COLUMpodium 01-2005.pdf - Stiftung Columban

Anthroposophie
Was bedeutet anthroposophische Heil- und Sozialtherapie von Gerard Kwant
Das Essenzielle des anthroposophischen Menschenbildes
ist die Einzigartigkeit jedes Individuums. Jeder
Mensch wird betrachtet als ein geistiges Wesen mit
einer eigenen Individualität und eigenem Entwicklungsweg.
Diese Individualität existiert bereits vor der
Erdengeburt und wird auch nach dem Tode weiterexistieren.
Durch die Verbindung mit dem physischen Körper kann
die geistige Wesenheit sich in aufeinanderfolgenden
Erdenleben weiter entwickeln.
Nach dieser Erkenntnis ist das Geistige im Menschen,
dessen Individualität, immer gesund.
Bei Menschen mit einer geistigen Behinderung
(Entwicklungsstörung) ist die Rede von einem gestörten
Verhältnis zwischen ihrer Individualität und ihrem
Körper, durch Störungen in ihrem physischen Körper.
Prozesse wie das Denken, Fühlen und Wollen können
dadurch stark beeinträchtigt sein, jedoch nicht die
Persönlichkeit bildende Individualität selber.
Was bedeutet dies nun konkret dieser Ansicht nach für
die Arbeit mit Menschen mit einer Entwicklungsstörung?
Kurz gesagt: Die Pflege und Betreuung muss mehr
beinhalten als das Überwachen der körperlichen
und geistigen Gesundheit.
Wir wollen zudem, wie schwierig das auch manchmal
sein kann, hinstreben auf das Finden und Unterstützen
von durchführbaren Entwicklungsmöglichkeiten. Dies
tun wir unter anderem dadurch, dass wir die
Entwicklung der Beziehung in den Mittelpunkt stellen
und fördern zwischen behinderten Mitarbeitern und
nicht-behinderten Mitarbeitern.
Die Bezeichnung Heilpädagogik bedeutet eine
Erziehung, welche heilend wirkt. In der anthroposophisch-heilpädagogischen
Vorgehensweise wird das
Kind immer gesehen in einem erweiterten Familienkreis.
Die intensive Zusammenarbeit und Einbeziehung
der Eltern und eventueller Geschwister in die
pädagogische Arbeit hat einen hohen Stellenwert.
Die anthroposophische Heilpädagogik legt grossen
Wert auf eine künstlerische Umgebung, auf Therapien
mit einem künstlerischen Hintergrund und auf die
innere Haltung der Heilpädagogen als bestimmendes
Element in der Begegnung. Weiter spielt ein religiöskulturell
orientierter Rhythmus in Tag, Woche und Jahr
eine wichtige Rolle.
Die anthroposophische Sozialtherapie nun hat sich aus
dieser Heilpädagogik weiter entwickelt. Sie richtet sich
spezifisch nach der Pflege und Entwicklung für
Erwachsene mit einer Entwicklungsstörung. Der Ansatz
der anthroposophischen Sozialtherapie ist die menschliche
Ebenbürtigkeit. Die Erwachsenen (sprich behinderten
Mitarbeiter) werden angesprochen auf ihre
sozialen Fähigkeiten und gestärkt in ihrem Gefühl der
menschlichen Vollwertigkeit.
Konkret geschieht dies durch Teilnahme an künstlerischen
Aktivitäten, sowie sinnvoller Arbeit. Eine Arbeit im
Gegensatz zum Hobby, nicht für sich selber, sondern für
andere. Das, was produziert ist, wird gekauft und
gebraucht. Die Aufgaben, welche die behinderten
Mitarbeiter in den Werkstätten übernommen haben,
fordern von ihnen, bei sich zu bleiben und
Verantwortung zu übernehmen.
Auch in der Sozialtherapie ist die künstlerische
Umgebung, die Therapien, die innere Haltung der
Sozialpädagogen von immenser Bedeutung. Sowohl in
der Heilpädagogik als auch in der Sozialtherapie gilt
eine Entwicklungsstörung als eine Möglichkeit, um
innere Fähigkeiten zu entwickeln. Auch die Heilpädagogen
und Sozialtherapeuten durchlaufen gemeinsam
mit den Betreuten einen Entwicklungsweg, erstens
durch die alltägliche gemeinsame Auseinandersetzung,
aber zum Beispiel auch durch das gemeinsame
Wohnen mit den Betreuten (Camphill).
Die anthroposophische Methodik der Heilpädagogik
und Sozialtherapie selbst basiert auf der Erfahrung,
dass der Einsatz zur Selbstentwicklung bei den
Betreuern grossen Einfluss hat auf die Entwicklungsmöglichkeiten
der Kinder und Erwachsenen.
In diesem Sinne sind Menschen mit einer Entwicklungsstörung,
sowie ihre Begleiter innerhalb der Sozialtherapie,
„Challenged people“.
Behinderte Mitarbeiter und nicht-behinderte Mitarbeiter,
welche Verantwortung für einander übernehmen
wollen, gehören in der anthroposophischen Sozialtherapie
zu einer Gemeinschaft, worin jeder auf seine
individuellen Qualitäten und sein Entwicklungspotenzial
hin angesprochen wird.
Gerard Kwant arbeitet seit 2004 im Heim Columban als Gruppenverantwortlicher
auf der Wohngruppe Ahorn und blickt auf über
zwanzig Jahre Erfahrung in der Arbeit als Sozialtherapeut mit
Behinderten zurück.
12 COLUMpodium / Frühjahr 2005