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Cicero Made in Germany - Terrorexport: Wie junge Deutsche zu Gotteskriegern werden (Vorschau)

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Nº11<br />

NOVEMBER<br />

2014<br />

€ 8.50<br />

CHF 13<br />

<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />

Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €, Spanien: 9.50 € , F<strong>in</strong>nland: 12.80 €<br />

11<br />

4 196392 008505<br />

Paul Nolte<br />

Die Grünen s<strong>in</strong>d am Ende<br />

<strong>Terrorexport</strong>: <strong>Wie</strong> <strong>junge</strong> <strong>Deutsche</strong><br />

<strong>zu</strong> <strong>Gotteskriegern</strong> <strong>werden</strong><br />

Tom Enders<br />

Der Ukra<strong>in</strong>ekrieg ist e<strong>in</strong> Weckruf<br />

Clemens Meyer<br />

Als ich wiedervere<strong>in</strong>igt wurde


CALIBRE DE CARTIER DIVER<br />

MANUFAKTUR-UHRWERK 1904 MC<br />

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ATTICUS<br />

N°-11<br />

SELBST GEZÜCHTET<br />

Titelbild: Jens Bonnke; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

Mit Schaudern und Schrecken blickte<br />

man <strong>in</strong> den vergangenen Jahren<br />

immer wieder nach Großbritannien.<br />

Zwei Männer schlachteten dort im Mai<br />

2013 e<strong>in</strong>en <strong>junge</strong>n britischen Soldaten<br />

mit e<strong>in</strong>em Fleischerbeil auf offener<br />

Straße <strong>in</strong> Südost-London ab. Oder die<br />

Bomben serie vom 7. Juli 2005 <strong>in</strong> der<br />

britischen Hauptstadt, die 52 Pendler <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Bus und drei U-Bahnen das<br />

Leben kostete. In allen diesen Fällen<br />

zeigte sich: Dieser islamistische Terror<br />

ist „home grown“, im eigenen Land<br />

gezüchtet. Junge Männer waren <strong>in</strong><br />

Moscheen und H<strong>in</strong>terzimmern von<br />

radikalen Predigern aufgestachelt und<br />

<strong>zu</strong> <strong>Gotteskriegern</strong> gemacht worden.<br />

Dieses Phänomen ist nicht mehr auf<br />

Großbritannien beschränkt. Die Armee<br />

des sogenannten „Islamischen Staates“<br />

rekrutiert ihre Kämpfer auch <strong>in</strong><br />

Deutschland. Besonders radikale Salafisten<br />

umwerben systematisch <strong>junge</strong><br />

<strong>Deutsche</strong> – Menschen, die auf der Suche<br />

nach S<strong>in</strong>n und Halt s<strong>in</strong>d und beides<br />

im Kampf gegen die „Ungläubigen“ <strong>zu</strong><br />

f<strong>in</strong>den glauben.<br />

Sie morden im Irak und <strong>in</strong> Syrien,<br />

sie sprengen sich dort <strong>in</strong> die Luft und<br />

töten viele Unschuldige. Auch Deutschland<br />

ist <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Exportland des islamistischen<br />

Terrors geworden. Und die<br />

Täter könnten <strong>zu</strong>rückkommen, auch hier<br />

bomben und morden und den Gottesstaat<br />

ausrufen. Im Internet kursiert<br />

bereits e<strong>in</strong> Video, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> Islamist<br />

droht, er könne „für nichts garantieren“.<br />

Der erste Prozess gegen e<strong>in</strong>en Heimkehrer<br />

von der syrischen Front läuft gerade<br />

<strong>in</strong> Frankfurt an.<br />

Warum haben es die Menschenfänger<br />

<strong>in</strong> Deutschland so e<strong>in</strong>fach? Was<br />

macht <strong>junge</strong> Männer so empfänglich<br />

für ihre Angebote? Unser Titelautor<br />

Ulrich Kraetzer recherchiert schon seit<br />

Jahren <strong>in</strong> der deutschen Salafistenszene<br />

und beschreibt, wie <strong>junge</strong><br />

Menschen den e<strong>in</strong>fachen Wahrheiten<br />

von Hasspredigern folgen ( ab Seite 18 ).<br />

Peter Neumann, Direktor des Internationalen<br />

Zentrums für Studien <strong>zu</strong>r<br />

Radikalisierung <strong>in</strong> London, spricht<br />

über die Motive, die vermehrt vor<br />

allem <strong>junge</strong> Männer <strong>zu</strong>m Äußersten<br />

treiben ( ab Seite 28 ). Und die türkischstämmige<br />

Autor<strong>in</strong> Güner<br />

Yasem<strong>in</strong> Balci hält e<strong>in</strong> Plädoyer für<br />

e<strong>in</strong>e zeitgemäße Lesart des Koran – es<br />

ist die klare Abgren<strong>zu</strong>ng e<strong>in</strong>er Muslim<strong>in</strong><br />

gegen diesen tödlichen Irrs<strong>in</strong>n im<br />

Namen Allahs ( Seite 32 ).<br />

Mit besten Grüßen<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Chefredakteur<br />

5<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Nur, wenn weiterh<strong>in</strong><br />

so viel Kohle verbrannt wird.<br />

Erdgas aus Norwegen ist die emissionsarme und kosteneffektive Antwort<br />

auf Deutschlands Energiefragen. Aber die Politik setzt weiterh<strong>in</strong> auf Kohle –<br />

und das, obwohl Deutschland die Energiewende will. Denn im Vergleich <strong>zu</strong><br />

Kohle ist Erdgas umweltfreundlicher und bezahlbar.<br />

Mehr Information auf statoil.de


INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

18<br />

TERROR MADE IN GERMANY<br />

In ihrem bisherigen Leben s<strong>in</strong>d sie gescheitert, die Salafisten locken<br />

sie mit Heilsversprechen. Im Namen Allahs ziehen die <strong>junge</strong>n<br />

Männer <strong>in</strong> den Krieg. E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> e<strong>in</strong> perfides System<br />

Von ULRICH KRAETZER<br />

Foto: DDP Images/DAPD [M]<br />

28<br />

„AUCH BEI UNS WIRD ES<br />

ENTHAUPTUNGEN GEBEN“<br />

Der Londoner Wissenschaftler<br />

Peter Neumann über e<strong>in</strong>en<br />

schier unaufhaltsamen Trend<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

32<br />

EIN AUFRUF<br />

E<strong>in</strong>e deutsche Muslim<strong>in</strong> wendet<br />

sich an ihre Geschwister<br />

im Glauben. Im Namen<br />

Allahs, des Barmherzigen<br />

Von GÜNER YASEMIN BALCI<br />

33<br />

„DIE AUFKLÄRUNG<br />

GEHÖRT ZUM ISLAM“<br />

Der amerikanische Imam<br />

Feisal Abdul Rauf sieht<br />

nichts Muslimisches im IS<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

7<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />

36 DER SPIELMANN<br />

Guido Wolf will die CDU im<br />

Südwesten <strong>zu</strong>rück an die Macht führen.<br />

Se<strong>in</strong>e Spezialitäten: Reime und Xylofon<br />

Von CONSTANTIN MAGNIS<br />

58 DER PROTEST-VETERAN<br />

Joshua Wong Chi-fung ist<br />

das Gesicht der Hongkonger<br />

Proteste. Mit 18 Jahren<br />

Von INNA HARTWICH<br />

84 DER WAHRE<br />

MISTER KARSTADT<br />

Unfreiwilliger Karstadt-<br />

Sanierer: Betriebsrat<br />

Hellmut Patzelt<br />

Von TIL KNIPPER<br />

38 VON DER LIEBE VERTRIEBEN<br />

Britta Ernst macht als Schulm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> Kiel Karriere. In Hamburg g<strong>in</strong>g das<br />

nicht, denn dort regiert ihr Mann<br />

Von HARTMUT PALMER<br />

60 PUTINS SPRACHROHR<br />

Margarita Simonjan, Star der<br />

Moskauer Schickeria, gebietet<br />

über e<strong>in</strong> Fernsehimperium<br />

Von MORITZ GATHMANN<br />

86 PINK UND TAFF<br />

Jasm<strong>in</strong> Taylor verließ den<br />

Iran und wurde Millionär<strong>in</strong><br />

Von DANIELA SINGHAL<br />

40 MACHT GEGEN GEDULD<br />

Der Berl<strong>in</strong>er Anwalt Wolfgang<br />

Kaleck geht beharrlich gegen<br />

Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen vor<br />

Von CHRISTOPH SEILS<br />

42 VERBLÜHT<br />

Von wegen Volkspartei. Warum das<br />

Zeitalter der Grünen vorbei ist<br />

Von PAUL NOLTE<br />

49 FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… ob es e<strong>in</strong> P<strong>in</strong>k- und e<strong>in</strong><br />

Pistolen-Gen gibt<br />

Von AMELIE FRIED<br />

50 TATORT DEUTSCHE BANK<br />

Das größte deutsche Kredit<strong>in</strong>stitut<br />

ist Stoff für e<strong>in</strong>en Krimi<br />

Von FRANK A. MEYER<br />

52 DAS KIND IST DIE POLITIK<br />

E<strong>in</strong> Downsyndrom-Baby und<br />

dann Vollzeit-Politiker<strong>in</strong>?<br />

Unterwegs mit Dagmar Schmidt<br />

Von PETRA SORGE<br />

42<br />

Geknickt. Wo<strong>zu</strong> braucht es<br />

die Grünen?<br />

62 JUNCKERS HAUSHÄLTERIN<br />

Die Bulgar<strong>in</strong> Kristal<strong>in</strong>a Georgiewa<br />

ist die mächtigste Frau <strong>in</strong> Brüssel<br />

Von MICHAEL LACZYNSKI<br />

64 VOM STIL ZUR SUBSTANZ<br />

Kann Indiens Premier<br />

Narendra Modi se<strong>in</strong>e Versprechen<br />

halten? E<strong>in</strong> Brief<strong>in</strong>g über die<br />

größte Demokratie der Welt<br />

Von BRITTA PETERSEN<br />

74 JENSEITS VON EDEN<br />

Die Flüchtl<strong>in</strong>ge, die Grenzer<br />

und die Retter. E<strong>in</strong> Fotoessay<br />

vom Rand Europas<br />

Von CARLOS SPOTTORNO<br />

74<br />

Gerührt. Nur wenige schaffen<br />

es nach Europa<br />

88 WIE DER VATER<br />

IN CHARMANT<br />

Die Spanier<strong>in</strong> Ana Botín hat<br />

von ihrem Vater die größte<br />

Bank Europas übernommen<br />

Von THILO SCHÄFER<br />

90 WIE IM FLUG<br />

An der Ampel hängt man<br />

den Daimler ab. Mit dem<br />

Elektrorad durch Stuttgart<br />

Von TIL KNIPPER<br />

92 „WIR DUCKEN UNS WEG“<br />

E<strong>in</strong> Gespräch mit Airbus-<br />

Chef Tom Enders<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

100 ENERGIE ALS WAFFE<br />

<strong>Wie</strong> abhängig s<strong>in</strong>d wir wirklich<br />

von Put<strong>in</strong>s Gas? E<strong>in</strong>e Analyse<br />

Von CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />

92<br />

Genervt. Airbus-Chef Enders<br />

und die Rüstungsbürokratie<br />

Illustration: Susann Stefanizen; Fotos: Carlos Spottorno/Panos Pictures , Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong><br />

8<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


STIL<br />

SALON<br />

CICERO<br />

STANDARDS<br />

104 WARUM SO ERNST?<br />

Ehemals seichte<br />

Schauspieler wie Matthew<br />

McConaughey erobern<br />

das seriöse Fach<br />

Von SARAH-MARIA DECKERT<br />

118 EIN SCHMERZ IST<br />

ES UND SCHÖN<br />

Für den Tango gab sie ihr altes<br />

Leben auf – und wurde e<strong>in</strong> Star.<br />

Die Geschichte der Nicole Nau<br />

Von FRIEDERIKE EBELING<br />

5 ATTICUS<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

10 STADTGESPRÄCH<br />

14 FORUM<br />

16 IMPRESSUM<br />

146 POSTSCRIPTUM<br />

106 RUND UM DIE UHR<br />

Zeig mir de<strong>in</strong> Handgelenk und<br />

ich sage dir, wer du bist: kle<strong>in</strong>e<br />

Typologie des Uhrenträgers<br />

120 DAS LEBEN VERKLÄREN<br />

<strong>Wie</strong> der Chansonnier<br />

Sebastian Krämer Masseur<br />

der deutschen Seele wurde<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

Von LENA BERGMANN<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

114 „SADO-MASO IST<br />

MAINSTREAM“<br />

Buchautor Gerhard Haase-<br />

H<strong>in</strong>denberg im Interview über<br />

Gangbang und Blümchensex<br />

122 STURKOPF TRIFFT<br />

BEKLOPPTEN<br />

Der bissige Schriftsteller Eckhard<br />

Henscheid entdeckt Dostojewski<br />

Von HOLGER FUSS<br />

Von LENA BERGMANN<br />

Illustrationen: Susann Stefanizen, Jens Bonnke<br />

116 WARUM ICH TRAGE,<br />

WAS ICH TRAGE<br />

Große haben nur e<strong>in</strong>e<br />

Chance: italienische Mode<br />

Von CHARLY HÜBNER<br />

106<br />

Getaktet. Was die Uhr<br />

über ihre Besitzer<strong>in</strong> sagt<br />

126 „ZERSTÖRUNG IST HEITER“<br />

Blixa Bargeld erklärt<br />

den neuen Sound der<br />

E<strong>in</strong>stürzenden Neubauten<br />

Von TIMO STEIN<br />

128 DAS GROSSE VERSCHWINDEN<br />

<strong>Wie</strong> roch es? <strong>Wie</strong> fühlte es<br />

sich an? Rückblende nach<br />

Leipzig <strong>in</strong>s Jahr 1989<br />

Von CLEMENS MEYER<br />

134 25 FEHLER<br />

Was wir bei der nächsten<br />

deutschen Vere<strong>in</strong>igung<br />

tunlichst vermeiden sollten<br />

Von PETRA SORGE und CHRISTOPH SEILS<br />

136 MAN SIEHT NUR,<br />

WAS MAN SUCHT<br />

William Turners berühmtes<br />

Kriegsschiff<br />

Von BEAT WYSS<br />

138 LITERATUREN<br />

Bücher von Teffy, <strong>Made</strong>le<strong>in</strong>e Prahs,<br />

Thomas Piketty und Sofi Oksanen<br />

144 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />

Freibad, Champagner und<br />

jede Menge Klartext<br />

Von MAREN KROYMANN<br />

Der Titelkünstler<br />

Manch e<strong>in</strong>er kennt die<br />

bärtigen Männer mit den<br />

Häkelmützen vielleicht aus<br />

deutschen Fußgängerzonen.<br />

Dort stehen sie immer<br />

mal wieder h<strong>in</strong>ter ihren mit<br />

Propagandamaterial beladenen<br />

Tischen und machen<br />

Werbung für ihre ganz<br />

besonders rückwärtsgewandte<br />

Lesart des Koran:<br />

Salafisten <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Dabei gilt: Nicht jeder von<br />

ihnen ist e<strong>in</strong> Unterstützer<br />

der brutalen Terrormilizen<br />

des „Islamischen Staates“.<br />

Aber gleichzeitig hat eben<br />

fast jeder, der sich aus<br />

unserem Kulturkreis nach<br />

Syrien oder <strong>in</strong> den Irak<br />

aufmacht, um dort für<br />

den IS <strong>zu</strong> kämpfen, vorher<br />

Kontakt <strong>zu</strong> salafistischen<br />

Gruppen gehabt. Unser<br />

Titelkünstler Jens Bonnke,<br />

der für <strong>Cicero</strong> <strong>zu</strong>letzt im<br />

Juli das Cover mit Verteidigungsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />

Ursula von<br />

der Leyen illustriert hat,<br />

setzt diesen Zusammenhang<br />

wirkmächtig <strong>in</strong>s Bild:<br />

e<strong>in</strong> Salafist, dessen Bart<br />

militante Islamisten entsprießen.<br />

Es s<strong>in</strong>d Kämpfer,<br />

die bereit s<strong>in</strong>d, für ihre<br />

Weltsicht <strong>zu</strong> töten und<br />

<strong>zu</strong> sterben. Sie kommen<br />

aus Deutschland. Terror –<br />

„<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong>“.<br />

9<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


CICERO<br />

Stadtgespräch<br />

Der Berl<strong>in</strong>er Intendant Claus Peymann macht <strong>in</strong> Marmelade, e<strong>in</strong><br />

Staatssekretär braucht Spickzettel – und M<strong>in</strong>ister Müller bereitet die Bühne<br />

Frankfurter Buchmesse<br />

Hotelsuite statt Halle<br />

Break<strong>in</strong>g Jam<br />

Peymann kocht e<strong>in</strong><br />

Staatssekretär Fuchtel<br />

Leichte Wissenslücken<br />

Irgendwann muss auch mal Schluss<br />

se<strong>in</strong>. Dieser Satz gilt auf der Frankfurter<br />

Buchmesse (<strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest aus Sicht<br />

der Gäste) weniger für die Partys der<br />

Verlage. Sondern vielmehr für die Hotelzimmerpreise,<br />

die Getränketarife im<br />

Frankfurter Hof – und für die Standmieten<br />

<strong>in</strong> den Messehallen. Dort hatte<br />

der Branchenriese Taschen bisher immer<br />

e<strong>in</strong>e Ausstellungsfläche gemietet,<br />

die von ihrer Größe her durchaus<br />

dem Format se<strong>in</strong>er opulenten XXL-<br />

Bildbände entsprach. Dieses Jahr verzichtete<br />

Taschen jedoch auf e<strong>in</strong>en Messeauftritt<br />

und präsentierte se<strong>in</strong> neues<br />

Programm lieber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Suite <strong>in</strong> besagtem<br />

Frankfurter Hof, der nicht nur<br />

mit se<strong>in</strong>er Bar <strong>zu</strong> den teuersten Adressen<br />

der Stadt zählt. Für Taschen dem<br />

Vernehmen nach trotzdem die weitaus<br />

günstigere Wahl. Wenn die Buchmesse<br />

nicht aufwacht, könnte das Beispiel<br />

durchaus Schule machen. mar<br />

E<strong>in</strong> Lustspiel <strong>in</strong> vier Akten. Drei Mal<br />

Brom-, Him- oder Stachelbeere. Und<br />

e<strong>in</strong> Mal Bio-Gelier<strong>zu</strong>cker. Und als Zugabe<br />

e<strong>in</strong> Schuss Zitronensaft. Das ist<br />

das Marmeladen-Geheimrezept von<br />

Claus Peymann, dem Intendanten des<br />

Berl<strong>in</strong>er Ensembles. Die Beeren aus se<strong>in</strong>em<br />

Köpenicker Garten kocht er nun<br />

schon im zweiten Jahr e<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong> Pressesprecher<br />

leitet Peymann dabei an,<br />

der „ungeduldig ist, bis er das Ergebnis<br />

sieht“. E<strong>in</strong> süßes Resultat. Etwa gegen<br />

die Brecht’sche Bitterkeit des Spielplans?<br />

Vielleicht arbeitet Peymann aber<br />

auch schon an se<strong>in</strong>er Karriere nach dem<br />

Berl<strong>in</strong>er Ensemble, das er nur noch zwei<br />

Spielzeiten leitet. „In der Staatsoper<br />

s<strong>in</strong>d sie regelrecht süchtig nach me<strong>in</strong>en<br />

Gelees“, gestand der Intendant e<strong>in</strong>er<br />

Berl<strong>in</strong>er Zeitung. Peymann, der Marmeladen-Dealer?<br />

In se<strong>in</strong>em Keller sollen<br />

bereits 80 Gläser mit fe<strong>in</strong>stem Stoff lagern:<br />

Stachelbeer-Gelee. v<strong>in</strong><br />

Was qualifiziert den baden-württembergischen<br />

CDU-Volksvertreter<br />

Hans-Joachim Fuchtel eigentlich<br />

für se<strong>in</strong>en Job als Staatssekretär im<br />

Bundesentwicklungshilfem<strong>in</strong>isterium?<br />

Gängige Antwort: Nichts, außer dass<br />

se<strong>in</strong>er Heimat, dem Nordschwarzwald,<br />

ebenfalls Entwicklungshilfe nottäte.<br />

Auf Youtube war jetzt e<strong>in</strong> Interview mit<br />

Fuchtel <strong>zu</strong> sehen, <strong>in</strong> dem er <strong>zu</strong>r Bedeutung<br />

des <strong>Deutsche</strong>n Instituts für Entwicklungspolitik<br />

(die) befragt wurde.<br />

Das Institut sollte e<strong>in</strong> Staatssekretär<br />

eigentlich <strong>in</strong>- und auswendig kennen,<br />

denn es ist die Denkfabrik <strong>zu</strong>r <strong>in</strong>ternationalen<br />

Entwicklungs<strong>zu</strong>sammenarbeit.<br />

Fuchtel konnte die Fragen jedoch<br />

nur beantworten, <strong>in</strong>dem er umständlich<br />

e<strong>in</strong>en Spickzettel aus der Hosentasche<br />

zog, um dort se<strong>in</strong>e Antwort <strong>in</strong> vier<br />

Punkten stotternd ab<strong>zu</strong>lesen. Der Kameramann<br />

hielt penibel drauf; das Interview<br />

wurde <strong>in</strong>zwischen gelöscht. tz<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

10<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Die Metamorphose -<br />

e<strong>in</strong>e Geschichte von Hermès<br />

Doubleface-<br />

Kaschmirmantel<br />

mit Gürtel<br />

Gerade geschnittene<br />

Lammlederhose<br />

Stiefeletten aus<br />

glattem Kalbsleder<br />

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Tel. 089/55 21 53-0<br />

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CICERO<br />

Stadtgespräch<br />

Abrechnung mit Dirk Niebel<br />

Gerd Müllers Theater<br />

Australische Charmeoffensive<br />

Ritchie Rich<br />

Telefonseelsorge<br />

Guter Ruf<br />

Es kommt nicht oft vor, dass e<strong>in</strong><br />

Bundesm<strong>in</strong>ister gegen se<strong>in</strong>en<br />

Amtsvorgänger <strong>zu</strong> Felde zieht – und<br />

dies auch noch unter E<strong>in</strong>satz von<br />

Steuergeldern. Bei Ex-Entwicklungsm<strong>in</strong>ister<br />

Dirk Niebel (FDP) und se<strong>in</strong>em<br />

Nachfolger im Amt, Gerd Müller (CSU),<br />

ist das der Fall. Müller hält offensichtlich<br />

überhaupt nichts von Niebels<br />

künftiger Tätigkeit <strong>in</strong> der Dritten Welt<br />

als Cheflobbyist für den Waffenkonzern<br />

Rhe<strong>in</strong>metall. Denn er fördert jetzt<br />

e<strong>in</strong> Theaterstück der Berl<strong>in</strong>er Compagnie,<br />

die schon mit dem Aachener<br />

Frie dens preis ausgezeichnet worden ist,<br />

weil sie sich auf der Bühne gern mit<br />

aktuell brisanten politischen Themen<br />

ause<strong>in</strong>andersetzt. „Stille Macht“ heißt<br />

das Stück, mit dem die Truppe diesen<br />

Herbst auf Tournee geht. Agrar- und<br />

Waffenlobbyisten treten dar<strong>in</strong> als<br />

Schurken auf, die Streubomben als<br />

smarte Munition an Entwicklungsländer<br />

verkaufen. Müllers „Reisegeld“<br />

für die Theaterleute stammt aus e<strong>in</strong>em<br />

speziellen Sondertitel, wie se<strong>in</strong>e<br />

Sprecher<strong>in</strong> Kathar<strong>in</strong>a Mänz bestätigt:<br />

„Die Subvention kommt aus e<strong>in</strong>em Etat,<br />

mit dem der Entwicklungshilfem<strong>in</strong>ister<br />

Bildungsarbeit <strong>in</strong> Sachen Entwicklungspolitik<br />

fördert und klarmachen will,<br />

dass Waffenverkauf <strong>in</strong> die Dritte<br />

Welt mit Entwicklungspolitik aus se<strong>in</strong>er<br />

Sicht nichts <strong>zu</strong> tun hat.“ Von der<br />

FDP-Führung war ke<strong>in</strong> Kommentar <strong>zu</strong><br />

dem Vorgang <strong>zu</strong> erhalten, obwohl dort<br />

auch e<strong>in</strong>ige von Niebels neuem Job als<br />

Waffenlobbyist nicht viel halten. tz<br />

Der australische Botschafter David<br />

Ritchie hat nur e<strong>in</strong>en Wunsch: Angela<br />

Merkel möge doch nach dem G-<br />

20-Gipfel <strong>in</strong> Brisbane Mitte November<br />

noch etwas länger <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Land bleiben.<br />

Zwei, drei Tage vielleicht. „Das<br />

wäre wunderschön“, schwärmte Ritchie<br />

vor Journalisten, die er <strong>zu</strong>r Charmeoffensive<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong> Haus geladen hatte. Der<br />

Diplomat servierte We<strong>in</strong> von Down Under,<br />

Garnelenspießchen, M<strong>in</strong>ced Pie<br />

und australische Lam<strong>in</strong>gtons – Sandkuchen<br />

<strong>in</strong> Schokoglasur und Kokosflocken.<br />

Denn Ritchie hat große Sorgen: Se<strong>in</strong><br />

Chef, Premierm<strong>in</strong>ister Tony Abbott, beobachtet<br />

eifersüchtig, wie die EU mit<br />

Kanada und den USA e<strong>in</strong> Freihandelsabkommen<br />

aushandelt. Australien überlege<br />

noch, se<strong>in</strong>en Wunsch ebenfalls an<strong>zu</strong>melden,<br />

verrät der Botschafter. Doch<br />

bislang seien die Handelsbeziehungen<br />

<strong>zu</strong>r Bundesrepublik schlichtweg<br />

„erbärmlich“. Von wegen Autos oder<br />

Schwer<strong>in</strong>dustrie: „Australia loves German<br />

Schlösser“, sagt Ritchie pikiert –<br />

und die <strong>Deutsche</strong>n importieren am<br />

liebsten goldene Prägemünzen (Sammler<br />

schwören auf Känguru-, Koalabären-<br />

und König<strong>in</strong>-Elizabeth-Konterfeis).<br />

Der Botschafter hofft, dass sich das mit<br />

dem G-20-Gipfel ändert. Und mit Merkel.<br />

Ihr Besuch <strong>in</strong> Australien sei ja erst<br />

der zweite e<strong>in</strong>es deutschen Regierungsoberhaupts<br />

<strong>in</strong> 70 Jahren. Wenn er auf<br />

deutsche Unternehmer trifft, sagt Ritchie,<br />

würde er sie manchmal am liebsten<br />

schütteln und fragen: „Wollen Sie<br />

nicht das große Geld verdienen?“ ps<br />

Im Berl<strong>in</strong>er Bahnhof Friedrichstraße<br />

reagiert man grundsätzlich vorsichtig,<br />

wenn man von e<strong>in</strong>em Fremden angesprochen<br />

wird, der etwas will. Dieser<br />

Bahnhof ist e<strong>in</strong> sehr eigenes Soziotop:<br />

viele Obdachlose, Verrückte, Schattengewächse.<br />

Aber dieser freundliche, etwas<br />

rundliche <strong>junge</strong> Mann macht e<strong>in</strong>en<br />

vertrauenswürdigen E<strong>in</strong>druck, wie<br />

er da so verzweifelt vor e<strong>in</strong>em Münzfernsprecher<br />

steht und <strong>in</strong> gebrochenem<br />

Englisch um Hilfe bittet. In der Hand<br />

e<strong>in</strong> Handy, deutet er ratlos auf e<strong>in</strong>e Telefonliste<br />

voller griechischer Namen<br />

und will wissen, was er nun von der<br />

deutschen Vorwahl weglassen soll, um<br />

am Münzfernsprecher durch<strong>zu</strong>kommen.<br />

Er wirft 20 Cent e<strong>in</strong>, wir versuchen es<br />

geme<strong>in</strong>sam, der Versuch schlägt fehl,<br />

die 20 Cent s<strong>in</strong>d weg. Ich werfe kurzerhand<br />

20 Cent nach, der Mann ist ganz<br />

perplex. „Hey, warum tun Sie das?“,<br />

fragt er. Na ja, 20 Cent, da muss man<br />

doch nicht lange rummachen. Also, wie<br />

ist jetzt die Nummer? Er schüttelt den<br />

Kopf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mischung aus Freude und<br />

Staunen. Unglaublich, ihr Berl<strong>in</strong>er, sagt<br />

er, „ihr seid e<strong>in</strong>fach großartig!“ Und<br />

dann klappt auch noch die Verb<strong>in</strong>dung.<br />

„I love you, man!“, ruft er aus und redet<br />

dann auf Griechisch <strong>in</strong> die Muschel.<br />

Schön, wenn man mit so wenig Aufwand<br />

so viel Glück erzeugt. Und als sozialisierter<br />

Schwabe auch noch etwas<br />

für den Ruf Berl<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Griechenland<br />

tun kann. Noch nicht so lange her, dass<br />

Merkel da auf Plakaten mit Hitlerbart<br />

gezeigt wurde. swn<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

12<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


∆<strong>Wie</strong> wachsen Fachkräfte nach?<br />

Der deutsche Mittelstand bildet 86 % aller Aus<strong>zu</strong>bildenden aus, im weltweit vorbildlichen<br />

dualen Ausbildungssystem. Und das ist nur e<strong>in</strong>er von vielen Gründen, warum es sich lohnt,<br />

Verantwortung <strong>zu</strong> übernehmen. Als e<strong>in</strong>e der größten Förderbanken der Welt <strong>in</strong>vestiert<br />

die KfW <strong>in</strong> Unternehmen und Arbeitsplätze – und ermöglicht jeder Generation, ihre Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />

nachhaltig <strong>zu</strong> verbessern.<br />

Veränderung fängt mit Verantwortung an. kfw.de/verantwortung


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

FORUM<br />

Es geht viel um Fußball, aber auch um Shakespeare,<br />

die katholische Kirche und das Duzen<br />

Zum Beitrag „Faules Spiel“ von Jens We<strong>in</strong>reich, Oktober 2014<br />

Die Fifa hat e<strong>in</strong> Transparenzproblem<br />

Bei der Fifa haben wir es mit e<strong>in</strong>em Transparenzproblem <strong>zu</strong> tun. Das führt <strong>zu</strong>r<br />

Unglaubwürdigkeit des Sports. Der Fußball trägt große Begriffe wie Ethik oder<br />

Fairplay vor sich her, handelt aber selbst nicht danach. Nun stellt sich die Frage,<br />

wie man das <strong>in</strong> Zukunft besser machen kann. Wir müssen diese Begriffe wieder<br />

mit Inhalt füllen, dann hat Heuchelei ke<strong>in</strong>e Chance mehr. Warum sich kaum aktive<br />

Spieler der Kritik an der Fifa anschließen, kann ich schwer beurteilen. Aber<br />

ich weiß, dass das alles prima Jungs s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs steht jeder, der sich an solchen<br />

sportlichen Großveranstaltungen beteiligt, unter öffentlicher Aufmerksamkeit.<br />

Die kann so stark se<strong>in</strong>, dass sich viele e<strong>in</strong> Abwehrverhalten <strong>zu</strong>legen.<br />

Theo Zwanziger, ehemaliger DFB-Präsident<br />

Zum Beitrag „Faules Spiel“ von Jens<br />

We<strong>in</strong>reich, Oktober 2014<br />

Dem Treiben e<strong>in</strong> Ende setzen<br />

Ich gehe mit Ihren Ausführungen<br />

absolut e<strong>in</strong>ig. Dem Treiben der Fifa<br />

unter dem Diktat von Sepp Blatter<br />

muss endlich e<strong>in</strong> Ende bereitet <strong>werden</strong>.<br />

Selbstherrlichkeit ist seit Jahren<br />

an der Tagesordnung (verschwenderischer<br />

Umgang mit den F<strong>in</strong>anzen,<br />

Vetternwirtschaft, diktatorisches<br />

Auftreten des Bosses usw.).<br />

Sepp Blatter befiehlt, die „auserkorenen“<br />

Länderverantwortlichen tanzen<br />

nach se<strong>in</strong>er Pfeife – und die Bevölkerung<br />

zahlt das Desaster.<br />

Erw<strong>in</strong> Laesser, CH-Bellikon<br />

Boykotte s<strong>in</strong>d s<strong>in</strong>nlos<br />

Rote Karte alle<strong>in</strong> für <strong>Cicero</strong>! Nichts<br />

gegen e<strong>in</strong>e seriöse Recherche über<br />

die Machenschaften und Korruption<br />

im <strong>in</strong>ternationalen Sport. Aufrufe<br />

<strong>zu</strong>m Boykott s<strong>in</strong>d aber s<strong>in</strong>nlos, wie<br />

die Geschichte zeigt.<br />

Wolfgang Reuther, Leipzig<br />

Ke<strong>in</strong>e sachlichen Gründe<br />

Dem Protest gegen Katar kann ich<br />

mich nur anschließen. Für die Entscheidung<br />

<strong>zu</strong>gunsten Katars gab<br />

es ke<strong>in</strong>erlei sachliche, strukturelle,<br />

sportliche, historische oder sonstige<br />

nachvollziehbare Begründungen.<br />

Da ich nicht davon ausgehe, dass die<br />

Entscheider nicht folgerichtig denken<br />

und urteilen können, muss es<br />

also andere Gründe gegeben haben.<br />

Aber welche?<br />

Manfred Michels, Bremen<br />

Korrupt und regelvergessen<br />

Die WM <strong>in</strong> Katar war von vornhere<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Korruptionssumpf<br />

und ist e<strong>in</strong> elender ökologischer und<br />

politischer Schwachs<strong>in</strong>n. Die E<strong>in</strong>verleibung<br />

ukra<strong>in</strong>ischer Fußballclubs<br />

<strong>in</strong> die russische Liga widerspricht<br />

klar den Fifa/Uefa-Regeln, die dafür<br />

Sanktionen vorsehen – das ist nur<br />

e<strong>in</strong> weiterer Grund, Russland und<br />

Put<strong>in</strong> die WM <strong>zu</strong> entziehen.<br />

Kar<strong>in</strong> Diana Deckenbach, Berl<strong>in</strong><br />

Drei Rote Karten<br />

Die erste Rote Karte geht an den<br />

<strong>Cicero</strong>-Newsletter, dem es nicht gel<strong>in</strong>gt,<br />

sich klar darüber <strong>zu</strong> äußern,<br />

was Frau Gör<strong>in</strong>g-Eckardt wirklich<br />

will. Hat sie Hoffnung auf irgendwas,<br />

oder fordert sie irgendwas?<br />

Und wenn ja, was?<br />

Die zweite Rote Karte geht an<br />

Frau Gör<strong>in</strong>g-Eckardt, wenn sie die<br />

Fifa auffordert, etwas <strong>zu</strong> überdenken.<br />

Will sie denn bei dieser krim<strong>in</strong>ellen<br />

Vere<strong>in</strong>igung wirklich e<strong>in</strong>e<br />

veränderte E<strong>in</strong>schät<strong>zu</strong>ng erwarten?<br />

Die dritte Rote Karte geht<br />

an den DFB, der mal irgendwann<br />

Farbe bekennen und e<strong>in</strong>e klare Position<br />

beziehen sollte, statt semantisch<br />

rum<strong>zu</strong>eiern.<br />

Dr. W<strong>in</strong>fried Hildebrandt, Oberursel<br />

Unter Drogene<strong>in</strong>fluss<br />

Es sche<strong>in</strong>t so, als hätten sich die<br />

Funktionäre bei e<strong>in</strong>er Wasserpfeife<br />

für Katar entschieden. Da war was<br />

dr<strong>in</strong> <strong>in</strong> dem Tabak. Entscheidungen,<br />

welche unter Drogene<strong>in</strong>fluss<br />

gefällt <strong>werden</strong>, s<strong>in</strong>d nichtig. Deswegen:<br />

Rote Karte und Stadionverbot<br />

für die Funktionäre, welche<br />

sich für dieses Ergebnis starkgemacht<br />

haben.<br />

Holger Bremser, Langenfeld<br />

Nonsens<br />

Mit Nonsens wie der „Roten Karte“<br />

macht sich <strong>Cicero</strong> lächerlich. Ansonsten<br />

ohne Zweifel e<strong>in</strong> ordentliches<br />

Blatt.<br />

Rüdiger W<strong>in</strong>ter, Hamburg<br />

14<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


WER HÄTTE GEDACHT,<br />

DASS SCHÄTZE SO EINFACH<br />

ZU ENTDECKEN SIND.<br />

1<br />

4<br />

2<br />

1 | SALZBURGER MISSALE<br />

aus dem Besitz Salamanca-<br />

Ortenburg, Venedig, 1515<br />

2 | SPÄTGOTISCHER<br />

KETTENEINBAND<br />

Drei Dekretalien, Venedig, 1485/86<br />

3 | BETBUCH DES KURFÜRSTEN<br />

AUGUST VON SACHSEN<br />

Dresden, 1568 & Luthers Psalter,<br />

Wittenberg, 1541<br />

3<br />

4 | HARTMANN SCHEDEL<br />

Liber Chronicarum, Nürnberg, 1493<br />

5<br />

5 | AUGUSTINUS<br />

De Civitate Dei, Basel, 1479<br />

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IMPRESSUM<br />

VERLEGER Michael R<strong>in</strong>gier<br />

CHEFREDAKTEUR Christoph Schwennicke<br />

STELLVERTRETER DES CHEFREDAKTEURS<br />

Alexander Marguier<br />

REDAKTION<br />

TEXTCHEF Georg Löwisch<br />

CHEFIN VOM DIENST Kerst<strong>in</strong> Schröer<br />

CHEFREPORTER Constant<strong>in</strong> Magnis<br />

POLITISCHER KORRESPONDENT Christoph Seils<br />

RESSORTLEITER Lena Bergmann ( Stil ),<br />

Judith Hart ( Weltbühne ), Dr. Alexander Kissler ( Salon ),<br />

Til Knipper ( Kapital ), Dr. Frauke Meyer-Gosau<br />

( Literaturen )<br />

CICERO ONLINE Petra Sorge, Timo Ste<strong>in</strong><br />

ASSISTENTIN DES CHEFREDAKTEURS<br />

Monika de Roche<br />

REDAKTIONSASSISTENTIN Sonja V<strong>in</strong>co<br />

ART-DIREKTORIN Viola Schmieskors<br />

BILDREDAKTION Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

PRODUKTION (DRUCK + DIGITAL) Utz Zimmermann<br />

VERLAG<br />

GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />

Michael Voss<br />

CO-GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />

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VERTRIEB UND UNTERNEHMENSENTWICKLUNG<br />

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REDAKTIONSMARKETING Janne Schumacher<br />

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Düsternstraße 1–3, 20355 Hamburg<br />

VERTRIEBSLOGISTIK Ingmar Sacher<br />

ANZEIGEN-DISPOSITION Erw<strong>in</strong> Böck<br />

HERSTELLUNG Michael Passen<br />

DRUCK/LITHO Neef+Stumme<br />

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Regel am Folgetag erhältlich.<br />

Fehlende Fankultur<br />

Unabhängig von Politik/Fußballweisen<br />

muss ich me<strong>in</strong>en Protest <strong>zu</strong>r<br />

Vergabe der WM an Katar <strong>zu</strong>m Ausdruck<br />

br<strong>in</strong>gen, denn me<strong>in</strong>e Frau<br />

lässt mich nicht fahren, da sie sich<br />

nicht vorstellen kann, im Wüstenzelt<br />

(oder davor) im Spaghettiträger-<br />

T‐Shirt <strong>zu</strong> sitzen und mit mir und<br />

Freunden johlend das F<strong>in</strong>ale <strong>zu</strong> feiern.<br />

Außerdem kann ich gar nicht<br />

so viele Flaschen tr<strong>in</strong>ken, um dem<br />

Elend der fehlenden Fankultur <strong>zu</strong><br />

entgehen, Herr Blatter!<br />

Kurt Stehmeyer, Konstanz<br />

Warum erst jetzt?<br />

Ich frage mich sowieso, warum das<br />

schon so laaaaange geht! Warum<br />

wehrt sich ke<strong>in</strong>er?<br />

Kathr<strong>in</strong> Lechner-Hartert, Biebertal<br />

Ke<strong>in</strong> Umdenken, nirgends<br />

Oslo, München und Graubünden haben<br />

etwas geme<strong>in</strong>sam. Alle wollen<br />

2022 ke<strong>in</strong>e Olympischen W<strong>in</strong>terspiele<br />

austragen. Eigentlich logisch.<br />

Wer will schon für e<strong>in</strong>e kurze Zeit<br />

Glamour und nachher jahrelang bezahlen<br />

müssen. Geht die Entwicklung<br />

der Megasportanlässe weiterh<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> dieselbe Richtung, wird es<br />

wohl <strong>in</strong> absehbarer Zeit ke<strong>in</strong>e Olympischen<br />

Spiele mehr <strong>in</strong> demokratischen<br />

Staaten geben. Die Kosten-<br />

Nutzen-Rechnung solcher Anlässe<br />

steht <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Verhältnis mehr.<br />

Kommt h<strong>in</strong><strong>zu</strong>, dass die großen<br />

Sportverbände wie das IOC oder<br />

auch die Fifa vor allem <strong>in</strong> Demokratien<br />

mit Pressefreiheit ke<strong>in</strong> positives<br />

Image mehr haben. Die regelmäßigen<br />

Schlagzeilen <strong>in</strong> Be<strong>zu</strong>g auf<br />

Intransparenz und Korruption sprechen<br />

Bände. All dies müsste den Repräsentanten<br />

dieser großen Sportorganisationen<br />

massiv <strong>zu</strong> denken<br />

geben. Doch ihre Beratungsresistenz<br />

ist tatsächlich rekordverdächtig.<br />

E<strong>in</strong> Umdenken wird wohl erst<br />

dann e<strong>in</strong>setzen, wenn die Gelder<br />

nicht mehr so üppig fließen und die<br />

Zuschauer sich von diesen Anlässen<br />

abwenden.<br />

Pascal Merz, CH-Sursee<br />

16<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

Zum Beitrag „Shakespeare veraltet nie“<br />

von Alexander Kissler, September 2014<br />

Karikatur: Hauck & Bauer<br />

Hamlet <strong>zu</strong> religiös<br />

Im Hamlet wird me<strong>in</strong>es Erachtens<br />

dem Religiösen all<strong>zu</strong> viel Gewicht<br />

beigemessen. E<strong>in</strong> Beispiel hierfür<br />

bildet die Aussage von Herrn Ostermeier:<br />

„Im protestantischen Wittenberg<br />

ist ihm (d. h. Hamlet) der katholische<br />

Glaube, der <strong>in</strong> dieser Zeit<br />

auch e<strong>in</strong>en großen Anteil Aberglaube<br />

hatte, ausgetrieben worden …<br />

Aus Hamlet spricht e<strong>in</strong>e metaphysische<br />

Unsicherheit. Ihm ist das Weltbild<br />

abhandengekommen.“<br />

Ich sehe <strong>in</strong> diesem Werk eher<br />

e<strong>in</strong>e Hommage an e<strong>in</strong>e der berühmtesten<br />

Persönlichkeiten dieser Zeit,<br />

den von Goethe respektvoll so genannten<br />

dänischen Astronomen<br />

Tycho Brahe. E<strong>in</strong> Anstoß <strong>zu</strong>r Erstellung<br />

des Werkes könnten die<br />

Feierlichkeiten <strong>zu</strong>r E<strong>in</strong>weihung des<br />

neuen Königsschlosses <strong>in</strong> Els<strong>in</strong>ore<br />

am 15. April 1582 gewesen se<strong>in</strong>.<br />

Die Reformation <strong>in</strong> Dänemark<br />

1536 war mit e<strong>in</strong>er Säkularisierung<br />

der Kirchengüter verbunden, die der<br />

Krone <strong>zu</strong>gutekam und ihr Projekte<br />

wie den Schlossbau ermöglichte sowie<br />

auch e<strong>in</strong> Liebl<strong>in</strong>gsobjekt des<br />

Königs, den Bau und Betrieb e<strong>in</strong>es<br />

Observatoriums unter der Leitung<br />

von Tycho Brahe. Dieser kannte<br />

zwar die Schriften des 1543 verstorbenen<br />

Nikolaus Kopernikus, dessen<br />

heliozentrisches Weltbild erstmalig<br />

an der Universität Wittenberg<br />

bekannt gemacht wurde und damit<br />

zahlreiche Studenten anzog; er entwickelte<br />

dagegen se<strong>in</strong> eigenes Weltbild,<br />

das auch dem König auf der<br />

Bühne besser entsprach als das neue,<br />

revolutionäre: Der Mensch auf se<strong>in</strong>er<br />

Erde lässt Mond und Sonne samt<br />

Planeten um sich kreisen.<br />

Hatte Hamlet nicht <strong>zu</strong> viel der<br />

Sonne? Der reale Dänenkönig starb<br />

1588; se<strong>in</strong> Nachfolger vertrieb den<br />

Astronomen.<br />

Hans Kle<strong>in</strong>holdermann, Hofheim am Taunus<br />

Zum Beitrag „Ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>, nochmals ne<strong>in</strong>“<br />

von Karl Kard<strong>in</strong>al Lehmann, Juli 2014<br />

Strukturelle Gewalt<br />

Bei so vielen Schreckensmeldungen<br />

von Barbarei, gesellschaftlicher<br />

Stigmatisierung und sexuellem<br />

Missbrauch <strong>in</strong> den Reihen und<br />

im Umfeld der römisch-katholischen<br />

Kirche sah sich selbst e<strong>in</strong>er ihrer<br />

Amtsträger genötigt, e<strong>in</strong>en klagenden<br />

Zwischenruf verlautbaren <strong>zu</strong><br />

lassen, um dann allerd<strong>in</strong>gs schnell<br />

auf e<strong>in</strong>es der Liebl<strong>in</strong>gsthemen des<br />

Katholizismus über<strong>zu</strong>leiten: den<br />

Schutz des ungeborenen Lebens.<br />

Dagegen wäre nichts e<strong>in</strong><strong>zu</strong>wenden,<br />

wenn Kard<strong>in</strong>al Lehmanns Amtskirche<br />

nicht das geborene Leben <strong>in</strong>sofern<br />

verachten würde, als sie dessen<br />

sexuelle Pluralität nach wie vor<br />

verteufelt. E<strong>in</strong>e solche Sexualmoral<br />

ist nichts anderes als strukturelle<br />

Gewalt, die zwangsläufig <strong>zu</strong> physischen<br />

wie psychischen Übergriffen<br />

führen muss. Als evangelischer<br />

Christ und Pfarrer sage ich: Ne<strong>in</strong>,<br />

ne<strong>in</strong>, nochmals ne<strong>in</strong>!<br />

Christian Reich, Oranienburg<br />

Zum Beitrag „Gib mir me<strong>in</strong> Sie <strong>zu</strong>rück!“<br />

von Holger Fuß, September 2014<br />

Endlich sagt es jemand<br />

Auch wenn <strong>in</strong>zwischen schon die<br />

Oktober-Ausgabe von <strong>Cicero</strong> vorliegt,<br />

möchte ich dennoch e<strong>in</strong>en<br />

Kommentar <strong>zu</strong>m September-Heft<br />

abgeben. Ich lese <strong>Cicero</strong> seit der<br />

ersten Ausgabe und stimme meistens<br />

den veröffentlichten Artikeln<br />

<strong>zu</strong>. Zu dem Artikel von Holger<br />

Fuß über das Duzen …<br />

DANKE DANKE DANKE<br />

DANKE DANKE DANKE!<br />

Endlich jemand, dem das<br />

ganze Geduze auch so auf die<br />

Nerven geht.<br />

Vera Zimmerer, Würzburg<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe <strong>zu</strong> kürzen.<br />

Wünsche, Anregungen und Me<strong>in</strong>ungsäußerungen<br />

senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />

17<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


TITEL<br />

<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />

TERROR MADE<br />

IN GERMANY<br />

Von ULRICH KRAETZER<br />

Sie verherrlichen Gräueltaten. Und manche<br />

reisen <strong>in</strong> den Krieg. <strong>Wie</strong> <strong>junge</strong> Männer<br />

<strong>in</strong> Deutschland <strong>zu</strong> Dschihadisten <strong>werden</strong><br />

Foto: Di Matti/Picture Alliance/DPA [M]<br />

18<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


„ Die Scharia ist die Mediz<strong>in</strong><br />

gegen die Krankheit Demokratie<br />

und Integration “<br />

DENIS CUSPERT<br />

wird 1975 als Sohn e<strong>in</strong>es<br />

Ghanaers und e<strong>in</strong>er <strong>Deutsche</strong>n<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> geboren.<br />

Drogen, Gewalt, Raub bestimmen<br />

se<strong>in</strong>e Jugend.<br />

Als Gangsta-Rapper Deso<br />

Dogg verarbeitet er diese<br />

Erfahrungen, dann bricht<br />

er mit se<strong>in</strong>em alten Leben.<br />

2011 verteufelt er – als Prediger<br />

Abou Maleeq – die<br />

Musik allgeme<strong>in</strong> und die<br />

Demokratie. E<strong>in</strong> Jahr später<br />

setzt er sich als Abu<br />

Talha al Almani nach Ägypten<br />

ab, <strong>in</strong>szeniert sich dann<br />

für Isis <strong>in</strong> Syrien. Se<strong>in</strong>e Propaganda<br />

verbreitet er über<br />

die Medienstelle des IS, das<br />

Al Hayat Media Center.


„ Es wird die Zeit kommen, wo wir<br />

sie alle abschlachten <strong>werden</strong> “<br />

MORITZ HECHT<br />

Name geändert, Foto verfremdet.<br />

Mit 13 wird er von<br />

se<strong>in</strong>er alle<strong>in</strong>erziehenden<br />

Mutter vor die Tür gesetzt.<br />

Ke<strong>in</strong> Hauptschulabschluss,<br />

dafür Alkohol und Drogen.<br />

Über se<strong>in</strong>en Schwager<br />

kommt er <strong>in</strong> die Hamburger<br />

Taiba-Moschee. Er gelangt<br />

mit dem Salafismus<br />

<strong>in</strong> Kontakt und wird Muslim.<br />

Wegen Unterstüt<strong>zu</strong>ng e<strong>in</strong>er<br />

Terrororganisation <strong>zu</strong> mehreren<br />

Jahren Haft verurteilt.<br />

Heute auf freiem Fuß.<br />

<strong>Deutsche</strong> Sicherheitsbehörden<br />

beobachten ihn.


TITEL<br />

<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />

Foto: DDP Images/DAPD [M]<br />

Unter anderen Umständen wäre er wohl längst<br />

<strong>in</strong> Syrien oder im Irak. Um am Aufbau des<br />

„Islamischen Staates“ mit<strong>zu</strong>wirken. Um<br />

die Scharia durch<strong>zu</strong>setzen. Um im „Heiligen<br />

Krieg“ <strong>zu</strong> kämpfen. Doch wer schon e<strong>in</strong>mal Propagandafilme<br />

weiterverbreitet hat, weil er – so sagte<br />

er es vor Gericht – den „edlen Mudschahedd<strong>in</strong>“ helfen<br />

wollte, der steht unter Beobachtung der deutschen<br />

Behörden.<br />

Er könnte also nicht e<strong>in</strong>fach se<strong>in</strong>e Sachen packen,<br />

<strong>zu</strong>m Flughafen fahren und <strong>in</strong> die Türkei fliegen, um<br />

von dort weiter <strong>in</strong> die vom IS beherrschten Gebiete <strong>in</strong><br />

Syrien oder im Irak <strong>zu</strong> reisen. Er ist nur auf Bewährung<br />

auf freiem Fuß. Den Versuch, <strong>in</strong> den bewaffneten<br />

Dschihad <strong>zu</strong> ziehen, würde die Justiz ziemlich sicher<br />

als Verstoß gegen die Bewährungsauflagen werten.<br />

E<strong>in</strong> Blick des Grenzbeamten <strong>in</strong> den Fahndungscomputer<br />

und er säße fest.<br />

Er ist ja erst seit e<strong>in</strong> paar Monaten raus aus dem<br />

Gefängnis. Die Verurteilung liegt schon e<strong>in</strong>ige Jahre<br />

<strong>zu</strong>rück. In welchem Jahr er vor welchem Gericht stand,<br />

muss unbeantwortet bleiben. Auch der Name und e<strong>in</strong>ige<br />

Details s<strong>in</strong>d geändert. In diesem Text soll er Moritz<br />

Hecht heißen, e<strong>in</strong> deutscher Name, denn er ist<br />

<strong>Deutsche</strong>r, ke<strong>in</strong>erlei Migrationsh<strong>in</strong>tergrund. Die Anonymisierung<br />

ist Bed<strong>in</strong>gung für das Gespräch gewesen,<br />

und eigentlich ist es auch angemessen, se<strong>in</strong>e Identität<br />

<strong>zu</strong> schützen, denn es ist offen, ob dieser Moritz<br />

Hecht, 23 Jahre alt, e<strong>in</strong> Aussteiger se<strong>in</strong> wird oder e<strong>in</strong><br />

<strong>Wie</strong>dere<strong>in</strong>steiger.<br />

Er ist e<strong>in</strong> ruhiger Typ. Er spricht mit e<strong>in</strong>er eher leisen,<br />

fast schon sanften Stimme. Gelegentlich versucht<br />

er sich <strong>in</strong> Ironie. Wenn er lächelt, me<strong>in</strong>t man, nicht e<strong>in</strong>en<br />

radikalen Islamisten, sondern e<strong>in</strong>en ziemlich normalen<br />

<strong>junge</strong>n Mann vor sich <strong>zu</strong> haben.<br />

Bevor er verurteilt wurde, hatte er, so sah er es<br />

damals, am „wahren Weg Allahs“ festgehalten. Da<strong>zu</strong><br />

gehörte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen auch, den Vorsteher e<strong>in</strong>er jüdischen<br />

Geme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>en „dreckigen Juden“ <strong>zu</strong> nennen<br />

und ihm mit dem Tod <strong>zu</strong> drohen. Oder sich auf se<strong>in</strong>em<br />

Facebook-Account mit e<strong>in</strong>em umgeschnallten Sprengstoffgürtel<br />

<strong>zu</strong> präsentieren. Oder Sätze über die „Ungläubigen“<br />

<strong>zu</strong> posten wie: „Es wird die Zeit kommen,<br />

wo wir sie alle abschlachten <strong>werden</strong>.“<br />

Auf se<strong>in</strong>er Internetseite hatte Moritz Hecht Werbung<br />

für islamistische Terrororgansationen verbreitet,<br />

darunter Videoclips des „Islamischen Staates im<br />

Irak“. Die Vorläuferorganisation des IS machte bereits<br />

damals mit brutalen Enthauptungsvideos auf sich aufmerksam.<br />

Der Richter verurteilte Moritz Hecht wegen<br />

der Unterstüt<strong>zu</strong>ng ausländischer Terrororganisationen<br />

<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er mehrjährigen Haftstrafe. Heute ist er<br />

wieder <strong>in</strong> den sozialen Netzwerken aktiv. Wenn es um<br />

den Dschihad oder den „Islamischen Staat“ geht, hält<br />

er sich <strong>zu</strong>rück. Er behauptet zwar, es wäre ihm egal,<br />

wenn er wieder <strong>in</strong>s Gefängnis käme. Aber ganz so ist<br />

es wohl doch nicht.<br />

Er könnte nicht e<strong>in</strong>fach<br />

<strong>in</strong>s Kampfgebiet<br />

fahren. Die Behörden<br />

beobachten ihn<br />

Andere sprechen deutlich aus, was sie denken –<br />

und sie handeln. Das Bundesamt für Verfassungsschutz<br />

hat erklärt, dass rund 450 Islamisten aus Deutschland<br />

<strong>in</strong> die Kampfgebiete gereist s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>ige br<strong>in</strong>gen Medikamente,<br />

Tarnwesten oder Nachtsichtbrillen nach Syrien<br />

oder <strong>in</strong> den Irak. Andere kämpfen – und gefallen<br />

sich dar<strong>in</strong>, ihre Brutalität <strong>zu</strong>r Schau <strong>zu</strong> stellen. Der<br />

D<strong>in</strong>slakener Mustafa K. posierte Anfang des Jahres <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Propagandavideo mit dem abgeschlagenen Kopf<br />

e<strong>in</strong>es „Ungläubigen“. Der Bonner Fared S. stolzierte<br />

vor wenigen Monaten über e<strong>in</strong> Feld, das mit Leichen<br />

syrischer Regierungssoldaten übersät war, und nannte<br />

sie „Dreck, nichts als Dreck“. Erhan A. aus Kempten<br />

im Allgäu vernetzte im Handy-Nachrichtendienst<br />

Whatsapp e<strong>in</strong>e Gruppe namens „Dawlatul Islam“ – e<strong>in</strong>er<br />

anderen Bezeichnung für den IS; die Polizei nahm<br />

ihn fest, um ihn <strong>in</strong> die Türkei ab<strong>zu</strong>schieben. Der Berl<strong>in</strong>er<br />

Denis Cuspert, von dem noch ausführlicher die<br />

Rede se<strong>in</strong> wird, sondert e<strong>in</strong>e Videobotschaft nach der<br />

anderen ab, <strong>in</strong> der er se<strong>in</strong>e „Glaubensbrüder“ auffordert,<br />

ihm <strong>in</strong> den Dschihad <strong>zu</strong> folgen, und mit Weggefährten<br />

darüber schwadroniert, e<strong>in</strong>em „Ungläubigen“<br />

möglichst bald den Kopf abschlagen <strong>zu</strong> wollen.<br />

Trotz aller Inszenierung gehen Sicherheitsexperten<br />

davon aus, dass deutsche Dschihadisten auf die<br />

Durchschlagskraft des IS ke<strong>in</strong>en wesentlichen E<strong>in</strong>fluss<br />

haben. Doch früher oder später <strong>werden</strong> die meisten<br />

von ihnen <strong>zu</strong>rück nach Deutschland kommen – geübt<br />

im Umgang mit Waffen und Sprengstoff, geprägt<br />

vom Krieg und hoch radikalisiert. Hans-Georg Maaßen,<br />

der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz,<br />

warnt, die Rückkehrer könnten Anschläge <strong>in</strong><br />

Deutschland verüben. Bundes<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>ister Thomas<br />

de Maizière sagt, die deutschen Dschihadisten hätten<br />

„gelernt <strong>zu</strong> hassen, <strong>zu</strong> töten und <strong>zu</strong> kämpfen“.<br />

Alle<strong>in</strong> mit Sicherheitsmaßnahmen wird sich das<br />

Problem der IS-Kämpfer <strong>in</strong>des nicht bewältigen lassen.<br />

Wer verh<strong>in</strong>dern will, dass <strong>junge</strong> Menschen aus<br />

Deutschland <strong>in</strong> den Dschihad ziehen, muss verstehen,<br />

warum sie das tun. E<strong>in</strong> Blick auf die Biografien und die<br />

Radikalisierungsgeschichte von Menschen, die behaupten,<br />

Gräueltaten mit der Weltreligion des Islam rechtfertigen<br />

<strong>zu</strong> können, lohnt sich – womit wir wieder bei<br />

der Geschichte von Moritz Hecht wären.<br />

21<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


TITEL<br />

<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />

Se<strong>in</strong>en „Weg <strong>zu</strong>m Islam“ hat Moritz Hecht vor Gericht<br />

und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Internetvideo geschildert – und im<br />

Gespräch mit dem Autor. Bei dem Treffen ist er höflich<br />

und <strong>zu</strong>vorkommend. Er gibt Kekse und Tee.<br />

Als er konvertierte, war er 17, sagt er. Davor sei<br />

se<strong>in</strong> Leben „e<strong>in</strong> Totalschaden“ gewesen. Der Vater verließ<br />

die Familie, als er zwei Jahre alt war. Se<strong>in</strong>e Mutter<br />

war überfordert. Als er 13 war, habe sie ihn <strong>zu</strong><br />

Hause rausgeschmissen. Er übernachtete mal hier und<br />

mal dort und schlug sich irgendwie durch. Die Hauptschule<br />

verließ er ohne Abschluss nach der neunten<br />

Klasse. „Schule, Familie, Freunde, f<strong>in</strong>anziell – ich hatte<br />

mit me<strong>in</strong>em ganzen Leben Probleme“, sagt er. Als er<br />

14 war, f<strong>in</strong>g er an, Alkohol <strong>zu</strong> tr<strong>in</strong>ken und Marihuana<br />

„ Ich bete <strong>in</strong> jedem<br />

Gebet: Allah, lass<br />

mich als Märtyrer<br />

sterben “<br />

IBRAHIM ABOU-NAGIE<br />

Er wird 1964 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Flüchtl<strong>in</strong>gslager <strong>in</strong> Gaza<br />

geboren. Geht nach<br />

Deutschland, um Elektrotechnik<br />

<strong>zu</strong> studieren. Bekommt<br />

mit 30 Jahren die<br />

deutsche Staatsbürgerschaft<br />

<strong>zu</strong>erkannt. Abou-<br />

Nagie ist der Kopf der<br />

Organisation „Die wahre<br />

Religion“, die 2011 die Kampagne<br />

„Lies!“ startet – e<strong>in</strong>e<br />

groß angelegte Koran-Verschenkaktion.<br />

Dafür kann<br />

er <strong>in</strong>sbesondere <strong>junge</strong><br />

Salafisten begeistern, die<br />

<strong>in</strong> Fußgängerzonen und<br />

auf öffentlichen Plätzen<br />

für ihre Auslegung des<br />

Islam werben. Abou-<br />

Nagie wettert gegen die<br />

„zionistischen, verlogenen<br />

Medien“ und tritt dafür<br />

e<strong>in</strong>, die Scharia auf der<br />

ganzen Welt e<strong>in</strong>führen.<br />

Er lebt <strong>in</strong> Köln.<br />

<strong>zu</strong> rauchen, später nahm er auch Ecstasy und Koka<strong>in</strong>.<br />

„Ich dachte, das würde mich beruhigen.“ Tatsächlich<br />

sei alles schlechter geworden.<br />

Mit Religion hatte er bis <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>wendung<br />

<strong>zu</strong>m Islam nie etwas <strong>zu</strong> tun. Irgendwann f<strong>in</strong>g er an,<br />

sich <strong>zu</strong> fragen, was der S<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>es Lebens sei. „Und<br />

da kam ich auf den Gedanken an Gott.“<br />

Kurz vor dem 17. Geburtstag führte ihn e<strong>in</strong> Schwager<br />

an die salafistische Ideologie heran. Er nahm ihn<br />

mit <strong>in</strong> die berüchtigte und seit 2010 geschlossene Hamburger<br />

Taiba-Moschee, <strong>in</strong> der schon Attentäter der Anschläge<br />

des 11. September 2001 „ihren Islam“ gelernt<br />

hatten. Vier Tage später wurde Moritz Hecht Muslim.<br />

„Da habe ich etwas gesehen, was mir e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n gibt“,<br />

sagt er. „Woran ich glauben kann und was mir Halt<br />

gibt. Was mich weiter voranbr<strong>in</strong>gen kann, dass ich<br />

nicht so deprimiert durch die Welt laufe.“<br />

Nicht nur das, was er für Religion hielt, gefiel ihm.<br />

Durch den Schwager, der <strong>in</strong> der Szene bestens vernetzt<br />

war, fand er Anschluss. E<strong>in</strong>e salafistische Moschee<br />

wurde für ihn wie e<strong>in</strong> Zuhause. Vielleicht <strong>zu</strong>m<br />

ersten Mal im Leben hatte er das Gefühl, <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft<br />

<strong>zu</strong> gehören. Er war jetzt nicht mehr der<br />

Schulabbrecher ohne Vater – sondern e<strong>in</strong> stolzer Muslim.<br />

Die „Ungläubigen“ und die vielen „irregeleiteten<br />

Muslime“, alle also, die se<strong>in</strong> Leben so schwer gemacht<br />

hatten, würden dagegen <strong>in</strong> der Hölle schmoren. Im Internet<br />

hörte Moritz Hecht Vorträge des wohl bekanntesten<br />

deutschen Salafisten-Predigers – Pierre Vogel.<br />

Vogel – 1978 im nordrhe<strong>in</strong>-westfälischen Frechen<br />

geboren, früher Profiboxer, 2001 <strong>zu</strong>m<br />

Islam konvertiert – wird <strong>in</strong> der öffentlichen<br />

Wahrnehmung gern als radikaler Schwätzer<br />

abgetan. Das Rüstzeug der salafistischen Ideologie beherrscht<br />

er jedoch bestens. Wenn er nicht gerade die<br />

Provokation sucht, damit die Medien über ihn berichten<br />

– etwa mit Aktionen wie der „Scharia-Polizei“ <strong>in</strong><br />

Wuppertal –, parliert Vogel über Methoden der islamischen<br />

„Beweisführung“ oder die Authentizität von<br />

Hadithen, Überlieferungen aus dem Leben des Propheten<br />

Mohammed. Immer wieder rezitiert er dabei auswendig<br />

und <strong>in</strong> arabischer Sprache aus dem Koran und<br />

nennt die exakten Belegstellen.<br />

Moritz Hecht lernte Vogel kennen. Er war angetan<br />

vom Auftreten und vom „Wissen“ des Predigers.<br />

Er lernte schnell. Was im Koran steht, ist das unverfälschte<br />

Wort Allahs. Dem Wort Allahs muss man folgen<br />

– egal, worum es geht, und egal, ob man es versteht.<br />

Fünfmal am Tag beten, ke<strong>in</strong> Alkohol, ke<strong>in</strong>e Frauen.<br />

Gott oder Satan. Verboten oder erlaubt. Muslim oder<br />

Ungläubiger. Gut oder böse. Das Leben, das Moritz<br />

so kompliziert erschien, war plötzlich ganz e<strong>in</strong>fach.<br />

Moritz fühlte sich von Vogel und se<strong>in</strong>en Anhängern<br />

verstanden. Aber nicht nur das: Er war sicher, auf<br />

dem richtigen Weg <strong>zu</strong> se<strong>in</strong> – und machte den nächsten<br />

Schritt. Bemüht darum, sich „noch mehr Wissen über<br />

Foto: DDP Images/DAPD [M]<br />

22<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Es ist uns<br />

nicht egal.


TITEL<br />

<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />

die Religion“ an<strong>zu</strong>eignen, entdeckte er die Prediger<br />

der Gruppe „Die wahre Religion“. Ihr organisatorischer<br />

Kopf, der Kölner Ibrahim Abou-Nagie, sorgte im<br />

Frühjahr 2012 mit se<strong>in</strong>er Koran-Verteilaktion „Lies!“<br />

für Schlagzeilen. Die Aktion selbst ist harmlos – das<br />

Gedankengut, das der gebürtige Paläst<strong>in</strong>enser und<br />

se<strong>in</strong>e Mitstreiter verkünden, ist es nicht. Denn während<br />

Vogel, m<strong>in</strong>destens bis vor zwei, drei Jahren, darauf<br />

bedacht war, sich von Aufrufen <strong>zu</strong> Gewalt <strong>zu</strong> distanzieren,<br />

verherrlicht Abou-Nagie den Märtyrertod:<br />

„Sobald der erste Blutstropfen aus se<strong>in</strong>em Körper rausfließt,<br />

<strong>werden</strong> alle se<strong>in</strong>e Sünden vergeben.“<br />

Der „Chefideologe“ der „wahren Religion“ ist der<br />

1982 geborene Said El Emrani, der sich Abu Dujana<br />

nennt. Auf Facebook sympathisierte der marokkanischstämmige<br />

Bonner mit Größen der <strong>in</strong>ternationalen<br />

Dschihadisten-Szene. Deren Konzepte greift er auch<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Predigten auf. Zum Beispiel das Konzept der<br />

„Fremden“ (ghuraba). Es geht <strong>zu</strong>rück auf e<strong>in</strong>en Ausspruch<br />

des Propheten Mohammed. Der Überlieferung<br />

<strong>zu</strong>folge soll er gesagt haben, dass der Islam als Fremder<br />

(gharib) kam und als Fremder <strong>zu</strong>rückkehren wird. Das<br />

Heil sei daher mit den Fremden, den ghuraba.<br />

Der ägyptische Dschihadisten-Führer Abdallah<br />

Azzam, e<strong>in</strong>st war er der Mentor Osama b<strong>in</strong> Ladens,<br />

bezeichnete mit dem Begriff der ghuraba Dschihadisten<br />

aus arabischen Ländern, die <strong>in</strong> den Achtzigern <strong>in</strong><br />

Afghanistan fern ihrer Heimat als Fremde gegen die<br />

sowjetischen Besatzer kämpften. El Emrani bezieht<br />

den Begriff dagegen auf die „wahrhaft Gläubigen“ <strong>in</strong><br />

Deutschland: auf die Gruppe der dschihadistisch orientierten<br />

Salafisten, die, weil sie tatsächlich e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />

M<strong>in</strong>derheit s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> Deutschland wie Fremde leben.<br />

Für <strong>junge</strong> Menschen wie Moritz Hecht ist das Konzept<br />

der ghuraba attraktiv. Ihr eigentlich negatives<br />

Gefühl, sich ausgegrenzt und unerwünscht <strong>zu</strong> fühlen,<br />

wird <strong>in</strong> etwas Positives und Erstrebenswertes umgedeutet.<br />

El Emrani sagt beispielsweise: „Die M<strong>in</strong>derheit,<br />

liebe Geschwister, ist im Koran immer positiv.“<br />

Das Konzept der ghuraba hilft Salafisten auch,<br />

neue Anhänger an sich <strong>zu</strong> b<strong>in</strong>den und sie gegen Ratschläge<br />

aus ihrem nichtsalafistischen Umfeld und<br />

Warnungen der Sicherheitsbehörden <strong>zu</strong> immunisieren.<br />

Auch der Prophet Mohammed habe anfangs nur<br />

Aus Jugendlichen, die<br />

sich als Verlierer fühlen,<br />

<strong>werden</strong> Anhänger<br />

e<strong>in</strong>er auserwählten<br />

Geme<strong>in</strong>schaft<br />

wenige Gefährten, aber umso mehr Gegner gehabt,<br />

schärft El Emrani se<strong>in</strong>en Zuhörern e<strong>in</strong>. „Deswegen<br />

sei nicht traurig, wenn du bekämpft wirst, wenn du<br />

bloßgestellt wirst, wenn du beleidigt wirst, wenn du<br />

fertiggemacht wirst, wenn du geschlagen wirst, wenn<br />

du festgenommen wirst.“ All das sei e<strong>in</strong> Zeichen dafür,<br />

„auf dem Weg Gottes“ <strong>zu</strong> se<strong>in</strong> – der <strong>in</strong>s Paradies führt.<br />

Wer vom Konzept der Fremden überzeugt ist, fürchtet<br />

weder soziale Ausgren<strong>zu</strong>ng noch staatliche Repression.<br />

Bei Moritz Hecht hat das funktioniert. „Im Endeffekt<br />

können sie mir sowieso nichts machen“, sagte<br />

er. „Weil ich weiß, dass es e<strong>in</strong>e Prüfung von Allah ist.“<br />

Das Konzept der Fremden korrespondiert mit<br />

dem der siegreichen Gruppe, der al taifa al mansura.<br />

Es geht auch auf e<strong>in</strong>en überlieferten Propheten-Ausspruch<br />

<strong>zu</strong>rück. Die Geme<strong>in</strong>schaft der Muslime werde<br />

sich <strong>in</strong> 73 Gruppen spalten, heißt es dort. „Alle <strong>werden</strong><br />

<strong>in</strong> der Hölle landen außer e<strong>in</strong>er.“ Diese „siegreiche<br />

Gruppe“ ist Mohammeds Ausspruch <strong>zu</strong>folge die, „die<br />

sich an das hält, an das ich und me<strong>in</strong>e Gefährten sich<br />

halten“. Prediger wie El Emrani haben ke<strong>in</strong>en Zweifel,<br />

wer geme<strong>in</strong>t ist: die Fremden, die von allen Seiten<br />

bekämpft <strong>werden</strong>. Es s<strong>in</strong>d die Salafisten.<br />

Die mit e<strong>in</strong>iger Fantasie aus überlieferten Propheten-Aussprüchen<br />

abgeleiteten Konzepte<br />

der Fremden und der siegreichen Gruppe<br />

s<strong>in</strong>d für <strong>junge</strong> Menschen wie Moritz Hecht<br />

wie geschaffen. Denn aus Jugendlichen, die sich bevormundet<br />

und diskrim<strong>in</strong>iert fühlen, aus ausgegrenzten<br />

Verlierern also, <strong>werden</strong> Anhänger e<strong>in</strong>er von Gott auserwählten<br />

Geme<strong>in</strong>schaft, standhafte Muslime, die im<br />

Besitz des „Wissens“ und der „Wahrheit“ s<strong>in</strong>d – und<br />

<strong>in</strong>s Paradies kommen. Missliebige Eltern, Lehrer und<br />

all jene, die den Entfremdeten das Leben so schwer gemacht<br />

haben, landen dagegen <strong>in</strong> der Hölle.<br />

Diese Umdeutung der Verhältnisse hebt das Selbstwertgefühl<br />

und kann sogar Rachegefühle befriedigen.<br />

Mit der Gewissheit, auf der richtigen Seite <strong>zu</strong> stehen<br />

und die Segnungen des Paradieses vor sich <strong>zu</strong> haben,<br />

ersche<strong>in</strong>en die Sorgen des weltlichen Lebens überschaubar.<br />

So g<strong>in</strong>g es Moritz Hecht. Wo kriege ich e<strong>in</strong><br />

Auto her, wie f<strong>in</strong>de ich e<strong>in</strong>e Arbeit, wie e<strong>in</strong>e Frau? All<br />

das sei ihm nicht mehr so wichtig, erzählte er.<br />

Wichtig war ihm dagegen se<strong>in</strong>e Internetseite. Mal<br />

präsentierte er dort Botschaften dschihadistischer<br />

Ideologen, mal Videos von aus Deutschland stammenden<br />

Islamisten, die <strong>in</strong> Terrorgruppen kämpften. Als er<br />

Videos <strong>in</strong>ternationaler Terrororganisationen verbreitete,<br />

nahm die Polizei ihn fest: Wer terroristische Vere<strong>in</strong>igungen<br />

unterstützt, macht sich strafbar.<br />

Moritz Hecht ist ke<strong>in</strong> typischer Salafist. Denn<br />

die meisten der laut Verfassungsschutz bundesweit<br />

6300 Anhänger der Ideologie werben weder für den<br />

Dschihad noch ziehen sie nach Syrien, um als Mitglied<br />

der Terrormiliz „Islamischer Staat“ Gräueltaten<br />

<strong>zu</strong> begehen. <strong>Wie</strong> aber wird aus e<strong>in</strong>em Salafisten,<br />

Foto: Action Press [M]<br />

24<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


„ Jeder Christ, Jude, Buddhist,<br />

H<strong>in</strong>du et cetera kommt <strong>in</strong> die<br />

Hölle, wenn er stirbt, ohne den<br />

Islam angenommen <strong>zu</strong> haben! “<br />

PIERRE VOGEL<br />

Der wohl bekannteste<br />

salafistische Prediger<br />

Deutschlands. Wird 1978<br />

<strong>in</strong> Frechen bei Köln<br />

geboren. Er legte er se<strong>in</strong><br />

Abitur an e<strong>in</strong>em Berl<strong>in</strong>er<br />

Sport<strong>in</strong>ternat ab und<br />

startet e<strong>in</strong>e kurze Karriere<br />

als Profiboxer im Halbschwergewicht.<br />

Konvertiert<br />

2001 <strong>zu</strong>m Islam, nennt sich<br />

Abu Hamza und studiert<br />

dann <strong>in</strong> Mekka. Vogel<br />

wird auch von Sven Lau<br />

unterstützt, dem Initiator<br />

der „Scharia-Polizei“, die<br />

im September <strong>in</strong> Wuppertal<br />

<strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung trat.<br />

Predigt im Internet und auf<br />

Bühnen e<strong>in</strong>e Religion, für<br />

die man leben und sterben<br />

müsse. Vogel provoziert,<br />

nennt sich ironisch<br />

Hassprediger, achtet aber<br />

darauf, sich nicht strafbar<br />

<strong>zu</strong> machen.


TITEL<br />

<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />

dessen Ideologie zwar unvere<strong>in</strong>bar mit der Demokratie<br />

ist, der im Namen dieser Ideologie aber nicht zwangsläufig<br />

Gewalt befürwortet, e<strong>in</strong> Dschihadist?<br />

Die Antwort liegt – unter anderem – im salafistischen<br />

Konzept von al wala wal bara. <strong>Wie</strong> unterschiedlich<br />

es von Anhängern der nur sche<strong>in</strong>bar homogenen<br />

Bewegung des Salafismus <strong>in</strong>terpretiert wird, zeigen<br />

schon die unterschiedlichen Überset<strong>zu</strong>ngen. So sprechen<br />

vergleichsweise moderate Salafisten von „Loyalität<br />

und Distanzierung“. E<strong>in</strong> „wahrhaft Gläubiger“<br />

sollte sich demnach Gott und se<strong>in</strong>en Geboten h<strong>in</strong>geben<br />

– und sich von Handlungen, die er verboten hat,<br />

fernhalten. Dagegen leiten Vertreter des dschihadistischen<br />

Flügels der Salafisten-Szene aus al wala wal<br />

bara die Verpflichtung ab, verme<strong>in</strong>tliche Fe<strong>in</strong>de Allahs<br />

<strong>zu</strong> bekämpfen. „Wir lieben und hassen für Allah“,<br />

schärft etwa Said El Emrani se<strong>in</strong>en Zuhörern e<strong>in</strong>.<br />

Die Legitimation für die radikale Auslegung<br />

von al wala wal bara me<strong>in</strong>en Salafisten wie El Emrani<br />

aus dem Koran ableiten <strong>zu</strong> können. Dort heißt es<br />

im 51. Vers der fünften Sure: „Oh, ihr, die ihr glaubt!<br />

Nehmt euch nicht die Juden und Christen <strong>zu</strong> Beschützern.<br />

Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ander Beschützer. Und wer sie von<br />

euch <strong>zu</strong> Beschützern nimmt, der gehört wahrlich <strong>zu</strong> ihnen.“<br />

<strong>Wie</strong> bei vielen Passagen aus dem Koran s<strong>in</strong>d die<br />

Überset<strong>zu</strong>ng und die Bedeutung dieses Verses und der<br />

Zusammenhang, <strong>in</strong> dem er offenbart wurde, Thema<br />

unzähliger Debatten und Koranexegesen. Die Wortführer<br />

der dschihadistisch orientierten Salafisten ignorieren<br />

diese Debatten. Said El Emrani behauptet, der<br />

Vers sei „klar wie die hellichte Sonne am Tag“.<br />

Pseudoreligiös legitimierte Konzepte wie das<br />

der Fremden, der siegreichen Truppe oder das<br />

Konzept vom Lieben und Hassen für Allah<br />

s<strong>in</strong>d, m<strong>in</strong>destens <strong>in</strong> den Grundzügen, selbst<br />

Neu<strong>zu</strong>gängen der Salafisten-Szene geläufig. Die Ursachen<br />

für ihre Radikalisierung ausschließlich <strong>in</strong> der<br />

Ideologie <strong>zu</strong> suchen, wäre aber naiv. Denn sie mögen<br />

zwar e<strong>in</strong>en Koranvers nach dem anderen zitieren. Sie<br />

täuschen damit aber e<strong>in</strong> Wissen über die islamische<br />

Religion vor, das sie <strong>in</strong> der Regel nicht haben.<br />

Im dschihadistischen Flügel der Szene, das zeigen<br />

Äußerungen im Internet und e<strong>in</strong> Blick auf ausgewählte<br />

Lebensläufe, ist seit e<strong>in</strong>igen Jahren der Wille,<br />

im „Abenteuer Dschihad“ Frust ab<strong>zu</strong>bauen und Männlichkeitsfantasien<br />

aus<strong>zu</strong>leben, oft wichtiger als die<br />

Ansprachen salafistischer Prediger. Das <strong>in</strong> der Szene<br />

weitverbreitete Häkelkäppi weicht immer häufiger der<br />

Militärmütze, die Dschalabia der Tarnfleckjacke. Moritz<br />

Hecht trägt Kapuzenpulli.<br />

Im Internet machen statt Koranrezitationen verstärkt<br />

religiös verbrämte Kampfgesänge die Runde.<br />

Das wichtigste Aushängeschild dieser pop-dschihadistischen<br />

Szene ist e<strong>in</strong> 39 Jahre alter ehemaliger<br />

Gangster-Rapper. Als Deso Dogg sang der Mann, der<br />

eigentlich Denis Cuspert heißt, über das harte Leben <strong>in</strong><br />

„ Ihre Demokratie,<br />

Werte und Maßstäbe<br />

gelten nicht für uns<br />

Muslime “<br />

SAID EL EMRANI<br />

Wird 1982 als Sohn e<strong>in</strong>es<br />

marokkanischen Predigers<br />

geboren. Nennt sich<br />

Abu Dujana. Zählt <strong>zu</strong>m<br />

dschihadistischen Flügel<br />

der Salafisten-Bewegung,<br />

der die „Fe<strong>in</strong>de Allahs“ bekämpfen<br />

will. Auf Islamsem<strong>in</strong>aren,<br />

Kundgebungen<br />

und über e<strong>in</strong>e eigene „Abu<br />

Dujana“-App propagiert<br />

er, dass die Scharia der<br />

Demokratie überlegen<br />

sei. Wirbt für e<strong>in</strong>en Islam<br />

nach dem Verständnis der<br />

Gefährten des Propheten<br />

Mohammed und der<br />

folgenden zwei Generationen.<br />

El Emrani verehrt<br />

die Al Qaida-Prediger<br />

Abu Qatada und Scheich<br />

al-Maqdisi.<br />

Berl<strong>in</strong>-Kreuzberg. Als Abu Talha al Almani <strong>in</strong>szeniert<br />

er sich nun auf dem „Boden der Ehre“, den Schlachtfeldern<br />

des Dschihad <strong>in</strong> Syrien und im Irak, <strong>in</strong> Videos<br />

mit Masch<strong>in</strong>engewehr. In Propagandavideos sagt er<br />

Sätze wie: „Dschihad macht Spaß.“ Über profunde<br />

Kenntnisse der islamischen Theologie verfügt Cuspert<br />

nicht – dafür aber über e<strong>in</strong> langes Vorstrafenregister.<br />

Die Verproletarisierung und Hooliganisierung im<br />

dschihadistischen Teil der Salafisten-Szene erlaubt es<br />

auch e<strong>in</strong>fach gestrickten Jugendlichen mit<strong>zu</strong>wirken.<br />

Um anerkannt <strong>zu</strong> <strong>werden</strong>, müssen sie nicht unzählige<br />

Koranverse und Überlieferungen aus dem Leben des<br />

Propheten auswendig lernen. E<strong>in</strong> paar martialische<br />

Sprüche auf Facebook genügen.<br />

Foto: Screenshot<br />

26<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Foto: Xavier Bonn<strong>in</strong> (Autor)<br />

Die Islamismus-Expert<strong>in</strong> Claudia Dantschke vom<br />

Berl<strong>in</strong>er Zentrum Demokratische Kultur hat das Phänomen<br />

des Pop-Dschihad ausführlich beschrieben.<br />

„Wir haben es mit e<strong>in</strong>er militanten, hoch politisierten<br />

Jugendkultur <strong>zu</strong> tun, für die der religiöse Salafismus<br />

nur noch Folie und Begründungsmuster ist“, schreibt<br />

Dantschke. Aus der salafistischen Ideologie würden die<br />

Jugendlichen, die dieser Szene angehörten, zwar ihre<br />

Argumente schöpfen. Tatsächlich aber gehe es ihnen<br />

nicht um die Religion. Sie wollten Aufmerksamkeit erhaschen.<br />

Die „Ungläubigen“ werten die Jugendlichen<br />

ab, weil sie sich selbst als Teil der „auserwählten Geme<strong>in</strong>schaft“<br />

aufwerten wollen.<br />

E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terne Untersuchung des Bundesamts für<br />

Verfassungsschutz, aus der kürzlich die Berl<strong>in</strong>er Morgenpost<br />

zitierte, hat die Daten von 400 „<strong>Gotteskriegern</strong>“<br />

untersucht, die nach Syrien ausreisten. Praktisch<br />

alle radikalisierten sich <strong>in</strong> der Salafisten-Szene. Nur<br />

jeder vierte von ihnen hat e<strong>in</strong>en Schulabschluss. E<strong>in</strong>e<br />

Ausbildung absolvierten lediglich 6 Prozent, e<strong>in</strong> Studium<br />

ganze 2 Prozent.<br />

Bemerkenswert ist auch, dass viele der Ausgereisten,<br />

bereits bevor sie sich der Ideologie des militanten<br />

Dschihad <strong>zu</strong>wandten, e<strong>in</strong>e Aff<strong>in</strong>ität <strong>zu</strong> Gewalt zeigten.<br />

117 von ihnen beg<strong>in</strong>gen bereits Straftaten, bevor<br />

sie sich radikalisierten. Meist waren es Gewalt-, aber<br />

auch Eigentums- oder Drogendelikte.<br />

In der Debatte spielten die Ergebnisse der Studie<br />

des Verfassungsschutzes kaum e<strong>in</strong>e Rolle. <strong>Wie</strong> auch:<br />

Die Behörde hat die Ergebnisse bisher nicht e<strong>in</strong>mal<br />

offiziell der Öffentlichkeit vorgestellt. Auch die meisten<br />

Medien verzichten auf tiefer gehende Analysen.<br />

Die Fachpolitiker diskutieren lieber darüber, ob man<br />

die Personalausweise von potenziellen Ausreisenden<br />

mit e<strong>in</strong>er speziellen Markierung versehen und ob ausgereisten<br />

Dschihadisten die deutsche Staatsbürgerschaft<br />

aberkannt <strong>werden</strong> könnte. Unabhängig davon,<br />

wie man solche Maßnahmen aus rechtsstaatlicher Perspektive<br />

beurteilt, können sie kurzfristig helfen. Sie<br />

bekämpfen aber nur die Symptome.<br />

Moritz Hecht bekam von den Salafisten e<strong>in</strong> Angebot,<br />

das se<strong>in</strong>e Probleme <strong>zu</strong> lösen schien. E<strong>in</strong>fache<br />

Antworten auf eigentlich komplizierte Fragen. Das Gefühl<br />

da<strong>zu</strong><strong>zu</strong>gehören. Die Gewissheit, endlich e<strong>in</strong>mal<br />

auf der Gew<strong>in</strong>nerseite <strong>zu</strong> stehen. Empfänglich dafür<br />

machte ihn das Leben davor, <strong>in</strong> dem er <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em vaterlosen<br />

Schulversager geworden war, für den sich niemand<br />

<strong>in</strong>teressierte. Die Dschihadisten und ihre Biografien:<br />

<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong>. Es ist nichts, worauf wir<br />

stolz se<strong>in</strong> können.<br />

ULRICH KRAETZER ist Politikwissenschaftler<br />

und <strong>in</strong>vestigativer Journalist <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, seit Mai<br />

Redakteur der Berl<strong>in</strong>er Morgenpost. Se<strong>in</strong> Buch<br />

„Salafisten – Bedrohung für Deutschland?“ erschien<br />

im Februar im Gütersloher Verlagshaus<br />

ECHO<br />

KLASSIK<br />

2014<br />

Sonntag, 26.Oktober 2014<br />

Philharmonie im Gasteig<br />

mit Auftritten von<br />

Anna Netrebko, Jonas Kaufmann,<br />

Anne-Sophie Mutter, Diana Damrau,<br />

David Garrett u.v.m.<br />

Moderation<br />

N<strong>in</strong>a Eich<strong>in</strong>ger und Rolando Villazón<br />

TV-Ausstrahlung<br />

26. Oktober, 22:00 Uhr im ZDF<br />

Alle Informationen <strong>zu</strong>r Verleihung<br />

und <strong>zu</strong> den Preisträgern 2014<br />

www.echoklassik.de<br />

www.facebook.com/ECHO.Klassik<br />

www.youtube.com/Echomusikpreis<br />

#ECHOKLASSIK2014


TITEL<br />

<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />

„ AUCH BEI UNS WIRD ES<br />

ENTHAUPTUNGEN GEBEN “<br />

Tausende Muslime aus Europa kämpfen <strong>in</strong>zwischen für den<br />

„Islamischen Staat“. Der Radikalisierungsforscher Peter Neumann<br />

warnt vor e<strong>in</strong>er neuen Generation des weltweiten Terrors<br />

Fragen ALEXANDER MARGUIER<br />

Fotos ANDREA ARTZ<br />

28<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Herr Neumann, Sie erforschen die politische und religiöse<br />

Radikalisierung. Gibt es da bestimmte Grundmuster<br />

dieses Prozesses <strong>in</strong> Sachen Alter, Herkunft<br />

und Geschlecht?<br />

Die Leute, die sich radikalisieren, s<strong>in</strong>d meistens<br />

jüngere Männer. Es gibt natürlich Ausnahmen, im Fall<br />

des IS treten <strong>in</strong>zwischen auch verstärkt Frauen auf.<br />

Aber typischerweise s<strong>in</strong>d es doch am häufigsten Männer<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Alter, das die Soziologen als „demografische<br />

Verfügbarkeit“ bezeichnen – also der Zeitabschnitt,<br />

<strong>in</strong> dem man nicht mehr unter der Kontrolle der<br />

Eltern steht und gleichzeitig noch ke<strong>in</strong>e eigene Familie<br />

hat. Es ist e<strong>in</strong> Alter, <strong>in</strong> dem noch die Möglichkeit<br />

besteht, verschiedene Ideen <strong>zu</strong> verfolgen.<br />

Man müsste doch eigentlich glauben, wer <strong>zu</strong>m Beispiel<br />

nach Syrien oder <strong>in</strong> den Irak geht, um sich dem<br />

IS an<strong>zu</strong>schließen, für den muss es <strong>in</strong> der Heimat ziemlich<br />

perspektivlos se<strong>in</strong>. Ist das e<strong>in</strong> Verlierer- oder<br />

Außenseiter-Phänomen?<br />

Davon geht man immer aus, aber man kann das<br />

so im Großen und Ganzen eigentlich nicht behaupten.<br />

Es existieren etliche Beispiele von Leuten, die <strong>in</strong> unserer<br />

Gesellschaft durchaus e<strong>in</strong>e gute Perspektive gehabt<br />

hätten. Hier <strong>in</strong> Großbritannien gibt es etwa den<br />

Fall e<strong>in</strong>es Mediz<strong>in</strong>ers aus Cambridge; wir hatten auch<br />

e<strong>in</strong>ige Studenten, die an sehr guten Universitäten waren<br />

und die e<strong>in</strong>e gute Karriere vor sich hatten. Was<br />

wirklich die Grundbauste<strong>in</strong>e nicht nur beim IS, sondern<br />

auch <strong>in</strong> anderen Zusammenhängen s<strong>in</strong>d, ist <strong>zu</strong>m<br />

e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> gewisser Unmut. Das betrifft Menschen, die<br />

sich verloren fühlen und nicht wissen, wo sie h<strong>in</strong>gehören.<br />

Zum anderen der Kontakt mit e<strong>in</strong>er Ideologie,<br />

die diesen Unmut <strong>in</strong> etwas S<strong>in</strong>nhaftes verwandelt und<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bestimmte Richtung lenkt. Da bietet sich eben<br />

der Islam an, der für alles Regeln hat und e<strong>in</strong> klares<br />

System bereitstellt.<br />

Ist Radikalisierung e<strong>in</strong> Gruppenphänomen?<br />

Ja, es betrifft meistens kle<strong>in</strong>e Gruppen von<br />

Freunden.<br />

In England hat e<strong>in</strong> Jihadi John genannter Mann<br />

traurige Berühmtheit erlangt, weil er als IS-Kämpfer<br />

westliche Journalisten geköpft haben soll, darunter<br />

James Foley und Steven Sotloff. Was wissen<br />

Sie über Jihadi John?<br />

Ich glaube nicht, dass er selbst diese Exekutionen<br />

durchgeführt hat. Der Mann, der <strong>in</strong> dem Video<br />

die Morde begeht, ist L<strong>in</strong>kshänder. Jihadi John aber<br />

ist Rechtshänder. Auch Körpergröße und Form der<br />

Hand stimmen nicht übere<strong>in</strong>. Da haben e<strong>in</strong>ige britische<br />

Zeitungen wohl eher e<strong>in</strong>e Geschichte konstruiert.<br />

In jedem Fall bekennt sich Jihadi John aber <strong>zu</strong><br />

den Gräueltaten.<br />

Nach allem, was man bisher weiß, ist Jihadi John <strong>in</strong><br />

England früher als Rapper <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung getreten.<br />

Auch aus Deutschland hat sich e<strong>in</strong> ehemaliger Rapper<br />

dem IS angeschlossen, der Berl<strong>in</strong>er Denis Cuspert,<br />

Künstlername Deso Dogg. E<strong>in</strong> Zufall?<br />

Eher nicht. Beide wollten ja mit ihrer Musik schon<br />

vorher <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Art Gegenkultur gehören, e<strong>in</strong>en Anti-<br />

Ma<strong>in</strong>stream bilden. Und der Salafismus zeichnet ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>en radikalen Gegenentwurf <strong>zu</strong> unserer westlichen<br />

Gesellschaft. Das passt schon <strong>zu</strong>sammen.<br />

Als IS-Kämpfer tauchen Jihadi John und Deso Dogg ja<br />

ständig <strong>in</strong> den Medien auf. Produziert man da nicht<br />

Nachahmungstäter, <strong>in</strong>dem solche Leute als Popstars<br />

des Terrors gezeigt <strong>werden</strong>?<br />

Ja, sicher. Wir erleben ja bereits, dass Enthauptungen<br />

fast schon <strong>zu</strong>r Mode geworden s<strong>in</strong>d. Es gab Enthauptungen<br />

<strong>in</strong> Amerika, es gab versuchte Enthauptungen<br />

<strong>in</strong> Australien. Und ich b<strong>in</strong> sicher, dass wir das auch<br />

<strong>in</strong> Europa noch erleben <strong>werden</strong>. Das ist e<strong>in</strong> Trend, den<br />

der „Islamische Staat“ geschaffen hat.<br />

Eigentlich müsste e<strong>in</strong>e Enthauptung doch abschreckend<br />

wirken – gerade auf Leute, die <strong>in</strong> Europa aufgewachsen<br />

s<strong>in</strong>d. Bei manchen sche<strong>in</strong>t aber das Gegenteil<br />

der Fall <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>. <strong>Wie</strong> kommt es da<strong>zu</strong>?<br />

Sie rechtfertigen das mit der Begründung des IS.<br />

Da wird nach irgendwelchen Koran-Suren gesucht, <strong>in</strong><br />

denen von Enthauptungen die Rede ist. Es gibt auch<br />

das strategische Argument, mit solchen Morden lasse<br />

sich Aufmerksamkeit für die eigene Sache erregen und<br />

der Westen <strong>in</strong> Aufruhr versetzen. Zum Dritten heißt<br />

es: „Wir machen hier e<strong>in</strong>e Revolution, und da passieren<br />

eben auch D<strong>in</strong>ge, die nicht so hübsch s<strong>in</strong>d.“<br />

In Deutschland hat der Fall des 22-jährigen Erhan A.<br />

aus Kempten Aufsehen erregt, der ursprünglich aus<br />

der Türkei stammt. Er behauptet, durch Lektüre des<br />

Koran <strong>zu</strong>m „echten Islam“ bekehrt worden <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>.<br />

Jetzt schwärmt er für den IS, lehnt den sogenannten<br />

„Euro-Fake-Islam“ se<strong>in</strong>er Eltern ab und wollte bis<br />

<strong>zu</strong> se<strong>in</strong>er Verhaftung selbst <strong>in</strong> den Kampf ziehen. Ist<br />

diese Art von Selbstradikalisierung e<strong>in</strong>e Ausnahme?<br />

Wir wissen von Erhan A., dass er den Koran zwar<br />

gelesen hat, aber eben nicht alle<strong>in</strong>. Er war vielmehr<br />

Teil der salafistischen Szene <strong>in</strong> Kempten. Also e<strong>in</strong> typischer<br />

Fall, denn genau aus dieser Gegenkultur rekrutieren<br />

sich die meisten Auslandskämpfer für den IS.<br />

Peter Neumann<br />

Jahrgang 1974, stammt aus Würzburg und ist Gründungsdirektor<br />

des International Centre for the Study of<br />

Radicalisation am renommierten K<strong>in</strong>g’s College <strong>in</strong> London,<br />

wo er auch als Professor lehrt<br />

29<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


TITEL<br />

<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />

Welche Rolle spielen Moscheen und soziale Netzwerke<br />

bei der Radikalisierung?<br />

Me<strong>in</strong> Vorwurf an die traditionellen Moscheegeme<strong>in</strong>den<br />

ist nicht, dass sie Leute radikalisieren. Sondern<br />

dass sie es nicht schaffen, Angebote für <strong>junge</strong><br />

Menschen <strong>zu</strong> machen und sie damit an die Moscheen<br />

<strong>zu</strong> b<strong>in</strong>den. Die meisten Moscheen s<strong>in</strong>d voller alter<br />

Männer, gepredigt wird dort auf Türkisch oder Arabisch.<br />

Das ist schlichtweg ke<strong>in</strong> attraktives Angebot für<br />

<strong>junge</strong> Leute auf S<strong>in</strong>nsuche. Deshalb wenden sie sich<br />

mit existenziellen Problemen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Richtung.<br />

Und da greifen die sozialen Netzwerke im Internet, wo<br />

DSCHIHADISTEN<br />

IN SYRIEN UND NORDIRAK<br />

wichtigste<br />

Grenzübergänge<br />

SAUDI-<br />

ARABIEN<br />

Istanbul- wichtigste<br />

Atatürk Grenzübergänge<br />

SAUDI-<br />

ARABIEN<br />

Istanbul-<br />

Atatürk<br />

Kilis<br />

LIBANON Reyhanli<br />

LIBANON<br />

JORD<br />

NIEN<br />

unter Kontrolle von<br />

„Islamischer Staat“<br />

TÜRKEI<br />

Kilis Akçakale<br />

Hatay Gaziantep Sanliurfa<br />

Reyhanli<br />

JORD<br />

NIEN<br />

unter Kontrolle von<br />

„Islamischer Staat“<br />

TÜRKEI<br />

Hatay Gaziantep Sanliurfa<br />

SYRIEN<br />

SYRIEN<br />

Akçakale<br />

unter kurdischer<br />

Kontrolle<br />

unter kurdischer<br />

Kontrolle<br />

IRAK<br />

IRAK<br />

AUSLÄNDISCHE KÄMPFER IN SYRIEN<br />

[je 1 Million E<strong>in</strong>wohner 0 5 10 15]<br />

20 25 Gesamtzahl<br />

Belgien<br />

Dänemark<br />

Belgien<br />

Frankreich<br />

Dänemark<br />

Australien<br />

Frankreich<br />

Norwegen<br />

Australien<br />

Niederlande<br />

Norwegen<br />

Österreich<br />

Niederlande<br />

Irland<br />

Österreich<br />

Großbritannien<br />

Irland<br />

Schweden<br />

Großbritannien<br />

Deutschland<br />

Schweden<br />

USA<br />

Deutschland<br />

USA<br />

0 5 10 15 20 25<br />

250<br />

Gesamtzahl<br />

100<br />

250<br />

700<br />

100<br />

250<br />

700<br />

50<br />

250<br />

120<br />

50<br />

60<br />

120<br />

30<br />

60<br />

400<br />

30<br />

30<br />

400<br />

480<br />

30<br />

70<br />

480<br />

70<br />

IRAN<br />

IRAN<br />

sie auf salafistische Prediger wie Pierre Vogel und andere<br />

stoßen. So rutschen sie <strong>in</strong> die Szene re<strong>in</strong>.<br />

Unter Islamisten kursieren ja etliche Verschwörungstheorien,<br />

darunter sogar die, der Anführer des IS sei<br />

<strong>in</strong> Wahrheit e<strong>in</strong> israelischer Geheimdienstagent.<br />

Braucht es solche Narrative, um die Radikalisierung<br />

<strong>in</strong> Gang <strong>zu</strong> setzen?<br />

Klar. Der ganze extremistische Islam ist ja im Pr<strong>in</strong>zip<br />

nichts anderes als e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Verschwörungstheorie.<br />

Danach haben es die islamischen Länder deshalb<br />

so schwer, weil es e<strong>in</strong>e riesige Verschwörung des Westens<br />

und neuerd<strong>in</strong>gs auch der Schiiten gegen den Islam<br />

gibt. Die Lösung dieses Dilemmas wird dar<strong>in</strong> gesehen,<br />

dass sich die Muslime nur wiedervere<strong>in</strong>igen und den<br />

Islam <strong>in</strong> wörtlicher Lesart als verb<strong>in</strong>dliche Gesetzesgrundlage<br />

akzeptieren müssten.<br />

<strong>Wie</strong> groß schätzen Sie die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>,<br />

dass es auch <strong>in</strong> Europa <strong>zu</strong> Anschlägen durch radikalisierte<br />

Moslems kommen wird?<br />

Fast 100 Prozent. In Syrien und im Irak s<strong>in</strong>d ja <strong>in</strong>zwischen<br />

um die 15 000 Auslandskämpfer im E<strong>in</strong>satz.<br />

Da wächst e<strong>in</strong>e ganz neue Generation von Leuten heran,<br />

die auch h<strong>in</strong>terher noch <strong>in</strong> ihren Netzwerken aktiv<br />

se<strong>in</strong> <strong>werden</strong>. Das war schon während der achtziger<br />

Jahre <strong>in</strong> Afghanistan der Fall, wo Osama b<strong>in</strong> Laden bekanntlich<br />

am Partisanenkampf gegen die Sowjets beteiligt<br />

war. Und wenn wir Afghanistan als Blaupause<br />

nehmen, dann entstehen beim IS derzeit neue <strong>in</strong>ternationale<br />

Gruppierungen, die uns möglicherweise im<br />

Lauf der nächsten 20 Jahre Terroranschläge <strong>in</strong> allen<br />

Regionen der Welt bescheren <strong>werden</strong>.<br />

Welche gesetzlichen Schritte halten Sie für notwendig,<br />

um den Zustrom von IS-Kämpfern aus dem Ausland<br />

<strong>zu</strong> verh<strong>in</strong>dern?<br />

Ich denke, es ist richtig, dass Leuten die Pässe weggenommen<br />

<strong>werden</strong>, bevor sie ihr Heimatland verlassen.<br />

Für falsch halte ich es dagegen, ihnen die Staatsbürgerschaft<br />

<strong>zu</strong> entziehen, wenn sie bereits im Kampfgebiet<br />

s<strong>in</strong>d. Denn es gibt unter den Auslandskämpfern<br />

viele, die dort un<strong>zu</strong>frieden s<strong>in</strong>d und gern <strong>zu</strong>rückkämen.<br />

Wenn man denen e<strong>in</strong>e Rückkehr verweigert, haben<br />

sie ke<strong>in</strong>e andere Wahl als weiter<strong>zu</strong>kämpfen.<br />

Gibt es auch so etwas wie e<strong>in</strong>e soziale Prävention?<br />

Unbed<strong>in</strong>gt, und auf diesem Gebiet wird viel <strong>zu</strong> wenig<br />

unternommen. Wir verfügen hier an me<strong>in</strong>em Institut<br />

über e<strong>in</strong>en Datensatz von 530 Kämpfern, mit denen wir<br />

<strong>zu</strong>m Teil auch <strong>in</strong> Kontakt stehen. Von denen wissen wir,<br />

dass vor Ort etliche schockiert darüber s<strong>in</strong>d, dass die<br />

meisten Syrer sie überhaupt nicht im Land haben wollen<br />

und sie nicht willkommen heißen. E<strong>in</strong>ige IS-Auslandskämpfer<br />

s<strong>in</strong>d auch frustriert, weil sie feststellen, dass<br />

Grafik: <strong>Cicero</strong> (Montage); Quellen: Eurostar, IMF, Institute for the Study of War, The International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence, The Soufan Group, The Economist<br />

30<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


s<strong>in</strong>d zwar nicht mehr extremistisch motiviert, aber wegen<br />

der Erlebnisse traumatisiert und deshalb womöglich<br />

ebenfalls gefährlich. Und es gibt natürlich auch noch<br />

Zweifler oder Desillusionierte, die sich am liebsten so<br />

schnell wie möglich <strong>in</strong> unsere Gesellschaft re<strong>in</strong>tegrieren<br />

wollen. Da braucht man eben unterschiedliche Ansätze.<br />

Der Traumatisierte benötigt möglicherweise psychologische<br />

Hilfe, der Extremist muss womöglich <strong>in</strong>s<br />

Gefängnis. Für Zweifler ist wahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong> Deradikalisierungsprogramm<br />

die richtige Lösung. Es ist sicher<br />

ke<strong>in</strong>e gute Idee, jedem potenziellen Heimkehrer e<strong>in</strong>e<br />

Gefängnisstrafe <strong>in</strong> Aussicht <strong>zu</strong> stellen.<br />

„ Die Moscheen schaffen es nicht, <strong>junge</strong> Leute<br />

an sich <strong>zu</strong> b<strong>in</strong>den. Stattdessen greifen dann<br />

salafistische Netzwerke “<br />

sich immer wieder e<strong>in</strong>zelne Sunniten-Gruppen untere<strong>in</strong>ander<br />

befehden. Das s<strong>in</strong>d Botschaften, die müssten<br />

hier<strong>zu</strong>lande viel deutlicher herausgestellt <strong>werden</strong> – gerade<br />

auch <strong>in</strong> den muslimischen Geme<strong>in</strong>den. Stattdessen<br />

dom<strong>in</strong>iert bei uns die Propaganda des „Islamischen<br />

Staates“.<br />

Die große Frage lautet natürlich: Was tun mit den<br />

rückkehrenden Kämpfern?<br />

Über jeden Rückkehrer sollte es e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle<br />

E<strong>in</strong>schät<strong>zu</strong>ng durch die Sicherheitsbehörden geben.<br />

Denn es handelt sich ja nicht um e<strong>in</strong>e homogene Gruppe.<br />

Da gibt es brandgefährliche Extremisten, die hier Terroranschläge<br />

verüben wollen. Dann gibt es welche, die<br />

Aus welchen europäischen Ländern stammen eigentlich<br />

im Verhältnis <strong>zu</strong>r Gesamtbevölkerung die meisten<br />

IS-Kämpfer?<br />

In absoluten Zahlen liegen natürlich die größten<br />

Länder vorn. Aus Frankreich stammen etwa<br />

1000 Kämpfer, aus Großbritannien zwischen 500 und<br />

600, und aus Deutschland 400 oder 500. Im Verhältnis<br />

<strong>zu</strong>r E<strong>in</strong>wohnerzahl liegt allerd<strong>in</strong>gs Belgien ganz<br />

weit <strong>in</strong> Führung, alle<strong>in</strong> von dort stammen 300 Kämpfer.<br />

Auch Schweden, Norwegen, Dänemark und die Niederlande<br />

s<strong>in</strong>d überproportional stark betroffen.<br />

Woran liegt das?<br />

Das liegt daran, dass <strong>in</strong> diesen Ländern bestimmte<br />

salafistische Gruppen außergewöhnlich aktiv s<strong>in</strong>d oder<br />

es <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest waren. In Belgien <strong>zu</strong>m Beispiel „Sharia<br />

4 Belgium“ oder <strong>in</strong> Norwegen „Profetens Ummah“.<br />

70 Prozent aller IS-Auslandskämpfer stammen aus solchen<br />

Gruppen. Interessanterweise kommen fast alle<br />

der belgischen IS-Leute aus nur drei Städten, nämlich<br />

Antwerpen, Mechelen und Vilvoorde. Und <strong>in</strong> genau<br />

diesen drei Orten war „Sharia 4 Belgium“ auch besonders<br />

e<strong>in</strong>flussreich.<br />

29.05.–30.11.2014<br />

<strong>Deutsche</strong>s Historisches Museum ∙ Unter den L<strong>in</strong>den 2 ∙ 10117 Berl<strong>in</strong> ∙ www.dhm.de ∙ Täglich 10–18 Uhr


TITEL<br />

<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />

EIN AUFRUF<br />

Der Islam ist e<strong>in</strong>e geladene Waffe – wir müssen sie endlich entschärfen<br />

Von GÜNER YASEMIN BALCI<br />

Liebe Mitbürger<strong>in</strong>nen, liebe Mitbürger, liebe Geschwister<br />

im, mit und ohne Glauben, im Namen<br />

Allahs des Barmherzigen rufe ich alle <strong>zu</strong>r Vernunft<br />

– <strong>zu</strong>m kritischen Denken auf!<br />

Seit es unsere Religion gibt, <strong>werden</strong> im Namen<br />

des Islam Menschen getötet. Ja, es stimmt, auch im<br />

Namen anderer Religionen wurde viel Blut vergossen.<br />

Ich rede heute aber für me<strong>in</strong>e Religion.<br />

Viele Muslime, ich hoffe die meisten, distanzieren<br />

sich nicht nur von diesen Taten, sondern verurteilen<br />

und verachten die Menschen, die sie begehen. Muslime<br />

stehen heute mehr denn je <strong>in</strong> der Pflicht, nicht<br />

nur den Islamisten, sondern auch allen Traditionalisten<br />

den Kampf an<strong>zu</strong>sagen. Hier und überall. Es reicht<br />

nicht aus, sich <strong>zu</strong> distanzieren. Es müssen Taten folgen.<br />

Die Ursachen des Übels, des Kampfes gegen alle<br />

Nichtmuslime, liegen <strong>in</strong> unserem Umgang mit dem Islam.<br />

Wenn ich „unserem“ sage, me<strong>in</strong>e ich alle Menschen,<br />

aber <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie uns Muslime. Zu leise s<strong>in</strong>d<br />

die Stimmen, die ihn reformieren wollen, verstummt<br />

s<strong>in</strong>d die Muslime, die es e<strong>in</strong>st wagten, e<strong>in</strong>en aufgeklärten<br />

Blick auf unser heiliges Buch <strong>zu</strong> werfen.<br />

Muslime wie Nichtmuslime haben Angst vor dem<br />

Islam, weil es noch immer <strong>zu</strong> viele Islam-Vertreter gibt,<br />

die diesen kritischen Blick verbieten. Ich kann mit Bestimmtheit<br />

sagen, dass e<strong>in</strong> Großteil me<strong>in</strong>er Geschwister<br />

im Glauben, besonders jene, die ihn predigen, schon<br />

immer die Abgren<strong>zu</strong>ng <strong>zu</strong> all den anderen, den sogenannten<br />

„Ungläubigen“, gesucht und propagiert und<br />

bei jeder Kritik am Islam sofort die Rolle des Opfers<br />

e<strong>in</strong>genommen haben. Wo s<strong>in</strong>d die Imame, die auf der<br />

Kanzel stehen und sagen: Dieser und jener Vers s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Zeit entstanden, und die müsst<br />

ihr nach heutiger Sicht der D<strong>in</strong>ge so und so verstehen,<br />

und deshalb dürft ihr euch nicht so verhalten, wie ihr<br />

es gerade tut? Wo s<strong>in</strong>d die Geistlichen, die es wagen,<br />

sich gegen die Verschleierung der Frau aus<strong>zu</strong>sprechen<br />

und für das Recht auf e<strong>in</strong> selbstbestimmtes Leben für<br />

jeden Menschen?<br />

Die Realität der islamischen Welt, egal wo man<br />

sie antrifft, ist anders: Gerade die Gewalt hervorhebenden<br />

Verse <strong>werden</strong> genutzt, um auch Muslimen und<br />

Andersgläubigen Gewalt an<strong>zu</strong>tun. Es br<strong>in</strong>gt uns nichts,<br />

die Diskussion über die Reformierbarkeit des Islam <strong>in</strong><br />

die gepflegte Atmosphäre wissenschaftlichen Gedankenaustauschs<br />

<strong>zu</strong> verlegen. Die Angst vieler Muslime,<br />

die es wagen, e<strong>in</strong>en analytischen Blick auf den Koran<br />

und die Hadithen <strong>zu</strong> werfen, ist verständlich, denn<br />

sie <strong>werden</strong> von den meisten Vertretern des Islam <strong>in</strong><br />

Deutschland und auf der ganzen Welt diffamiert – gar<br />

mit dem Tode bedroht.<br />

Unser Glaube ist nicht für alle Menschen die e<strong>in</strong>zig<br />

wahre Religion und darf sich nicht mit Verachtung<br />

über alles andere stellen. Wenn das die Botschaft ist,<br />

die heute bei e<strong>in</strong>em jugendlichen Moscheebesucher <strong>in</strong><br />

Bonn, Dresden, Frankfurt oder Berl<strong>in</strong> als erste im Kopf<br />

hängen bleibt, wo<strong>zu</strong> sprechen wir dann noch von e<strong>in</strong>em<br />

barmherzigen Allah? Viele Muslime sagen: „Ich<br />

b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Islamist, warum sollte ich mich von den Taten<br />

der Islamisten distanzieren? Als die NSU-Mörder<br />

zehn Menschen h<strong>in</strong>richteten, haben sich auch nicht<br />

alle <strong>Deutsche</strong>n öffentlich von diesen Nazis distanziert.“<br />

DIESES DENKEN IST FALSCH. Dass es vor allem<br />

Deutschland ist, das sich mit se<strong>in</strong>er Nazivergangenheit<br />

und -gegenwart ohne Hemmungen ause<strong>in</strong>andersetzt,<br />

will ich hier nicht länger ausführen. Wir liefern<br />

allen Rassisten dieser Welt, egal ob Muslime oder nicht,<br />

das nötige Futter, wenn wir unsere Religion <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em<br />

unberührbaren Regelwerk erklären. Die NSU-Zelle<br />

kann ihre Morde nicht mit dem Grundgesetz legitimieren,<br />

Islamisten aber legitimieren die Verfolgung<br />

und Ermordung von Menschen mit der heiligen Schrift.<br />

Religion kann e<strong>in</strong>e Waffe se<strong>in</strong> – der Islam, so wie<br />

er heute von vielen <strong>in</strong>terpretiert wird, ist aufgrund des<br />

Mangels an kritischer Ause<strong>in</strong>anderset<strong>zu</strong>ng e<strong>in</strong>e geladene<br />

Waffe. Er lebt immer noch <strong>in</strong> dem Verteidigungsglauben<br />

e<strong>in</strong>er vormodernen Zeit, und viele se<strong>in</strong>er Anhänger<br />

vergessen nur <strong>zu</strong> gern, dass sie besonders <strong>in</strong><br />

jenen Ländern sorgenfrei leben, <strong>in</strong> denen er nicht die<br />

Staatsform bildet.<br />

Mohammed war der letzte Prophet, wir können<br />

nicht auf den nächsten warten, um unsere Probleme<br />

von heute <strong>zu</strong> lösen. Nach ihm ist viel auf Gottes Erde<br />

passiert, es gab viele Kriege, viel Leid und Tod – und<br />

dann wieder Licht. In e<strong>in</strong>er Hadith heißt es: „Das Wissen<br />

ist der Gläubigen verlorenes Gut, wo auch immer<br />

sie auf Wissen treffen, sollen sie es aufgreifen.“<br />

Der Islam ist zeitgemäß, wenn wir bereit dafür<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

GÜNER YASEMIN BALCI ist Journalist<strong>in</strong> und<br />

Buchautor<strong>in</strong> („Arabboy“). Sie kam 1975 als<br />

Tochter türkischer E<strong>in</strong>wanderer <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> <strong>zu</strong>r Welt<br />

32<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


„ DIE AUFKLÄRUNG<br />

GEHÖRT ZUM ISLAM “<br />

Der amerikanische Imam<br />

Feisal Abdul Rauf über<br />

die Terrorbewegung<br />

„Islamischer Staat“ und<br />

über die Frage, warum so<br />

viele Muslime ihr Heil <strong>in</strong><br />

der Vergangenheit suchen<br />

Imam Feisal, mit Ihrer Stiftung Cordoba Initiative<br />

möchten Sie dem gemäßigten Islam e<strong>in</strong>e Stimme geben.<br />

Ist das <strong>in</strong> jüngster Vergangenheit schwieriger<br />

geworden?<br />

Feisal Abdul Rauf: Zum<strong>in</strong>dest ist die Arbeit längst<br />

nicht getan. Wir haben die Cordoba Initiative nach 9/11<br />

gegründet, um das gegenseitige Verständnis zwischen<br />

dem Westen und der muslimischen Welt <strong>zu</strong> verbessern.<br />

Im ersten Schritt g<strong>in</strong>g es e<strong>in</strong>fach nur darum, <strong>in</strong>sbesondere<br />

die Amerikaner darüber auf<strong>zu</strong>klären, was die Ursachen<br />

für den <strong>in</strong> der muslimischen Welt verbreiteten<br />

Antiamerikanismus s<strong>in</strong>d. Der zweite Schritt besteht nun<br />

<strong>in</strong>sbesondere dar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en Dialog her<strong>zu</strong>stellen. Das wird<br />

angesichts der aktuellen Geschehnisse natürlich nicht<br />

e<strong>in</strong>facher.<br />

Spätestens seit 9/11 verb<strong>in</strong>den viele Menschen <strong>in</strong><br />

westlichen Ländern mit dem Islam Extremismus<br />

und Gewalt. Warum gibt es <strong>in</strong> der islamischen Welt<br />

ke<strong>in</strong>en Aufschrei darüber, dass diese Religion ständig<br />

von Extremisten und Terroristen <strong>in</strong>strumentalisiert<br />

wird?<br />

In der muslimischen Welt wird durchaus harte Kritik<br />

an den im Namen des Islam begangenen Gewalttaten<br />

geübt. Der IS <strong>zu</strong>m Beispiel ist ständig <strong>in</strong> den<br />

Schlagzeilen, aber dessen Verurteilung etwa durch<br />

den saudischen Obermufti oder durch den malaysischen<br />

Premierm<strong>in</strong>ister ist im Westen eben ke<strong>in</strong> Thema,<br />

erst recht nicht für die Nachrichten. Außerdem kennen<br />

wir Muslime natürlich den Unterschied, und deswegen<br />

käme von uns wohl auch ke<strong>in</strong>er auf die Idee, das<br />

Christentum dafür verantwortlich <strong>zu</strong> machen, wenn<br />

etwa e<strong>in</strong> christlicher Extremist e<strong>in</strong> Bombenattentat<br />

auf e<strong>in</strong>e Abtreibungskl<strong>in</strong>ik verübt.<br />

Foto: Craig F. Walker/The Denver Post via Getty Images<br />

Feisal Abdul Rauf<br />

kam 1948 als Sohn ägyptischer Eltern <strong>in</strong> Kuwait <strong>zu</strong>r<br />

Welt. Von 1983 bis 2009 war er Imam an e<strong>in</strong>er New<br />

Yorker Moschee. Als Gründer der Cordoba Initiative<br />

setzt er sich stark für den <strong>in</strong>terreligiösen Dialog e<strong>in</strong>.<br />

Feisal Abdul Rauf ist Autor zahlreicher Bücher<br />

IS steht ja für „Islamischer Staat“. <strong>Wie</strong> islamisch ist<br />

denn der IS?<br />

Überhaupt nicht. Ich plädiere deshalb auch dr<strong>in</strong>gend<br />

dafür, dass die Welt sich diesen Namen nicht <strong>zu</strong><br />

eigen macht. Ich fände stattdessen die Bezeichnung<br />

„Terrorist Assass<strong>in</strong>s of Syria and Iraq“ (mörderische<br />

Terroristen von Syrien und Irak) angemessen. Alle<strong>in</strong><br />

schon, weil die entsprechende Abkür<strong>zu</strong>ng „Tasi“ vom<br />

Klang her an die Nazis er<strong>in</strong>nern würde.<br />

Trotzdem sche<strong>in</strong>t der IS ja auch gerade wegen se<strong>in</strong>es<br />

islamischen Be<strong>zu</strong>gs für viele <strong>in</strong>sbesondere <strong>junge</strong><br />

Männer aus aller Welt attraktiv <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>.<br />

33<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


TITEL<br />

<strong>Made</strong> <strong>in</strong> <strong>Germany</strong><br />

Der Islam ist e<strong>in</strong>e Gesetzesreligion genauso wie<br />

e<strong>in</strong>e spirituelle Religion. Das heißt, für viele Muslime<br />

ist Gerechtigkeit e<strong>in</strong> sehr wichtiges Thema. Und viele<br />

Muslime spüren, dass es <strong>in</strong> etlichen Ländern ungerecht<br />

<strong>zu</strong>geht. Deswegen fällt es Gruppierungen wie<br />

dem IS so leicht, besonders bei <strong>junge</strong>n Leuten über<br />

die Religion an den Gerechtigkeitss<strong>in</strong>n <strong>zu</strong> appellieren.<br />

Aus diesem Grund wäre es auch so wichtig, dem<br />

IS den Gebrauch des Wortes „islamisch“ nicht <strong>zu</strong><strong>zu</strong>gestehen.<br />

Ich sehe da Parallelen <strong>zu</strong>r Französischen<br />

Revolution, die ja im Namen von Freiheit, Gleichheit<br />

und Brüderlichkeit stattfand. Aber das artete<br />

dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Terrorregime aus – e<strong>in</strong>schließlich der<br />

Erf<strong>in</strong>dung der Guillot<strong>in</strong>e. Revolutionäre Bewegungen<br />

haben leider diese Tendenz <strong>zu</strong> „Säuberungen“,<br />

die darauf h<strong>in</strong>auslaufen, alle um<strong>zu</strong>br<strong>in</strong>gen, die das<br />

revolutionäre Ziel nicht teilen.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs sche<strong>in</strong>en die meisten islamischen Länder<br />

sich doch schwer damit <strong>zu</strong> tun, so etwas wie demokratische<br />

Werte <strong>zu</strong> akzeptieren.<br />

Das kommt darauf an, wie man Demokratie def<strong>in</strong>iert.<br />

Wenn wir im Westen von Demokratie reden,<br />

denken wir meist nicht nur an das Abhalten von Wahlen,<br />

sondern <strong>zu</strong>m Beispiel auch an die Trennung von<br />

Kirche und Staat, an Presse- und Religionsfreiheit und<br />

an vieles mehr, das über e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Abstimmungsverfahren<br />

weit h<strong>in</strong>ausgeht. Etliche muslimische Staatsführer<br />

bemühen deshalb lieber den Begriff Good Governance<br />

anstatt Demokratie. Und me<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>druck nach<br />

wären die meisten Menschen <strong>in</strong> muslimischen Ländern<br />

schon vollauf <strong>zu</strong>frieden, wenn sie nur gut regiert würden.<br />

Dafür wären sie sogar bereit, auf Freiheiten <strong>zu</strong><br />

verzichten.<br />

Islamische Intellektuelle, die sich für e<strong>in</strong>e moderne<br />

Lesart des Islam e<strong>in</strong>setzen, sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong>nerhalb ihrer<br />

Religion auf starken Widerstand <strong>zu</strong> stoßen. Warum<br />

s<strong>in</strong>d viele Muslime so auf die Vergangenheit fixiert<br />

anstatt auf die Zukunft?<br />

Dafür gibt es mehrere Gründe. E<strong>in</strong>er davon ist,<br />

dass die Glanzzeit des Islam weit <strong>in</strong> der Vergangenheit<br />

liegt. Am Ende se<strong>in</strong>es Lebens hatte der Prophet<br />

Mohammed se<strong>in</strong>e Gegner geschlagen, die arabischen<br />

Stämme gee<strong>in</strong>t und e<strong>in</strong>e religiöse Bewegung <strong>in</strong> Gang<br />

gesetzt, die sich <strong>in</strong> enormem Tempo verbreitete. Und<br />

auf ihrem Höhepunkt war die islamische Kultur e<strong>in</strong>e<br />

be<strong>in</strong>ahe weltumspannende, multiethnische Angelegenheit,<br />

<strong>in</strong> der die Rechte der Menschen geschützt waren.<br />

Wir heutigen Muslime haben deswegen das Gefühl, etwas<br />

Großes verloren <strong>zu</strong> haben. Viele von uns sehen die<br />

Ursache dar<strong>in</strong>, dass wir von der Vollkommenheit des<br />

Glaubens abgewichen s<strong>in</strong>d. Das ist e<strong>in</strong>e Art kollektives<br />

Bewusstse<strong>in</strong> <strong>in</strong>nerhalb der muslimischen Welt. Nicht<br />

<strong>zu</strong>letzt ist die Tradition für die meisten Muslime e<strong>in</strong><br />

sehr hoher Wert. Aus allen diesen Gründen ist es für<br />

uns wichtig, nicht mit der Vergangenheit <strong>zu</strong> brechen.<br />

Von westlichen Kritikern des Islam ist oft <strong>zu</strong> hören,<br />

dass die muslimische Welt etwas nachholen müsse,<br />

was im Westen die Aufklärung war. Sehen Sie das<br />

auch so?<br />

Ja und ne<strong>in</strong>. Ja <strong>in</strong>sofern, als wir Muslime gerade<br />

durch sehr dunkle Zeiten gehen. In ihrer Glanzzeit,<br />

also vom 8. bis <strong>zu</strong>m 13. Jahrhundert, war die muslimische<br />

Welt durchaus aufgeklärt; es war damals sogar die<br />

aufgeklärteste Gesellschaft überhaupt. Die Menschen<br />

g<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> islamische Zentren wie Córdoba und Bagdad,<br />

um Aristoteles und Plato <strong>zu</strong> studieren. Die Aufklärung<br />

ist also Teil der islamischen Tradition. Wir müssten an<br />

diese Tradition nur wieder anknüpfen.<br />

Warum g<strong>in</strong>g diese Tradition verloren?<br />

Zum e<strong>in</strong>en, weil natürlich alle Imperien Auf- und<br />

Niedergänge erleben – und die islamische Welt wurde<br />

eben im Vergleich <strong>zu</strong> Europa irgendwann militärisch<br />

schwächer. Zum wirtschaftlichen Aufstieg Europas<br />

trug aber <strong>in</strong>sbesondere die Gründung von Kapitalgesellschaften<br />

mit beschränkter Haftung bei, weil das<br />

Investitionen mit erheblichen Risiken ermöglichte.<br />

Dies – verbunden mit der im Christentum sich entwickelnden<br />

Möglichkeit, Kapital gegen Z<strong>in</strong>sen <strong>zu</strong> verleihen<br />

– führte <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em enormen wirtschaftlichen Aufstieg.<br />

Denn es war e<strong>in</strong>e Struktur entstanden, <strong>in</strong> der<br />

die Menschen ihre ganze Innovationskraft entfalten<br />

konnten. So geriet die islamische Welt immer mehr <strong>in</strong>s<br />

H<strong>in</strong>tertreffen, und noch da<strong>zu</strong> übernahm sie die für sie<br />

schlimmsten europäischen Gewohnheiten.<br />

Welche denn?<br />

Die Gründung von Nationalstaaten mit e<strong>in</strong>er ethnischen<br />

und religiösen Konformität und dem damit<br />

e<strong>in</strong>hergehenden Verlust e<strong>in</strong>er Akzeptanz von Vielfalt.<br />

Dadurch entstand im islamischen Raum die fixe Idee,<br />

<strong>in</strong>nerhalb dieser Nationalstaaten müssten alle Menschen<br />

gleich se<strong>in</strong> – gleich im Glauben, gleich <strong>in</strong> der<br />

Hautfarbe oder <strong>in</strong> der Sprache. Der islamische Nationalstaat<br />

entspricht aber nicht unserer Tradition. Muslimische<br />

Herrscher hatten <strong>zu</strong>vor immer über viele unterschiedliche<br />

Völker geherrscht und deren Eigenheiten<br />

respektiert. Erst als das verloren g<strong>in</strong>g, kam es überall<br />

<strong>zu</strong> ethnischen Spannungen und Konflikten. Mit dem<br />

Aufstieg der Nationalstaaten g<strong>in</strong>g im islamischen Raum<br />

auch die Bereitschaft verloren, Me<strong>in</strong>ungsvielfalt <strong>zu</strong><br />

akzeptieren.<br />

Geht es Ihnen nicht manchmal auf die Nerven, im<br />

Westen ständig den Islam erklären und verteidigen<br />

<strong>zu</strong> müssen?<br />

Um e<strong>in</strong> christliches Bild <strong>zu</strong> verwenden: Ich trage<br />

schwer an diesem Kreuz. Aber da ich da<strong>zu</strong> bestimmt<br />

b<strong>in</strong>, hat Gott mir auch die Schultern gegeben, um es<br />

tragen <strong>zu</strong> können.<br />

Das Gespräch führte ALEXANDER MARGUIER<br />

34<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

„ Ich b<strong>in</strong> nicht der<br />

Anrufbeantworter von<br />

Olaf Scholz “<br />

Das sagt Schleswig-Holste<strong>in</strong>s Schulm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Britta Ernst Leuten, die ihr auftragen, ihrem<br />

Mann, dem Ersten Bürgermeister von Hamburg, etwas aus<strong>zu</strong>richten, Porträt auf Seite 38<br />

35<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

DER SPIELMANN<br />

Er reimt, scherzt, klöppelt. Nun will Guido Wolf Baden-Württembergs M<strong>in</strong>isterpräsident<br />

<strong>werden</strong> und kämpft <strong>in</strong> der CDU um die Kandidatur. Die Entscheidung fällt das Publikum<br />

Von CONSTANTIN MAGNIS<br />

Foto: Andy Ridder für <strong>Cicero</strong><br />

Im Stuttgarter Landtag geht es ungeordnet<br />

<strong>zu</strong>. Der Schriftführer hat den<br />

Fraktionschef im Schwitzkasten und<br />

ruft: „Ugh, Ugh“ <strong>in</strong>s Mikro. Der M<strong>in</strong>isterpräsident<br />

grabscht es ihm aus der<br />

Hand und wirft dabei den Stuhl um. „Oh<br />

nee<strong>in</strong>!“, ruft se<strong>in</strong> Vize.<br />

Guido Wolf, der echte Landtagspräsident<br />

<strong>in</strong> Baden-Württemberg, beobachtet<br />

den Tumult mit gütiger Miene.<br />

Se<strong>in</strong>e CDU hat hier seit dem Machtverlust<br />

Schlimmeres erlebt als diese Grundschüler,<br />

die <strong>zu</strong>m „Planspiel Schülerparlament“<br />

<strong>in</strong> den Landtag gekommen s<strong>in</strong>d.<br />

Wolf ermahnt den kle<strong>in</strong>en Regierungschef<br />

<strong>zu</strong>m Abschied: „Als M<strong>in</strong>ischterpräsident<br />

kannsch net immer <strong>in</strong> de Villa abhocke!<br />

Da musch mit de Leut schwätze,<br />

jeden Tag. Des isch an Knochenjob!“<br />

Natürlich sagt Wolf das nur sche<strong>in</strong>bar<br />

beiläufig. Denn der Landtagspräsident,<br />

53 Jahre alt, will diesen Knochenjob<br />

2016 selbst übernehmen und se<strong>in</strong>e<br />

CDU <strong>zu</strong>rück an die Macht führen. Die<br />

Aussichten, W<strong>in</strong>fried Kretschmanns<br />

grün-rote Koalition ab<strong>zu</strong>lösen, s<strong>in</strong>d<br />

ganz gut. Wer jedoch für die CDU antreten<br />

darf, entscheiden die Mitglieder<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Abstimmung; Anfang Dezember<br />

wird ausgezählt. Um die Spitzenkandidatur<br />

konkurriert Wolf mit dem CDU-Landesvorsitzenden<br />

Thomas Strobl, <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

Vize der Bundestagsfraktion, Vize der<br />

Bundespartei und obendre<strong>in</strong> noch Wolfgang<br />

Schäubles Schwiegersohn.<br />

Im Vergleich <strong>zu</strong>m schneidigen Politprofi<br />

Strobl ist Guido Wolf – dicke Brille,<br />

breites Schwäbisch – e<strong>in</strong> exzentrischer<br />

Kauz. Se<strong>in</strong>e Passion s<strong>in</strong>d seit der Jugend<br />

Tiere aller Art. Se<strong>in</strong> Cockerspaniel Sissi,<br />

zwischenzeitlich 70 Hasen oder Anke,<br />

die Fuchsstute. Se<strong>in</strong> Vater hat sie ihm<br />

ersteigert, und Guido Wolf ritt am Blutfreitag<br />

darauf, der Tag, an dem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

katholischen Heimatstadt We<strong>in</strong>garten<br />

alljährlich des heiligen Blutes Christi<br />

gedacht wird.<br />

Se<strong>in</strong>e Mutter, Tochter e<strong>in</strong>es Agrarm<strong>in</strong>isters,<br />

riet Wolf von öffentlichen Ämtern<br />

früh ab: „Kannsch alles machen, außer<br />

Politik.“ Aber als er als Jurastudent<br />

erlebte, wie l<strong>in</strong>ke Aktivisten M<strong>in</strong>isterpräsident<br />

Lothar Späth aus dem Hörsaal<br />

jagten, trat er <strong>in</strong> die CDU e<strong>in</strong>.<br />

DIE AKTENLAST se<strong>in</strong>es Aufstiegs – Verwaltungsdienst,<br />

Büroleiter im Verkehrsm<strong>in</strong>isterium,<br />

Landrat – kompensiert er<br />

mit öffentlichem Schabernack: Wortspiele<br />

mit se<strong>in</strong>em Namenstier, dem Wolf.<br />

Oder Darbietungen auf se<strong>in</strong>em Liebl<strong>in</strong>gs<strong>in</strong>strument,<br />

dem Xylofon, auf dem er<br />

gern e<strong>in</strong>e Hochgeschw<strong>in</strong>digkeitspolka<br />

mit Namen „Zirkus Renz“ klöppelt. Vor<br />

allem aber reimt Wolf: Seit dem Debüt<br />

bei der E<strong>in</strong>weihung e<strong>in</strong>es Wasserwerks<br />

(„Druck den rota Knopf ganz schnell,<br />

s’sprudelt schon. Ihr höret’s, gell?“) verteilt<br />

er im Land Gedichtle, kritzelt sie kichernd<br />

<strong>in</strong> goldene Bücher von Waldkirch<br />

bis Ladenburg oder trägt sie vor, mit geneigtem<br />

Kopf und verzücktem Lächeln.<br />

Was immer se<strong>in</strong>en Hang <strong>zu</strong>m<br />

Scherzle motiviert, Gefallsucht ist es<br />

eher nicht. Aus der Nähe strahlt er e<strong>in</strong>e<br />

große <strong>in</strong>nere Ruhe aus. Wenn Wolf <strong>zu</strong>hört,<br />

guckt er den Leuten <strong>in</strong>s Gesicht und<br />

sagt manchmal m<strong>in</strong>utenlang gar nichts.<br />

Vor willigem Publikum hört er <strong>zu</strong>weilen<br />

gar nicht auf mit den Wolfswortwitzen,<br />

aber er weiß auch, wann das deplatziert<br />

wäre. In Kälberbronn im Schwarzwald<br />

steht er vor e<strong>in</strong>em Wirt. 14 Jungbullen<br />

des Mannes s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Woche <strong>zu</strong>vor nach<br />

e<strong>in</strong>em Kabelbrand im Stall verendet. Wolf<br />

hört <strong>zu</strong>, er spart sich Floskeln. „Traurige<br />

Angelegenheit“, sagt er.<br />

Er saß gerade mal fünf Jahre im<br />

Landtag, als nach der Mappus-Malaise<br />

auch der Parlamentspräsident abtreten<br />

musste. Wolf ergriff die Chance. Seit se<strong>in</strong>er<br />

Wahl <strong>zu</strong>m Landtagspräsidenten ist er<br />

durchs Land getourt. Er war nicht nur<br />

gern gesehen, weil er der letzte CDU-<br />

Landespolitiker mit e<strong>in</strong>em anständigen<br />

Titel war, sondern weil er unterhalten<br />

konnte. So hat er sich e<strong>in</strong>e solide Fanbasis<br />

erarbeitet. Wofür Wolf politisch<br />

steht, was se<strong>in</strong>e Themen s<strong>in</strong>d, ist noch<br />

schwer e<strong>in</strong><strong>zu</strong>schätzen. Er ist zwar rhetorisch<br />

begabter als Strobl, hat allerd<strong>in</strong>gs<br />

bisher das Ländle beim Versuch, sich als<br />

Kandidat mit Kante <strong>zu</strong> profilieren, eher<br />

verschreckt, beispielsweise mit der Ankündigung,<br />

als M<strong>in</strong>isterpräsident das Bildungssystem<br />

umkrempeln <strong>zu</strong> wollen.<br />

Strobl spielt zwar <strong>in</strong> der politischen<br />

Bundesliga, aber im Gegensatz <strong>zu</strong> ihm<br />

hat Wolf als Landrat schon mal e<strong>in</strong>e<br />

Verwaltung geführt. Viele Landtagsabgeordnete<br />

setzen auf ihn, weil sie fürchten,<br />

Strobl könnte als Wahlsieger M<strong>in</strong>isterposten<br />

vor allem an Leute aus dem<br />

Bundestag vergeben. Aber am Ende entscheiden<br />

nicht Parlamentarier und Funktionäre,<br />

sondern die Mitglieder. Um sie<br />

<strong>zu</strong> begeistern, beklettert Wolf Hochseilgärten<br />

oder bewandert ohne Schuhe frierend<br />

e<strong>in</strong>en Barfußpfad.<br />

Durchs Land <strong>zu</strong> touren und für se<strong>in</strong><br />

Essen <strong>zu</strong> s<strong>in</strong>gen, er kennt das. In se<strong>in</strong>er<br />

K<strong>in</strong>dheit machte die Familie Hausmusik,<br />

Guido an der Klar<strong>in</strong>ette, und zog als „Familie<br />

Wolf“ durch Baden-Württemberg,<br />

spielte <strong>in</strong> Altenheimen, auf Heimatabenden,<br />

auch im Regionalfernsehen. Familien<strong>in</strong>terne<br />

Belohnung fürs viele Proben:<br />

Hühnchen am Sonntag. Wolf hat<br />

den Duft immer noch <strong>in</strong> der Nase, sagt<br />

er, und schließt die Augen.<br />

CONSTANTIN MAGNIS ist Chefreporter von<br />

<strong>Cicero</strong>. Er ist <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und im Nordwesten<br />

Baden-Württembergs <strong>zu</strong> Hause. Auf se<strong>in</strong>er<br />

Tour mit Wolf bekam er Heimatgefühle<br />

37<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

VON DER LIEBE VERTRIEBEN<br />

Britta Ernst ist die neue Schulm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> <strong>in</strong> Kiel. Lange wollte sie Senator<strong>in</strong> <strong>in</strong> Hamburg<br />

<strong>werden</strong>. Aber das g<strong>in</strong>g nicht, weil sie den Bürgermeister etwas <strong>zu</strong> gut kennt<br />

Von HARTMUT PALMER<br />

Von ihrem Büro im achten Stock<br />

blickt Britta Ernst, 53, direkt<br />

aufs Wasser. Dicke Pötte fahren<br />

hier entlang – Kreuzfahrtschiffe, Fähren,<br />

Conta<strong>in</strong>er. Manchmal tuten sie. Oft segeln<br />

Möwen an ihrem Fenster vorbei. Es<br />

ist wie <strong>zu</strong> Hause <strong>in</strong> Hamburg. Aber sie<br />

sitzt nicht an der Elbe, wo sie geboren,<br />

aufgewachsen und seit 1978 politisch aktiv<br />

ist, sondern <strong>in</strong> Kiel. Die Liebe hat sie<br />

aus Hamburg vertrieben. Seit e<strong>in</strong> paar<br />

Wochen ist sie deshalb Schulm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> Schleswig-Holste<strong>in</strong>.<br />

Na ja, so würde sie es nicht erzählen,<br />

obwohl es genau so war. Sie sitzt sehr<br />

beherrscht und kontrolliert <strong>in</strong> ihrem<br />

dunklen, eleganten Hosenann<strong>zu</strong>g an ihrem<br />

Besprechungstisch und erklärt – auf<br />

ihre Weise: sachlich, hanseatisch, unterkühlt<br />

–, wie das war mit der Liebe und<br />

warum sie <strong>in</strong> der Regierung des Hamburger<br />

Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz<br />

nicht Schulsenator<strong>in</strong> <strong>werden</strong> konnte: „Es<br />

wäre besonders beobachtet worden, ob<br />

unsere persönliche Nähe Auswirkungen<br />

auf me<strong>in</strong>e Politik gehabt hätte. Das hätte<br />

mich nicht unbefangen agieren lassen.“<br />

Olaf Scholz ist nämlich ihr Mann<br />

und Britta Ernst die Liebe se<strong>in</strong>es Lebens.<br />

Früher, als er noch Generalsekretär der<br />

SPD, später Arbeitsm<strong>in</strong>ister war, ist er oft<br />

abends nach Hamburg gefahren, um bei<br />

ihr <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>, auch wenn er morgens wieder<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> se<strong>in</strong> musste. Als ihn die Genossen<br />

<strong>in</strong> der Hansestadt am 17. Dezember<br />

2010 <strong>zu</strong>m Spitzenkandidaten kürten,<br />

verkündete er öffentlich, Hamburg sei<br />

ihm auch so wichtig, „weil ich mich hier<br />

unsterblich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Frau verliebt habe“.<br />

Das g<strong>in</strong>g ihr zwar e<strong>in</strong> bisschen gegen den<br />

Strich, weil: „So viel Privates gehört eigentlich<br />

nicht <strong>in</strong> die Öffentlichkeit.“ Aber<br />

gefreut hat sie sich „doch, sehr. Ich habe<br />

ihm h<strong>in</strong>terher allerd<strong>in</strong>gs spontan gesagt:<br />

Das war aber nicht abgesprochen!“<br />

Man spricht sich ab <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er emanzipierten<br />

Ehe, wie Britta Ernst und Olaf<br />

Scholz sie führen. Jeder macht se<strong>in</strong>e Arbeit<br />

und ist dafür verantwortlich. Nichts<br />

hasst sie mehr, als wenn Leute, die eigentlich<br />

etwas von ihm wollen, sie darum<br />

bitten, ihm das aus<strong>zu</strong>richten. „Ich<br />

b<strong>in</strong> nicht der Anrufbeantworter von Olaf<br />

Scholz“, hat sie e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Genossen<br />

angeblafft, der das versuchte.<br />

First Lady <strong>in</strong> Hamburg – das ist<br />

nichts für sie. Es fügte sich, dass Frank-<br />

Walter Ste<strong>in</strong>meier 2011 e<strong>in</strong>en neuen<br />

hauptamtlichen Manager für die Bundestagsfraktion<br />

suchte. Drei Jahre machte<br />

sie den Job – so effizient, dass der Berl<strong>in</strong>er<br />

Fraktionsapparat e<strong>in</strong> paar Wochen<br />

stotterte, als sie jetzt plötzlich nach Kiel<br />

entschwand.<br />

SOZIALDEMOKRATIN ist sie nicht <strong>zu</strong>fällig<br />

geworden. Ihr Vorbild war Willy<br />

Brandt, dessen Bildungsreform <strong>in</strong> den<br />

siebziger Jahren auch Arbeiterk<strong>in</strong>dern<br />

den Weg <strong>zu</strong>m Abitur öffnete. Ihr Vater<br />

war Zimmermann <strong>in</strong> Hamburg-Ottensen,<br />

die Mutter Schneider<strong>in</strong> und viele Jahre<br />

Verkäufer<strong>in</strong>. Britta konnte aufs Gymnasium<br />

gehen. Früh schon mischte sie sich<br />

e<strong>in</strong>: <strong>zu</strong>erst als Schulsprecher<strong>in</strong>, später bei<br />

den Jungsozialisten. In der Schule g<strong>in</strong>g<br />

es um konkrete Verbesserungen. Bei den<br />

Jusos <strong>in</strong> Hamburg um Frauenpower. Dort<br />

wurde sie aus Protest <strong>zu</strong>r Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>.<br />

Nirgendwo wurde damals <strong>in</strong><br />

Deutschland das Dogma vom „Staatsmonopolistischen<br />

Kapitalismus (Stamokap)“<br />

so <strong>in</strong>brünstig geglaubt und gepredigt wie<br />

bei den Jusos <strong>in</strong> Hamburg und bei der<br />

SED <strong>in</strong> der DDR. Auch Britta Ernst war<br />

e<strong>in</strong>e „Stami“-Frau, aber sie ärgerte sich,<br />

dass immer nur der große Widerspruch<br />

zwischen Kapital und Arbeit diskutiert<br />

wurde, nicht aber die Unterdrückung und<br />

Benachteiligung der Frau. Zusammen mit<br />

anderen wollte sie das ändern: „Wir waren,<br />

als wir loslegten, gar nicht besonders<br />

für die Quote. Aber die Argumente<br />

der Männer haben uns radikalisiert. Wir<br />

wurden immer sicherer, dass es anders<br />

e<strong>in</strong>fach nicht geht.“<br />

Bei den Jusos lernt sie Olaf Scholz<br />

kennen. 1998 heiraten sie. Da ist sie<br />

schon seit e<strong>in</strong>em Jahr Mitglied der Hamburger<br />

Bürgerschaft, er wird 2000 Landesvorsitzender<br />

der SPD. Dann aber<br />

die Katastrophe: Im Januar 2001 verliert<br />

die SPD, die seit 1949 fast ununterbrochen<br />

regiert, die Mehrheit. Ole von<br />

Beust von der CDU bildet mit FDP und<br />

der rechtspopulistischen Schill-Partei<br />

den neuen Senat.<br />

Olaf verschw<strong>in</strong>det <strong>in</strong> die Bundespolitik.<br />

Britta rackert sich ab <strong>in</strong> der<br />

Opposition, wird bildungspolitische<br />

Sprecher<strong>in</strong>, stellvertretende Fraktionsvorsitzende<br />

und schließlich hauptamtliche<br />

Geschäftsführer<strong>in</strong> der SPD-Fraktion.<br />

In zwei Schattenkab<strong>in</strong>etten kämpft sie<br />

2004 und 2008 um das Amt der Schulsenator<strong>in</strong><br />

– vergeblich, weil die SPD jedes<br />

Mal die Wahl verliert. Als es dann aber<br />

beim dritten Anlauf schließlich klappt,<br />

geht sie leer aus. Weil der Mann, den sie<br />

liebt, Olaf Scholz heißt.<br />

Der familiäre Karriere-Schatten hat<br />

sie übrigens bis nach Kiel verfolgt. Ihre<br />

Vorgänger<strong>in</strong> war M<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> für Schule<br />

und Wissenschaft. Sie ist – auf eigenen<br />

Wunsch – nur noch <strong>zu</strong>ständig für Schule<br />

und Berufsbildung. Als Wissenschaftsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />

hätte sie das Unikl<strong>in</strong>ikum <strong>in</strong> Kiel<br />

kontrollieren müssen. Dessen Chef aber<br />

ist ihr Schwager – Jens Scholz.<br />

HARTMUT PALMER porträtiert für <strong>Cicero</strong><br />

das politische Personal der Republik – darunter<br />

2010 auch Olaf Scholz, der damals <strong>in</strong><br />

Hamburg als Bürgermeister kandidierte<br />

Foto: Anna Mutter für <strong>Cicero</strong><br />

38<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

MACHT GEGEN GEDULD<br />

Der Berl<strong>in</strong>er Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck zeigt M<strong>in</strong>ister an, verklagt Manager,<br />

ermittelt gegen Generäle. Wer Menschenrechte verletzt, soll nicht davonkommen<br />

Von CHRISTOPH SEILS<br />

Foto: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong><br />

Überschätzt er sich nicht? Zeigt<br />

sich <strong>in</strong> ihm nicht die Hybris e<strong>in</strong>es<br />

Moralisten? Wenn er, e<strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong>er Anwalt, wegen des Folterskandals<br />

von Abu Ghraib den US-Verteidigungsm<strong>in</strong>ister<br />

Donald Rumsfeld anzeigt?<br />

Wenn er nach dem Tod e<strong>in</strong>es Gewerkschafters<br />

<strong>in</strong> Kolumbien Schweizer Manager<br />

des Nestlé-Konzerns verklagt? Oder<br />

wenn er, se<strong>in</strong> jüngstes Projekt, britische<br />

Generäle vor den Internationalen Strafgerichtshof<br />

br<strong>in</strong>gen will? „Das sollen andere<br />

beurteilen“, sagt Wolfgang Kaleck<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er <strong>zu</strong>rückgenommenen Art. Er<br />

reizt gerne Mächtige, aber er selbst lässt<br />

sich nicht so leicht provozieren.<br />

Kaleck, 54, Rechtsanwalt mit Mecki-<br />

Haarschnitt, Doppelk<strong>in</strong>n und Dreitagebart,<br />

blickt aus se<strong>in</strong>em Büro <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em engen<br />

Kreuzberger Gewerbehof über die<br />

Dächer von Berl<strong>in</strong>. An diesem Tag hat<br />

er schon Delegationen empfangen, aus<br />

Kolumbien und aus Paläst<strong>in</strong>a. Alle hoffen<br />

auf die Unterstüt<strong>zu</strong>ng jener Organisation,<br />

deren Generalsekretär Kaleck ist.<br />

Das European Center for Constitutional<br />

and Human Rights kürzt sich ECCHR ab<br />

und wirkt wie e<strong>in</strong>e der vielen l<strong>in</strong>ken Organisationen<br />

mit <strong>zu</strong> wenig Vokalen im<br />

Namen. Aber diese Organisation wird<br />

weltweit beachtet, dank Kaleck.<br />

Es ist e<strong>in</strong> zähes Geschäft jenseits des<br />

Sche<strong>in</strong>werferlichts. Es war ungewöhnlich,<br />

als er <strong>zu</strong>letzt als deutscher Rechtsbeistand<br />

von Edward Snowden Aufmerksamkeit<br />

auf sich zog. Journalisten fragten<br />

an. Snowden, Snowden, Snowden. „<strong>Wie</strong><br />

lebt er <strong>in</strong> Moskau?“ „Hat er Chancen auf<br />

deutsches Asyl?“ „Kehrt er <strong>in</strong> die USA<br />

<strong>zu</strong>rück?“ – „Ich möchte nicht darauf reduziert<br />

<strong>werden</strong>“, sagt Kaleck.<br />

Se<strong>in</strong>e Spezialität ist das Völkerstrafrecht.<br />

Seit dem Zweiten Weltkrieg<br />

wollen Juristen Folterer und Kriegsverbrecher<br />

wegen Verbrechen gegen die<br />

Menschlichkeit vor Gericht br<strong>in</strong>gen.<br />

Doch der Widerstand ist beträchtlich.<br />

Ob Prozesse stattf<strong>in</strong>den, ist häufig ke<strong>in</strong>e<br />

Frage der Beweise, sondern der Macht.<br />

Kaleck sagt: „Das ECCHR arbeitet nicht<br />

für den kurzfristigen Applaus.“<br />

Die Verbrechen zehren an ihm. In<br />

aller Welt sucht er Betroffene auf, fliegt<br />

nach Indien, nach Bahre<strong>in</strong> oder Guatemala.<br />

Nur, wie hält er das aus? Die<br />

Wucht der Folterbilder, die Schilderung<br />

von Massenvergewaltigungen, die Ausflüchte<br />

der Täter? Manchmal gehe es e<strong>in</strong>em<br />

„durch und durch“, sagt er. Bisweilen<br />

träfen ihn die Emotionen auch beim<br />

Aktenstudium völlig unvorbereitet, „du<br />

nimmst e<strong>in</strong> Papier <strong>in</strong> die Hand, liest und<br />

denkst, das kann doch nicht se<strong>in</strong>“.<br />

ANGEFANGEN hat er vor 23 Jahren. Nach<br />

dem Fall der Mauer eröffnete der Westdeutsche<br />

mit zwei Kollegen <strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> Anwaltskollektiv. Er verteidigte<br />

Opfer rechter Gewalt genauso wie autonome<br />

Feierabendterroristen, Stasi-Opfer,<br />

Asylbewerber und Totalverweigerer.<br />

1999 übernahm er den ersten <strong>in</strong>ternationalen<br />

Fall. Er zeigte <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> argent<strong>in</strong>ische<br />

Generäle an, die <strong>in</strong> der Zeit der<br />

Diktatur für das Verschw<strong>in</strong>den von vier<br />

deutschstämmigen Juden verantwortlich<br />

gewesen se<strong>in</strong> sollen. Es folgte e<strong>in</strong>e Anzeige<br />

gegen e<strong>in</strong>en deutschen Manager<br />

von Mercedes-Benz Argent<strong>in</strong>ien, der<br />

1977 die Verhaftung argent<strong>in</strong>ischer Gewerkschafter<br />

bewirkt haben soll.<br />

2007 gründete er das ECCHR. Er<br />

wollte klotzen, nicht kleckern. Mittlerweile<br />

hat die Menschenrechtsorganisation<br />

15 Mitarbeiter, viele Freiwillige<br />

und e<strong>in</strong>en Jahresetat von rund e<strong>in</strong>er Million<br />

Euro. Das Startkapital sammelte er<br />

bei Stiftungen <strong>in</strong> den USA und <strong>in</strong> Großbritannien,<br />

nicht bei se<strong>in</strong>en „zynischen“<br />

l<strong>in</strong>ken Anwaltskollegen <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Sie dächten <strong>in</strong> den Kategorien von „Alles<br />

oder Nichts“. Deshalb gäben sie schnell<br />

auf. Dabei entwickle sich das Völkerstrafrecht<br />

„sehr dynamisch“, <strong>in</strong> vielen<br />

Ländern entstünden Rechtsräume, „<strong>in</strong><br />

die wir h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>stoßen können“. Kaleck<br />

hat Zeit, gegen Macht setzt er Geduld.<br />

E<strong>in</strong> Rechtsraum ist der Internationale<br />

Strafgerichtshof <strong>in</strong> Den Haag. Dieser<br />

steht unter Druck. Weil dort bislang<br />

nur gegen Afrikaner ermittelt wurde,<br />

wird ihm Neokolonialismus vorgeworfen.<br />

„Das ist die Schnittstelle, wo wir e<strong>in</strong>greifen“,<br />

sagt Kaleck.<br />

An e<strong>in</strong>em Abend sitzt er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em engen<br />

Hörsaal der Humboldt-Universität als<br />

Gast e<strong>in</strong>er Menschenrechtskonferenz. In<br />

hunderten Fällen hätten britische Soldaten<br />

während des Irakkriegs Gefangene<br />

misshandelt, sagt er. Mit britischen Anwälten<br />

hat das ECCHR Beweise gegen Generäle<br />

und Politiker gesammelt. Er hält<br />

e<strong>in</strong>en Aktenordner <strong>in</strong> die Luft, „das ist<br />

die Anzeige“, 251 Seiten ohne Anlagen.<br />

„<strong>Wie</strong> s<strong>in</strong>d die Erfolgsaussichten?“, fragt<br />

e<strong>in</strong>e Zuhörer<strong>in</strong>. „So denken wir nicht“,<br />

antwortet Kaleck. „Die Anzeige ist e<strong>in</strong><br />

Mittel von vielen“, die Durchset<strong>zu</strong>ng e<strong>in</strong>er<br />

universellen Jurisdiktion sei e<strong>in</strong> „offener<br />

Prozess“. Für den Anwalt ist es schon<br />

e<strong>in</strong> Erfolg, wenn die Rechtsbrecher fürchten<br />

müssen, dass irgendwo <strong>in</strong> der Welt<br />

gegen sie ermittelt werde. Kaleck hofft,<br />

dass Staatsanwälte se<strong>in</strong>e Arbeit aufgreifen,<br />

fortsetzen. <strong>Wie</strong> <strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ien, wo<br />

Generäle vor Gericht standen.<br />

Seit Mai prüft der Internationale<br />

Strafgerichtshof im Fall Irak, ob er Vorermittlungen<br />

gegen Großbritannien<br />

aufnimmt.<br />

CHRISTOPH SEILS ist Politischer<br />

Korrespondent von <strong>Cicero</strong>. Wolfgang Kaleck<br />

traf er <strong>zu</strong>m ersten Mal Anfang der neunziger<br />

Jahre im Haus der Demokratie <strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong><br />

41<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Debatte<br />

VERBLÜHT<br />

Von PAUL NOLTE<br />

Seit der Bundestagswahl wirken<br />

die Grünen kraftlos. Veggie-Day-<br />

Desaster? Personalprobleme? Ne<strong>in</strong>, die<br />

Krise reicht tief. Die Partei hat sich<br />

<strong>zu</strong> Tode gesiegt. Und das politische<br />

Koord<strong>in</strong>atensystem hat sich so<br />

verändert, dass sie künftig allenfalls<br />

e<strong>in</strong>e Randpartei se<strong>in</strong> <strong>werden</strong><br />

Illustrationen SUSANN STEFANIZEN<br />

43<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Mehr als drei Jahrzehnte gehören<br />

die Grünen <strong>zu</strong>r politischen<br />

Grundausstattung der Bundesrepublik,<br />

aber <strong>in</strong> den vergangenen drei<br />

Jahren haben sich ihre Aussichten so e<strong>in</strong>schneidend<br />

verändert wie selten <strong>zu</strong>vor –<br />

und der Pfeil zeigt nach unten.<br />

Nach Fukushima schien die Partei<br />

<strong>zu</strong> ganz neuen Horizonten auf<strong>zu</strong>brechen.<br />

Bei der baden-württembergischen Landtagswahl<br />

erreichten die Grünen 2011<br />

mehr als 24 Prozent und ließen die SPD<br />

h<strong>in</strong>ter sich, aus deren Rippe sie, jedenfalls<br />

was die Wähler angeht, e<strong>in</strong>st entstanden<br />

waren. Endlich der Ausbruch<br />

aus dem 10-Prozent-Türmchen; e<strong>in</strong> grüner<br />

M<strong>in</strong>isterpräsident; be<strong>in</strong>ahe nichts<br />

schien mehr unmöglich; sogar über e<strong>in</strong>en<br />

grünen Kanzlerkandidaten wurde debattiert.<br />

Spätestens am Abend der Bundestagswahl<br />

im September 2013 hatten<br />

Ernüchterung und Enttäuschung Platz<br />

gegriffen. Gut 2 Prozentpunkte Verlust;<br />

Jürgen Tritt<strong>in</strong> und Claudia Roth mochten<br />

nicht mehr weitermachen. Tief verunsichert<br />

ließen die Grünen sogar die Chance<br />

e<strong>in</strong>er Regierungsbeteiligung im Bund fahren.<br />

Seither stolpern sie durch die politische<br />

Landschaft.<br />

Ne<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> Veggie-Day-Desaster vermag<br />

die neue Traurigkeit der Grünen<br />

ebenso wenig <strong>zu</strong> erklären wie Personalprobleme<br />

im generationellen Übergang.<br />

Die Krise reicht tiefer. Ralf Dahrendorf<br />

verkündete 1983 das „Ende des sozialdemokratischen<br />

Zeitalters“. Inzwischen<br />

kündigt sich das Ende des grünen Zeitalters<br />

an. Und wie <strong>in</strong> der Diagnose des liberalen<br />

Soziologen muss das nicht das Verschw<strong>in</strong>den<br />

der Partei bedeuten, wohl aber<br />

das Ende ihrer kulturellen Hegemonie.<br />

Die Grünen haben sich <strong>zu</strong> Tode gesiegt.<br />

Wesentliche Forderungen s<strong>in</strong>d erfüllt;<br />

der Ma<strong>in</strong>stream von Gesellschaft<br />

und Kultur der Bundesrepublik ist kräftig<br />

durch den grünen Farbbottich geschwenkt<br />

worden. Dagegen wehrt sich<br />

bloß noch, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kulturkämpferisch<br />

letzten Gefecht, die AfD. Aber <strong>zu</strong>gleich<br />

hat sich – und auch das me<strong>in</strong>te die Dahrendorf-These<br />

– das politische Koord<strong>in</strong>atensystem<br />

so verschoben, dass grünes<br />

Weltbild und grüne Antworten häufig<br />

am Rande liegen bleiben oder sich von<br />

den Antworten der anderen schlicht nicht<br />

mehr unterscheiden, auch weil viele von<br />

der Konkurrenz aufgenommen wurden.<br />

Die Sozialdemokratie traf es als e<strong>in</strong>e<br />

über hundert Jahre alte, gesamteuropäische<br />

Bewegung. Die Grünen dagegen<br />

s<strong>in</strong>d nicht nur parteipolitisch, sondern<br />

auch kulturell weith<strong>in</strong> e<strong>in</strong> deutscher<br />

Sonderweg geblieben. So könnte es se<strong>in</strong>,<br />

dass die deutsche Ökopartei schlicht <strong>in</strong><br />

die Normalität <strong>zu</strong>rücktritt, <strong>in</strong> den europäischen<br />

Durchschnitt e<strong>in</strong>er Rand- oder<br />

Splitterpartei.<br />

Vom Dosenpfand bis <strong>zu</strong>m Atomausstieg,<br />

von der Anerkennung gesellschaftlicher<br />

Vielfalt <strong>in</strong> Kulturen und Lebensformen<br />

bis <strong>zu</strong>m Mantra der Nachhaltigkeit:<br />

Das grüne Programm ist weit über die rotgrüne<br />

Koalition von Schröder und Fischer<br />

h<strong>in</strong>aus <strong>zu</strong>r normaldeutschen Selbstverständlichkeit<br />

geworden. Mission fulfilled.<br />

Nur schwer ließe sich argumentieren, die<br />

<strong>Deutsche</strong>n hätten die Grünen besonders<br />

nötig, weil sie ökologisch h<strong>in</strong>ten dran<br />

s<strong>in</strong>d. Im Gegenteil, auch unter CDU-geführten<br />

Regierungen steht Deutschland<br />

<strong>in</strong> Naturschutz, Klimapolitik, Energiewende<br />

an der Spitze. Die Mahnungen,<br />

wir täten aber bei weitem noch nicht genug,<br />

wirken etwas lahm, wenn bei unsern<br />

Nachbarn munter Atomstrom produziert<br />

wird – oder ist das vielleicht doch besonders<br />

klimafreundlich? – und die „Energiewende“<br />

der USA <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Frack<strong>in</strong>g-Revolution<br />

besteht, die e<strong>in</strong> zweites fossiles<br />

Zeitalter im 21. Jahrhundert eröffnet.<br />

SICHER, DIE DEUTSCHEN könnten ihre<br />

globale Öko-Führerschaft noch ausbauen,<br />

der Welt mal vormachen, wo es langgeht.<br />

Na ja. Dieser Weg lässt sich, was die Grünen<br />

betrifft, aber ohneh<strong>in</strong> nur mit e<strong>in</strong>er<br />

kle<strong>in</strong>en Kernklientel gehen. Die Mehrheit<br />

will lieber widersprüchlich leben, gerade<br />

<strong>in</strong> den akademischen Mittelschichten.<br />

Das nächste Auto ist e<strong>in</strong> Hybrid, aber<br />

mal schnell für drei Tage <strong>zu</strong> dieser Konferenz<br />

<strong>in</strong> Chicago fliegen – das kann ich mir<br />

doch nicht entgehen lassen! Ebenso wenig<br />

wie die Currywurst am Donnerstag.<br />

Mit der Kernklientel freilich ist es<br />

so e<strong>in</strong>e Sache. Denn im eigenen Basismilieu,<br />

gerade bei den Jüngeren, haben<br />

die Grünen <strong>in</strong> den vergangenen 15 Jahren<br />

schwere Verluste an die L<strong>in</strong>ke h<strong>in</strong>nehmen<br />

müssen. Radikalpazifismus und<br />

Antikapitalismus, e<strong>in</strong> Anti-Establishment-<br />

Affekt, wenn nicht sogar jenes mythische<br />

Anti-System-Denken, das von der Überw<strong>in</strong>dung<br />

e<strong>in</strong>er repressiven Staats- und<br />

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45<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014<br />

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BERLINER REPUBLIK<br />

Debatte<br />

Die Grünen charakterisiert<br />

e<strong>in</strong> Dreieck aus<br />

pragmatischer<br />

Führung, bewegter<br />

Basis und bürgerlicher<br />

Wählerschaft.<br />

Nirgendwo s<strong>in</strong>d<br />

die Diskrepanzen<br />

zwischen diesen<br />

drei Ebenen größer<br />

Wirtschaftsordnung träumt: Bei den Grünen<br />

f<strong>in</strong>det das, personifiziert <strong>in</strong> der Läuterung<br />

Joschka Fischers vom Sponti <strong>zu</strong>m<br />

Staatsmann, vom Turnschuh <strong>zu</strong>m Dreiteiler,<br />

schon längst ke<strong>in</strong>e Heimat mehr.<br />

Was immer langfristig aus der L<strong>in</strong>kspartei<br />

wird – das kann nicht mehr <strong>zu</strong>rückgeholt<br />

<strong>werden</strong>, <strong>zu</strong>mal im großstädtischen Alternativ-<br />

und Protestmilieu. Denn die Ströbeles,<br />

die das widerspruchsvoll <strong>in</strong>tegrieren,<br />

wachsen nicht nach.<br />

Zugleich ist die ökologische Agenda<br />

der Grünen <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund getreten.<br />

Nicht S<strong>in</strong>gle-issue-Partei <strong>zu</strong> bleiben:<br />

Das war lange Zeit e<strong>in</strong>e Vorausset<strong>zu</strong>ng<br />

ihres Erfolgs. Also s<strong>in</strong>d sie <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Menschenrechtspartei geworden, <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Verbraucherpartei – e<strong>in</strong> ganz wesentlicher,<br />

oft unterschätzter Aspekt ihres<br />

Erfolgs <strong>in</strong> den Mittelschichten! – und<br />

<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Partei des Nachhaltigkeits-Ma<strong>in</strong>stream<strong>in</strong>gs,<br />

nicht <strong>zu</strong>letzt <strong>in</strong> antikeynesianischer<br />

Steuer- und F<strong>in</strong>anzpolitik. Ist das<br />

noch l<strong>in</strong>ks? „Nicht l<strong>in</strong>ks, nicht rechts, sondern<br />

vorn“ wollten die Grünen schon <strong>in</strong><br />

ihrer bewegten Gründungszeit se<strong>in</strong>, aber<br />

die Verortung <strong>in</strong> der Mitte trifft es, wenn<br />

überhaupt, <strong>in</strong>zwischen besser, auch wenn<br />

sich die Identität der Partei dagegen tief<br />

und reflexhaft sträubt.<br />

In der Mitte saßen die Grünen im<br />

Bundestag schon seit 1983. Seit dem vorläufigen<br />

Verschw<strong>in</strong>den der FDP stellt sich<br />

die Frage neu, ob die Grünen die neue<br />

liberale Partei se<strong>in</strong> könnten. E<strong>in</strong> grüner<br />

„Freiheitskongress“ im September sollte<br />

diesen Platz vermessen. Aber wie passt<br />

das <strong>zu</strong> der wieder gesteigerten emotionalen<br />

Abscheu, mit der e<strong>in</strong> Großteil der<br />

Parteiführung auf den Gedanken an e<strong>in</strong>e<br />

Bundeskoalition mit der liberalisierten<br />

Merkel-Union reagiert?<br />

Denn irgendwo müssen die Optionen<br />

ja liegen. Die Bilanz der Grünen aus drei<br />

Jahrzehnten mag noch darüber h<strong>in</strong>wegtäuschen,<br />

dass <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>e Sackgasse<br />

droht. Die Beteiligung an Landesregierungen<br />

ist Rout<strong>in</strong>e geworden; hier droht<br />

das Verhältnis <strong>zu</strong>r SPD eher all<strong>zu</strong> symbiotisch<br />

<strong>zu</strong> <strong>werden</strong>: Welcher Abstand liegt<br />

zwischen Dachlatten-Börner und Turnschuh-Fischer<br />

<strong>in</strong> Hessen 1985 – und dem<br />

nordrhe<strong>in</strong>-westfälischen Kuscheln von<br />

Kraft und Löhrmann heute!<br />

Was ist für die Grünen besser? Das<br />

gegenwärtige Torkeln kommt jedenfalls<br />

auch aus der noch nicht verarbeiteten<br />

E<strong>in</strong>sicht, dass e<strong>in</strong>e zweite rot-grüne Koalition<br />

im Bund sich nicht naturgesetzlich<br />

wieder e<strong>in</strong>stellen wird, weil die<br />

Menschen die neoliberale Merkel-Politik<br />

irgendwann satthätten und das Lager<br />

des Fortschritts, irgendwie im S<strong>in</strong>ne<br />

des Hegel’schen Weltgeists, doch wieder<br />

obsiegen muss. Die Grünen sollten gewarnt<br />

se<strong>in</strong>: Auch die sozialliberale Koalition<br />

gab es nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal. Und<br />

der Traum von e<strong>in</strong>er rot-rot-grünen Regierung<br />

ist <strong>in</strong> den letzten Monaten für alle<br />

Klarsichtigen bei SPD und Grünen zerplatzt,<br />

jedenfalls solange die L<strong>in</strong>ke außenpolitisch<br />

handlungsunfähig ist und<br />

sich mehrheitlich der simplen E<strong>in</strong>sicht<br />

verweigert, dass die DDR e<strong>in</strong>e Diktatur<br />

war. Nicht nur die Anhänger der Grünen<br />

haben <strong>in</strong>zwischen verdrängt, dass<br />

es vor e<strong>in</strong>em Jahr e<strong>in</strong>e Alternative <strong>zu</strong>r<br />

ungeliebten Elefantenkoalition mit M<strong>in</strong>imalopposition<br />

gegeben hätte. Mit wachsendem<br />

Abstand wird noch deutlicher<br />

<strong>werden</strong>, welche historische Chance die<br />

Grünen damals fahrlässig verspielt haben.<br />

DIE GRÜNEN s<strong>in</strong>d aus den Bewegungen<br />

gewachsen und im Bürgertum längst angekommen.<br />

Den Spagat zwischen diesen<br />

beiden Polen haben sie lange und e<strong>in</strong>drucksvoll<br />

gehalten: Chapeau, wie sie<br />

seit den achtziger Jahren <strong>zu</strong> der Partei<br />

der neuen, moralisch-sozialen Mittelklasse<br />

<strong>in</strong> der Bundesrepublik geworden<br />

s<strong>in</strong>d. Auch das spricht dafür, dass<br />

die e<strong>in</strong>stige Milieupartei <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Volkspartei<br />

geworden ist.<br />

Aber die sozialen Distanzen lassen<br />

sich nicht beliebig überbrücken. Berl<strong>in</strong>-Zehlendorf<br />

und Friedrichsha<strong>in</strong>, Bremen-Oberneuland<br />

und -Viertel, die SUV-<br />

Mama mit Ökogewissen und die l<strong>in</strong>ke<br />

Student<strong>in</strong> mit autonomen Sympathien:<br />

Das übersteigt noch die Spannweite der<br />

beiden wesentlich größeren Volksparteien.<br />

Es kann auf Dauer nicht gut gehen.<br />

Ähnliches gilt für die vertikale Ebene<br />

der Grünen. Dass sich die Ges<strong>in</strong>nung der<br />

Mitglieder, des aktiven Kerns von derjenigen<br />

der Wähler unterscheidet und <strong>in</strong> der<br />

Regel dezidierter und „strammer“ ist, f<strong>in</strong>det<br />

man auch bei SPD und CDU. Aber nirgendwo<br />

s<strong>in</strong>d die Diskrepanzen zwischen<br />

den Ebenen so groß wie bei den Grünen<br />

und ihrem charakteristischen Dreieck aus<br />

pragmatischer Führung, bewegter Basis<br />

und bürgerlicher Wählerschaft.<br />

46<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


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BERLINER REPUBLIK<br />

Debatte<br />

Fast überall <strong>in</strong> der westlichen Welt<br />

s<strong>in</strong>d Parteien wie die Grünen entstanden,<br />

aber fast nur <strong>in</strong> Deutschland s<strong>in</strong>d sie groß<br />

geworden. Nach mehr als drei Jahrzehnten<br />

ist klar: Das ist nicht bloß zeitliche<br />

Verzögerung, sondern bleibt e<strong>in</strong> Strukturunterschied.<br />

Ausnahmen bilden der<br />

deutsche Sprach- und Kulturraum, vor<br />

allem Österreich, sowie Frankreich und<br />

Schweden. Dabei s<strong>in</strong>d die deutschen Grünen<br />

ohne den Grenzgänger Daniel Cohn-<br />

Bendit viel leichter vorstellbar als die<br />

französischen.<br />

Was ist der geme<strong>in</strong>same Nenner<br />

Frankreichs, Schwedens und Deutschlands?<br />

Gewiss ke<strong>in</strong>e große Ähnlichkeit<br />

<strong>in</strong> der ökologischen Kultur, auch nicht im<br />

Profil der l<strong>in</strong>ken und alternativen Bewegungen.<br />

Eher ist es das Ideal e<strong>in</strong>es fürsorglichen<br />

Staates, die Präferenz für e<strong>in</strong>en<br />

sozialpolitischen Etatismus, e<strong>in</strong>e<br />

Neigung <strong>zu</strong>m rousseauistischen Demokratieideal:<br />

Es muss da doch dieses moralisch<br />

überwölbende Geme<strong>in</strong>wohl geben,<br />

das den Willen und die Vorstellungskraft<br />

des E<strong>in</strong>zelnen übersteigt! So gesehen ist<br />

es ke<strong>in</strong> Zufall, dass die Grünen nicht nur<br />

im übrigen Europa weith<strong>in</strong>, man kann<br />

es nicht anders sagen, e<strong>in</strong>e Splitterpartei<br />

geblieben s<strong>in</strong>d, sondern vor allem <strong>in</strong><br />

den neuen Demokratien Ostmitteleuropas<br />

ke<strong>in</strong>e Wurzeln geschlagen haben. Die<br />

Erben von Opposition und Bürgerrechtsbewegung<br />

haben sich dort parteipolitisch<br />

anders formiert – und sich, wie <strong>in</strong> Polen,<br />

nicht als Marg<strong>in</strong>alisierte verstanden, sondern<br />

als zentrale Akteure von liberaler<br />

Demokratie und Marktwirtschaft.<br />

UMGEKEHRT ZEIGT das Beispiel der USA,<br />

dass ökologische und andere „grüne“<br />

Ideen wie Menschenrechte und Konsumentenschutz<br />

parteipolitisch auch anders<br />

andocken können. In Amerika stehen<br />

sie unter dem weiten Schirm der<br />

Demokraten. Sie f<strong>in</strong>den sich dort gewiss<br />

am l<strong>in</strong>ken Flügel und häufig <strong>in</strong> Dissidenz<br />

und <strong>zu</strong>letzt immer un<strong>zu</strong>friedener<br />

mit Obama. Aber auch das funktioniert,<br />

obwohl (oder gerade weil) die USA die<br />

Alternativ- und Ökobewegungen überhaupt<br />

erst hervorgebracht haben, die<br />

global ohne die Bürgerrechtsbewegung<br />

ebenso wenig denkbar s<strong>in</strong>d wie ohne die<br />

frühe Konsumentenorientierung der amerikanischen<br />

Gesellschaft. (Ja, die Chlorhühnchen<br />

s<strong>in</strong>d nicht alles!) Also war die<br />

Abspaltung der Anhängerschaft von der<br />

SPD doch nicht so schicksalhaft, wie die<br />

Sozialdemokraten seit langem selber <strong>zu</strong><br />

glauben sche<strong>in</strong>en?<br />

Die Grünen markieren e<strong>in</strong>en deutschen<br />

Sonderweg – nicht nur des Parteiensystems<br />

im engeren S<strong>in</strong>ne, sondern e<strong>in</strong>er<br />

tiefen Prägung politischer Kultur im<br />

letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Was<br />

macht diesen Weg aus? Jenseits aller Themen<br />

und Flügelkämpfe stehen die Grünen<br />

für e<strong>in</strong> ges<strong>in</strong>nungsethisches Politikpr<strong>in</strong>zip,<br />

das <strong>zu</strong>gleich Ausdruck e<strong>in</strong>es säkularisierten<br />

Protestantismus ist: Sie s<strong>in</strong>d<br />

groß geworden als Vertreter moralischer<br />

Politik, e<strong>in</strong>er Politik des schlechten Gewissens.<br />

<strong>Wie</strong> wohl nirgendwo sonst haben<br />

sie – und das ist e<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende<br />

Leistung – das fundamentale, kulturelle<br />

Koord<strong>in</strong>atensystem von Politik verschoben:<br />

von e<strong>in</strong>er Politik der Interessen <strong>zu</strong><br />

e<strong>in</strong>er Politik der Anwaltschaft für Dritte,<br />

für die bedrohte Natur, für die noch nicht<br />

geborenen Generationen. In Großbritannien,<br />

<strong>in</strong> Italien, auch <strong>in</strong> Frankreich ist das<br />

unvorstellbar, weil Politik dort viel stärker<br />

<strong>in</strong>teressengetrieben bleibt, <strong>in</strong> sozialen<br />

Lagen und Klassenkonflikten wurzelt.<br />

Unter den größeren, bevölkerungsreichen<br />

Ländern verfügen nur die USA über e<strong>in</strong>e<br />

„moralische Mittelklasse“ von ähnlicher<br />

Durchschlagskraft wie Deutschland. Und<br />

nur <strong>in</strong> Deutschland hat sie ihre Heimat <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Partei, den Grünen, gefunden.<br />

Dieser deutsche Sonderweg wurzelt<br />

<strong>in</strong> den Erfahrungen der siebziger Jahre.<br />

Die Ölkrise, die vom Club of Rome verkündeten<br />

„Grenzen des Wachstums“, die<br />

sonntäglichen Fahrverbote: Nirgendwo<br />

hat das so tiefe Spuren h<strong>in</strong>terlassen wie <strong>in</strong><br />

der politischen Kultur der Bundesrepublik.<br />

Vom „Ende der Zuversicht“ sprechen<br />

die Historiker <strong>in</strong>zwischen beim Blick auf<br />

diese Zäsur. Fortschrittsbewusstse<strong>in</strong> und<br />

Machbarkeitsideen erhielten damals <strong>in</strong><br />

der ganzen westlichen Welt e<strong>in</strong>en Dämpfer,<br />

doch <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em regelrechten Kulturbruch<br />

kam es nur <strong>in</strong> Westdeutschland.<br />

Dieser Bruch nährte die Grünen.<br />

Aber woher kam diese besondere<br />

Kehrtwende, <strong>in</strong> der sich Fortschrittsskepsis<br />

mit e<strong>in</strong>em neuen Ethos der Behutsamkeit<br />

und treuhänderischen Verantwortung<br />

– „wir haben die Erde von<br />

unseren K<strong>in</strong>dern nur geborgt“ – verband?<br />

Verstehbar ist das – und s<strong>in</strong>d deshalb<br />

auch die Grünen <strong>in</strong> Deutschland – nur<br />

DIE GRÜNEN<br />

1980<br />

GRÜNDUNG<br />

Im Januar gründen sich auf e<strong>in</strong>em<br />

Bundesparteitag <strong>in</strong> Karlsruhe die<br />

Grünen. Schon im März sitzen sie <strong>in</strong><br />

Baden-Württemberg im Landtag.<br />

1983<br />

BUNDESTAG<br />

5,6 Prozent der Stimmen: 28 Abgeordnete<br />

ziehen <strong>in</strong>s Bonner Parlament<br />

e<strong>in</strong>, darunter s<strong>in</strong>d Petra Kelly,<br />

Otto Schily und Joschka Fischer.<br />

1985<br />

TURNSCHUHE<br />

In Hessen wird die erste rot-grüne<br />

Landesregierung gebildet. Joschka<br />

Fischer wird als Umweltm<strong>in</strong>ister<br />

vereidigt – <strong>in</strong> Turnschuhen.<br />

1990<br />

BÜNDNIS 90<br />

E<strong>in</strong> Zusammenschluss von Bürgerrechtlern<br />

tritt <strong>zu</strong>r ersten freien<br />

Volkskammerwahl an. 1993 fusionieren<br />

Bündnis 90 und Grüne.<br />

1998<br />

ROT-GRÜN<br />

SPD und Grüne erreichen e<strong>in</strong>e<br />

Mehrheit im Bundestag und lösen<br />

so Helmut Kohl nach 16 Jahren<br />

ab. Joschka Fischer wird Außenm<strong>in</strong>ister<br />

und Vizekanzler.<br />

2011<br />

KRETSCHMANN<br />

In Baden-Württemberg verdrängt<br />

Grün-Rot die CDU. W<strong>in</strong>fried<br />

Kretschmann wird erster<br />

M<strong>in</strong>isterpräsident se<strong>in</strong>er Partei.<br />

2013<br />

WAHLSCHLAPPE<br />

8,4 Prozent bei der Bundestagswahl:<br />

gemessen an den Erfolgen<br />

<strong>in</strong> den Ländern und den Umfragen<br />

e<strong>in</strong> herber Rückschlag.<br />

48<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Foto: Picture Alliance/DPA; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

als e<strong>in</strong>e Langzeitreaktion auf den Nationalsozialismus.<br />

Der Nationalsozialismus<br />

war radikalisierte Sachlichkeit bis <strong>in</strong> den<br />

Judenmord h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, er war radikale Ausblendung<br />

von Moral <strong>zu</strong>gunsten von „Sekundärtugenden“,<br />

er war die Übersteigerung<br />

e<strong>in</strong>er Idee von Moderne, die – dar<strong>in</strong><br />

dem Stal<strong>in</strong>ismus ähnlich – alles realisieren<br />

<strong>zu</strong> können glaubte, ohne Rücksicht<br />

auf Verluste. Die Grünen formulierten<br />

für zwei Generationen, von den Achtundsechzigern<br />

bis <strong>zu</strong> den Friedens- und<br />

Umweltbewegten der achtziger Jahre, e<strong>in</strong>en<br />

Gegenentwurf <strong>zu</strong> alldem. Nicht <strong>zu</strong>fällig<br />

decken sich Aufstieg und Erfolg<br />

der Grünen fast exakt mit jener Zeit, <strong>in</strong><br />

der die <strong>Deutsche</strong>n e<strong>in</strong> neues Verhältnis<br />

<strong>zu</strong>r Geschichte des Nationalsozialismus<br />

und des Holocaust fanden. 1979 traten<br />

die Grünen bei den ersten Direktwahlen<br />

<strong>zu</strong>m Europäischen Parlament erstmals <strong>in</strong><br />

Ersche<strong>in</strong>ung; 1979 ergriff und verstörte<br />

die amerikanische TV-Serie „Holocaust“.<br />

2005 wurde das Denkmal für die ermordeten<br />

Juden Europas eröffnet; gleichzeitig<br />

g<strong>in</strong>g die rot-grüne Koalition <strong>zu</strong> Ende.<br />

Vieles ist nicht <strong>zu</strong> Ende, aber <strong>in</strong> Normalität<br />

überführt. Das macht es den Grünen<br />

bereits schwer, Führungspersonal mit<br />

ausstrahlungsstarker Biografie <strong>zu</strong> f<strong>in</strong>den.<br />

Sie waren im Westen, mit Kelly, Fischer,<br />

Tritt<strong>in</strong>, Roth, <strong>in</strong> der Achtundsechziger-Bewegung<br />

verankert; im Osten, mit<br />

Bündnis 90, <strong>in</strong> der Bürgerrechtsbewegung<br />

der DDR. Danach wird es schwierig.<br />

<strong>Deutsche</strong> Sonderwahrnehmungen bestehen<br />

fort, die Empfänglichkeit für moralische<br />

Politik und für apokalyptische Ängste.<br />

Nur bei uns vermag die Er<strong>in</strong>nerung an Fukushima<br />

den Tod von 16 000 Menschen <strong>in</strong><br />

den Tsunamiwellen völlig <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund<br />

<strong>zu</strong> schieben. Aber solche Haltungen<br />

haben sich längst diffus verallgeme<strong>in</strong>ert<br />

und von den Grünen abgelöst. Noch bestehen<br />

manche ihrer Bastionen fort, etwa<br />

der Rückhalt <strong>in</strong> den akademisch-urbanen<br />

Mittelschichten, besonders im Universitätsmilieu.<br />

Aber auch hier bröckelt es. Die<br />

Grünen haben, auf paradoxe Weise, die<br />

kulturelle Hegemonie <strong>in</strong> Deutschland <strong>zu</strong>gleich<br />

gewonnen und wieder verloren. Wir<br />

schreiben das Ende des grünen Zeitalters.<br />

FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… ob es e<strong>in</strong> P<strong>in</strong>k- und e<strong>in</strong> Pistolen-Gen gibt<br />

Simone de Beauvoir behauptete: „Als Frau wird man nicht geboren,<br />

man wird da<strong>zu</strong> gemacht.“ Auch ich war lange davon<br />

überzeugt. Genau so lange, bis ich K<strong>in</strong>der bekam – e<strong>in</strong>en Jungen<br />

und e<strong>in</strong> Mädchen. Genderbewusst achteten me<strong>in</strong> Mann und ich<br />

auf größtmögliche Gleichbehandlung – und scheiterten: Mit anderthalb<br />

forderte unsere Tochter e<strong>in</strong>e „p<strong>in</strong>ke Drumpfhose“, während<br />

unser vierjähriger Sohn jeden Stock als Waffe e<strong>in</strong>setzte und se<strong>in</strong>e<br />

Kuscheltiere auf den Gartengrill legte.<br />

Auf die Gefahr h<strong>in</strong>, mir den Hass me<strong>in</strong>er fem<strong>in</strong>istischen Schwestern<br />

<strong>zu</strong><strong>zu</strong>ziehen: Inzwischen b<strong>in</strong> ich überzeugt, dass unsere Geschlechteridentität<br />

<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em höheren Anteil angeboren als anerzogen<br />

ist. Männliche und weibliche Gehirne s<strong>in</strong>d unterschiedlich geschaltet<br />

und unterschiedlichen hormonellen E<strong>in</strong>flüssen unterworfen. Ke<strong>in</strong><br />

Wunder, wenn dadurch auch unterschiedliche kognitive Fähigkeiten<br />

und Vorlieben entstehen. Natürlich gibt es soziale und kulturelle E<strong>in</strong>flüsse,<br />

doch die verstärken oft nur, was ohneh<strong>in</strong> angelegt ist.<br />

E<strong>in</strong>e Langzeituntersuchung mit 34 000 Männern und Frauen,<br />

die im Kibbuz geboren wurden und dort ihr Leben verbrachten, belegt<br />

dies: Zur Kibbuz-Ideologie gehörten geschlechtsneutrale Familien-<br />

und Arbeitsrollen. Männer und Frauen sollten alle anfallenden<br />

Aufgaben ohne Unterschiede erfüllen. E<strong>in</strong>e Weile klappte das,<br />

aber nach nicht mal drei Generationen war der Anspruch des Kollektivs<br />

gescheitert: 80 Prozent der Frauen arbeiteten wieder <strong>in</strong> Haushalt,<br />

Schule und K<strong>in</strong>derbetreuung, die Männer dagegen auf dem Feld,<br />

beim Bau und <strong>in</strong> der Industrie. Und warum? Weil alle es so wollten.<br />

Und hier, Simone, nimm das: Nach e<strong>in</strong>er US-Studie haben Paare,<br />

die ihre häuslichen Pflichten gerecht aufteilen, mehr Sex. Den meisten<br />

Sex haben aber die Paare, bei denen die Aufteilung weitgehend<br />

nach der traditionellen Rollenverteilung erfolgt, die Frauen also e<strong>in</strong>kaufen,<br />

kochen und dekorieren, die Männer den Müll runterbr<strong>in</strong>gen,<br />

das Auto reparieren und die Hecke schneiden. Was sagst du jetzt?<br />

Ich sage: Männer und Frauen s<strong>in</strong>d verschieden, und das ist auch<br />

gut so. Mit den Unterschieden <strong>werden</strong> aber immer noch Ungerechtigkeiten<br />

begründet. Und da halte ich es mit Simone de Beauvoir: „Der<br />

Frau bleibt ke<strong>in</strong> anderer Ausweg, als an ihrer Befreiung <strong>zu</strong> arbeiten.“<br />

PAUL NOLTE ist Professor für<br />

Neuere Geschichte und<br />

Zeitgeschichte an der Freien<br />

Universität Berl<strong>in</strong><br />

AMELIE FRIED ist Fernsehmoderator<strong>in</strong> und Bestsellerautor<strong>in</strong>.<br />

Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />

sonst an Fragen aufwirft<br />

49<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Kommentar<br />

TATORT<br />

DEUTSCHE<br />

BANK<br />

Die Ereignisse um das<br />

größte Kredit<strong>in</strong>stitut des<br />

Landes gleichen längst e<strong>in</strong>er<br />

Krimiserie um Geld und<br />

Gier. Die neueste Folge:<br />

Ackermanns Geständnis<br />

Von<br />

FRANK A. MEYER<br />

Es ist die ewig gleiche Geschichte. Man kennt sie<br />

längst. Trotz aller neuen Wendungen. Die Frage<br />

nach dem S<strong>in</strong>n, darüber überhaupt noch e<strong>in</strong> Wort<br />

<strong>zu</strong> verlieren, liegt auf der Hand.<br />

Und doch, und doch, auf seltsame Weise e<strong>in</strong>t dieser<br />

Fortset<strong>zu</strong>ngsroman die Nation. Die unendliche Geschichte<br />

betrifft das ganze Land – sie trifft das Land.<br />

Wenn es e<strong>in</strong> reales Pendant <strong>zu</strong>m „Tatort“ gäbe, es<br />

wäre: die <strong>Deutsche</strong> Bank.<br />

Im Gegensatz <strong>zu</strong>m „Tatort“ im Fernsehen kommt<br />

der Plot dieses Krimis ohne Mord aus. Er handelt –<br />

gottlob! – lediglich von Gier und Geld, von Tricks und<br />

Täuschung, von Mauschelei und Manipulation, von Lug<br />

und Trug. Dies alles allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> kolossaler Dimension.<br />

E<strong>in</strong> Thriller von Weltformat.<br />

Mehr als 6000 – sechstausend! – Anklagen, Strafverfahren,<br />

Rechtsstreitigkeiten und staatsanwaltliche<br />

Ermittlungen liefern das Skript. Die Bank zahlte für<br />

das Debakel bereits Milliarden. Für drohende Zahlungen<br />

hat sie vorsorglich mehr als fünf Milliarden Euro<br />

e<strong>in</strong>kalkuliert.<br />

<strong>Wie</strong> konnte das geschehen?<br />

Man muss die Helden fragen, die Stars, die<br />

Hauptdarsteller, die den Zuschauer verlässlich Folge<br />

für Folge durch die Tatortstaffeln führen: Josef (Joe)<br />

Ackermann, Boss der <strong>Deutsche</strong>n Bank bis 2012, sowie<br />

se<strong>in</strong>e Mittäter Jürgen Fitschen und Anshu Ja<strong>in</strong>, heute<br />

Ackermanns Nachfolger als oberste Chefs des Instituts.<br />

Mittäter? Welch böses Wort! Gelten die Prozesse<br />

doch nahe<strong>zu</strong> ausschließlich unteren Chargen: Das<br />

Strafgesetzbuch geht von konkreten Rechtsbrüchen<br />

aus. Justiziable Taten aber s<strong>in</strong>d den höchsten Herren<br />

der Bank offenbar kaum an<strong>zu</strong>lasten.<br />

Zwischen oben, wo die Macht hockt, und unten,<br />

wo die Mitarbeiter sich die F<strong>in</strong>ger schmutzig machen,<br />

liegen bei der <strong>Deutsche</strong>n wie bei allen Großbanken<br />

viele schützende Stockwerke.<br />

Was können denn auch Papst und Bischöfe für ihre<br />

fehlbaren Priester?<br />

Jetzt aber hat der frühere Oberboss der <strong>Deutsche</strong>n<br />

Bank für e<strong>in</strong>en Augenblick den geheimen Tresor geöffnet<br />

und mit e<strong>in</strong>em Interview im Handelsblatt <strong>zu</strong>r<br />

Erhellung der breiten Öffentlichkeit beigetragen. Joe<br />

Ackermann, der Schweizer Oberst aus Mels im Sarganserland,<br />

erklärt <strong>in</strong> kurzen Sätzen se<strong>in</strong>e Sicht der<br />

düsteren D<strong>in</strong>ge:<br />

„Niemand hat die F<strong>in</strong>anzkrise wohl <strong>in</strong> ihrer ganzen<br />

Wucht vorhergesehen. Aber dass wir <strong>in</strong> bestimmten<br />

Feldern auf dem falschen Weg waren, haben wir<br />

damals durchaus diskutiert, nicht nur im Vorstand der<br />

<strong>Deutsche</strong>n Bank. Wir wussten, dass die Risikoprämien<br />

<strong>zu</strong> niedrig und die Liquiditätspolster viel <strong>zu</strong> üppig waren.<br />

Wir waren uns sogar ziemlich e<strong>in</strong>ig darüber, dass<br />

die Vergütung jeden Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Realität verloren hatte.<br />

Aber e<strong>in</strong> Problem <strong>zu</strong> erkennen ist etwas anderes, als<br />

<strong>zu</strong> versuchen, es als E<strong>in</strong>zelner <strong>zu</strong> ändern. Da können<br />

Sie schnell untergehen.“<br />

Fürwahr, das Geständnis hat Substanz: Alles kommen<br />

sehen, alles gewusst haben, trotzdem ohne jeden<br />

Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Realität die eigene Tasche füllen und<br />

e<strong>in</strong>fach weitermachen – um bloß nicht unter<strong>zu</strong>gehen!<br />

Kur<strong>zu</strong>m: das private, persönliche Wohl <strong>in</strong> Form von<br />

Macht und Moneten höher gewichten als das Wohl von<br />

Bank und Bürgern.<br />

Ins <strong>Deutsche</strong> übersetzt heißt das: verantwortungslos<br />

handeln.<br />

Doch auch <strong>zu</strong>m Thema Verantwortung macht Joe<br />

Ackermann e<strong>in</strong>e Aussage:<br />

„Aber natürlich haben die Banken den größten Teil<br />

der Verantwortung <strong>zu</strong> tragen. Was die Schuld betrifft,<br />

muss man zwischen verschiedenen Kategorien unterscheiden,<br />

f<strong>in</strong>de ich: Da gibt es <strong>zu</strong>m e<strong>in</strong>en die unverzeihlichen,<br />

ja krim<strong>in</strong>ellen Machenschaften wie etwa<br />

die Manipulation des Libor-Z<strong>in</strong>ssatzes. Wenn das so<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

50<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


war, müssen die Schuldigen <strong>zu</strong>r Rechenschaft gezogen<br />

<strong>werden</strong>. Dann gibt es die D<strong>in</strong>ge, die zwar nicht ungesetzlich<br />

s<strong>in</strong>d, die sich aber für e<strong>in</strong>en ehrbaren Kaufmann<br />

nicht geziemen. Und schließlich unterscheide ich<br />

noch e<strong>in</strong>e dritte Ebene. Sie betrifft die Qualität von<br />

F<strong>in</strong>anzprodukten und F<strong>in</strong>anzdienstleistungen. Diese<br />

entsprach <strong>in</strong> den Jahren vor der Krise teilweise nicht<br />

mehr dem, wie man das heute sieht und verlangt.“<br />

In allen Fehlerkategorien, die Joe Ackermann säuberlich<br />

auflistet, ist die <strong>Deutsche</strong> Bank weltführend.<br />

Und das Schlamassel entwickelte sich <strong>zu</strong> Zeiten se<strong>in</strong>er<br />

Allmacht über Tun und Lassen <strong>in</strong> den Frankfurter<br />

Geldtürmen.<br />

Sogar die Lust an solcher Macht räumt er e<strong>in</strong>: „Ich<br />

gebe jedenfalls lieber den Ton an, als mich <strong>zu</strong> fügen.“<br />

Ja, Joe Ackermann hat den Ton angegeben, zehn<br />

Jahre lang, und zwar nicht nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bank und<br />

nicht nur <strong>in</strong> Deutschland, sondern weit darüber h<strong>in</strong>aus<br />

<strong>in</strong> der globalisierten F<strong>in</strong>anzwirtschaft, allwo sich der<br />

Adel der Macht- und Mammon- und Marktmonarchie<br />

gern als „Masters of the Universe“ umschmeicheln ließ.<br />

Den Wirtschaftsführern die Verantwortung? Den<br />

Mitarbeitern die Schuld?<br />

Lässt sich Schuld von Verantwortung trennen?<br />

Die Volksweisheit weiß: „Der Fisch st<strong>in</strong>kt vom<br />

Kopfe her.“ Ist nicht alles, was die <strong>Deutsche</strong> Bank<br />

heimsucht, heute und morgen und wohl auch noch<br />

übermorgen, Ausgeburt und Nachgeburt e<strong>in</strong>er jahrelang<br />

hochgepriesenen Führungskultur? Nichts anderes<br />

beschreibt die E<strong>in</strong>lassung des Josef Ackermann.<br />

Was aber bedeutet dann der Begriff Verantwortung?<br />

Er sollte – er muss – bedeuten: Konsequenzen<br />

für die Anführer, und zwar schmerzliche Konsequenzen,<br />

Sühne also auch ohne juristischen Schuldspruch.<br />

Was könnte dann e<strong>in</strong>e solche Sühne se<strong>in</strong>? Für Manager,<br />

die sich maßlos bereichert haben und ihre horrende<br />

Honorierung stets rechtfertigten mit ihrer Verantwortung<br />

für Wohl und Wehe des Unternehmens,<br />

der Kunden, der Arbeitsplätze, ja des ganzen Landes –<br />

für solche Manager gibt es ke<strong>in</strong>e andere Sühne als die<br />

Rückzahlung der kassierten Erfolgsboni.<br />

Ja, Ackermann, Fitschen und Ja<strong>in</strong> müssten tief <strong>in</strong><br />

die Taschen greifen, die sie sich gefüllt haben, als sie<br />

<strong>zu</strong>m Großerfolg erklärten, was sich heute als desaströser<br />

Misserfolg entpuppt.<br />

E<strong>in</strong> Schweizer Großbanker beantwortete kürzlich<br />

die Frage, was vom großen Hype se<strong>in</strong>er Branche geblieben<br />

sei, nachdem der große Crash dazwischenfuhr:<br />

„Null – wenn wir Glück haben.“<br />

Zu ergänzen wäre: Geblieben s<strong>in</strong>d Milliarden für<br />

die Verantwortlichen des Crashs.<br />

Geblieben s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Deutschland Jürgen Fitschen<br />

und Anshu Ja<strong>in</strong> als Chefs der <strong>Deutsche</strong>n Bank.<br />

FRANK A. MEYER ist Journalist und Gastgeber der<br />

politischen Sendung „Vis-à-vis“ <strong>in</strong> 3sat<br />

Studio 9<br />

Kultur und Politik<br />

am Morgen<br />

Mo bis Fr<br />

5:07 bis 9:00<br />

Das Feuilleton im Radio.<br />

bundesweit und werbefrei<br />

DAB+, Kabel, Satellit, App, deutschlandradiokultur.de


Ihr K<strong>in</strong>d: Carl, e<strong>in</strong><br />

Jahr alt. Ihre Themen:<br />

Mehr Zeit für Eltern,<br />

K<strong>in</strong>dermediz<strong>in</strong>, Inklusion<br />

52<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

DAS KIND IST<br />

DIE POLITIK<br />

Von PETRA SORGE<br />

Dagmar Schmidt zog als erste Mutter e<strong>in</strong>es<br />

Babys mit Downsyndrom <strong>in</strong> den Bundestag e<strong>in</strong>.<br />

<strong>Cicero</strong> stellte sie vor. Was wurde aus ihr?<br />

Unsere Reporter<strong>in</strong> hat sie e<strong>in</strong> Jahr lang begleitet<br />

Fotos BERND HARTUNG<br />

53<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

Als Dagmar Schmidt, frisch gewählt, im September<br />

2013 den Bundestag betritt, die Broschüren<br />

und Steuerrechtsmäppchen für Neuparlamentarier<br />

entgegennimmt, da ist völlig unklar, was aus ihr<br />

<strong>werden</strong> wird. In welchem Ausschuss sie landet – unsicher.<br />

Ihr Büro – muss erst die FDP freiräumen. Ihr<br />

Schreibtisch – e<strong>in</strong>e weiße Beistellkommode. Ihre politische<br />

Zukunft – vage.<br />

Sie denkt an ihren Sohn Carl. Er ist sechs Monate<br />

alt. Das Chromosom 21 liegt bei ihm dreimal vor, er<br />

hat Trisomie 21, das Downsyndrom. H<strong>in</strong><strong>zu</strong> kommt,<br />

nicht ungewöhnlich für diesen Gendefekt, e<strong>in</strong> Herzfehler,<br />

er ist lebensgefährlich. An diesem Herbsttag<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> weiß Dagmar Schmidt nicht, ob ihr Sohn es<br />

schaffen wird.<br />

Zwölf Monate später hat sie mehr erreicht, als<br />

viele andere Neul<strong>in</strong>ge im Parlament <strong>in</strong> so kurzer Zeit<br />

erwarten können. Sie gehört dem Ausschuss für Arbeit<br />

und Soziales an, hier <strong>werden</strong> die Gründungsthemen<br />

der SPD verhandelt. Sie sitzt sogar im Bundesvorstand<br />

der Partei. Und Carls Zustand ist stabil, er<br />

ist jetzt anderthalb.<br />

Passen e<strong>in</strong> Down-K<strong>in</strong>d und die Politik <strong>zu</strong>sammen?<br />

Auch auf ihre wichtigste Frage hat Schmidt e<strong>in</strong>e Antwort<br />

gefunden. E<strong>in</strong>e, die alle anderen löst: Das Down-<br />

K<strong>in</strong>d ist die Politik. Es ist ihr Antrieb, ihr Thema, auch<br />

ihr Vorteil. Ihr S<strong>in</strong>n.<br />

Dagmar Schmidt, 41 Jahre alt, ist Berufspolitiker<strong>in</strong>.<br />

Sie arbeitete sich von den Jusos nach oben. Neben<br />

dem Geschichtsstudium machte sie Parteiarbeit. Dann:<br />

Mitarbeiter<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es hessischen Landtagsabgeordneten,<br />

der SPD-Landesgeschäftsstelle, der Landtagsfraktion.<br />

Dann die Nom<strong>in</strong>ierung für die Bundestagswahl. Es ist<br />

die Art Laufbahn, die heute öfter vorkommt als früher.<br />

Aus ihr geht jener Typ von Politikern hervor, denen<br />

vorgeworfen wird, dass sie nur die Politik kennen,<br />

aber nicht das Leben. Über Dagmar Schmidt konnte<br />

man schon behaupten, dass ihre Erfahrungswelt e<strong>in</strong>geschränkt<br />

ist. Aber nun macht gerade sie Politik aus<br />

Erlebnissen heraus, teilweise aus existenziellen.<br />

E<strong>in</strong>erseits hat es Dagmar Schmidt leichter als andere<br />

berufstätige Frauen: Als Abgeordnete kann sie sich<br />

ihre Arbeitszeit freier e<strong>in</strong>teilen und sich Hilfe von außen<br />

f<strong>in</strong>anziell leisten. Andererseits hat sie es schwerer:<br />

Als Mandatsträger<strong>in</strong> hat sie, anders als reguläre<br />

Arbeitnehmer<strong>in</strong>nen, ke<strong>in</strong>en Anspruch auf Elternzeit.<br />

Gewählt ist gewählt, e<strong>in</strong>en Vertreter gibt es nicht. „Ich<br />

kann jeder Mutter nur empfehlen, Abgeordnete <strong>zu</strong><br />

<strong>werden</strong>.“ Sie lässt den ironischen Satz e<strong>in</strong>e Weile wirken.<br />

„Nee, Quatsch. Es ist anstrengend.“<br />

Die Erfahrung treibt sie an, etwas <strong>zu</strong> tun. Den<br />

Vorstoß der 32-Stunden-Woche, mit dem die Familienm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />

Manuela Schwesig von der SPD die Union<br />

aufbr<strong>in</strong>gt, macht sich Dagmar Schmidt <strong>zu</strong> eigen. Eltern<br />

brauchen Flexibilität, sie erlebt das jetzt. Es ist<br />

ihre Botschaft geworden. In ihrem hessischen Wahlkreis<br />

Lahn-Dill hört sie sich die Sorgen von K<strong>in</strong>dergärtner<strong>in</strong>nen<br />

an. Im März wird sie auch noch Vorsitzende<br />

der Arbeiterwohlfahrt Wetzlar, Träger<strong>in</strong> vieler<br />

K<strong>in</strong>dertagesstätten.<br />

Das Vere<strong>in</strong>barkeitsthema trägt sie auch <strong>in</strong> die<br />

Fraktion, <strong>in</strong> der sie die eigenen Leute durchknetet. Mit<br />

e<strong>in</strong>er Fraktionskolleg<strong>in</strong>, die gerade e<strong>in</strong>en Kugelbauch<br />

hat – die K<strong>in</strong>derbeauftragte Susann Rüthrich – gründet<br />

sie Anfang April e<strong>in</strong>en SPD-Gesprächskreis. Erst e<strong>in</strong>mal<br />

geht es nur um Mandatsträger und Ehrenamtliche<br />

<strong>in</strong> der Politik. Schmidt sagt: „Wenn wir nicht e<strong>in</strong>mal<br />

unseren eigenen Müttern und Vätern helfen können,<br />

wie sollen wir das dann für alle anderen tun?“<br />

In den ersten Monaten im Bundestag liest Schmidt<br />

nicht nur die Unterlagen aus dem Sozialausschuss.<br />

Sie studiert Fachliteratur über die Beh<strong>in</strong>derung ihres<br />

Er lebe hoch! Dagmar<br />

Schmidt möchte ihrem<br />

Sohn so viel Zeit wie<br />

möglich schenken<br />

DAS PAUL-LÖBE-HAUS <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, siebte Etage. Dagmar<br />

Schmidt hat ihr Büro <strong>in</strong> dem Bundestagsgebäude<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> halbes K<strong>in</strong>derzimmer verwandelt. Im Obstkorb<br />

steht e<strong>in</strong> Glas Babybrei, an der Magnettafel hängt e<strong>in</strong><br />

Foto von Carl. Auf dem Boden liegt e<strong>in</strong> Spielteppich,<br />

bedruckt mit Bäumen und Straßen. Daneben parken<br />

Holz autos und e<strong>in</strong> gelber Bagger. Sie hat den Teppich<br />

Mitte Dezember bei Ikea gekauft. Auch wenn<br />

das Spielzeug noch nichts für Carl ist: Auch Schmidts<br />

Mitarbeiter haben K<strong>in</strong>der. Früher hat sie sich für die<br />

SPD mit dem Thema Vere<strong>in</strong>barkeit von Familie und<br />

Beruf befasst, jetzt muss sie ihre Familie mit ihrem<br />

Beruf vere<strong>in</strong>baren.<br />

Sie engagiert e<strong>in</strong>e Tagesmutter. Manchmal übernimmt<br />

ihre Mutter die Betreuung, manchmal Carls<br />

Vater, mit dem Schmidt aber nicht <strong>zu</strong>sammenlebt.<br />

54<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Inklusion wird Schmidts zweites Thema. Bundesweit<br />

stoßen Schulen, die Inklusion ausprobieren möchten,<br />

auf Widerstand. Lehrer fühlen sich überfordert;<br />

Eltern fürchten, ihre K<strong>in</strong>der könnten weniger lernen.<br />

Schmidt verlangt, auch über den Nutzen von Inklusion<br />

für nichtbeh<strong>in</strong>derte Schüler nach<strong>zu</strong>denken: Im<br />

Umgang könnten diese viel von Menschen mit Beh<strong>in</strong>derung<br />

lernen.<br />

Ihr Sohn bee<strong>in</strong>flusst<br />

ihren Blick. Dagmar<br />

Schmidt <strong>in</strong> ihrem<br />

Bundestagsbüro <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

Sohnes, sie abonniert den Ohrenkuss, e<strong>in</strong> Magaz<strong>in</strong> von<br />

Menschen mit Downsyndrom, das sich so nennt, weil<br />

das Gesagte nicht nur <strong>zu</strong>m e<strong>in</strong>en Ohr re<strong>in</strong> und <strong>zu</strong>m anderen<br />

wieder rausgehen, sondern im Kopf bleiben soll.<br />

Schmidt geht <strong>zu</strong> Runden mit Down-Eltern. Vorsorgeterm<strong>in</strong>en,<br />

Frühförderung, Logopädie und Krankengymnastik.<br />

Sie ist eisern mit sich, sie will die Zeit<br />

ihrem Sohn schenken. Menschen mit Trisomie 21 brauchen<br />

für ihre Entwicklung Zeit. Bekommen sie diese,<br />

gel<strong>in</strong>gt es später oft besser, sie vollständig teilhaben<br />

<strong>zu</strong> lassen: die Inklusion.<br />

IM AUGUST steht sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Halle der Dillenburger<br />

Werkstätten der „Lebenshilfe“. Es riecht nach Öl. Mit<br />

ihrer weißen Rüschenbluse und dem blauen Jackett<br />

wirkt die Abgeordnete etwas deplatziert. Der Werkstattleiter<br />

heißt Ralf Turk, e<strong>in</strong> <strong>zu</strong>packender Typ mit<br />

Brille und Halbglatze. Er vermittelt regelmäßig Mitarbeiter<br />

mit geistiger Beh<strong>in</strong>derung an regionale Betriebe:<br />

e<strong>in</strong> Eckladen, e<strong>in</strong>e Bäckerei, e<strong>in</strong>e Landschaftsgärtnerei.<br />

Schmidt schreibt mit, Ralf Turk ist begeistert: Die<br />

SPD-Abgeordnete sei „e<strong>in</strong>e Ausnahmeersche<strong>in</strong>ung“.<br />

Politiker würden kaum noch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Werkstatt vorbeischauen,<br />

nicht mal im Wahlkampf.<br />

Sie macht e<strong>in</strong>en Praxistag. Das tun Politiker immer<br />

mal, sie wollen sich zeigen, sich im Leben der Menschen<br />

verorten, die sie besuchen. Bei Schmidt liegen<br />

die D<strong>in</strong>ge anders. Sie redet mit den Mitarbeitern, isst<br />

<strong>zu</strong> Mittag Hühnerfrikassee <strong>in</strong> der Kant<strong>in</strong>e, sortiert Gabel<br />

und Messer <strong>in</strong> die Abwaschbehälter. Sie erzählt von<br />

Carl. Sie stellt die Frage nicht, die trotzdem im Raum<br />

steht: <strong>Wie</strong> wäre es, wenn ihr Sohn e<strong>in</strong>mal hier arbeitet?<br />

In den Werkstätten montieren Menschen mit überwiegend<br />

geistiger Beh<strong>in</strong>derung Bauelemente für Industrieunternehmen.<br />

An normalen Tagen falzen sie rund<br />

2000 dieser Teile, bis <strong>zu</strong> 25 Stunden <strong>in</strong> der Woche. Dafür<br />

erhalten sie durchschnittlich 230 Euro netto im Monat.<br />

Essen, Wohnung und Betreuung gibt es <strong>zu</strong>sätzlich.<br />

Schmidt ist das <strong>zu</strong> wenig: „Größere Anschaffungen<br />

oder mal e<strong>in</strong> Urlaub s<strong>in</strong>d da nicht dr<strong>in</strong>.“ Ralf<br />

Turk sagt: „Ich will nicht, dass mir dann die Hartz-<br />

IV-Empfänger hier die Scheibe e<strong>in</strong>schlagen.“ – „Wer<br />

auf Menschen mit Beh<strong>in</strong>derung auch noch neidisch ist,<br />

soll doch selbst ohne Helm Moped fahren und se<strong>in</strong>e<br />

Gesundheit riskieren“, sagt Schmidt.


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

Dagmar Schmidt steckt<br />

ihre Stimmkarte <strong>in</strong> die Urne.<br />

3. Juli, Verabschiedung des<br />

M<strong>in</strong>destlohns<br />

Ihr Ausschuss berät im November über das Thema<br />

Inklusion, Union und SPD haben im Koalitionsvertrag<br />

e<strong>in</strong> Bundesteilhabegesetz vere<strong>in</strong>bart.<br />

Dagmar Schmidt f<strong>in</strong>det nichts dabei, Carl <strong>zu</strong>m Gegenstand<br />

ihrer Politik <strong>zu</strong> machen. „Der Blick erweitert<br />

sich und nimmt E<strong>in</strong>fluss auf die eigene Politik“, sagt<br />

sie. Sie habe dank Carl mit D<strong>in</strong>gen <strong>zu</strong> tun, mit denen<br />

sie sich sonst nicht beschäftigt hätte. „Und das ist gut.“<br />

Wirkt sie dadurch authentischer, glaubwürdiger?<br />

In jedem Fall zieht Betroffenheit Anteilnahme<br />

nach sich. Schmidt merkt das bei Facebook: „Wenn<br />

ich da poste: ‚M<strong>in</strong>destlohn!‘, kriege ich so 15 Likes.<br />

Aber wenn ich auch nur e<strong>in</strong> Foto von Carls Fuß <strong>in</strong>s<br />

Netz stelle: ‚Like, Like, Like, Like, Like!‘, ‚toller Zeh‘,<br />

‚süßer Fuß‘, da geht es ab!“<br />

ERST ALS IHR SOHN im Mai 2013 geboren wurde,<br />

wusste sie, dass ihr Sohn e<strong>in</strong> Down-K<strong>in</strong>d ist und dass<br />

er e<strong>in</strong> schweres Herzleiden hat. Sie musste sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Beh<strong>in</strong>derung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>denken. Sie musste immer wieder<br />

<strong>in</strong>s Krankenhaus. Am 21. Januar 2014 wurde Carl<br />

erstmals operiert, zehn Tage später e<strong>in</strong> zweites Mal.<br />

Schmidt harrte nachts an se<strong>in</strong>em Bett aus.<br />

An e<strong>in</strong>em Dienstagnachmittag im Mai muss Carl<br />

<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Kontrollterm<strong>in</strong> <strong>in</strong> die K<strong>in</strong>derkardiologie<br />

der Unikl<strong>in</strong>ik Gießen. Es ist die Gelegenheit, auch<br />

e<strong>in</strong> politisches Thema <strong>zu</strong> besprechen, und zwar mit<br />

jenem Mann, dem Dagmar Schmidt vermutlich das<br />

Überleben ihres Sohnes <strong>zu</strong> verdanken hat: Dietmar<br />

Schranz. Der grau melierte Chefarzt der K<strong>in</strong>derkardiologie<br />

hält e<strong>in</strong>en sehr dünnen Schlauch <strong>in</strong> der Hand,<br />

e<strong>in</strong>en Katheter. Se<strong>in</strong> Blick geht über den Brillenrand,<br />

man könnte ihn für e<strong>in</strong>en Geschichtenonkel halten,<br />

nur der grüne OP-An<strong>zu</strong>g verh<strong>in</strong>dert das.<br />

Der Chirurg deutet auf das Ende des dünnen<br />

Kunststoffschlauchs, auf den kle<strong>in</strong>en Metallhaken.<br />

Zwei Millimeter sei der, halb so groß wie e<strong>in</strong> Haken<br />

für Erwachsene. Ideal für e<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dherz. „Doch<br />

das ist e<strong>in</strong>er unserer letzten“, sagt Schranz.<br />

Cordis, der US-Hersteller dieses Spezialkatheters,<br />

hat die Produktion e<strong>in</strong>gestellt. Der Markt ist <strong>zu</strong> kle<strong>in</strong>,<br />

es lohnt sich nicht. Schranz muss sich das Gerät, wie<br />

bereits viele andere, demnächst selbst basteln. Im Katheterlabor<br />

wird er es mit heißem Wasserdampf verbiegen<br />

und überschüssiges Material abschneiden. „Das<br />

gel<strong>in</strong>gt nie perfekt“, sagt der Arzt.<br />

Das Geld ist knapp. Nur mit privaten Spenden<br />

konnte sich die Abteilung e<strong>in</strong>en Magnetresonanztomografen<br />

anschaffen.<br />

Es fehlt vielen K<strong>in</strong>derkl<strong>in</strong>iken aber nicht nur Material,<br />

sondern auch Geld, sagt Schranz. In den Fallpauschalen<br />

der Krankenkassen s<strong>in</strong>d nur die Kosten pro<br />

E<strong>in</strong>griff enthalten, nicht aber die Kosten, die es etwa<br />

braucht, Spezialisten für Herzfehler, Krebs- oder seltene<br />

Stoffwechselerkrankungen und die Technik vor<strong>zu</strong>halten.<br />

Um alles <strong>zu</strong> ref<strong>in</strong>anzieren, bräuchte e<strong>in</strong>e Kl<strong>in</strong>ik<br />

jährlich Tausende solcher Fälle. Die gibt es aber<br />

nicht – weshalb K<strong>in</strong>derkl<strong>in</strong>iken fast überall <strong>in</strong> den roten<br />

Zahlen stecken. Schranz kämpft mit K<strong>in</strong>derärzten<br />

und K<strong>in</strong>derchirurgen <strong>in</strong> ganz Deutschland für e<strong>in</strong>e bessere<br />

Versorgung. „Rettet die K<strong>in</strong>derstation“, heißt die<br />

Kampagne. „Wir geben <strong>zu</strong> Recht sehr viel Geld für die<br />

Geriatrie, also für alte Menschen aus. Aber jetzt s<strong>in</strong>d<br />

die Kle<strong>in</strong>en dran“, sagt Schranz.<br />

Dagmar Schmidt nickt. Sie schaut auf Carl, der gerade<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tragetuch vor ihrem Bauch schlummert.<br />

Auch er wurde mit dem besonderen Katheter operiert.<br />

Schranz, der K<strong>in</strong>derkardiologe, hatte geme<strong>in</strong>sam mit<br />

e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>derherzchirurgen e<strong>in</strong> Loch <strong>in</strong> Carls Herzscheidewand<br />

geschlossen.<br />

Dagmar Schmidt versteht ihn, ermuntert ihn. Der<br />

Arzt hat ihren Sohn gerettet, jetzt will sie ihm helfen –<br />

und den anderen K<strong>in</strong>dern und Eltern. K<strong>in</strong>dermediz<strong>in</strong><br />

gehört <strong>zu</strong> ihren Themen. Obwohl e<strong>in</strong>e Reform der Fallpauschalen<br />

nicht auf der Agenda der Großen Koalition<br />

steht. Nicht dieses Jahr, nicht <strong>in</strong> dieser Legislaturperiode.<br />

Aber Schmidt hat ja gerade erst angefangen.<br />

PETRA SORGE ist Redakteur<strong>in</strong> von <strong>Cicero</strong>.<br />

Ihre erste Reportage über Dagmar Schmidt<br />

„Das Down-K<strong>in</strong>d im Bundestag“ erschien 2013<br />

<strong>in</strong> der Oktoberausgabe von <strong>Cicero</strong>. Nachlesbar<br />

unter cicero.de/down-k<strong>in</strong>d<br />

Foto: Andrej Dallmann (Autor<strong>in</strong>)<br />

56<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


WELTBÜHNE<br />

„ Wir lassen<br />

uns doch nicht<br />

unsere Gehirne<br />

waschen “<br />

Joshua Wong Chi-fung, der Kopf der Studentenrevolte <strong>in</strong> Hongkong, empörte sich bereits<br />

vor Jahren über die Regierung <strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g, Seite 58<br />

57<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

DER PROTEST-VETERAN<br />

Beim Demonstrieren verwandelt sich Joshua Wong Chi-fung vom schüchternen<br />

Studenten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en mitreißenden Politaktivisten – und Hongkong liegt ihm <strong>zu</strong> Füßen<br />

Von INNA HARTWICH<br />

Am Montag, ne<strong>in</strong>, da habe er ke<strong>in</strong>e<br />

Zeit. Am Dienstag, Moment,<br />

schnell checken, leider auch nicht.<br />

Am Mittwoch, tatsächlich, da g<strong>in</strong>ge es<br />

kurz. Zwischen zwei Term<strong>in</strong>en, <strong>in</strong> Ordnung?<br />

Als man Joshua Wong Chi-fung<br />

endlich treffen kann, lässt er se<strong>in</strong> Mobiltelefon<br />

nicht aus den Augen. Er ist gefragt,<br />

befragt, unterwegs. Gerade erst<br />

saß er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Radiosendung, e<strong>in</strong> Format,<br />

wie für ihn gemacht. Hier kann er los<strong>werden</strong>,<br />

was er denkt, wie er sich Hongkongs<br />

Zukunft vorstellt. Ke<strong>in</strong> Moderator neben<br />

ihm, nur se<strong>in</strong> Freund Oscar Lai Man-lok,<br />

se<strong>in</strong> Mitstreiter. „Wir müssen das Unmögliche<br />

möglich machen“, sagt Joshua<br />

Wong Chi-fung. Es ist e<strong>in</strong> Satz, der ihm<br />

e<strong>in</strong> Dutzend Mal am Tag über die Lippen<br />

geht. Auch jetzt noch, nachdem die<br />

Proteste für freie Wahlen <strong>in</strong> Hongkong<br />

abgeflaut s<strong>in</strong>d.<br />

Nun kann er e<strong>in</strong> wenig durchatmen,<br />

den Schlaf nachholen. Denn der Aufstand<br />

für mehr Demokratie <strong>in</strong> der Stadt,<br />

die <strong>zu</strong> Ch<strong>in</strong>a gehört, aber nicht recht<br />

da<strong>zu</strong>gehören will, ist noch lange nicht<br />

<strong>zu</strong> Ende. Für die Hongkonger nicht und<br />

schon gar nicht für Joshua Wong Chifung,<br />

den dürren Jungen mit der Hipster-<br />

Brille. „Hongkong ist Hongkong, nicht<br />

irgende<strong>in</strong>e ch<strong>in</strong>esische Stadt.“ Deshalb<br />

se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>satz für diese Herausforderung,<br />

Pek<strong>in</strong>g die Stirn <strong>zu</strong> bieten. Der schmächtige<br />

17-Jährige lächelt scheu und muss<br />

weiter, „die nächste Radiosendung“. Der<br />

nächste Kampf.<br />

Mit Kämpfen kennt sich Joshua Wong<br />

Chi-fung aus. Er war erst 14 Jahre alt,<br />

als „diese Sache“, wie er die Ereignisse<br />

nennt, passierte: e<strong>in</strong> Plan der Regierung,<br />

<strong>in</strong> Hongkongs Schulen, nach dem Beispiel<br />

aus Festlandch<strong>in</strong>a, das Fach „Nationale<br />

und moralische Erziehung“ e<strong>in</strong><strong>zu</strong>führen.<br />

E<strong>in</strong> subtiler Versuch, aus den britisch geprägten<br />

Hongkongern gute ch<strong>in</strong>esische<br />

Patrioten <strong>zu</strong> machen. Das war 2011. Mit<br />

e<strong>in</strong> paar Freunden aus der Mittelschule,<br />

e<strong>in</strong>em privaten christlichen College auf<br />

der Halb<strong>in</strong>sel Kowloon, gründete er<br />

„Scholarism“. 2012 brachte die Gruppe<br />

knapp 120 000 Menschen auf Hongkongs<br />

Straßen, Schüler, Eltern, Lehrer. „Wir lassen<br />

uns doch nicht unsere Gehirne waschen“,<br />

sagte Joshua damals und probte<br />

se<strong>in</strong>e ersten Auftritte. Gelassen anfangen,<br />

klar formulieren, deutlich artikulieren,<br />

immer lauter <strong>werden</strong>, die Arme<br />

nache<strong>in</strong>ander heben, mit dem Zeigef<strong>in</strong>ger<br />

Akzente setzen, die Stimme weiter ansteigen<br />

lassen, aber nur so weit, dass sie nicht<br />

bricht, wieder ruhiger <strong>werden</strong>. Se<strong>in</strong> erster<br />

Erfolg: Die Regierung nahm den Plan <strong>zu</strong>rück.<br />

Die Schulen entscheiden selbst, ob<br />

sie den Patriotismus-Unterricht anbieten.<br />

Joshua hat nun Größeres im S<strong>in</strong>n.<br />

BEIM DEMONSTRIEREN verwandelt sich<br />

der schüchterne Jugendliche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

mitreißenden Politaktivisten. Se<strong>in</strong>e Eltern<br />

hatten ihm den kantonesischen Namen<br />

Chi-fung gegeben, die „Spitze e<strong>in</strong>es<br />

Messers oder Schwertes“ – als hätten es<br />

Roger und Grace Wong geahnt, was aus<br />

ihrem Jungen e<strong>in</strong>mal wird. Heute führt<br />

ihr Sohn quasi als Speerspitze e<strong>in</strong>e Generation<br />

an, die sich von Pek<strong>in</strong>g nicht bedrängen<br />

lassen will. Sie fordert Selbstbestimmung,<br />

fordert Demokratie, voller<br />

Leidenschaft und Idealismus. „Me<strong>in</strong>e<br />

Lehrer sagten schon immer, ich habe<br />

das Reden im Griff“, erzählt Joshua<br />

Wong. Damit überdeckt er auch se<strong>in</strong>e<br />

Legasthenie-Schwierigkeiten.<br />

Mittlerweile besucht er die Offene<br />

Universität <strong>in</strong> Hongkong, hat sich für Politikwissenschaften<br />

e<strong>in</strong>geschrieben. E<strong>in</strong><br />

„Frischl<strong>in</strong>g“, der die Uni erst e<strong>in</strong>mal Uni<br />

se<strong>in</strong> lässt. Staatlich kontrollierte ch<strong>in</strong>esische<br />

Medien hatten ihm das Attribut<br />

„Extremist“ verpasst, vor zwei Jahren<br />

bereits, haben Gerüchte gestreut, er sei<br />

von der CIA gekauft. Für viele Hongkonger,<br />

drei-, viermal so alt wie Joshua, ist<br />

er die „Hoffnung Hongkongs“. Mart<strong>in</strong><br />

Lee Chu-m<strong>in</strong>g, der 76-jährige Gründer<br />

von Hongkongs Demokratischer Partei,<br />

ist stolz: „Unsere Stadt hat e<strong>in</strong>e helle Zukunft<br />

– unserer wunderbaren Jugend wegen.“<br />

Selbst bei Benny Tai Yiu-t<strong>in</strong>g, dem<br />

Kopf der Occupy-Central-Bewegung, die<br />

mit Joshuas „Scholarism“ Hunderttausende<br />

<strong>zu</strong>m Campieren im F<strong>in</strong>anzdistrikt<br />

brachte, ist die Skepsis über das anfänglich<br />

forsche Vorgehen der Jugendlichen<br />

gewichen. Mancher Taxifahrer nimmt<br />

Joshua Wong Chi-fung auch schon e<strong>in</strong>mal<br />

umsonst mit, so bekannt ist se<strong>in</strong> Gesicht<br />

<strong>in</strong> der Stadt.<br />

„Ich b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Held“, hat er vor e<strong>in</strong>em<br />

Jahr se<strong>in</strong> Buch genannt. Auch nach se<strong>in</strong>er<br />

Festnahme, die ihm 40 Stunden Haft e<strong>in</strong>brachte<br />

und viele <strong>in</strong> Hongkong erst auf<br />

die Straße brachte, sagte er: „Was soll ich<br />

bitte für e<strong>in</strong> Held se<strong>in</strong>? Während ihr hier<br />

dem Tränengas widerstanden und euch<br />

mit Regenschirmen dagegen gewehrt<br />

habt, habe ich untätig <strong>in</strong> der Zelle gesessen.“<br />

Se<strong>in</strong>e Zuversicht schöpft der Hongkonger<br />

aus dem Glauben. Als Christ reiche<br />

es nicht, die Bibel <strong>in</strong> der Kirche <strong>zu</strong><br />

lesen, als Christ müsse man sich für die<br />

dort verankerten Werte auch e<strong>in</strong>setzen.<br />

Am 13. Oktober feierte Joshua Wong<br />

Chi-fung se<strong>in</strong>en 18. Geburtstag. Wenige<br />

Tage <strong>zu</strong>vor hätte er mit anderen Aktivisten<br />

am Verhandlungstisch mit der Regierung<br />

sitzen sollen – damit er irgendwann<br />

e<strong>in</strong>mal wählen kann. In se<strong>in</strong>er Stadt, dem<br />

ch<strong>in</strong>esischen Hongkong. Die Regierung<br />

aber machte e<strong>in</strong>en Rückzieher.<br />

INNA HARTWICH ist freie Korrespondent<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g und hat die jüngsten<br />

Studentenproteste <strong>in</strong> den Straßen von<br />

Hongkong mitverfolgt<br />

Foto: Tyrone Siu/Reuters/Corbis<br />

58<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

PUTINS SPRACHROHR<br />

Margarita Simonjan rückt Russland <strong>in</strong>s rechte Medienlicht. Die Chefredakteur<strong>in</strong> steuert<br />

den russischen Auslandssender RT und nun auch noch e<strong>in</strong>e Nachrichtenagentur<br />

Von MORITZ GATHMANN<br />

Im Nordosten von Moskau begrüßt e<strong>in</strong>e<br />

gut gelaunte Margarita Simonjan im<br />

obersten Stockwerk e<strong>in</strong>er ehemaligen<br />

Fabrik ihre Gäste – <strong>in</strong> bestem Englisch<br />

mit leicht amerikanischem Akzent. In e<strong>in</strong>em<br />

hochmodernen Studiokomplex residiert<br />

der vom Kreml f<strong>in</strong>anzierte und von<br />

Simonjan geleitete russische Auslandssender<br />

RT, ehemals Russia Today. Von<br />

hier aus verbreitete er auf Englisch, Arabisch<br />

und Spanisch die „russische Sicht<br />

auf die Welt“, erklärt die selbstbewusste<br />

<strong>junge</strong> Frau.<br />

Mit 34 Jahren ist die armenischstämmige<br />

Russ<strong>in</strong> sehr weit oben angekommen.<br />

Als Chefredakteur<strong>in</strong> des russischen Auslandssenders<br />

befehligt sie 2500 Mitarbeiter;<br />

seit diesem Jahr leitet sie <strong>zu</strong>dem die<br />

Nachrichtenagentur RIA Nowosti, die<br />

unter ihrem neuen Namen Rossiya Segodnya<br />

nun ähnlich offensiv wie RT die<br />

russische Perspektive verbreitet.<br />

Simonjan hat RT <strong>zu</strong>m Erfolg geführt:<br />

Im Sommer überschritt RT auf Youtube<br />

die Marke von e<strong>in</strong>er Milliarde Klicks. RT<br />

spielt <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest im Internet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Liga<br />

mit BBC, Al Dschasira oder CNN. Ihr<br />

Ziel – das Me<strong>in</strong>ungsmonopol der angelsächsischen<br />

Medien <strong>zu</strong> brechen – hat Simonjan<br />

teilweise erreicht, und das, betont<br />

sie, mit e<strong>in</strong>em bedeutend kle<strong>in</strong>eren<br />

Budget. 2013 waren es elf Milliarden Rubel,<br />

etwa 250 Millionen Euro.<br />

In oppositionellen Kreisen gilt Simonjan<br />

als pr<strong>in</strong>zipienlose, Put<strong>in</strong>-treue<br />

Karrierist<strong>in</strong>. Wer sie näher kennt, erklärt<br />

ihr E<strong>in</strong>treten für „die russischen<br />

Werte“ mit ihrem grenzenlosen Opportunismus.<br />

Offen sagt das aber kaum jemand.<br />

Gleichzeitig gehört Simonjan<br />

<strong>zu</strong>r Moskauer Schickeria, auf Russisch<br />

die Glamournaja Tussowka. Diese besteht<br />

aus gut verdienenden Hauptstädtern,<br />

bei denen grundsätzliche politische<br />

Unterschiede ke<strong>in</strong> H<strong>in</strong>dernis für<br />

Freundschaften s<strong>in</strong>d. Per Du ist Margarita<br />

Simonjan etwa mit Ksenia Sobtschak,<br />

die seit Jahren <strong>zu</strong> den prom<strong>in</strong>entesten<br />

Put<strong>in</strong>-Gegnern zählt. Wichtig s<strong>in</strong>d der<br />

Tussowka gutes Essen – Kochen ist Simonjans<br />

Leidenschaft, sie schreibt e<strong>in</strong>e<br />

populäre kul<strong>in</strong>arische Kolumne –, stilvolles<br />

Äußeres – das meist aus importierter<br />

Designerkleidung besteht – sowie<br />

e<strong>in</strong>e grundsätzlich liberale Weltsicht.<br />

TATSÄCHLICH: Margarita Simonjan bezeichnet<br />

sich selbst als liberal. Öffentlich<br />

bekundete sie etwa ihre Sympathie für<br />

den Oligarchen Michail Prochorow, der<br />

2012 bei den Präsidentschaftswahlen mit<br />

e<strong>in</strong>em liberalen Programm gegen Put<strong>in</strong><br />

antrat, während sie <strong>zu</strong> Put<strong>in</strong>s offiziellem<br />

Unterstützerkreis zählte. Für Simonjan<br />

ist das ke<strong>in</strong> Widerspruch, sondern Ausfluss<br />

des typischen Diskurses der Moskauer<br />

Elite. Der lautet: Natürlich lebe<br />

man nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er idealen Demokratie,<br />

doch gebe es nicht massenhaft politische<br />

Gefangene, und im Vergleich <strong>zu</strong>m Chaos<br />

der neunziger Jahre gehe es den Russen<br />

gut. Wenn man <strong>in</strong> Russland alle Zügel<br />

schleifen ließe, würde das Land im Faschismus<br />

vers<strong>in</strong>ken.<br />

Geboren wurde Simonjan 1980 im<br />

südrussischen Krasnodar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er armenischen<br />

Familie. Gerüchte über ihre angeblich<br />

reichen Eltern weist sie entschieden<br />

<strong>zu</strong>rück: Ihr Vater habe se<strong>in</strong> Leben<br />

lang Kühlschränke repariert. Schon im<br />

K<strong>in</strong>dergarten liest sie den anderen K<strong>in</strong>dern<br />

Bücher vor, später ist sie Klassenbeste,<br />

wird aber, so erzählt sie, wegen<br />

ihrer armenischen Abstammung diskrim<strong>in</strong>iert.<br />

Mit 15 verbr<strong>in</strong>gt Simonjan <strong>in</strong><br />

New Hampshire e<strong>in</strong> Jahr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gastfamilie,<br />

das sie e<strong>in</strong>e „positive Erfahrung“<br />

nennt. Dennoch bleibt e<strong>in</strong> zwiespältiges<br />

Amerikabild: Zwar liebe sie die USA für<br />

ihre e<strong>in</strong>zigartige Kultur, „aber ich liebe<br />

Amerika nicht für se<strong>in</strong>e Ignoranz, für die<br />

Heuchelei se<strong>in</strong>er Eliten, für die tiefe <strong>in</strong>nere<br />

Überzeugung, dass Nichtamerikaner<br />

apriori weniger Menschen s<strong>in</strong>d als Amerikaner,<br />

für diesen quasi Faschismus.“<br />

Mit 19 Jahren heuert sie bei e<strong>in</strong>em<br />

regionalen russischen TV-Sender an und<br />

weckt Interesse mit ihren Reportagen aus<br />

dem Tschetschenienkrieg. 2002 schickt<br />

sie der Staatssender Rossija als Reporter<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> den „Präsidentenpool“, seitdem<br />

fährt sie im handverlesenen Put<strong>in</strong>-Pulk<br />

durchs Land. Der überreicht ihr <strong>zu</strong>m<br />

25. Geburtstag e<strong>in</strong>en Blumenstrauß, was<br />

bis heute Grund für allerlei Gerüchte ist.<br />

Tatsache ist: Zwei Monate später gibt<br />

der Kreml die Gründung von RT bekannt,<br />

und Simonjan soll den Sender aufbauen,<br />

der das zentrale Stück e<strong>in</strong>er breit angelegten<br />

russischen PR-Kampagne im Ausland<br />

<strong>werden</strong> soll. Sie will „Neuigkeiten<br />

über die Welt, aber von e<strong>in</strong>er anderen<br />

Seite“ zeigen. „Wenn CNN, BBC und<br />

Al Dschasira zeigen, dass <strong>in</strong> Libyen e<strong>in</strong>e<br />

Drohne der Nato abgeschossen wurde,<br />

dann berichten wir darüber, dass an<br />

diesem Tag <strong>in</strong> Libyen e<strong>in</strong> Haus bei e<strong>in</strong>em<br />

Luftangriff zerstört wurde und dabei<br />

13 Menschen ums Leben kamen, davon<br />

fünf K<strong>in</strong>der.“<br />

Das Ziel ihrer Strategie benennt sie<br />

im Oktober 2013: Man müsse e<strong>in</strong>e möglichst<br />

große Zuschauerzahl erreichen, um<br />

im Falle e<strong>in</strong>es „zweiten Georgiens die eigene<br />

Agenda auf<strong>zu</strong>zw<strong>in</strong>gen“. 2008 war<br />

es zwischen Russland und Georgien <strong>zu</strong>m<br />

Krieg um die abtrünnigen Gebiete Südossetien<br />

und Abchasien gekommen. Das<br />

„zweite Georgien“ beg<strong>in</strong>nt kurze Zeit<br />

später: auf dem Maidan <strong>in</strong> Kiew.<br />

MORITZ GATHMANN berichtet aus den<br />

Ländern der Ex-Sowjetunion. Seit er Simonjan<br />

traf, fragt er sich, warum es <strong>in</strong> Deutschland<br />

ke<strong>in</strong>e 25-jährigen TV-Chefredakteure gibt<br />

Foto: ITAR-TASS/Imago<br />

60<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

JUNCKERS HAUSHÄLTERIN<br />

Kristal<strong>in</strong>a Georgiewa ist e<strong>in</strong>e der wenigen unumstrittenen Frauen <strong>in</strong> der Europäischen<br />

Union. Künftig wird die Bulgar<strong>in</strong> über den EU-Haushalt wachen – und das Personal<br />

Von MICHAEL LACZYNSKI<br />

Foto: Thierry du Bois/Reporters/Laif [M]<br />

Nicht jede europäische Karriere ist<br />

das Ergebnis fokussierter Ambition<br />

und m<strong>in</strong>uziöser Planung.<br />

Für Kristal<strong>in</strong>a Georgiewa begann das<br />

Abenteuer Europa mit e<strong>in</strong>em nächtlichen<br />

Anruf <strong>in</strong> der US-Hauptstadt Wash<strong>in</strong>gton.<br />

Es war drei Uhr <strong>in</strong> der Früh, als das<br />

Telefon die Vizepräsident<strong>in</strong> der Weltbank<br />

aus dem Bett holte. Am anderen<br />

Ende der Leitung war der damalige bulgarische<br />

Premierm<strong>in</strong>ister Bojko Borissow,<br />

der Georgiewa e<strong>in</strong> überraschendes<br />

Jobangebot machte: „Wir brauchen unser<br />

größtes Talent <strong>in</strong> Europa.“ Sie solle<br />

Bulgarien <strong>in</strong> der EU-Kommission vertreten,<br />

nachdem die ursprüngliche Kandidat<strong>in</strong><br />

Rumjana Schelewa bei der Anhörung<br />

im Europaparlament durchgefallen<br />

war. Georgiewa sagte <strong>zu</strong> – und am 9. Februar<br />

2010 trat sie im Bürokomplex Berlaymont,<br />

dem Hauptquartier der Brüsseler<br />

Behörde, ihr Amt als Kommissar<strong>in</strong> für<br />

humanitäre Hilfe an.<br />

Was als Zufall begonnen hatte, entwickelte<br />

sich <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er europapolitischen<br />

Erfolgsgeschichte, die am 1. November<br />

ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen<br />

wird: An diesem Tag – sofern der Brüssler<br />

Zeitplan hält – beg<strong>in</strong>nt die Amtszeit von<br />

Jean-Claude Juncker als Präsident der<br />

EU-Kommission. In se<strong>in</strong>em Team wird<br />

Georgiewa den prestigeträchtigen – und<br />

mächtigen – Posten der für das Budget<br />

und Personalangelegenheiten <strong>zu</strong>ständigen<br />

Vizepräsident<strong>in</strong> <strong>in</strong>nehaben.<br />

Dass ausgerechnet die 61-Jährige <strong>in</strong><br />

die siebenköpfige Riege der Vizepräsidenten<br />

aufrückt, ist auf den ersten Blick<br />

überraschend. Denn Junckers erklärtes<br />

Ziel ist es, se<strong>in</strong>e Kommission <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em<br />

politisch denkenden und agierenden Organ<br />

um<strong>zu</strong>gestalten. Georgiewa aber ist<br />

das e<strong>in</strong>zige Mitglied dieses Führungsgremiums,<br />

das über ke<strong>in</strong>erlei Regierungserfahrung<br />

verfügt – und vermutlich auch<br />

die E<strong>in</strong>zige, die sich ohne Gegenwehr als<br />

Technokrat<strong>in</strong> titulieren ließe.<br />

Die promovierte Volkswirt<strong>in</strong> kam<br />

nach Zwischenstationen an der London<br />

School of Economics und am Massachusetts<br />

Institute of Technology 1993 <strong>zu</strong>r<br />

Weltbank, wo sie unter anderem Umweltprojekte<br />

und Russland betreute und<br />

<strong>zu</strong>letzt als Vizepräsident<strong>in</strong> für die reibungslose<br />

Kommunikation zwischen<br />

der Chefetage der Weltbank und ihren<br />

186 Mitgliedern <strong>zu</strong>ständig war.<br />

DIESE ERFAHRUNG dürfte für Junckers<br />

Entscheidung für die Bulgar<strong>in</strong> ausschlaggebend<br />

gewesen se<strong>in</strong>. Denn Georgiewa<br />

wird <strong>in</strong> ihrer neuen Funktion<br />

als oberste Aufseher<strong>in</strong> über die Mittel<br />

der EU den anderen 26 Kommissaren<br />

auf e<strong>in</strong>e möglichst diplomatische<br />

Art und Weise auf die F<strong>in</strong>ger schauen<br />

müssen. Dessen nicht genug: Ihr Verantwortungsbereich<br />

umfasst auch die<br />

Antikorruptionsbehörde Olaf, die EU-<br />

Übersetzerdienste, die Kaderschmiede<br />

European School of Adm<strong>in</strong>istration sowie<br />

alle Personalagenden der Union. Neben<br />

Juncker und se<strong>in</strong>er rechten Hand,<br />

dem Niederländer Frans Timmermans,<br />

wird Georgiewa <strong>zu</strong> den Mächtigsten <strong>in</strong><br />

der Brüsseler Behörde zählen.<br />

Angesichts dieser Machtfülle wäre<br />

es nicht verwunderlich, wenn ihre Nom<strong>in</strong>ierung<br />

<strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest für e<strong>in</strong>zelne kritische<br />

Stimmen gesorgt hätte. Doch wer sich <strong>in</strong><br />

Brüssel nach Kristal<strong>in</strong>a Georgiewa erkundigt,<br />

hört <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Lob – quer<br />

durch alle europäischen Institutionen<br />

und quer durch alle politischen Gruppierungen,<br />

ungeachtet dessen, dass die<br />

Bulgar<strong>in</strong> der bürgerlich-konservativen<br />

Europäischen Volkspartei <strong>zu</strong>gerechnet<br />

wird. Sie ist so<strong>zu</strong>sagen der größte geme<strong>in</strong>same<br />

Nenner, auf den sich <strong>in</strong> Brüssel<br />

jeder e<strong>in</strong>igen kann.<br />

Vor wenigen Monaten zählte Georgiewa<br />

sogar noch <strong>zu</strong> den Favoriten im<br />

Rennen um den Posten des Hohen Außenbeauftragten<br />

der EU – trotz ihrer<br />

bulgarischen Herkunft galt sie vielen<br />

als <strong>in</strong>teger genug, um Europas Interessen<br />

gegenüber Russland standhaft und<br />

glaubwürdig <strong>zu</strong> vertreten. Dass schließich<br />

Italiens Außenm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Federica<br />

Mogher<strong>in</strong>i den Posten erhielt, war vor<br />

allem der parteipolitischen Gefechtslage<br />

und dem Drängen des sozialdemokratischen<br />

italienischen Regierungschefs Matteo<br />

Renzi geschuldet. Ulrike Lunacek,<br />

die grüne Vizepräsident<strong>in</strong> des Europaparlaments,<br />

trauert dieser Entscheidung<br />

immer noch nach: „Georgiewa wäre die<br />

Beste gewesen.“<br />

Für Juncker h<strong>in</strong>gegen war das eher<br />

e<strong>in</strong> Segen, denn für ihren neuen Posten<br />

ist Georgiewa bestens geeignet. Sie ist<br />

typisch für viele Akteure aus Ost- und<br />

Mitteleuropa, die an e<strong>in</strong> starkes, e<strong>in</strong>iges<br />

Europa glauben und es mitgestalten wollen.<br />

„Sie hat auch e<strong>in</strong> extrem gutes numerisches<br />

Gedächtnis und kann Zahlen<br />

politisch verwerten“, urteilt e<strong>in</strong> Brüsseler<br />

Beobachter. „Was sie auszeichnet,<br />

ist die Verknüpfung von Politik und<br />

Management.“<br />

So dürfte Georgiewa wohl <strong>in</strong>sbesondere<br />

auch im Personalbereich tiefere Spuren<br />

h<strong>in</strong>terlassen. Sie kündigte bereits an,<br />

dass sie dafür sorgen wolle, dass es <strong>in</strong><br />

der EU-Beamtenschaft mehr Frauen und<br />

mehr Osteuropäer gibt. „Ich b<strong>in</strong> es gewohnt,<br />

als Frau und noch da<strong>zu</strong> als Bulgar<strong>in</strong><br />

doppelt und dreifach so hart für den<br />

Erfolg <strong>zu</strong> arbeiten.“<br />

MICHAEL LACZYNSKI ist gebürtiger<br />

Warschauer und EU-Korrespondent<br />

der österreichischen Tageszeitung Die<br />

Presse. Er hätte sich Georgiewa gut als<br />

EU‐Außenbeauftragte vorstellen können<br />

63<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


64<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


WELTBÜHNE<br />

Report<br />

VOM STIL ZUR<br />

SUBSTANZ<br />

Von BRITTA PETERSEN<br />

Fotos JOHANN ROUSSELOT<br />

Indien <strong>in</strong> der Krise – die Wirtschaft<br />

erlahmt, die Armut ist groß, die<br />

Korruption e<strong>in</strong> Ärgernis. Der neue<br />

Premier Narendra Modi will<br />

das Land verändern. Kann er das?<br />

Indien ist e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale<br />

IT-Hochburg, andererseits leben Millionen<br />

Menschen immer noch nach ihren<br />

althergebrachten Traditionen<br />

65<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


WELTBÜHNE<br />

Report<br />

Es war e<strong>in</strong>er dieser Modi-Momente:<br />

Pünktlich <strong>zu</strong> Gandhis Geburtstag<br />

am 2. Oktober griff der <strong>in</strong>dische<br />

Premierm<strong>in</strong>ister <strong>zu</strong>m Besen. Smart<br />

gekleidet wie stets, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er leuchtend<br />

hellblauen Kurta mit weißer „Nehru“-<br />

Weste, fegte er den Boden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von<br />

Dalits – den früheren „Unberührbaren“<br />

– bewohnten Slum <strong>in</strong> der <strong>in</strong>dischen<br />

Hauptstadt. Der Start se<strong>in</strong>er Kampagne<br />

„Sauberes Indien“ fiel auf den Beg<strong>in</strong>n<br />

des Dussehra-Festes, das <strong>in</strong> der h<strong>in</strong>duistischen<br />

Mythologie den Triumph des Guten<br />

über das Böse markiert.<br />

Nur wenige Tage <strong>zu</strong>vor hatten ihn<br />

20 000 Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausverkauften<br />

Madison Square Garden <strong>in</strong> New York<br />

gefeiert, was amerikanische Medien <strong>zu</strong><br />

Vergleichen mit wahlweise Rockstars<br />

oder Boxchampions h<strong>in</strong>riss. Mit e<strong>in</strong>er<br />

Show im Bollywood-Stil warb Modi<br />

nicht nur für den Produktionsstandort<br />

Indien. Der Premier machte sich auch<br />

daran, das <strong>in</strong>disch-amerikanische Verhältnis,<br />

das <strong>in</strong> den vergangenen Jahren<br />

unter se<strong>in</strong>em Vorgänger Manmohan<br />

S<strong>in</strong>gh spürbar abgekühlt war, wieder<strong>zu</strong>beleben.<br />

Ke<strong>in</strong> schlechter Auftritt für e<strong>in</strong>en<br />

Mann, der noch Anfang des Jahres<br />

<strong>in</strong> den USA wegen se<strong>in</strong>er fragwürdigen<br />

Rolle bei antimuslimischen Pogromen <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Heimatstaat Gujarat E<strong>in</strong>reiseverbot<br />

hatte.<br />

INDIENS NEUER PREMIER, seit dem<br />

26. Mai im Amt, beherrscht Symbolpolitik<br />

wie ke<strong>in</strong> Zweiter. Aber kann er auch<br />

die überhohen Erwartungen erfüllen, die<br />

das Land seit se<strong>in</strong>em überwältigenden<br />

Wahlsieg <strong>in</strong> ihn setzt? Nach fünf Monaten<br />

im Amt ist vorsichtiger Optimismus<br />

berechtigt. Mit Modi hat e<strong>in</strong> neuer, direkter<br />

und mitunter sogar mutiger Regierungsstil<br />

<strong>in</strong> Indien E<strong>in</strong><strong>zu</strong>g gehalten, der<br />

viel über den Mann aussagt, der die Probleme<br />

richtig benennt. Ihre Lösung erfordert<br />

großes Durchhaltevermögen. Dabei<br />

könnten Modi die Geister se<strong>in</strong>er Vergangenheit<br />

ebenso <strong>in</strong> die Quere kommen wie<br />

das Gespenst des Terrorismus.<br />

Zur Er<strong>in</strong>nerung: Modis H<strong>in</strong>du-nationalistische<br />

Bharatiya Janata Party erhielt<br />

bei den Parlamentswahlen im Frühjahr<br />

e<strong>in</strong>e absolute Mehrheit der Sitze. Damit<br />

beendete er die zehnjährige Herrschaft<br />

der l<strong>in</strong>ksgerichteten Kongresspartei, die<br />

<strong>in</strong> den letzten Jahren ihrer Regierungszeit<br />

Indien paralysiert hatte. Das Wirtschaftswachstum<br />

<strong>in</strong> dem Schwellenland fiel von<br />

10,26 Prozent im Jahr 2010 auf magere<br />

4,35 Prozent im Jahr 2013. Damit endete<br />

vorerst der Höhenflug Indiens, das <strong>in</strong> den<br />

Jahren <strong>zu</strong>vor mit Wachstumsraten von<br />

durchschnittlich etwa 8 Prozent <strong>zu</strong> den<br />

am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften<br />

der Welt gehörte.<br />

Der 64-jährige Modi <strong>in</strong>szenierte sich<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wahlkampagne, die durch <strong>in</strong>tensiven<br />

E<strong>in</strong>satz neuer sozialer Medien<br />

und der weitverbreiteten Mobiltelefone<br />

das <strong>junge</strong>, aufstrebende Indien ansprach,<br />

als <strong>zu</strong>packender Macher, der das Land<br />

auf den Wachstumspfad <strong>zu</strong>rückführen<br />

kann. In den ersten 100 Tagen se<strong>in</strong>er Regierungszeit<br />

hat er <strong>in</strong>nen- und außenpolitisch<br />

wichtige Schwerpunkte gesetzt und<br />

ist dabei klug vorgegangen.<br />

Gleich <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>er Amtse<strong>in</strong>führung<br />

<strong>in</strong> Delhi hat er die Staats- und Regierungschefs<br />

der asiatischen Nachbarstaaten<br />

e<strong>in</strong>geladen. Zum ersten Mal <strong>in</strong> der<br />

Geschichte Indiens nahmen alle Führer<br />

der neun Staaten der South Asian Association<br />

for Regional Cooperation an e<strong>in</strong>er<br />

solchen Zeremonie teil. Se<strong>in</strong>e ersten<br />

Auslandsreisen führten ihn <strong>in</strong> die Nachbarländer<br />

Bhutan und Nepal sowie nach<br />

Japan.<br />

Für e<strong>in</strong>en Politiker, der vor allem gewählt<br />

wurde, um die Wirtschaft wieder<br />

flott<strong>zu</strong>machen, mag es überraschend ersche<strong>in</strong>en,<br />

<strong>zu</strong> Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er Amtszeit außenpolitische<br />

Schwerpunkte <strong>zu</strong> setzen.<br />

Doch Modi hat clever kalkuliert: Die <strong>in</strong>dische<br />

Wirtschaft lässt sich nicht über<br />

Nacht reparieren. E<strong>in</strong>e Verbesserung<br />

des Verhältnisses <strong>zu</strong> den Nachbarstaaten<br />

h<strong>in</strong>gegen ist nicht nur e<strong>in</strong>e niedrig<br />

hängende Frucht, die sich leicht pflücken<br />

lässt, es ist auch e<strong>in</strong>e Gelegenheit, den<br />

Die Enttäuschung über vergleichsweise<br />

ger<strong>in</strong>ge staatliche Investitionen <strong>in</strong> das<br />

marode Verkehrsnetz ist groß. Daran<br />

ändert der Mumbai-Pune-Expressway<br />

mit se<strong>in</strong>en Raststätten nur wenig<br />

Foto: Sumit Dayal/Prospekt Photographers Agency (Seite 65)<br />

66<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


67<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


außen- und sicherheitspolitischen Eliten<br />

im In- und Ausland se<strong>in</strong>e Führungsqualitäten<br />

<strong>zu</strong> demonstrieren.<br />

Dass es dabei um mehr als nur Symbolpolitik<br />

g<strong>in</strong>g, zeigt das Ergebnis se<strong>in</strong>er<br />

Japanvisite. Japans Premier Sh<strong>in</strong>zo<br />

Abe sagte Modi Investitionen <strong>in</strong> Höhe<br />

von 34 Milliarden US-Dollar <strong>in</strong> den kommenden<br />

fünf Jahren <strong>zu</strong>, die vor allem <strong>in</strong><br />

den Ausbau der maroden <strong>in</strong>dischen Infrastruktur<br />

fließen sollen, unter anderem<br />

<strong>in</strong> den Bau e<strong>in</strong>es Hochgeschw<strong>in</strong>digkeits<strong>zu</strong>gs<br />

und 100 sogenannte Smart Cities.<br />

Brahma Chellaney, e<strong>in</strong>er der führenden<br />

außenpolitischen Denker Indiens, feierte<br />

den Besuch als „Wendepunkt“ <strong>in</strong> den bilateralen<br />

Beziehungen. „Modis Besuch<br />

<strong>in</strong> Japan hat die Beziehungen zwischen


Goldrausch<br />

<strong>in</strong> Datenbergen?<br />

Bloggen<br />

für mehr Freiheit<br />

und Social Media<br />

Die Primatenforscher<strong>in</strong><br />

Julia Fischer<br />

Die Schönen und Reichen,<br />

darunter zahlreiche Bollywoodgrößen,<br />

genießen gerne die schönen<br />

Seiten des Lebens. Und<br />

das ohne falsche Reue (oben)<br />

Die Armen können es sich nicht<br />

leisten, wählerisch <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>.<br />

Um <strong>zu</strong> überleben, gehen Millionen<br />

von ihnen auf den Straßen<br />

der Großstädte betteln (unten)<br />

beiden Ländern strategisch als Asiens<br />

aufstrebende demokratische Achse def<strong>in</strong>iert“,<br />

sagt Chellaney.<br />

E<strong>in</strong>e vertiefte Beziehung <strong>zu</strong> Japan<br />

eröffnet Indien Handlungsspielräume<br />

nicht nur <strong>in</strong> Be<strong>zu</strong>g auf e<strong>in</strong>e engere Zusammenarbeit<br />

bei der zivilen Nut<strong>zu</strong>ng<br />

der Atomkraft. Sie ist auch im Interesse<br />

beider Länder, die den Aufstieg Ch<strong>in</strong>as<br />

mit Unwohlse<strong>in</strong> beobachten – wohl wissend,<br />

dass sie ihn nicht verh<strong>in</strong>dern können.<br />

<strong>Wie</strong> das viel beschworene „asiatische<br />

Jahrhundert“ aussehen wird, wird<br />

auch davon abhängen, wie diese drei<br />

wichtigsten Länder Asiens ihr Verhältnis<br />

<strong>zu</strong>e<strong>in</strong>ander gestalten. Modi weiß, dass Indiens<br />

Rolle als Regionalmacht jedenfalls<br />

auch auf konstruktiven Beziehungen <strong>zu</strong><br />

den kle<strong>in</strong>en Nachbarstaaten beruht, die<br />

den großen Nachbarn bisher all<strong>zu</strong> oft als<br />

Hegemon empf<strong>in</strong>den.<br />

Mit se<strong>in</strong>er Reisediplomatie hat der<br />

clevere Stratege e<strong>in</strong> erstes Ziel erreicht:<br />

Zustimmung an allen Fronten. Modi, das<br />

ist der mediale E<strong>in</strong>druck, eilt von Erfolg<br />

<strong>zu</strong> Erfolg und streichelt so das Ego se<strong>in</strong>er<br />

Landsleute, das durch den langsamen<br />

Zusammenbruch der wirtschaftlichen Erfolgsstory<br />

Indiens <strong>in</strong> den vergangenen<br />

Jahren angeschlagen war.<br />

E<strong>in</strong>zig das Verhältnis <strong>zu</strong> Pakistan gefährdet<br />

se<strong>in</strong>e Pläne – und das nicht nur,<br />

weil der Nachbar seit jeher Indiens Nemesis<br />

ist. Der Ab<strong>zu</strong>g der Nato-Truppen aus<br />

Afghanistan, das Pakistans Armee nach<br />

wie vor als se<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>terhof betrachtet,<br />

und die Ankündigung der Terrororganisation<br />

Al Qaida, e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dischen Ableger<br />

<strong>zu</strong> gründen, lassen Modi Schlimmes<br />

befürchten.<br />

Während Pakistans Regierungschef<br />

Nawaz Sharif massiv unter Druck steht<br />

und angesichts von Massendemonstrationen<br />

kaum mehr handlungsfähig sche<strong>in</strong>t,<br />

hat sich <strong>in</strong> Indien e<strong>in</strong> politischer Konsens<br />

gebildet, der „klare Kante“ gegenüber<br />

Pakistan fordert. Entsprechend hat<br />

Modi kürzlich Gespräche mit Islamabad<br />

abgesagt, nachdem der pakistanische<br />

Botschafter <strong>in</strong> Indien sich mit separatistischen<br />

Führern aus dem zwischen beiden<br />

Ländern umstrittenen Kaschmir getroffen<br />

hatte.<br />

Obwohl der Schritt von den <strong>in</strong>dischen<br />

Medien teilweise kritisiert wurde,<br />

mag es dennoch e<strong>in</strong> geschickter Schach<strong>zu</strong>g<br />

gewesen se<strong>in</strong>. Modi konnte Härte demonstrieren<br />

<strong>in</strong> der Gewissheit, dass die<br />

bilateralen Gespräche vermutlich ergebnislos<br />

geblieben wären, da derzeit unklar<br />

ist, ob Nawaz Sharif im Amt bleibt und<br />

welches Spiel die pakistanische Armee<br />

spielt.<br />

DOCH DAMIT s<strong>in</strong>d Indiens Probleme<br />

längst nicht erledigt. Es ist <strong>zu</strong> erwarten,<br />

dass Al Qaidas Ankündigung Taten <strong>in</strong><br />

Form von Anschlägen folgen <strong>werden</strong>.<br />

Al Qaida mag sich selbst überschätzen,<br />

wenn die Terrororganisation glaubt, dass<br />

die Aussicht auf e<strong>in</strong> südasiatisches Kalifat<br />

nennenswerte Unterstüt<strong>zu</strong>ng <strong>in</strong> Indien<br />

f<strong>in</strong>den könnte. Doch angesichts<br />

der Größe Indiens und der engen Verb<strong>in</strong>dung<br />

zwischen Al Qaida und verschiedenen<br />

pakistanischen Terrorgruppen<br />

sche<strong>in</strong>t es nur noch e<strong>in</strong>e Frage der<br />

Zeit, bis e<strong>in</strong> neuerliches Attentat Indien<br />

erschüttern wird.<br />

Dies würde Narendra Modi vor<br />

e<strong>in</strong>e echte Herausforderung stellen. Angesichts<br />

der Stimmung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Land<br />

käme er um e<strong>in</strong>e militärische Antwort<br />

kaum herum. Strategische Analysten wie<br />

C. Raja Mohan fordern daher e<strong>in</strong>e engere<br />

Zusammenarbeit mit den USA, um den<br />

<strong>in</strong>ternationalen Terrorismus e<strong>in</strong><strong>zu</strong>dämmen.<br />

Ungeachtet dessen, dass <strong>in</strong> Indien<br />

wenig Bereitschaft besteht, den Westen<br />

beim Kampf gegen den „Islamischen<br />

Staat“ <strong>zu</strong> unterstützen.<br />

Gleichzeitig muss Modi <strong>in</strong>nenpolitisch<br />

aktiv <strong>werden</strong>. Gerne wird er jene<br />

Geschichten <strong>in</strong> Indiens Medien lesen, die<br />

se<strong>in</strong> Image als nicht korrupter Macher befördern,<br />

der mit dem alten Schlendrian<br />

aufräumt. So soll der Premier mitunter<br />

Wissen direkt<br />

vom Erzeuger.<br />

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Leibniz-Journal<br />

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3/2014<br />

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Bürger modernisieren<br />

die Forschung<br />

Der Wert<br />

der Vielfalt<br />

Die Bedeutung<br />

der Biodiversität<br />

für den Menschen<br />

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G 49121<br />

1/2014<br />

Das Magaz<strong>in</strong> der Leibniz-Geme<strong>in</strong>schaft<br />

<strong>Wie</strong> die Digitalisierung<br />

unsere Gesellschaft verändert<br />

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Science 2.0<br />

Affengesellschaft<br />

69<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


WELTBÜHNE<br />

Report<br />

persönlich <strong>in</strong>spizieren, ob se<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ister<br />

und Spitzenbeamten se<strong>in</strong>e Anweisung<br />

befolgen und pünktlich um 9 Uhr<br />

morgens ihren Dienst im Büro antreten.<br />

E<strong>in</strong> M<strong>in</strong>ister, der <strong>in</strong> Jeans auf dem Weg<br />

<strong>zu</strong>m Flughafen war, wurde angeblich von<br />

Modi <strong>zu</strong>rückbeordert, um sich angemessen<br />

<strong>zu</strong> kleiden.<br />

Diese Anekdoten, die von Modis PR-<br />

Masch<strong>in</strong>erie sorgfältig gestreut <strong>werden</strong>,<br />

verfehlten ihre Wirkung <strong>in</strong> den ersten<br />

Wochen se<strong>in</strong>er Amtszeit nicht. Obwohl<br />

bis dah<strong>in</strong> relativ wenig konkrete Initiativen<br />

<strong>zu</strong> erkennen waren.<br />

Das hat sich <strong>in</strong>zwischen geändert.<br />

Modi wählte den <strong>in</strong>dischen Unabhängigkeitstag<br />

am 15. August für e<strong>in</strong>e Rede, <strong>in</strong><br />

der er nicht nur se<strong>in</strong>e Vision für Indien<br />

darlegte, sondern auch konkrete Maßnahmen<br />

ankündigte.<br />

Die Abschaffung der Planungskommission<br />

ist das stärkste Signal an alle, die<br />

auf e<strong>in</strong>e Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik<br />

gewartet haben. Die Planungskommission,<br />

die unter anderem die Fünf-<br />

Jahres-Pläne für die Regierung erstellte,<br />

ist e<strong>in</strong> Relikt aus sozialistischer Zeit und<br />

galt <strong>zu</strong>m Schluss vor allem als E<strong>in</strong>richtung,<br />

<strong>in</strong> der die Regierung wichtige Leute<br />

mit Posten versorgen konnte. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

ist bis heute unklar, was an die Stelle der<br />

Kommission treten soll. Die vage Andeutung,<br />

dass sie durch e<strong>in</strong>en Th<strong>in</strong>ktank ersetzt<br />

<strong>werden</strong> könnte, überzeugte <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest<br />

die Wirtschaftszeitung M<strong>in</strong>t nicht.<br />

In e<strong>in</strong>em Kommentar zitierte sie gallig<br />

den ehemaligen ch<strong>in</strong>esischen Staatsführer<br />

Deng Xiaop<strong>in</strong>g mit den Worten: „Es<br />

ist egal, ob e<strong>in</strong>e Katze schwarz oder weiß<br />

ist, solange sie Mäuse fängt.“<br />

GRÖSSERE WIRKUNG könnte Modis Ankündigung<br />

haben, jeden <strong>in</strong>dischen Haushalt<br />

mit e<strong>in</strong>em Bankkonto aus<strong>zu</strong>statten.<br />

Da<strong>zu</strong> muss man wissen: Von 1,2 Milliarden<br />

Indern haben nur etwa 684 Millionen<br />

e<strong>in</strong> Bankkonto. In e<strong>in</strong>er ersten Phase<br />

soll jeder Haushalt im Land e<strong>in</strong> kostenfreies<br />

Bankkonto erhalten. In der zweiten<br />

Phase sollen auf die Armen <strong>zu</strong>geschnittene<br />

F<strong>in</strong>anzprodukte dafür sorgen, dass<br />

die Konten nicht ungenutzt bleiben. Das<br />

Interesse der Bürger ist enorm: Gleich am<br />

ersten Tag stürmten 15 Millionen Menschen<br />

die rund 80 000 extra hierfür e<strong>in</strong>gerichteten<br />

Regierungsstellen und meldeten<br />

sich für das Programm an.<br />

Die Ökonomen Akshay Gakhar und<br />

Geetanjali Nataraj s<strong>in</strong>d überzeugt, dass<br />

das Programm da<strong>zu</strong> beitragen könnte,<br />

„viele Industrien <strong>zu</strong> formalisieren“, weil<br />

es helfen wird, „E<strong>in</strong>kommen <strong>zu</strong> katalogisieren<br />

und <strong>zu</strong> besteuern“.<br />

Dass Modi es ernst me<strong>in</strong>t mit se<strong>in</strong>er<br />

Reformagenda, die auch die Armen mit<br />

auf den Wachstumspfad nehmen will,<br />

machte er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rede <strong>zu</strong>m Unabhängigkeitstag<br />

deutlich. Er sprach über e<strong>in</strong><br />

Thema, über das man <strong>in</strong> Indien nicht gern<br />

spricht: Toiletten.<br />

„Brüder und Schwestern, wir leben<br />

im 21. Jahrhundert, aber viele unserer<br />

Mütter und Schwestern erledigen<br />

‚ihr Geschäft‘ nach wie vor auf freiem<br />

Feld. Können wir nicht e<strong>in</strong>fach Toiletten<br />

bauen? Ihr müsst schockiert se<strong>in</strong>,<br />

den Premierm<strong>in</strong>ister vom Roten Fort<br />

aus über Sauberkeit und die Notwendigkeit<br />

des Toilettenbaus sprechen <strong>zu</strong><br />

hören. Aber es ist me<strong>in</strong>e tiefe Überzeugung.<br />

Ich komme aus e<strong>in</strong>er armen Familie,<br />

ich habe Armut gesehen. Die Armen<br />

brauchen Respekt, und das fängt<br />

mit Sauberkeit an.“<br />

Auch bei e<strong>in</strong>em weiteren Thema bewies<br />

Modi Mut. In e<strong>in</strong>em Land, das <strong>in</strong><br />

den vergangenen Jahren durch zahlreiche<br />

Massenvergewaltigungen an <strong>junge</strong>n<br />

Frauen über sich selbst schockiert ist,<br />

stellte er Fragen, die Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong>nen kaum<br />

besser hätten formulieren können: „Eltern<br />

fragen ihre Töchter hundert Fragen,<br />

aber haben sie sich jemals getraut, ihren<br />

Sohn <strong>zu</strong> fragen, warum er ausgeht und<br />

woh<strong>in</strong> und wer se<strong>in</strong>e Freunde s<strong>in</strong>d? Auch<br />

e<strong>in</strong> Vergewaltiger ist der Sohn von jemandem.<br />

Er hat Eltern. Haben wir jemals<br />

über das Geschlechtsverhältnis <strong>in</strong> diesem<br />

Land nachgedacht? Auf 1000 Jungen<br />

<strong>werden</strong> 940 Mädchen geboren. Wer<br />

verursacht dieses Ungleichgewicht? Gott<br />

Die Hiranandani Gardens s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong><br />

S<strong>in</strong>nbild des neuen Mumbais. In<br />

den Wohn- und Bürokomplexen<br />

wohnt und arbeitet die gehobene<br />

Mittelschicht des Landes<br />

70<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


71<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


WELTBÜHNE<br />

Report<br />

Trotz e<strong>in</strong>er hohen Inflation s<strong>in</strong>d die<br />

Preise <strong>in</strong> Indien im Vergleich <strong>zu</strong><br />

Industrieländern immer noch<br />

niedrig. Indiens Wirtschaft liegt<br />

nach Angaben des IWF auf Platz 12<br />

den Nachwahlen e<strong>in</strong>e Niederlage. „Die<br />

Wähler haben der Bharatiya Janata Partei<br />

e<strong>in</strong>e Lektion erteilt, <strong>in</strong>dem sie Kandidaten<br />

der säkularen Parteien bevor<strong>zu</strong>gten“,<br />

sagt T. V. Rajeswar, der frühere<br />

Gouverneur des <strong>in</strong>dischen Bundesstaats<br />

Uttar Pradesh.<br />

Fotos: Johann Rousselot/Laif (Seiten 64 bis 72), Privat (Autor<strong>in</strong>)<br />

ganz bestimmt nicht. Das Ungleichgewicht<br />

weist auf e<strong>in</strong>en Genozid an weiblichen<br />

Föten und den verdorbenen Geistes<strong>zu</strong>stand<br />

des 21. Jahrhunderts h<strong>in</strong>.<br />

Davon müssen wir uns befreien.“<br />

Starke Worte, die auf e<strong>in</strong>en Ehrgeiz<br />

und auch auf e<strong>in</strong>en moralischen Rigorismus<br />

h<strong>in</strong>weisen, den Indien seit Mahatma<br />

Gandhi nicht mehr bei e<strong>in</strong>em Politiker<br />

erlebt hat. Man mag über solche „Ruck“-<br />

Reden geteilter Me<strong>in</strong>ung se<strong>in</strong>. In Indien<br />

verfehlten Modis Worte <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest kurzfristig<br />

ihre Wirkung nicht. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

weist der renommierte Journalist Manoj<br />

Joshi <strong>zu</strong> Recht darauf h<strong>in</strong>, dass Modi viel<br />

von „moralischer Korruption“ redet, das<br />

Thema der „monetären Korruption“ bisher<br />

aber kaum angeschnitten hat. Sie ist<br />

e<strong>in</strong>e der größten Bremsen für die Wirtschaft<br />

und verschreckt vor allem ausländische<br />

Investoren.<br />

„KORRUPTION ist so weit verbreitet, dass<br />

sie nicht von e<strong>in</strong>em wachsamen Führer<br />

alle<strong>in</strong> gestoppt <strong>werden</strong> kann. Sie muss<br />

auf Ebene der Institutionen angegangen<br />

<strong>werden</strong>“, sagt Joshi. Und Korruption ist<br />

nicht das e<strong>in</strong>zige Problem, <strong>zu</strong> dessen<br />

Lösung Modi Mitstreiter und neue Strukturen<br />

braucht.<br />

Arv<strong>in</strong>d Kumar, e<strong>in</strong>er der Wahlkampfmanager<br />

Modis, sagt, dass der<br />

personalisierte Wahlkampf da<strong>zu</strong> geführt<br />

habe, dass der Premier alle<strong>in</strong> als Wahlsieger<br />

betrachtet wird, nicht aber se<strong>in</strong>e Partei.<br />

Nun steht er nicht nur vor dem Problem,<br />

dass se<strong>in</strong>e Bharatiya Janata Partei<br />

nicht über genügend qualifiziertes Personal<br />

verfügt, um alle wichtigen Posten<br />

<strong>zu</strong> besetzen. Auch muss er die Hitzköpfe<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Partei unter Kontrolle br<strong>in</strong>gen,<br />

die nicht e<strong>in</strong>sehen wollen, dass der überwältigende<br />

Wahlsieg vor allem auf Modis<br />

wirtschaftspolitischem Reformversprechen<br />

beruht und nicht etwa auf e<strong>in</strong>er gesteigerten<br />

Bereitschaft der Wähler für<br />

e<strong>in</strong>e „H<strong>in</strong>duisierung“ des Bildungskanons<br />

oder gar kommunale Gewalt.<br />

Bei den Nachwahlen im September<br />

<strong>in</strong> den Bundesstaaten Uttar Pradesh,<br />

Rajasthan und Gujarat versuchten führende<br />

Politiker der Bharatiya Janata<br />

Partei, unter anderem deren Präsident<br />

Amit Shah, mit antimuslimischen Reden<br />

<strong>zu</strong> punkten. Doch ohne Erfolg. In allen<br />

drei Bundesstaaten erlitt Modis Partei <strong>in</strong><br />

FÜR MODI sollte dies Warnung genug<br />

se<strong>in</strong>. Auch wenn er aufgrund se<strong>in</strong>er eigenen<br />

Vergangenheit als Mitglied der<br />

H<strong>in</strong>du-nationalistischen Kaderorganisation<br />

Rashtriya Swayamsevak Sangh den<br />

H<strong>in</strong>dutva-Brigaden näherstehen dürfte,<br />

als se<strong>in</strong> sorgfältig gepflegtes neues Image<br />

es heute <strong>zu</strong>lässt, ist er doch klug genug<br />

<strong>zu</strong> wissen, dass er damit Indien weder auf<br />

den Wachstumspfad <strong>zu</strong>rückführen noch<br />

<strong>in</strong>ternational <strong>zu</strong> mehr Gewicht verhelfen<br />

wird.<br />

„Modi muss sicherstellen, dass er<br />

jetzt der Ma<strong>in</strong>stream der Bharatiya Janata<br />

Partei ist“, sagt der Journalist Manoj<br />

Joshi. Das hätte den Vorteil, dass damit<br />

auch der „alte“ Modi, der die Muslime<br />

im In- und Ausland das Fürchten lehrte<br />

und der <strong>in</strong> den USA E<strong>in</strong>reiseverbot hatte,<br />

dorth<strong>in</strong> verfrachtet wird, wo er h<strong>in</strong>gehört:<br />

aufs Abstellgleis der Geschichte.<br />

BRITTA PETERSEN ist Senior<br />

Fellow bei der Observer Research<br />

Foundation <strong>in</strong> Neu-Delhi. Sie<br />

hofft, dass Indien Modi ebenso<br />

verändern wird wie Modi Indien<br />

72<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


TERRORMIS<br />

DAS WELTGESCHEHEN ABONNIEREN<br />

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WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

JENSEITS<br />

VON EDEN<br />

Tausende verlassen jedes Jahr ihre Heimat.<br />

Sie wollen e<strong>in</strong> besseres Leben, wollen<br />

Armut und Krieg entfliehen. Der Fotograf<br />

Carlos Spottorno zeigt, wie Europa sich<br />

vor diesen Flüchtl<strong>in</strong>gen abschottet<br />

Mithilfe professioneller Schlepperbanden hoffen Pakistaner, Syrer oder Nigerianer von Libyen aus<br />

nach Europa <strong>zu</strong> gelangen. Die italienische Mar<strong>in</strong>e fischt die Flüchtl<strong>in</strong>ge aus dem Mittelmeer.<br />

Lampedusa ist das vorläufige Ende der Odyssee<br />

74<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Für Tausende <strong>junge</strong>r Afrikaner ist der Berg Gurugu <strong>in</strong> Marokko Zwischenstation auf dem Weg nach<br />

Europa. Viele verbr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> der Zeltstadt Monate, wenn nicht gar Jahre – das Ziel stets im Blick


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

Oben: Immer wieder versuchen Flüchtl<strong>in</strong>ge von Libyen aus das Meer nach Europa <strong>zu</strong> überqueren.<br />

Meist <strong>werden</strong> die überfüllten Boote im Mittelmeer von der italienischen Mar<strong>in</strong>e aufgebracht<br />

Rechts: Melilla, e<strong>in</strong>e spanische Exklave <strong>in</strong> Nordafrika, gilt vielen als Tor nach Europa. Tausende Marokkaner<br />

fahren täglich <strong>in</strong> die Stadt, um dort <strong>zu</strong> arbeiten. E<strong>in</strong> besonderer Pass erlaubt ihnen den Grenzübertritt<br />

78<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Mit e<strong>in</strong>em Seemannsgebet beg<strong>in</strong>nt im Morgengrauen der Dienst auf der italienischen Fregatte Grecale.<br />

Die Aufgabe der Matrosen ist es, Flüchtl<strong>in</strong>gsboote im Mittelmeer auf<strong>zu</strong>spüren


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

Harmanli an der bulgarisch-türkischen Grenze ist das größte Flüchtl<strong>in</strong>gslager <strong>in</strong> Bulgarien. Mittlerweile<br />

leben <strong>in</strong> der ehemaligen Militärkaserne mehr als 1600 Menschen – die meisten kommen aus Syrien<br />

Sie kommen aus Marokko, Mali, dem Jemen und<br />

der Elfenbe<strong>in</strong>küste; aus Syrien, Afghanistan und<br />

dem Irak. Täglich versuchen Zehntausende Menschen<br />

verzweifelt nach Europa <strong>zu</strong> gelangen – auf Flößen,<br />

<strong>zu</strong> Fuß und <strong>in</strong> Lastwagen <strong>zu</strong>sammengepfercht. Sie<br />

verlassen ihre Heimat, weil Armut, Krieg und Hunger<br />

ihr Leben unerträglich gemacht haben. E<strong>in</strong>ige von ihnen<br />

s<strong>in</strong>d jahrelang auf der Reise und <strong>werden</strong> von e<strong>in</strong>em<br />

Schleuser <strong>zu</strong>m nächsten gereicht. Die Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />

s<strong>in</strong>d der Gnade skrupelloser Krim<strong>in</strong>eller ausgeliefert,<br />

die sie als Ware betrachten und ihre Verzweiflung ausnutzen.<br />

Sie riskieren alles, manches Mal sogar ihr Leben,<br />

um <strong>in</strong> das verheißene Land <strong>zu</strong> gelangen – Europa.<br />

Die Europäische Union aber schottet sich ab. Ihre<br />

Außengrenzen – etwa <strong>in</strong> Italien, Spanien, Griechenland<br />

und Bulgarien – <strong>werden</strong> mit allen Mitteln gesichert.<br />

Ke<strong>in</strong>er soll <strong>in</strong> die EU gelangen, den man dort<br />

nicht haben will.<br />

Doch wer darf re<strong>in</strong>, und wer muss draußen bleiben?<br />

Für e<strong>in</strong>ige EU-Staaten ist E<strong>in</strong>wanderung e<strong>in</strong>e überlebenswichtige<br />

Notwendigkeit angesichts überalterter<br />

Bevölkerungen. Andere sehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ungezügelten<br />

E<strong>in</strong>wanderung e<strong>in</strong>e Bedrohung für kle<strong>in</strong>ere Kommunen<br />

und für die kulturelle Identität der EU-Länder.<br />

In Sonntagsreden beschwören Politiker Gerechtigkeitsstandards<br />

oder den europäischen Wertekonsens.<br />

Damit aber <strong>werden</strong> sie die Männer, Frauen und K<strong>in</strong>der<br />

nicht abhalten, die an der libyschen Küste an Bord überfüllter<br />

Boote gehen, um e<strong>in</strong>e gefährliche Reise über das<br />

Mittelmeer an<strong>zu</strong>treten. Ebenso wenig wie jene Flüchtl<strong>in</strong>ge,<br />

die <strong>in</strong> Wäldern <strong>in</strong> der Nähe der Städte Melilla und<br />

Ceuta überleben, den spanischen Exklaven <strong>in</strong> Nordafrika.<br />

Oder jene Familien, die nachts die Balkanberge<br />

überqueren.<br />

Der Fotograf Carlos Spottorno ist an die Südgrenzen<br />

der EU gereist und hat den Alltag jener dokumentiert,<br />

die diese Grenzen bewachen. Und die Schicksale<br />

derer, die versuchen, genau diese Grenzen <strong>zu</strong> überw<strong>in</strong>den.<br />

Es ist e<strong>in</strong> Drama, das sich vor Europas Toren<br />

abspielt. In e<strong>in</strong>er Europäischen Union, die nach <strong>in</strong>nen<br />

grenzenlos ist, aber ihre äußeren Grenzen so streng<br />

bewacht wie nie <strong>zu</strong>vor.<br />

Judith Hart<br />

Fotos: Carlos Spottorno/Panos Pictures (Seiten 75 bis 82)<br />

82<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


KAPITAL<br />

„ Die Mehrheit<br />

der <strong>Deutsche</strong>n ist<br />

neuerd<strong>in</strong>gs für die<br />

Erhöhung des<br />

Verteidigungsetats.<br />

Das ist wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

das erste Mal<br />

seit der Kubakrise “<br />

Airbus-Chef Thomas Enders im <strong>Cicero</strong>-Gespräch, Seite 92<br />

83<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

DER WAHRE MISTER KARSTADT<br />

Middelhoff, Berggruen, Benko: Hellmut Patzelt muss als Betriebsratschef schon wieder<br />

über die Zukunft se<strong>in</strong>er Kollegen verhandeln. Aufgeben ist für ihn ke<strong>in</strong>e Option<br />

Von TIL KNIPPER<br />

H<strong>in</strong>ter Hellmut Patzelts Schreibtisch<br />

im Betriebsratsbüro der<br />

Fuldaer Karstadt-Filiale hängt<br />

e<strong>in</strong>e Seite der Süddeutschen Zeitung. Sie<br />

handelt davon, wie viel Zeit Menschen <strong>in</strong><br />

Sit<strong>zu</strong>ngen verschwenden. Auf der Seite<br />

ist e<strong>in</strong>e Illustration mit Tieren <strong>zu</strong> sehen,<br />

die an e<strong>in</strong>em Konferenztisch sitzen. Am<br />

Kopfende sitzt das Nashorn, man sieht<br />

aber nur das Namensschild: René Rh<strong>in</strong>o,<br />

Funktionsbezeichnung „Hohes Tier“.<br />

Wenn man als Besucher <strong>zu</strong> lange<br />

auf das Bild guckt, wirft Patzelt sofort<br />

e<strong>in</strong>: „Das ist ke<strong>in</strong>e Anspielung auf René<br />

Benko, unseren neuen Eigentümer.“<br />

Hellmut Patzelt ist der Vorsitzende<br />

aller Betriebsräte aller Karstadt-Filialen<br />

<strong>in</strong> Deutschland. 60 Jahre alt, 46 davon<br />

bei Karstadt. Aber wie es diesmal weitergeht,<br />

wagt er nicht <strong>zu</strong> prophezeien. Seit<br />

zehn Jahren steht er an der Spitze des<br />

Betriebsrats, drei Sanierungsverhandlungen<br />

hat er schon mit der Arbeitgeberseite<br />

führen müssen. Er war Zeuge, als Thomas<br />

Middelhoff 2008 die Konzernleitung<br />

übernahm – und Karstadt <strong>in</strong> die Insolvenz<br />

führte. Er erlebte, wie 2010 Politik<br />

und Medien Nicolas Berggruen <strong>zu</strong>m<br />

Mister Karstadt ausriefen – und wie dieser<br />

sich dann davonmachte.<br />

Nun heißt der Investor René Benko,<br />

e<strong>in</strong> Immobilienmilliardär. Patzelt hat<br />

ihn schon getroffen, über die Zukunft<br />

se<strong>in</strong>er Kollegen wird er <strong>in</strong> den nächsten<br />

Wochen mit Benkos Managern verhandeln,<br />

se<strong>in</strong>e vierte Sanierungsrunde.<br />

2000 Arbeitsplätze stehen auf dem<br />

Spiel. Aufsichtsratschef Stephan Fanderl<br />

hat angekündigt, dass mehr als 20 der<br />

83 Warenhausstandorte überprüft <strong>werden</strong>.<br />

Die Hauptverwaltung <strong>in</strong> Essen gilt<br />

als überbesetzt.<br />

Patzelt will da<strong>zu</strong> nicht Stellung nehmen.<br />

Er ist ke<strong>in</strong> Freund von Spekulationen,<br />

er ist aber auch ke<strong>in</strong> starrs<strong>in</strong>niger<br />

Gewerkschaftsideologe, sondern sieht<br />

se<strong>in</strong>e Aufgabe pragmatisch: „Als stellvertretender<br />

Aufsichtsratsvorsitzender<br />

weiß ich, dass wir um e<strong>in</strong>e Sanierung<br />

nicht herumkommen, als Betriebsrat<br />

muss ich sie dann bestmöglich gestalten.“<br />

Ob Sanierungsverhandlungen für ihn <strong>in</strong>zwischen<br />

Rout<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d? „Ne<strong>in</strong>, ich weiß,<br />

was auf mich <strong>zu</strong>kommt, aber <strong>zu</strong>r Rout<strong>in</strong>e<br />

darf das nie <strong>werden</strong>. Das wäre grausam.“<br />

DER CHEF DES BETRIEBSRATS ist e<strong>in</strong>e<br />

Kämpfernatur, gleichzeitig muss er viele<br />

Interessen vere<strong>in</strong>en. Manche Mitarbeiter<br />

wollen bei weiteren Kür<strong>zu</strong>ngen laut<br />

protestieren, andere s<strong>in</strong>d bereit, weitere<br />

E<strong>in</strong>schnitte h<strong>in</strong><strong>zu</strong>nehmen, sofern sie ihren<br />

Arbeitsplatz behalten. Dem Management<br />

versucht er <strong>zu</strong> vermitteln, dass es<br />

dem Weihnachtsgeschäft, dem wichtigsten<br />

Quartal des Jahres, schaden könnte,<br />

wenn <strong>zu</strong> viel gespart wird.<br />

Patzelt kann zwischen den Fronten<br />

vermitteln. Die Gewerkschaft Verdi, die<br />

Kollegen, aber auch die Manager hören<br />

ihm <strong>zu</strong>. Den Respekt hat er sich erarbeitet,<br />

weil er unbequem ist.<br />

Und es gibt wahrsche<strong>in</strong>lich kaum<br />

jemanden, der das Unternehmen so gut<br />

kennt. Mit 14 hat er angefangen. 1968<br />

war das, Deutschland erlebte das Wirtschaftswunder,<br />

Rolltreppen waren noch<br />

etwas Besonderes, und <strong>in</strong> die Regale kamen<br />

die ersten Farbfernseher. Patzelt<br />

begann <strong>in</strong> Fulda se<strong>in</strong>e kaufmännische<br />

Lehre. Bald setzte er sich für die Belange<br />

se<strong>in</strong>er Kollegen e<strong>in</strong>.<br />

Abschalten fällt ihm schwer. Wenn er<br />

Urlaub im Ausland macht mit se<strong>in</strong>er Familie<br />

oder Freunden, <strong>werden</strong> Innenstädte<br />

und E<strong>in</strong>kaufszentren weiträumig umfahren,<br />

damit er nicht sofort <strong>in</strong> die dortigen<br />

Kaufhäuser rennt, um den Standort<br />

e<strong>in</strong>er Analyse <strong>zu</strong> unterziehen. Karstadt<br />

ist se<strong>in</strong> Leben. Er glaubt an die Zukunft<br />

des Geschäftsmodells Warenhaus <strong>in</strong><br />

Deutschland, trotz des immer härteren<br />

Wettbewerbs durch Onl<strong>in</strong>eplattformen,<br />

Discounter und E<strong>in</strong>zelhandel. Kaufhof<br />

macht doch sogar Gew<strong>in</strong>n. „Wir müssen<br />

jetzt nur Herrn Benko davon überzeugen,<br />

damit er Spaß am Betrieb von Warenhäusern<br />

bekommt“, sagt Patzelt.<br />

Man merkt ihm auf den ersten Blick<br />

nicht an, wie anstrengend die Dauerkrise<br />

bei Karstadt für ihn ist, weil er als passionierter<br />

Langstreckenläufer äußerlich<br />

e<strong>in</strong>en fitten E<strong>in</strong>druck macht. 60 000 Kilometer<br />

im Jahr fährt er h<strong>in</strong> und her.<br />

Flensburg, Rosenheim, Mülheim, Berl<strong>in</strong>,<br />

er möchte <strong>in</strong> den Filialen Präsenz zeigen.<br />

„Die Karstadt-Mitarbeiter, das s<strong>in</strong>d<br />

die eigentlichen Helden der vergangenen<br />

Jahre“, wiederholt Patzelt immer wieder.<br />

Daraus zieht er se<strong>in</strong>e Motivation, auch<br />

wenn ihn Mitarbeiter wieder und wieder<br />

fragen, wie es weitergehen soll? „Ich<br />

muss den Leuten immer sagen: Wir kriegen<br />

das h<strong>in</strong> und im H<strong>in</strong>terkopf darüber<br />

nachdenken, was …“, er beendet den Satz<br />

nur mit e<strong>in</strong>em hörbaren Seufzer.<br />

Illusionen gibt sich Patzelt nicht h<strong>in</strong>.<br />

Er geht selbst nächstes Jahr <strong>in</strong> den Ruhestand.<br />

Am Ende wäre es für ihn schon<br />

e<strong>in</strong> Erfolg, wenn er sagen kann: „Ich<br />

habe diese Sanierung so gestalten können,<br />

dass sie nicht so hart e<strong>in</strong>geschlagen<br />

ist, wie ursprünglich gedacht.“<br />

Passend da<strong>zu</strong> wird <strong>in</strong> der Zeitung<br />

h<strong>in</strong>ter ihm die Hexenszene aus Macbeth<br />

zitiert. Auf die Frage der ersten, wann<br />

man sich wieder treffe, antwortet die<br />

zweite: „Wenn der Wirrwarr ist zerronnen,<br />

Schlacht verloren und gewonnen.“<br />

TIL KNIPPER leitet das Ressort Kapital und<br />

hatte <strong>in</strong> acht Jahren mehr Arbeitgeber als<br />

Hellmut Patzelt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ganzen Karriere<br />

Foto: Oliver Rüther für <strong>Cicero</strong><br />

84<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

PINK UND TAFF<br />

Vom Kriegsflüchtl<strong>in</strong>g <strong>zu</strong>r Millionär<strong>in</strong> mit Villa und Pool: Jasm<strong>in</strong> Taylor führt ihr eigenes<br />

Reiseunternehmen. Nun möchte sie ihren Erfolg teilen und anderen Migrant<strong>in</strong>nen helfen<br />

Von DANIELA SINGHAL<br />

Es ist nicht ihre Liebl<strong>in</strong>gsfarbe, aber<br />

trotzdem ist <strong>in</strong> der Zentrale alles<br />

p<strong>in</strong>k. Die Wände, die Stühle, der<br />

Deckel auf der Wasserkaraffe, die Sonnenschirme<br />

und auch die Rosen im Garten<br />

der alten Villa im Berl<strong>in</strong>er Westend.<br />

Und Jasm<strong>in</strong> Taylor selbst auch! Die<br />

knallige Farbe ihres Kleides passt <strong>zu</strong><br />

den dunklen Haaren und Augen der gebürtigen<br />

Iraner<strong>in</strong>. Ist P<strong>in</strong>k deshalb die<br />

Farbe ihres Unternehmens JT Touristik?<br />

„Ne<strong>in</strong>, wir wollen gezielt Frauen ansprechen,<br />

weil sie oft die Entscheidung für<br />

e<strong>in</strong>en Urlaubsort treffen. Deshalb haben<br />

wir e<strong>in</strong>e fem<strong>in</strong><strong>in</strong>e Farbe gewählt“, sagt<br />

die Unternehmer<strong>in</strong>.<br />

Schon als K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Teheran träumte<br />

Jasm<strong>in</strong> Taylor von e<strong>in</strong>em Leben <strong>in</strong> Europa.<br />

Als sie 13 Jahre alt war, begann die<br />

iranische Revolution, anschließend der<br />

Krieg gegen den Irak. „Da fielen täglich<br />

Bomben. Auf den Straßen Teherans sahen<br />

wir so viel Blut und Tote. E<strong>in</strong> normales<br />

Leben war nicht mehr möglich.“ Ihre<br />

Eltern beschlossen, die damals 17-Jährige<br />

nach Deutschland <strong>zu</strong> schicken. Sie<br />

wollten später nachkommen. Jasm<strong>in</strong> Taylor<br />

verließ Heimat und Familie und flüchtete<br />

<strong>in</strong> die Bundesrepublik. Ihre Eltern<br />

kamen nie nach, da der Vater an Krebs<br />

erkrankte und starb.<br />

Heute ist Taylor Ende 40, ihr genaues<br />

Alter will sie nicht verraten. In der<br />

1000 Quadratmeter großen Berl<strong>in</strong>er Villa<br />

mit firmeneigenem Pool bef<strong>in</strong>det sich<br />

nicht nur der Firmensitz, sondern auch<br />

ihre Privatwohnung. Taylor, Gründer<strong>in</strong><br />

und Alle<strong>in</strong>eigentümer<strong>in</strong> des Unternehmens,<br />

setzte 2013 120 Millionen Euro<br />

um. Prognose für 2014: 150 Millionen.<br />

Exquisiter Pauschalurlaub <strong>zu</strong> erschw<strong>in</strong>glichen,<br />

tagesaktuellen Preisen,<br />

das ist ihr Geschäft. Das Unternehmen<br />

beschäftigt etwa 50 Mitarbeiter und bietet<br />

Reisen <strong>in</strong> 135 Länder an. 2011 wurde<br />

sie vom Travel Industry Club als erste<br />

Frau überhaupt <strong>zu</strong>r Reisemanager<strong>in</strong> des<br />

Jahres gewählt.<br />

Ihr deutsches Leben begann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

kle<strong>in</strong>en Wohnung <strong>in</strong> Bonn. Taylor<br />

besuchte e<strong>in</strong> halbes Jahr e<strong>in</strong>en Sprachkurs,<br />

arbeitete Vollzeit als Zimmermädchen<br />

und paukte so lange, bis sie<br />

im zweiten Anlauf die Aufnahmeprüfung<br />

fürs Gymnasium bestand. Alle<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fremden Land, hatte sie ke<strong>in</strong><br />

Heimweh? „Doch sehr, aber das ist wie<br />

Liebeskummer: Man denkt, dass man<br />

daran stirbt, aber weiß, dass es irgendwann<br />

aufhört“, sagt Taylor. Nach dem<br />

Abitur studierte sie <strong>in</strong> den USA Psychologie<br />

und Wirtschaftswissenschaften. Danach<br />

kehrte sie nach Deutschland <strong>zu</strong>rück,<br />

um sich selbstständig <strong>zu</strong> machen. Es gab<br />

zwischendurch auch e<strong>in</strong>e Hochzeit und<br />

dann e<strong>in</strong>e Scheidung, aber darüber will<br />

sie nicht sprechen.<br />

MIT NICHTS AUSSER e<strong>in</strong>em Gewerbesche<strong>in</strong><br />

und ihrem Computer machte<br />

sie sich 2002 selbstständig. „Als Frau<br />

mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund wird e<strong>in</strong>em<br />

nicht unbed<strong>in</strong>gt viel <strong>zu</strong>getraut“, sagt sie.<br />

Da sie das Potenzial des Internets schon<br />

früh erkannt hatte, entschied sie sich, e<strong>in</strong><br />

Onl<strong>in</strong>e-Reisebüro <strong>zu</strong> gründen. Seit 2008<br />

konzentriert sie sich mit JT Touristik als<br />

Spezialist<strong>in</strong> für Reisen <strong>in</strong> die Vere<strong>in</strong>igten<br />

Arabischen Emirate auf diese Gebiete –<br />

e<strong>in</strong> vielversprechender Nischenmarkt.<br />

Will da angesichts der angrenzenden<br />

Krisenherde überhaupt jemand h<strong>in</strong>? „Na<br />

klar! Die Emirate zählen <strong>zu</strong> den sichersten<br />

Reisezielen weltweit.“ Taylor kommt<br />

<strong>in</strong>s Schwärmen: Weite Sandstrände <strong>in</strong><br />

Ras Al Khaimah, die besten Hotels der<br />

Welt <strong>in</strong> Abu Dhabi und Shoppen <strong>in</strong> den<br />

Boutiquen Dubais.<br />

Taylor versucht, die besten Attribute<br />

ihrer beiden Welten <strong>zu</strong> vermischen. Die<br />

<strong>Deutsche</strong> Genauigkeit und Pünktlichkeit.<br />

Und das persische Talent <strong>zu</strong>m Handeln.<br />

„Das ist ja hier wie auf e<strong>in</strong>em türkischen<br />

Basar“, warf ihr e<strong>in</strong> Kunde vor kurzem<br />

<strong>in</strong> Verhandlungen vor. Solche Kommentare<br />

weiß sie <strong>zu</strong> kontern: „Ich hätte me<strong>in</strong>en<br />

Job verfehlt, wenn ich nicht hart<br />

verhandelte!“<br />

Sie ist taff und f<strong>in</strong>det es dennoch<br />

wichtig, als erfolgreiche Frau weiblich <strong>zu</strong><br />

bleiben. Man dürfe nicht nur graue Anzüge<br />

tragen, männliche Züge annehmen<br />

und se<strong>in</strong>e Emotionen unterdrücken. „Die<br />

s<strong>in</strong>d nämlich sehr gut für das Geschäft.“<br />

Und sie möchte ihren Erfolg und ihre<br />

Erfahrungen mit anderen teilen. Deshalb<br />

gründete sie „SIS – Strong Independent<br />

Sisters“ und will damit andere Flüchtl<strong>in</strong>gsfrauen<br />

unterstützen: mit Deutschkursen,<br />

kulturellen Angeboten und psychologischer<br />

Betreuung. „Heute fühle ich<br />

mich stark und unabhängig. Als ich als<br />

<strong>junge</strong> Frau nach Deutschland kam, war<br />

das noch anders.“ Und der Iran? Fehlt<br />

er ihr? Sie denkt nach: „Ich b<strong>in</strong> noch ab<br />

und an dort. Aber me<strong>in</strong>e Heimat ist hier,<br />

hier <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>.“<br />

DANIELA SINGHAL, Autor<strong>in</strong> aus Berl<strong>in</strong>, war<br />

überrascht, dass Jasm<strong>in</strong> Taylor überhaupt<br />

Zeit f<strong>in</strong>det, am Firmenpool <strong>zu</strong> entspannen<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht haben?<br />

Den Mittelstand!<br />

<strong>Cicero</strong> stellt <strong>in</strong> jeder Ausgabe<br />

e<strong>in</strong>en mittelständischen<br />

Unternehmer vor.<br />

Die bisherigen Porträts<br />

f<strong>in</strong>den Sie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

86<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

WIE DER VATER IN CHARMANT<br />

Der plötzliche Tod ihres Vaters hat Ana Botíns Sprung an die Spitze der größten Bank<br />

Europas beschleunigt. Tra<strong>in</strong>iert hat sie dafür aber schon ihr ganzes Leben<br />

Von THILO SCHÄFER<br />

Foto: Crist<strong>in</strong>a Quicler/AFP/Getty Images<br />

Zur Beerdigung von Emilio Botín,<br />

Spaniens mächtigstem Banker,<br />

kam Mitte September Spaniens<br />

komplette Wirtschaftselite auf dem Familiengut<br />

<strong>in</strong> Santander <strong>zu</strong>sammen. Unter<br />

der schwarz gekleideten Trauergesellschaft<br />

stach die älteste Tochter des<br />

verstorbenen Patriarchen hervor: Ana<br />

Patricia Botín trug <strong>zu</strong> Ehren ihres Vaters<br />

e<strong>in</strong>en knallroten Seidenschal <strong>in</strong> der<br />

Farbe der Bank, die sie nun <strong>in</strong> vierter Generation<br />

leitet.<br />

Für die Botíns ist Santander, die<br />

größte Bank der Eurozone, nicht irgende<strong>in</strong><br />

Unternehmen. „Die Bank bedeutet<br />

alles für mich“, schrieb Ana Botín <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

ersten Mitteilung an die weltweit<br />

185 000 Angestellten. Ihre Botschaft lautete:<br />

Die Familientradition geht weiter.<br />

Die älteste von sechs Geschwistern<br />

wurde schon als K<strong>in</strong>d auf ihre neue Aufgabe<br />

vorbereitet, mit dem für Bankertöchter<br />

klassischen Ausbildungsweg über<br />

Privatschulen <strong>in</strong> der Schweiz, Großbritannien<br />

und den USA sowie e<strong>in</strong>em MBA<br />

an der Harvard Bus<strong>in</strong>ess School. Wenn<br />

die spanischen Medien ihren Ehrgeiz<br />

beschreiben wollen, kramen sie immer<br />

wieder dieselbe Anekdote hervor: Im<br />

Schweizer Internat habe die zehnjährige<br />

Ana während e<strong>in</strong>er Klassenarbeit heftig<br />

mit e<strong>in</strong>er Klassenkamerad<strong>in</strong> gestritten,<br />

weil diese von ihr habe abschreiben<br />

wollen. Offiziell bestätigt wurde die Geschichte<br />

nie, sie passt aber perfekt <strong>zu</strong>m<br />

Image der diszipl<strong>in</strong>ierten Banker<strong>in</strong>, die<br />

täglich ab sechs Uhr im Büro ist.<br />

Ihre Karriere <strong>in</strong> der F<strong>in</strong>anzwelt begann<br />

Botín bei JP Morgan <strong>in</strong> New York.<br />

Nach sieben Jahren holte ihr Vater Emilio<br />

sie 1988 <strong>zu</strong> Santander. „Vergessen Sie<br />

nicht, dass es me<strong>in</strong>e Tochter ist. Also nehmen<br />

Sie sie härter ran als andere“, gab<br />

Botín dem ersten Vorgesetzten se<strong>in</strong>er<br />

Tochter mit auf den Weg.<br />

In den folgenden Jahren durchlief sie<br />

verschiedene Positionen <strong>in</strong> der Bank und<br />

war an der raschen Expansion der Spanier<br />

<strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika beteiligt. Ihr Aufstieg<br />

schien unaufhaltsam, und bei Mitarbeitern<br />

und Aktionären von Santander<br />

wurde sie bereits damals als Nachfolger<strong>in</strong><br />

ihres Vaters gehandelt. Bis sie im Februar<br />

1999 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview mit El País<br />

selbst erstmals offen über ihre Führungsambitionen<br />

plauderte. Zu offen, wie sich<br />

herausstellte. Denn Vater Emilio befand<br />

sich nach der Fusion von Santander mit<br />

der Banco Central Hispano <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zähen<br />

Machtkampf mit deren Vorständen,<br />

denen der E<strong>in</strong>fluss des Botín-Klans ohneh<strong>in</strong><br />

<strong>zu</strong> groß war. E<strong>in</strong>e ehrgeizige Tochter,<br />

die Ansprüche auf den Thron stellte,<br />

hätte die Fusion unter Gleichen gefährdet,<br />

so dass Patriarch Emilio ke<strong>in</strong>e andere<br />

Möglichkeit sah, als se<strong>in</strong>e Tochter<br />

<strong>zu</strong> entlassen.<br />

NACHDEM EMILIO den Machtkampf für<br />

sich entschieden hatte, holte er die Tochter<br />

drei Jahre später aus dem Exil <strong>zu</strong>rück<br />

und machte sie <strong>zu</strong>r Chef<strong>in</strong> der Tochterbank<br />

Banesto. 2012 schickte er sie nach<br />

Großbritannien, mittlerweile der wichtigste<br />

Markt der Bank. Die britische Insel<br />

passt <strong>zu</strong>m Charakter der heute 54-Jährigen,<br />

die durch ihre Ausbildung eher angelsächsisch<br />

als südländisch geprägt ist.<br />

„Im Pr<strong>in</strong>zip ist sie e<strong>in</strong>e elegantere, modernere<br />

und deutlich charmantere Version<br />

ihres Vaters“, sagt e<strong>in</strong> Londoner Bankmanager<br />

von der Konkurrenz.<br />

Ana Botín möchte ihre Erfahrungen<br />

außerhalb der väterlichen Bank aber gar<br />

nicht missen. Sie baute e<strong>in</strong>e Unternehmensberatung<br />

für Internetfirmen auf, die<br />

damals ihren ersten Boom erlebten. Der<br />

Ausflug war zwar f<strong>in</strong>anziell ke<strong>in</strong> großer<br />

Erfolg, aber aus heutiger Sicht e<strong>in</strong>e wichtige<br />

Lehre für Botín.<br />

In den vergangenen vier Jahren, <strong>in</strong><br />

denen sie an der Spitze von Santander UK<br />

stand, bemühte sich Botín stark um britische<br />

Kle<strong>in</strong>unternehmer. „Als jemand, der<br />

e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Unternehmen gegründet hat,<br />

weiß ich, wie schwierig der Start <strong>in</strong> die<br />

Selbstständigkeit ist“, berichtete sie bei<br />

den raren öffentlichen Auftritten gern<br />

über die eigenen Erfahrungen.<br />

Diese Fokussierung auf den Mittelstand<br />

hat die neue Chef<strong>in</strong> auch <strong>in</strong> den ersten<br />

Äußerungen <strong>zu</strong>r künftigen Marschrichtung<br />

der Bank hervorgehoben. Im<br />

Gegensatz <strong>zu</strong> vielen <strong>in</strong>ternationalen<br />

Konkurrenten erzielt Santander 87 Prozent<br />

der E<strong>in</strong>nahmen im Brot-und-Butter-Geschäft<br />

mit Filialkunden, das Investmentbank<strong>in</strong>g<br />

spielt kaum e<strong>in</strong>e Rolle.<br />

Auch wenn e<strong>in</strong>igen Anlegern und<br />

Analysten die rasche Erbfolge bei Santander<br />

nicht gefallen hat, weil der E<strong>in</strong>fluss<br />

der Botíns auf das Kredit<strong>in</strong>stitut <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em<br />

Verhältnis <strong>zu</strong> ihren Anteilen von gerade<br />

e<strong>in</strong>mal 2 Prozent steht, wird es mit<br />

Ana Botín ke<strong>in</strong>en radikalen Kurswechsel<br />

geben, wohl aber e<strong>in</strong>en Kulturwandel.<br />

Kurz nach Amtsantritt stand sie allen<br />

Angestellten Rede und Antwort. Vater<br />

Emilio hatte sich immer nur an die<br />

Führungskräfte gerichtet. In der Aussprache<br />

mit der Belegschaft zeigte sich<br />

Ana Botín besorgt um das Image der<br />

Banken durch F<strong>in</strong>anzkrise und dubiose<br />

Verkaufspraktiken. Auch Santander<br />

hatte unwissenden Privatkunden hochspekulative<br />

F<strong>in</strong>anzprodukte untergejubelt.<br />

Das soll unter Ana Botín nicht<br />

mehr passieren: „Mir kommt es nicht alle<strong>in</strong><br />

auf das Ergebnis an, sondern auch<br />

auf die Art, wie wir es erzielen.“<br />

THILO SCHÄFER,Madrid-Korres pondent<br />

der Börsen-Zeitung, hat mehr Vertrauen <strong>in</strong><br />

die Zukunft der Botín-Dynastie als <strong>in</strong> die<br />

des spanischen Königshauses<br />

89<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


KAPITAL<br />

Reportage<br />

WIE IM FLUG<br />

Fahrräder<br />

mit Elektroantrieb <strong>werden</strong><br />

immer populärer.<br />

Heimliche Hochburg<br />

des Trends ist Stuttgart,<br />

bisher als Autostadt<br />

bekannt<br />

Von TIL KNIPPER<br />

Illustration KARSTEN PETRAT<br />

Als ich vom Stuttgarter Rathaus auf den<br />

512,2 Meter hohen Birkenkopf hochradle, kann<br />

ich <strong>zu</strong>m ersten Mal ansatzweise nachvollziehen,<br />

wie sich e<strong>in</strong>st der bis oben h<strong>in</strong> vollgedopte Lance Armstrong<br />

bei den Bergetappen der Tour de France gefühlt<br />

haben muss, wenn er den ebenfalls bis oben h<strong>in</strong> vollgedopten<br />

Jan Ullrich an den steilsten Anstiegen der<br />

Alpen und Pyrenäen ohne ersichtliche Anstrengung<br />

e<strong>in</strong>fach stehen ließ.<br />

Obwohl es über sechs Kilometer ständig bergauf<br />

geht, überw<strong>in</strong>de ich die knapp 300 Höhenmeter<br />

mit e<strong>in</strong>er Durchschnittsgeschw<strong>in</strong>digkeit von mehr als<br />

20 Stundenkilometern mühelos. An anderen Fahrradfahrern<br />

fliege ich förmlich vorbei. Zu verdanken habe<br />

ich das nicht etwa e<strong>in</strong>er überragenden Fitness oder der<br />

gezielten E<strong>in</strong>nahme von Epo, sondern dem kle<strong>in</strong>en<br />

Elektromotor des geliehenen Elektrofahrrads, der mir<br />

bis <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Geschw<strong>in</strong>digkeit von 25 Stundenkilometern<br />

e<strong>in</strong>en großen Teil der Arbeit abnimmt.<br />

90<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Vom Gipfelkreuz des Birkenkopfs, den die Stuttgarter<br />

wegen der Aufschüttung mit Weltkriegsschrott liebevoll<br />

Monte Scherbel<strong>in</strong>o nennen, kann man sich e<strong>in</strong>en guten<br />

Überblick verschaffen. Beim Blick <strong>in</strong> den Talkessel<br />

erkenne ich schnell, warum sich ausgerechnet die Autostadt<br />

Stuttgart, Heimat von Daimler Benz und Porsche,<br />

<strong>in</strong> den vergangenen Jahren <strong>zu</strong>r heimlichen Me tropole<br />

für Pedelecs – so nennen Fachleute die Elektroräder –<br />

entwickelt hat. Ohne E-Antrieb ist Radfahren <strong>in</strong> dieser<br />

hügeligen Landschaft e<strong>in</strong>fach sehr mühsam.<br />

ANGEFANGEN HAT me<strong>in</strong>e erste E-Radtour um zehn<br />

Uhr morgens bei Stromrad Stuttgart. Eberhard Franke<br />

hat den Laden bereits 2008 gegründet und von Anfang<br />

an ausschließlich Elektroräder verkauft und verliehen.<br />

Zusammen mit se<strong>in</strong>en Mitgründern gehört er <strong>zu</strong> den<br />

Pionieren der Pedelec-Szene, die früh an e<strong>in</strong>en Boom<br />

der E-Räder geglaubt haben. „Wir wollten zeigen, dass<br />

man auch <strong>in</strong> Stuttgart e<strong>in</strong>en Großteil der Wege mit dem<br />

Rad <strong>zu</strong>rücklegen kann“, erklärt Franke.<br />

Das will ich jetzt auch ausprobieren. Me<strong>in</strong>e Wahl<br />

fällt aufgrund se<strong>in</strong>er hohen Reichweite von mehr als<br />

70 Kilometern auf e<strong>in</strong> KTM Mac<strong>in</strong>a Tour mit e<strong>in</strong>em Antrieb<br />

vom schwäbischen Vorzeigeunternehmen Bosch.<br />

Das KTM sieht so e<strong>in</strong> bisschen aus wie e<strong>in</strong> Fahrrad,<br />

das man se<strong>in</strong>em Vater <strong>zu</strong>m 65. Geburtstag schenken<br />

möchte, damit er sich als Rentner wieder etwas mehr<br />

bewegt, sofern man ihm <strong>zu</strong>m E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong>s Pensionsalter<br />

e<strong>in</strong> Geschenk im Wert von 2500 Euro machen will.<br />

Denn so viel kostet das solide, gut ausgestattete Trekk<strong>in</strong>grad<br />

mit zehn Gängen und e<strong>in</strong>em Gewicht von stolzen<br />

23 Kilogramm.<br />

Me<strong>in</strong> erstes Ziel ist die Hofener Schleuse, mit<br />

207 Meter über Normalnull der niedrigste Punkt<br />

Stuttgarts. Bis dah<strong>in</strong> geht es naturgemäß die meiste<br />

Zeit bergab, sodass ich die Vorzüge des Elektroantriebs<br />

kaum wahrnehme. Das schwere Rad fühlt sich<br />

<strong>zu</strong>nächst eher etwas klobig an verglichen mit dem wesentlich<br />

leichteren S<strong>in</strong>glespeed-Bike, mit dem ich täglich<br />

durch Berl<strong>in</strong> fahre – ohne E-Antrieb.<br />

Se<strong>in</strong>e Stärken deutet me<strong>in</strong> Pedelec auf dem Rückweg<br />

<strong>in</strong> die Stadt an. Vorbei an dem Cannstatter Wasen,<br />

durch den Schlosspark fahre ich Richtung Rathaus,<br />

ständig auf und ab. Es geht zügig voran, ohne dass ich<br />

mich großartig anstrengen muss. Während mich <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

das ständige Anhalten und wieder Anfahren mitunter<br />

aggressiv machen, freue ich mich <strong>in</strong> Stuttgart<br />

be<strong>in</strong>ah über rote Ampeln. Denn im Turbomodus des<br />

Boschantriebs kann man auf den ersten Metern sogar<br />

die Autos abhängen, bevor er sich dann bei 25 Stundenkilometern<br />

wieder abschaltet.<br />

Vor dem Rathaus empfängt mich Wolfgang Forderer,<br />

Leiter der Abteilung Mobilität. Bevor wir <strong>in</strong> se<strong>in</strong><br />

Büro gehen, präsentiert er nicht ohne Stolz die städtische<br />

Dienst-Pedelec-Flotte. 25 E-Räder stehen den Angestellten<br />

der Stadt tagsüber für Fahrten während der<br />

Arbeitszeit <strong>zu</strong>r Verfügung. Daneben parkt der Dienstwagen<br />

des grünen Oberbürgermeisters Fritz Kuhn: natürlich<br />

e<strong>in</strong> Smart mit Elektroantrieb.<br />

Da Stuttgart aufgrund der Kessellage auch die<br />

Fe<strong>in</strong>staubhochburg Deutschlands ist, fördert die Stadt<br />

nachhaltige Mobilität, wo sie kann. Dabei spielen für<br />

Wolfgang Forderer auch E-Fahrräder e<strong>in</strong>e große Rolle.<br />

Er berichtet vom Bau von 36 Hauptradrouten, der Errichtung<br />

von sicheren Stellplätzen <strong>in</strong>klusive Ladestationen<br />

für die teuren Räder, der Teilnahme an EU-Pilotprojekten,<br />

Subventionen für das Call-a-Bike-System<br />

der <strong>Deutsche</strong>n Bahn, die <strong>in</strong> Stuttgart auch Räder mit<br />

Elektroantrieb an ihren Leihstationen anbietet. Das<br />

ehrgeizige Ziel lautet, den Fahrradanteil am Verkehr<br />

<strong>in</strong> Stuttgart, der derzeit bei 6 Prozent liegt, <strong>in</strong> den<br />

kommenden Jahren auf 15 Prozent <strong>zu</strong> erhöhen. E<strong>in</strong>e<br />

griffige Formel hat Forderer dafür auch schon parat:<br />

„Mit Pedelecs machen wir Stuttgart flach.“<br />

<strong>Wie</strong> praktisch e<strong>in</strong> Pedelec se<strong>in</strong> kann, hat sich <strong>in</strong>zwischen<br />

auch <strong>in</strong> Deutschlands flacheren Landesteilen<br />

herumgesprochen. In Schwer<strong>in</strong> hat kürzlich e<strong>in</strong><br />

Modellversuch ergeben, dass Fahrräder und Pedelecs<br />

auf Strecken bis <strong>zu</strong> acht Kilometern mit Abstand die<br />

schnellsten Fortbewegungsmittel für Berufspendler<br />

s<strong>in</strong>d. Die billigsten s<strong>in</strong>d sie, <strong>in</strong>klusive Reparaturen und<br />

Strom, mit 7 bis 12 Cent pro Kilometer sowieso. Autos<br />

s<strong>in</strong>d da<strong>zu</strong> im Vergleich vier- bis siebenmal teurer.<br />

Dass der Branche der wirkliche Boom erst noch<br />

bevorsteht, haben <strong>in</strong>zwischen auch die großen Fahrradhersteller<br />

begriffen. Damit die Elektrofahrräder<br />

das Image der Sitzrollatoren für Senioren verlieren,<br />

bieten sie <strong>in</strong>zwischen alle Fahrradtypen vom Lastenrad<br />

übers Klapprad bis h<strong>in</strong> <strong>zu</strong>m Mounta<strong>in</strong>bike mit<br />

Elektroantrieb an.<br />

Und die Verkaufszahlen geben ihnen recht. Alle<strong>in</strong><br />

im vergangenen Jahr wurden <strong>in</strong> Deutschland nach Angaben<br />

des Zweirad-Industrieverbands 410 000 Elektrofahrräder<br />

verkauft. Das entspricht e<strong>in</strong>em Marktanteil<br />

von 11 Prozent. Insgesamt fahren <strong>in</strong> Deutschland bereits<br />

mehr als 1,6 Millionen elektrisch betriebene Räder<br />

über die Straßen. Georg Honkomp, Chef von ZEG,<br />

dem größten Fahrradfachhändler Europas, prophezeit<br />

sogar schon das Ende des konventionellen Radfahrens:<br />

„In zehn oder 20 Jahren wird es kaum noch konventionelle<br />

Räder geben – außer <strong>in</strong> der sportlichen Nische.<br />

Alle anderen Anwendungszwecke von Fahrrädern <strong>werden</strong><br />

dann elektrisch se<strong>in</strong>.“<br />

Me<strong>in</strong>e Tour endet auf der Bernhartshöhe, mit<br />

549 Metern der höchste Punkt Stuttgarts, nach <strong>in</strong>sgesamt<br />

56 Kilometern und e<strong>in</strong>er Fahrzeit von 2:46 Stunden,<br />

ohne Schweißausbrüche und Muskelkater. Vielleicht<br />

kaufe ich mir auch e<strong>in</strong> Pedelec, wenn ich e<strong>in</strong>mal<br />

Rentner b<strong>in</strong>.<br />

TIL KNIPPER leitet das Ressort Kapital bei <strong>Cicero</strong>. Am<br />

liebsten fährt er bisher auf se<strong>in</strong>em knallroten Fausto-Coppi-<br />

Rennrad durch Berl<strong>in</strong> und Brandenburg<br />

91<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


So gemütlich ist er<br />

nicht immer: Airbus-<br />

Chef Tom Enders im<br />

Show room e<strong>in</strong>es A350


KAPITAL<br />

Gespräch<br />

Fragen CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Deutschland spricht<br />

viel über <strong>in</strong>ternationale<br />

Verantwortung,<br />

übernimmt sie aber<br />

militärisch nicht.<br />

Airbus-Chef Tom Enders<br />

redet Klartext<br />

Fotos ANTJE BERGHÄUSER<br />

Herr Enders, was geht Ihnen durch<br />

den Kopf, wenn Sie Berichte über die<br />

e<strong>in</strong>satz unfähige Bundeswehr lesen?<br />

Tom Enders: Solche Debatten neigen<br />

<strong>zu</strong> Übertreibungen. Die Bundeswehr ist<br />

sicher nicht so schlecht, wie sie jetzt landauf,<br />

landab dargestellt wird. Aber richtig<br />

ist auch, dass die sogenannte Friedensdividende<br />

<strong>in</strong> Deutschland besonders<br />

extrem <strong>in</strong> Anspruch genommen wurde.<br />

Wir alle haben letztlich die Misere verursacht.<br />

Die gesamte Gesellschaft wollte<br />

für Verteidigung möglichst wenig ausgeben,<br />

schließlich waren wir ja nach 1990<br />

„von Freunden umz<strong>in</strong>gelt“, wie es Volker<br />

Rühe mal so schön gesagt hat.<br />

93<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


KAPITAL<br />

Gespräch<br />

Sie geben der Politik nicht die Schuld?<br />

Nicht alle<strong>in</strong>. Aber es stimmt schon:<br />

Wenn man Verteidigungspolitik nach<br />

dem Bonmot Talleyrands betreibt – „dort<br />

läuft me<strong>in</strong> Volk, ich muss ihm h<strong>in</strong>terher,<br />

ich b<strong>in</strong> se<strong>in</strong> Führer“ –, braucht man sich<br />

über das Resultat nicht <strong>zu</strong> wundern. Außerdem<br />

muss man auch mal die Frage<br />

stellen, wo war eigentlich das hohe Militär<br />

<strong>in</strong> all den Jahren? Warum haben die<br />

das über Jahre klaglos h<strong>in</strong>genommen? Ist<br />

ihnen über die Jahre jede Bereitschaft<br />

<strong>zu</strong>r Kritik und Courage mit dem Holzhammer<br />

„Primat der Politik“ ausgetrieben<br />

worden?<br />

Die Ukra<strong>in</strong>ekrise zeigt, dass sich die Sicherheitslage<br />

ganz schnell wieder ändern<br />

kann. Beim Nato-Gipfel <strong>in</strong> Wales<br />

wurde gerade beschlossen, die Ausgaben<br />

fürs Militär auf 2 Prozent des<br />

Brutto<strong>in</strong>landsprodukts <strong>zu</strong> erhöhen. In<br />

Deutschland s<strong>in</strong>d es derzeit 1,3 Prozent.<br />

Tut sich was?<br />

Der Krieg <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e wie auch<br />

das kritische Bild, das Nato und Bundeswehr<br />

abgeben, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> deutlicher Weckruf.<br />

Die Szenarien der Landes- und Bündnisverteidigung<br />

treten plötzlich wieder <strong>in</strong><br />

den Vordergrund. Viele Streitkräfte <strong>in</strong><br />

Europa und <strong>in</strong>sbesondere die <strong>Deutsche</strong>n<br />

haben <strong>in</strong> den letzten 20 Jahren so abgerüstet,<br />

als wären derartige Szenarien gar<br />

nicht mehr denkbar. Ich habe vor kurzem<br />

noch e<strong>in</strong>mal das berühmte Buch von<br />

Henry Kiss<strong>in</strong>ger von 1962 <strong>in</strong> die Hand<br />

genommen, wo er über Großmachtdiplomatie<br />

schreibt. Im Vorwort heißt es s<strong>in</strong>ngemäß:<br />

Jedes Mal, wenn die Erhaltung<br />

des Friedens oberstes Ziel e<strong>in</strong>er Staatengruppe<br />

war, dann h<strong>in</strong>g das Schicksal<br />

des <strong>in</strong>ternationalen Systems vom rücksichtslosesten<br />

Mitglied der <strong>in</strong>ternationalen<br />

Geme<strong>in</strong>schaft ab. Das bezog sich damals<br />

auf Napoleon, hat aber auch heute<br />

noch Gültigkeit.<br />

Der Bundespräsident, der Außenm<strong>in</strong>ister,<br />

die Verteidigungsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> – alle<br />

reden mehr <strong>in</strong>ternationaler Verantwortung<br />

das Wort.<br />

Ja. Und wir <strong>Deutsche</strong> verwickeln<br />

uns dabei immer wieder <strong>in</strong> Widersprüche.<br />

In Sonntagsreden wird gerne mehr<br />

europäische Zusammenarbeit und Integration<br />

<strong>in</strong> der Außenpolitik und <strong>in</strong> der<br />

Verteidigung gefordert. Aber wenn es um<br />

Thomas Enders<br />

55, steht seit Juni 2012 an der<br />

Spitze der Airbus Group. Zuvor<br />

hatte er fünf Jahre lang erfolgreich<br />

die zivile Luftfahrtsparte geleitet.<br />

Se<strong>in</strong> Start an der Konzernspitze<br />

verlief aufgrund der von der Bundesregierung<br />

verh<strong>in</strong>derten Fusion<br />

mit dem britischen Rüstungskonzern<br />

BAE holprig. Die Angelegenheit<br />

hatte aber, was den Staatse<strong>in</strong>fluss<br />

anlangt, auch e<strong>in</strong>e befreiende<br />

Wirkung für den Konzern. Enders,<br />

der über e<strong>in</strong>en Pilotensche<strong>in</strong><br />

für Hubschrauber verfügt und<br />

leidenschaftlich Fallschirm spr<strong>in</strong>gt,<br />

verkörpert die Begeisterung für<br />

die eigene Branche. Der vierfache<br />

Vater pendelt zwischen der<br />

Konzernzentrale <strong>in</strong> Toulouse und<br />

dem Tegernsee, dem Wohnsitz<br />

der Familie. Vor se<strong>in</strong>em Wechsel<br />

<strong>in</strong> die Industrie war der studierte<br />

Politologe und Volkswirt <strong>in</strong> Wissenschaft<br />

und Politik tätig. Dort<br />

verdiente sich Enders auch se<strong>in</strong>en<br />

Spitznamen „Major Tom“, weil er<br />

zwischen 1989 und 1991 Mitglied<br />

des Planungsstabs im Bundesverteidigungsm<strong>in</strong>isterium<br />

war. Se<strong>in</strong>e<br />

Leidenschaft und Expertise für<br />

Sicherheitspolitik hat Enders immer<br />

behalten. Se<strong>in</strong> Wort hat <strong>in</strong> diesen<br />

Fragen bis heute Gewicht.<br />

den konkreten Fall geht, sieht man, wie<br />

sich die Kluft zwischen den <strong>Deutsche</strong>n<br />

e<strong>in</strong>erseits und Briten und Franzosen andererseits<br />

<strong>in</strong> den vergangenen Jahren<br />

verbreitert hat. Denken Sie an Libyen,<br />

denken Sie an Syrien und denken Sie an<br />

Rüstungsexporte. Wenn wir <strong>Deutsche</strong>n<br />

bei den Rüstungsexporten die Schraube<br />

noch mehr anziehen und e<strong>in</strong>en Sonderweg<br />

gehen, dann hat das natürlich Rückwirkungen<br />

auf die Bereitschaft anderer<br />

Länder, mit uns <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>arbeiten.<br />

Der deutsche Sonderweg missfällt<br />

Ihnen.<br />

<strong>Deutsche</strong> Sonderwege haben <strong>in</strong> der<br />

Vergangenheit selten etwas Gutes gebracht.<br />

In Sachen Verteidigung gibt es <strong>in</strong><br />

unserem Land die Tendenz, sich weg<strong>zu</strong>ducken<br />

und h<strong>in</strong>ter den Partnern <strong>zu</strong> verstecken.<br />

Das geht aber auf Dauer nicht<br />

bei e<strong>in</strong>er so großen Nation. <strong>Wie</strong> soll es<br />

e<strong>in</strong>e europäische Verteidigung geben,<br />

die den Namen verdient, wenn das wirtschaftlich<br />

stärkste Land <strong>in</strong> der Mitte Europas<br />

nicht auch <strong>in</strong> der Verteidigung Verantwortung<br />

und Führung mit übernimmt<br />

und e<strong>in</strong>en angemessenen Beitrag leistet?<br />

In Reden über die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er<br />

geme<strong>in</strong>samen Verteidigungsarchitektur<br />

ist niemand engagierter als wir <strong>Deutsche</strong>.<br />

Aber wenn es konkret wird, dann haben<br />

wir uns <strong>in</strong> der Vergangenheit viel <strong>zu</strong> oft<br />

auf nationale Bef<strong>in</strong>dlichkeiten <strong>zu</strong>rückgezogen.<br />

Nehmen Sie die deutsche Rüstungsexportpolitik:<br />

Inzwischen haben<br />

unsere <strong>in</strong>ternationalen Wettbewerber<br />

e<strong>in</strong>en neuen Begriff geprägt: „German<br />

free“. Das heißt: Internationale Unternehmen<br />

bieten Rüstungsprodukte an,<br />

die garantiert „German free“ s<strong>in</strong>d, also<br />

ohne deutsche Bauteile und ohne deutsche<br />

Genehmigungsverfahren. Das ist<br />

neuerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> Gütesiegel! Von „<strong>Made</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>Germany</strong>“ <strong>zu</strong> „German free“, das<br />

muss man sich mal auf der Zunge zergehen<br />

lassen!<br />

Hat die restriktivere Auslegung der<br />

Rüstungsexportrichtl<strong>in</strong>ien durch Wirtschaftsm<strong>in</strong>ister<br />

Sigmar Gabriel da<strong>zu</strong><br />

geführt?<br />

Auch, ja. Wer will sich denn bei e<strong>in</strong>em<br />

wichtigen Projekt von der Genehmigung<br />

der deutschen Regierung abhängig<br />

machen? Da sagen doch unsere Partner<br />

lieber von vornhere<strong>in</strong>, sie lassen uns<br />

94<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


<strong>Deutsche</strong> außen vor, weil sie sich nicht<br />

von hiesigen Unwägbarkeiten abhängig<br />

machen möchten.<br />

Merken Sie die Politik von Sigmar Gabriel<br />

bereits?<br />

Ja. Wir haben es wie viele andere<br />

Firmen seit e<strong>in</strong>iger Zeit <strong>zu</strong> spüren bekommen.<br />

Projekte <strong>werden</strong> erheblich verschleppt,<br />

verzögert oder nicht zeitnah<br />

bearbeitet. So kann man natürlich auch<br />

um das Problem des Exports herumkommen:<br />

Erledigen durch Liegenlassen.<br />

Würden Sie denn Rüstungsgüter <strong>in</strong><br />

Kriegs- oder Konfliktgebiete liefern?<br />

Das muss im E<strong>in</strong>zelfall geprüft <strong>werden</strong>,<br />

wie jetzt im Falle der Kurden. Und<br />

es gibt gute Gründe, <strong>in</strong> bestimmte Länder<br />

nicht <strong>zu</strong> exportieren. Wenn wir im<br />

Unternehmen uns mit der Absicht e<strong>in</strong>es<br />

Exports tragen, prüfen wir erst e<strong>in</strong>mal<br />

selbst, ob das S<strong>in</strong>n ergibt, bevor wir e<strong>in</strong>e<br />

Exportgenehmigung beantragen.<br />

Und? Haben Sie sich den Export schon<br />

e<strong>in</strong>mal selbst verboten?<br />

Als die französische Regierung vor<br />

etwa zehn Jahren Tiger-Helikopter nach<br />

Libyen exportieren wollte – da herrschte<br />

dort noch Gaddafi –, haben wir das abgelehnt.<br />

Wir hielten das für unverantwortlich<br />

und dem Ruf unseres Unternehmens<br />

abträglich. Das Beispiel zeigt, die Kontrolle<br />

fängt bei uns selbst an.<br />

Sie fühlen sich ungerecht behandelt?<br />

Wir gehen nicht mit der Anfrage jedes<br />

Landes gleich <strong>zu</strong> den Regierungen <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong> oder Paris. Sondern nur, wenn wir<br />

selbst glauben, dass es verantwortbar ist.<br />

Das sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> der Diskussion eigentlich<br />

nie auf. Es wird so getan, als wollten wir<br />

überallh<strong>in</strong> exportieren und hätten da<strong>zu</strong><br />

selbst e<strong>in</strong>e zynische oder unverantwortliche<br />

Haltung, und das ist def<strong>in</strong>itiv nicht<br />

der Fall. Da steht ja auch sehr viel auf<br />

dem Spiel, für uns <strong>in</strong>sbesondere der gute<br />

Name Airbus. Aber am Schmidt-Debré-<br />

Abkommen von 1972 sollten wir nicht<br />

rütteln. Es überlässt dem Land, das das<br />

Exportprojekt führt, die Entscheidung<br />

über die Ausfuhr von Produkten, die <strong>in</strong><br />

französisch-deutschen Geme<strong>in</strong>schaftsprogrammen<br />

gebaut <strong>werden</strong>. Das ist e<strong>in</strong><br />

gewisser Souveränitätsverzicht, e<strong>in</strong> Preis<br />

für europäische Programme. Ke<strong>in</strong> Land<br />

<strong>in</strong> Europa hat heute mehr genügend Ressourcen<br />

und e<strong>in</strong>en ausreichenden Markt<br />

für große, technologisch anspruchsvolle<br />

Rüstungsprogramme.<br />

Sie waren ja e<strong>in</strong>mal Mitarbeiter im Planungsstab<br />

des Bundesverteidigungsm<strong>in</strong>isteriums.<br />

Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> politischer<br />

Mensch. Aber bei Airbus haben Sie den<br />

E<strong>in</strong>fluss des Staates <strong>zu</strong>rückgedrängt.<br />

Sie selbst s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>es Tages aus der CSU<br />

ausgetreten. Sie sche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e Hassliebe<br />

<strong>zu</strong>r Politik <strong>zu</strong> leben.<br />

Ne<strong>in</strong>, dieser E<strong>in</strong>druck wäre völlig<br />

falsch. Ich habe hohen Respekt vor Menschen,<br />

die sich <strong>in</strong> der Politik engagieren.<br />

Aber ich nehme mir das Recht heraus,<br />

me<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung frei <strong>in</strong> die Diskussion e<strong>in</strong><strong>zu</strong>br<strong>in</strong>gen.<br />

Lassen Sie mich e<strong>in</strong> Beispiel<br />

nennen: Ich glaube nicht, dass es Unternehmen<br />

guttut, wenn ihre Führung sich<br />

nach staatlichen Vorgaben richten muss.<br />

Das habe ich vor allem <strong>in</strong> Frankreich jahrelang<br />

sehr laut und oft gesagt. Auch <strong>in</strong><br />

Deutschland habe ich immer wieder Äußerungen<br />

gemacht, die nicht jedem gefallen<br />

haben.<br />

Zum Beispiel, als vor e<strong>in</strong> paar Monaten<br />

die Frage der Russlandsanktionen aufkam.<br />

Da haben Sie das Primat der Politik<br />

hochgehalten und gesagt, dass es<br />

jetzt nicht ums Geschäft geht.<br />

Wirtschaft f<strong>in</strong>det sowohl auf e<strong>in</strong>em<br />

Werte- als auch auf e<strong>in</strong>em Sicherheitsfundament<br />

statt, das man nicht untergraben<br />

darf. Das Streben nach Umsatz und<br />

Gew<strong>in</strong>n darf deshalb nicht höhergestellt<br />

<strong>werden</strong> als die E<strong>in</strong>haltung <strong>in</strong>ternationalen<br />

Rechts!<br />

Sie machen noch etwa 20 Prozent<br />

des Umsatzes mit Rüstungsgütern<br />

und 80 Prozent mit zivilen Produkten.<br />

Wenn man sich dagegen den Ärger anschaut,<br />

den Ihnen Projekte e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen,<br />

liegt der größere Teil bei den Rüstungsgütern.<br />

Warum verabschieden Sie sich<br />

nicht ganz aus der Rüstungs<strong>in</strong>dustrie?<br />

Sie können mir glauben, dass wir im<br />

zivilen Bereich <strong>in</strong> den vergangenen Jahren<br />

auch h<strong>in</strong>reichend Ärger und Stress<br />

hatten. Aber <strong>in</strong> der Tat haben wir im letzten<br />

Jahr entschieden, <strong>in</strong> Zukunft noch<br />

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KAPITAL<br />

Gespräch<br />

weniger abhängig von Rüstung <strong>zu</strong> <strong>werden</strong>.<br />

Militärische Luftfahrt, Raumfahrt<br />

und Lenkflugkörper s<strong>in</strong>d und bleiben allerd<strong>in</strong>gs<br />

Kerngeschäft.<br />

Rechnen Sie damit, dass sich die Sicht<br />

der <strong>Deutsche</strong>n auf die Rüstungs<strong>in</strong>dustrie<br />

und auch auf die Verteidigungsausgaben<br />

wegen der veränderten Sicherheitslage<br />

ändert?<br />

Das bleibt ab<strong>zu</strong>warten. Aber da Regierungshandeln<br />

ja bekanntlich sehr von<br />

Umfragen geprägt wird, mag es den e<strong>in</strong>en<br />

oder anderen nachdenklich stimmen,<br />

wenn die Mehrheit der <strong>Deutsche</strong>n neuerd<strong>in</strong>gs<br />

für die Erhöhung des Verteidigungsetats<br />

ist. Das ist wahrsche<strong>in</strong>lich das<br />

erste Mal seit der Kubakrise.<br />

Mit dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato ist<br />

ja e<strong>in</strong>e Erhöhung schon angekündigt.<br />

Die Wirtschaftsmacht Europa mit<br />

500 Millionen E<strong>in</strong>wohnern sollte <strong>in</strong> der<br />

Lage se<strong>in</strong>, <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest 2 Prozent kollektiv<br />

für Verteidigung aus<strong>zu</strong>geben. Momentan<br />

s<strong>in</strong>d es nach den Etatzahlen etwa<br />

1,5 Prozent – und Deutschland liegt noch<br />

unter diesem Schnitt. Die Amerikaner<br />

geben ungefähr 4 Prozent aus. Ich me<strong>in</strong>e,<br />

es müsste schon das Ziel <strong>in</strong> Europa se<strong>in</strong>,<br />

militärisch unter die Top 3 oder 4 der<br />

Welt <strong>zu</strong> kommen. Wir haben uns <strong>in</strong> den<br />

vergangenen Jahren vorgemacht, wir<br />

würden nur Soft Power brauchen. Aber<br />

das war e<strong>in</strong>e deutsche Illusion. Gott sei<br />

Dank s<strong>in</strong>d Franzosen und Briten nie so<br />

weit gegangen.<br />

Vielleicht mögen gerade die Franzosen<br />

und Briten die Vorstellung e<strong>in</strong>es waffenstarrenden<br />

Deutschland nicht.<br />

Ich habe noch ke<strong>in</strong>en Franzosen<br />

oder Briten getroffen, der sich wegen e<strong>in</strong>er<br />

möglichen Erhöhung der deutschen<br />

Verteidigungsausgaben Sorgen machen<br />

würde. Das Gegenteil ist richtig. Selbst<br />

die Polen fürchten sich mehr vor deutscher<br />

Schwäche als vor e<strong>in</strong>em starken<br />

Deutschland. Solange wir <strong>Deutsche</strong>n<br />

nicht anfangen, Nuklearwaffen <strong>zu</strong> bauen<br />

und uns e<strong>in</strong>e Flugzeugträgerflotte <strong>zu</strong><strong>zu</strong>legen,<br />

wird sich niemand unserer europäischen<br />

Partner bedroht fühlen. Das ist<br />

e<strong>in</strong>e Geisterdiskussion, die nur <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

geführt wird. Die Bundeswehr ist unterf<strong>in</strong>anziert,<br />

und das gilt für viele andere<br />

europäische Streitkräfte genauso. Nato<br />

Zum Unternehmen<br />

Der ehemalige EADS-Konzern<br />

wurde Anfang des Jahres <strong>in</strong><br />

Airbus Group umbenannt und <strong>in</strong><br />

drei Unternehmenssparten unterteilt:<br />

Airbus, Airbus Defence<br />

and Space und Airbus Helicopter.<br />

Die Gruppe beschäftigt<br />

weltweit 144 000 Mitarbeiter.<br />

Im vergangenen Jahr erzielte sie<br />

e<strong>in</strong>en Umsatz von 59 Milliarden<br />

Euro und e<strong>in</strong>en operativen Gew<strong>in</strong>n<br />

von 2,6 Milliarden Euro. Im<br />

Orderbuch stehen derzeit Aufträge<br />

<strong>in</strong> Höhe von 687 Milliarden<br />

Euro.<br />

Der Konzern wurde 2000 unter<br />

dem Namen EADS von mehreren<br />

europäischen Regierungen<br />

gegründet <strong>in</strong> der Absicht, e<strong>in</strong>en<br />

geme<strong>in</strong>samen, wettbewerbsfähigen<br />

Rüstungskonzern <strong>in</strong> Europa<br />

auf<strong>zu</strong>bauen. Mittlerweile macht<br />

der Anteil der Rüstungssparte<br />

nur noch 20 Prozent des Umsatzes<br />

aus.<br />

Die mit Abstand wichtigste<br />

Sparte ist die zivile Luftfahrt.<br />

Hier liefert sich Airbus e<strong>in</strong>en<br />

Zweikampf mit dem US-Konzern<br />

Boe<strong>in</strong>g. Geld br<strong>in</strong>gen hier vor allem<br />

die älteren Modelle, der Mittelstreckenflieger<br />

A320 und das<br />

Langstreckenmodell A330. Der<br />

neue A350 wird wohl erst ab 2020<br />

Gew<strong>in</strong>ne abwerfen, das Prestigeobjekt<br />

A380 womöglich nie.<br />

Airbus Defence and Space<br />

erzielt bisher hohe Profite mit<br />

Kampfjets und Raketen. Angesichts<br />

der s<strong>in</strong>kenden Rüstungsetats<br />

und der strengen<br />

Exportvorschriften <strong>in</strong> Europa<br />

fehlen der Sparte ab 2018 neue<br />

Aufträge, vor allem die Drohne<br />

Talarion und der Kampfjet<br />

Eurofighter f<strong>in</strong>den kaum noch<br />

Abnehmer.<br />

und EU müssen die Fähigkeit <strong>zu</strong>r vollumfänglichen<br />

Bündnisverteidigung wiedererlangen.<br />

Wenn das der Fall ist, dann<br />

s<strong>in</strong>d wir auch für weniger <strong>in</strong>tensive Konfliktfälle<br />

gerüstet.<br />

Bundesverteidigungsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Ursula<br />

von der Leyen macht für die Ausrüstungsprobleme<br />

<strong>in</strong> der Bundeswehr auch<br />

die Industrie verantwortlich: <strong>zu</strong> spät,<br />

<strong>zu</strong> teuer, <strong>zu</strong> schlecht.<br />

Wir haben im Rüstungsgeschäft<br />

viele und für uns auch sehr teure Fehler<br />

gemacht. Das will ich gerne e<strong>in</strong>räumen.<br />

Aber den Schwarzen Peter alle<strong>in</strong><br />

nun bei uns ab<strong>zu</strong>laden, wird der Sache<br />

nicht gerecht. Was wir heute sehen, ist<br />

das Ergebnis e<strong>in</strong>es jahrelangen, unehrlichen<br />

Umgangs mite<strong>in</strong>ander.<br />

Was me<strong>in</strong>en Sie damit?<br />

Nun, das Transportflugzeug A400M<br />

liefert hier e<strong>in</strong> schönes Beispiel: Die Industrie<br />

hat Bed<strong>in</strong>gungen akzeptiert, von<br />

denen viele Verantwortliche auf beiden<br />

Seiten schon vor Abschluss des Vertrags<br />

wussten, dass sie sehr, sehr schwer <strong>zu</strong> erfüllen<br />

se<strong>in</strong> würden. E<strong>in</strong>e viel <strong>zu</strong> kurze<br />

Zeitleiste, e<strong>in</strong> <strong>zu</strong> knapp bemessenes Budget,<br />

technologisch hochanspruchsvolle<br />

Spezifikationen. Trotzdem hat die Industrie<br />

dem Vertrag <strong>zu</strong>gestimmt.<br />

Weshalb?<br />

Nach gut zehn Jahren Akquisitionsbemühungen<br />

aus e<strong>in</strong>er gewissen Verzweiflung<br />

heraus: Jetzt oder nie, jetzt<br />

haben wir mal sieben Nationen auf e<strong>in</strong>em<br />

halbwegs geme<strong>in</strong>samen Nenner.<br />

Ke<strong>in</strong>er hat gerade Wahlen oder steckt<br />

sonst wie politisch <strong>in</strong> der Klemme, das<br />

ist das Fenster der Gelegenheit! Hauptsache<br />

Auftragse<strong>in</strong>gang. Für den Rest fällt<br />

uns schon was e<strong>in</strong>, wir haben ja sechs<br />

Jahre Zeit. So war das 2003.<br />

So wurde das damals aber nicht<br />

verkauft.<br />

Natürlich nicht. Denn auf der e<strong>in</strong>en<br />

Seite stellt sich dann e<strong>in</strong> Staatssekretär<br />

oder M<strong>in</strong>ister vors Parlament und sagt:<br />

„Wir haben die Industrie ordentlich geknebelt,<br />

wir haben taffe Verträge gemacht!“<br />

Die Industrie sagt: „Wir haben e<strong>in</strong>en<br />

Riesenauftrag an Land gezogen.“ Durch<br />

diesen unehrlichen Umgang mite<strong>in</strong>ander,<br />

wo jede Seite nur kurzfristig denkt<br />

96<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


und gut aussehen möchte, kommt man<br />

dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Situation re<strong>in</strong>, wie wir sie<br />

2009/2010 hatten. Damals mussten wir<br />

die Hosen runterlassen, weil wir das Projekt<br />

A400M <strong>zu</strong> den Konditionen, die wir<br />

vertraglich versprochen hatten, e<strong>in</strong>fach<br />

nicht liefern konnten. Auch die Regierungen<br />

wollten die Abnahme der Flieger reduzieren.<br />

Wenn Sie sich er<strong>in</strong>nern möchten:<br />

Deutschland wollte ursprünglich 73,<br />

später 60, dann 53 und heute möchte der<br />

Haushaltsausschuss nur 40 Masch<strong>in</strong>en<br />

genehmigen. Von Anfang an waren wir<br />

<strong>in</strong> unserem Handeln auch nicht wirklich<br />

frei: Die Regierungschefs Großbritanniens,<br />

Frankreichs und Deutschlands verlangten<br />

von uns, e<strong>in</strong> europäisches Triebwerk<br />

neu <strong>zu</strong> entwickeln und neu <strong>zu</strong> bauen<br />

von e<strong>in</strong>em Konsortium, das sich die da<strong>zu</strong><br />

nötigen Fähigkeiten erst mühsam <strong>zu</strong>legen<br />

musste. E<strong>in</strong> Zukauf vom Markt, so wie wir<br />

es wollten, kam nicht <strong>in</strong>frage.<br />

<strong>Wie</strong>so war das e<strong>in</strong> Problem?<br />

Verstehen Sie mich nicht falsch,<br />

Rolls-Royce, Snecma und MTU s<strong>in</strong>d<br />

respektable Firmen. Aber <strong>in</strong> dieser Konstellation<br />

hatten die Firmen noch nie <strong>zu</strong>sammengearbeitet.<br />

Dann das komplizierteste,<br />

größte Turboprop-Triebwerk der<br />

Welt <strong>in</strong> nur wenigen Jahren <strong>zu</strong> entwickeln,<br />

das war vermessen. Und das alles<br />

kulm<strong>in</strong>ierte dann 2010, als wir e<strong>in</strong>gestehen<br />

mussten: Wir kriegen das nicht<br />

zeitgemäß h<strong>in</strong>. Wenn der Auftraggeber<br />

nicht deutliche Preis<strong>zu</strong>schläge akzeptiert<br />

hätte, hätten wir das Projekt e<strong>in</strong>stellen<br />

müssen.<br />

Sie kl<strong>in</strong>gen jetzt, als würden Sie draufzahlen<br />

bei diesem Milliardenprojekt.<br />

Was glauben Sie denn? Wir haben<br />

bei der A400M gut vier Milliarden Euro<br />

drauflegen müssen, das heißt, wir <strong>werden</strong><br />

an den 175 Flugzeugen für unsere<br />

europäischen Kunden ke<strong>in</strong>en Cent verdienen.<br />

Ich kann Ihnen Brief und Siegel<br />

geben, das wird mir immer <strong>in</strong> den<br />

Knochen stecken, und solange ich Verantwortung<br />

trage im Konzern, wird es<br />

e<strong>in</strong> solches Desaster nicht wieder geben!<br />

Wir <strong>werden</strong> uns nicht noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> die<br />

Tasche lügen und von Regierungen <strong>zu</strong><br />

Programmvere<strong>in</strong>barungen drängen lassen,<br />

wenn die <strong>zu</strong>grunde liegenden Term<strong>in</strong>e<br />

und Budgets von vornehere<strong>in</strong> unrealistisch<br />

s<strong>in</strong>d. So e<strong>in</strong>en Vertrag wie bei<br />

A400M unterschreiben wir nie wieder, so<br />

viel steht fest.<br />

Wann bekommt die Bundeswehr denn<br />

nun endlich die A400M?<br />

Nach dem großen Knatsch s<strong>in</strong>d 2010<br />

die Lieferpläne e<strong>in</strong>vernehmlich verändert<br />

worden. Das Ergebnis ist, dass<br />

Frankreich jetzt schon fünf Flieger im<br />

E<strong>in</strong>satz hat. Deutschland bekommt die<br />

erste A400M aller Voraussicht nach Ende<br />

November. Wir s<strong>in</strong>d <strong>zu</strong>versichtlich, diesen<br />

Term<strong>in</strong> <strong>zu</strong> halten, wir arbeiten mit<br />

Hochdruck an der Vorbereitung.<br />

Woher kommen dann anderslautende<br />

Gerüchte, wonach sich die Lieferung<br />

weiter verschiebt?<br />

Das frage ich mich auch. Vielleicht<br />

hat ja irgendjemand die Absicht, Gründe<br />

<strong>zu</strong> f<strong>in</strong>den, weshalb man den Flieger nicht<br />

Das Mädchen, das für das Recht auf Bildung kämpft.<br />

Friedensnobelpreis<br />

2014 für<br />

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die nicht gehört <strong>werden</strong>.«<br />

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KAPITAL<br />

Gespräch<br />

will oder so nicht will. Die Möglichkeit<br />

gibt es natürlich immer, dass man die Abnahme<br />

wegen irgendwelcher Beanstandungen<br />

verweigert. Aber ich hoffe, dass<br />

es nicht so kommt.<br />

Sie sehen ja schon h<strong>in</strong>ter jedem Busch<br />

e<strong>in</strong>en Heckenschützen.<br />

Wissen Sie, ich kenne nun die europäische<br />

Landschaft ganz gut und auch das,<br />

was <strong>in</strong> Amerika passiert. Ich kenne ke<strong>in</strong>e<br />

Rüstungsbürokratie, die risiko- und verantwortungsscheuer<br />

agiert als die deutsche.<br />

Es ist ja nicht so, dass Franzosen<br />

oder Briten mit dem Leben ihrer Soldaten<br />

oder Piloten spielen würden. Aber die<br />

Realität ist doch, dass kompliziertes oder<br />

komplexes Gerät am Tage der E<strong>in</strong>führung<br />

niemals 100 Prozent e<strong>in</strong>satzreif ist.<br />

<strong>Wie</strong> kommt es denn da<strong>zu</strong>, dass die<br />

Franzosen schon fünf dieser Flugzeuge<br />

haben?<br />

Weil die Franzosen früher „Hier!“<br />

gerufen haben und weil es allgeme<strong>in</strong>e<br />

Erkenntnis war, dass die französischen<br />

Transall stärker abgenutzt s<strong>in</strong>d als die<br />

deutschen. Die Franzosen wissen, dass<br />

der Flieger natürlich noch lange nicht<br />

all die Fähigkeiten hat, die er im Endstadium<br />

der Systemaufrüstung, etwa 2018,<br />

haben wird. Aber die französische Luftwaffe<br />

schätzt die hervorragenden logistischen<br />

Fähigkeiten der A400M und ist mit<br />

dem Flieger schon weltweit unterwegs,<br />

übrigens auch im Auftrag der Bundeswehr!<br />

Wenn man aber von e<strong>in</strong>em perfektionistischen<br />

Ansatz ausgeht, kann man<br />

den Abnahmeprozess natürlich nach Belieben<br />

verzögern und dann wieder der Industrie<br />

die Schuld <strong>in</strong> die Schuhe schieben.<br />

Und die Franzosen s<strong>in</strong>d nicht<br />

perfektionistisch?<br />

Jedenfalls s<strong>in</strong>d sie viel pragmatischer<br />

und e<strong>in</strong>satzorientierter als die <strong>Deutsche</strong>n.<br />

Nehmen Sie den E<strong>in</strong>satz unseres Kampfhubschraubers<br />

Tiger <strong>in</strong> Afghanistan.<br />

Frankreich hat den Tiger drei Jahre vor<br />

den <strong>Deutsche</strong>n dort e<strong>in</strong>gesetzt. Sie haben<br />

schneller zertifiziert und s<strong>in</strong>d mit technischen<br />

Problemstellungen deutlich pragmatischer<br />

umgegangen. Wenn e<strong>in</strong> neues<br />

Fluggerät <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>satz kommt, hat es<br />

fast immer irgendwelche K<strong>in</strong>derkrankheiten<br />

gegeben, die abgearbeitet <strong>werden</strong><br />

müssen. Das ist auch bei zivilen Fliegern<br />

„ Ich kenne ke<strong>in</strong>e<br />

Rüstungsbürokratie,<br />

die risiko- und<br />

verantwortungsscheuer<br />

agiert als<br />

die deutsche “<br />

so, und das gilt erst recht für komplexes<br />

militärisches Gerät. Kann man hier nicht<br />

e<strong>in</strong>mal von den e<strong>in</strong>satzorientierten Franzosen<br />

lernen? Oder nehmen Sie das Beispiel<br />

Euro Hawk: Hier g<strong>in</strong>g es um e<strong>in</strong>e<br />

zivile Zulassung für den Luftverkehr <strong>in</strong><br />

Deutschland. Ke<strong>in</strong> unbemanntes Flugzeug<br />

weltweit fliegt mit ziviler Zulassung.<br />

Ke<strong>in</strong> Problem <strong>in</strong> den USA und <strong>in</strong><br />

anderen Ländern. Nicht so <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Obwohl man zehn Jahre Zeit hatte,<br />

wurde ke<strong>in</strong>e Lösung gefunden. Hauptsache,<br />

ke<strong>in</strong> Risiko e<strong>in</strong>gehen. Auf diese<br />

Weise hat Deutschland e<strong>in</strong> Investment<br />

von 500 Millionen Euro <strong>in</strong> den Sand gesetzt.<br />

Das ist doch absurd!<br />

<strong>Deutsche</strong>r Perfektionismus.<br />

Rüstungsbürokratismus! Risikoscheuer<br />

und bürokratischer Perfektionismus,<br />

der sich tief h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gefressen hat<br />

<strong>in</strong> die Verwaltung, die im Übrigen viel<br />

<strong>zu</strong> wenig kommuniziert mit dem militärischen<br />

Endkunden. Das führt häufig<br />

<strong>zu</strong> abstrusen Ergebnissen, die die E<strong>in</strong>satzbereitschaft<br />

der Streitkräfte schwächen.<br />

Aber wir haben das doch heute <strong>in</strong><br />

allen Lebensbereichen. Null Risiko. Null<br />

Komma null. Vollkaskomentalität überall.<br />

Alles muss absolut abgesichert se<strong>in</strong>.<br />

Und bloß ke<strong>in</strong>en Fehler machen. Dann<br />

doch lieber gar nicht entscheiden. Da ist<br />

die deutsche Rüstungsbürokratie leider<br />

ke<strong>in</strong>e Ausnahme.<br />

So gesehen müsste die Initiative von<br />

Verteidigungsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> von der Leyen,<br />

e<strong>in</strong>e private Unternehmensberatung Inventur<br />

bei den Rüstungsprojekten machen<br />

<strong>zu</strong> lassen, Ihr Wohlwollen haben,<br />

oder?<br />

Absolut richtig. Die Realität der Bundeswehr<br />

ist jetzt für alle sichtbar. Und<br />

klar wird auch, was <strong>zu</strong> ändern ist. Das ist<br />

e<strong>in</strong>e große Chance für die Bundeswehr<br />

und für die M<strong>in</strong>ister<strong>in</strong>, und wir <strong>werden</strong><br />

gerne da<strong>zu</strong> beitragen, diese Chance <strong>zu</strong><br />

nutzen. Ich habe aber nicht vor, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

ängstlichen Defensivhaltung <strong>zu</strong> verharren.<br />

Dafür gibt es ke<strong>in</strong>en Grund.<br />

Frau von der Leyen sagt jetzt, sie wolle<br />

nicht mehr nur auf den nationalen oder<br />

europäischen Markt bestellen, sondern<br />

<strong>in</strong>ternational. Sie bekommen also neue<br />

Wettbewerber.<br />

Damit habe ich grundsätzlich ke<strong>in</strong><br />

Problem. Wenn Deutschland und die<br />

Bundeswehr als Kunde attraktiv s<strong>in</strong>d,<br />

wenn es um große Stückzahlen und attraktive<br />

Vertragskonditionen geht, wird<br />

das sicherlich <strong>in</strong>ternationale Wettbewerber<br />

anziehen. Amerikaner, Russen, Israelis<br />

und morgen sicher auch Koreaner und<br />

Ch<strong>in</strong>esen. Aber häufig wird <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest<br />

e<strong>in</strong>e der beiden Konditionen fehlen. Deshalb<br />

und auch um strategisch-relevante<br />

Abhängigkeiten <strong>in</strong> sensitiven Technologiebereichen<br />

<strong>zu</strong> vermeiden, wird es <strong>in</strong><br />

den meisten Fällen S<strong>in</strong>n machen, europäische<br />

oder transatlantische Programme<br />

auf den Weg <strong>zu</strong> br<strong>in</strong>gen – und zwar so,<br />

dass die Fehler der Vergangenheit vermieden<br />

<strong>werden</strong>.<br />

98<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


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KAPITAL<br />

Report<br />

100<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


ENERGIE<br />

ALS<br />

WAFFE<br />

S<strong>in</strong>d wir abhängiger von<br />

russischem Gas oder<br />

Put<strong>in</strong> von unserem Geld?<br />

E<strong>in</strong>e Bestandsaufnahme<br />

kurz vor Beg<strong>in</strong>n<br />

der kalten Jahreszeit<br />

Von CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />

Illustration FELIX GEPHART<br />

Tief im Erdreich unter dem Berl<strong>in</strong>er Stadtteil Westend<br />

hat Holger Staisch 122 Millionen Kubikmeter<br />

russisches Erdgas gebunkert. Er und se<strong>in</strong>e Leute haben<br />

es <strong>in</strong> den vergangenen Monaten mithilfe von mächtigen<br />

Pumpen dorth<strong>in</strong> geschickt, unbemerkt von den Berl<strong>in</strong>ern,<br />

die an der Oberfläche leben und arbeiten. Das Gas<br />

lagert <strong>in</strong> Sandste<strong>in</strong>schichten <strong>in</strong> 800 bis 900 Meter Tiefe,<br />

auch unter dem Olympiastadion. Auf dem riesigen Bildschirm<br />

im Kontrollzentrum von Staischs Firma dom<strong>in</strong>iert<br />

derzeit beruhigendes Grün. „Wir s<strong>in</strong>d wie alle deutschen<br />

Speicher <strong>zu</strong> über 90 Prozent gefüllt“, sagt der Geschäftsführer<br />

<strong>zu</strong>frieden, „der W<strong>in</strong>ter kann kommen.“<br />

Der Berl<strong>in</strong>er Erdgasspeicher, den Staisch im Auftrag<br />

des kommunalen Versorgers Gasag leitet, wurde im Kalten<br />

Krieg aus Angst vor den Russen ersonnen. Zuerst hatte<br />

man am Nordrand des Grunewalds nach Erdöl und Erdgas<br />

gebohrt, <strong>in</strong> der Hoffnung, Westberl<strong>in</strong> unabhängig von<br />

den Russen versorgen <strong>zu</strong> können. Als klar war, dass hier<br />

nichts sprudeln würde, schlugen Geologen vor, das poröse<br />

Geste<strong>in</strong> <strong>zu</strong> nutzen, um Erdgas für harte W<strong>in</strong>ter und<br />

für Notfälle <strong>zu</strong> bevorraten. Gasdicht abgeschlossen wird<br />

der Speicher nach oben von e<strong>in</strong>er Salz- und Tonschicht.<br />

Seit 1994 ist der Berl<strong>in</strong>er Erdgasspeicher nun <strong>in</strong> Betrieb,<br />

und seit 2014 bekommt er – geme<strong>in</strong>sam mit 50<br />

anderen ähnlichen E<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong> ganz Deutschland –<br />

e<strong>in</strong>e neue, brisante Bedeutung: Wegen des Ukra<strong>in</strong>ekonflikts<br />

ist die Angst vor den Russen <strong>zu</strong>rück, die Sorge davor,<br />

dass Wladimir Put<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>er neuerlichen Eskalation des<br />

Konflikts den Hahn <strong>zu</strong>drehen könnte und der Gasfluss aus<br />

den russischen Pipel<strong>in</strong>es, die rund 36 Prozent des deutschen<br />

Bedarfs decken, versiegen würde. Deutschland und<br />

andere EU-Länder denken neu darüber nach, wie sie ihre<br />

Versorgung mit Erdgas <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten<br />

sicherstellen.<br />

Die Bundesregierung versichert der Bevölkerung,<br />

dass niemand <strong>in</strong> Deutschland vor dem nächsten W<strong>in</strong>ter<br />

Angst haben muss. In den durchweg privat geführten Speichern<br />

lagert rund e<strong>in</strong> Viertel des Jahresverbrauchs, rund<br />

20 Milliarden Kubikmeter. Zudem ließen sich kurzfristige<br />

Engpässe durch Zukäufe auf dem Weltmarkt, etwa<br />

aus Norwegen, ausgleichen. Dennoch ist „N-1“, wie e<strong>in</strong><br />

Totalausfall von Lieferungen aus Russland von den Experten<br />

der Bundesregierung abgekürzt wird, derzeit e<strong>in</strong>es<br />

der Topthemen von Bundeskanzler<strong>in</strong> Angela Merkel und<br />

Wirtschaftsm<strong>in</strong>ister Sigmar Gabriel. Sie lassen prüfen, ob<br />

Deutschland, ähnlich wie beim Erdöl, e<strong>in</strong>e nationale strategische<br />

Reserve anlegen sollte und ob neue Pipel<strong>in</strong>es nötig<br />

s<strong>in</strong>d, die nichtrussisches Gas nach Mittel- und Westeuropa<br />

transportieren. Es geht darum, wie mehr verflüssigtes<br />

Erdgas, sogenanntes LNG, mit Schiffen aus anderen Weltregionen<br />

nach Deutschland kommen könnte und ob heimisches<br />

Schiefergas mithilfe des ökologisch umstrittenen<br />

Frack<strong>in</strong>g-Verfahrens gefördert <strong>werden</strong> sollte.<br />

In Deutschland und der ganzen EU fallen <strong>in</strong> den kommenden<br />

Monaten wichtige Entscheidungen, die bee<strong>in</strong>flussen,<br />

welche Bedeutung Russland als Energielieferant künftig<br />

haben wird. Put<strong>in</strong>s Reich ist zwar existenziell von den<br />

E<strong>in</strong>künften aus Öl- und Gasverkäufen abhängig. Doch mit<br />

neuen Pipel<strong>in</strong>es <strong>in</strong> Richtung Ch<strong>in</strong>a und langfristigen Lieferverträgen<br />

mit Fernost hat Russland andere Kunden für<br />

den Fall, dass das Geschäft mit Europa nicht mehr floriert,<br />

politisch nicht mehr erwünscht oder gar aus militärischen<br />

Gründen unmöglich wird.<br />

In der Energiewirtschaft ist man sich bereits jetzt nicht<br />

mehr sicher, dass Russland se<strong>in</strong>e Lieferverpflichtungen<br />

wirklich treu erfüllt. In den vergangenen Wochen registrierten<br />

Versorger wie Eon, dass deutlich weniger Erdgas<br />

aus Russland <strong>in</strong> Westeuropa ankommt als erwartet. Noch<br />

s<strong>in</strong>d die Schwankungen <strong>in</strong>nerhalb der vertraglich vere<strong>in</strong>barten<br />

Werte, doch der Verdacht steht im Raum, dass die<br />

Mächtigen am anderen Ende der Leitungen zeigen wollen,<br />

was möglich ist. Die Ukra<strong>in</strong>e ist bereits seit Monaten vom<br />

russischen Gas abgeschnitten, weil ausstehende Rechnungen<br />

nicht bezahlt s<strong>in</strong>d und der Preis zwischen den verfe<strong>in</strong>deten<br />

Ländern strittig ist.<br />

VOR ALLEM DIE EU-KOMMISSION verfolgt angesichts solcher<br />

Vorfälle e<strong>in</strong>e Strategie größtmöglicher Unabhängigkeit<br />

von Russland und will verstärkt auf Frack<strong>in</strong>g setzen,<br />

um die Abhängigkeit von Russland <strong>zu</strong> verr<strong>in</strong>gern. Zudem<br />

hat Brüssel e<strong>in</strong>e Liste mit Dutzenden Projekten vorgelegt,<br />

101<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


KAPITAL<br />

Report<br />

mit denen die Gas<strong>in</strong>frastruktur so weiterentwickelt <strong>werden</strong><br />

soll, dass Put<strong>in</strong>s E<strong>in</strong>fluss schrumpft. Neue Term<strong>in</strong>als<br />

für Flüssiggas aus Afrika, dem arabischen Raum und Nordamerika<br />

wie im polnischen Sw<strong>in</strong>emünde stehen ebenso<br />

auf dieser Liste wie neue Pumpstationen, mit denen Gas<br />

notfalls <strong>in</strong> großen Mengen von Westen her gen Baltikum<br />

und Südosteuropa transportiert <strong>werden</strong> kann.<br />

Diese sogenannte „Schubumkehr“ ist e<strong>in</strong>e der härtesten<br />

energiepolitischen Waffen der EU gegen Russland.<br />

Put<strong>in</strong> stört es schon jetzt enorm, dass<br />

Deutschland neuerd<strong>in</strong>gs von Westen<br />

her Erdgas <strong>in</strong> die Ukra<strong>in</strong>e br<strong>in</strong>gt und<br />

damit dem Land hilft, den russischen<br />

Lieferstopp <strong>zu</strong> umgehen. Die deutsche<br />

RWE liefert über e<strong>in</strong>e Tochtergesellschaft<br />

seit April Gas <strong>in</strong> die Ukra<strong>in</strong>e,<br />

sowohl über Polen als auch über<br />

die Slowakei. Fachleute halten es für<br />

möglich, dass Put<strong>in</strong> nun exakt so viel<br />

weniger Gas e<strong>in</strong>speist, wie die RWE<br />

von Westen her an die Ukra<strong>in</strong>e liefert.<br />

„Die geschlossenen Verträge<br />

sehen ke<strong>in</strong>en Reexport vor“, warnte<br />

der russische Energiem<strong>in</strong>ister Alexander<br />

Nowak Ende September im<br />

Handelsblatt.<br />

Bisher limitieren Pipel<strong>in</strong>ekapazitäten<br />

die Schubumkehr. Doch konsequent<br />

umgesetzt, würden die Brüsseler<br />

Pläne es ermöglichen, dass Gas statt von Ost nach<br />

West künftig <strong>in</strong> großen Mengen von West nach Ost fließen<br />

kann. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d die Kosten e<strong>in</strong>er solchen Strategie<br />

hoch. „Wir stehen vor der Frage, wie viel wir uns beim<br />

Thema Erdgas die europäische Solidarität kosten lassen<br />

wollen“, heißt es im Bundeswirtschaftsm<strong>in</strong>isterium von<br />

Sigmar Gabriel.<br />

Bei e<strong>in</strong>em<br />

russischen<br />

Lieferstopp droht<br />

vielen Menschen<br />

im Baltikum,<br />

<strong>in</strong> Bulgarien<br />

und Rumänien<br />

im W<strong>in</strong>ter der<br />

Kältetod<br />

DIE REGIERUNGSCHEFS DER EU-STAATEN haben für ihren<br />

Gipfel Ende Oktober vier Szenarien durchspielen lassen,<br />

welche Auswirkungen e<strong>in</strong> teilweiser oder vollständiger<br />

Stopp von russischen Gaslieferungen hätte. Der Test ergab,<br />

dass vor allem die baltischen Staaten und südosteuropäische<br />

Länder wie Bulgarien und Rumänien extrem betroffen<br />

wären, weil es dort kaum strategische Reserven gibt<br />

und die Abhängigkeit von russischem Gas am größten ist.<br />

Wird der W<strong>in</strong>ter dort hart, könnte e<strong>in</strong> Lieferstopp Russlands<br />

sehr viele Menschen mit dem Kältetod bedrohen. Im<br />

Bundeswirtschaftsm<strong>in</strong>isterium wird deshalb bereits geprüft,<br />

welche Möglichkeiten es gäbe und wie teuer es wäre,<br />

den betroffenen EU-Partnern auch kurzfristig <strong>zu</strong> helfen.<br />

Manchen geht die Wucht, mit der die Bundesregierung<br />

und die EU sich von russischem Gas absetzen, bereits<br />

<strong>zu</strong> weit. Stephan Kohler, der die von der Bundesregierung<br />

mitf<strong>in</strong>anzierte <strong>Deutsche</strong> Energie-Agentur (Dena)<br />

leitet, bezeichnet es als Illusion, wenn Deutschland glaube,<br />

ohne tiefgreifende Folgen und hohe Kosten auf russische<br />

Energielieferungen verzichten <strong>zu</strong> können. Die britischen<br />

und niederländischen Gasfelder seien bald erschöpft, und<br />

Flüssiggas sei erheblich teurer, weil Europa darum direkt<br />

mit Ch<strong>in</strong>a und anderen asiatischen Volkswirtschaften konkurrieren<br />

würde. Zudem gebe die Regierung dem breiten<br />

Widerstand der Bevölkerung gegen die Förderung eigener<br />

Vorkommen durch Frack<strong>in</strong>g nach. Kohler fordert „mehr<br />

Realismus“: „Wir wollen Versorgungssicherheit ohne Russen,<br />

aber ke<strong>in</strong> Frack<strong>in</strong>g. Wir wollen Klimaschutz, aber<br />

ke<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>dräder. Wir haben das größte Aufregungspotenzial,<br />

aber ke<strong>in</strong>er ist bereit, mehr für<br />

Energie <strong>zu</strong> bezahlen – das kann nicht<br />

gut gehen“, sagt der Dena-Chef.<br />

Kohler kennt die russische Energieszene<br />

wie wenige andere <strong>in</strong> Deutschland<br />

und unterhält beste Kontakte bis<br />

<strong>in</strong> den Kreml. Eigentlich, sagt er, „wäre<br />

es verständlich, wenn die Russen umgekehrt<br />

Energiesanktionen gegen uns<br />

verhängen würden, da, wo es uns wehtut“,<br />

denn der Westen habe mit se<strong>in</strong>en<br />

gegen Öl- und Gasfirmen gerichteten<br />

Sanktionen als Erster Energie als Waffe<br />

e<strong>in</strong>gesetzt. Vor allem den Amerikanern<br />

wirft der Dena-Chef unlautere Motive<br />

vor: Die USA wollten verh<strong>in</strong>dern, dass<br />

das rohstoffreiche Russland und das<br />

technologiestarke Europa sich <strong>zu</strong> eng<br />

verbündeten, und hätten es auch darauf<br />

abgesehen, Europa künftig statt der<br />

Russen mit dem <strong>in</strong> den USA per Frack<strong>in</strong>g gewonnenen<br />

Schiefererdgas <strong>zu</strong> beliefern.<br />

Dass Put<strong>in</strong> wirklich den Gashahn <strong>zu</strong>dreht, hält Kohler<br />

aber für nahe<strong>zu</strong> ausgeschlossen: „Russland hat trotz Kaltem<br />

Krieg und trotz der Zerstörung der Sowjetunion immer<br />

vertragstreu Erdgas geliefert.“ Put<strong>in</strong> wolle e<strong>in</strong> stabiles<br />

Verhältnis <strong>zu</strong> Europa, er habe jüngst noch e<strong>in</strong> Freihandelsabkommen<br />

vorgeschlagen und bekräftigt, dass Russland<br />

und Europa <strong>zu</strong>sammengehörten. Kohler hält es für geboten,<br />

konsequent auf e<strong>in</strong>en Dialog mit Russland <strong>zu</strong> setzen,<br />

um <strong>zu</strong>r alten Energiepartnerschaft <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>kehren.<br />

Die Ukra<strong>in</strong>ekrise führt vor Augen, dass die energetische<br />

Abhängigkeit von Russland e<strong>in</strong>en hohen Preis hat,<br />

aber dass es ökonomisch gesehen noch teurer wäre, russisches<br />

Erdgas durch solches aus anderen Quellen e<strong>in</strong>fach<br />

<strong>zu</strong> ersetzen. Für diejenigen, die kostengünstig von Russland<br />

loskommen wollen, hat Dena-Chef Stephan Kohler<br />

e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachen Rat: im eigenen Land die Energieeffizienz<br />

mit allen Kräften, also Energiesparen, Wärmedämmung<br />

und sparsamen Technologien <strong>zu</strong> fördern: „Hier liegen gigantische<br />

Potenziale, die bisher noch ke<strong>in</strong>e Bundesregierung<br />

genutzt hat.“<br />

CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />

arbeitet als Wissenschafts- und Umweltjournalist<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Dass man <strong>in</strong> der Hauptstadt schon e<strong>in</strong>mal<br />

ernsthaft nach Erdöl gebohrt hat, hat er aber<br />

erst bei dieser Recherche erfahren<br />

Foto: Privat<br />

102<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


STIL<br />

„ Die Fantasie<br />

sucht sich<br />

neue unmoralische<br />

Formen “<br />

Der Autor Gerhard Haase-H<strong>in</strong>denberg über die erotischen Fantasien der<br />

<strong>Deutsche</strong>n, Interview ab Seite 114<br />

103<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


STIL<br />

Porträt<br />

WARUM SO ERNST?<br />

Vom Helden seichter Unterhaltung <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em der Seriösen unter Hollywoods Stars. Der<br />

Weg des Matthew McConaughey, auf dessen Körper sogar e<strong>in</strong>e Redensart <strong>zu</strong>rückgeht<br />

Von SARAH-MARIA DECKERT<br />

Kennen Sie das? Dass e<strong>in</strong>er bei jeder<br />

sich bietenden Gelegenheit<br />

das Hemd auszieht? Nicht, weil<br />

der Hautarzt ihn freundlich bittet, den<br />

Oberkörper frei<strong>zu</strong>machen, sondern weil<br />

die perfekt def<strong>in</strong>ierte Bauch-/Rücken-/<br />

Armpartie e<strong>in</strong> wenig Aufmerksamkeit<br />

verdient hat. Das Urban Dictionary, e<strong>in</strong><br />

englisches Wörterbuch für abenteuerliche<br />

Neologismen und Redewendungen,<br />

kennt dafür e<strong>in</strong>, nun ja, Verb: to pull a<br />

McConaughey, wörtlich übersetzt heißt<br />

das: e<strong>in</strong>en McConaughey abziehen.<br />

Matthew McConaughey, das ist der<br />

Mann mit dem ganzjährigen Bronzete<strong>in</strong>t<br />

und den Goldlöckchen. Dieser Mann,<br />

44 Jahre alt, der lieber se<strong>in</strong>en silbernen<br />

Wohnwagen am Strand von Malibu parkt,<br />

als dauerhaft e<strong>in</strong>e ordentliche Villa <strong>zu</strong><br />

beziehen. In der Highschool trug er den<br />

Titel „Most Handsome“. 22 Filme und e<strong>in</strong><br />

paar hemdlose Auftritte später kürte das<br />

People Magaz<strong>in</strong>e ihn 2005 <strong>zu</strong>m „Sexiest<br />

Man Alive“. Matthew McConaughey, das<br />

ist der Inbegriff des surfenden, joggenden<br />

und Paleo-Diät-haltenden Charmebolzen<br />

aus Longview, Texas.<br />

Lange Zeit war die Marke McConaughey<br />

entsprechend eng def<strong>in</strong>iert, als<br />

Abziehbild e<strong>in</strong>es Klischee-Südstaatlers.<br />

Verwegen, kaugummikauend und mit<br />

kehliger Karamellstimme, mit der er<br />

Vokale bis <strong>zu</strong>r Unkenntlichkeit dehnt.<br />

Da<strong>zu</strong> sagt er Sätze wie: „Die texanische<br />

Kultur ist widerstandsfähig. Man klopft<br />

sich den Staub aus den Klamotten und<br />

kümmert sich um se<strong>in</strong>e Angelegenheiten.<br />

Wir haben heftige Dürre und heftige Flut,<br />

und wir haben gelernt, uns an<strong>zu</strong>passen.<br />

Man beschwert sich nicht übers Wetter.“<br />

Howdy!<br />

In Hollywood gab er immer wieder<br />

den romantischen Komödienhelden,<br />

der abwechselnd Jennifer Lopez („Wedd<strong>in</strong>g<br />

Planner“, 2001), Kate Hudson („<strong>Wie</strong><br />

werde ich ihn los <strong>in</strong> zehn Tagen“, 2003)<br />

oder Sarah Jessica Parker („Zum Ausziehen<br />

verführt“, 2006) se<strong>in</strong>en Schultermuskel<br />

<strong>zu</strong>m Anlehnen h<strong>in</strong>hielt. Und er<br />

spielte die Rolle des smarten Junggesellen<br />

gerne. Das Drama lag nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Frohnatur.<br />

Bis Ron Woodroof kam. E<strong>in</strong> fluchender<br />

Maulheld, homophob bis <strong>in</strong> die<br />

Cowboystiefelspitzen. Und Aidspatient –<br />

im Jahr 1985. McConaughey machte<br />

für diese Rolle <strong>in</strong> „Dallas Buyers Club“<br />

(2013), die ihm dieses Jahr den Oscar e<strong>in</strong>brachte,<br />

e<strong>in</strong>e fast schon irritierende Kehrtwende.<br />

Die Goldlöckchen waren weg, der<br />

Bronzete<strong>in</strong>t, 23 Kilogramm. Dann spielte<br />

er. <strong>Wie</strong> <strong>in</strong> der Autoszene, <strong>in</strong> der er nach<br />

se<strong>in</strong>er Pistole greift. Mit diesem ausgemergelten<br />

Körper, mit dem verzerrten Gesicht,<br />

über das sich die Haut nur noch wie<br />

e<strong>in</strong> Lederlappen spannt, dieses verzweifelte<br />

Ohnmachtsschluchzen, irgendwo<br />

von ganz tief unten. Den Malibu-McConaughey,<br />

den gibt es hier nicht mehr.<br />

DAFÜR GIBT ES RUST COHLE, den ebenso<br />

kaputten wie genialischen Nihilisten aus<br />

der 2014 angelaufenen HBO-Serie „True<br />

Detective“, mit dessen Darstellung Mc-<br />

Conaughey sich endgültig <strong>in</strong> die A-Liste<br />

Hollywoods gespielt hat, wie vor ihm die<br />

Seriendarsteller Steve Buscemi („Boardwalk<br />

Empire“), Bryan Cranston („Break<strong>in</strong>g<br />

Bad“) oder Claire Danes („Homeland“).<br />

Der Wandel <strong>in</strong>s ernste Rollenfach<br />

kam für McConaughey 2011, nach e<strong>in</strong>er<br />

zweijährigen Schaffenspause. Er heiratete<br />

se<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>, bekam zwei K<strong>in</strong>der<br />

und gründete e<strong>in</strong>e Stiftung. Die Jahre der<br />

privaten Revolte waren vorbei. Nun war<br />

Platz für die filmische.<br />

Dieses exzessive, fast schon kompromisslose<br />

Streben nach Rollenauthentizität<br />

ist nicht neu. Robert De Niro legte<br />

für „<strong>Wie</strong> e<strong>in</strong> wilder Stier“ (1980) 30 Kilo<br />

<strong>zu</strong>. Charlize Theron bewies <strong>in</strong> „Monster“<br />

(2003) Mut <strong>zu</strong>r Hässlichkeit. Filmdiät-Veteran<br />

Christian Bale hungerte sich<br />

für „The Mach<strong>in</strong>ist“ (2004) und „The<br />

Fighter“ (2010) auf e<strong>in</strong>e gefährliche Gewichtsklasse<br />

ab. Und Anne Hathaway rasierte<br />

sich für „Les Misérables“ (2012)<br />

den Kopf. Alle vier wurden dafür mit<br />

dem Oscar belohnt und baden seither <strong>in</strong><br />

ihrem Charakterdarsteller-Image.<br />

Bei McConaughey ist das neu gewonnene<br />

Bild des ernsten Haudegens eigentlich<br />

e<strong>in</strong> altes: Der ehemalige Jura-<br />

Student debütierte 1996 <strong>in</strong> „Die Jury“<br />

(„A Time to Kill“) als knallharter Anwalt,<br />

um anschließend von der Kritik<br />

<strong>zu</strong>m neuen Paul Newman ausgerufen <strong>zu</strong><br />

<strong>werden</strong>. Gerade hat er die Dreharbeiten<br />

<strong>zu</strong>m Science-Fiction-Thriller „Interstellar“<br />

abgeschlossen, <strong>in</strong> dem er als Wissenschaftler<br />

durch e<strong>in</strong> Wurmloch reist.<br />

Und 2015 wird er sich <strong>in</strong> „The Sea of<br />

Trees“ <strong>in</strong> die japanischen Wälder am<br />

Fuße des Fuji begeben – um Selbstmord<br />

<strong>zu</strong> begehen.<br />

Die erste Staffel von „True Detective“,<br />

die im Oktober auf dem deutschen<br />

Bezahlsender Sky Atlantic angelaufen ist,<br />

ist mit acht Folgen übrigens abgedreht.<br />

Für jede weitere Staffel soll es nun e<strong>in</strong> jeweils<br />

komplett neues Team geben, neue<br />

Regisseure, neue Drehbuchautoren, neue<br />

Darsteller. Darunter: V<strong>in</strong>ce Vaughn, der<br />

<strong>in</strong> Matthew McConaugheys Fußstapfen<br />

treten wird. Vaughn, bisheriger Dauergast<br />

<strong>in</strong> Romanzen und Klamauk-Komödien.<br />

Vielleicht schafft damit ja auch er<br />

den Sprung <strong>in</strong> die seriöse A-Liste. Und<br />

vielleicht wird man dann sagen: „He just<br />

pulled a McConaughey.“<br />

SARAH-MARIA DECKERT arbeitet als<br />

freie Autor<strong>in</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. „McConaughey“<br />

schreibt sie trotz der Arbeit an diesem<br />

Text immer noch regelmäßig falsch<br />

Foto: Jens Koch/Picture Press<br />

104<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


106<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


STIL<br />

Typologie<br />

RUND UM<br />

DIE UHR<br />

Von LENA BERGMANN<br />

E<strong>in</strong>e Uhr sagt mehr<br />

aus als die Zeit. In ihr<br />

spiegelt sich die<br />

Persönlichkeit ihrer<br />

Besitzer. Wir haben<br />

sieben Typen und<br />

deren Liebl<strong>in</strong>gsmodelle<br />

identifiziert<br />

Illustrationen SUSANN STEFANIZEN<br />

DIE AGENTUR- CHEFIN<br />

Dieser Typ Uhrenträger<strong>in</strong> belohnt sich gern selbst<br />

für ihren Erfolg: Vor zwei Jahrzehnten gründete<br />

sie ihr Unternehmen, und im selben Jahr<br />

g<strong>in</strong>g die Lange 1 an den Markt, das erfolgreichste Modell<br />

der nach der Wende neu gegründeten sächsischen<br />

Traditionsmanufaktur A. Lange & Söhne. Parallel<br />

schrieben die beiden ihre deutschen Erfolgsgeschichten,<br />

gegen alle Widrigkeiten – die Gründer<strong>in</strong> als <strong>junge</strong><br />

Frau und die Lange 1 als neues Produkt, dessen Herkunft<br />

aus der ehemaligen DDR sie auf dem <strong>in</strong>ternationalen<br />

Luxusuhrenmarkt nicht gerade <strong>zu</strong>m Erfolg prädest<strong>in</strong>ierte.<br />

Dass es die grafisch-elegante Lange 1, die<br />

mit ihren dezentralen Anzeigen, filigraner Schrift und<br />

Großdatum <strong>in</strong>zwischen als Designklassiker gilt, nur als<br />

Männeruhr gibt, im Durchmesser von 38,5 Millimetern,<br />

ist für die Gründer<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> H<strong>in</strong>derungsgrund, im<br />

Gegenteil: Frauen kriegen die K<strong>in</strong>der und Männer die<br />

größeren Uhren? Warum das denn, bitte? Außerdem<br />

fühlt sich die selbst bezahlte große Lange 1 <strong>in</strong> Plat<strong>in</strong><br />

an ihrem Handgelenk an wie e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Aerobic-Hantel,<br />

substanziell, befriedigend – irgendwie sexy, sogar<br />

107<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


STIL<br />

Typologie<br />

DIE MITMACHER<br />

Was <strong>in</strong> den Achtzigern die Swatch war, ist<br />

heute die Ice Watch: e<strong>in</strong> absolutes Muss<br />

für die Unter-18-Fraktion, mit der <strong>in</strong> Konsumfragen<br />

ja nicht <strong>zu</strong> spaßen ist. Auf ihr Geheiß h<strong>in</strong><br />

wurde die belgische Firma mit dem strategisch gewählten<br />

Namen – Ice Watch hört sich wohl nicht <strong>zu</strong>fällig<br />

an wie iSwatch, was <strong>zu</strong> diversen Rechtsstreitigkeiten<br />

mit der Firma Swatch führte – über Nacht <strong>zu</strong>m<br />

Star. Erfolgspr<strong>in</strong>zip? Gruppenzwang. Und der beschert<br />

uns e<strong>in</strong>e Flut von Modellen <strong>in</strong> grellen Farben mit generisch-grobschlächtiger<br />

Form und Typografie. Produziert<br />

<strong>werden</strong> diese im südch<strong>in</strong>esischen Shenzhen,<br />

der „Stadt der Konkub<strong>in</strong>en“, <strong>in</strong> der sich reiche Geschäftsleute<br />

aus dem nahen Hongkong traditionell ihre<br />

Zweitfrauen halten. Nebenher <strong>werden</strong> dort also auch<br />

preiswerte Uhren für die verwöhnte Jugend Europas<br />

<strong>zu</strong>sammengeschraubt. Das populäre Modell Ice M<strong>in</strong>i<br />

ist ab 59 Euro <strong>zu</strong> haben, doch auch aufgebrezelte Ausführungen<br />

überschreiten kaum die 200-Euro-Marke.<br />

Inzwischen gibt es 34 verschiedene Kollektionen, die<br />

nur e<strong>in</strong> Teenager mit sehr viel Zeit ause<strong>in</strong>anderhalten<br />

kann. An den Handgelenken der Mädchen bl<strong>in</strong>kt<br />

die Ice Watch Star mit Swarovski-Ste<strong>in</strong>chen oder die<br />

Ice Forever Trendy <strong>in</strong> Neonp<strong>in</strong>k oder Neongelb, während<br />

die Jungs die Ice Watch BMW bevor<strong>zu</strong>gen – <strong>in</strong><br />

den Teenagerjahren herrschen noch klare Verhältnisse.<br />

DER STUNTMAN<br />

Je abstrakter, digitaler und entfremdeter der Alltag erfolgreicher<br />

Unternehmer wird, desto ausgeprägter wird<br />

<strong>in</strong> ihrer Freizeitgestaltung die Tendenz <strong>zu</strong>r kernigen körperlichen<br />

Grenzerfahrung. Ob Weltraumtourismus, E<strong>in</strong>hand-<br />

Transatlantik-Segelrennen oder Heliski<strong>in</strong>g im Himalaja: Sporteln<br />

mit Wagnis ist das neue Koka<strong>in</strong> der unternehmerischen<br />

Risikoelite. Da diese heute ke<strong>in</strong>e Drogen, sondern Hedg<strong>in</strong>g<br />

im Blut hat, spr<strong>in</strong>gt sie zwar ohne Risikoversicherung aus dem<br />

Hubschrauber, aber dafür mit Breitl<strong>in</strong>g Emergency: Selbst dann,<br />

wenn <strong>in</strong> der Gletscherspalte oder auf dem Rettungsfloß das<br />

Satellitenhandy von Vertu nicht mehr funktioniert, sendet<br />

die Emergency nach ihrer Aktivierung durch den Gefährdeten<br />

über e<strong>in</strong> komplexes Zwei-Frequenz-System <strong>zu</strong>verlässig <strong>in</strong><br />

das sogenannte Cospas-Sarsat-Netzwerk, das die Ortungsdaten<br />

verschollener oder havarierter Breitl<strong>in</strong>g-Kunden mittels<br />

geostationärer Satelliten an die jeweils <strong>zu</strong>ständigen Such- und<br />

Rettungsdienste weiterleitet. So wird Dist<strong>in</strong>ktion am Handgelenk<br />

nicht durch e<strong>in</strong>e für diese Zielgruppe langweilige Selbstverständlichkeit<br />

wie Geld, sondern über die Feier des herrlich<br />

<strong>in</strong>fantilen Todesmuts erzeugt, den die Emergency impliziert.<br />

108<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


OKTOBER 2014 / EURO 9,00 / SFR 14,50<br />

DIE UHRLOSEN<br />

Es gibt Menschen, denen e<strong>in</strong>e Armbanduhr entschieden<br />

<strong>zu</strong> wenig Information liefert. Uhrzeit,<br />

Datum, Mondphase? Pah! E<strong>in</strong> Witz gegen jedes<br />

noch so e<strong>in</strong>fache E<strong>in</strong>steiger-Smartphone. Viele Verbraucher,<br />

die mit dem iPhone leben, kämen nie auf<br />

die Idee, viele Tausend Euro für e<strong>in</strong> Gerät von solch<br />

e<strong>in</strong>geschränkter Funktionalität aus<strong>zu</strong>geben. Für diese<br />

Zielgruppe hat Apple nun se<strong>in</strong> schlicht „Apple Watch“<br />

genanntes anschnallbares M<strong>in</strong>itablet entwickelt, das<br />

geradewegs e<strong>in</strong>em Orwell’schen Albtraum entsprungen<br />

<strong>zu</strong> se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t: „Die Apple Watch ist e<strong>in</strong> neues<br />

Kapitel <strong>in</strong> der Beziehung zwischen Mensch und Technologie“,<br />

plappert die Apple-Website ungeniert – ja<br />

sicher, möchte man ergänzen, da sie ihrem User die<br />

Information nun quasi direkt aus der Vene saugt. Das<br />

Gerät sei „e<strong>in</strong> Gesundheits- und Fitnessbegleiter, der<br />

ständig analysiert, wie du noch aktiver und fitter se<strong>in</strong><br />

kannst“ – das hört sich doch an wie die perfekte Wechselprämie<br />

e<strong>in</strong>er privaten Krankenversicherung! Abgesehen<br />

von Überlegungen <strong>zu</strong>m Schutz der Privatsphäre<br />

sollte das Ersche<strong>in</strong>en der Apple Watch im nächsten<br />

Frühjahr auch Überlegungen <strong>zu</strong>m Schutz von Partnerschaften<br />

auslösen. Denn viele Uhrlose gehören <strong>zu</strong><br />

jenen Zeitgenossen, die <strong>in</strong> fast jeder wachen Sekunde<br />

auf e<strong>in</strong>en ihrer drei Apple-Bildschirme blicken – auf<br />

MacBook, iPad oder iPhone –, sehr <strong>zu</strong>m Ärger ihrer<br />

Lebenspartner. Den vierten Bildschirm, auf den man<br />

nun sogar beim Sex unauffällig e<strong>in</strong>en Blick werfen<br />

kann, <strong>werden</strong> viele Partnerschaften nicht überleben.<br />

Ihr Monopol<br />

auf die Kunst<br />

Mode?<br />

„Widerstand kleidet immer“: mer“: Fotograf<br />

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109<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


STIL<br />

Typologie<br />

DAS ELITE-MÄDCHEN<br />

An den blassen Ohrläppchen der höheren Tochter bef<strong>in</strong>den<br />

sich die Perlenstecker, die sie von ihrer Großmutter<br />

geerbt hat. An ihrem Handgelenk sieht man, seit<br />

sie das erste juristische Staatsexamen bestanden hat, die Tank<br />

Française von Cartier, ruhig auch die Version mit gelbgoldenen<br />

Akzenten im stählernen Gliederarmband. Diese unkomplizierte<br />

Allrounder<strong>in</strong> ist derart populär, dass sie unter weiblichen<br />

Nachwuchsführungskräften <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Uniformelement<br />

geworden ist, analog <strong>zu</strong>r allgegenwärtigen Rolex Submar<strong>in</strong>er<br />

aus Edelstahl bei ihren männlichen Kollegen und somit Konkurrenten,<br />

aus deren Pool sich <strong>in</strong> den meisten Fällen auch ihre<br />

späteren Ehemänner rekrutieren. Anders als die Submar<strong>in</strong>er,<br />

die den Jungbanker nachts vor se<strong>in</strong>em Rechner daran er<strong>in</strong>nert,<br />

dass er als Student doch mal Tauchlehrer auf Bali <strong>werden</strong><br />

wollte, ist die Tank Française die perfekte Büro-Uhr für<br />

die kommende weibliche Funktionselite. Bei Student<strong>in</strong>nen<br />

noch Zeichen e<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>anziell warm unterfütterten Herkunft<br />

aus e<strong>in</strong>er grünen, meist westdeutschen Vorstadt, wird sie im<br />

Berufsleben <strong>zu</strong>m Ausweis von Teamfähigkeit und konservativer<br />

Allürenfreiheit. Die Tank Française ist demnach e<strong>in</strong>e<br />

Uhr, die Männern die Angst vor ehrgeizigen <strong>junge</strong>n Frauen<br />

nimmt – und somit die perfekte Tarnkappe.<br />

DER STILLE GENIESSER<br />

Es soll Menschen geben, die sich nichts Schlimmeres<br />

vorstellen können, als durch ihre Konsumentscheidungen<br />

e<strong>in</strong> gewisses Bild von sich <strong>zu</strong><br />

transportieren. Dies s<strong>in</strong>d Konsumenten, die sich etwa<br />

e<strong>in</strong>e zehn Jahre alte S-Klasse kaufen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unauffälligen<br />

Farbe wie Navy oder Anthrazit – e<strong>in</strong> bequemes,<br />

funktionales Produkt, <strong>in</strong> dem sowohl e<strong>in</strong> schwäbischer<br />

Weltmarktführer wie auch e<strong>in</strong> Kreuzberger Dönerbudenbetreiber<br />

sitzen könnte. Die Wahl e<strong>in</strong>er teuren Uhr<br />

ist für e<strong>in</strong>en Understater nicht e<strong>in</strong>fach. Die sportlichdynamische<br />

Extrovertiertheit e<strong>in</strong>er Rolex kommt für<br />

ihn nicht <strong>in</strong>frage, e<strong>in</strong>e Panerai ist ihm <strong>zu</strong> spezifisch,<br />

e<strong>in</strong>e Breitl<strong>in</strong>g <strong>zu</strong> aeronautisch. E<strong>in</strong>e schöne Lösung für<br />

diesen Konsumenten, dessen Symbolverweigerung sich<br />

meist auf e<strong>in</strong>en übertriebenen Snobismus <strong>zu</strong>rückführen<br />

lässt, ist die Nautilus von Patek Philippe. E<strong>in</strong> seit<br />

1976 nahe<strong>zu</strong> unverändert hergestellter Klassiker, dessen<br />

schlichtes Design – vor allem <strong>in</strong> der stählernen Basisausführung<br />

– derart perfekt ist, dass er am Handgelenk<br />

verschw<strong>in</strong>det. Es gibt ke<strong>in</strong>e Konsumentengruppe,<br />

die dieses em<strong>in</strong>ent <strong>zu</strong>rückhaltende Produkt für sich<br />

vere<strong>in</strong>nahmen könnte. Die Nautilus verrät nichts über<br />

ihren Besitzer – außer, dass er es nicht nötig hat.<br />

110<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


CICERO: PLAT T<br />

IN DIESEN EXKLUSIVEN<br />

HOTELS<br />

REIZ<br />

DER PFIFFIKUS<br />

Hotel Taschenbergpalais Kemp<strong>in</strong>ski<br />

Taschenberg 3<br />

01067 Dresden<br />

Telefon: 0351 49 12-0<br />

www.kemp<strong>in</strong>ski.com/dresden<br />

Oft e<strong>in</strong> freiberuflicher Architekt<br />

oder e<strong>in</strong> idealistischer Oberstudienrat,<br />

ist der Pfiffikus <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>e Nomos regelrecht verliebt. Unprätentiös,<br />

asketisch im Design, akribisch <strong>in</strong><br />

der Konstruktion und, nun ja, pfiffig, ersche<strong>in</strong>t<br />

die Nomos von Glashütte oft als<br />

das mechanische Abbild ihrer stolzen<br />

Eigner. Diese legen wenig Wert auf Markenprestige,<br />

dafür umso mehr auf Understatement,<br />

technische Raff<strong>in</strong>esse und Sozialverträglichkeit.<br />

Der Nomos-tragende<br />

Pfiffikus spielt <strong>in</strong>sgeheim mit dem Gedanken,<br />

sich noch e<strong>in</strong>e zweite Nomos <strong>zu</strong><br />

gönnen, was ihm allerd<strong>in</strong>gs nicht nur e<strong>in</strong><br />

schlechtes Gewissen, sondern auch e<strong>in</strong><br />

Dilemma e<strong>in</strong>brockt: Soll er das Richtige<br />

tun und sich für das limitierte Sondermodell<br />

des Nomos-Klassikers Tangente für<br />

Ärzte ohne Grenzen entscheiden, mit denen<br />

die Manufaktur die Anstrengungen<br />

der Hilfsorganisation <strong>in</strong> Krisengebieten<br />

unterstützt? Oder soll er se<strong>in</strong>en Schrauberimpulsen<br />

folgen und die neue Metro<br />

auswählen, deren haus<strong>in</strong>tern entwickeltes<br />

Sw<strong>in</strong>gsystem den Anspruch von Nomos<br />

auf technische Weltklasse untermauert?<br />

Oder doch lieber e<strong>in</strong> neues Kajak?<br />

LENA BERGMANN leitet das Stilressort von<br />

<strong>Cicero</strong>. Sie hat e<strong>in</strong>e Uhr von Cartier geerbt<br />

und träumt von e<strong>in</strong>er Lange 1<br />

» Im 18. Jahrhundert als Geschenk e<strong>in</strong>es Königs an se<strong>in</strong>e Liebste<br />

<strong>in</strong> der Kulturstadt Dresden erbaut, bietet das heutige Hotel<br />

Taschenbergpalais Kemp<strong>in</strong>ski seit 20 Jahren <strong>in</strong>ternationalen<br />

Grandhotel Service. <strong>Cicero</strong> entspricht kulturellem Anspruch<br />

auf höchstem Niveau und ist somit e<strong>in</strong>e perfekte Ergän<strong>zu</strong>ng<br />

unseres Angebots.«<br />

Marten Schwass, Geschäftsführender Direktor<br />

Diese ausgewählten Hotels bieten <strong>Cicero</strong> als besonderen Service:<br />

Bad Doberan/Heiligendamm: Grand Hotel Heiligendamm · Bad Pyrmont: Steigenberger<br />

Hotel · Baden-Baden: Brenners Park-Hotel & Spa · Baiersbronn: Hotel Traube Tonbach ·<br />

Bergisch Gladbach: Grandhotel Schloss Bensberg, Schlosshotel Lerbach · Berl<strong>in</strong>: Brandenburger<br />

Hof, Grand Hotel Esplanade, InterCont<strong>in</strong>ental Berl<strong>in</strong>, Kemp<strong>in</strong>ski Hotel Bristol, Hotel<br />

Maritim, The Mandala Hotel, The Mandala Suites, The Regent Berl<strong>in</strong>, The Ritz-Carlton Hotel,<br />

Savoy Berl<strong>in</strong>, Sofitel Berl<strong>in</strong> Kurfürstendamm · B<strong>in</strong>z/Rügen: Cerês Hotel · Dresden: Hotel<br />

Taschenbergpalais Kemp<strong>in</strong>ski · Celle: Fürstenhof Celle · Düsseldorf: InterCont<strong>in</strong>ental<br />

Düsseldorf, Hotel Nikko · Eisenach: Hotel auf der Wartburg · Ettl<strong>in</strong>gen: Hotel-Restaurant<br />

Erbpr<strong>in</strong>z · Frankfurt a. M.: Steigenberger Frankfurter Hof, Kemp<strong>in</strong>ski Hotel Gravenbruch ·<br />

Hamburg: Crowne Plaza Hamburg, Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten, Hotel Atlantic<br />

Kemp<strong>in</strong>ski, Madison Hotel Hamburg, Panorama Harburg, Renaissance Hamburg Hotel,<br />

Strandhotel Blankenese · Hannover: Crowne Plaza Hannover · H<strong>in</strong>terzarten: Parkhotel<br />

Adler · Keitum/Sylt: Hotel Benen-Diken-Hof · Köln: Excelsior Hotel Ernst · Königste<strong>in</strong> im<br />

Taunus: Falkenste<strong>in</strong> Grand Kemp<strong>in</strong>ski, Villa Rothschild Kemp<strong>in</strong>ski · Königsw<strong>in</strong>ter: Steigenberger<br />

Grandhotel Petersberg · Konstanz: Steigenberger Inselhotel · Magdeburg: Herrenkrug<br />

Parkhotel, Hotel Ratswaage · Ma<strong>in</strong>z: Atrium Hotel Ma<strong>in</strong>z, Hyatt Regency Ma<strong>in</strong>z · München:<br />

K<strong>in</strong>g’s Hotel First Class, Le Méridien, Hotel München Palace · Neuhardenberg: Hotel Schloss<br />

Neuhardenberg · Nürnberg: Le Méridien · Rottach-Egern: Park-Hotel Egerner Höfe, Hotel<br />

Bachmair am See, Seehotel Überfahrt · Stuttgart: Le Méridien, Hotel am Schlossgarten ·<br />

<strong>Wie</strong>sbaden: Nassauer Hof · ITALIEN Tirol bei Meran: Hotel Castel · ÖSTERREICH <strong>Wie</strong>n: Das<br />

Triest · SCHWEIZ Interlaken: Victoria-Jungfrau Grand Hotel & Spa · Lugano: Splendide<br />

Royale · Luzern: Palace Luzern · St. Moritz: Kulm Hotel, Suvretta House · Weggis: Post Hotel<br />

Weggis · Zermatt: Boutique Hotel Alex<br />

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STIL<br />

Interview<br />

„ SADO-MASO IST<br />

MAINSTREAM “<br />

Gerhard Haase-<br />

H<strong>in</strong>denberg hat<br />

e<strong>in</strong> Buch über die<br />

erotischen Fantasien<br />

der <strong>Deutsche</strong>n<br />

geschrieben. Was<br />

der „Sex im Kopf“<br />

über uns aussagt<br />

Herr Haase-H<strong>in</strong>denberg, wie haben Sie<br />

die Menschen da<strong>zu</strong> gebracht, Ihnen ihre<br />

erotischen Fantasien <strong>zu</strong> erzählen?<br />

Gerhard Haase-H<strong>in</strong>denberg: Ich<br />

habe über Facebook und andere soziale<br />

Netzwerke, aber auch über Zeitungsannoncen<br />

Menschen gesucht, die mir für<br />

dieses Buchprojekt von ihren geheimen<br />

sexuellen Sehnsüchten erzählen. Immerh<strong>in</strong><br />

haben sich 1445 Menschen bei mir<br />

gemeldet. Davon waren über 40 Prozent<br />

Frauen. Zunächst g<strong>in</strong>g es darum, Fragebögen<br />

<strong>zu</strong> beantworten, der weitere Austausch<br />

fand dann per E-Mail oder am Telefon<br />

statt. Nur 202 Bekenntnisse haben<br />

es <strong>in</strong> das Buch geschafft. Der flotte Dreier<br />

ist e<strong>in</strong>e der stärksten Männerfantasien.<br />

Frauen träumen mehrheitlich von e<strong>in</strong>em<br />

dom<strong>in</strong>ant auftretenden Mann, der klare<br />

Anweisungen und mehr gibt.<br />

E<strong>in</strong>ige Frauen schildern sogar Vergewaltigungsfantasien.<br />

<strong>Wie</strong> passt das bitte<br />

<strong>zu</strong>m modernen Frauenbild?<br />

In der Fantasie ist die Frau die Beherrscher<strong>in</strong><br />

der Situation. Sie bestimmt,<br />

Gerhard Haase-H<strong>in</strong>denberg<br />

61, ist Schauspieler, Regisseur,<br />

Publizist und Buchautor.<br />

Se<strong>in</strong> Buch „Sex im Kopf“<br />

erschien gerade bei Rowohlt<br />

und ver sammelt anonyme<br />

Bekennt nisse von Männern<br />

und Frauen<br />

wo die Vergewaltigung stattf<strong>in</strong>det, wann<br />

und mit wem. Sie wählt auch aus, auf<br />

welche Weise. Sie hat die Macht, den<br />

Mann so wahns<strong>in</strong>nig <strong>zu</strong> machen, dass<br />

er nicht anders kann, als über sie her<strong>zu</strong>fallen.<br />

Man muss aber bitte im H<strong>in</strong>terkopf<br />

haben: E<strong>in</strong>e Vergewaltigungsfantasie<br />

kann nicht ausgelebt <strong>werden</strong>,<br />

Foto: Yehuda Swed/ Favorite Picture<br />

114<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


denn <strong>in</strong>szenierte Vergewaltigung wäre<br />

e<strong>in</strong>vernehmlicher Sex. Das wäre dann<br />

e<strong>in</strong>e Sado-Maso-Situation, <strong>in</strong> der die<br />

Frau devot auftritt.<br />

Ist Sado-Maso Ma<strong>in</strong>stream?<br />

Ja. Dass sich Reizmuster wie Sado-<br />

Maso ausbreiten, hat auch damit <strong>zu</strong> tun,<br />

dass die Pornografie <strong>in</strong>zwischen die Alltagsfantasien<br />

bestimmt. Noch vor wenigen<br />

Jahren musste jemand, der Pornografie<br />

sehen wollte, se<strong>in</strong> Gesicht zeigen.<br />

Heute kann sich das jeder anonym auf<br />

dem Rechner ansehen. Die Leute stoßen<br />

im Internet dann auf Szenen und Praktiken,<br />

von denen sie gar nicht wussten,<br />

dass es sie gibt. Und plötzlich spüren sie<br />

e<strong>in</strong>e Erregung. Neue Reizmuster entstehen.<br />

So kamen auch sadomasochistische<br />

Praktiken stärker <strong>in</strong> den Fokus.<br />

Ob <strong>in</strong> der Fantasie oder als Inszenierung,<br />

jede ordentliche Fem<strong>in</strong>ist<strong>in</strong> würde sagen:<br />

Da f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Identifikation mit<br />

männlichen Erwartungsmustern statt.<br />

Im Buch kommt auch der Sexualpsychologe<br />

Christoph J. Ahlers <strong>zu</strong> Wort.<br />

Se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach erschöpft sich das<br />

Phänomen Sado-Maso nicht dar<strong>in</strong>, dass<br />

Frauen alles Mögliche mitmachen, um<br />

Männern <strong>zu</strong> gefallen. Die Erregung entsteht<br />

hier durch Ausgeliefertheit und<br />

Verantwortungsabgabe. Es geht darum,<br />

dass man sich fallen lassen kann. Übrigens<br />

auch bei Männern mit devoten Fantasien.<br />

Mir ist sogar aufgefallen, dass<br />

überwiegend starke Persönlichkeiten <strong>in</strong><br />

ihrer Fantasie unterdrückt <strong>werden</strong> wollen.<br />

Menschen, die sich im Alltag ohneh<strong>in</strong><br />

schon unterdrückt fühlen, haben solche<br />

Fantasien eher seltener.<br />

Besteht e<strong>in</strong>e große Diskrepanz zwischen<br />

dem, was <strong>in</strong> Deutschland so fantasiert<br />

und was ausgelebt wird?<br />

Es <strong>werden</strong> schon verrückte D<strong>in</strong>ge<br />

ausgelebt, da war ich überrascht, wie<br />

akribisch und kreativ Fantasien umgesetzt<br />

<strong>werden</strong>. Aber ke<strong>in</strong>e der Frauen, die<br />

ich befragt habe, wollte ihre Vergewaltigungsfantasie<br />

ausleben. Bei Gangbang-<br />

Fantasien ist das etwas anderes.<br />

Ist die Gangbang nicht e<strong>in</strong> schreckliches<br />

Unterklasse-Phänomen?<br />

Auch <strong>in</strong> akademischen Kreisen gibt es<br />

Gangbang-Fantasien. E<strong>in</strong>e promovierte<br />

„ Es s<strong>in</strong>d starke<br />

Persönlichkeiten,<br />

die <strong>in</strong><br />

ihrer Fantasie<br />

unterdrückt<br />

<strong>werden</strong> wollen “<br />

Biochemiker<strong>in</strong> hat mir <strong>zu</strong>m Beispiel erzählt,<br />

dass sie bei ihrem nächsten USA-<br />

Aufenthalt e<strong>in</strong>en Zwischenstopp <strong>in</strong> New<br />

York e<strong>in</strong>legen will und e<strong>in</strong>en auf Gangbangs<br />

spezialisierten Club aufsuchen will,<br />

dort teilen sich bis <strong>zu</strong> zehn Männer e<strong>in</strong>e<br />

Frau. E<strong>in</strong>e Krankenschwester berichtet,<br />

dass sie per Anzeige Gangbang-Partner<br />

sucht. Die Gangbang ist im Kommen.<br />

Was veranlasst Sie denn <strong>zu</strong> dieser kühnen<br />

These?<br />

Ich denke, dass die Menschen <strong>in</strong> ihren<br />

Fantasien grundsätzlich gerne etwas<br />

Unmoralisches tun, etwas „Versautes“.<br />

Viele D<strong>in</strong>ge, die vor e<strong>in</strong>er Generation<br />

noch unmoralisch und „versaut“ waren,<br />

s<strong>in</strong>d heute akzeptiert. Denken Sie nur an<br />

Oralsex – das war noch vor 25, 30 Jahren<br />

e<strong>in</strong>e unmoralische Sache, alle<strong>in</strong>e das<br />

Ans<strong>in</strong>nen. Heute ist er e<strong>in</strong>e gängige Praxis,<br />

bei beiden Geschlechtern übrigens<br />

und jeder sexuellen Orientierung. Und<br />

die Fantasie sucht sich neue unmoralische<br />

Formen. Im Moment liegt der Analsex<br />

im Trend.<br />

Spielen bei der Normalisierung von sexuellen<br />

Praktiken Internetpornos wirklich<br />

so e<strong>in</strong>e große Rolle?<br />

Nicht ohne Grund gibt es im Buch<br />

auch das Kapitel „Generation(en) Porno“.<br />

Das Problem bei vielen <strong>junge</strong>n Menschen<br />

ist, dass sie durch die Pornografie sexualisiert<br />

<strong>werden</strong>. Mir hat kürzlich e<strong>in</strong>e Lehrer<strong>in</strong><br />

von e<strong>in</strong>em elfjährigen Jungen erzählt,<br />

der bereits Pornofilme auf se<strong>in</strong>em<br />

Smartphone hat. K<strong>in</strong>der und Jugendliche,<br />

die selbst noch ke<strong>in</strong>e sexuellen Erfahrungen<br />

gemacht haben, lernen dann, dass <strong>in</strong><br />

Pornofilmen immer die gleiche Dramaturgie<br />

stattf<strong>in</strong>det, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fünfaktigen<br />

Oper: Zunächst stimuliert die Frau<br />

den Mann oral. Die Folge ist, dass Teenager<br />

sich nicht von ihren eigenen Reizmustern<br />

leiten lassen, sondern von dem,<br />

was sie denken, tun <strong>zu</strong> müssen. Im Buch<br />

berichtet e<strong>in</strong> 19-jähriger Junge, dass er<br />

sich gerne durch alle möglichen Pornokategorien<br />

klickt, dass er „reif“, „anal“<br />

oder „Teen“ anschaut, aber auch „Shemales“,<br />

„Ladyboys“ oder „Sado-Maso“.<br />

Und dass er alles erregend f<strong>in</strong>det und alles<br />

<strong>in</strong> der Zukunft auch e<strong>in</strong>mal ausprobieren<br />

will. Dieser Junge hat sich durch<br />

den typischen Aufbau e<strong>in</strong>er Pornoseite<br />

sexuell gebildet. Aber er geht von e<strong>in</strong>er<br />

falschen Realität aus, der holt sich wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

e<strong>in</strong>e blutige Nase.<br />

Gibt es bei den erotischen Fantasien<br />

der <strong>Deutsche</strong>n eigentlich e<strong>in</strong><br />

Stadt-Land-Gefälle?<br />

Ne<strong>in</strong>, gar nicht. Ob Sie <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> oder<br />

Hildesheim leben, die sexuellen Fantasien<br />

s<strong>in</strong>d die gleichen. Es gibt aber Fantasien,<br />

die nur Männer haben. Doch es<br />

gibt ke<strong>in</strong>e Fantasien bei Frauen, die Männer<br />

nicht haben.<br />

Träumt noch jemand von Blümchensex?<br />

Ich glaube, dass sogar die Mehrheit<br />

der Frauen romantische Fantasien<br />

hat. Aber diese Frauen haben sich nicht<br />

bei mir für dieses Buchprojekt gemeldet,<br />

weil sie denken, ihre Fantasien seien <strong>zu</strong><br />

unspektakulär. Bei mir haben sich Leute<br />

gemeldet, die denken, sie haben ausgefallene<br />

Fantasien und das waren oft devote<br />

Fantasien. Aber das ist nicht repräsentativ<br />

für die Gesellschaft.<br />

Das Gespräch führte LENA BERGMANN<br />

115<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


STIL<br />

Kleiderordnung<br />

WARUM<br />

ich trage,<br />

WAS<br />

ich trage<br />

CHARLY HÜBNER<br />

Hüte s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong> Schutz. Die Leute<br />

schauen h<strong>in</strong>, erkennen mich aber<br />

nicht. Leider leben wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

hutfreien Zeit, er ist e<strong>in</strong> historisches<br />

Kleiderstück geworden. Die Mode stellt<br />

die E<strong>in</strong>sortierung der Menschen vor die<br />

Wahrnehmung der Identität. In Rom habe<br />

ich mir e<strong>in</strong>en Borsal<strong>in</strong>o gekauft, wie ihn<br />

Fell<strong>in</strong>i trug, mit breiter Krempe. Damit<br />

sah ich leider aus wie e<strong>in</strong>er, der sich sehr<br />

wichtig nimmt. Lieber trage ich diesen<br />

schmalen Borsal<strong>in</strong>o, ich b<strong>in</strong> damit nicht<br />

gleich wieder e<strong>in</strong>e Figur. Auch bei Schuhen<br />

habe ich lange probieren müssen,<br />

weil ich so e<strong>in</strong> Riese b<strong>in</strong>. Am Ende funktioniert<br />

für mich – wie für Mafiabosse –<br />

der italienische Schuh. Dort haben sie<br />

es raus, trotz Wuchtigkeit der Person im<br />

Gangbild e<strong>in</strong>e Leichtigkeit <strong>zu</strong> erzeugen.<br />

Schwarze Jeans und e<strong>in</strong> weißes<br />

Hemd s<strong>in</strong>d für mich perfekt, gute klassische<br />

Anzüge genauso. Volltreffer. Eigentlich<br />

auch der Dreiteiler, aber der ist<br />

an e<strong>in</strong>em Spätsommertag wie heute <strong>zu</strong><br />

warm. Da<strong>zu</strong> Oberhemden, weißes oder<br />

schwarzes T -Shirt mit V‐Ausschnitt.<br />

Shoppen gehe ich nicht gerne. Ich entscheide<br />

mich vorher, was ich brauche,<br />

und gehe dann <strong>zu</strong>m Beispiel <strong>zu</strong> Schneider<br />

Lew<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Hamburger Portugiesenviertel.<br />

Mir gefallen auch Zimmermannshosen.<br />

E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige coole Lederhose hatte<br />

ich auch mal.<br />

Zu DDR-Zeiten waren wir e<strong>in</strong>e Clique<br />

von sechs Jungs. Die Oma me<strong>in</strong>es<br />

besten Kumpels besorgte uns <strong>in</strong> Westberl<strong>in</strong><br />

Platten oder e<strong>in</strong> T-Shirt. Wir haben<br />

die Aufschrift abgepaust, sodass jeder<br />

se<strong>in</strong> ureigenes Motörhead-Shirt hatte.<br />

E<strong>in</strong>e Bekannte bastelte uns Basecaps aus<br />

Pappe, überzogen mit Jeans. Das war unsere<br />

Uniform: Weißes Shirt und Jeans,<br />

Jeansjacke, Jeanscap.<br />

CHARLY HÜBNER, 42, ist Schauspieler.<br />

Er stammt aus Neustrelitz<br />

<strong>in</strong> Mecklenburg-Vorpommern.<br />

Im „Polizeiruf 110“ ermittelt er als<br />

Kommissar <strong>in</strong> Rostock. Im November<br />

strahlt das Erste zwei Folgen<br />

aus: „Familienbande“ am 2. und<br />

„Bornholmer Ufer“ am 5. November<br />

Bei Rollen ist die Kleidung natürlich<br />

entscheidend. Zum Beispiel bei dem<br />

Hausmeister, den ich gerade spiele: e<strong>in</strong><br />

ganz naives K<strong>in</strong>d. Clownesk. Wir ziehen<br />

ihm Arbeiterschuhe an, die e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb<br />

Nummern <strong>zu</strong> groß s<strong>in</strong>d. Da<strong>zu</strong> Zweiteiler<br />

aus verschiedenen Blaumanntönen und<br />

e<strong>in</strong>en Werkzeuggürtel, der wie e<strong>in</strong> Waffengürtel<br />

wirkt. In der Vorbereitung für<br />

den Polizeirufkommissar Sascha Bukow<br />

traf ich e<strong>in</strong>en Hamburger Drogenfahnder.<br />

Ich war ziemlich aufgeregt. Und der<br />

kam dann re<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bomberjacke<br />

mit Hoodie, zerlotterter Jeans, kaputten<br />

Knöchelschuhen, wüste Haare – sah<br />

also aus wie e<strong>in</strong> Dealer. So kamen wir auf<br />

das Kostüm von Bukow: das Dunkle, die<br />

blutroten Schuhe. Mit ihm kann alles geschehen,<br />

weil er <strong>zu</strong> allem fähig ist: mal<br />

sanfter Teddybär, dann mordsbrutal und<br />

angstlos. Wann hast du schon e<strong>in</strong>mal so<br />

e<strong>in</strong>e Figur? Im Idealfall, wenn du e<strong>in</strong>en<br />

großen Shakespeare spielst. Und dann<br />

hast du auch nur e<strong>in</strong>en Abend. Hier hast<br />

du e<strong>in</strong> ganzes Leben.<br />

Aufgezeichnet von MARIE AMRHEIN<br />

Foto: David Maupilé für <strong>Cicero</strong><br />

116<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


SALON<br />

„ Kunst hat immer<br />

die Aufgabe<br />

der Verklärung “<br />

Der Chansonnier Sebastian Krämer bekennt sich <strong>zu</strong>r Wertschät<strong>zu</strong>ng als schöpferischem<br />

Impuls und schreibt dennoch böse Lieder, Porträt Seite 120<br />

117<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

EIN SCHMERZ IST ES UND SCHÖN<br />

Die deutsche Tänzer<strong>in</strong> Nicole Nau wurde <strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ien <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Weltstar des Tangos.<br />

Nun kehrt sie nach Europa <strong>zu</strong>rück und erzählt vom ewigen Spagat des Lebens<br />

Von FRIEDERIKE EBELING<br />

Vorhang auf: Vier Füße kommen<br />

aus dem Dunkel. Zwei mit Riemchen,<br />

zwei mit Schnürung. Das<br />

Publikum im Münchner Gasteig ist still.<br />

Dann geht alles sehr schnell – das Bandoneon<br />

ertönt, die vier Füße kommen <strong>in</strong> Bewegung,<br />

kreisen ume<strong>in</strong>ander, zeichnen<br />

jede musikalische Note. Sie tanzen die<br />

Partitur des Tangos.<br />

„Wenn ich tanze, b<strong>in</strong> ich <strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ien<br />

und bewege mich durch die Prov<strong>in</strong>zen“,<br />

sagt Nicole Nau mit e<strong>in</strong>er weichen,<br />

jung kl<strong>in</strong>genden Stimme. Die 51-Jährige<br />

lebt <strong>in</strong> Buenos Aires, der Hauptstadt des<br />

Tangos. Argent<strong>in</strong>ien liebt ihren Stil. Ihr<br />

Konterfei erschien auf zwei argent<strong>in</strong>ischen<br />

Briefmarken.<br />

Nicole Nau ist <strong>Deutsche</strong>, <strong>in</strong> Deutschland<br />

aufgewachsen und kennt e<strong>in</strong> Leben<br />

ohne Tango. Sie war Grafiker<strong>in</strong> <strong>in</strong> Düsseldorf.<br />

Als ihr auf dem dortigen Carlsplatz<br />

e<strong>in</strong> Werbezettel mit der Aufschrift<br />

„Tango vom Rio de la Plata. Unterricht <strong>in</strong><br />

der B<strong>in</strong>terimstraße“ am Absatz hängen<br />

blieb, war sie Mitte 20. Schicksal? Schon<br />

als kle<strong>in</strong>es Mädchen tanzte sie heimlich<br />

<strong>zu</strong> den Platten des Vaters.<br />

Erst als Schüler<strong>in</strong>, später als Assistent<strong>in</strong><br />

und Lehrer<strong>in</strong> tanzte sie neben der<br />

Arbeit als Grafiker<strong>in</strong> auf Düsseldorfer<br />

Kle<strong>in</strong>kunstbühnen. Um den Tanz aber <strong>zu</strong><br />

verstehen, musste sie <strong>in</strong> die Hauptstadt<br />

des Tangos. Im Jahr 1988 war es so weit.<br />

Sie stand erstmals auf argent<strong>in</strong>ischem<br />

Boden. „Ich war entsetzt“, sagt Nau. Sie<br />

erwartete das Paradies und landete <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Moloch. Sie wollte den Tango kennenlernen<br />

und wurde mit Rock und Pop<br />

enttäuscht. Tango schien e<strong>in</strong> Trend von<br />

gestern <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>, der ausschließlich <strong>in</strong> den<br />

Köpfen der Europäer existierte, ke<strong>in</strong>eswegs<br />

aber <strong>in</strong> Buenos Aires.<br />

Zurück <strong>in</strong> Deutschland bekam sie<br />

e<strong>in</strong>en Anruf aus Kanada. Sie sollte e<strong>in</strong><br />

Engagement tanzen. Die Show dauerte<br />

mehrere Monate. Sie gab ihren Job als<br />

Grafiker<strong>in</strong> auf, kündigte die Wohnung.<br />

Angekommen <strong>in</strong> Kanada, stand die<br />

1,76 Meter große Frau auf viel <strong>zu</strong> großen<br />

Absätzen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em arg kurzen Kleid<br />

neben Profitänzern und sah aus wie e<strong>in</strong>e<br />

Matrone. Als ihr Partner auf die Bühne<br />

kam, wurde ihre Rolle klar. Er war rundlich<br />

und g<strong>in</strong>g ihr gerade bis <strong>zu</strong>r Brust.<br />

Schallendes Gelächter. Sie sollte e<strong>in</strong>e<br />

Lachnummer spielen. „Jetzt erst recht“,<br />

dachte sie. Mit Biss und Ausdauer probte<br />

sie, nahm Kurse für Klassik und Jazzdance,<br />

übte, bis die Zehen wund waren.<br />

IHRE DISZIPLIN machte sie <strong>zu</strong>m Weltstar.<br />

Den Rückflug von Kanada nach Deutschland<br />

ließ sie umbuchen. Buenos Aires<br />

sollte es wieder se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> zweiter Versuch.<br />

Die Neugierde war <strong>zu</strong> groß. „E<strong>in</strong>e<br />

Walküre strandet am Río de la Plata“,<br />

schreibt die argent<strong>in</strong>ische Presse. Nau<br />

fällt auf <strong>in</strong> Buenos Aires. E<strong>in</strong>e <strong>Deutsche</strong>,<br />

die Tango tanzt. Ihre Diszipl<strong>in</strong> spiegelt<br />

sich im Tanzstil: streng und akkurat. Wer<br />

führt hier wen, der Mann die Frau, oder<br />

ist es umgekehrt? Sie trifft den argent<strong>in</strong>ischen<br />

Tangotänzer Luis Pereyra. Mit<br />

ihm lernt sie den Tango noch e<strong>in</strong>mal ganz<br />

anders kennen. „Ich war 38 und konnte<br />

noch e<strong>in</strong>mal von vorne anfangen.“<br />

Pereyra versteht den Tango als traditionellen<br />

Tanz, der von Auswanderern<br />

aus Europa, Hafenarbeitern, Prostituierten<br />

und Tagelöhnern getanzt wurde.<br />

Es ist e<strong>in</strong> Tango, der mehr als Erotik ist,<br />

der von Lust und Gewalt erzählt und sich<br />

zwischen Überlebenskampf und Verzweiflung<br />

bewegt. Pereyra s<strong>in</strong>gt ihr Lieder<br />

der Gauchos vor, br<strong>in</strong>gt ihr Steppen<br />

und Trommeln bei. Sie fahren durch das<br />

Land. Das Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g mit ihm ist kräftezehrend,<br />

immer wieder gibt es Wut und<br />

Tränen: Der Oberkörper, die Hand, der<br />

Oberkörper, die Füße, die Füße, die Füße.<br />

Sie tanzen immer noch Seite an Seite,<br />

als Tanz- und mittlerweile auch als Ehepaar.<br />

Mit e<strong>in</strong>er <strong>Deutsche</strong>n Tango <strong>zu</strong> tanzen,<br />

sei nicht wirklich anders, me<strong>in</strong>t<br />

Pereyra. „Das Bandoneon kommt ursprünglich<br />

aus Deutschland, so wie Nicole.<br />

Sie ist aus der Wurzel des Tangos<br />

gemacht.“<br />

Tango und Tradition – zwei Worte,<br />

die <strong>in</strong> Buenos Aires kaum mehr Platz<br />

f<strong>in</strong>den. Früher tanzte man <strong>in</strong> H<strong>in</strong>terhof-Milongas<br />

und trank Whiskey da<strong>zu</strong>.<br />

Heute fassen die Tangotheater mehr als<br />

1000 Plätze. Serviert wird We<strong>in</strong>. Im Stundentakt,<br />

allabendlich. Auf der Bühne geht<br />

es weniger um Tango, mehr um Akrobatik,<br />

kurze Röcke und tiefe Ausschnitte.<br />

Es gibt Tangoschulen, Tangohotels, Tangoschneider.<br />

Alles für die Touristen, alles<br />

für das Geld. „Sie verkaufen Kitsch<br />

und Provokation“, me<strong>in</strong>t Nau. Aber Kultur<br />

dürfe man nicht wie im Ausverkauf<br />

verramschen, sondern müsse sie teilen.<br />

In Buenos Aires leiten Nau und ihr<br />

Mann e<strong>in</strong>e Tangobar im Stadtviertel San<br />

Telmo. Um den Spielregeln des argent<strong>in</strong>ischen<br />

Touristengeschäfts <strong>zu</strong> entkommen,<br />

touren sie mit ihrer eigenen Show „The<br />

Great Dance of Argent<strong>in</strong>a“ jeden Herbst,<br />

wie gerade auch nun wieder, durch Europa.<br />

Die Kostüme entwirft Nau selbst.<br />

Nach der Münchner Show steht sie<br />

<strong>in</strong> ihrem langen Kleid im Foyer, verkauft<br />

CDs und gibt Autogramme. Aus<br />

der Nähe sieht sie strenger aus, vielleicht<br />

sogar traurig. Monate später erzählt sie,<br />

dass ihr Vater e<strong>in</strong>en Tag vor der Aufführung<br />

verstorben war. „Ich tanze“, sagte<br />

sie e<strong>in</strong>mal, „nicht, weil ich will. Ich tanze,<br />

weil ich muss.“<br />

FRIEDERIKE EBELING lebte e<strong>in</strong> halbes Jahr<br />

<strong>in</strong> Südamerika und sah dort e<strong>in</strong>en Tango<br />

vom Fließband. Erst <strong>in</strong> München fand sie den<br />

authentischen Tanz<br />

Foto: Sub.coop für <strong>Cicero</strong><br />

118<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

DAS LEBEN VERKLÄREN<br />

Der Chansonnier Sebastian Krämer massiert die deutsche Seele. Se<strong>in</strong>e Lieder s<strong>in</strong>d<br />

vertrackte und poetische Expeditionen. Jetzt blickt er <strong>zu</strong>rück auf 20 Jahre Bühnenkunst<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

Foto: David Oliveira für <strong>Cicero</strong><br />

Der Ste<strong>in</strong> des Anstoßes liegt zwischen<br />

uns. Er hört auf den Namen<br />

„Ständige Staubsauger-Vertretung“,<br />

misst 14 mal 12 Zentimeter und<br />

ist Sebastian Krämers drittes Album. Wo,<br />

lacht der Hausherr bitter, wo ich diese<br />

schreckliche CD aufgetrieben habe? Er<br />

kaufte damals doch alle verbliebenen Exemplare,<br />

um sie <strong>zu</strong> vernichten. E<strong>in</strong>e missratene<br />

Scheibe. Und nun das! Es hätte e<strong>in</strong><br />

schwieriges Gespräch <strong>werden</strong> können.<br />

Davor bewahrte uns Ludwig Wittgenste<strong>in</strong>.<br />

In dessen „Philosophischen<br />

Betrachtungen“ steht geschrieben: „Die<br />

Kompliziertheit der Philosophie ist nicht<br />

die ihrer Materie, sondern die unseres<br />

verknoteten Verstandes.“ Im Booklet der<br />

missratenen Scheibe sah man Sebastian<br />

Krämer Wittgenste<strong>in</strong> lesen – neben dem<br />

bösen Lied von der „Frau ohne Gefühl“:<br />

„Sie br<strong>in</strong>gt die K<strong>in</strong>der <strong>zu</strong>r Schule, gibt<br />

jedem ’nen Kuss. Wenn ich da das K<strong>in</strong>d<br />

wäre, nähm’ ich den Bus.“ Zwölf Jahre<br />

später steht Krämer auf vom Sofa, greift<br />

<strong>zu</strong>m nämlichen Buch im Regal. Wittgenste<strong>in</strong><br />

thront oberhalb von Thomas Mann,<br />

e<strong>in</strong> Klavier steht still <strong>zu</strong> ihren Füßen.<br />

Hier, am Flügel, entsteht Sebastian<br />

Krämers Chronik bundesdeutscher Lebensarten,<br />

mal romantisch abgefedert,<br />

mal dramatisch <strong>zu</strong>gespitzt, hier, im zweiten<br />

Stock e<strong>in</strong>es 100-jährigen Hauses aus<br />

rotem Ste<strong>in</strong>, das e<strong>in</strong>en Heilmasseur und<br />

e<strong>in</strong>e Praxis für Zivilisationskrankheiten<br />

beherbergt und dem, wie überall <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>,<br />

e<strong>in</strong> Thaimassage-Studio gegenüberliegt.<br />

Sebastian Krämer ist Masseur der<br />

deutschen Seele, sagt er doch den erstaunlichen<br />

Satz: „Kunst hat immer die<br />

Aufgabe der Verklärung.“ Im aktuellen<br />

Programm, „Tüpfelhyänen“, s<strong>in</strong>gt er:<br />

„E<strong>in</strong> Kabarettist kennt 2017 Synonyme<br />

für ‚doof‘.“ Kabarett sei e<strong>in</strong> Synonym für<br />

Erwartbarkeit, sei Selbstbestätigung im<br />

Modus fremden Furors.<br />

Der Gew<strong>in</strong>ner des Sonderpreises<br />

beim <strong>Deutsche</strong>n Kabarettpreis 2012 und<br />

des <strong>Deutsche</strong>n Kle<strong>in</strong>kunstpreises 2009<br />

will ke<strong>in</strong> Kabarettist se<strong>in</strong>, sondern Chansonnier.<br />

Von Anfang an habe er Musik<br />

und Text verbunden, und der Anfang<br />

liegt weit <strong>zu</strong>rück. Noch ke<strong>in</strong>e 40 Jahre<br />

ist Krämer alt, doch nun wird er <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

„20 Lieder aus 20 Jahren“ vorstellen.<br />

Es hätte, sagt er, auch „25 Jahre“ heißen<br />

können, doch 25 Lieder wären <strong>zu</strong> viel des<br />

Guten. 13-jährig war Sebastian Krämer<br />

aus Kalletal bei Vlotho bei Bielefeld, als<br />

er auf Schulbühnen sang, bis e<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>kunstveranstalter<br />

ihn ansprach.<br />

IM ELTERNHAUS standen Klaviere. Cello<br />

spielte e<strong>in</strong> Bruder, Querflöte die Mutter.<br />

Der Vater unterrichtete Deutsch. Se<strong>in</strong><br />

Sohn plädiert heute dafür, den Deutschunterricht<br />

<strong>zu</strong>r Harry-Potter-freien Zone<br />

<strong>zu</strong> erklären; Überset<strong>zu</strong>ngen hätten da<br />

nichts <strong>zu</strong> suchen. S<strong>in</strong>gend spricht er sich<br />

gegen die neue Rechtschreibung aus.<br />

„Deutschlehrer, ihr hättet sie verh<strong>in</strong>dern<br />

können!“ Das erste Programm entstand<br />

bereits 1992: „Nicht mit mir“.<br />

Im Lied, das den Zunftkollegen Bescheid<br />

gibt, wird deren Liebl<strong>in</strong>gshassobjekt<br />

rehabilitiert: „Politiker können nichts<br />

dafür. Die Nieten im Amt s<strong>in</strong>d wir. (…)<br />

Wir bezahlen sie dafür, sich hassen <strong>zu</strong><br />

lassen, damit unser Hass uns nicht selbst<br />

erfasst.“ Da<strong>zu</strong> Schlagersound im Breitwandformat.<br />

Zuvor war es Sw<strong>in</strong>g bei der<br />

Moritat von den „Siebzehn Kugelschreibern“<br />

im Rücken e<strong>in</strong>es Autogrammjägers,<br />

war es e<strong>in</strong> Chansonklavier auf Morgensterns<br />

Spuren, <strong>zu</strong> dessen Klängen die Heimat<br />

überall gleich aussieht und h<strong>in</strong>ter deren<br />

nächster Ecke das Meer dann doch<br />

lockt: „… und da liegst du auf e<strong>in</strong>em Diwan,<br />

mit geschloss’nen Augenlidern, wie<br />

Plutonium so schwer. Und dah<strong>in</strong>ter de<strong>in</strong>e<br />

Augen, und dah<strong>in</strong>ter ist das Meer.“<br />

Nicht Verachtung treibe ihn an, sondern<br />

Wertschät<strong>zu</strong>ng. Verklärung dürfe<br />

nicht mit Wahrheit verwechselt <strong>werden</strong>.<br />

„E<strong>in</strong> Lied hat nicht die Aufgabe, wahre<br />

Aussagen <strong>zu</strong> formulieren.“ Kunst ähnle<br />

dem Gerichtsverfahren, bei dem der<br />

Mörder nach bestem Wissen verteidigt<br />

<strong>werden</strong> muss, damit die Wahrheit offenbar<br />

wird. Es geht um Positionen, Gefühle,<br />

Gedanken, nicht Themen. „Ich b<strong>in</strong> da radikaler<br />

Ästhetizist.“ Wovon e<strong>in</strong> Roman<br />

handelt, sei ihm fast egal. Inhaltsromane<br />

lese er nicht und ergo ke<strong>in</strong>e zeitgenössischen<br />

Autoren. Ob das ignorant sei?<br />

Die Krämer’schen Positionenlieder<br />

machen Unterhaltung durchlässig für den<br />

berühmten Blick h<strong>in</strong>ter die D<strong>in</strong>ge, jenseits<br />

der Materie. Vertrackte Expeditionen<br />

<strong>in</strong>s Zauberreich des Geistes s<strong>in</strong>d es.<br />

Sie weiten den Raum des Denkbaren, <strong>in</strong>dem<br />

sie die Gestaltungskraft der Sprache<br />

ausschöpfen, vom Kalauer <strong>zu</strong>m Zeilensprung,<br />

vom melancholischen Vers <strong>zu</strong>r<br />

Weltformel: „Ich frag’ mich, wo<strong>zu</strong> wir im<br />

Zoo s<strong>in</strong>d, wenn wir zwei dann im Zoo gar<br />

nicht froh s<strong>in</strong>d.“ Und kann es se<strong>in</strong>, dass<br />

mancher Nonsens brutale Lebenswirklichkeit<br />

birgt, e<strong>in</strong>mal gar häusliche Gewalt?<br />

„Hätt’st du mir heut’ nicht gesagt,<br />

‚Ich liebe dich‘, hätt’s auf die Fresse gegeben,<br />

me<strong>in</strong> Schatz.“<br />

Missraten sei das dritte Album nicht<br />

der Lieder, sondern des Vortrags wegen.<br />

Er habe die Texte kaputt gesungen. Gute<br />

Chancen auf Aufnahme <strong>in</strong> den Kanon der<br />

besten hat dennoch das wunderzarte<br />

Lied von den Albträumen des Herrn Krämer.<br />

„In me<strong>in</strong>en Träumen kann ich fliegen,<br />

doch ich tu’ es meistens nicht.“ Das<br />

nennt man wohl e<strong>in</strong>e Conditio humana.<br />

ALEXANDER KISSLER leitet das <strong>Cicero</strong>-<br />

Ressort Salon. Als er Sebastian Krämer das<br />

erste Mal sah, <strong>in</strong> Fürstenfeldbruck, trug dieser<br />

e<strong>in</strong>en Rucksack, und beide waren jünger<br />

121<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

STURKOPF TRIFFT BEKLOPPTEN<br />

Eichendorff als Freund, Dostojewski im Blick: <strong>Wie</strong> Eckhard Henscheid die literarische<br />

Tradition erneuert, den Ma<strong>in</strong>stream verspottet und e<strong>in</strong> alter L<strong>in</strong>ker geblieben ist<br />

Von HOLGER FUSS<br />

Beim Schimpfen ist er e<strong>in</strong> Trapezkünstler.<br />

Kaum e<strong>in</strong>er vermag den<br />

Tatbestand der Beleidigung so<br />

kraftstrotzend und anmutig mit Leben<br />

<strong>zu</strong> erfüllen wie Eckhard Henscheid.<br />

Hören wir h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>: Der „m<strong>in</strong>derbedarfte“<br />

Schriftstellerkollege muss<br />

es sich gefallen lassen, als „Schwirrkopf,<br />

Strohwisch, Faselhans“ enttarnt<br />

<strong>zu</strong> <strong>werden</strong>, un<strong>zu</strong>längliche Kulturjournalisten<br />

schmäht Henscheid als „Banausen<br />

und Me<strong>in</strong>ungsautomaten“. H<strong>in</strong>ter<br />

deren „flotten Klebrigkeit der ewig<br />

Heutigen“ wähnt er „verbales Imponiergewurstel<br />

bei gleichzeitiger Verschleierungs-<br />

und Verhöhnungsabsicht oder<br />

auch umgekehrt Angst“. Alice Schwarzer<br />

sei „unsere ewige Randaleuse“ und<br />

Joschka Fischer e<strong>in</strong> „sog. Außenm<strong>in</strong>ister“.<br />

Der Kanzler der E<strong>in</strong>heit schrumpft<br />

<strong>zu</strong>m „Lebewesen Kohl“, die Kanzler<strong>in</strong><br />

<strong>zu</strong>m „Brotbrocken im Hosenan<strong>zu</strong>g“.<br />

Es ist nämlich so: „Schimpfen und<br />

Humor gehören eben schon <strong>zu</strong>sammen.<br />

Doch.“ Dies postuliert Henscheid <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

soeben erschienenen Essay „Dostojewskis<br />

Gelächter – Die Entdeckung<br />

e<strong>in</strong>es Großhumoristen“. Eckhard Henscheid<br />

ist 73 und Dostojewski se<strong>in</strong> diskreter<br />

Lebensbegleiter. Dostojewskis<br />

Humor sei „der Realismus des Geredes,<br />

des Draufloslaberns“, von ihm habe er<br />

gelernt. Ohne dessen E<strong>in</strong>fluss wäre Henscheids<br />

erster, berühmtester Roman nicht<br />

entstanden: „Die Vollidioten – E<strong>in</strong> historischer<br />

Roman aus dem Jahr 1972“.<br />

Seit 40 Jahren erlebt dieses Werk<br />

immer neue Auflagen, gut 400 000 Exemplare<br />

wurden verkauft. Verdient hat<br />

er damit dermaßen viel, „dass ich übers<br />

Lebensende h<strong>in</strong>aus eigentlich nichts Zusätzliches<br />

brauche“. Vordergründig s<strong>in</strong>d<br />

„Die Vollidioten“ das komische Sittengemälde<br />

e<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>ken Boheme im Frankfurter<br />

Nordend, die sich promilleschwanger<br />

durch den Alltag schwafelt. Tatsächlich<br />

ist Henscheid e<strong>in</strong> vielstimmiges Panorama<br />

des Schweigens gelungen: E<strong>in</strong><br />

Vierteljahrhundert nach den Schrecken<br />

des Krieges beschreibt er die seelischen<br />

Trümmerlandschaften der ersten Nachkriegsgeneration.<br />

Geschwätz wird <strong>zu</strong>m<br />

Medium e<strong>in</strong>es Verstummtse<strong>in</strong>s, das die<br />

eigene Stille nicht erträgt. Bei Henscheid<br />

fangen die Dämonen an <strong>zu</strong> plappern.<br />

Schon im Titel w<strong>in</strong>ken „Die Vollidioten“<br />

dem „Idioten“ Dostojewskis <strong>zu</strong>.<br />

Die Vorrede beschließt Henscheid mit<br />

den Worten: „So. Und nun <strong>zu</strong>r Sache!“<br />

E<strong>in</strong> Echo auf „Die Brüder Karamasoff“.<br />

Dort lässt der Russe das Vorwort auskl<strong>in</strong>gen<br />

mit: „Jetzt aber <strong>zu</strong>r Sache!“<br />

WIR SIND IN AMBERG. Henscheid ist hier<br />

geboren. Die Barockidylle an der träge<br />

plätschernden Vils hatte er zwischenzeitlich<br />

verlassen, um <strong>in</strong> München Germanistik<br />

und Publizistik <strong>zu</strong> studieren und sich<br />

<strong>in</strong> Frankfurt als Satiriker und Schriftsteller<br />

<strong>in</strong> Stellung <strong>zu</strong> br<strong>in</strong>gen. Aber bereits <strong>in</strong><br />

den siebziger Jahren spürte er, dass e<strong>in</strong><br />

katholischer Poltergeist wie Henscheid<br />

nach Amberg gehört. Jahrelang hauste<br />

er wechselweise an der Vils und am Ma<strong>in</strong><br />

sowie im Feriendomizil im schweizerischen<br />

Arosa. Seit mehr als zwei Jahrzehnten<br />

wohnt er mit Ehefrau Reg<strong>in</strong>a<br />

vornehmlich <strong>in</strong> der Oberpfalz.<br />

Am Flussufer <strong>in</strong>mitten der Altstadt<br />

residiert Henscheid <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schmucklosen<br />

Mietshaus. Se<strong>in</strong>e Wohnung zeugt<br />

vom Charme e<strong>in</strong>es ewigen Studenten. An<br />

den Wänden Bilder, Fotos, Bücher, Unmengen<br />

an CDs und DVDs neben großformatigem<br />

Flachbildfernseher und Stereoanlage.<br />

Klassische Musik ist ihm fast<br />

noch wichtiger als Literatur. Immer wieder<br />

schreibt er über Wagner, Mozart und<br />

Verdi. Ursprünglich wollte Henscheid<br />

Musiklehrer <strong>werden</strong>. Er spielt Klavier.<br />

Die Cäsarenfrisur ist längst ergraut,<br />

er trägt e<strong>in</strong> dunkles Polohemd. Auf<br />

dem Küchentisch steht e<strong>in</strong>e elektrische<br />

Schreibmasch<strong>in</strong>e. Hier schreibe er am<br />

liebsten, sagt Henscheid mit Brummbass<br />

und Oberpfälzer Idiom. Hier sei se<strong>in</strong> Dostojewski-Buch<br />

entstanden. Mit unbändiger<br />

Freude verweigert er sich dem Computer<br />

– Internet und E-Mail<strong>in</strong>g sowieso.<br />

„Da b<strong>in</strong> ich Ste<strong>in</strong>zeitmensch. Aus purer<br />

Sturheit.“ Den verzweifelten Verlagen<br />

stellt er sauber getippte Manuskriptkonvolute<br />

mit der Post <strong>zu</strong>, die <strong>in</strong> den Computer<br />

abgeschrieben <strong>werden</strong> müssen.<br />

Lausbübische Verspieltheit glitzert<br />

<strong>in</strong> den Augen, wenn er so etwas berichtet.<br />

Aber auch der besserwisserische Gestus<br />

des begabten K<strong>in</strong>des. „E<strong>in</strong> Rechthaber“<br />

sei er, „so<strong>zu</strong>sagen das Buchhalterischste,<br />

was es gibt“. Und weil es viel mehr Spaß<br />

macht, e<strong>in</strong>e paradoxe Existenz <strong>zu</strong> führen,<br />

beschreibt er sich im gleichen Atem<strong>zu</strong>g<br />

als „<strong>zu</strong>rückhaltenden, bescheidenen, sich<br />

<strong>zu</strong>weilen sogar kle<strong>in</strong>machenden, e<strong>in</strong>en<br />

dünkellosen Menschen“. Der wiederum<br />

umgehend darauf h<strong>in</strong>weist, dass die Verlagsprospekte<br />

ihn gern als e<strong>in</strong>en „Klassiker“<br />

anpreisen: „Da würde ich nicht<br />

widersprechen. Aber Sie können das natürlich<br />

e<strong>in</strong>schränken.“ Er lacht.<br />

Dostojewskis Komik nennt Henscheid<br />

e<strong>in</strong>e „Humoristik der Disproportion<br />

(von Erwartung und Erfüllung, von<br />

Amt und Würdelosigkeit usw.)“. Auch<br />

hieran hat Henscheid sich emporgerankt.<br />

Se<strong>in</strong> eigener Witz lebt von sprachlicher<br />

Musikalität, die sich steigert und <strong>zu</strong>rücknimmt,<br />

um Kontraste <strong>zu</strong> schaffen. So<br />

kommt er <strong>zu</strong>m Befund, dass „Dostojewski<br />

selber wirklich bekloppt gewesen se<strong>in</strong><br />

muss. Zum<strong>in</strong>dest partiell, will sagen <strong>in</strong><br />

nuce respektive jedenfalls <strong>in</strong> Frageform.“<br />

Mit derlei Stilmitteln betreibt Henscheid<br />

e<strong>in</strong>e Dostojewski-Huldigung ohne<br />

Heldenverehrung. „Vor dem H<strong>in</strong>tergrund,<br />

Foto: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />

122<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

Eckhard<br />

Henscheid hat<br />

früh gespürt,<br />

dass die Political<br />

Correctness<br />

der Achtundsechziger<br />

e<strong>in</strong> Macht<strong>in</strong>strument<br />

ist<br />

dass Dostojewski nur noch Legende ist<br />

und ihn fast niemand mehr gelesen hat.<br />

Deshalb ist <strong>in</strong> diesem Buch der pädagogische<br />

Impuls wichtig. Dostojewski war e<strong>in</strong><br />

großer Schlamper“, oft unter Zeitdruck.<br />

Den „Spieler“ habe er „<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Monat<br />

runtergeschmiert“. Der Russe war „e<strong>in</strong><br />

Schlamper <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Maßstab, den ich mir<br />

nicht erlauben wollte und dürfte“.<br />

Die FAZ nannte Henscheid e<strong>in</strong>en<br />

„von der deutschen Romantik verfe<strong>in</strong>erten<br />

Dostojewski“. So was gefällt ihm:<br />

„Das liest man ganz gerne.“ Se<strong>in</strong>e Mutter<br />

Maria setzte noch e<strong>in</strong>en drauf. „Ja,<br />

also, wenn der Eichendorff heut’ noch leben<br />

tät’“, fragte sie ihren Eckhard e<strong>in</strong>mal,<br />

„dann wär’ er wohl de<strong>in</strong> Freund, oder?“<br />

Dem Gastgeber knurrt der Magen.<br />

Wir wandern durch altertümliche Gassen<br />

<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Restaurant und bestellen<br />

Flammkuchen. Henscheid erzählt, wie er<br />

und se<strong>in</strong>e Freunde von der Neuen Frankfurter<br />

Schule das Land verändern wollten.<br />

Na ja, <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest das Komikniveau<br />

anheben.<br />

Ach, waren das Zeiten, als sich<br />

<strong>junge</strong> Burschen wie Robert Gernhardt,<br />

F. W. Bernste<strong>in</strong>, Bernd Eilert, F. K. Waechter,<br />

Chlodwig Poth, Hans Traxler und<br />

eben Eckhard Henscheid <strong>in</strong> den sechziger<br />

Jahren bei der Satirezeitschrift Pardon<br />

<strong>zu</strong>sammenfanden und 1979 das Magaz<strong>in</strong><br />

Titanic gründeten. Ihnen war die humorfreie<br />

Trauerarbeit <strong>in</strong> der Nachkriegszeit<br />

<strong>zu</strong> ergebnisarm. Sie entschieden sich<br />

für Subversion durch S<strong>in</strong>nverweigerung.<br />

Was sie „Hochkomik“ nannten, stellten<br />

sie e<strong>in</strong>er Als-ob-Seriosität der „Ernstler“<br />

(Gernhardt) entgegen.<br />

Die Programmatik der Gruppe<br />

br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> Zweizeiler von F. W. Bernste<strong>in</strong><br />

auf den Nenner: „Die schärfsten Kritiker<br />

der Elche, / waren früher selber welche.“<br />

Mit dem Erbe von Dadaismus und<br />

Surrealismus sollte e<strong>in</strong>e kollektive Therapieform<br />

geschaffen <strong>werden</strong> – die E<strong>in</strong>übung<br />

<strong>in</strong> Selbstdistanz durch befreiendes<br />

Ablachen.<br />

Heute sagt Henscheid: „Nichts hat<br />

dieses üppige Werk <strong>in</strong> den Herzen und<br />

Hirnen der Leser bewegt. Nichts über<br />

die e<strong>in</strong>gefahrenen Schemen von Erfolg<br />

und Konsum, von Prestige und platt hedonistischer<br />

S<strong>in</strong>nerfüllung h<strong>in</strong>aus.“ Insbesondere<br />

„das heutige Komikniveau ist<br />

so dumm wie eh und je“. Endlich kommen<br />

die Flammkuchen. Der Blut<strong>zu</strong>ckerspiegel<br />

wenigstens kann steigen.<br />

Henscheid hat früh gespürt, dass<br />

jene Political Correctness, die dem gesellschaftlichen<br />

Diskurs vom ideologischen<br />

Konformismus der Achtundsechziger-Generation<br />

aufgeprägt wurde, e<strong>in</strong><br />

mentales Macht<strong>in</strong>strument ist. Se<strong>in</strong>e<br />

Sprachkritik an den Umerziehungsfloskeln<br />

hat er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wörterbuch über<br />

das „Dummdeutsch“ niedergelegt – dar<strong>in</strong><br />

so lakonische E<strong>in</strong>träge wie: „Frauenfe<strong>in</strong>dlich:<br />

Ist heute eigentlich alles.“<br />

Als Intellektueller ist Henscheid<br />

Avantgarde geblieben. E<strong>in</strong> alter L<strong>in</strong>ker<br />

aber auch: „Ja, das bilde ich mir e<strong>in</strong>“,<br />

sagt er. In dieser Komb<strong>in</strong>ation erregt<br />

er Anstoß. Wer liberal drapierter Verwilderung<br />

widerstehen will, greift notwendigerweise<br />

auf Werte <strong>zu</strong>rück, die<br />

bislang als konservativ gelten. Weil er<br />

<strong>in</strong> der l<strong>in</strong>ken Zeitschrift Konkret das<br />

„Simplifizierungsklischee“ vom Antisemitismus<br />

Richard Wagners differenziert<br />

hatte, mussten „zwei oder drei<br />

Lesungen von mir unter Polizeischutz“<br />

stattf<strong>in</strong>den: „Das war e<strong>in</strong> wichtigtuerischer<br />

Korrektheitswahn.“<br />

Und weil er <strong>in</strong> der Jungen Freiheit,<br />

e<strong>in</strong>er Art Maoisten-Postille der rechten<br />

Intelligenz, Interviews gab und Beiträge<br />

veröffentlichte, die genauso gut <strong>in</strong> der<br />

FAZ hätten stehen können, wurde er „als<br />

Faschist durchschaut“. So etwas „hat mit<br />

Verwahrlosung <strong>zu</strong> tun“, sagt Henscheid.<br />

Das seien „Lauerer“, diese Feuilletonisten,<br />

„die davon leben, andere <strong>zu</strong> belauern.<br />

E<strong>in</strong>e Ges<strong>in</strong>nung, die mir nachdrücklich<br />

missfällt.“ Nicht, dass er die Junge<br />

Freiheit verherrlichen würde: „Zum Teil<br />

s<strong>in</strong>d das ganz furchtbare Schnarcher. Die<br />

schicken mir jede Woche e<strong>in</strong> Heft im<br />

Frei-Abo <strong>zu</strong>. Aber e<strong>in</strong>en rechtsradikalen<br />

Beitrag habe ich noch selten dr<strong>in</strong> gefunden.<br />

Allenfalls e<strong>in</strong>en absenten Artikel.“<br />

Wir flanieren <strong>zu</strong>rück. Entlang des<br />

Flüsschens, mit Blick auf die gotischen<br />

Fassaden beiderseits der Vils. In dieser<br />

Ruhe, Freundlichkeit und Gemächlichkeit<br />

ist e<strong>in</strong> Gegenglück <strong>zu</strong> spüren, das<br />

<strong>zu</strong>m Handwerkszeug des Satirikers gehört.<br />

„In der Satire“, heißt es bei Schiller,<br />

„wird die Wirklichkeit als Mangel<br />

dem Ideal als der höchsten Realität gegenübergestellt.“<br />

Satire als Diskrepanz<br />

zwischen Gegebenheit und Utopie. Ambergs<br />

Altstadt war nie nur bloße <strong>Wie</strong>ge,<br />

sondern immer auch Sehnsuchtsort.<br />

Auf dem Lederersteg, e<strong>in</strong>er schmalen<br />

überdachten Holzbrücke gegenüber se<strong>in</strong>er<br />

Wohnung, schauen wir den Enten am<br />

Ufer <strong>zu</strong>. Am nächsten Tag will er mit Gatt<strong>in</strong><br />

und Freunden den Fluss h<strong>in</strong>auf wandern<br />

<strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Wallfahrtsfest außerhalb<br />

von Amberg. „Die meisten gehen dorth<strong>in</strong>,<br />

um Bier <strong>zu</strong> tr<strong>in</strong>ken und um Wurscht <strong>zu</strong><br />

essen. Bei uns geht das e<strong>in</strong> bisschen tiefer.<br />

Wir gehen da schon mit der ausreichenden<br />

Andacht h<strong>in</strong>.“<br />

Ach? E<strong>in</strong> Leben lang Kirchenwitze<br />

reißen – und im Alter dann h<strong>in</strong>terrücks<br />

wallfahren? Henscheid w<strong>in</strong>kt ab. „Bei<br />

mir war Religion nie verpönt. Ich habe<br />

zwar viele religionskritische Texte geschrieben.<br />

Aber selbst <strong>in</strong> den kirchenkritischen<br />

Zeiten habe ich immer e<strong>in</strong> offenes<br />

Ohr gehabt für die freundlichen<br />

und andachtserzw<strong>in</strong>genden Seiten dieser<br />

Religion.“<br />

HOLGER FUSS ist Autor <strong>in</strong> Hamburg und<br />

hat im oberpfälzischen Amberg den Zauber<br />

der Prov<strong>in</strong>z wiederentdeckt<br />

124<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


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Absendung des Widerrufs. <strong>Cicero</strong> ist e<strong>in</strong>e Publikation der R<strong>in</strong>gier<br />

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SALON<br />

Interview<br />

„ ZERSTÖRUNG IST HEITER “<br />

In den Achtzigern spielten die E<strong>in</strong>stürzenden Neubauten<br />

auf Kreissägen <strong>in</strong> Autobahnbrücken. S<strong>in</strong>d sie heute Liebl<strong>in</strong>ge<br />

des Feuilletons? Frontmann Blixa Bargeld wehrt sich<br />

Herr Bargeld, auf Ihrer neuen Platte<br />

„Lament“ kommen Sie uns mit dem<br />

Ersten Weltkrieg, nachdem wir uns bereits<br />

das ganze Jahr schw<strong>in</strong>delig er<strong>in</strong>nert<br />

haben …<br />

Blixa Bargeld: Der Anstoß kam von<br />

außen. Das Album ist e<strong>in</strong>e Auftragsarbeit<br />

und als Performance konzipiert. Wir<br />

wurden von der Region Flandern gebeten,<br />

das Thema <strong>zu</strong> bearbeiten – als Auftakt<br />

für deren Jubiläumsjahr. Ich habe<br />

versucht, die niedergetrampelten Pfade<br />

<strong>zu</strong> verlassen und mithilfe von zwei Wissenschaftlern,<br />

e<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>guist<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>em<br />

Historiker, e<strong>in</strong> paar Nischen <strong>zu</strong> f<strong>in</strong>den,<br />

die noch nicht so ausgeleuchtet s<strong>in</strong>d.<br />

Dabei <strong>in</strong>teressierte mich vor allem der<br />

Aspekt der klanglichen, musikalischen<br />

Quellenlage.<br />

Blixa Bargeld<br />

55, Musiker, Künstler, Autor und<br />

Sänger der Band E<strong>in</strong>stürzende<br />

Neubauten, die mit selbst<br />

gebauten Instrumenten die<br />

Musikwelt revolutionierte. Für<br />

ihr neues Album „Lament“<br />

hörten sie sich durch Tonaufnahmen<br />

von Kriegsgefangenen<br />

Das war e<strong>in</strong>e statistische Komposition.<br />

Wenn man die Dauer des Ersten<br />

Weltkriegs <strong>in</strong> Viervierteltakte aufteilt<br />

und 120 Schläge pro M<strong>in</strong>ute <strong>zu</strong>grunde<br />

legt, dann dauert das Ganze 13 M<strong>in</strong>uten.<br />

Jeder e<strong>in</strong>zelne Taktschlag <strong>in</strong>nerhalb<br />

e<strong>in</strong>es Viervierteltakts ist e<strong>in</strong> Tag. Dann<br />

kommen die e<strong>in</strong>zelnen Kriegsparteien<br />

an bestimmten Takten da<strong>zu</strong> und steigen<br />

nach und nach aus diesem Krieg aus.<br />

Und s<strong>in</strong>d Sie fündig geworden?<br />

Es gibt im Pr<strong>in</strong>zip ke<strong>in</strong>e Tonaufzeichnung<br />

aus dem Ersten Weltkrieg,<br />

weil es ke<strong>in</strong>e Tonaufzeichnungsverfahren<br />

gab. E<strong>in</strong>zige Ausnahme bilden die<br />

Walzenaufnahmen. Wir hatten das Glück,<br />

dass diese Aufnahmen, die Wissenschaftler<br />

von den Kriegsgefangenen gemacht<br />

haben, teilweise während Verhören, <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong>er Lautarchiven <strong>zu</strong> f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d.<br />

Gibt es e<strong>in</strong>e Akustik des Krieges?<br />

Es g<strong>in</strong>g überhaupt nicht um den<br />

Klang. Das ist e<strong>in</strong> Aspekt, der mich gar<br />

nicht <strong>in</strong>teressiert hat. Ich wollte von<br />

vornhere<strong>in</strong> vermeiden, dass es <strong>zu</strong> der<br />

Gleichung kommt, E<strong>in</strong>stürzende Neubauten<br />

sei gleich Krach plus Erster Weltkrieg.<br />

Auf Ihrem Album gibt es e<strong>in</strong>e spannende<br />

Akustikversion des Ersten Weltkriegs.<br />

Jedes Land wird von e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Melodie repräsentiert, gespielt auf<br />

Plastik-Abwasserrohren.<br />

Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong>


Eigentlich wollte ich das auf Styroporplatten<br />

spielen, aufgespießt auf Beckenständer,<br />

sodass während des Spieles die<br />

Nationen zerkrümeln und verschw<strong>in</strong>den.<br />

In e<strong>in</strong>em Song s<strong>in</strong>gen Sie „Heil dir im<br />

Siegerkranz, Kartoffeln mit Her<strong>in</strong>gsschwanz“.<br />

E<strong>in</strong> anderes Stück handelt<br />

vom Beg<strong>in</strong>n des Ersten Weltkriegs, dargestellt<br />

unter Zuhilfenahme e<strong>in</strong>es Tierstimmenimitators.<br />

In solchen Momenten<br />

könnte man me<strong>in</strong>en, Sie hätten Humor.<br />

Ich habe Humor. „Heil dir im Siegerkranz“<br />

ist e<strong>in</strong>e Montage der größten<br />

Hit-Hymnen des Krieges überhaupt. Unter<br />

den Kriegsparteien gab es an die acht<br />

Nationen, die dieselbe Hymne verwendeten,<br />

mit verschiedenen Texten. Die Tierstimmenimitation<br />

fand ich im Rundfunkarchiv.<br />

Aus dem Jahre 1926. Das Stück<br />

schließt mit e<strong>in</strong>em Pfau, der Ludendorff<br />

vorbeireiten sieht, e<strong>in</strong> Rad schlägt und<br />

„Hitler“ schreit. 1926 wohlgemerkt. Das<br />

hat mich umgehauen.<br />

Darf Krieg lustig se<strong>in</strong>?<br />

Darf man Witze über den Krieg machen?<br />

Ja, man darf. Man muss sogar. Hätten<br />

mehr Leute darüber gelacht, wäre<br />

es vielleicht anders gelaufen. Haben sie<br />

natürlich nicht. Der Tierstimmenautor<br />

musste se<strong>in</strong>erzeit emigrieren.<br />

Musikalisch haben Sie im Vergleich <strong>zu</strong><br />

früher längst anderes Terra<strong>in</strong> betreten.<br />

Hat die Zerstörung als schöpferisches<br />

Pr<strong>in</strong>zip Pause?<br />

Zerstörung war nie e<strong>in</strong> Neubauten-<br />

Motto. Mit Walter Benjam<strong>in</strong> gesprochen:<br />

Der zerstörerische Charakter ist heiter<br />

und freundlich, er kennt nur e<strong>in</strong>e Devise:<br />

Platz schaffen.<br />

Wo aber ist die Radikalität der Neubauten<br />

heute?<br />

Wo haben Sie sie denn vorher<br />

verortet?<br />

In der Musik, im Visuellen und im Ersche<strong>in</strong>ungsbild.<br />

In den achtziger Jahren<br />

haben Sie <strong>in</strong> Autobahnbrücken musiziert.<br />

Heute <strong>in</strong>teressieren Sie sich vermutlich<br />

mehr für Spielplätze.<br />

Das ist sicherlich richtig. Es gibt ja<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte nicht so viele Autobahnbrücken.<br />

Von me<strong>in</strong>em Haus aus f<strong>in</strong>den<br />

Sie aber 30 Meter <strong>in</strong> jede Richtung e<strong>in</strong>en<br />

„ Darf man<br />

Witze über den<br />

Krieg machen?<br />

Ja, man darf.<br />

Man muss sogar “<br />

Spielplatz. Und das f<strong>in</strong>det me<strong>in</strong>e Tochter<br />

auch vollkommen richtig so. Das hat aber<br />

wenig mit dem Ersten Weltkrieg <strong>zu</strong> tun.<br />

In ihren Anfängen s<strong>in</strong>d die E<strong>in</strong>stürzenden<br />

Neubauten akustisch Amok gelaufen.<br />

Heute sche<strong>in</strong>t es, als hätten sie sich<br />

längst <strong>in</strong> der bürgerlichen Kunstszene<br />

etabliert.<br />

Schön wär’s. Die E<strong>in</strong>stürzenden<br />

Neubauten haben <strong>in</strong> ihrer 35-jährigen<br />

Karriere ganze zwei Theaterstücke beschallt.<br />

Trotzdem werde ich <strong>in</strong> jedem Interview<br />

gefragt, wie das jetzt so ist mit<br />

dem Theater. Die angebliche Umarmung<br />

des bürgerlichen Feuilletons, das Aufsteigen<br />

<strong>in</strong> die sogenannte Hochkultur, ist etwas,<br />

das sich Journalisten gegenseitig aus<br />

ihren eigenen Archiven abschreiben. Das<br />

spielt <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Lebensrealität überhaupt<br />

ke<strong>in</strong>e Rolle.<br />

Lassen Sie mich auch mal abschreiben:<br />

Sie s<strong>in</strong>d heute Liebl<strong>in</strong>ge des Feuilletons,<br />

haben den Bohrer gegen Streicher getauscht,<br />

lieben gutes Essen und s<strong>in</strong>d<br />

Hausbesitzer. Fehlt nur noch e<strong>in</strong> <strong>Cicero</strong>-<br />

Abo, und die Bürgerlichkeit ist total.<br />

Ich habe gar nichts gegen <strong>Cicero</strong>.<br />

Im Ernst, ich habe nicht vor <strong>zu</strong> leugnen,<br />

dass me<strong>in</strong>e Lebenssituation 2014 natürlich<br />

e<strong>in</strong>e ganz andere ist als 1980. Das<br />

bedeutet aber auch, dass das, was ich<br />

jetzt mache, nicht mehr dasselbe ist wie<br />

1980. Andererseits b<strong>in</strong> ich genetisch immer<br />

noch derselbe Mensch. Vielleicht gibt<br />

es <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Denken e<strong>in</strong>e Evolution, es<br />

hat aber sicher nicht radikal die Richtung<br />

gewechselt. Insofern müsste es beides geben:<br />

Kont<strong>in</strong>uität und Weiterentwicklung.<br />

Für die meisten Journalisten spielt das<br />

ke<strong>in</strong>e Rolle. Sie gucken <strong>in</strong> den Computer,<br />

<strong>in</strong> ihre Archive und dann gibt es diese<br />

unendlichen Selbstläufer. Das selbstläuferischste<br />

Zitat, das mir immer wieder<br />

aufstößt, stammt ursprünglich von Diedrich<br />

Diederichsen. Diederichsen hat irgendwann<br />

e<strong>in</strong>mal gesagt, der Tourplan<br />

liest sich wie e<strong>in</strong>e Agenda der Goethe-<br />

Institute. Da kann ich auch nur sagen,<br />

schön wär’s. Das ist e<strong>in</strong>fach nicht wahr.<br />

Berl<strong>in</strong> war immer Ihr Thema. Die E<strong>in</strong>stürzenden<br />

Neubauten haben diese<br />

Stadt hörbar gemacht. Ihr mit „Bef<strong>in</strong>dlichkeit<br />

des Landes“ im Jahre 2000<br />

e<strong>in</strong>e düstere Hymne geschrieben, <strong>in</strong> der<br />

es heißt „Melancholia schwebt über der<br />

neuen Stadt und über dem Land“. E<strong>in</strong><br />

Lied, das <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em Berl<strong>in</strong> passte, das<br />

noch nicht wusste, woh<strong>in</strong> es gehörte.<br />

Das war die Wut über die Architektur<br />

des Potsdamer Platzes, über den<br />

Wahns<strong>in</strong>n, die Geschichte unter immer<br />

neuen Schichten verschw<strong>in</strong>den <strong>zu</strong> lassen.<br />

Berl<strong>in</strong> ist erwachsen geworden. Die<br />

zarte Melancholie ist mittlerweile dem<br />

Glatten, Sauberen gewichen. Welches<br />

Lied müsste gespielt <strong>werden</strong>, um dieser<br />

Stadt heute gerecht <strong>zu</strong> <strong>werden</strong>?<br />

Das weiß ich nicht. Da<strong>zu</strong> habe ich<br />

mich <strong>in</strong> letzter Zeit e<strong>in</strong>fach mit anderen<br />

D<strong>in</strong>gen beschäftigt. Kurz nach diesem<br />

Lied habe ich Berl<strong>in</strong> verlassen. Ich hab<br />

dann jahrelang <strong>in</strong> San Francisco, dann<br />

<strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g gelebt und b<strong>in</strong> letztendlich aus<br />

familiären Gründen <strong>zu</strong>rück nach Berl<strong>in</strong><br />

gekommen. Wohne aber <strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong>, das<br />

ist für e<strong>in</strong>en Westberl<strong>in</strong>er immer noch<br />

e<strong>in</strong> Unterschied.<br />

Inwiefern?<br />

Für mich ist das Terra <strong>in</strong>cognita. In<br />

Ostberl<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>de ich ke<strong>in</strong>erlei Er<strong>in</strong>nerungen<br />

mit irgendwas. Insofern ist es für<br />

mich, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Stadt <strong>zu</strong> se<strong>in</strong>.<br />

Das Gespräch führte TIMO STEIN<br />

127<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Welches Kapitel öffnet sich da? Unser<br />

Autor im Sommer 2013, bewegungsbereit


SALON<br />

Essay<br />

DAS GROSSE<br />

VERSCHWINDEN<br />

Als sich alles ause<strong>in</strong>anderschob: E<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung<br />

an den Herbst 1989, den Fall der Mauer,<br />

me<strong>in</strong>e neblige Angst und das Gelbe vom Ei<br />

Fotos: Gene Glover/Agentur Focus, Christoph Püschner<br />

Von CLEMENS MEYER<br />

129<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


SALON<br />

Essay<br />

Ich trage e<strong>in</strong>e Schärpe, die über me<strong>in</strong>e l<strong>in</strong>ke Schulter<br />

gelegt ist. „Neues Forum“ steht auf dem Stoffband<br />

auf me<strong>in</strong>er Brust. Neben mir stehen me<strong>in</strong>e Mutter<br />

und me<strong>in</strong>e Schwester. Auch sie tragen diese Schärpen.<br />

Auf der me<strong>in</strong>er Mutter steht „Ohne Gewalt“. Ich<br />

b<strong>in</strong> zwölf Jahre alt. Herbst 1989. Anfang November?<br />

Ende Oktober? Mitte Oktober? Es steht ke<strong>in</strong> Datum<br />

unter dem Foto.<br />

Die Zeitschrift Quick, auf deren bereits leicht vergilbten<br />

Seiten ich me<strong>in</strong>e Mutter, me<strong>in</strong>e Schwester und<br />

mich selbst betrachte, existiert nicht mehr. Ich kann<br />

mich nicht er<strong>in</strong>nern, dass wir damals fotografiert wurden.<br />

Das Foto ist schwarz-weiß, im H<strong>in</strong>tergrund erkenne<br />

ich Lampen, Sche<strong>in</strong>werfer, e<strong>in</strong> trübes Licht. Es<br />

wirkt, als würden Herbstnebel ziehen, mir kommt das<br />

Wort „Industrienebel“ <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n. Nannten nicht unsere<br />

Lehrer so den Smog, der, so er<strong>in</strong>nere ich mich, <strong>in</strong><br />

den W<strong>in</strong>tern 1987 und 1988 besonders <strong>in</strong>tensiv und<br />

dicht über der Stadt Leipzig lag, verstärkt durch den<br />

Rauch aus Zehntausenden, ne<strong>in</strong>, Hunderttausenden<br />

Kachelöfen? Nebel, der wie e<strong>in</strong>e Glocke über der Stadt<br />

lag und den die w<strong>in</strong>terliche Kälte oft bis <strong>in</strong> die Straßen<br />

drückte.<br />

Leipzig war umz<strong>in</strong>gelt von Industrieschloten, Böhlen,<br />

Bitterfeld („seh’n wir uns nicht <strong>in</strong> dieser Welt,<br />

seh’n wir uns <strong>in</strong> Bitterfeld“), Espenha<strong>in</strong>, Leuna, Buna.<br />

<strong>Wie</strong> war das Wetter im Herbst 89? Nass und kalt? Oder<br />

doch e<strong>in</strong> goldener Oktober? Dunkel war es, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

Er<strong>in</strong>nerung wird es <strong>in</strong> diesem beziehungsweise jenem<br />

Herbst sehr zeitig dunkel. Nieselte es nicht manchmal,<br />

sodass das Pflaster und die Straßenbahnschienen<br />

glänzten, die Luft feucht und herbstlich? In der alten<br />

Quick, unter dem Foto, lese ich: „Reg<strong>in</strong>a Meier: Ich<br />

stand mit me<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern am Stasi-Gebäude ‚Runde<br />

Ecke‘, um Gewalt <strong>zu</strong> verh<strong>in</strong>dern und die <strong>zu</strong> schützen,<br />

die es eigentlich nicht verdient hatten. Die K<strong>in</strong>der habe<br />

ich ganz bewusst mitgenommen.“<br />

Die Familie und die Zeitgeschichte:<br />

Clemens Meyer ( l<strong>in</strong>ks ), 1989 <strong>in</strong> der Quick<br />

Me<strong>in</strong>e Mutter, die e<strong>in</strong>en großen Schal um ihren<br />

Hals gewickelt hat, lacht, wir halten Kerzen <strong>in</strong> den Händen,<br />

die kann man zwar nicht sehen auf dem Foto, aber<br />

ihren Lichtsche<strong>in</strong>, der unsere Gesichter flackernd erhellt.<br />

Me<strong>in</strong>e Schwester, die e<strong>in</strong> Jahr älter ist als ich, lächelt,<br />

Lichtreflexe auf ihrer Brille. Nur ich schaue skeptisch,<br />

der zwölfjährige Clemens Meyer hat die Zunge<br />

auf die Oberlippe gelegt, hält den Blick gesenkt. H<strong>in</strong>ter<br />

mir steht e<strong>in</strong> Mann mit Schirmmütze, die Glut se<strong>in</strong>er<br />

Zigarette ist deutlich <strong>zu</strong> sehen. Vor uns, auf dem<br />

Foto nicht erkennbar, der Strom der Menschen, die gegen<br />

die graue Fassade der Runden Ecke – so nennen<br />

die Leipziger dieses Eckgebäude direkt am R<strong>in</strong>g, dieser<br />

breiten Straße, die das Zentrum der Stadt kreisförmig<br />

e<strong>in</strong>schließt –, die gegen diese graue Fassade der Stasi-<br />

Zentrale ihre Stimmen erheben. „Stasi <strong>in</strong> den Tagebau.“<br />

„Wir s<strong>in</strong>d das Volk“, immer wieder: „Wir s<strong>in</strong>d das Volk!“<br />

„WIR SIND EIN VOLK“ kam erst später. Und wurde anfangs<br />

nicht gerne gehört. Auch me<strong>in</strong>e Mutter erzählt<br />

mir heute, dass sie lange noch den Traum von e<strong>in</strong>er<br />

reformierten DDR träumte, e<strong>in</strong> demokratischer Sozialismus.<br />

<strong>Wie</strong> sang doch Wolf Biermann mehr als zehn<br />

Jahre <strong>zu</strong>vor und im Dezember 89 <strong>in</strong> Leipzig, <strong>in</strong> den<br />

Messehallen: „Der Westn is besser / Der Westn is bunter<br />

/ … Und trotzalledem / Ich sag dir die Wahrheit:<br />

Der Westn is ooch nicht – det Gelbe von’ Ei / Der Ostn<br />

is schlechter / Der Ostn is grauer / Und kle<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d die<br />

Chancen / Und groß ist die Not / Und trotzalledem: /<br />

Der Traum der Commune / Der schlief nur und is doch –<br />

noch lange nich tot.“<br />

Bis heute bereue ich, dass ich das Konzert Biermanns<br />

am 1. Dezember 1989 nicht wie me<strong>in</strong>e Mutter<br />

und me<strong>in</strong>e Schwester <strong>in</strong> den nicht weit von unserer<br />

Wohnung entfernten Messehallen gehört und erlebt<br />

habe, sondern nur im Fernsehen, es wurde live übertragen.<br />

Aber das Pathos der Biermann’schen Verse und<br />

Stimme ist mir bis heute im Ohr, wenn ich an 1989<br />

denke.<br />

<strong>Wie</strong> sah es aus <strong>in</strong> der Stadt, im Herbst 89, an den<br />

Montagen? <strong>Wie</strong> roch es? <strong>Wie</strong> fühlte es sich an? Was<br />

passierte? Und wie nahm ich es wahr, das zwölfjährige<br />

K<strong>in</strong>d mit dem skeptischen Blick, bereits <strong>in</strong> der Pubertät<br />

(was für e<strong>in</strong> blödes Wort), wann spürte ich, dass sich<br />

etwas <strong>zu</strong> ändern, <strong>zu</strong> verändern begann, dass sich etwas<br />

bewegte, verschob, dass sich die Realität b<strong>in</strong>nen<br />

weniger Wochen komplett veränderte?<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich, dass bereits im Frühjahr 89 immer<br />

mehr Menschen verschwanden. In den Westen ausreisten.<br />

Die große Ausreisewelle. In me<strong>in</strong>er Klasse waren<br />

plötzlich e<strong>in</strong>ige Stühle leer. Im Herbst g<strong>in</strong>gen dann<br />

immer mehr, auch Lehrer, e<strong>in</strong> großes Verschw<strong>in</strong>den,<br />

das Land blutete langsam aus, während die Massen auch<br />

an dem Abend, an dem das Foto entstand, skandierten:<br />

„Wir bleiben hier! Wir bleiben hier!“ Me<strong>in</strong>e Mutter, die<br />

kurioserweise im Herbst 89 kurze Zeit <strong>in</strong> Budapest war,<br />

erzählte dann von den gespenstisch leeren Zügen auf<br />

Fotos: Quick, Christoph Püschner<br />

130<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


89, den wir, me<strong>in</strong>e Mutter, me<strong>in</strong>e Schwester, ich, die<br />

drei auf dem Foto <strong>in</strong> der Quick, besuchten. Der Slogan<br />

„Schwerter <strong>zu</strong> Pflugscharen“ kursierte. Auf e<strong>in</strong>em<br />

Hügel vor e<strong>in</strong>em im wahrsten S<strong>in</strong>ne des Wortes<br />

verseuchten See wurde gebetet, gesungen. E<strong>in</strong> <strong>junge</strong>r<br />

Pfarrer mit Vollbart und schulterlangen Haaren predigte,<br />

erzählte von der hohen Anzahl Krebserkrankter<br />

<strong>in</strong> dem Dorf nahe dem See und dem Kraftwerk<br />

(welches es war, habe ich vergessen), Fürbitte wurde<br />

s<strong>in</strong>gend gehalten, „großer barmherziger Gott, mach,<br />

dass die Menschen nicht weiter de<strong>in</strong>e Schöpfung zerstören“.<br />

Nach diesem Gottesdienst gab es Schnitten<br />

und Apfelsaft, während im H<strong>in</strong>tergrund die Schlote<br />

des Kraftwerks apokalyptische, schwarz durchrauchte<br />

Flammen spien.<br />

Beide Eltern waren <strong>in</strong> der Kirche aktiv. „… die<br />

38-jährige Reg<strong>in</strong>a Meier, die seit Jahren als K<strong>in</strong>dergärtner<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> der ‚Nische Kirche‘ arbeitet …“, heißt es <strong>in</strong><br />

der Quick. Me<strong>in</strong> Vater, der sehr belesen war und sich<br />

mit Politik ause<strong>in</strong>andersetzte – seit Mitte der Achtziger<br />

engagierte er sich <strong>in</strong> der Ost-CDU – befürchtete<br />

e<strong>in</strong>e „ch<strong>in</strong>esische Lösung“, wie es damals hieß. Die Bilder<br />

vom Platz des Himmlischen Friedens waren noch<br />

frisch, wurden auch von uns K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> der Schule auf<br />

dem Pausenhof diskutiert, „von Panzern platt gefahren<br />

…“ Ich er<strong>in</strong>nere mich, wie me<strong>in</strong> Vater, wie viele<br />

andere auch, glaubte, dass irgendwann Schüsse fallen<br />

würden. Angst im Oktober.<br />

Über Prag <strong>in</strong> die Freiheit: E<strong>in</strong>stige<br />

DDR-Bürger im Hauptbahnhof Hof<br />

der Rückfahrt nach Leipzig und den überfüllten Zügen<br />

Richtung Ungarn auf dem Gegengleis.<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich, dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ausgabe der Pionierzeitung<br />

Trommel e<strong>in</strong> Text abgedruckt war, den<br />

fleißige Thälmann-Pioniere <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Flasche steckten,<br />

diese wiederum <strong>zu</strong>sammen mit Utensilien aus dem Pionier-<br />

sowie Alltagsleben anno 89 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Kiste taten,<br />

die sie dann vergruben, den Lageplan den Pionieren<br />

des Jahres 1999 h<strong>in</strong>terließen. Von durch Provokateure<br />

aufgeheizten Randalierern war dort die Rede, die aber<br />

von diszipl<strong>in</strong>ierten Volkspolizisten und Volksarmisten<br />

<strong>in</strong> Schach gehalten würden.<br />

Bewegungen im Land. Ich er<strong>in</strong>nere mich an e<strong>in</strong>en<br />

Umweltgottesdienst im Frühjahr oder Sommer<br />

JEDEN MONTAG FUHR ICH <strong>zu</strong>r Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

(AG) „<strong>junge</strong> Rezitatoren“, wir trafen uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kulturhaus<br />

<strong>in</strong> der Nähe des Rosentals, zwei Straßenbahnhaltestellen<br />

vom Hauptbahnhof entfernt. Ich trat 1988<br />

und 1989 mit selbst geschriebenen Geschichten („Die<br />

Ameise Pontifax“ und „Die Rückkehr der Ameise Pontifax“)<br />

<strong>in</strong> sogenannten Talentwettbewerben auf, kann<br />

mich er<strong>in</strong>nern, dass ich e<strong>in</strong>er der wenigen war, die<br />

dort ohne Pionieruniform auftraten, denn ich war nicht<br />

Mitglied der Pionierorganisation, was den Pionierleiter<br />

unserer Schule <strong>zu</strong>weilen ärgerte. Noch bis Anfang<br />

November g<strong>in</strong>gen er, unsere Direktor<strong>in</strong> und der Parteisekretär<br />

der Schule durch die Klassen und beschworen<br />

die Schüler, montags nicht <strong>in</strong> die Innenstadt <strong>zu</strong><br />

gehen, nicht an den „Märschen“ teil<strong>zu</strong>nehmen. Von<br />

Krawallmachern war die Rede, die verantwortungslos<br />

die Fußgängerbrücke an der sogenannten Blechbüchse<br />

(e<strong>in</strong> großes Warenhaus im sozialistischen Stil)<br />

besetzen und damit deren E<strong>in</strong>sturz riskieren würden.<br />

Oh, ihr klugen Agitatoren im Herbst!<br />

Unser Pionierleiter war im Juli 1990, neun Monate<br />

später, e<strong>in</strong>e andere Welt, auf e<strong>in</strong>em Zeitungsfoto <strong>zu</strong> sehen,<br />

das die endlose Schlange vor e<strong>in</strong>er Bankfiliale <strong>zu</strong>r<br />

Währungsunion zeigte. Be<strong>in</strong>ahe verschreckt schaute<br />

er <strong>in</strong> die Kamera, das Bild kursierte <strong>in</strong> unserer Klasse,<br />

se<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Tochter, die auch an unserer Schule war,<br />

hatte darunter sehr <strong>zu</strong> leiden, Hohn und Spott und<br />

mehr. E<strong>in</strong>e Art Tragik, wenn ich darüber nachdenke.<br />

131<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


SALON<br />

Essay<br />

Rezitatoren“ <strong>zu</strong>m Posaunenchor. So sahen me<strong>in</strong>e Montage<br />

aus, wenn me<strong>in</strong>e Mutter uns nicht mitnahm <strong>in</strong> die<br />

Stadt, wenn ich nicht mit me<strong>in</strong>em guten Freund, der<br />

zwölf Jahre nach 89 an e<strong>in</strong>er Überdosis Hero<strong>in</strong> starb,<br />

den Massen h<strong>in</strong>terherstaunte, wir uns nicht voll Abenteuerlust<br />

und k<strong>in</strong>dlicher Neugier den Menschen anschlossen.<br />

„Mit zwölf ist die K<strong>in</strong>dheit vorbei“, habe<br />

ich irgendwo gelesen.<br />

Nach der Wende blieb die Welt gefährlich<br />

und weit: Clemens Meyer um 1993<br />

Und nach den großen Rezitationsübungen <strong>in</strong> der<br />

AG „<strong>junge</strong> Rezitatoren“ fuhr ich mit der Straßenbahn<br />

<strong>zu</strong>rück, zwischen fünf und sechs Uhr war das, manchmal<br />

g<strong>in</strong>g ich auch die zwei Haltestellen <strong>zu</strong> Fuß bis <strong>zu</strong>m<br />

Hauptbahnhof. Der Abend dämmerte, die dunkelblaue<br />

Stunde, und e<strong>in</strong>e seltsame Gespanntheit lag <strong>in</strong> der Luft.<br />

Still war es, so er<strong>in</strong>nere ich mich. Die Menschen schienen<br />

<strong>zu</strong> warten. Und e<strong>in</strong>e langsame Bewegung Richtung<br />

Innenstadt setzte e<strong>in</strong>. Begriff ich als K<strong>in</strong>d, was vor sich<br />

g<strong>in</strong>g? E<strong>in</strong>mal traf ich mich nach me<strong>in</strong>er Montags-AG<br />

mit e<strong>in</strong>em guten Freund, der 2001 an e<strong>in</strong>er Überdosis<br />

Hero<strong>in</strong> starb, wir wollten schauen, was abends auf<br />

dem R<strong>in</strong>g passierte. Schlossen wir zwei K<strong>in</strong>der uns an<br />

oder standen wir nur staunend am Rande?<br />

In me<strong>in</strong>em Roman „Als wir träumten“ von 2006<br />

dramatisierte ich das, die zwölf-, 13-jährigen Jungen,<br />

Helden und Antihelden, erleben e<strong>in</strong>e Montagsdemonstration<br />

– wann kam dieser Name eigentlich auf? –, als<br />

e<strong>in</strong> gewaltiges Abenteuer, e<strong>in</strong>er macht Fotos für die<br />

Foto-AG, sie verstehen, dass etwas passiert <strong>in</strong> ihrer<br />

K<strong>in</strong>dheitswelt, aber sie begreifen nicht, dass die ganze<br />

große Welt sich <strong>zu</strong> verändern begann.<br />

E<strong>in</strong>ige me<strong>in</strong>er Schulfreunde erzählten dienstags,<br />

wie sie am Vorabend mit ihren Eltern dabei waren.<br />

„Wir waren dabei“, das war etwas Besonderes. E<strong>in</strong><br />

Junge, Pfarrerssohn, verteilte handgeschriebene Zettel<br />

<strong>in</strong> der Pause, das muss Anfang November gewesen<br />

se<strong>in</strong>, kurz danach g<strong>in</strong>g das Gerücht um, er würde von<br />

der Schule fliegen. Ne<strong>in</strong>, er flog nicht von der Schule,<br />

alles andere flog, beschleunigte sich, die Ereignisse<br />

überschlugen sich, dennoch waren diese Tage, auch aus<br />

der Sicht des zwölfjährigen Clemens Meyer, lang, nicht<br />

enden wollend <strong>in</strong> ihrer Fülle immer neuer Ereignisse.<br />

Als am 9. Oktober, wie durch e<strong>in</strong> Wunder, die<br />

Lage im abendlichen Zentrum von Leipzig nicht eskalierte,<br />

war ich bei e<strong>in</strong>er Übungsstunde des Posaunenchors<br />

unserer Kirchengeme<strong>in</strong>de, dort spielte ich<br />

damals Trompete, zweite Stimme. Von der AG „<strong>junge</strong><br />

UND IM POSAUNENCHOR wurde am 9. Oktober nicht<br />

viel geübt, so er<strong>in</strong>nere ich mich. Es waren auch nicht<br />

alle Bläser gekommen, wir saßen nur <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Beset<strong>zu</strong>ng,<br />

Völker höret die Signale. Wir redeten, beziehungsweise<br />

die Erwachsenen redeten, was ist los<br />

im Land? Und woh<strong>in</strong> gehen wir? Ich weiß noch, dass<br />

ich mitreden wollte, dass ich von den Veränderungen<br />

<strong>in</strong> der Schule erzählen wollte, dass ich von den heimlichen<br />

Ausflügen mit me<strong>in</strong>em Freund <strong>in</strong> die Stadt erzählen<br />

wollte, von me<strong>in</strong>en Wegen aus der AG „<strong>junge</strong><br />

Rezitatoren“, auf denen sich die Stadt förmlich <strong>zu</strong>sammenzog,<br />

<strong>zu</strong> schrumpfen schien, um sich dann, gleichsam<br />

ausatmend, wieder <strong>zu</strong> dehnen. Aber ich war ja<br />

noch e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, auch wenn die K<strong>in</strong>dheit mit zwölf Jahren<br />

angeblich enden soll.<br />

Über me<strong>in</strong>e Mutter und diesen 9. Oktober lese ich<br />

<strong>in</strong> der alten Ausgabe der längst untergegangenen Zeitschrift<br />

Quick: „Aufgeregt, wütend und voller Angst<br />

g<strong>in</strong>g sie am 9. Oktober 1989 <strong>in</strong> die Stadt. ‚Dass es an<br />

diesem Tag so viele Demonstranten wurden, kann ich<br />

heute immer noch nicht begreifen.‘“<br />

Wusste ich damals, dass sie an diesem vielleicht<br />

entscheidenden Demonstrationsabend <strong>in</strong> die Stadt<br />

g<strong>in</strong>g? Während ich beim Posaunenchor saß, im Geme<strong>in</strong>dehaus<br />

der Marienkirche, am Rand der Stadt. War<br />

me<strong>in</strong>e Schwester dabei, oder ließ me<strong>in</strong>e Mutter sie aus<br />

Vorsicht <strong>zu</strong> Hause? Ich kann mich er<strong>in</strong>nern, dass es<br />

darüber, also ob me<strong>in</strong>e Mutter me<strong>in</strong>e Schwester am<br />

9. Oktober wie an den Septembermontagen und wie<br />

am 2. Oktober mit <strong>in</strong> die Stadt nimmt, e<strong>in</strong>en Disput mit<br />

me<strong>in</strong>em Vater gab. <strong>Wie</strong> viele ähnliche Dispute muss<br />

es <strong>in</strong> anderen Wohnungen <strong>in</strong> dieser Zeit gegeben haben?<br />

Man urteilt schnell, von später aus, von heute aus.<br />

„Me<strong>in</strong>e Hoffnungen auf e<strong>in</strong>e Art von drittem Weg<br />

erfüllten sich nicht, waren mit dieser desolaten Wirtschaft<br />

wohl auch nicht möglich. Aber schon das bisschen<br />

Hoffnung auf Veränderung der e<strong>in</strong>gefahrenen Lebensverhältnisse<br />

<strong>zu</strong> haben, war gut.“ So me<strong>in</strong>e Mutter<br />

<strong>in</strong> der Quick. Die uns e<strong>in</strong> Jahr nach dem Herbst 89<br />

besuchte, zwei Reporter kl<strong>in</strong>gelten im Oktober 1990,<br />

kurz nach der <strong>Wie</strong>dervere<strong>in</strong>igung, an unserer Tür.<br />

„ Ich staune, dass ich<br />

dabei war. Ich staune<br />

über unsere Gesichter “<br />

Foto: Privat, Picture Alliance/DPA/AFP<br />

132<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Leipziger Montagsdemo: „E<strong>in</strong>ig Vaterland“<br />

forderte man im Dezember 1989


SALON<br />

Liste<br />

25 FEHLER,<br />

DIE WIR BEI DER NÄCHSTEN WIEDERVEREINIGUNG<br />

VERMEIDEN SOLLTEN<br />

25 Jahre Mauerfall s<strong>in</strong>d<br />

e<strong>in</strong> Grund <strong>zu</strong>m Feiern.<br />

Aber wir hätten da<br />

doch noch e<strong>in</strong> paar<br />

Anmerkungen da<strong>zu</strong>,<br />

was bei der <strong>Wie</strong>dervere<strong>in</strong>igung<br />

schieflief<br />

Von PETRA SORGE und<br />

CHRISTOPH SEILS<br />

1. VOLLSTÄNDIGER ABRISS DER<br />

BERLINER MAUER<br />

Man hätte ahnen können, dass die<br />

Touristen nur deshalb nach Berl<strong>in</strong><br />

kommen, um die Mauer <strong>zu</strong> sehen.<br />

2. TREUHANDANSTALT<br />

Rund 8500 volkseigene Betriebe<br />

wurden abgewickelt. Statt erhoffter<br />

Gew<strong>in</strong>ne entstand e<strong>in</strong> Milliardengrab.<br />

Da<strong>zu</strong> kle<strong>in</strong>e und große Gaunereien.<br />

3. ABWICKELN DER POLIKLINIKEN<br />

Das ist doch Sozialismus, schrien die<br />

Ärzte (West), bis die Krankenkassen<br />

<strong>zu</strong> rechnen begannen und Mediz<strong>in</strong>ische<br />

Versorgungszentren gründeten.<br />

4. IGNORIEREN DES WESTDOPINGS<br />

Nur gedopte DDR-Helden wurden<br />

gestürzt. Im Westen? Fehlanzeige.<br />

5. ABSCHAFFUNG DES<br />

IMPFZWANGS FÜR BABYS<br />

Ihre 1000 Mark Geburtsprämie<br />

erhielten Osteltern nur, wenn sie ihr<br />

K<strong>in</strong>d pieksen ließen. Heute haben<br />

Impfverweigerer Hochkonjunktur.<br />

6. AMPELMÄNNCHEN-RETTUNG<br />

Ausgerechnet das kle<strong>in</strong>e Männchen<br />

mit dem Strohhut à la Honecker<br />

wurde so <strong>zu</strong>r Ikone der Nostalgiker.<br />

7. BUSCHZULAGE<br />

Über die Sonderprämie für Westbeamte<br />

wurden vor allem unfähige<br />

Staatsdiener <strong>in</strong> den Osten gelockt.<br />

8. WEST-VERKEHRSKONZEPTE<br />

Statt Straßen und Bahnen klug mit<br />

Fuß- und Radwegen <strong>zu</strong> komb<strong>in</strong>ieren,<br />

wurde im Osten die westdeutsche<br />

Autostadt der Nachkriegszeit kopiert.<br />

9. OSTPRESSE AN WESTVERLAGE<br />

Die Shopp<strong>in</strong>gtour der Westverlage<br />

festigte die Vormachtstellung der<br />

e<strong>in</strong>stigen SED-Zeitungen.<br />

10. FÜNF NEUE LÄNDER<br />

So wurde die föderale Kle<strong>in</strong>staaterei<br />

erweitert. Zwei Ostländer hätten<br />

auch gereicht.<br />

11. RUSSISCHUNTERRICHT<br />

VERKÜMMERN LASSEN<br />

Mehr Russischversteher statt<br />

Russlandversteher könnten wir<br />

gerade jetzt gut gebrauchen.<br />

12. DEM WÄHLER BLÜHENDE<br />

LANDSCHAFTEN VERSPRECHEN<br />

Helmut Kohl hat mit diesem<br />

Versprechen <strong>zu</strong> schnell <strong>zu</strong> hohe<br />

Erwartungen geweckt.<br />

13. OSTFUSSBALL VERKAUFEN<br />

Billig deckten sich Westvere<strong>in</strong>e mit<br />

Osttalenten e<strong>in</strong> und machten den<br />

Osten <strong>zu</strong>m Bundesliga-Niemandsland.<br />

Die späte Rache heißt RB Leipzig.<br />

14. FLUGHAFEN BERLIN-<br />

BRANDENBURG IN SCHÖNEFELD<br />

Zum Skandalflughafen hätte es e<strong>in</strong>e<br />

Alternative gegeben: den ehemaligen<br />

sowjetischen Militärflugplatz<br />

Sperenberg <strong>in</strong> Brandenburg.<br />

15. AUS FÜR DIE SENDUNG ELF 99<br />

ARD und ZDF sehnen sich heute<br />

nach <strong>junge</strong>n Zuschauern. Die<br />

DDR wusste, wie man e<strong>in</strong>e gute<br />

Teenager-Sendung macht.<br />

16. HALBER BERLIN-UMZUG<br />

Die zwischen Bonn und Berl<strong>in</strong><br />

geteilten M<strong>in</strong>isterien tun ke<strong>in</strong>em gut.<br />

17. RÜCKGABE VOR<br />

ENTSCHÄDIGUNG<br />

Das Restitutionspr<strong>in</strong>zip verunsicherte<br />

die Ostmieter, überforderte die<br />

Ämter und hemmte Investitionen.<br />

18. KÜRZUNG DER KITA-ZEITEN<br />

6 bis 18 Uhr. E<strong>in</strong> Elterntraum <strong>in</strong> der<br />

DDR. Öffnungszeiten von 9 bis 16<br />

Uhr stressen alle Väter und Mütter.<br />

19. ABSCHAFFUNG DES<br />

HAUSHALTSTAGES<br />

Frauen, teils auch alle<strong>in</strong>stehende<br />

Männer, hatten Anspruch auf e<strong>in</strong>e<br />

unbezahlte Auszeit.<br />

20. SONDERABSCHREIBUNGEN<br />

Dem Fiskus entg<strong>in</strong>gen so jährlich<br />

14 Milliarden Mark. Die Besserverdienenden<br />

rieben sich die Hände.<br />

21. SCHONUNG DER STASI-<br />

BONZEN<br />

Vor Gericht mussten sich die wenigsten<br />

Stasi-Größen verantworten.<br />

MfS-Chef Erich Mielke wurde 1993<br />

verurteilt, weil er zwei Polizisten<br />

erschossen hatte – im Jahr 1931.<br />

22. … UND KEINE KONFRONTATION<br />

MIT IHREN OPFERN<br />

In Südafrika gab es nach dem Ende<br />

des Apartheid-Regimes e<strong>in</strong>e<br />

Versöhnungskommission, <strong>in</strong> der<br />

Bundesrepublik nicht.<br />

23. SCHLECHTE AUFARBEITUNG<br />

DER SED-DIKTATUR<br />

Die DDR kommt im Geschichtsunterricht<br />

<strong>zu</strong> kurz. Heute hält sie jeder<br />

dritte Schüler für demokratisch.<br />

24. ABRISS DES PALASTS DER<br />

REPUBLIK<br />

Honeckers Lampenladen war auch<br />

nicht hässlicher als die Schlossattrappe,<br />

die jetzt gebaut wird.<br />

25. AUFBAU WEST VERGESSEN<br />

Zwei Billionen flossen <strong>in</strong> den<br />

Osten – aber jetzt siecht der Westen.<br />

Fotos: Christoph Püschner<br />

134<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Kurz vorher hatte es wohl e<strong>in</strong>e Fotoausstellung gegeben,<br />

eben dieses Foto, auf das ich jetzt schaue: me<strong>in</strong>e<br />

Mutter, me<strong>in</strong>e Schwester, die Schärpen, die Schriftzüge,<br />

die Kerzen, die Sche<strong>in</strong>werfer, der Nebel, ich.<br />

„E<strong>in</strong> wenig Resignation kl<strong>in</strong>gt heraus“, schreibt<br />

die Quick über dieses Gespräch, „e<strong>in</strong> Stück Traurigkeit.<br />

Schließlich hatten sie sich alle irgendwie mit dem<br />

System arrangiert.“ Und wieder e<strong>in</strong> Zitat me<strong>in</strong>er Mutter,<br />

<strong>in</strong> den Quick-Text montiert: „Da ist die sozialistische<br />

Erziehung nicht spurlos an mir vorübergegangen.“<br />

Der berühmte dritte Weg. Immer wieder e<strong>in</strong> Thema<br />

<strong>in</strong> den Tagen des 89er Herbstes. Der Westen ist auch<br />

nicht das Gelbe vom Ei? Aber als er dann kam, sehr<br />

schnell und schon im November, mit se<strong>in</strong>en Schokoladensorten,<br />

Autos, Tausenden Joghurts, Zeitschriften<br />

mit Nackten, Kassettenrekordern, da waren nicht nur<br />

wir K<strong>in</strong>der erst e<strong>in</strong>mal überwältigt.<br />

Und immer wieder lese ich die fett gedruckte Zwischenüberschrift<br />

<strong>in</strong> der Quick: „Ich stand mit me<strong>in</strong>en<br />

K<strong>in</strong>dern am Stasi-Gebäude ‚Runde Ecke‘, um Gewalt <strong>zu</strong><br />

verh<strong>in</strong>dern und die <strong>zu</strong> schützen, die es eigentlich nicht<br />

verdient hatten. Die K<strong>in</strong>der habe ich ganz bewusst mitgenommen.“<br />

Und wieder staune ich über diesen Idealismus.<br />

Ich staune, dass ich dabei war. Ich staune über unsere<br />

Gesichter. Ich staune über den seltsamen dunklen<br />

und doch frischen Geruch <strong>in</strong> diesem Herbst. Über die<br />

Bilder der leeren Straßenbahnen <strong>in</strong>mitten der demonstrierenden<br />

Menschen, die Fahrer standen <strong>in</strong> den offenen<br />

Türen, das gelbe Licht h<strong>in</strong>ter den großen Scheiben.<br />

Schulfrei, Flugblätter, Losungen, Lehrer l<strong>in</strong>ientreu,<br />

Lehrer im Aufbruch … Die erste Schülerzeitung<br />

Anfang 90, die große Versammlung vor dem heutigen<br />

Reichsgericht im Dezember 89, als das Neue Forum<br />

<strong>zu</strong>gelassen wurde, auch da s<strong>in</strong>d die drei vom Foto<br />

h<strong>in</strong>gegangen. Die Ehe der Eltern zerbrach, me<strong>in</strong> Vater<br />

begrüßte die <strong>Wie</strong>dervere<strong>in</strong>igung, die für se<strong>in</strong>en Politikverstand<br />

der e<strong>in</strong>zig gangbare Weg war, me<strong>in</strong>e Mutter<br />

träumte noch e<strong>in</strong>e Weile vom dritten Weg.<br />

„… hat sie große Probleme mit ihren K<strong>in</strong>dern, die<br />

sich plötzlich antiautoritär gebärden.“ <strong>Wie</strong>der die gute<br />

alte Quick über Frau Meier, me<strong>in</strong>e Mutter, die eigentlich<br />

Frau Meyer ist. 1990/91 begann die Zeit, die ich <strong>in</strong><br />

„Als wir träumten“ schildere, der Tanz auf den Trümmern,<br />

die sich erst ganz langsam, sehr, sehr langsam,<br />

<strong>zu</strong> blühenden Landschaften formierten. Aber davon<br />

wussten die drei auf dem Foto noch nichts. Da waren<br />

sie Teil von etwas, e<strong>in</strong>es Stroms, e<strong>in</strong>er Entwicklung, etwas<br />

Großem, e<strong>in</strong>er seltsam geordneten Eruption, Geschichte?<br />

„Neues Forum“, „Ohne Gewalt“, „Schwerter<br />

<strong>zu</strong> Pflugscharen“, schöne, bedeutungsvolle, hoffnungsvolle<br />

Worte waren das, aber wir dachten sicher nicht<br />

an Geschichte. Es war e<strong>in</strong> Abend im Oktober.<br />

CLEMENS MEYER wurde 1977 <strong>in</strong> Halle an der Saale geboren.<br />

Er lebt <strong>in</strong> Leipzig und schrieb <strong>zu</strong>letzt den Roman „Im Ste<strong>in</strong>“.<br />

Für se<strong>in</strong>e Bücher erhielt er zahlreiche Preise, etwa den Preis<br />

der Leipziger Buchmesse und den Bremer Literaturpreis<br />

135<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014<br />

816 S., 97 Grafiken, 18 Tab. Geb. € 29,95<br />

ISBN 978-3-406-67131-9<br />

„Dieses Buch wird die Ökonomie<br />

verändern und mit ihr die<br />

ganze Welt.“ Paul Krugman,<br />

The New York Review of Books<br />

„E<strong>in</strong>e brillante Erzählung über<br />

Reichtum und Armut.“<br />

Nikolaus Piper, Süddeutsche Zeitung<br />

525 S., 38 Abb., 7 Ktn. Ln. € 29,95<br />

ISBN 978-3-406-65921-8<br />

„So umfassend und souverän, so<br />

str<strong>in</strong>gent argumentierend, hat<br />

man die Geschichte des aus<br />

Baumwolle gewobenen Kapitalismus<br />

noch nicht gelesen.<br />

Kim Christian Priemel,<br />

Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung<br />

C.H.BECK<br />

www.chbeck.de


SALON<br />

Man sieht nur, was man sucht<br />

Denn LUXUSKAROSSEN<br />

küsst man nicht<br />

Von BEAT WYSS<br />

Sie hielt stand: <strong>Wie</strong> William Turners<br />

Kriegsschiff <strong>zu</strong>m beliebtesten Motiv der Briten<br />

wurde. Und weshalb uns das militärisch<br />

Erhabene verloren g<strong>in</strong>g<br />

136<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Foto: Mauritius Images/United Archives, Gaetan Bally/Keystone Schweiz/Laif<br />

Reden wir also über „Die<br />

kämpfende Temeraire, <strong>zu</strong><br />

ihrem letzten Landeplatz<br />

geschleppt, um abgewrackt<br />

<strong>zu</strong> <strong>werden</strong>“. Wem dieser<br />

Bildtitel auf der Zunge zergeht, hat Geschmack<br />

fürs militärisch Erhabene. Das<br />

sche<strong>in</strong>t den Briten <strong>zu</strong> liegen, hat doch<br />

die BBC William Turners „Kämpfende<br />

Temeraire“ als beliebtestes Gemälde<br />

der Nation ermittelt. Die Umfrage erfolgte<br />

2005 im Rahmen der Feierlichkeiten<br />

<strong>zu</strong>m 200. Jahrestag der Schlacht von<br />

Trafalgar.<br />

Während des dritten Koalitionskriegs,<br />

am 21. Oktober 1805, stellte Vizeadmiral<br />

Horatio Nelson die napoleonischen<br />

Schiffe südlich vom andalusischen<br />

Cádiz. Die HMS Temeraire, e<strong>in</strong> Dreidecker,<br />

bestückt mit 98 Kanonen, segelte<br />

<strong>in</strong> der Schlachtl<strong>in</strong>ie direkt h<strong>in</strong>ter dem<br />

Flaggschiff HMS Victory, das, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Nahgefecht<br />

verwickelt, durch Beschuss von<br />

der spanischen Santissima Tr<strong>in</strong>idad e<strong>in</strong>en<br />

Teil der Takelage verlor. Die Temeraire<br />

rückte vor, um das britische Flaggschiff<br />

<strong>zu</strong> decken, während der befehlshabende<br />

Nelson von der Kugel e<strong>in</strong>er Muskete getroffen<br />

wurde.<br />

Der Besat<strong>zu</strong>ng der Temeraire gelang<br />

es, die Flaggschiffe der spanischfranzösischen<br />

Flotte aus<strong>zu</strong>schalten. Der<br />

schwer verletzte Admiral starb heiter,<br />

im Bewusstse<strong>in</strong>, mit se<strong>in</strong>er Taktik trotz<br />

unterlegener Schiffs- und Mannschaftsstärke<br />

gesiegt <strong>zu</strong> haben. „God and my<br />

country“ waren se<strong>in</strong>e letzten Worte. Den<br />

Empfänglichen zieht solche Nachricht tiefer<br />

<strong>in</strong>s Rückgrat e<strong>in</strong> als e<strong>in</strong> WM-Sieg.<br />

„Die kämpfende Temeraire, <strong>zu</strong><br />

ihrem letzten Landeplatz geschleppt,<br />

um abgewrackt <strong>zu</strong> <strong>werden</strong>“,<br />

malte Turner 1838. Sie hängt <strong>in</strong><br />

der National Gallery London<br />

Gemalt ist hier e<strong>in</strong> Strammstehen<br />

fürs Vaterland, auch wenn es wehtut.<br />

Her Majesty’s Ship Temeraire, Baujahr<br />

1798, wird nach 40 Jahren im Dienst abgetakelt.<br />

Der Dreimaster taucht auf im<br />

Leichenhemd, unwirklich strahlend: e<strong>in</strong><br />

<strong>Wie</strong>dergänger aus Britanniens glorreicher<br />

Geschichte. Der gedrungene Schaufelraddampfer,<br />

der das alte Kriegsschiff<br />

<strong>zu</strong>m Schrottplatz schleppt, bildet den<br />

rußigen Kontrast der Sachzwänge. Das<br />

rauchende Industriezeitalter hat die Zeit<br />

der W<strong>in</strong>djammer überflügelt. Zwar todgeweiht,<br />

behauptet sich die breitbrüstige<br />

Temeraire, stolz wie der sterbende Nelson:<br />

Die Pflicht ist getan.<br />

Die patriotische Haltung ist mit e<strong>in</strong>em<br />

bengalisch beleuchteten Abendhimmel<br />

exotisch gewürzt. 1815 war auf der<br />

<strong>in</strong>donesischen Insel Sumbawa der Vulkan<br />

Tambora ausgebrochen und hatte mit<br />

dem Auswurf von gigantischen Aschewolken<br />

<strong>in</strong> die Stratosphäre e<strong>in</strong>e globale<br />

Klimaveränderung mit Missernten und<br />

Hungersnöten hervorgerufen: das berüchtigte<br />

Jahr ohne Sonne. Noch über<br />

e<strong>in</strong> Jahrzehnt später konnte die Katastrophe<br />

<strong>in</strong> solch atemberaubenden Sonnenuntergängen<br />

ausglühen. Turner malt die<br />

Mündung der Themse als e<strong>in</strong> allen E<strong>in</strong>flüssen<br />

offenes Tor <strong>zu</strong>r Welt.<br />

Mit überwältigender Mehrheit<br />

stimmte kürzlich das englische Parlament<br />

für Luftschläge der Royal Air<br />

Force gegen Isis. Deutschland dagegen<br />

ziert sich, es hat ke<strong>in</strong>en Nelson als Vorbild.<br />

Zu den wenigen vorzeigbaren Offizieren<br />

der jüngeren Geschichte gehört<br />

Claus Schenk Graf von Stauffenberg,<br />

der das gescheiterte Attentat auf Hitler<br />

mit dem Leben bezahlte. Die neue Bundesrepublik<br />

ist e<strong>in</strong>e spät <strong>zu</strong> sich gekommene<br />

Wohlstandsnation, die ihren Führungsanspruch<br />

allenfalls im Fußball und<br />

im Export von Edelkarossen auslebt. In<br />

den globalen Konfliktzonen sollen jene<br />

die Drecksarbeit machen, die sich das militärisch<br />

Erhabene leisten können. Jede<br />

Kritik am Abseitsstehen der reichsten<br />

Beat Wyss<br />

ist e<strong>in</strong>er der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt Kunstwissenschaft<br />

und Medienphilosophie an der<br />

Staatlichen Hochschule für<br />

Gestaltung <strong>in</strong> Karlsruhe und<br />

schreibt jeden Monat <strong>in</strong><br />

<strong>Cicero</strong> über e<strong>in</strong> Kunstwerk<br />

und dessen Geschichte.<br />

Kürzlich erschien bei Philo<br />

F<strong>in</strong>e Arts se<strong>in</strong> Essay „Renaissance<br />

als Kulturtechnik“<br />

Nation Europas wird abgewehrt mit der<br />

Ausrede, man habe schließlich schon<br />

zweimal gezeigt, wie der deutsche Michel<br />

militärisch ausrasten kann. Deutschland<br />

droht nach Gutmenschenart <strong>in</strong> die<br />

alte Kle<strong>in</strong>staaterei <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>fallen.<br />

Anfang November kommt Mike<br />

Leighs Film „Mr. Turner – Meister des<br />

Lichts“ <strong>in</strong> die K<strong>in</strong>os, pünktlich <strong>zu</strong>m<br />

40. Geburtstag des Turner-Preises. Im<br />

Namen also e<strong>in</strong>es patriotisch-pathetischen<br />

Romantikers grillt England, von<br />

Damien Hirst <strong>zu</strong> Elizabeth Prize, den<br />

künstlerischen Nachwuchs der Spaßgesellschaft.<br />

William Turner ist der Caspar<br />

David Friedrich der Engländer – nur anschlussfähiger<br />

an die Gegenwart als der<br />

altmeisterliche Greifswalder. Undenkbar<br />

wäre darum e<strong>in</strong> C. D. Friedrich-Stipendium,<br />

<strong>zu</strong> deren Begünstigten Rabauken<br />

wie Mart<strong>in</strong> Kippenberger gehörten.<br />

137<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


SALON<br />

Literaturen<br />

Neue Bücher, Texte, Themen<br />

Reisebericht<br />

Die Revolution tanzt<br />

Im Jahr 1918 reist die Schriftsteller<strong>in</strong> Teffy von Russland <strong>in</strong> die<br />

Ukra<strong>in</strong>e – und erlebt die Tragödie als Farce<br />

Als Nadeshda Alexandrowna Lochwitzkaja,<br />

geboren am 24. April<br />

1872 <strong>in</strong> Sankt Petersburg, ihre<br />

Heimat im Herbst 1919 für immer verließ,<br />

hatte sie schon seit fast 20 Jahren aufgegeben,<br />

was eigentlich ihre gesellschaftliche<br />

Bestimmung hätte se<strong>in</strong> sollen – und<br />

sie hatte es nicht bereut. H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geboren<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e alte Adelsfamilie hatte sie, Tochter<br />

e<strong>in</strong>er Französ<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>es russischen<br />

Rechtsgelehrten, <strong>zu</strong>nächst standesgemäß<br />

geheiratet, war mit ihrem Mann auf dessen<br />

Gut im heutigen Weißrussland gezogen<br />

und hatte drei K<strong>in</strong>der geboren. Doch<br />

Revolutionäre verteilen während der<br />

Oktoberrevolution von 1917<br />

Propagandaschriften auf e<strong>in</strong>er<br />

Versammlung beim Haus des<br />

Sowjets <strong>in</strong> Moskau – e<strong>in</strong> Jahr später<br />

verlässt Teffy die Stadt und macht<br />

sich mit Freunden und Kollegen<br />

nach Süden auf<br />

im Jahr 1900 verließ sie ihre Familie,<br />

wundersamerweise ohne damit Skandal<br />

<strong>zu</strong> erregen, und schloss sich <strong>zu</strong>erst <strong>in</strong> Petersburg,<br />

dann <strong>in</strong> Moskau als Schriftsteller<strong>in</strong><br />

den Kreisen liberaler Künstler und<br />

Journalisten an. Gleichzeitig legte sie sich<br />

e<strong>in</strong>en neuen Namen <strong>zu</strong>: „Teffy“. Unter<br />

diesem Pseudonym schrieb sie Romane,<br />

Theaterstücke und Gedichte, mit „Teffy“<br />

unterzeichnete sie auch ihre Feuilletons,<br />

für die sie alsbald im Zarenreich berühmt<br />

wurde. Mit Leo Tolstoi war sie befreundet,<br />

von Wladimir Iljitsch Len<strong>in</strong> heißt es,<br />

dass er ihre Texte schätzte.<br />

Als Teffy sich im Jahr 1918 <strong>in</strong>mitten<br />

der Wirren der Russischen Revolution<br />

mit e<strong>in</strong>em Trüppchen von Autoren,<br />

Schauspieler<strong>in</strong>nen, Sängern und Impresarios<br />

aus Moskau <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>er Lesereise<br />

Foto: Eastblockworld.com<br />

138<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


nach Süden, <strong>in</strong> die Ukra<strong>in</strong>e, aufmacht,<br />

führt sie nicht mehr als e<strong>in</strong>e Truhe voller<br />

Kleidungsstücke mit sich. Und natürlich<br />

e<strong>in</strong>e stattliche Summe Geldes: Als<br />

von allen Bevölkerungsschichten gelesene,<br />

höchst populäre Schriftsteller<strong>in</strong><br />

(e<strong>in</strong> Parfüm war nach ihr benannt worden,<br />

ebenso e<strong>in</strong>e Bonbonsorte) hatte sie<br />

immer gut verdient. Dass am Ende dieser<br />

Reise allerd<strong>in</strong>gs der Abschied von Russland<br />

stehen könnte, war weder ihren Reisegefährten<br />

noch ihr selbst <strong>in</strong> Moskau <strong>in</strong><br />

den S<strong>in</strong>n gekommen.<br />

„Die Revolution ist Aufschrei und<br />

Pfeifen. / Das Unterste ist hervorgebrochen.<br />

/ Hat alles überrannt. Tanzt.“ So<br />

lautete Teffys Revolutionsbilanz, nachdem<br />

sie mit e<strong>in</strong>em Dampfer von Noworossijsk<br />

am Schwarzen Meer via Konstant<strong>in</strong>opel<br />

schließlich nach Paris, ihrem<br />

Lebenszentrum für die nächsten 30 Jahre,<br />

gelangt war. Ihren Reisebeobachtungen<br />

selbst aber, die der schöne und kenntnisreich<br />

kommentierte Band „Champagner<br />

aus Teetassen“ versammelt, war von<br />

Bitterkeit oder Schrecken noch kaum etwas<br />

an<strong>zu</strong>merken. Denn Teffy warf offenkundig<br />

nicht nur nichts so schnell aus der<br />

Bahn – sie war vor allem e<strong>in</strong>e begnadete<br />

Humorist<strong>in</strong>.<br />

Diese Gabe allerd<strong>in</strong>gs konnte sie auf<br />

ihrer Reise auch gut gebrauchen: Immer<br />

wieder sitzt die Reisegesellschaft fest,<br />

weil ihr Papiere <strong>zu</strong>m Grenzübertritt,<br />

dann für die Schiffspassage fehlen, immer<br />

neue Repräsentanten immer anderer<br />

Machthaber – Revolutionäre, „Weiße“,<br />

deutsche oder französische Militärs –<br />

verlangen Bestechungsgelder oder auch<br />

materielle Gegenleistungen für ihre Hilfe.<br />

Dann müssen Teffy und ihre Freunde <strong>in</strong><br />

<strong>zu</strong>gigen Baracken vor Bauern und Soldaten<br />

auftreten oder spontan e<strong>in</strong>en Abend<br />

<strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em Stadttheater organisieren.<br />

Dass gerade die Ukra<strong>in</strong>e <strong>zu</strong>m attraktiven<br />

Reiseziel der Künstler wird, hat damit<br />

<strong>zu</strong> tun, dass das Land 1918 kurzzeitig<br />

autonom geworden ist. In Kiew, so<br />

e<strong>in</strong> Gerücht, könne man das Leben, das<br />

man aus Moskau gewohnt ist, fortführen:<br />

Hier herrsche ke<strong>in</strong> Mangel, weder<br />

an Schokolade noch an Champagner,<br />

hier versammle sich überdies die Künstlerszene<br />

und lebe vergnügt, als habe es<br />

die Revolution gar nicht gegeben. In der<br />

Realität freilich zeichnet sich der große<br />

Umsturz dann auch hier deutlich ab. Als<br />

„Ich b<strong>in</strong> Adliger<br />

und Gutsbesitzer<br />

und habe im<br />

ganzen Leben<br />

noch nie<br />

gearbeitet – ich<br />

arbeite nicht<br />

und werde<br />

nie arbeiten.<br />

Niemals! Merken<br />

Sie sich das!“<br />

e<strong>in</strong> revolutionärer Kulturkommissar die<br />

Künstler auf e<strong>in</strong>em Bahnhof abfängt,<br />

fällt an ihm <strong>zu</strong>nächst nur auf, dass er<br />

mit der L<strong>in</strong>ken fortwährend se<strong>in</strong>e rutschende<br />

Hose hochzieht und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

riesigen Pelz unterwegs ist. Erst als er<br />

sich umdreht, bemerken die Reisenden<br />

das E<strong>in</strong>schussloch zwischen den Schulterblättern,<br />

an dessen Rändern noch Blut<br />

klebt – Morde quasi im Vorübergehen,<br />

aus Gier nach Schmuck oder erlesenen<br />

Kleidungsstücken, s<strong>in</strong>d an der Tagesordnung,<br />

Tötungen von „Verrätern“ sowieso.<br />

Als die Künstler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schtetl unterkommen,<br />

<strong>werden</strong> sie zwar (gegen gutes<br />

Geld) noch ausreichend verpflegt. Das <strong>in</strong><br />

jedem Satz wiederkehrende Mantra des<br />

Hausherrn jedoch lautet: „Aber was wird<br />

weiter?“<br />

Insgesamt aber reiht Teffys Reiseerzählung<br />

e<strong>in</strong>e absurde Situation <strong>in</strong> der<br />

Kampfzone zwischen Roten, Weißen und<br />

europäischen Interventionsmächten an<br />

die nächste. Der Höhepunkt sche<strong>in</strong>t erreicht,<br />

wenn die hochmögenden Passagiere<br />

e<strong>in</strong>es verlassenen Schiffes, um von<br />

Odessa nach Noworossijsk <strong>zu</strong> gelangen,<br />

dieses erst <strong>in</strong>stand setzen und dann Kohlen<br />

schleppen oder an Deck Fische schuppen<br />

müssen. „Sollen etwa … alle arbeiten?“,<br />

fragt e<strong>in</strong>er entsetzt. Warum er<br />

nicht mit anpacke, wird e<strong>in</strong> anderer angeherrscht.<br />

„Aus dem Grund, dass ich<br />

Adliger und Gutsherr b<strong>in</strong>“, brüllt der<br />

stämmige 40-Jährige aufgebracht <strong>zu</strong>rück,<br />

„und im ganzen Leben noch nie<br />

gearbeitet habe, nicht arbeite und nicht<br />

arbeiten werde. Niemals! Schreiben Sie<br />

sich das h<strong>in</strong>ter die Ohren!“<br />

Dass die Russische Revolution gute<br />

Gründe hat – die eben noch herrschende<br />

Klasse, die sich hier auf ihrer Odyssee<br />

quer durchs Land mit Geld und F<strong>in</strong>digkeit<br />

<strong>in</strong> Sicherheit <strong>zu</strong> br<strong>in</strong>gen versucht,<br />

macht es mit ihrem Verhalten selbst deutlich.<br />

Die Revolutionäre aber, auf die Teffy<br />

trifft, wachsen dem Leser auch nicht gerade<br />

ans Herz: Gier und Gewalttätigkeit,<br />

groteske Unbildung, Willkür und schiere<br />

Mordlust zeichnen sie aus. Unverkennbar<br />

ist es der Blick e<strong>in</strong>er Aristokrat<strong>in</strong>, der all<br />

dies erfasst: e<strong>in</strong>er Frau, die mit der <strong>junge</strong>n,<br />

schönen Schauspieler<strong>in</strong> Olenuschka<br />

wie selbstverständlich <strong>in</strong>s <strong>Deutsche</strong> fällt –<br />

sie sagen e<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> putzigem S<strong>in</strong>gsang<br />

Grammatikregeln auf –, um sich auf die<br />

Begegnung mit e<strong>in</strong>em deutschen Offizier<br />

vor<strong>zu</strong>bereiten, der ihnen Papiere für die<br />

Weiterreise beschaffen soll; e<strong>in</strong>er Frau<br />

aber auch, die sich freiwillig meldet, um<br />

<strong>in</strong> Ballkleid und silbernen Schuhen das<br />

Deck ihres Fluchtschiffs <strong>zu</strong> scheuern<br />

(„me<strong>in</strong> schönster Jugendtraum!“). Zu ihrer<br />

Überraschung stellt sich freilich heraus:<br />

Sie kann es nicht.<br />

In der ersten Klasse war Teffy losgefahren,<br />

im Güterwaggon beendet sie ihre<br />

Reise, die durch kle<strong>in</strong>e Städte erst nach<br />

Kiew, von dort nach Odessa, dann nach<br />

Jekater<strong>in</strong>odar, Rostow und Kislowodsk<br />

geführt hatte und schließlich auf e<strong>in</strong>er<br />

Holzbank im Badezimmer e<strong>in</strong>es knapp<br />

seetüchtigen Schiffes nach Noworossijsk<br />

endet. „Jetzt nach Petersburg <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>kehren,<br />

ist schwierig, fahren Sie erst<br />

e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong>s Ausland“, rät man ihr. „Im<br />

Frühl<strong>in</strong>g kehren Sie dann <strong>zu</strong>rück <strong>in</strong> die<br />

Heimat.“<br />

Doch daraus wurde nichts, wie wir<br />

wissen. Teffy blieb <strong>in</strong> Paris und schrieb<br />

ihre Er<strong>in</strong>nerungen an den Abschied von<br />

Russland auf: Selbst im Exil erschienen<br />

ihr die Wirren der Revolution als burleske<br />

Farce. Frauke Meyer-Gosau<br />

Teffy<br />

„Champagner aus Teetassen“<br />

Aus dem Russischen von Ganna-Maria<br />

Braungardt<br />

Aufbau, Berl<strong>in</strong> 2014. 285 S., 19,95 €<br />

139<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


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Abs. 2 Nr. 1 EGBGB. Zur Wahrung der Frist genügt bereits das rechtzeitige Absenden Ihres e<strong>in</strong>deutig erklärten Entschlusses,<br />

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DREI<br />

Roman<br />

<strong>Wie</strong> gut schmeckt<br />

der Westen?<br />

<strong>Made</strong>le<strong>in</strong>e Prahs erzählt<br />

von sechs Wende-<br />

Schicksalen aus der DDR<br />

Anne Liebert flieht vor 1989 mit ihrer<br />

Mutter aus der DDR, der Vater<br />

bleibt <strong>zu</strong>rück. Zwar ist sich das<br />

K<strong>in</strong>d gleich nach der Ankunft sicher, „der<br />

Westen schmeckt gut“, doch ihre Hoffnungen<br />

erfüllen sich nicht. Auch als Erwachsene,<br />

nach Berl<strong>in</strong> <strong>zu</strong>rückgekehrt,<br />

schlägt Anne sich mühsam durch – der<br />

Leser stöhnt, wenn sie <strong>in</strong> ihrem Pflegejob<br />

endlich den letzten Alten verpflegt und<br />

die letzte Wohnung geputzt hat.<br />

Bedrückung ist die vorherrschende<br />

Stimmung <strong>in</strong> „Nachbarn“. Von 1998 bis<br />

2006 verfolgt die 1980 <strong>in</strong> Karl-Marx-<br />

Stadt geborene <strong>Made</strong>le<strong>in</strong>e Prahs hier<br />

das Schicksal von sechs Menschen nach<br />

der Wende. Alle suchen sie nach etwas<br />

Neuem, all ihre Wünsche s<strong>in</strong>d eng mit<br />

ihren Erfahrungen <strong>in</strong> der DDR verwoben.<br />

Mit e<strong>in</strong>em fe<strong>in</strong>en Gespür für die unterschiedlichen<br />

Charaktere beschreibt<br />

Prahs deren Befreiungsversuche, und<br />

nach und nach erschließen sich die Figuren,<br />

ohne dass jedoch e<strong>in</strong>e tiefere Nähe<br />

<strong>zu</strong> ihnen entstünde.<br />

Da sie aber alle im Kampf um mehr<br />

Leichtigkeit <strong>in</strong> ihrem Leben an e<strong>in</strong>en<br />

Wendepunkt gelangen, schaut man ihnen<br />

bei diesen persönlichen Wende-Manövern<br />

gern <strong>zu</strong>. Und selbst Annes Dase<strong>in</strong><br />

wird schließlich e<strong>in</strong>facher: Ihre aus<br />

der Not geborene Idee, die kle<strong>in</strong>e Tochter<br />

Marie bei e<strong>in</strong>em ihrer Pflegepatienten<br />

<strong>in</strong> Obhut <strong>zu</strong> geben, erweist sich als<br />

Glücksfall. Zwischen dem alten, wortkargen<br />

Säufer Fritzsche und der still-trotzigen<br />

Marie nämlich entwickelt sich e<strong>in</strong>e<br />

Freundschaft – und auf e<strong>in</strong>mal gibt es<br />

doch noch Zuversicht. Raphaela Sabel<br />

<strong>Made</strong>le<strong>in</strong>e Prahs<br />

„Nachbarn“<br />

dtv, München 2014. 352 S., 19,90 €<br />

<strong>Cicero</strong> Test


Wirtschaftsbuch<br />

Der falsche<br />

Prophet<br />

Auch auf Deutsch<br />

enttäuscht Thomas Pikettys<br />

„Kapital“ se<strong>in</strong>e Leser<br />

In Frankreich wurde das Buch nicht<br />

übermäßig beachtet. E<strong>in</strong>e Kritik der<br />

wachsenden Vermögensungleichheit,<br />

wie sie Thomas Piketty, Ökonomieprofessor<br />

und Berater der Sozialisten, geschrieben<br />

hat, ist unter Pariser Intellektuellen<br />

ke<strong>in</strong>e Seltenheit. Erst <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten<br />

Staaten, dem Kapitalismus-Land par excellence,<br />

gelang Piketty der Durchbruch.<br />

Über Nacht wurde der 43-Jährige <strong>zu</strong>m<br />

„Rockstar-Ökonomen“, se<strong>in</strong> Werk „Das<br />

Kapital im 21. Jahrhundert“ stieß e<strong>in</strong>e<br />

breite Debatte an. 300 000 Exemplare<br />

vom „neuen Marx“ wurden verkauft.<br />

Gelesen hat den Wälzer offenbar kaum<br />

e<strong>in</strong>er, wie die spärlich gesetzten Lesezeichen<br />

<strong>in</strong> E-Books offenbarten.<br />

Auch <strong>in</strong> Deutschland <strong>werden</strong> Leser<br />

enttäuscht se<strong>in</strong>, die sich e<strong>in</strong>e feurige Anklage<br />

des Kapitalismus erhoffen. Der ruhige,<br />

sachliche Tonfall ist mitunter ermüdend.<br />

Statt wie Marx wortmächtig e<strong>in</strong><br />

Todesurteil über den Kapitalismus <strong>zu</strong><br />

sprechen, referiert Piketty auf Hunderten<br />

von Seiten E<strong>in</strong>kommens- und Vermögensverteilungen.<br />

Dar<strong>in</strong> liegt die große<br />

Stärke se<strong>in</strong>er Forschung. Sie stützt sich<br />

auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigartige Datenbasis über<br />

Vermögen und E<strong>in</strong>kommen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Handvoll Industriestaaten, die Piketty<br />

mit Kollegen <strong>zu</strong>sammengetragen hat.<br />

<strong>Wie</strong> viel Vermögen gibt es überhaupt?<br />

Im 18. und 19. Jahrhundert betrug<br />

der Gesamtwert aller Kapitalien nach Pikettys<br />

Berechnung <strong>in</strong> England und Frankreich<br />

etwa das Siebenfache der jährlichen<br />

Wirtschaftsleistung, des BIP. Zu e<strong>in</strong>em<br />

tiefen E<strong>in</strong>bruch führten die Weltkriege,<br />

Inflation und Wirtschaftskrise. Von diesen<br />

Schocks erholten sich die Vermögen<br />

nach 1945 nur schleppend; seit den siebziger<br />

Jahren s<strong>in</strong>d sie deutlicher gestiegen<br />

und liegen heute beim Fünf- bis Sechsfachen<br />

des BIP. Ger<strong>in</strong>ger ist das Vermögen<br />

der <strong>Deutsche</strong>n. Immobilien <strong>werden</strong><br />

SALON<br />

Literaturen<br />

nämlich hier<strong>zu</strong>lande weniger hoch bewertet,<br />

und im rhe<strong>in</strong>ischen Kapitalismus<br />

sorgt die gewerkschaftliche Mitbestimmungsmacht<br />

für ger<strong>in</strong>gere Börsenbewertungen<br />

der Konzerne.<br />

E<strong>in</strong>e ähnliche Entwicklung zeichnet<br />

Piketty bei der Vermögenskonzentration<br />

nach. War sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert<br />

extrem hoch, so litten die Vermögen<br />

der Reichen unter den multiplen<br />

Schocks von Krieg, Inflation und Rezession<br />

sowie seit den Vierzigern unter sehr<br />

hoher Besteuerung. Seit den siebziger<br />

Jahren steigt die Vermögenskonzentration<br />

wieder. Allerd<strong>in</strong>gs ist sie noch weit<br />

von der extremen Ungleichheit im Jahr<br />

1910 entfernt, wie Piketty mehrmals betont.<br />

Nun glaubt er an e<strong>in</strong>e weiter steigende<br />

Konzentration im 21. Jahrhundert.<br />

Diese Prognose basiert auf unsicheren<br />

Annahmen, wie Piketty <strong>zu</strong>geben<br />

muss. Im 20. Jahrhundert lag das reale<br />

Wirtschaftswachstum entgegen Pikettys<br />

Annahmen viele Jahrzehnte höher als die<br />

Kapitalrenditen. Es ist vorstellbar, dass<br />

im 21. Jahrhundert die Kapitalrenditen<br />

sehr niedrig liegen <strong>werden</strong>, wie es die<br />

extrem niedrigen Z<strong>in</strong>sen andeuten. Der<br />

Grund dafür könnte neben der ultralockeren<br />

Geldpolitik die enorme Ersparnis<br />

der alternden Gesellschaften se<strong>in</strong>. Kapital<br />

gibt es bald im Überfluss, dagegen<br />

wird der Faktor Arbeit knapp – mith<strong>in</strong><br />

müssten die Löhne relativ steigen.<br />

Das Buch mündet <strong>in</strong> radikale Forderungen<br />

nach e<strong>in</strong>er steil progressiven<br />

E<strong>in</strong>kommensteuer mit e<strong>in</strong>em Spitzensatz<br />

von 80 Prozent und e<strong>in</strong>er Vermögensabgabe<br />

von bis <strong>zu</strong> 10 Prozent jährlich: faktisch<br />

e<strong>in</strong>e schrittweise Enteignung der<br />

ganz großen Vermögen. Wünschenswert<br />

sei e<strong>in</strong>e globale Vermögensabgabe.<br />

Da diese utopisch ist, müsse Europa voranschreiten,<br />

fordert Piketty. In Frankreich<br />

hat Präsident Hollande – auch unter<br />

dem E<strong>in</strong>fluss von Beratern wie Piketty –<br />

bereits e<strong>in</strong>e 75-Prozent-Reichensteuer<br />

e<strong>in</strong>geführt, die Investoren <strong>in</strong> die Flucht<br />

treibt. Das Land liegt ökonomisch am<br />

Boden. Deutschland sollte nicht falschen<br />

Propheten folgen. Philip Plickert<br />

Thomas Piketty<br />

„Das Kapital im 21. Jahrhundert“<br />

Aus dem Französischen von Ilse Utz<br />

und Stefan Lorenzer<br />

C. H. Beck, München 2014. 816 S., 29,95 €<br />

141<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014<br />

VSF&P<br />

BES<br />

Literarisches Trio<br />

Antje Kunstmann<br />

Tickets unter:<br />

030 28 408 155<br />

LER<br />

Sechs Bücher und e<strong>in</strong> Gast<br />

Literaturen-Redakteur<strong>in</strong> Frauke<br />

Meyer-Gosau und Literaturkritiker Jörg<br />

Magenau diskutieren mit der Verle ger<strong>in</strong><br />

Antje Kunstmann über literarische Neuersche<strong>in</strong>ungen<br />

dieses Jahres:<br />

Über Herta Müllers Er<strong>in</strong>nerungsband<br />

„Me<strong>in</strong> Vaterland war e<strong>in</strong> Apfelkern“ und<br />

Teffys „Champagner aus Tee tassen.<br />

Me<strong>in</strong>e letzten Tage <strong>in</strong> Russland“.<br />

Zum Schluss geben die Teilnehmer des<br />

Trios noch drei aktuelle Literaturkurztipps<br />

ab.<br />

Mittwoch, 19. November 2014, 20 Uhr,<br />

Literaturforum im Brecht-Haus,<br />

Chausseestraße 125, 10115 Berl<strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>tritt 5 €/3 € an der Abendkasse,<br />

ke<strong>in</strong> Kartenvorverkauf<br />

In Kooperation mit:<br />

Literaturforum<br />

im Brecht-Haus<br />

LEST<br />

© Thomas Dashuber<br />

MiTTwoch,<br />

19. NoveMber,<br />

20 Uhr<br />

cicero.de


SALON<br />

Literaturen<br />

Roman<br />

Das Herz <strong>in</strong> der Schwitztonne<br />

Sofi Oksanens neuer Roman ist e<strong>in</strong> Lehrstück über Propaganda,<br />

Kollaboration und Widerstand<br />

Die Rote Armee zieht ab, doch Juudits<br />

Angst bleibt. Im Tall<strong>in</strong>n von<br />

1941 denkt die <strong>junge</strong> Est<strong>in</strong> mit<br />

Bangen an die Zukunft. Sie will nicht <strong>zu</strong>rück<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Leben mit ihrem Ehemann<br />

Edgar, der sie im Bett wegschiebt „wie<br />

e<strong>in</strong>e Portion verdorbenen Essens“. Noch<br />

ist die estnische Stadt „voller Wunden“,<br />

auf den Landstraßen liegen die Leichen<br />

der Rotarmisten, Splitter knirschen unter<br />

den Sohlen, Papiere fliegen durch die<br />

Luft – Geschichten von Versehrung und<br />

Verwüstung erzählt Sofi Oksanen <strong>in</strong> ihrem<br />

neuen Roman. Der Schauplatz ist e<strong>in</strong><br />

besetztes Land: Mal heißt es Estnische<br />

Sozialistische Sowjetrepublik, dann Generalkommissariat<br />

Estland, dann wieder<br />

Estnische SSR – nach der Besat<strong>zu</strong>ng ist<br />

vor der Besat<strong>zu</strong>ng.<br />

Nachdem die Sowjets <strong>zu</strong>rückgedrängt<br />

s<strong>in</strong>d, übernehmen die <strong>Deutsche</strong>n<br />

die Kontrolle. Juudit wendet den Blick ab,<br />

als e<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong> Hitler-Bild <strong>in</strong>s Schaufenster<br />

ihres Knopfladens stellt; darunter<br />

steht: „Hitler, der Befreier“. Die Wirklichkeit<br />

sieht anders aus. Mit der Wehrmacht<br />

kommt neuer Terror – und die<br />

Tauben verschw<strong>in</strong>den: Die deutschen<br />

Soldaten verspeisen die Tiere.<br />

„Hitler, der<br />

Befreier “ steht<br />

auf dem Bild<br />

des Diktators<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Schaufenster<br />

Sofi Oksanen, geboren 1977, ist<br />

Tochter e<strong>in</strong>er Est<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>es F<strong>in</strong>nen. Furore<br />

machte sie mit ihrem Roman „Fegefeuer“<br />

– ihr drittes Buch bewirbt der Verlag<br />

nun als die „literarische Sensation des<br />

Jahres“. Zu Recht?<br />

Der Roman spielt zwischen 1941<br />

und 1966, im Zentrum stehen vier Menschen:<br />

Juudit, ihr Mann Edgar Parts, dessen<br />

Cous<strong>in</strong> Roland Simson und der Nazi<br />

Hellmuth Hertz; mit ihm, dem SS-Hauptsturmführer,<br />

beg<strong>in</strong>nt Juudit e<strong>in</strong>e Liaison.<br />

<strong>Wie</strong> <strong>in</strong> Oksanens früheren Büchern gibt<br />

es auch hier Zeitsprünge, wieder wird<br />

aus der Perspektive verschiedener Protagonisten<br />

erzählt – so erleben die Leser<br />

die Figuren aus mehreren Blickw<strong>in</strong>keln:<br />

Hellmuth ist e<strong>in</strong>mal der zärtliche Geliebte<br />

und dann wieder e<strong>in</strong> Mann, „der<br />

ebenso unbekümmert <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> Austern<br />

schlürfen wie im Ostland Todesbefehle<br />

erteilen“ kann.<br />

Zweifellos ist all dies geschickt arrangiert,<br />

doch bleiben die Figuren leider<br />

flach: Sie s<strong>in</strong>d Typen, die sich kaum verändern.<br />

Edgar etwa ersche<strong>in</strong>t als der geborene<br />

Spitzel, karrieregeil, opportunistisch<br />

und kaltblütig – je nach politischer<br />

Lage wechselt er Identität und Ideologie.<br />

Er fälscht die Geschichte für offizielle<br />

Schriften, verdrängt se<strong>in</strong>e homosexuellen<br />

Neigungen und lebt so auch privat<br />

e<strong>in</strong>e Lüge. Heute verrät er Menschen an<br />

die deutschen Besatzer, morgen an die<br />

Bolschewiken – e<strong>in</strong> durchtriebener, aber<br />

durchschaubarer Bösewicht.<br />

Auch die Rolle se<strong>in</strong>es Gegenspielers<br />

Roland ist klar umrissen: Der Freiheitskämpfer<br />

träumt von e<strong>in</strong>em unabhängigen<br />

Estland. Zudem sucht er den Mörder se<strong>in</strong>er<br />

Frau (was dem Buch manchmal den<br />

Hauch e<strong>in</strong>es Thrillers gibt). 1941 wirft<br />

Roland Handgranaten auf das Vernichtungsbataillon<br />

der Roten Armee, watet<br />

durch „Leichenteile und <strong>zu</strong>ckende Gliedmaßen“.<br />

Später, während der deutschen<br />

Besat<strong>zu</strong>ng, schleust er Flüchtl<strong>in</strong>ge aus<br />

dem Land. Nur Juudit, die sich zwischen<br />

Besetzten und Besatzern bewegt, zeigt<br />

verschiedene Facetten. Sie verstrickt sich<br />

<strong>in</strong> Abhängigkeiten, verfällt dem Alkohol<br />

und bekommt durch den SS-Hauptsturmführer<br />

Zugang <strong>zu</strong> den Zirkeln der<br />

Macht; ihre Privilegien: „Köch<strong>in</strong>, Dienstmädchen<br />

und Chauffeur, Opel und Seidenkleider,<br />

Schuhe mit Ledersohlen, Brot<br />

ohne Sägemehl“. Nach außen bleibt sie<br />

die Ehefrau Edgars und agiert <strong>zu</strong>dem als<br />

Rolands rechte Hand, <strong>in</strong>dem sie Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />

versteckt. Gelegentlich fragt sie<br />

sich allerd<strong>in</strong>gs, ob sie den Versprechungen<br />

der <strong>Deutsche</strong>n im H<strong>in</strong>blick auf die<br />

Unabhängigkeit Estlands noch glaubt –<br />

schließlich hat sie ja gehört, was unter<br />

den Besatzern „geredet wurde: Neunhunderttausend<br />

können nicht als selbstständiger<br />

Staat überleben, das <strong>werden</strong><br />

die wohl noch selbst kapieren.“<br />

So erleben wir hier e<strong>in</strong>en Staat im<br />

Klammergriff fremder Gewalten: Oksanen<br />

zeichnet das Porträt Estlands<br />

unter sowjetischem und nationalsozialistischem<br />

Terror. Dar<strong>in</strong> ist das Buch politisch<br />

brisant, literarisch jedoch ist es leider<br />

ke<strong>in</strong>e Sensation. Der Grund liegt <strong>in</strong><br />

der zwar oft s<strong>in</strong>nlichen, aber nur selten<br />

subtilen Sprache: „Mir war so heiß, als<br />

wäre me<strong>in</strong> Herz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Schwitztonne gesperrt“,<br />

heißt es da etwa. Gleichwohl liefert<br />

„Als die Tauben verschwanden“ e<strong>in</strong><br />

Lehrstück über Propaganda, Kollaboration<br />

und Widerstand: Oksanen legt die<br />

Wunden europäischer Geschichte frei<br />

und vermittelt uns e<strong>in</strong> Gefühl dafür, was<br />

es bedeutet, wenn die Niederlage e<strong>in</strong>es<br />

Kriegsgegners ke<strong>in</strong>e Freiheit br<strong>in</strong>gt, sondern<br />

nur neue Furcht. Carmen Eller<br />

Sofi Oksanen<br />

„Als die Tauben verschwanden“<br />

Aus dem F<strong>in</strong>nischen von Angela Plöger,<br />

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 432 S., 19,99 €<br />

142<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


WELT.DE/NEU<br />

Die Welt gehört denen,<br />

die Hirn haben<br />

und Stirn bieten.DOROTHEA<br />

SIEMS,<br />

REDAKTEURIN


SALON<br />

MAREN<br />

Die letzten 24 Stunden<br />

Freibad und<br />

Champagner<br />

und jede Menge<br />

Klartext<br />

Maren Kroymann<br />

KROYMANN<br />

Die Schauspieler<strong>in</strong> und<br />

Sänger<strong>in</strong> brachte e<strong>in</strong>st<br />

als „Nachtschwester<br />

Kroymann“ frauenbewegten<br />

Humor <strong>in</strong> die ARD. „In my<br />

Sixties“ heißt ihr aktuelles<br />

Konzertprogramm<br />

Me<strong>in</strong> gesamtes Leben ist<br />

von Deadl<strong>in</strong>es geprägt:<br />

Ich muss bis <strong>zu</strong> e<strong>in</strong>em<br />

bestimmten Term<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Rolle draufhaben, e<strong>in</strong><br />

Liederprogramm e<strong>in</strong>studiert oder e<strong>in</strong><br />

Statement formuliert haben. Den Tod<br />

stelle ich mir als die ultimative Deadl<strong>in</strong>e<br />

vor.<br />

Ich kann die Konzentration davor<br />

genießen, ohne die Performance liefern<br />

<strong>zu</strong> müssen – als ob man sich vorbereitet<br />

hat, und plötzlich fällt die Aufführung<br />

aus. Ungeachtet aller Vorfreude schw<strong>in</strong>gt<br />

e<strong>in</strong> Quäntchen Erleichterung mit. Ob<br />

man die auch verspürt, wenn der Tod<br />

naht? Dass der ganze Stress jetzt endlich<br />

vorbei ist?<br />

Auf Neues oder Lautes würde ich an<br />

me<strong>in</strong>em letzten Tag verzichten. Die Experimente<br />

und Partynächte liegen h<strong>in</strong>ter<br />

mir. E<strong>in</strong>e schwäbische Butterbrezel<br />

freilich ist auf jeden Fall dabei. Im Unterschied<br />

<strong>zu</strong>r bayerischen Brezel ist sie<br />

oben sehr dunkel und knusprig, der Teig<br />

spr<strong>in</strong>gt unten weit auf und öffnet den<br />

Blick <strong>in</strong> ihr Inneres. Trotz des unschuldigen<br />

Charakters dieses Backwerks ruft<br />

das natürlich Assoziationen an das weibliche<br />

Geschlechtsteil hervor, die mir als<br />

lesbischer Frau nicht unlieb s<strong>in</strong>d.<br />

Neben Sex ist auch Essen e<strong>in</strong> Genuss,<br />

der den Augenblick feiert und sich <strong>in</strong> sich<br />

selbst erfüllt. E<strong>in</strong> schönes Essen macht<br />

mich immer glücklich. Ebenso wird es<br />

bei me<strong>in</strong>er Dernière se<strong>in</strong>, <strong>zu</strong>mal ich nicht<br />

weiß, welche anderen s<strong>in</strong>nlichen Vergnügungen<br />

mir – ich denke, ich werde erst im<br />

hohen Alter das Zeitliche segnen – sonst<br />

offenstehen. Ich werde mir e<strong>in</strong>e anständige<br />

Portion Schlagsahne genehmigen,<br />

am besten auf frischen Erdbeeren, die ich<br />

mit e<strong>in</strong> paar engen Freunden verspeise,<br />

denen ich außerdem e<strong>in</strong>en Salat aus weißem<br />

und grünem Spargel <strong>zu</strong>bereite.<br />

Insofern wäre Samstag e<strong>in</strong> günstiger<br />

Sterbetag, weil da der Wochenmarkt<br />

nahe me<strong>in</strong>er Berl<strong>in</strong>er Wohnung<br />

stattf<strong>in</strong>det. Ich hoffe auf sonniges Wetter,<br />

um <strong>in</strong>s Freibad gehen <strong>zu</strong> können. Dort<br />

würde ich alles aus mir herausholen, so<br />

lange wie möglich kraulen, mich dann<br />

erschöpft auf die heißen Ste<strong>in</strong>e am Beckenrand<br />

legen, die Arme ausbreiten<br />

und <strong>in</strong> den blauen Himmel <strong>zu</strong> den Wolken,<br />

Vögeln, Flugzeugen aufblicken, wie<br />

früher als K<strong>in</strong>d.<br />

Obwohl ich kurz vor dem Tod auf<br />

Harmonie bedacht b<strong>in</strong>, möchte ich trotzdem<br />

e<strong>in</strong> letztes Mal die kämpferische und<br />

unverbesserliche Emanze geben. Mit e<strong>in</strong>igen<br />

Mitstreiter<strong>in</strong>nen würde ich e<strong>in</strong><br />

Fernsehstudio kapern und für e<strong>in</strong> paar<br />

M<strong>in</strong>uten die ungeschm<strong>in</strong>kte Wahrheit<br />

<strong>zu</strong>m Beispiel der „Tagesschau“ unterjubeln.<br />

In me<strong>in</strong>er Satiresendung „Nachtschwester<br />

Kroymann“ hatte ich sogenannte<br />

„Klartext-Interviews“.<br />

Dieses Format frische ich nun auf,<br />

ohne mich um E<strong>in</strong>schaltquoten kümmern<br />

<strong>zu</strong> müssen. E<strong>in</strong>e ewig <strong>junge</strong> Schauspieler<strong>in</strong><br />

etwa, die e<strong>in</strong> Reporter für ihr Äußeres<br />

lobt, würde sagen: „Ke<strong>in</strong> Wunder, ich<br />

b<strong>in</strong> ja auch geliftet!“, und e<strong>in</strong> unbegabter<br />

Politiker: „Ich b<strong>in</strong> zwar faul und nicht der<br />

Hellste, aber ich sehe passabel aus, b<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> netter Kerl und ganz gut beim Tennis.<br />

Deswegen hat mich me<strong>in</strong>e Partei <strong>in</strong>s<br />

Europaparlament geschickt, und da verdient<br />

man gar nicht mal schlecht.“<br />

Vielleicht gel<strong>in</strong>gt mir ungeachtet der<br />

Aufregung bei diesem Störmanöver spätabends<br />

nach e<strong>in</strong>em Glas Champagner<br />

e<strong>in</strong>e schöne Meditation. Dann lege ich<br />

mich <strong>in</strong>s Bett und vers<strong>in</strong>ke <strong>in</strong> der Ewigkeit.<br />

Auf me<strong>in</strong> Grab soll e<strong>in</strong> Strauch mit<br />

Himbeeren oder Johannisbeeren gepflanzt<br />

<strong>werden</strong>, damit alle, die mich besuchen,<br />

etwas <strong>zu</strong>m Naschen haben.<br />

Aufgezeichnet von IRENE BAZINGER<br />

144<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


Foto: Anne Schönhart<strong>in</strong>g/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

145<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


POSTSCRIPTUM<br />

N°-11<br />

KOHL<br />

Vor ungefähr zwölf Jahren war ich<br />

e<strong>in</strong>mal mit e<strong>in</strong>em Kollegen <strong>zu</strong> Besuch<br />

beim damaligen Leiter von Helmut Kohls<br />

Altkanzlerbüro. Wir unterhielten uns<br />

schon e<strong>in</strong>e Weile, als plötzlich die Tür<br />

aufg<strong>in</strong>g und Kohl höchstpersönlich <strong>in</strong>s<br />

Zimmer kam. Ich hatte ihn bis dah<strong>in</strong> nur<br />

e<strong>in</strong> paar Mal von weitem gesehen; aus der<br />

Nähe wirkte se<strong>in</strong>e imposante Figur zwar<br />

immer noch gewaltig, aber alles andere als<br />

grobschlächtig. Se<strong>in</strong> Büroleiter machte<br />

ihm gleich den Stuhl am Schreibtisch<br />

frei – auch im Zimmer e<strong>in</strong>es Mitarbeiters<br />

beanspruchte Kohl offenbar aus e<strong>in</strong>em<br />

natürlichen Macht<strong>in</strong>st<strong>in</strong>kt heraus stets den<br />

wichtigsten Platz.<br />

Dann hielt uns Helmut Kohl frohgemut<br />

und ohne jeden Dünkel e<strong>in</strong> etwa<br />

anderthalbstündiges Privatissimum, <strong>in</strong><br />

dessen Verlauf die große Weltpolitik<br />

genauso vorkam wie drollige Episoden<br />

aus se<strong>in</strong>er Zeit als rhe<strong>in</strong>land-pfälzischer<br />

M<strong>in</strong>isterpräsident. Als ihm <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Erzählfluss irgende<strong>in</strong> Detail nicht mehr<br />

e<strong>in</strong>fiel, ließ er sich umgehend am Telefon<br />

mit se<strong>in</strong>em alten Weggefährten Eduard<br />

Ackermann verb<strong>in</strong>den, den er mit dem<br />

Spitznamen „Carbonara“ ansprach und<br />

um Gedächtnisstütze bat. Carbonara<br />

konnte helfen, Kohl erzählte weiter. Es<br />

war e<strong>in</strong>e höchst denkwürdige, lehrreiche<br />

und unvergessliche Séance, die der Altkanzler<br />

zwei <strong>junge</strong>n und noch da<strong>zu</strong> ihm<br />

völlig unbekannten Journalisten e<strong>in</strong>fach<br />

so aus e<strong>in</strong>er Laune heraus bot.<br />

An e<strong>in</strong>er Stelle kam er auf e<strong>in</strong>en<br />

ziemlich bekannten und sehr altgedienten<br />

Hauptstadtkorrespondenten <strong>zu</strong> sprechen,<br />

dessen Wohnung sich im Nebenhaus von<br />

Kohls Büro befand. Helmut Kohl bezeichnete<br />

ihn – daran er<strong>in</strong>nere ich mich<br />

genau – ohne lange Umschweife als „die<br />

größte Ratte im deutschen Journalismus“.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs waren weder me<strong>in</strong> Kollege<br />

noch ich selbst darüber irgendwie schockiert.<br />

Denn uns war schnell klargeworden,<br />

dass solche spontanen Invektiven<br />

nun e<strong>in</strong>mal genauso <strong>zu</strong> Kohls Diktion<br />

gehörten wie die Flasche Pfälzer Riesl<strong>in</strong>g<br />

<strong>zu</strong> se<strong>in</strong>er vormittäglichen Tour d’Horizon.<br />

Helmut Kohl ist e<strong>in</strong>er der letzten<br />

Vertreter jener Generation von Politikern,<br />

deren Schmähreden von den Gescholtenen<br />

durchaus als Kompliment verstanden<br />

<strong>werden</strong> konnten – oder <strong>zu</strong>m<strong>in</strong>dest als<br />

Anerkennung. Das sollte jedem klar se<strong>in</strong>,<br />

der sich jetzt mit voyeuristischem Eifer<br />

über das viel zitierte Buch von Kohls<br />

geschasstem Biografen hermacht. Skandalös<br />

an dessen „Kohl-Protokollen“ ist<br />

deshalb allenfalls die Chuzpe des Verfassers,<br />

das Ganze als „Vermächtnis“ <strong>zu</strong><br />

verkaufen.<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

ist stellvertretender Chefredakteur<br />

von <strong>Cicero</strong><br />

DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 20. NOVEMBER<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

146<br />

<strong>Cicero</strong> – 11. 2014


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