritt vom „unmittelbar Dialogischen“ zum<br />

„latent Dialogischen“.<br />

Hellmut Geißner, Sprecherziehung, Königstein 1982, 141.<br />

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Mögliche (optimale) Reaktionen auf eine Predigt im Nachgespräch:<br />

- ‘Es hat mir zu denken gegeben’<br />

- ‘Ich hätte es gemacht wie ...’;’Ich hätte es anders gemacht.’<br />

- ‘Ich überlege mir, wie ich reagieren würde, wenn ... .’<br />

- ‘Ich habe mich geärgert, weil es mir anders geht, weil es Menschen gibt, denen es<br />

anders geht.’<br />

- ‘Ich habe das so noch nicht gesehen.’<br />

- ‘Es beschäftigt mich, dass... .’<br />

I, 2 Aufbau einer Überzeugungsrede<br />

Grundelemente der antiken Rhetorik (Auswahl)<br />

1.<br />

inventio: Auffinden der Gedanken, die sich aus einem Thema, einem Text, einer Fragestellung<br />

entwickeln lassen<br />

• intellectio: erkennen des Redegegenstandes (aufnehmen, verstehen, beurteilen)<br />

2.<br />

dispositio: Formulieren des Redeziels und entsprechende Anordnung des ‘Stoffes’<br />

• Überzeugungsmittel: docere, movere, delectare<br />

3.<br />

partes orationis:<br />

• exordium/prooemium: Redeanfang: nicht von außen suchen, sondern aus dem Innersten der<br />

Sache entlehnen; nicht vor dem Kampf Speere schwingen, die man dann im Kampf nicht<br />

gebraucht (Cicero)<br />

a) attentum parare: Aufmerksamkeit erlangen<br />

b) docilem parare: Konzentration auf die Sache erwecken<br />

c) captatio benevolentiae: Wohlwollen erlangen<br />

• narratio: anschauliche Schilderung eines Problems oder Sachverhalts in parteilicher Überzeugungsabsicht;<br />

Schilderung von exemplarischen Szenen<br />

• propositio: Zusammenfassung und Darlegung des Hauptproblems<br />

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• argumentatio: Beweisführung, plausibel machen dessen, wovon die Hörenden überzeugt<br />

werden sollen; nicht alle möglichen oder schwache Gründe anführen, sondern nur wenige,<br />

starke und überzeugende; drei Überzeugungsgrade: zwingend, glaubhaft, widerspruchsfrei<br />

(nach Quintilian)<br />

• exemplum: das Beispiel, veranschaulichender Beleg in Form einer Anspielung bis hin zu<br />

einer narratio<br />

• auctoritas: Berufung auf Autoritäten<br />

4.<br />

peroratio: Redeschluss: zusammenfassen, zuspitzen, einprägen der Botschaft, mit Affekten<br />

verbunden, zu Herzen gehend:<br />

a) movere (Pathos): mitreißend, leidenschaftlich, z.B. Zorn oder Mitleid erregend; zieht die<br />

Hörenden hinein, macht sie urteilsunfähig<br />

b) delectare (Ethos): erfreulich, gelassen, aufbauend, tröstend; weckt in den Hörenden<br />

Lauterkeit und Güte; res humanae (Cicero).<br />

Nach Gert Ueding, Einführung in die Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart 1976,<br />

Teil 2: Einführung in Technik und Methoden der Rhetorik, 196-223.<br />

Vorbereitung einer Predigt als Überzeugungsrede - Thesen<br />

1. Zunächst unstrukturiertes Sammeln von ‘Material’: eigene Assoziationen, Informationen<br />

und Auslegungsvarianten in bezug auf den Predigt(kon)text - inventio .<br />

2. Leitfrage (Ziel- bzw. Zwecksatz): Wovon will ich die Hörenden überzeugen? Kritische<br />

Rückfrage: Bin ich selbst davon überzeugt? Daraus ergibt sich der ‘rote Faden’: die Botschaft.<br />

Die Predigt muss vom Ziel her aufgebaut werden - dispositio.<br />

3. Der Zielsatz formuliert nicht das Thema der Predigt (z.B. Rechtfertigung aus Glauben),<br />

sondern die intendierte Einsicht, Haltung oder Handlung der Hörenden (z.B. Entlastung<br />

Susanne Heine/Einführung in die <strong>Homiletik</strong>/<strong>VO</strong>/<strong>SS</strong> 20<strong>10</strong> 8


von zwanghafter moralischer Kontrolle im Vertrauen auf die Gnade Gottes). Das Ziel der<br />

Predigt ist also der Motivationshorizont der Hörenden.<br />

4. Die Analyse des eigenen Bezugs zu den Hörenden:<br />

• Was weiß ich, was sie nicht wissen? Was wissen sie, was ich nicht weiß?<br />

• Was habe ich erlebt und sie nicht? Was haben sie (wahrscheinlich) erlebt und ich nicht?<br />

• Was kann ich, was sie nicht können? Was können sie (voraussichtlich), was ich nicht<br />

kann?<br />

• Was will ich, was sie nicht wollen? Was wollen sie, was ich nicht will (nach Geißner).<br />

5. Die Suche nach informativen, argumentativen und narrativen Elementen, die den Zielsatz<br />

plausibel machen (Predigteinfälle).<br />

6. Ein erstes Ordnen des ‘Materials’ in aufeinander aufbauenden Aussageschritten: Rohkonzept.<br />

7. Die Gliederung und Strukturierung der Predigtrede - partes orationis<br />

(als Leitfaden, nicht als starres Konzept gedacht):<br />

a) Einstieg - exordium;<br />

b) evtl. Schilderung der geschichtlichen Situation, in der der Predigttext entstanden ist,<br />

oder der Probleme der Verfasser, wenn sich eine Beziehung zu c) ergibt - narratio<br />

c) Eröffnen eines Problemhorizonts: (verbreitete) Meinungen, Urteile, Haltungen, die dem<br />

gewählten Zielsatz widersprechen, um zum Mitdenken anzuregen - propositio;<br />

d) plausibel begründete Lösungsvorschläge: Alternativen zu c), Perspektivenwechsel -<br />

argumentatio;<br />

e) Konsequenzen für Haltung und Handeln - exemplum;<br />

f) Schluss: pointierte Formulierung des Zielsatzes - peroratio.<br />

8. Gewichtung:<br />

a) kurz oder eine nicht zu lange anschauliche Geschichte, die aber für die Botschaft<br />

signifikant sein muss, so dass die Predigt darauf zurückkommen kann; soll neugierig<br />

machen; hier entscheidet sich, ob die Predigt Aufmerksamkeit erweckt;<br />

b) und c) nicht zu lang, da die Predigt sonst zu einem Vortrag wird;<br />

c) ausführlicher Hauptteil, weil es hier um die Überzeugungsarbeit geht;<br />

Susanne Heine/Einführung in die <strong>Homiletik</strong>/<strong>VO</strong>/<strong>SS</strong> 20<strong>10</strong> 9


d) nicht zu lang, eher in Frageform, sonst wird die Predigt eine moralistische<br />

‘Gardinenpredigt’;<br />

e) die Schlusspointe sollte die Grundaussage der Predigt auf den Punkt bringen und als<br />

‘Merksatz’ dienen können.<br />

Zur systematischen Verhältnisbestimmung von <strong>Homiletik</strong> und Rhetorik<br />

„Der eine Weg geht von der Rhetorik aus, das heißt, er fragt nach dem Selbstverständnis für<br />

den Redner, und verfolgt die Bedingungen einer Rede ‘mit religiösem’ Inhalt, das heißt einer<br />

Rede, die eine Predigt sein möchte.<br />

Der andere Weg geht von einem Predigtbegriff aus, der theologisch ausgewiesen ist und fragt<br />

nach der grundsätzlichen Möglichkeit der Zuhilfenahme von ‘Hilfswissenschaften’ ... .<br />

Ist ein solcher theologisch fundierter und kirchlich praktikabler, normativer Predigtbegriff<br />

vorhanden, oder gibt es vielleicht Sachgründe, die es verbieten, aus einem Predigtbegriff ein<br />

oberstes homiletisches Prinzip zu machen, aus dem dann zu deduzieren wäre?<br />

Wir meinen, daß die Schwierigkeit, einen normativen - und praktikablen - Predigtbegriff zu<br />

definieren, sachlich begründet ist. Dieser Grund liegt an dem theologischen Axiom von der<br />

Unverfügbarkeit des Wortes Gottes, von der Nichtmanipulierbarkeit Seines Redens... . ...<br />

Es ist zu fragen, wie dem theologischen Axiom von der Unverfügbarkeit des Wortes Gottes<br />

methodisch-homiletisch Rechnung getragen werden kann.“<br />

Wolfgang Grünberg, <strong>Homiletik</strong> und Rhetorik, Gütersloh 1973, 81f.<br />

Durch eine Rhetorik, die:<br />

• von der Einsicht ausgeht, dass „wir immer sprachlich vermittelt denken“, dass wir immer<br />

„in ‘Sprachräumen’ leben“, dass sich dadurch Sprache „letztlich der Objektivation entzieht“;<br />

• von der Einsicht ausgeht, dass „Sprechen nur gelernt wird durch das Angesprochenwerden“<br />

im „Kontext gesellschaftlicher Kommunikation“;<br />

• von der „ethisch-emanzipatorischen“ Intention des Redens ausgeht;<br />

• sich an den „dialektischen Prozess des Fragens und Antwortens“ bindet, mit Gründen zu<br />

überzeugen sucht, aber nicht überreden will;<br />

• mit der Freiheit zum Widerspruch rechnet und diesem Raum lässt.<br />

Nach Wolfgang Grünberg, <strong>Homiletik</strong> und Rhetorik, Gütersloh 1973, 124f., 139f., 14f.<br />

Susanne Heine/Einführung in die <strong>Homiletik</strong>/<strong>VO</strong>/<strong>SS</strong> 20<strong>10</strong> <strong>10</strong>


Erfahrungsschritte – ein Schema<br />

1. Widerfahrnis:<br />

etwas erleiden, ich kann noch nicht darüber sprechen<br />

unmittelbare emotionale Betroffenheit - stammeln; nicht vermittlungsrelevant<br />

2. Erfahrung:<br />

sich des Widerfahrnisses bewusst werden; ich kann von mir sprechen<br />

als subjektive Einsicht im privaten Kreis vermittlungsrelevant<br />

3. An Erfahrung reicher werden:<br />

Einsicht von etwas gewinnen; ich kann, indem ich etwas von mir sage, auf etwas anderes<br />

verweisen, das ich erkannt habe; ich kann anderen etwas (Neues) sagen<br />

als Erkenntnis öffentlich vermittlungsrelevant<br />

4. Durch Erfahrung ‘umgekrempelt’ werden:<br />

eine neue Lebensform finden<br />

als persönliche ‚Bekehrung‘ nur bedingt vermittlungsrelevant<br />

Die Hörer/innen predigen mit<br />

„Eine bestimmte Predigt, die ein Prediger in einer konkreten Situation hält, bleibt nicht diese<br />

eine Predigt, sondern sie multipliziert und modifiziert sich durch die Zahl der Hörer, die sie<br />

aufnehmen. Das Hören ist nicht nur ein passiver, sondern gleichzeitig auch ein höchst aktiver<br />

Vorgang. Während jemand eine Predigt hört, stellen sich bei ihm eine Menge von Bildern,<br />

Erinnerungen und Assoziationen ein, die in direktem oder indirektem, bewußtem oder<br />

unbewußtem Zusammenhang mit dem Gehörten stehen. Das Gehörte und Assoziierte laufen<br />

nun aber nicht säuberlich getrennt nebeneinander her, sondern beeinflussen sich gegenseitig,<br />

verbinden und vermischen sich. Das gilt schon für die kognitive und erst recht für die<br />

emotionale Seite des Hörens. Wie jemand eine Predigt erlebt, dazu trägt er selbst ebensoviel<br />

bei wie der Prediger. Die wirkliche Predigt, die Predigt nämlich, die beim Hörer wirkt und<br />

nachwirkt, wird vom Hörer gemeinsam mit dem Prediger gemacht. Selbst wenn es der Prediger<br />

gar nicht will: der Hörer wirkt an seiner Predigt mit.<br />

Man kann diese empirische Feststellung zähneknirschend zur Kenntnis nehmen oder aus<br />

vollem Herzen bejahen und bewußt fördern.“<br />

Jörg Rothermundt, Der Heilige Geist und die Rhetorik, Gütersloh 1984, 69.<br />

Susanne Heine/Einführung in die <strong>Homiletik</strong>/<strong>VO</strong>/<strong>SS</strong> 20<strong>10</strong> 11


I, 3 Predigt und Wort Gottes<br />

• Predigt und Wort Gottes dürfen nicht miteinander vermischt werden:<br />

die Predigt ist mit dem Wort Gottes nicht identisch;<br />

das Wort Gottes ist mit der Predigt nicht identisch;<br />

• Predigt und Wort Gottes dürfen nicht voneinander getrennt werden:<br />

das Wort Gottes lässt sich nicht außerhalb der Predigt (als menschlicher Sprache) vernehmen;<br />

ohne das Wort Gottes ist die Predigt keine Predigt, sondern bloß eine<br />

Meinungsäußerung (2 Kor 4,5: „Wir predigen nicht uns selbst“);<br />

• Predigt und Wort Gottes stehen zueinander in einer coincidentia oppositorum.<br />

„Wie Nicolaus von Cues einen scharfen Unterschied macht zwischen der Schullogik, in der<br />

der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch gilt, also A und Nicht-A sich ausschließen, und<br />

der Logik des absolut Unendlichen, in der er nicht gilt, in der er vielmehr zum Hindernis des<br />

Denkens wird, so zieht auch Luther genau an derselben Stelle den kritischen Grenzstrich. Mag<br />

die aristotelische Logik mit ihren Syllogismen im Bereich der endlichen Dinge brauchbar<br />

sein, ‘in divinis’ trifft sie nicht zu, wie Luther schon in seiner Disputatio contra scholasticam<br />

theologiam von 1517 betont. ...<br />

Es existieren keine aufsteigenden Zwischenstufen zwischen dem Endlichen und Absoluten<br />

mehr. Es gibt deshalb keinen schrittweisen Aufstieg des menschlichen Denkens zu Gott, wie<br />

man vom Besonderen zum Allgemeinen gelangt. Es entfällt die Möglichkeit, die ‘Hierarchie’<br />

logisch oder ontologisch zu begründen und die Gottnähe nach dem Ort in dieser Hierarchie zu<br />

bestimmen. Alles Endliche steht im gleichen Verhältnis zu Gott.“<br />

Coincidentia oppositorum<br />

„Es ist lediglich eine ‘unzeitige’ Logik, die diese Möglichkeit übersieht, die sich doch schon<br />

in der Logik der Sprache anzeige, wenn wir etwas einen Beutel zeigen und sagen: ‘das sind<br />

hundert gulden ...’, oder auf ein Faß hinweisen und sagen: ‘das ist roter Wein’ ... . Wer hier<br />

einwendet, ein Faß sei kein Wein ..., der zertrennt von vornherein die gemeinte Einheit, beispielsweise<br />

das Weinfaß. ‘Er reißt die zwei vereinigte wesen voneinander und will von einem<br />

jeglichen in sonderheit reden’. Wenn man aber das Ganze ‘zertrennt’, so kann man freilich<br />

nicht anders als unterscheidend reden, aber wenn man das Ganze fassen will, so bedarf es<br />

eines Denkens und Sprechens, das die Einheit in den Unterschieden und Entgegensetzungen<br />

erfaßt - wider alle praedicatio identica des Nur-Identischen. Die traditionelle Logik muß hier<br />

durchaus von der Logik der Sprache lernen.“<br />

Susanne Heine/Einführung in die <strong>Homiletik</strong>/<strong>VO</strong>/<strong>SS</strong> 20<strong>10</strong> 12


„Denn für Nicolaus von Cues wie für Luther ist Gott wesenhaft anders als alles Seiende, und<br />

zwar in einer Weise, die alles rationelle Messen, Vergleichen, Bestimmen, wie es uns aus der<br />

Erkenntnis endlicher Gegenstände gewohnt ist, nicht mehr zuläßt. Gott ist durch keine Steigerung<br />

und keine Überhöhung des Endlichen zu erreichen. ... Es gibt keine ‘Proportion’ zwischen<br />

der endlichen Welt und ihm.“<br />

Z. B.: Gott ist das „Nächste und Fernste“, das Allerinwendigste und Auswendigste“.<br />

Erwin Metzke, Nicolaus von Cues und Martin Luther, in: Karlfried Gründer (hrsg.), Coincidentia<br />

oppositorum, Witten 1961, 2<strong>10</strong>; 211; 214; 220; 212; die Zitate in kleinen Anführungsstrichen<br />

stammen von Luther über ‘De praedicatione Identica’, in: WA 26, 437-445.<br />

Susanne Heine/Einführung in die <strong>Homiletik</strong>/<strong>VO</strong>/<strong>SS</strong> 20<strong>10</strong> 13

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