ma1442
ma1442
ma1442
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
N° 42<br />
18. 1. —<br />
24. 1. 214<br />
POLITIK AUF DEM KOPF<br />
Das Comeback des Afro
Oris Big Crown ProPilot Altimeter<br />
Patentiertes Automatik-Uhrwerk<br />
mit mechanischem Höhenmesser<br />
Matt satiniertes Edelstahlgehäuse<br />
Wasserdicht bis 10 bar/100 m<br />
www.oris.ch<br />
real watches for real people
Befreiung der Haare — Haare sind nicht bloss ein beliebiges<br />
Accessoire oder eine manipulierbare Masse, sondern haben darüber<br />
hinaus Symbolcharakter. Jemand, der trauert, kann über<br />
Nacht ergrauen, so die Legende. Träumt man davon, alle Haare<br />
zu verlieren, wird das als Angst vor dem Verlust sexueller Kraft<br />
gedeutet. Die Haare gelten als Sitz der Seele, sie sind dem Himmel<br />
am nächsten. Aber Haare werden auch als ganz handfestes<br />
politisches Statement genutzt. In Korea rasiert man sich das Haupt,<br />
um damit gegen eine als ungerecht empfundene Entscheidung<br />
zu protestieren – ein ritueller körperlicher Protest. Auch in Afrika<br />
zeigt sich im Moment ein Umgang mit Haaren, der nicht<br />
einfach als Modetrend trivialisiert werden kann. Bisher glätteten<br />
die meisten schwarzen Frauen ihre Kraushaare mit Glättungscremes,<br />
sie flochten Kunstzöpfe ein oder trugen Perücken. Westliche<br />
Role Models wie Beyoncé, Oprah Winfrey und Michelle<br />
Obama machen die Natur auf ihrem Kopf vergessen. Jetzt gehen<br />
viele schwarze Frauen zurück zur Natur – und berufen sich damit<br />
auf ihre Wurzeln. Sie lassen ihre Haare los, und mit der Krause<br />
wächst ihr Selbstbewusstsein: als Frau, als Afrikanerin. «Magazin»-<br />
Reporterin Paula Scheidt hat sich in Nairobi auf die Spur dieser<br />
neuen Befreiungsbewegung gemacht.<br />
BIRGIT SCHMID<br />
Hier wird Politik gemacht: ein Haarsalon in Nairobi.<br />
BILDER — COVER: MARIO EPANYA’; INHALT: TILL MÜLLENMEISTER<br />
Text PAULA SCHEIDT & LINDA TUTMANN<br />
Bilder TILL MÜLLENMEISTER<br />
8 AFRO-POWER<br />
Afrikanische Haare gelten als fusselig und abartig. Deshalb<br />
glätten die meisten schwarzen Frauen ihre Krause. Eine neue<br />
Befreiungsbewegung will damit nun Schluss machen.<br />
Text SUSANNA SCHWAGER<br />
20 DER MANN VON<br />
DER SITTE<br />
Die Prostituierte «Rote Zora» arbeitete im Zürcher Milieu,<br />
als es noch keine Verrichtungsboxen gab. Ein Polizist erinnert<br />
sich an sie. Und daran, wen man alles antraf in den Salons.<br />
Mehr vom «Magazin» auf blog.dasmagazin.ch<br />
Leserbriefe veröffentlichen wir auf<br />
leserbriefe.dasmagazin.ch<br />
Text HANNES GRASSEGGER<br />
28 JEDER ZAHLT,<br />
WAS ER WILL<br />
Einer der grössten kapitalistischen Träume scheint gerade<br />
in Erfüllung zu gehen: der individualisierte Preis für Produkte<br />
und Dienstleistungen.<br />
DAS MAGAZIN 42/2014<br />
3
DANIEL<br />
BINSWANGER<br />
KLARE ANSAGE<br />
4 DAS MAGAZIN 42/2014<br />
Die öffentliche Debatte um die Umsetzung<br />
der Masseneinwanderungsinitiative und die<br />
Rettung der Bilateralen nimmt Fahrt auf –<br />
und das ist gut so. Das Schweizer Politiksystem<br />
ist verängstigt und überfordert. Nur<br />
Druck aus der Mitte der Zivilgesellschaft<br />
hat Aussicht, Parteien und Regierung zur<br />
Klärung der Lage zu zwingen.<br />
Mit dem Ja der Auns zu Ecopop sollten<br />
sich letzte Illusionen, der harte Flügel<br />
der SVP werde sich zu einer mit den Bilateralen<br />
vereinbaren Umsetzung des Masseneinwanderungsartikels<br />
bereit finden,<br />
eigentlich erledigt haben. Auf der Gegenseite<br />
formieren sich zivilgesellschaftliche<br />
Bewegungen wie der Appell «CH-in-<br />
Europa.ch», der mit der Signatur von 112<br />
öffentlichen Persönlichkeiten lanciert<br />
wurde und nun zur Unterzeichnung für<br />
alle Bürger offensteht. Auch die «Operation<br />
Libero», ein Zusammenschluss junger<br />
Akademiker, die sich Sorgen machen um<br />
die Zukunft der einzigen Schweizer Rohstoffressource<br />
– die Exzellenz von Universitäten<br />
und Berufsbildung –, versucht,<br />
an den etablierten Parteien und Verbänden<br />
vorbei die Mobilisierung für die Bewahrung<br />
der Bilateralen zu lancieren.<br />
Insbesondere der Appell «CH-in-<br />
Europa», der lanciert wird von so unterschiedlichen<br />
Persönlichkeiten wie Alt-<br />
Nationalbankpräsident Jean-Pierre Roth,<br />
Wirtschaftsführer Rolf Soiron, Alt-Bundesrichter<br />
Giusep Nay, Wirtschaftsanwalt<br />
Peter Nobel und Medienprofessor Kurt<br />
Imhof, ist bemerkenswert. Offenbar ist<br />
die Schweizer Zivilgesellschaft noch imstande<br />
zu jener Synthese von staatspolitischer<br />
Prinzipientreue (Nay), wirtschaftspolitischem<br />
Pragmatismus (Soiron) und<br />
sozialliberaler Intellektualität (Imhof), die<br />
einst die DNA des Schweizer Liberalismus<br />
ausmachte und deren Erbgut in der<br />
heutigen FDP weitgehend verschüttet zu<br />
sein scheint.<br />
Der zivilgesellschaftliche Druck ist<br />
desto nötiger, als die offizielle Politik nun<br />
in ein steriles Schattenboxen verfällt, bei<br />
dem beide Seiten mit ihren Spielchen über<br />
die Banden beschäftigt sind. Der Bundesrat<br />
wird mit kalkulierter Dramatik den<br />
Kampf für die «konsequente Umsetzung»<br />
inszenieren, will sich aber – da hat die SVP<br />
völlig recht – in Brüssel bestätigen lassen,<br />
dass der Verhandlungsspielraum extrem<br />
begrenzt ist. Es mag in der EU-Kommission<br />
eine marginale Bereitschaft geben,<br />
symbolische Konzessionsgesten zu machen,<br />
aber die Manövriermöglichkeiten<br />
sind limitiert. Die EU könnte nur Einschränkungen<br />
zustimmen, die auf alle EU-<br />
Mitgliedstaaten ausdehnbar wären, frei festgelegte<br />
Kontingente sind tabu – eine Diskriminierung<br />
zwischen Inländern und<br />
EU- Ausländern kommt nicht infrage. Am<br />
ehesten dürfte Brüssel bereit sein, den Zugang<br />
zu den Sozialwerken restriktiver zu<br />
gestalten, doch für die Schweiz wäre diese<br />
Massnahme irrelevant. Die Zuwanderung<br />
erfolgt bei uns grossmehrheitlich in den<br />
Arbeitsmarkt und nicht ins Sozialsystem.<br />
Theoretisch würde das von Alt-Staatssekretär<br />
Michael Ambühl ausgefeilte<br />
Schutzklauselsystem, das in der Gesamt-<br />
EU in Kraft gesetzt werden könnte, den<br />
bestehenden Spielraum am besten ausnützen.<br />
Dass sich die EU aber ausgerechnet<br />
vom Nicht-Mitglied Schweiz ein neues<br />
Freizügigkeitsmodell aufzwingen lässt, erscheint<br />
weiss Gott unrealistisch.<br />
Auch die SVP veranstaltet einen Kommunikations-Eiertanz.<br />
Am Sonntag vermeldete<br />
Christoph Blocher plötzlich, über<br />
den von Professor Reiner Eichenberger<br />
ge machten Vorschlag, die Zuwanderung<br />
durch Sondersteuern für ausländische Arbeiternehmer<br />
zu regulieren, könne man<br />
diskutieren. Die Medien nahmen eilfertig<br />
das «Zurückkrebsen» des SVP-Führers in<br />
die Schlagzeilen, obwohl es sich offenbar<br />
um eine taktische Finte handelt. Die Diskriminierung<br />
zwischen Inländern und EU-<br />
Ausländern ist für die EU exakt genauso<br />
inakzeptabel wie die Festlegung von Kontingenten.<br />
Blocher will sich heute so wenig<br />
wie gestern mit der EU verständigen. Bereits<br />
am Montag wurde die vermeintliche<br />
Kompromissbereitschaft wieder relativiert.<br />
Blocher versucht sich den Anschein der<br />
Ge sprächsbereitschaft zu geben, um Brüssel<br />
später desto heftiger Arroganz und diktatorisches<br />
Gehabe vorwerfen zu können.<br />
Der Bundesrat will die Bilateralen retten<br />
– glaubt aber, vorerst mit angestrengter<br />
Geste beweisen zu müssen, dass er<br />
alles Menschenmögliche zur Respektierung<br />
des Volkswillens tut. Blocher will die<br />
Bilateralen zerstören – muss sein Ziel aber<br />
bis zuletzt in Abrede stellen, damit die<br />
Bürger am Ende das «EU-Diktat» für das<br />
Scheitern einer Kompromisslösung verantwortlich<br />
machen und mit einer Trotzreaktion<br />
antworten.<br />
Klare Ansagen sind das Mindeste, was<br />
man von der Politik erwarten sollte. Nichts<br />
ist wichtiger für die Schweiz als die Gestaltung<br />
ihres Verhältnisses zu Europa. Die<br />
Zivilgesellschaft bleibt gefordert.<br />
Mehr von Daniel Binswanger auf<br />
blog.dasmagazin.ch<br />
– Phil Hansen, Multimedia-Künstler –<br />
zoo}-zoo}<br />
«Nur wer anders denkt,<br />
verändert die Welt.»<br />
DER MAZDA CX-5.<br />
Wer sagt, dass man als Künstler eine ruhige Hand braucht? Indem er sein Handicap, das Zittern<br />
seiner Hand, dass über die Jahre immer schlimmer wurde, annahm, entdeckte Phil Hansen neue Wege,<br />
Kunst zu schaffen, und inspirierte Millionen.<br />
Mit derselben Einstellung – Dinge anders machen, um sie besser zu machen – haben wir die SKYACTIV Technologie<br />
entwickelt. Sie kommt zum Beispiel im Mazda CX-5 zum Einsatz. Das Ergebnis: Ein Fahrzeug, das bezüglich Verbrauch<br />
und Leistung keinerlei Kompromisse eingeht. Entstanden ist so beispielsweise der SKYACTIV-D 150 Dieselmotor, der bei<br />
einem Verbrauch ab nur 4,6 l pro 100 km 1 beeindruckende 150 PS, begeisternde 380 Nm Drehmoment und puren Fahrspass<br />
bietet. Es handelt sich um den weltweit ersten serienmässigen Motor mit einem Verdichtungsverhältnis von 14:1.<br />
MAZDA. LEIDENSCHAFTLICH ANDERS. Erfahren Sie mehr über unsere Markenphilosophie unter www.mazdarebels.ch.<br />
1<br />
Mazda CX-5 SKYACTIV-D 150 FWD. Mazda CX-5: Energieeffizienz-Kategorie A—E, Verbrauch gemischt 4,6—6,6 l/100 km, CO 2<br />
–Emissionen 119—155 g/km.<br />
Durchschnitt aller verkauften Neuwagen 148 g CO 2<br />
/km. Abgebildetes Modell: Mazda CX-5 Revolution SKYACTIV-G 160 AWD.<br />
www.cx-5.ch
MAX KÜNG<br />
AUS DEM MUSEUM<br />
DER DIALOGE<br />
In einer Bar. Zwei Männer im Gespräch, die beiden sind vielleicht<br />
vierzig Jahre alt, sie trinken Bier. Es läuft Musik. Ich glaube, es<br />
ist die neue CD von Caribou. Die Musik ist recht laut, aber die<br />
Männer sind lauter.<br />
«Sag: Wie hiess noch die Frau, auf die Mehmet Scholl stand?»<br />
«Mehmet wer?»<br />
«Scholl. Der ehemalige Fussballer.»<br />
«Ach der. Ich dachte schon, du meinst den Erfinder der Gesundheitssandale.<br />
Den Doktor Scholl. Aber beim Fussballer –<br />
keine Ahnung, auf wen er stand.»<br />
«Es ist eine Schauspielerin.»<br />
«Miss Marple?»<br />
«Etwas jünger.»<br />
«Tootsie?»<br />
«Nein, eine Deutsche.»<br />
«Rudi Carrell?»<br />
«Sie hat Momo gespielt, als sie noch ein Kind war.»<br />
«Momo? Das ist doch ein Hersteller von Leichtmetallfelgen<br />
aus Italien. Für Subaru Impreza und so.»<br />
«Nein, Momo ist eine Figur aus dem Film, der auch so heisst,<br />
nach dem Buch, das auch so heisst, von diesem Typen, der auch<br />
‹Die unendliche Geschichte› geschrieben hat.»<br />
«Ah, das Kinderbuch. Jetzt kommts mir in den Sinn. Hab<br />
ich nie gelesen. Ich hab nur ‹YPS› gelesen, ‹Michel Vaillant›, ‹Fix<br />
und Foxy›. Ist mir jedoch irgendwie vertraut – aber war Momo<br />
nicht ein Junge?»<br />
«Nein, Momo ist ein Mädchen.»<br />
«Also für mich klingt Momo schwer männlich. Moma wäre<br />
weiblich.»<br />
6 DAS MAGAZIN 42/2014<br />
«Glaub mir, Momo ist ein Mädchen …»<br />
«… ich weiss bis heute nicht, ob Wickie ein Mädchen ist oder<br />
Junge …»<br />
«… und im Film wurde sie gespielt von … ah, ich weiss nicht<br />
mehr.»<br />
«… meinst du, dein Fussballer weiss, dass Momo ein Mädchen<br />
ist?»<br />
«Sie hatte grosse Augen und Locken.»<br />
«Ah! Meinst du die mit den irren Locken?»<br />
«Genau. Ich glaub, sie hiess … ah … gleich hab ichs … Bo …<br />
Bo … Bo … etwas mit Bo …»<br />
«Boko Harum!»<br />
«Das glaub ich nicht.»<br />
«Warum nicht?»<br />
«Boko Harum ist doch eine Rockband.»<br />
«Nein, die Rockband heisst Procol Harum. Das weiss ich<br />
zufälligerweise genau. Ich hab irgendwo noch eine Platte von<br />
denen.»<br />
«Hatten die einen Hit?»<br />
«Das war kein Hit, das war ein Megahit. Er hiess ‹A Paler<br />
Shade of White›.»<br />
«Ist das ein Song aus einer Zahnpastawerbung?»<br />
«So mit Orgeln. Ein Schmachtfetzen. Der lief immer beim geschlossenen<br />
Tanzen an den Blauringpartys, Spaghettitanz und so.»<br />
«Aber wie hiess noch gleich die, die Momo spielte?»<br />
«Fällt mir echt nicht ein, sorry, muss ich passen.»<br />
«Warte, ich schau mal nach.»<br />
Ein Smartphone wird gezückt. Es wird gegoogelt. Ein Moment<br />
ist Ruhe zwischen den beiden. Der ohne Smartphone nimmt<br />
einen Schluck Bier. Dann sagt der Mann mit dem gezückten<br />
Smartphone:<br />
«Radost Bokel!»<br />
«Was?»<br />
«Radost Bokel. Das ist der Name der Schauspielerin.»<br />
«Verrückt! Dass dir das einfällt! Du bist echt der letzte Marokkaner<br />
des Kinderfilmwissens.»<br />
«Ich glaub, es heisst Mohikaner: der letzte Mohikaner, nicht<br />
Marokkaner. Und es ist mir nicht eingefallen. Ich habs ja eben<br />
gegoogelt. Hier stehts: Radost Bokel, geboren am 4. Juni 1975 in<br />
Bad Langensalza. Später hat sie sich dann für den ‹Playboy› ausgezogen<br />
und ging ins Dschungelcamp.»<br />
«Trotzdem. So was muss man erst mal googeln können. Du<br />
bist voll der letzte Momo.»<br />
«Ja, der letzte Momo.»<br />
«Der letzte Momo und sein Kind.»<br />
«Was heisst denn das?»<br />
«Und wer war der ehemalige Fussballer gleich wieder, der<br />
auf Momo stand? Murat Yakin?»<br />
«Nein. Das ist doch ein japanischer Schriftsteller.»<br />
Und so ging das Gespräch weiter. Ein Stück davon habe ich<br />
aus der Bar transportiert, konserviert und in das Museum der Dialoge<br />
gestellt, in den «Saal der Gespräche von Männern um die<br />
vierzig mit schon mehr als einem Bier intus». Es steht dort in der<br />
Mitte des Raumes auf einem Sockel aus Marmor. Der ist sicher<br />
sehr schwer.<br />
Mehr von Max Küng auf blog.dasmagazin.ch<br />
CHAMPAGNER FÜR ALLE!<br />
Bei Air France ist Champagner keine Frage der Reiseklasse:<br />
Auf einer Vielzahl von Langstreckenflügen begrüssen wir Sie mit einem Glas Champagner.<br />
AIRFRANCE.CH<br />
Weitere Informationen auf airfrance.ch, unter Reiseklassen und Komfort/Economy/Interkontinentalflüge/Tischkultur. Alkoholmissbrauch ist gefährlich für die Gesundheit, geniessen Sie in Massen. Wird keinen Personen<br />
unter 16 Jahren zur Verfügung gestellt.
AFRO-POWER<br />
Afrikanische Haare gelten als fusselig und abartig. Deshalb glätten die meisten schwarzen Frauen<br />
ihre Krause. Eine neue Befreiungsbewegung will nun Schluss damit machen.<br />
Susan (rechts) und ihre Freundinnen beim Styling sonntags auf dem Balkon.
Text PAULA SCHEIDT und<br />
LINDA TUTMANN<br />
Bilder TILL MÜLLENMEISTER<br />
Eine Locke ist nicht bloss eine Locke, für<br />
Yvette Mumanyi ist sie eine Ansage. Mit<br />
den Fingerspitzen entrollt sie zwei Haarsträhnen,<br />
die sie am Vorabend wie eine<br />
Kordel umeinandergeschlungen und als<br />
Knoten auf ihrem Kopf befestigt hat. Achtzehn<br />
solcher Bantu-Knoten hatte sie über<br />
Nacht. Nun löst sie einen nach dem anderen,<br />
und die Haare fallen ihr in Kringeln auf<br />
die Schulter. Eine natürliche Dauerwelle,<br />
ohne Lockenwickler, Klammern, Spray.<br />
Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtet<br />
sie sich im Spiegel. Es sind ihre eigenen<br />
Haare, und das ist nicht selbstverständlich.<br />
Denn Yvette hat afrikanische Haare,<br />
Typ 4c, z-förmig.<br />
Haare werden in drei ethnische Gruppen<br />
unterteilt: asiatisch, europäisch-kaukasisch<br />
und afrikanisch. Glaubt man dem<br />
Starstylisten Andre Walker, der unter anderem<br />
Oprah Winfrey betreut, ist das wichtigste<br />
Merkmal die Krümmung: 1 (gerade),<br />
2 (gewellt), 3 (gelockt) und 4 (zickzack),<br />
jeweils mit den Unterkategorien a, b, c.<br />
Asiatische und europäisch-kaukasische<br />
Haare haben eine Krümmung zwischen 1a<br />
und 3b. Bei 3c beginnen die afrikanischen<br />
Haare, und da wird aus einem Badezimmerthema<br />
plötzlich Politik.<br />
Verbrannte Kopfhaut<br />
Yvette setzt sich in der Stube auf einen<br />
Sessel und klappt ihr MacBook auf. Sie ist<br />
22 Jahre alt, studiert Massenkommunikation<br />
und wohnt mit ihrer Familie in Karen,<br />
dem wohlhabenden Stadtteil von Nairobi,<br />
einer Stadt mit Palmen und Wolkenkratzern,<br />
in der sechzig Prozent der Einwohner<br />
in Slums leben und Passanten manchmal<br />
am helllichten Tag eine Pistole an die<br />
Schläfe gehalten wird. Vor einer Woche hat<br />
Yvette angefangen, einen Blog zu schreiben:<br />
«Mane Attraction», Attraktion Löwenmähne,<br />
nennt sie ihn. Ihr Thema: afrikanische<br />
Haare. Ihr Ziel: Sie will anderen<br />
Afrikanerinnen beibringen, ihre natürlichen<br />
Haare zu pflegen und zu frisieren.<br />
Kaum eine kann das. Die meisten Kenianerinnen,<br />
wie auch die Frauen in anderen<br />
Ländern Afrikas, glätten ihre Afrokrause.<br />
Weil es von ihnen erwartet wird.<br />
Das geht so: Die Haare werden in<br />
Büschel getrennt, die Glättungscreme wird<br />
auf dem Ansatz verteilt und wirkt je nach<br />
Haardicke zehn bis fünfzehn Minuten ein.<br />
Die Chemikalien dringen in die Wurzel vor<br />
und weichen das Haar auf, sodass es nicht<br />
in Zickzackform, sondern gerade aus der<br />
Kopfhaut wächst. Schwangeren wird empfohlen,<br />
damit aufzuhören, weil die Chemikalien<br />
so giftig sind. Wenn man die Creme<br />
zu kurz einwirken lässt, bleibt der Effekt<br />
aus. Wenn man sie zu lange einwirken lässt,<br />
verbrennt die Kopfhaut. Zu Hause selbst<br />
zu glätten ist schwierig und riskant. Also<br />
muss man jede oder zumindest jede zweite<br />
Woche einen Profi aufsuchen. «Wer an fängt<br />
zu glätten, wird zur Sklavin des Salons»,<br />
sagt Yvette. Aber vielen Frauen ist es die<br />
Mühe wert. Denn das Ergebnis sind glatte,<br />
seidig glänzende Haare. Wie Beyoncé<br />
Knowles, Tyra Banks und Michelle Obama<br />
sie tragen. Haare, wie die Weissen sie haben.<br />
Mit den Menschen, die Afrika verlassen,<br />
emigriert auch die Haarfrage in andere<br />
Teile der Welt. Salons für afrikanische Haare<br />
gibt es nicht nur in Nairobi, es gibt sie in<br />
Baltimore, in Lyon, in Frankfurt, in Zürich.<br />
Überall werden die gleichen Glättungscremes<br />
aufgetragen und ähnliche Perücken<br />
und Extensions verkauft.<br />
Schwarze Menschen, die ihr krauses<br />
Haar zeigen, sind noch immer eine Seltenheit.<br />
Man hält sie für Drogensüchtige,<br />
politische Aktivisten oder im besten Fall<br />
für Künstler. Als die schwarze Wettermoderatorin<br />
Rhonda Lee sich im Dezember<br />
2012 auf Facebook gegen Beleidigungen<br />
ihrer Frisur verteidigte, wurde sie von ihrem<br />
Sender ABC in Louisiana gefeuert. Als Bill<br />
de Blasio Bürgermeister von New York<br />
werden wollte, nutzte sein Wahlkampfmanager<br />
die Afrokrause seines Sohnes Dante,<br />
der eine afroamerikanische Mutter hat, um<br />
den Vater als progressiven Politiker zu positionieren.<br />
Viele Kommentatoren hielten die<br />
Strategie für riskant, da der Afro in den<br />
Augen Weisser noch immer ein Zeichen<br />
schwarzer Aggression sei. De Blasio gewann<br />
– auch weil er die Afroamerikaner<br />
auf seiner Seite hatte. Als Barack Obama<br />
als erster Schwarzer für das Amt des Präsidenten<br />
kandidierte, veröffentlichte die<br />
Zeitschrift «The New Yorker» eine Titelgeschichte<br />
darüber, wie seine Gegner versuchten,<br />
ihn als Terroristen zu verunglimpfen.<br />
Der Karikaturist zeichnete ihn im Taliban-Umhang<br />
mit Turban und Sandalen.<br />
Daneben steht Michelle Obama, mit<br />
Kalaschnikow und wilder Afrokrause.<br />
Natürliche afrikanische Haare als Zeichen<br />
von Rückständigkeit, Kriminalität, Gefahr.<br />
So denken nicht nur die Menschen in Nairobi,<br />
so denken auch viele Weisse.<br />
Wenn junge Afrikanerinnen wie Yvette<br />
gegen dieses Stereotyp ankämpfen, dann<br />
geht es nicht nur um verschiedene Interpretationen<br />
von Schönheit. Es geht auch<br />
um Rassismus, Identität und sehr viel Geld.<br />
Der afrikanische Markt für Kosmetik- und<br />
Hygieneprodukte hat laut der Unternehmensberatung<br />
Roland Berger ein Volumen<br />
von 8,3 Milliarden Franken. Bis 2017<br />
dürfte es auf 12,7 Milliarden Franken anwachsen.<br />
Haare bedeuten Identität<br />
Yvette war neunzehn, als sie ihre Haare<br />
zum ersten Mal selbst gewaschen hat. Drei<br />
Jahre ist das her. Sie hatte keine Lust mehr,<br />
jede zweite Woche in den Haarsalon zu<br />
gehen, um sich Kunsthaar einflechten zu<br />
lassen. Warum kann ich nicht einfach meine<br />
eigenen Haare tragen?, fragte sie sich. An<br />
einem Freitagabend entfernte sie die Kunsthaarzöpfe,<br />
stellte sich unter die Dusche<br />
und massierte sich mit Wasser und Shampoo<br />
die Kopfhaut – zum ersten Mal überhaupt.<br />
«Der nächste Tag war der schlimmste<br />
meines Lebens», sagt Yvette. Als sie aufwachte,<br />
waren ihre Haare verknotet und<br />
standen in alle Richtungen vom Kopf ab.<br />
Sie hatte sich selbst nie zuvor mit Afrokrause<br />
gesehen – ausser im Haarsalon, wo<br />
immer jemand in der Nähe ist, um das<br />
Problem zu lösen. Am liebsten wäre sie<br />
sofort zum Coiffeur gegangen. Aber sie<br />
musste in die Schule. Die Blicke der Mitschülerinnen,<br />
alle mit geglätteten Haaren,<br />
Perücken oder Kunsthaarzöpfen, trafen<br />
sie wie Nadeln. Was ist mit dir los, bist du<br />
in den Regen gekommen?, wurde sie gefragt.<br />
«Ich habe mich so unsicher gefühlt»,<br />
sagt sie. «Ist das nicht verrückt? Ich war unsicher,<br />
weil ich meine eigenen Haare getragen<br />
habe.» Der Busfahrer fragte frech:<br />
«Bist du auf dem Weg zum Haarsalon?» Als<br />
Yvette ein paar Monate später Praktikum<br />
bei einem Fernsehsender machte und sich<br />
weigerte, ihre Krause wie die anderen Moderatorinnen<br />
unter einer Perücke zu verstecken,<br />
durfte sie nicht vor die Kamera.<br />
Natürliche Haare seien nicht adäquat für<br />
eine Nachrichtensendung, hiess es. Trotzdem<br />
fasste sie den Entschluss: Ich bin<br />
Afrikanerin, und ich stehe dazu!<br />
«Alles, was ich auf meine Haare tue,<br />
kann ich essen», sagt Yvette. Sie steht in<br />
der Küche und kocht Wasser. Afrikanische<br />
Haare müssen sorgfältig gepflegt werden.<br />
Wegen der Zickzackform dringt das Fett<br />
von der Kopfhaut nicht bis in die Spitzen<br />
vor, die Haare werden trocken und brechen<br />
leicht. Grosse Kosmetikkonzerne bieten<br />
kaum Produkte für natürliche Haare an,<br />
deshalb muss Yvette sie selbst anrühren.<br />
Auf der Arbeitsfläche vor ihr steht eine<br />
kleine Glasschüssel. Kokosnussöl ist bei<br />
Zimmertemperatur hart, also erhitzt sie es<br />
zuerst im Wasserbad. In die Haarspülung<br />
aus dem Supermarkt mischt sie Olivenöl,<br />
das ist dem körpereigenen Fett am ähnlichsten,<br />
dann Rizinusöl, das verhindert, dass<br />
Haare brüchig werden, und für den Duft<br />
Rosenöl. Aus dem Kühlschrank holt sie<br />
Aloe-Vera-Saft, der spendet Feuchtigkeit,<br />
giesst einen Schluck in die Schüssel, rührt<br />
mit dem Löffel, bis die Masse cremig wird.<br />
Am Abend wird sie die Emulsion auf<br />
den Haaren verteilen. Dann wird sie sich<br />
ein Seidentuch um den Kopf wickeln, denn<br />
Seide hält die Feuchtigkeit im Haar, statt sie<br />
wie Baumwolle aufzusaugen. Am Morgen<br />
wird sie die Strähnen nur mit den Fingern<br />
ordnen, statt sie mit Kamm oder Bürste zu<br />
frisieren. Denn Kämmen ziept und bricht<br />
die Haare.<br />
All das hat sie sich selbst beigebracht. Sie<br />
hat Youtube-Videos aus den USA ge schaut,<br />
von Naptural85, Kimmaytube und 4cHair-<br />
Chick. Sie hat Blogs gelesen, wie etwa «Naturally<br />
Curly» und «Black Girl Long Hair»,<br />
geschrieben von schwarzen Amerikanerinnen.<br />
«In den USA ist der Trend zum natürlichen<br />
Haar viel weiter», sagt Yvette. «Die<br />
Afroamerikanerinnen setzen sich wegen<br />
ihrer Geschichte als ehemalige Sklaven der<br />
Weissen intensiver mit ihrer Identität auseinander<br />
als wir Afrikanerinnen. Und Haare<br />
sind zentral für unsere Identität.»<br />
Die Afrokrause war das Markenzeichen<br />
der schwarzen Bürgerrechtsbewegung<br />
der 1960er-Jahre. Malcolm X hat in seiner<br />
Biografie schwarze Amerikaner dazu aufgerufen,<br />
zu ihren natürlichen Haaren zu<br />
stehen. Der «Fro», wie die Frisur auch genannt<br />
wird, war zentrales Element der<br />
«Black is beautiful»-Bewegung.<br />
Yvette würde nie ihre Haare glätten – es ist für sie ein Zeichen weisser Unterdrückung.<br />
Yvette findet es ironisch, dass die besten<br />
Blogs über natürliche Haare heute von<br />
Westlerinnen geschrieben werden. Aber<br />
langsam erfasst der Trend auch Afrika. Es<br />
entsteht eine Bewegung der natürlichen<br />
Haare, eine «natural hair movement», eine<br />
neue Frauenbewegung. Zwei von zehn<br />
Frauen in Nairobi tragen inzwischen ihre<br />
echten Haare. Genauso in anderen afrikanischen<br />
Metropolen, in Johannesburg,<br />
Accra, Lagos. Männer haben es einfach:<br />
Sie umgehen das Problem, indem sie sich<br />
den Schädel rasieren.<br />
Yvettes Mutter, eine gebildete, weltgewandte<br />
Frau der Oberschicht, hat jahrelang<br />
ihre Haare geglättet. Bis in die Siebzigerjahre<br />
trugen die meisten Afrikanerinnen<br />
natürliche Haare, so auch Yvettes<br />
Grossmutter. Dann kamen plötzlich neue<br />
Produkte auf den Markt. Zuerst Kunsthaare,<br />
die als lange schmale Zöpfe in die<br />
10 DAS MAGAZIN 42/2014<br />
11
10CFWLqw7DMBAEv-isvaftHqzMrIAo3CQq7v-jumWVdqQBs3OmF_x4juMaZzLYjDTUVdO7F6nB2VBLq9oj0cVkNw-0LVxd_y5k1sSB9W0IncRWkOjeYqgFHOV9vz4_HTpVeQAAAA==<br />
10CAsNsjY0MDQx0TU2MzY1NgYAoQT1lw8AAAA=<br />
In den 1980er-Jahren war ein Afro ein Afro. Ein Helm aus Wolle, wie die Bürgerrechtlerin<br />
Angela Davis ihn trug. Heute gibt es zig Arten, seine Haare natürlich zu tragen.<br />
Cremig und zart.<br />
Und bitter, wenn die<br />
Packung leer ist.<br />
natürlichen Haare eingeflochten werden.<br />
Dann Perücken und Extensions, Haarverlängerungen,<br />
die man an die natürlichen<br />
Haare anklebt. Und dann Glättungsmittel.<br />
«Wir alle haben unsere Haare geglättet»,<br />
sagt Yvettes Mutter. «Dadurch waren sie<br />
einfacher zu pflegen. Wir wussten noch<br />
nicht, wie schädlich die Produkte sind.»<br />
Die neue Mode war Ausdruck von Wohlstand<br />
und Modernität. Bald trugen nur<br />
noch diejenigen Frauen Afro, denen die<br />
regemässigen Besuche im Haarsalon zu<br />
teuer waren.<br />
Heute sind Perücken, Extensions und<br />
geglättete Haare keine Frage des Portemonnaies<br />
mehr. Alle – selbst die Slumbewohnerinnen<br />
– können sich das leisten.<br />
Frauen, die ihre Haare natürlich tragen, tun<br />
es nicht aus Geldmangel, sondern weil sie<br />
sich bewusst dafür entscheiden.<br />
«Die weissen Unterdrücker haben den<br />
Trend der glatten Haare gestartet, um die<br />
Schwarzen zu demütigen», sagt Yvette. «Es<br />
ist eine sehr traurige Geschichte.» Vielleicht<br />
wird sie einen Blogeintrag darüber<br />
schreiben. Ab dem 16. Jahrhundert, als die<br />
Weissen begannen, in Amerika Schwarze<br />
als Sklaven zu halten, galten dunkle Haut<br />
und krause Haare als minderwertig. Die<br />
Sklavenhalter bestraften ihre Leibeigenen,<br />
indem sie ihren Kopf in den Waschtrog<br />
drückten. Die Seifenlauge brannte in den<br />
Augen, verätzte die Haut, aber sie hatte<br />
noch einen Effekt: Sie machte die Haare<br />
glatt. Die Schwarzen merkten, dass ihre<br />
weissen Herren diejenigen von ihnen bevorzugten,<br />
die hellere Haut und glattere<br />
Haare hatten. Und weil sie von ihnen abhängig<br />
waren, begannen sie, ihre Haare<br />
freiwillig in die Lauge zu tauchen. So jedenfalls<br />
erzählt man es sich. Vielleicht war es<br />
auch anders. Vielleicht haben die Sklaven<br />
beim Waschen der Kleider auch selbst herausgefunden,<br />
dass die alkalische Brühe ihre<br />
Haare glatt macht. Gesichert ist: Im Jahr<br />
1913 brachte C. J. Walker, eine Tochter ehemaliger<br />
Sklaven, die erste Glättungscreme<br />
auf den amerikanischen Markt. Basierend<br />
auf Lauge. Das Produkt war so erfolgreich,<br />
dass sie die erste afroamerikanische<br />
Millionärin wurde.<br />
Yvettes Mutter trägt heute Dreadlocks<br />
– eine traditionelle afrikanische Frisur.<br />
«Noch vor fünf Jahren hätten die Leute<br />
mich für einen kiffenden Freiheitskämpfer<br />
gehalten», sagt sie. Nie hätte sie mit<br />
solch einer Frisur ins Büro gehen können.<br />
Aber sie beobachtet, dass die Stimmung<br />
dreht. «Lange Zeit haben wir blind westlichen<br />
Schönheitsidealen nachgeeifert. Weil<br />
der Westen für uns Zivilisation bedeutete.<br />
Jetzt lernen wir langsam, Schönheit auch<br />
in afrikanischem Aussehen zu erkennen»,<br />
sagt sie. Es hat sie überrascht, wie viele<br />
Reaktionen der Blog ihrer Tochter ausgelöst<br />
hat. Freundinnen riefen sie an und<br />
fragten: «Das ist ja deine Tochter! Ich will<br />
auch so eine Frisur. Wie macht sie das?»<br />
In den 1980er-Jahren war ein Afro ein<br />
Afro. Ein Helm aus Wolle, wie die Bürgerrechtlerin<br />
Angela Davis ihn trug. Heute gibt<br />
es zig verschiedene Arten, wie man seine<br />
natürlichen Haare tragen kann. Yvette<br />
macht von jeder Frisur ein Foto und veröffentlicht<br />
es auf ihrem Blog.<br />
Frauen wie Yvette tauschen sich aus<br />
in der geschlossenen Facebook-Gruppe<br />
The Curly Diaries. Die Gruppe hat 1500<br />
Mitglieder – die meisten von ihnen leben<br />
in Nairobi. Geschlossen ist die Gruppe,<br />
12 DAS MAGAZIN 42/2014<br />
weil nur Frauen dabei sein sollen, die ernsthaft<br />
an die «Bewegung der natürlichen<br />
Haare» glauben. Wer sich längere Zeit nicht<br />
online an der Diskussion beteiligt, wird<br />
rausgeworfen, und der Platz wird neu vergeben.<br />
Eine der Administratorinnen ist<br />
Susan Kinuthia. Sie ist dreissig Jahre alt, hat<br />
zwei kleine Kinder, arbeitet in einer Werbeagentur<br />
und sagt über ihre Ehe: «Ich bin<br />
nicht auf meinen Mann angewiesen, ich<br />
verdiene selbst genug.»<br />
Susan lebt in South B, dem Stadtteil der<br />
aufstrebenden Mittelklasse von Nairobi.<br />
Die Strassen sind staubig, krumme Obststände<br />
drängen sich an die Hauswände, aber<br />
in den Höfen der mehrstöckigen Wohnhäuser<br />
parkieren schwarze BMWs. Hier<br />
wohnt das neue afrikanische Bürgertum.<br />
Es ist Sonntag, Susan hat drei Freundinnen<br />
eingeladen. Sie haben Pilau und<br />
Kachumbari, ein Reisgericht und Tomatensalat,<br />
zu Mittag gegessen, jetzt richtet<br />
Susan ihren privaten Salon her. «Sonntag<br />
ist mein Haartag», sagt sie. Auf dem Balkon<br />
steht ein Waschbecken wie beim Coiffeur,<br />
an der Wand hängen Handtücher,<br />
ein paar Plastikstühle stehen herum, in der<br />
Ecke lehnt ein grosser Spiegel.<br />
Bevor sie mit dem Styling anfangen,<br />
wollen Susan und ihre Freundinnen auf<br />
der Strasse ein paar Zutaten einkaufen. Am<br />
Tor zögert eine, die ihren Dutt bereits gelöst<br />
hat und deren Haare wild vom Kopf<br />
abstehen. «Jetzt verlasse ich meine Komfortzone»,<br />
sagt sie unsicher. Sie hatte nicht<br />
geplant, noch einmal auf die Strasse zu<br />
gehen. Nun hat sie das Gefühl, alle würden<br />
ihren Afro anstarren.<br />
«Bananen und Avocado benütze ich als<br />
Kur, genauso Mayonnaise», erklärt Susan<br />
Weckt bereits beim Auspacken die Vorfreude<br />
auf einen unvergesslichen Genuss:<br />
Adoro, das kleine Geschenk, das immer passt.<br />
Frey gibt’s in Ihrer Migros.
«Latte macchiato<br />
bitte – frisch gemahlen,<br />
nicht gekapselt.»<br />
In den Haarsalons flechten mehrere Mitarbeiterinnen gleichzeitig Kunstzöpfe in das<br />
Haar der Kundin. Es dauert bis zu vier Stunden und ist schmerzhaft.<br />
am Obststand. Sie verwendet – wie Yvette<br />
– fast nur natürliche Produkte, um ihre<br />
Haare zu pflegen und zu stylen. Essig eignet<br />
sich, um die Haare zu reinigen. Honig<br />
macht sie weich. Joghurt spendet Feuchtigkeit.<br />
Aufgequollene Leinsamen, durch<br />
ein Tuch gepresst, haben den gleichen<br />
Effekt wie Gel. Alle diese Informationen<br />
teilt Susan in der Facebook-Gruppe.<br />
Wenn sie im Forum ein Shampoo empfiehlt,<br />
das neu im Supermarktregal steht,<br />
ist es nach zwei Tagen ausverkauft. Mitglieder,<br />
die sich gerade erst entschieden<br />
haben, ihre Haare natürlich zu tragen, werden<br />
ermutigt: «Sieht toll aus, weiter so!»<br />
«The natural hair journey», die Reise zu den<br />
natürlichen Haaren, nennen sie es. Kürzlich<br />
haben sie eine Party veranstaltet. Zweihundert<br />
weibliche Gäste waren da. Das<br />
Fernsehen drehte einen Beitrag. Es war<br />
schon die dritte Party dieses Jahr. Nächsten<br />
Monat werden die vier Administratorinnen<br />
nach Mombasa reisen, um sich mit<br />
den Mitgliedern, die an der Küste leben,<br />
zu vernetzen.<br />
Zurück auf dem Balkon, teilt Susan die<br />
Haare ihrer Freundin in wuschelige Strähnen<br />
und bindet sie zu kleinen Pinseln ab.<br />
«Sag Bescheid, wenn es wehtut, dann mache<br />
ich es lockerer», sagt sie. «Ich will dir kein<br />
Kenyatta-Markt-Lifting verpassen.» Der<br />
Kenyatta-Markt ist ein schmutziges Labyrinth<br />
aus Metzgereien und Haarsalons und<br />
der bekannteste Ort in Nairobi, um sich<br />
Kunsthaare einflechten zu lassen. Hier sitzen<br />
die Kundinnen mehrere Stunden lang<br />
auf dem Stuhl, bestellen Grillfleisch, während<br />
drei, vier Mitarbeiterinnen gleichzeitig<br />
dünne Zöpfe flechten. Viele ziehen<br />
dabei so fest, dass die Kundinnen mit dem<br />
Gefühl nach Hause gehen, ihr Kopf<br />
klemme in einem Schraubstock. Die gespannte<br />
Kopfhaut zieht die Augenbrauen<br />
nach oben und macht Lachen unmöglich.<br />
«Schluck eine Schmerztablette», raten dann<br />
die Salonbesitzerinnen.<br />
Susan und ihre Freundinnen betreten<br />
seit Jahren keine Haarsalons mehr. «Wenn<br />
wir durch die Tür kommen, sehen die<br />
Frauen unsere krausen Haare, und das<br />
Erste, was sie tun: Sie greifen nach dem<br />
Föhn. Sie wollen unsere Haare glätten,<br />
damit sie anfangen können, damit zu arbeiten.<br />
Sie wissen einfach nicht, wie sie mit<br />
unserem störrischen Haar umgehen müssen»,<br />
sagt sie. «Und sie haben auch keine<br />
Geduld, es zu lernen.» Susan und die drei<br />
anderen Administratorinnen haben den<br />
Namen Curly Diaries bereits schützen lassen.<br />
Sie planen, demnächst eigene Salons zu<br />
SWISS<br />
Die Kaffeekultur für Leute mit Stil feiert Jubiläum: Seit 20 Jahren verwöhnen die IMPRESSA-Kaffeespezialitäten-Vollautomaten<br />
anspruchsvolle Geniesser wie Roger Federer. JURA hat immer wieder neue Meilensteine bei Kaffeequalität, intuitiver Bedienung<br />
und Design gesetzt. Der edelste Beweis dafür ist die limitierte J500 Celebration Edition mit einer in Handarbeit veredelten Frontpartie<br />
in silberner Carbon-Optik und einer Tassenplattform aus hochwertigem Glas. In ihr vereinen sich die geballte Kompetenz aus<br />
20 Jahren Entwicklung, die Erfahrung aus über 3,5 Millionen verkauften Vollautomaten und die Leidenschaft für perfekte Kaffeespezialitäten.<br />
Schöner kann man ein Jubiläum kaum feiern. JURA – If you love coffee.<br />
www.jura.com<br />
MADE<br />
14 DAS MAGAZIN 42/2014
eröffnen. Susans Balkon ist eine Art Pilotprojekt.<br />
Sie alle haben den Haaransatz von<br />
Naomi Campbell gesehen. Das Supermodel<br />
der 1990er-Jahre, die schwarze Exotin<br />
auf den Laufstegen in Paris, Mailand und<br />
New York, hat während ihrer ganzen Karriere<br />
die Haare geglättet und Verlängerungen<br />
oder Perücken getragen. Heute zeigen<br />
sich die Folgen: Campbells Ansatz hat sich<br />
nach hinten verschoben, drei Zentimeter<br />
breit sind ihr die Haare ausgefallen. So geht<br />
es vielen Frauen mit Anfang, Mitte vierzig.<br />
Wer über Jahrzehnte hinweg glättet, muss<br />
mit schlimmem Haarausfall rechnen. Die<br />
Entscheidung, sein Haar natürlich zu tragen,<br />
ist auch eine Entscheidung für die<br />
Gesundheit.<br />
Modemagazine und Werbung reagieren<br />
auf das neue afrikanische Selbstbewusstsein.<br />
Zeitschriften wie «Forbes Wo -<br />
man» und «New African Woman» zeigen<br />
Frauen in Ethno-Klamotten und mit krausen<br />
Haaren. Die moderne afrikanische Frau<br />
ist keine Barbie mehr mit langen, glatten<br />
Haaren und heller, milchkaffeefarbener<br />
Haut. Sie ist erfolgreich, dunkel und trägt<br />
Afro. Die kenianische Schauspielerin Lupita<br />
Nyong’o, die den Oscar für ihre Ne benrolle<br />
in «Twelve Years a Slave» ge wonnen<br />
hat, verkörpert diesen neuen Typ Frau. Sie<br />
zeigt ihre natürlichen Haare, wenn auch<br />
kurz. Und ist das neue Werbegesicht des<br />
Kosmetikherstellers L’Oréal. Als erste<br />
Schwarze überhaupt. Nach Julia Roberts,<br />
Kate Winslet, Lily Collins, Penélope Cruz.<br />
Schwarze Frauen sind für die Kosmetikindustrie<br />
wichtige Kundinnen – und sie<br />
werden immer wichtiger. 300 Millionen<br />
Menschen gehören heute der afrikanischen<br />
Mittelschicht an, bis 2060 werden<br />
es eine Milliarde sein. Und lange war klar,<br />
was die Frauen wollten: möglichst helle<br />
Haut und langes, glattes Haar. Das ändert<br />
sich nun. In den USA brachen die Verkaufszahlen<br />
für Glättungscreme im letzten<br />
Jahr drastisch ein: Die Hersteller verloren<br />
laut dem Marktforschungsinstitut<br />
Mintel ein Viertel ihres Umsatzes. In<br />
Afrika glättet zwar noch die Mehrheit der<br />
Frauen, aber langfristig ist mit derselben<br />
Entwicklung zu rechnen wie in den USA.<br />
Was also will die Kundin in Zukunft?<br />
L’Oréal ist die grösste Kosmetikfirma<br />
der Welt und die Glättungscreme «Dark<br />
and Lovely» ihr wichtigstes Produkt auf<br />
dem afrikanischen Markt. Seit zwei Monaten<br />
hat L’Oréal East Africa mit Sitz in Nairobi<br />
einen neuen Chef, den Belgier Philippe<br />
D’Have, einen weissen Mann. Nach<br />
acht Wochen im Amt fühlt er sich nicht in<br />
der Lage, ein Interview zu geben. Er sei<br />
noch nicht ausreichend eingearbeitet, lässt<br />
DEIN HEISSHUNGER<br />
ERWARTET DICH IN<br />
Nina sprüht Olivenöl auf das Haar ihrer dreijährigen Tochter Ela.<br />
Weil Ela einen schottischen Vater hat, ist ihr Haar nicht so stark gekräuselt wie das ihrer Mutter.<br />
BANGKOK<br />
Entdecke die Welt der vegetarischen Küche.<br />
Mit dem köstlichen Red Thai Curry und den vielen<br />
anderen Spezialitäten von Coop Karma.<br />
16<br />
Für vegetarische Weltreisen.
10CFWLuw7CMBAEv-is3XvYd7hE6SIKlN5NRM3_VwQ6im1mZvd9RsNv9-1xbM9J1FAB3PziFU1H57Sq1jN4aaSCfuOgqSXH30PcUwNY30YIQS6GUEUX4dFR1t7n6wM9uxloeAAAAA==<br />
10CAsNsjY0sDQ30jUwMDE2MQAAb3UGPQ8AAAA=<br />
18 19<br />
er durch die Pressestelle in Paris ausrichten.<br />
Afrikanische Haare als schwer zu<br />
durchdringendes Mysterium. Auskunft<br />
geben kann nur eine Mitarbeiterin am<br />
Hauptsitz in Paris, Virginie Rouchier. «Die<br />
afrikanischen Frauen haben sehr viele verschiedene<br />
Frisuren, das müssen wir verstehen»,<br />
sagt sie am Telefon. Bei einer Reise<br />
durch Südafrika und Kenia war sie überrascht<br />
festzustellen, dass viele sogar unter<br />
ihrer Perücke die Haare geflochten haben.<br />
Natürliche Haare? Hat sie kaum gesehen.<br />
Es sei wichtig für die afrikanischen Frauen,<br />
dass sie ihre Haare besser managen können.<br />
Zu glätten sei von Vorteil, selbst<br />
wenn man nachher flicht. Ob das Glätten<br />
schädlich ist? «Nein, natürlich nicht, sonst<br />
würden die Frauen es ja nicht machen.»<br />
Kosmetikindustrie springt auf<br />
Am Samstagabend ist Nina Dunn, 37 Jahre<br />
alt, mit Freundinnen in ihrem Lieblingsrestaurant<br />
verabredet, dem «Talisman». Nina<br />
trägt ein buntes Sommerkleid mit dünnen<br />
Trägern und grosse, afrikanische Ohrringe.<br />
Sie hat in England Jus studiert, in Deutschland<br />
bei der UNO gearbeitet und in China<br />
Sprachunterricht gegeben. Seit der Geburt<br />
Es gibt Glättungscremes schon für Kinder. Von der lilafarbenen Verpackung lächelt ein<br />
kleines Mädchen mit glattem Haar, «Beautiful Beginnings» verspricht der Hersteller L’Oréal.<br />
ihrer Tochter arbeitet sie als persönliche<br />
Fitnesstrainerin. Ihr Mann, ein Schotte, leitet<br />
eine internationale Schule. Sie ist keine,<br />
die ihre Avocado selbst mixt, dafür hat sie<br />
keine Zeit.<br />
Mit ihren Freundinnen will sie auf den<br />
ersten Geburtstag ihres Blogs «My Big Fat<br />
Afro» anstossen. Es ist eine der meistgelesenen<br />
Websites zum Thema natürliches<br />
Haar in Nairobi. Zu fünft sitzen sie unter<br />
hohen Bäumen, auf den Bänken liegen<br />
orientalische Kissen. Es gibt Fusion Food,<br />
die Preise bewegen sich auf dem Niveau<br />
von New York. Alle tragen ihr Haar natürlich.<br />
Die Frauen nippen an ihren Cocktails<br />
mit Erdbeerscheiben auf dem Rand und<br />
dippen Teigtaschen in eine süsse, rote<br />
Chilisauce.<br />
Nina und ihre Freundinnen bestellen<br />
ihr Shampoo online in den USA oder lassen<br />
es sich von Bekannten von dort mitbringen.<br />
Afroamerikanerinnen haben in<br />
den letzten Jahren spezialisierte Kosmetikfirmen<br />
gegründet. Sie verwenden nur<br />
natürliche Inhaltsstoffe. «In Kenia gibt es<br />
kaum gute Produkte für unser Haar», sagt<br />
Nina. Dabei wäre sie bereit, Geld auszugeben.<br />
Wenn sie im Supermarktregal die<br />
Glättungscremes sieht, die sogar schon<br />
für Kinder angeboten werden, ärgert sie<br />
sich. Von der lilafarbenen Verpackung<br />
lächelt ein kleines Mädchen mit glattem<br />
Haar, «Beautiful Beginnings» verspricht<br />
der Hersteller L’Oréal. Nina misstraut den<br />
grossen Konzernen. Weil sie jahrzehntelang<br />
ihre Gewinne mit Glättungscreme<br />
gemacht haben. Eine Werbekampagne, mit<br />
der kürzlich ein neues Produkt als natürlich<br />
beworben wurde, erboste sie so, dass<br />
sie einen Blogeintrag schrieb mit dem<br />
Hashtag #MarketingHeadsShouldRoll.<br />
Vor vier Monaten bekamen Nina und<br />
ihre Freundinnen einen überraschenden<br />
Besuch. Vier weisse Männer in Anzügen<br />
klingelten an der Wohnungstür, sie wurden<br />
begleitet von muskulösen, schwarz<br />
gekleideten Riesen. Eine Bekannte aus der<br />
Kosmetikbranche hatte das Treffen arrangiert.<br />
Experten aus der Industrie, hiess es,<br />
die sich für natürliches Haar interessieren.<br />
Nina und ihre Freundinnen geben grundsätzlich<br />
gern Auskunft. Sie wissen, dass sie<br />
den Forschungslabors und Marketingabteilungen<br />
der grossen Konzerne um Jahre<br />
voraus sind. Die Herren setzten sich in<br />
der Stube aufs Sofa und stellten viele Fragen.<br />
Wie oft waschen Sie Ihre Kopfhaut?<br />
Welche Produkte kaufen Sie? Wie viel<br />
geben Sie aus? Was vermissen Sie im Supermarkt?<br />
Entschuldigung, dürfen wir die<br />
Haare mal anfassen? Nachdem die Männer<br />
gegangen waren, googelte Nina die Namen<br />
auf den Visitenkarten. Sie staunte nicht<br />
schlecht: Es waren hochrangige Manager<br />
eines US-Konzerns, der Haarprodukte herstellt.<br />
Nun verstand sie, warum die schwarz<br />
gekleideten Typen sich nicht hatten setzen<br />
wollen. Es waren Bodyguards.<br />
Die Frauen bestellen eine weitere<br />
Runde Drinks. Inzwischen ist es dunkel<br />
geworden, der Kellner bringt eine Kerze.<br />
Nina zieht ihre Jeansjacke über. Eine ihrer<br />
Freundinnen am Tisch stellt ihre eigene<br />
Haarpflege aus Sheabutter her und vertreibt<br />
sie übers Internet. In den nächsten<br />
Monaten soll es einen Relaunch geben.<br />
«Fällt euch ein guter Name ein?», fragt sie.<br />
Eine von ihnen wird das Design übernehmen,<br />
die anderen werden das Produkt testen.<br />
«In zwei Jahren verkaufe ich meine Butter<br />
an L’Oréal», ruft die Gründerin. «Ich<br />
spekuliere auf zwei Millionen Dollar, an<br />
eurer Stelle würde ich mir rechtzeitig Anteile<br />
sichern!» Die Frauen lachen und klatschen<br />
die Hände aneinander, high five.•<br />
PAULA SCHEIDT ist Reporterin des «Magazins».<br />
paula.scheidt@dasmagazin.ch<br />
LINDA TUTMANN ist freie Journalistin und lebt<br />
in Hamburg und Nairobi.<br />
linda.tutmann@enarro.de<br />
Der Fotograf TILL MÜLLENMEISTER lebt und<br />
arbeitet in Nairobi. www.tillmuellenmeister.com<br />
jetzt<br />
für chf<br />
244.–/mt.<br />
DER VOLVO V60 R-DESIGN<br />
Inklusive attraktivem R-Design<br />
Sportpack, 19” Leichtmetallfelgen<br />
und Dual-Xenon-Scheinwerfer.<br />
VOLVOCARS.CH/V60R-DESIGN<br />
Leasing Volvo Car Financial Services (BANK-now AG): Volvo V60 T3 Start/Stopp R-Design 150 PS/110 kW. Katalogpreis CHF 51 250.– abzüglich Sonderbonus CHF 5849.50 ergibt einen Verkaufspreis von CHF 45400.50. Monatsrate CHF 244.–,<br />
1. grosse Leasingrate CHF 15 922.–, Laufzeit 48 Monate, 10 000km/Jahr. Zins nominal 3,9 %, Zins effektiv 3,98%. Restwert gemäss Richtlinien der Volvo Car Financial Services (BANK-now AG). Obligatorische Vollkaskoversicherung nicht inbegriffen.<br />
Die Kreditvergabe ist verboten, falls sie zur Überschuldung des Konsumenten führt (Art. 3 UWG). Angebot gültig bis auf Widerruf. Treibstoff-Normverbrauch gesamt (nach Richtlinie 1999/100/EU): 5,8 l/100 km. CO2-Emissionen: 134 g/km (148 g/km:<br />
Durchschnitt aller verkauften Neuwagen-Modelle). Energieeffizienz-Kategorie: C. Volvo Swiss Premium ® Gratis-Service bis 10 Jahre/150 000 Kilometer, Werksgarantie bis 5 Jahre/150 000 Kilometer und Verschleissreparaturen bis 3 Jahre/150 000 Kilometer<br />
(es gilt das zuerst Erreichte). Nur bei teilnehmenden Vertretern. Abgebildetes Modell enthält ggf. Optionen gegen Aufpreis.
DER MANN<br />
VON DER SITTE<br />
Die «Rote Zora» arbeitete im Zürcher Milieu, als es noch keine Verrichtungsboxen gab.<br />
Im neuen Buch von Susanna Schwager erinnert sich ein Polizist an sie. Und daran, wen<br />
man alles antraf in den Salons.<br />
BILD: JESSICA HAYE & CLARK HSIAO / THE COLLABORATIONIST<br />
«Ich trage zusammen, was in Gesprächen an mich herantritt<br />
und mir überlassen wird. Ich erfinde nichts, ich<br />
verdichte. Die Wahrheit entzieht sich, wie stets. Im besten<br />
Fall entsteht Wahrhaftigkeit», sagt Susanna Schwager.<br />
So hielt es die Zürcher Schriftstellerin in ihrem ersten<br />
Buch, «Fleisch und Blut», einer Hommage an ihre<br />
Grosseltern, und es ist nicht anders in ihrem neusten, das<br />
dieser Tage erscheint: «Freudenfrau» (Wörterseh Verlag).<br />
Es ist die Lebensgeschichte von Hedy aus St. Gallen,<br />
einem kleinen, schönen, gescheiten Mädchen «mit blondrötschigen<br />
Haaren bis zur Taille hinunter», aus dem Jahre<br />
später im Zürcher Niederdorf die «Rote Zora» wurde,<br />
eine Prostituierte, die rasch auffiel im Milieu – erst recht,<br />
nachdem sie 1984 in ihrem eigenen Salon grausam misshandelt<br />
und 1986 von einem Zuhälter angeschossen<br />
worden war. Viele kannten den Namen Zora, aber niemand<br />
Hedys Geschichte – bis Susanna Schwager sie jetzt<br />
aufgeschrieben hat, kurz vor dem Tod Hedys im Februar<br />
2014. Über eineinhalb Jahre hatte sie Hedy immer<br />
wieder besucht, ihr zugehört, während ihr treuer Gefährte<br />
Päuli und Hund Luzi II danebensassen. Sie erzählte<br />
vom «umgottswillen so verklemmten» St. Gallen<br />
und von ihrem ersten Mann, Hotelierssohn und Vater<br />
einer gemeinsamen Tochter, dem sie in den Maghreb<br />
folgte. Und sie berichtete von ihrer Zeit als Zora. Auf<br />
Hedys Geschichte ist Susanna Schwager über einen<br />
Bekannten aus Kindertagen gestossen, einen Mann von<br />
der «Sitte», den sie Werni Freudiger nennt. Auch ihm gibt<br />
sie im Buch eine Stimme. Die Schriftstellerin hat den pensionierten<br />
Polizisten am Spitalbett besucht, wo er sich,<br />
von einem Unfall genesend, nicht nur an Zora erinnert,<br />
sondern überhaupt an seine Arbeit im Zürcher Milieu,<br />
dreissig Jahre vor dem Zeitalter der Verrichtungsboxen.<br />
Davon handelt der folgende Buchauszug.<br />
Text SUSANNA SCHWAGER<br />
Ich nannte sie immer Frau Zora. Ich kenne keinen Polizisten,<br />
der mit ihr per Du war und es gewagt hätte, sie beim Vornamen<br />
zu nennen. Ansonsten war das normal. Aber die Zora<br />
war die Frau Zora. Inzwischen bin ich ja schon so lange pensioniert.<br />
Und jetzt kürzlich, als ich sie traf im Dorf, da gingen<br />
wir in der Kantorei zusammen essen. Und ich nannte sie wieder<br />
so. Sagte sie – Wir könnten uns du sagen, Werni. Wir sind<br />
ja jetzt nicht mehr im Geschäft. Wir sind doch fast Freunde<br />
und nur noch uns selber. – Einverstanden, Hedy. Das freut<br />
mich.<br />
Sie war mir eigentlich immer ein Rätsel. Und dass sie jetzt<br />
verschwunden ist, erstaunt mich gar nicht. Ich glaube, es ist<br />
lebenswichtig für sie, dass sie abtauchen kann ab und zu. Dass<br />
keiner ihren Namen kennt und ihre Adresse. Auch nicht ihre<br />
wahre Geschichte.<br />
Jedes Mal, wenn man sie antrifft, nimmt man etwas<br />
Neues auf von dieser Frau. Eine Überraschung. Nie weiss<br />
man alles. Das ist an und für sich – ich finde es richtig interessant.<br />
Das sagte ich auch zu Erna, meiner Frau – Komm<br />
doch gopfertelli mit zu dem Essen mit ihr. Komm mit. –<br />
Sie redet meistens wenig. Oder dann wie ein Wasserfall,<br />
man kann sie kaum bremsen. Meistens geht es gar nicht um<br />
sie. Von sich selber redet sie nicht gern. Es erstaunt mich, dass<br />
sie überhaupt etwas erzählt. Vor allem menschlich interessant<br />
und unvorhersehbar ist diese Frau. Sehr eigen. Sehr harter<br />
Kopf. Intelligent sowieso. Und hübsch. Ich finde sie<br />
immer noch sehr hübsch.<br />
Ich war es nicht, der sie fand, damals. Das war ein Kollege,<br />
er ist inzwischen fortgezogen. Ich hatte, wie alle, nur<br />
davon gehört. Und auf der Wache die Fotos gesehen. Jeder<br />
sprach davon, die ganze Stadt. Ich glaube, das war der grässlichste<br />
Fall, den es je gegeben hat in Zürich.<br />
Als Zora sah ich sie nie. Ich meine, ich traf sie nirgends<br />
an, wo man die Damen sonst antraf. In keinem Salon, in keinem<br />
Etablissement, nirgends. Auch nicht auf dem Trottoir,<br />
und auf dem Strassenstrich stand sie schon gar nicht rum. Nur<br />
einmal, später, fast am Schluss. Sonst sah ich sie nie anschaffen.<br />
So ist das ja mit ihr, man trifft sie nicht einfach so. Sie soll<br />
ihren Salon später untervermietet und nicht mehr selber gearbeitet<br />
haben. Daraus entstand wohl nachher diese grosse<br />
Katastrophe.<br />
Wenn sich unsere Wege kreuzten, war das eine ganz normale<br />
Person. Nicht aufgedonnert, adrett gekleidet. Wie eine<br />
normale Frau sah sie aus, aber hübscher als andere, freundlicher.<br />
Man erkannte sie von weitem an ihrer Sprache, sie<br />
sprach niemals ordinär, aber sie konnte ein giftiges Maul<br />
haben. Im St. Galler Dialekt giftet es natürlich besonders<br />
schön.<br />
Es ist so, wenn ich etwas mit ihr zu tun hatte, ging ich zu<br />
ihr in die Wohnung hinauf. Ab und zu musste ich sie etwas<br />
fragen oder etwas klären. Da war man bei ihr an einer guten<br />
Adresse. Die Zora sagte mehr die Wahrheit als die meisten.<br />
Und sie sah auch Zusammenhänge, sie machte sich einen<br />
Reim auf die Vorgänge, sie hatte die Augen offen. Vielleicht<br />
mehr, als für sie gut war.<br />
Bei ihr war übrigens der einzige Ort, wo ich einen Kaffee<br />
nahm. Immer alles tipptopp und blitzsauber. Sonst ist man<br />
lieber nicht auf die Stuhlkante gesessen. Ab und zu trank man<br />
schon mal ein Bier aus der Flasche und ging dann möglichst<br />
sofort wieder. Aber bei ihr, das muss ich sagen, war es angenehm.<br />
Richtig gastlich. Da konnte man sitzen, ein wenig ausruhen<br />
und über Gott und die Welt reden.<br />
Du musst wissen, es gab viele, die mit ihrer Identität<br />
spielten im Milieu. Auch mussten. Für manche war es lebensnotwendig,<br />
sich zu verkleiden. Nicht weil sie etwas auf dem<br />
Kerbholz hatten, sondern weil sie mit der Maske eine Persönlichkeit<br />
annahmen, mit der sie erst richtig leben konnten. Für<br />
andere war es überlebenswichtig, weil die prüde Gesellschaft<br />
sie sonst nicht in Ruhe liess. Es war ja, sagen wir, bis fast zur<br />
Jahrtausendwende, alles verboten. Ausser Arbeiten und ein<br />
bisschen Sex zwischen Mann und Frau am frühen Abend in<br />
der Missionarsstellung war offiziell eigentlich alles verboten.<br />
Da bin ich sehr allergisch. Ich meine, gegen dieses Geheuchel.<br />
Es gab so viel Getue in den sogenannt besseren Kreisen.<br />
Ich möchte ja nicht erzählen, wen wir alles antrafen in den<br />
Salons. Zum Beispiel die Seelsorger, sie nannten sich Seelsorger.<br />
Einer erklärte uns immer, er müsse diese Frauen erziehen.<br />
Umbiegen, nannte er es, auf den guten Weg bringen.<br />
Und ich – Scho guet! Alles klar. –<br />
Man sah Dinge, über die konnte ich einfach nur staunen.<br />
Ständig habe ich doch den Pfarrer angetroffen, beim Champagner<br />
und der Arbeit für den richtigen Weg. Auch andere,<br />
namhafte und stramm moralsichere Herren der Stadtprominenz.<br />
Aber gut, da machte man sicher keinen Ballon daraus.<br />
20 DAS MAGAZIN 42/2014<br />
21
10CFXKqw6AMBBE0S_aZl9DW1aSugZB8BiC5v8VBYcYc-f0Hkj8bWnr3rYQFneySVxzQCUhIyRrqmLBVaEDzAIrbMXw8-ReFMzHa4grKQ7BOMlH05ru83oARkphHXIAAAA=<br />
10CAsNsjY0MDQx0TU2MzQxMgcARVNIIg8AAAA=<br />
Jeder hat seine Bedürfnisse, geht mich nichts an. Nur die<br />
Heuchelei ging mir extrem auf den Sack. Und daraus Profit<br />
schlagen.<br />
Gewisse Leute hatten zum Beispiel Häuser unten an der<br />
Langstrasse und auch im Dorf. Die Verwaltung übertrugen<br />
sie scheinheilig einer Firma und liessen dann Huren einquartieren<br />
und von Zuhältern überwachen. Selber logierte man<br />
am Zürichberg, Sonnenberg, Herrliberg, und für die elenden<br />
Zimmerchen kassierte man zweihundert Stutz, in den<br />
Achtzigern. Pro Bett und Nacht. Verdammter Wucher.<br />
Die erwischst eben nie. Das hat mich immer gewurmt.<br />
Alles immer ganz legal.<br />
Unvergessliche Bilder<br />
Ich lernte viel über die Menschen und habe schon lange die<br />
romantischen Illusionen verloren. Vor allem über die sauberen<br />
Westen lernte ich viel. Und wie auslegbar und willkürlich<br />
auch das Rechtswesen sein kann. Ohne Kohl. Unsere hehren<br />
Gerichte. Überall hocken ein paar Gute und zu viele Schlechte.<br />
Käufliche. Eigentlich habe ich lange an unser Recht geglaubt,<br />
an unseren Rechtsstaat. Auch an eine rechte Politik. Aber man<br />
darf dem Seich nicht zu nahe kommen und nicht zu lange drin<br />
sein. Sonst sieht man nur noch schwarz. Berufskrankheit.<br />
Es kommt auf den Einzelnen an. Ich glaube, es geht<br />
letzten Endes immer um Courage im Leben. Ob etwas gut<br />
ist oder nicht und ob die Institutionen dem Leben dienen, das<br />
machen Einzelne. Es geht um ein Gewissen und den Mut,<br />
etwas zu tun oder nicht zu tun, nach dem Gewissen. Das ist<br />
ja meistens unbequem. Dafür hinstehen. Mir scheint, es werden<br />
immer weniger, die Courage haben und selber für etwas<br />
hinstehen. Es wird alles abgewälzt. Und natürlich wird von<br />
oben nach unten gewälzt, immer nach unten, bis ganz zuunterst.<br />
Die Untersten liegen flach und bluten.<br />
Ich bin jetzt viele Jahre weg von der Sitte. Aber du glaubst<br />
es nicht, ich träume doch ständig. Jede Nacht. Immer mehr<br />
eigentlich.<br />
Ich sah schon vieles, das nicht schön war. Es gibt Dinge,<br />
die kann man nicht verdauen. Wenn man Glück hat, kann<br />
man sie vergessen. Aber ich verschone dich damit.<br />
Die Hedy musste nicht ich finden, zum Glück.<br />
Manchmal kommt man an Grenzen. Oft, wenn man zu<br />
den sogenannt aussergewöhnlichen Todesfällen ausrücken<br />
muss. Und die Bilder hat man dann, sie brennen sich ein. Wie<br />
dieses eine, das immer wieder auftaucht. Ein junges Paar,<br />
Mann und Frau, nackt beide, in der Liebe vereint. Schöne<br />
junge Menschen. Wirklich noch ganz in der Liebe zusammen.<br />
Aber rundherum alles voller Blut und Flüssigkeiten. Die<br />
Köpfe kaputt und zerrissen. Sie hielt ihn ganz umschlossen.<br />
Und auf dem Abschiedsbrief – sie möchten so sterben. Für<br />
immer zusammenbleiben. Er erschoss zuerst sie, dann sich.<br />
Und tatsächlich waren sie immer noch ineinander. Wir liessen<br />
sie zusammen, wickelten sie in saubere Tücher.<br />
Für die, die das finden, ist es nicht schön. Wir mussten<br />
ausrücken. Die, die es zusammenschaufeln und einpacken<br />
und abtransportieren müssen, haben dann die Filme. Diese<br />
sterblichen Reste in der Nacht, diese verlassenen und verlorenen<br />
Leiber. Es brennt sich ein. Ich sage dir, ich mag die<br />
ewige Verbundenheit im Geiste nicht.<br />
Verfolgen tut es mich nicht, es kommt einfach und geht.<br />
Ich betrachtete die meisten Fälle eher – als menschlich interessant.<br />
Als Polizist studierst du die Menschen, du musst.<br />
Kennst ihre Ängste und Fehler. Aber manches kannst du nicht<br />
mehr einfach als interessant verschaffen.<br />
Die Sprüche der Gerichtsmediziner zum Beispiel. Einer<br />
war ganz grauenhaft, ein hoher Beamter. Einmal lag eine tote<br />
Frau auf dem Schragen. Und wenn jemand ohne ersichtlichen<br />
Vor allem über die sauberen Westen lernte ich viel. Und wie auslegbar und willkürlich<br />
auch das Rechtswesen sein kann. Ohne Kohl. Unsere hehren Gerichte.<br />
Grund tot ist, wird der Leichnam ausgezogen. Der Mediziner<br />
muss schauen, ob irgendwo eine Wunde ist oder ob sie<br />
ein Messer im Rücken hat. Und der medizinische Beamte<br />
beugte sich über die nackte Tote und sagte – Verdammi, ist<br />
die fett, wie kann man nur so verfressen sein. – Einen solchen<br />
Spruch hätte ich nie erwartet von einem Arzt.<br />
Weisst du, der Zynismus und die Menschenverachtung,<br />
sogar angesichts des Todes. Das ertrug ich ganz schlecht. Ich<br />
habe mich immer gefragt, ist das Zynische verzweifelt cool,<br />
oder ist es Verachtung? Und ist die Verachtung Selbstschutz?<br />
Der Schutzschild der Herzschwachen und Überforderten?<br />
Dann sind die doch am falschen Platz!<br />
Ich war ja auch kein Kirchenlicht, das hat dir die Zora<br />
sicher erzählt. Machte selber auch ab und zu einen Hurenseich.<br />
Das kommt dann eben auch nachts wieder.<br />
Du darfst die Nerven nie verlieren und den klaren Blick.<br />
Aber man ist auch nur ein Mensch. Vielleicht ist es das Wichtigste<br />
im Leben, Gelassenheit. Das Schwierigste auch. Hast<br />
du gute Nerven? Sonst will ich dir all diese Geschichten<br />
nicht antun. Sie haben nichts mit Hedy zu tun. Eine erzähle<br />
ich dir, weil Hedy den Psychiater gut kannte, der am Schluss<br />
eine Rolle spielte.<br />
Weil es menschelt<br />
Ein hohes Tier. Er spielte leider oft eine wichtige Rolle. Ich<br />
fuhr zehn Jahre Streife in der Stadt. Einmal telefonierte morgens<br />
um zwei der Abwart der MFO, Maschinenfabrik Oerlikon.<br />
Er höre Hilferufe bei den Gleisen unten. Wir sind<br />
natürlich im Affenzahn ausgerückt. Und da lag tatsächlich<br />
einer, ein Körper, zwischen den Gleisen. Ich meine, nur der<br />
Körper. Die Beine lagen neben dem Gleis. Wir versuchten<br />
noch, den Rumpf wegzutragen, aber dann kam schon wieder<br />
ein Zug, am Bahnhof Oerlikon kommen und gehen ständig<br />
die Züge. Wir konnten ihn nur blitzschnell so drehen, dass er<br />
ganz zwischen den Schienen lag. Und ich schrie – Chumm,<br />
Chopf abe! – Der hatte seinen Kopf auf die eine Schiene<br />
gelegt, auf die andere die Beine, aber dann wollte er plötzlich<br />
doch am Leben bleiben. Beim ersten Zug konnte er den<br />
Kopf noch rechtzeitig zurückziehen, aber die Beine nicht<br />
mehr. Ich schrie also – Mach schnell, zieh den Kopf ein! –<br />
Und dann kam schon der langsame Güterzug, morgens um<br />
zwei, dödpu dödpu dödöpudödöpudödöpu. Ewig. Wir waren<br />
sicher, den müssen wir in Wipkingen zusammenschaben.<br />
Aber verrückt, als nach unendlicher Zeit der letzte Wagen<br />
vorbei war, tauchte der Kopf auf und rief – Hallo? –<br />
Da friert es mich heute noch, so schön war das. Das war<br />
das fantastisch Schöne im unsagbar Traurigen. Die Sanitäter<br />
luden ihn auf die Bahre, nur mit den Fingerspitzen, und<br />
der Kollege und ich nahmen je ein Bein unter den Arm. Sie<br />
bluteten nicht, und sie waren warm, ich weiss es noch. Dann<br />
brachten sie ihn ins Spital und nähten ihm die Beine wieder<br />
an. Und der Psychiater kam und wies ihn in die Irrenanstalt.<br />
Zwei Tage nach der Operation starb der arme Kerli.<br />
Er war anscheinend abgehauen aus der Psychiatrischen,<br />
aus dem Burghölzli. War schon mehrmals geflüchtet aus der<br />
Nervenheilanstalt, um sich das Leben zu nehmen.<br />
Dieser mächtige Psychiater ist eben auch einer, der mich<br />
manchmal nachts verfolgt. Die Hedy kannte ihn, ein Gast.<br />
Sie erzählte mir eine Geschichte, die war von höherer Abgründigkeit,<br />
wie aus einem Dürrenmatt-Stück. Ein Psychiater kam<br />
immer, wenn wir einen heiklen Fall hatten. Also wenn zum<br />
Beispiel eine Frau durchdrehte. Und dieser Herr war ein ganz<br />
primitiver Siech, ich sage es offen. Er machte solche Sprüche<br />
– Die müsste man nur mal ordentlich drannehmen! Von vorn<br />
und von hinten. Dann würde die schnell wieder normal.<br />
Anscheinend war die Hedy einmal mit diesem Herrn in<br />
einem Hotel gewesen. Galantes Wochenende, er hatte sie eingeladen.<br />
Und hatte scheints einen grossen Koffer dabei.<br />
Damit sei er auf seiner Suite verschwunden, und nach einer<br />
Weile habe er sie gerufen.<br />
Und dann stand er da im Vollwichs, in einer SS-Uniform<br />
mit Reitgerte, du glaubst es nicht. Er wollte als SS-Offizier<br />
mit ihr essen auf dem Zimmer und dann von ihr gezüchtigt<br />
werden. Aber die Hedy habe dem die Uniform ausgezogen<br />
und zerschnitten. Und ihm dann nach Kräften und richtig<br />
den Hintern versohlt.<br />
Ich fragte die Hedy einmal, warum sie sich das antue und<br />
das mache. Sie sagte mit ihrem Lächeln – Weil ich mein eige<br />
©Globi Verlag, Imprint Orell Füssli Verlag AG<br />
J.K. Schiele und Robert Lips hinterliessen der Welt Globi.<br />
Auch wenn Sie kein Werbeleiter und Zeichner sind: Sie<br />
können etwas Bleibendes für die Nachwelt schaffen. Mit<br />
einemTestament oder Legat zugunsten von UNICEF bauen<br />
Sie das Fundament einer besseren Welt für Kinder. Wir<br />
informieren Sie gerne:<br />
UNICEF Schweiz, Baumackerstrasse 24, 8050 Zürich<br />
Telefon +41 (0)44 317 2266<br />
www.unicef.ch<br />
die neue diners club ® karte<br />
von cornèrcard.<br />
Der Spezialist für Kredit- und Prepaidkarten.<br />
22 DAS MAGAZIN 42/2014<br />
dinersclub.ch
10CFXLrQ7DMAxF4SdydO1cx84Mp7KqoCoPmYb3_mg_bOCw7-x7ecOv-3Zc21kKJaVzuKJsapsjkZWIlkEtdIN9zE0drlMj_hYh0xxYXyPoYljqAgrHCo72ejzf7eiks3UAAAA=<br />
10CAsNsjY0MDQx0TU2MTM1NAAAy5TUcQ8AAAA=<br />
Bevor Sie mit ihren<br />
Plänen loSlegen:<br />
machen Sie einen<br />
realiStiSchen<br />
Budget-check.<br />
hier kommen Sie zu ihrem Privatkredit:<br />
www.cashgate.ch,<br />
hotline 0800 55 44 33<br />
Raiffeisenbanken, Kantonalbanken<br />
und ausgesuchte Regionalbanken.<br />
VeRnÜnftiG finAnZieRen<br />
Die Kreditvergabe ist verboten, falls sie zur Überschuldung führt (Art. 3 UWG).<br />
cashgate AG, Hagenholzstrasse 56, Postfach 7007, 8050 Zürich<br />
Gesucht – gebucht<br />
Umzugs- und Handwerkerprofis zu guten<br />
Preisen – auf renovero.ch<br />
Online Handwerkerofferten<br />
einholen und vergleichen.<br />
ner Herr und Meister bin und sehr gut verdiene. Und weil<br />
es menschelt. Ich mache das meistens nicht ungern.<br />
Weisst du, in meinen Nächten denke ich manchmal,<br />
ich war kein guter Polizist. Im Grunde. Im Naturell bin<br />
ich einfach zu weich. Ich musste mich immer bemühen,<br />
ein harter Siech zu sein. Sonst hast du Probleme, weil<br />
es dir zu nahe geht und weil sie deine Gutmütigkeit ausnützen.<br />
Ich habe immer versucht, nicht nur hart zu sein,<br />
aber auch nicht blöd. Oft hätte ich ganz andere verhaften<br />
wollen, als ich es musste. Es ist eine Gratwanderung.<br />
Häufig wusste ich, das kann jetzt heikel werden für mich.<br />
Aber wenn ich diese Drogendirnen am Sihlquai und am<br />
Platzspitz habe, diese armen, kranken Geschöpfe, und<br />
wenn ich die ständig büsse und aufschreibe, was ändert<br />
das? Und wem nützt das?<br />
Ich redete lieber mit ihnen. Und wenn es gar nicht<br />
mehr anders ging, musste ich eine verzeigen, weil es sonst<br />
auffiel. Meistens drückte ich drei Augen zu. Ich kann dir<br />
sagen, viel lieber hätte ich die Hunde eingesperrt, die<br />
diese Frauen besteigen.<br />
Ich war ein schlechter Polizist, weil sie mir leid taten.<br />
Das war nicht Mode in unserem Beruf. Heute bin ich<br />
sehr froh darüber. Sonst könnte ich wahrscheinlich gar<br />
nicht mehr schlafen.<br />
Wir hatten so Spezialisten, für die war das Verzeigen<br />
von Huren ein Sport. Die konnten an einem Abend fünfzehn<br />
Drogendirnen reinnehmen und waren richtig stolz<br />
darauf. Am andern Tag wurden sie vom Chef gelobt. –<br />
Fünfzehn in einer Nacht! Gute Leistung. Und du Pfeife,<br />
Freudiger, was treibst eigentlich die ganze Zeit? –<br />
Der Casanova<br />
In der Gegend, wo ich auf Streife war, hocken ja jetzt<br />
diese gelangweilten Millionäre. Aber bis vor kurzem war<br />
zum Beispiel der Damm unter der Eisenbahnbrücke am<br />
Fluss nach dem Letten eine ganz verruchte Adresse, da<br />
sass das krasse Publikum. Grad gegenüber vom Spunten,<br />
auf der anderen Limmatseite, war die Bierfabrik, das<br />
Löwenbräu-Areal. Jetzt ist dort drin eine Schönheitsfabrik,<br />
vielleicht saugen sie Fett ab, so was gibt es, und ein<br />
Galerientempel. Darüber superteure Wohnungen, Stararchitektur.<br />
Ich war nie drin. Und der Damm ist zu und<br />
wird wohl irgendwann abgerissen oder aufgewertet.<br />
Zu meiner Dienstzeit fuhren dort noch die Rocker<br />
mit der Harley in die Beiz. Und wenn ich auftauchte,<br />
riefen sie – Sheriff, wen musst haben? – Sagte ich – Du,<br />
du und du auch, ihr wisst, wohin. – Jawoll, Sheriff. Betreibungsamt.<br />
– Ich hatte einen Vorführungsbefehl, und sie<br />
wussten, wenn sie nicht spurten, dann marschierten sie.<br />
Solange sie sich an die Regeln hielten, hatten sie Ruhe<br />
und wir auch. So funktionierte das, gegenseitig. Sie wussten,<br />
wenn ich sage – Jetzt musst den Finger rausnehmen<br />
und zahlen –, dann war das so. Sonst hätte ich sie verhaftet.<br />
Der Ton zwischen uns war familiär.<br />
Zu meinem Revier gehörte auch der Casanova. Ein<br />
wahnsinniger Siech, Eisenleger. Wahrhaftig wahnsinnig,<br />
aber meistens war er ruhig. Ich kam gut aus mit ihm,<br />
und viele Frauen standen ja auf den. Der Casanova war<br />
immer auf hundertachtzig, es brannten ihm sehr schnell<br />
die Sicherungen durch. Der hatte massiv psychische<br />
Probleme. Mich verteidigte er immer. Wenn ich am Tisch<br />
sass und einer kam herein und pöbelte mich an, dann<br />
stand der Casanova langsam auf – Sheriff, musst nur melden.<br />
– Sage ich – Alles gut, ich komme schon zurecht.<br />
– Und der andere pöbelt weiter – Wääädääädäbullenverdammtescheissschroterdädäblabla!!!<br />
– Da nimmt der<br />
Casanova einen schweren Metallaschenbecher und<br />
schwartet den über die Theke. Die war grad gespalten.<br />
Und ruft – Hat noch einer Probleme mit dem Freudiger?!<br />
Ich schlag ihm die Fresse ein! – Man musste ihn<br />
sehr vorsichtig runterholen.<br />
Leider konnte ich ihn ja nicht rund um die Uhr<br />
beruhigen.<br />
Der Huerenidiot. In einem ganz schlimmen Anfall<br />
brachte er später seine Frau um. Sie habe immer dreingeschwatzt<br />
beim Fernsehen. Da nahm er ein Kissen, drückte<br />
es ihr aufs Gesicht und setzte sich darauf. Damit sie endlich<br />
ruhig sei. Es soffen ja beide. Wir kamen zu spät.<br />
Es sind ja oft die Frauen, die diese durchgedrehten<br />
Typen ruhigstellen und einigermassen sozialisieren. Sie<br />
sogar auf eine Art mögen. Auch viele Prostituierte sind<br />
unzimperlich und Menschenkennerinnen. Es gab Freier<br />
und Zuhälter, auch gewöhnliche Beizengänger, die hatten<br />
einen gewaltigen Schaden in der Fadenzeine. Die<br />
käuflichen Frauen konnten die Typen so nehmen, dass<br />
sie es schafften, wieder einmal zu entspannen, statt alles<br />
klein zu schlagen. Die müssten doch haufenweise Friedenspreise<br />
bekommen.<br />
Warum will jemand die Peitsche?<br />
Eine kannte ich gut, wir gingen oft bei ihr vorbei, um zu<br />
schauen, ob alles in Ordnung sei. Die Suleika. Sie freute<br />
sich jedes Mal, wenn wir kamen, ohne Kohl. – Nehmt<br />
ihr ein Bierchen? – Gern. – Sie hatte einen Salon für solche<br />
Spezialbehandlungen. Einmal waren wir gerade bei<br />
ihr, da klingelte es. Sie schaute durch den Spion und verfrachtete<br />
uns sofort in die Küche – Ou, der Eisenleger.<br />
Ihr macht keinen Mucks. Ich muss ihn ans Kreuz binden.<br />
– Und nach einer Weile kam sie wieder und flüsterte<br />
– Jetzt könnt ihr etwas lernen. – Du glaubst es nicht,<br />
sie musste den abklöpfen, und wir schauten durch den<br />
Spion. Und ein anderer dieser Spezialisten schaute zu,<br />
durch ein Guckloch. Am Schluss bezahlten beide, der<br />
Suleika rentierte das doppelt. Man nennt das Gruppengeld.<br />
Wahnsinn. Ich fand es nicht ekelhaft, eher traurig.<br />
Irgendwie verzweifelt.<br />
In der Nacht, wenn ich wieder wach liege, frage ich<br />
mich manchmal, was diesen Typen angetan wurde. Was<br />
muss man einem Buben antun, damit er ein so durchgeknallter<br />
Erwachsener wird? Was ist diesen Männern passiert,<br />
dass sie das Kreuz und die Peitsche brauchen, um<br />
ein bisschen glücklich zu sein? Oder was haben sie sich<br />
selber angetan? Immer mehr sind es ja auch Frauen. Das<br />
fragte ich mich schon als Polizist und frage es mich immer<br />
noch, kannst du mir glauben.<br />
Frauen sind seltsame Wesen, denke ich manchmal.<br />
Ich konnte zum Beispiel nie verstehen, warum eine einen<br />
Zuhälter will. Es gibt Männer, die haben eine besondere<br />
Gabe, sie verstehen es extrem gut, Frauen zu manipulieren.<br />
Und machen sie sich gefügig. Manchmal auch abhän<br />
Absolut scharf sehen?<br />
Sven Brülisauer verbindet begeistert seine Vorliebe für<br />
Technologie mit guter Beratung. In seinem Job hat er<br />
diese Leidenschaft vertieft um seinen Kunden noch bessere<br />
Sehlösungen anbieten zu können. So wurde der<br />
diplomierte Augenoptiker zum Spezialist für den DNEye ®<br />
Scanner.«Damit lassen sich die ersten High-Performance-Brillengläser<br />
für absolut scharfes Sehen realisieren.»<br />
VomSehen bis zum Aussehen –bei Kochoptik werden<br />
Sie immer von Spezialisten bedient. Sven Brülisauer ist<br />
einer von ihnen. Wenn Sie also Ihr Sehpotenzial voll ausschöpfen<br />
möchten und eine ausgezeichnete Beratung<br />
wünschen, dann sind Sie bei uns genau richtig.<br />
www.kochoptik.ch<br />
Gratisnummer 0800 33 33 10<br />
24 DAS MAGAZIN 42/2014
10CFXLqw7DQAxE0S_yauz1I45hFBYVVOFLouL-P-o2LGCkAeceR1nDvW1_nfu7GKxK3UVSytKahMOrp7fFgCgkh0y0skPEA_ZoSHWRCcffEJI4xjxMyoPRZ9K1fa_PD90dJwV6AAAA<br />
10CAsNsjY0MDQx0TU2MzKyNAIAXa3upw8AAAA=<br />
26 27<br />
gig, meistens bringen sie zuerst den Schmus und dann Drogen.<br />
Es gibt Frauen, die merken gar nicht, dass der Typ sie ausnimmt.<br />
Sind noch stolz, einen solchen Hengst zu haben. Und<br />
es gibt andere, die haben einfach keine Wahl mehr. Umgekehrt<br />
ist auch möglich, dass die Gockel nicht merken, wie die<br />
Frauen sie benützen.<br />
Die liebe Zora hatte ja auch einmal Scherereien mit<br />
einem, von der Olé-Olé-Bar. Anscheinend hatte sie mit<br />
dem irgendein Arrangement. Er habe ihr das ganze Geld<br />
abgeknöpft, das erzählte sie mir voller Empörung. Vielleicht<br />
hatte der sich getraut, sich aufzuführen wie ihr Zuhälter.<br />
Aber da war er bei der Zora an die ganz Falsche geraten.<br />
Diese kleine Person wehrte sich wie eine Tigerin, mit ihr war<br />
gar nicht gut Kirschen essen.<br />
«Sie Schafseckel»<br />
Es war ja auch die Zora, die sich mit allen Mitteln einsetzte,<br />
als es mir beinahe an den Kragen ging. Die ganze Geschichte<br />
wogte so hoch, dass es mich um ein Haar druntergenommen<br />
hätte. Eine fadengrade falsche Anschuldigung. Es verbreitete<br />
einer, er habe mich aus dem grünen Haus kommen sehen<br />
in Unterhosen. So ein Seich. Aber um einen Ruf zu ramponieren,<br />
kannst jeden Seich verbreiten, das ist nicht schwierig.<br />
Die Zora schaute, dass für mich ausgesagt wurde. Bemerkenswert<br />
ist, dass sie mir half, obwohl sie so wütend auf mich<br />
war. Ich hatte in einem Rapport «Wiederaufnahme der Gewerbsunzucht»<br />
schreiben müssen. Es war einfach zu augenfällig.<br />
Offiziell hatte sie ihren Salon aufgegeben, aber wir<br />
sahen sie ständig auf der Strasse stehen. Heute bin ich mir<br />
gar nicht mehr sicher, ob das richtig war. Vielleicht stand sie<br />
nur dort herum, um mit den Frauen in Kontakt zu bleiben.<br />
Sie war doch so engagiert.<br />
Anscheinend gab es aber ein Gerangel um diesen Käfig.<br />
Das war ja eine durchaus kostspielige Anschaffung. Es rief<br />
eine auf der Wache an, sie habe mit der Zora im gleichen<br />
Salon gearbeitet. Und jetzt sei die Madame ausgestiegen und<br />
habe auch den Käfig abgezügelt, diesen Zwinger einfach mitgenommen.<br />
Er gehöre ihr gar nicht. Wir mussten natürlich<br />
au srücken und einen Rapport machen.<br />
Das nahm sie mir sehr übel. – Herr Freudiger, da isch de<br />
Gipfel! Das stimmt einfach überhaupt nicht, dass ich wieder<br />
im Geschäft bin! Jetzt kommen sie dann vom Steueramt<br />
angerannt. Die Rechnung schicke ich aber grad Ihnen, Sie<br />
Schafseckel. – Von dem Moment an redete sie lange kein<br />
Wort mehr mit mir.<br />
Und dann kam sie eben, diese Katastrophe. Die Zora<br />
hatte die Gefahren unterschätzt. Wie diese Frau drankam!<br />
Das kann ich dir nicht beschreiben.<br />
Wahrscheinlich war es ein Racheakt von Zuhältern. Es<br />
gab eine neue, mächtige Zuhälterbande aus dem Ma ghreb.<br />
Und die Zora konnte doch sehr gut Arabisch und wird<br />
nicht aufs Maul gesessen sein. Ich bin nicht sicher, ob sie nicht<br />
den einen oder andern sogar kannte. Jedenfalls wurde ein Exempel<br />
statuiert, was mit Frauen passiert, die nicht gefügig<br />
sind und frech das Maul so weit aufmachen wie die Hedy.<br />
Zuerst unterschätzte sie die Gefahr, aber dann sah sie<br />
sie sofort kommen. Es war eine dieser schwarzen, verregneten<br />
Nächte. Sie merkte, dass sie verfolgt wurde, und flüch<br />
tete in die Dörfli-Bar. Kannte die Leute dort und bat um<br />
Hilfe. Sogar der Stadtpolizei telefonierte sie, Hauptwache,<br />
die war ja gleich um die Ecke. Leider war ich nicht da, ein<br />
Kollege nahm ab. Und wie es so ist – die Zora telefonierte<br />
halt ständig und prangerte Missstände an. Und wenn sie ins<br />
Reden kam zum Thema Missstände, dann war das ein Wasserfall.<br />
Man konnte sie nicht mehr bremsen. Man hielt den<br />
Hörer ein wenig vom Ohr und machte weiter Kreuzworträtsel,<br />
bildlich gesprochen.<br />
Es ist tragisch. Sie wimmelten sie ab. Es hiess bei der<br />
Polizei – Ja, ja, wir kennen Sie, Frau Zora. Beruhigen Sie<br />
sich. Wegen so einem Seich rücken wir nicht aus. – Und<br />
schickten keine Streife! Die hätten ja nur über die Brücke<br />
fahren müssen.<br />
Sie konnte durch den Hinterausgang der Dörfli-Bar<br />
flüchten, aber dann wurde sie überfallen. In ihrer Wohnung,<br />
ihrem Salon.<br />
Man quälte sie auf unmenschliche Weise.<br />
Danach verschleppten sie sie nach Wipkingen in eine Zuhälterwohnung<br />
und liessen sie dort liegen. Ich sah nur Fotos.<br />
Befreit wurde sie durch einen Glücksfall. Der Kollege<br />
musste genau an diesem Tag, genau in dieser Strasse, genau<br />
in dieses Haus, auf dem genau gleichen Stockwerk eine Strafverfügung<br />
ausstellen gehen. Und hörte etwas, das ihm seltsam<br />
vorkam. Und rief sofort die Kollegen. Die konnten dann<br />
die lebensgefährlich verletzte Frau befreien. Im allerletzten<br />
Moment, sonst wäre sie verdurstet oder verblutet.<br />
Es ist nicht zu fassen, dass Menschen das einander antun<br />
können.<br />
Es ist mir ein grosses Rätsel, wie Männer das Frauen<br />
antun können.<br />
Es ist absolut nicht zu sagen, dass eine Gruppe von Männern<br />
das einer einzigen und wehrlosen Frau antun können.<br />
Kannst du mir bitte das Wasserglas dort drüben reichen?<br />
Und mit dieser Geschichte war noch nicht genug. Das<br />
Leben hielt noch mehr Albträume für sie auf Lager.<br />
Und wenn man sie heute sieht – sie lächelt doch immer.<br />
Sie ist hübsch und gepflegt und immer freundlich zu allen.<br />
Spaziert mit ihrem Päuli und dem Hund durch die Gassen<br />
und hat für alle ein gutes Wort. Das ist für mich das grösste<br />
Wunder. <br />
•<br />
«Freudenfrau – Die Geschichte der Zora von Zürich» erscheint<br />
am 21. Oktober im Wörterseh Verlag.<br />
SUSANNA SCHWAGER liest im Rahmen von «Zürich liest» am<br />
23. Oktober um 20.30 Uhr im Cabaret Voltaire in Zürich aus ihrem Buch.<br />
Musikalisch umrahmt den Abend Nadja Zela.<br />
www.susannaschwager.ch<br />
„Das bietet nur<br />
mein Schiff.“<br />
MOZZARELLA<br />
Empfohlen durch<br />
Recommandé par<br />
Raccomandato da<br />
Service Allergie<br />
DUBAI MIT BAHRAIN/<br />
DUBAI MIT MUSCAT<br />
Mein Schiff 2<br />
November 2014 bis März 2015<br />
7 Nächte inkl. Flug ab1.295 € **<br />
Rund um Ihre Wünsche herum gebaut. Entdecken Sie das Wohlfühlschiff<br />
auf unseren Orient-Routen.<br />
Jetzt buchen unter www.tuicruises.com oder in Ihrem Reisebüro.<br />
Besser lassen sich<br />
Genuss und Wohlbefinden<br />
nicht<br />
kombinieren:<br />
der laktosefreie<br />
aha! Mozzarella.<br />
migros.ch/aha<br />
––––––––––––––––––––––––––––––––––––<br />
* Im Reisepreis enthalten sind ganztägig in den meisten Bars und Restaurants ein vielfältiges kulinarisches Angebot und Markengetränke in Premium-Qualität sowie Zutritt<br />
zum SPA & Sport-Bereich, Kinderbetreuung, Abendunterhaltung und Trinkgelder. | **Flex-Preis (limitiertes Kontingent) p. P. bei 2er-Belegung einer Innenkabine und inkl. Flug<br />
nach Verfügbarkeit mit allen Abgaben und Zuschlägen auch zur Luftverkehrssteuer sowie Transfers. | TUI Cruises GmbH · Anckelmannsplatz 1 · D-20537 Hamburg<br />
So gut schmeckt laktosefrei.
IHR GANZ<br />
PERSÖNLICHER PREIS<br />
Einer der grössten kapitalistischen Träume ist grade dabei, in Erfüllung zu gehen:<br />
der individualisierte Preis für Dienstleistungen und Produkte.<br />
BILD: DENIS DARZACQ / AGENCE VU<br />
Text HANNES GRASSEGGER<br />
Die Zeichen dafür, dass sich das kapitalistische Nirwana nähert,<br />
mehren sich. Florian Stahl sieht sie, überall. Beim Einkauf im<br />
Netz, in den USA, in Deutschland. Er ist vom Fach: Ex-HSGler,<br />
heute Inhaber des Lehrstuhls für Quantitatives Marketing und<br />
Konsumentenanalyse, Universität Mannheim. Er sammelt die<br />
Indizien. Beispielsweise kürzlich in New York, als er sich bei<br />
booking.com ausloggte, die Cookies löschte, dann die Anfrage<br />
noch mal startete, diesmal anonym, da war das gleiche Hotelzimmer<br />
plötzlich günstiger. Weil der Algorithmus ihn nicht mehr<br />
identifizieren konnte, schlug er ihm einen anderen Preis vor.<br />
«Die Preismechanismen sind dabei, sich zu ändern», sagt Stahl,<br />
«und zwar fundamental.»<br />
In Prenzlauer Berg, in der Winsstrasse, im Supermarkt Kaiser’s,<br />
wo sich früher Berlin zum Flirten traf, drängen sich Architekten,<br />
Omas und coole Jungs vor einem roten Ständer mit einem<br />
Bildschirm. Sie halten eine Karte vor den mannshohen Apparat.<br />
Weisses Licht streichelt ihre Hände, ihre Extrakarte wird gescannt,<br />
ein leises Summen begleitet das Erscheinen des Bons. Darauf<br />
ihre Preisabschläge.<br />
Auch ich checke ein in die Betaphase der «Dritten Industriellen<br />
Revolution». Schon bald soll der Supermarkt-Algorithmus<br />
28 DAS MAGAZIN 42/2014<br />
29
30 31<br />
mich verstehen, meine Wünsche vorhersagen können, aber noch<br />
kennt er mich nicht. Er hat ja bisher keinen einzigen Kassenzettel<br />
von mir gescannt, nur meine neue Extrakarte. Der Erfolg<br />
dieser neuartigen Kundenkarte sorgt grade für Aufregung in der<br />
Welt des Detailhandels. Ein Drittel der Stammkäufer von Kaiser’s<br />
wurden Nutzer in den zwei Monaten seit der Einführung.<br />
Sensationell. Mein Ausdruck zeigt «Ihre persönlichen Angebote<br />
heute»: Neue Preise – je 20 Prozent Abschlag – für Harry-Brot<br />
(noch nie gehört) und Bärenmarke Die Alpenfrische Vollmilch<br />
(dachte, die machen nur Kaffeesahne); für Barilla-Nudeln gibt<br />
es 30 Prozent off, für Ritter Sport und Lätta-Margarine sogar 40.<br />
Vor gut hundert Jahren beobachtete Arthur Cecile Pigou,<br />
Professor in Cambridge, ein seltsames Phänomen: Er sah ins<br />
Herz des Kapitalismus, und es war leer. Der Preis, um den sich<br />
die Marktwirtschaft dreht – ein System der freien Preise –, existierte<br />
in Wahrheit gar nicht. In «The Economics of Welfare» von<br />
1920 beschrieb Pigou seine Beobachtung im Kapitel «Das spezielle<br />
Problem der Eisenbahntarife»: Für eine identische Leistung,<br />
die gleiche Bahnfahrt von A nach B, zahlen Menschen<br />
freiwillig verschiedene Tarife, je nach Klasse. Pigou sah viele<br />
Marktpreise für die gleiche Fahrt. Er leitete daraus ab, was für<br />
die Ökonomie heute so elementar ist wie die Unschärferelation<br />
für die Physik: Es gibt keinen objektiv richtigen Preis einer Ware.<br />
Es gibt einzig persönliche Werteinschätzungen.<br />
«Preisdiskriminierung» nannte Pigou die Unterscheidung von<br />
Menschen je nach den verschiedenen Preisen, die sie für das gleiche<br />
Produkt zu zahlen bereit sind. Für Händler ist sie eine wunderbare<br />
Möglichkeit, um mehr für die gleiche Leistung zu kassieren.<br />
Pigou fand drei Stufen. Auf der obersten Stufe, der «Preisdiskriminierung<br />
ersten Grades», könnten Anbieter jedem einzelnen<br />
Käufer seinen Höchstpreis für die Bahnfahrt setzen – und ihm so<br />
alles abnehmen, was er zu zahlen bereit ist. Fort an lernte jeder<br />
Ökonomiestudent totale Preisdiskriminierung als den heiligen<br />
Gral des Kapitalismus kennen. Im Vergleich dazu sind Festpreise<br />
ein archaisches Mittel der Marktsteuerung.<br />
An der Kaiser’s-Kasse zeige ich die Extrakarte. Piep. Registriert.<br />
Jeder Kauf verändert theoretisch meine zukünftigen Preise,<br />
also Ladenpreis minus persönlicher Rabatt. Ich bin erst mal auf<br />
keines der Angebote eingegangen. Weder Lätta noch Ritter Sport.<br />
Am Scanner hole ich mir den nächsten Bon. Wieder das gleiche<br />
Angebot. Dreimal muss ich da durch. Dann ist der Algorithmus<br />
angeblich so weit. Nächster Testkauf.<br />
Absolute Preisdiskriminierung schien bisher im Massenmarkt<br />
aus zwei Gründen unerreichbar. Fixe Preise schaffen – wie<br />
einheitliche Krankenkassenprämien – einen versteckten Sozialvertrag.<br />
Hinter Einheitspreisen in Supermärkten, Bahnhöfen und<br />
Drogerien steckt ein Gesellschaftskonzept: Alle Käufer sollen<br />
gleich sein. Einheitspreise schaffen Gewinner und Verlierer – dem<br />
Einheitspreise schaffen Gewinner und Verlierer – dem einen ist etwas eigentlich mehr wert,<br />
dem nächsten fast zu teuer. So subventionieren wir einander von Joghurtkauf zu Taxifahrt.<br />
einen ist etwas eigentlich mehr wert, dem nächsten ist es fast zu<br />
teuer. So subventionieren wir einander von Joghurtkauf zu Taxifahrt.<br />
Am meisten profitiert der Durchschnittskonsument, die<br />
Mittelklasse. Zudem waren im Massenmarkt personalisierte Preise<br />
technisch unmöglich, sagt Florian Stahl, da sie das Wissen über<br />
die Wertschätzung des Käufers für ein bestimmtes Produkt zu<br />
einem bestimmten Moment voraussetzen. In diese Wertschätzung<br />
kann theoretisch alles einfliessen. Bis hin zur Wetterlage, wie<br />
bei Eis oder Jacken. «Den individuellen Höchstpreis zu erkennen<br />
ist eigentlich ein unendliches Problem.»<br />
Pepsi- oder Cola-Liebhaber?<br />
Im Alltag entsprachen Preise bisher dem geschätzten Wert dessen,<br />
was unterschiedliche Käufer im Schnitt zu zahlen bereit sind.<br />
Bis die Computer kamen, das Internet, Facebook, Google, Scanner,<br />
Produkt-IDs, In-Store-Cams, Smartphones – ein Arsenal<br />
zur Datafizierung von Personen, deren Vorlieben, Verwandtschaftsverhältnissen,<br />
Jobs, Bewegungsmustern, Wertvorstellungen.<br />
Seit kurzem gibt es nun Algorithmen, die Big Data zusammenrechnen<br />
können zu «dynamischen Preisen», welche sich ihrer<br />
Umgebung anpassen, wie zuerst die Flugpreise, dann die Hotelpreise,<br />
die Elektrizitätspreise. Jetzt deutet sich an, dass sich alles<br />
herunterbrechen lässt auf den Einzelnen. Es ist, als ob ein Märchen<br />
wahr werden würde. Oder eine Schauergeschichte.<br />
Das Klingelschild ist golden, Oderberger Strasse 44, beste<br />
Lage in Prenzlauer Berg, direkt neben dem Modeladen «Kauf<br />
Dich Glücklich». SO1, steht an der Klingel, kurz für «Segment<br />
of One». Während in den USA bereits über die Hälfte aller Handelsunternehmen<br />
mit sogenannten Price-Intelligence-Verfahren<br />
und dynamischen Preisen experimentieren, bereits jeder zwanzigste<br />
Preis personalisiert ist, während in Frankreich die Preisschilder<br />
zunehmend durch Digitalanzeigen ersetzt werden, ist<br />
das Berliner Start-up SO1 einer der ersten deutschen Anbieter für<br />
totale Preisdiskriminierung.<br />
Hier arbeiten fünfzehn Statistiker, ITler, Ökonomen, Leute,<br />
die Google und Henkel verlassen haben, um die grosse Vision zu<br />
realisieren. Sie stecken hinter den roten Automaten in derzeit<br />
dreissig Berliner Kaiser’s-Testmärkten. Die Extrakarte sei eigentlich<br />
wie ein physischer Cookie, erklärt der junge CEO und Mitgründer<br />
Raimund Bau. SO1 trage die absolute Preisdifferenzierung<br />
aus dem Netz, wo Amazon oder Zalando längst so arbeiteten,<br />
nun in die physische Welt. Die Karten hätten eine anonyme<br />
Kundennummer. Man brauche im Gegensatz zu anderen Kundenkarten<br />
keine persönlichen Informationen wie Namen oder<br />
Adresse, darauf ist Bau stolz. Erfasst würden an der Kasse nur<br />
Kaufzeit, Produktnummer, Kartennummer und der gezahlte<br />
Preis. «Bei uns laufen die Daten aus den Kassen zusammen. Dann<br />
setzt das Machine Learning zu den Kundennummern ein. Wir<br />
können beispielsweise identifizieren, wer ein Pepsi-Käufer ist,<br />
sogar wenn er nie Pepsi bei Kaiser’s gekauft hat.» Das ergebe<br />
sich allein aus der erfassten Kombination gekaufter Produkte.<br />
Jedes Produkt sei ein statistischer Hinweis auf andere Produktvorlieben.<br />
Wie Weleda-Shampoo auf Bio-Obst hinweist. «Drei<br />
Einkäufe in vier Wochen genügen, um dich einzuschätzen.» Und<br />
mittels Preisen durch Märkte zu steuern.<br />
Auf Basis der Wahrscheinlichkeiten, die aus Testmärkten bekannt<br />
seien, könnten nicht nur Vorlieben errechnet werden, so<br />
Bau, sondern auch die persönliche Zahlungsbereitschaft und<br />
Wir finden für jeden Kunden die richtige Hypothek.<br />
Wir setzen<br />
ein Zeichen<br />
für Ihre Treue.<br />
Sunrise bedankt sich bei ihren Kunden nach<br />
einem Jahr mit einem Treuevorteil, von dem<br />
Sie Monat für Monat profitieren.<br />
Jetzt auswählen auf sunrise.ch/danke<br />
Wirklich für jeden.<br />
Die beste Hypothek dank unabhängiger Beratung<br />
und Angeboten von über 70 Banken.<br />
Alle Konditionen von Sunrise Rewards finden Sie auf sunrise.ch/danke<br />
www.moneypark.ch
10CFWLqw7DMBAEv-isPXvvkRhWYVFBFW4SBef_Ud2wgiUzs_vereDZa3sf26crlJTmTJ98sVLDtSeiZLTFp0fW2awa5o0R_ncRMqsB49eIQpBDTYzCGAqaU1nu8_oCwX21NnoAAAA=<br />
10CAsNsjY0MDQx0TU2M7EwMwAAtAqE5g8AAAA=<br />
Preissensibilität. Für Absatzförderungen erhalte SO1 von Händlern<br />
und Produzenten Promotionskapital zur Verfügung. «Wenn<br />
wir den Cola-Absatz erhöhen wollen, finden wir heraus, ob du<br />
als Pepsi-Liebhaber für Cola ein potenzieller Kunde bist. Ob du<br />
es wiederholt kaufen würdest, wenn du es einmal ausprobierst.<br />
Wie viel wir dir zahlen müssten, um dich zum Cola-Kauf zu<br />
bringen.» Lohne sich der Kunde für Cola, biete man ihm an den<br />
roten Automaten genau den passenden Preisnachlass für Cola.<br />
Das Resultat seien individuelle Preise. Es werde möglich, dass<br />
zwei Käufer mit dem gleichen Warenkorb an der Kasse zwei verschiedene<br />
Beträge zahlen.<br />
Heute arbeite SO1 noch mit Bons, bald werde vieles über<br />
Apps laufen. «PayPal, Mastercard, vielleicht auch Google arbeiten<br />
sicherlich an ähnlichen Technologien», glaubt Bau. Absolute<br />
Preisdiskriminierung sei eine weltweite Bewegung, die kaum<br />
aufzuhalten sei, weil in gesättigten Märkten wie dem Lebensmittelhandel<br />
der Preiswettkampf der einzige Weg sei, um Absätze zu<br />
steigern. « ‹Persil wäscht jetzt noch weisser› zieht nicht mehr»,<br />
sagt Bau. Und altbekannte Promotionen via Coupons oder<br />
Rabattmarken hätten aufgrund der Streuung kaum Effekt. Etwa<br />
ein Prozent aller Rabattmarken würden eingelöst in Deutschland.<br />
Vor allem von Leuten, die sowieso das Produkt kaufen würden.<br />
Personalisierte Angebote seien quasi die letzte Möglichkeit,<br />
Absätze zu steigern. Die Extrakarte bringe pro Nutzer Umsatzsteigerungen<br />
im höheren zweistelligen Prozentbereich. Für Bau<br />
eine Win-win-win-win-Situation für Kunde, Händler, Produzent<br />
und SO1.<br />
Unsere Daten im Kundenkartensystem<br />
Das will sich auch IBM nicht entgehen lassen. Allerdings arbeitet<br />
man dort weltweit. DemandTec heisst die eigene Software<br />
für Dynamic Pricing. Grosse Ketten, Lebensmittelhändler, Drogerien<br />
oder Baumärkte sollen sie nutzen, um ihre Preise auf Basis<br />
von persönlichen Kaufmustern, Konkurrenzpreisen oder anderen<br />
Einflüssen ständig zu optimieren. Das ermöglicht verschiedene<br />
Preise von Supermarkt zu Onlineshop zu Mobilgerät oder<br />
zwischen verschiedenen Verkaufsgebieten. Eine zweite IBM-Software<br />
namens Xtify bietet Techniken, um Kunden jederzeit ortsbezogen<br />
mit Angeboten anzusprechen.<br />
Shops haben sich derweil zu veritablen Überwachungsdiensten<br />
entwickelt mit dem Ziel, Kunden bis ins Detail auszuforschen.<br />
Schon heute weiss kaum jemand mehr über die Schweizer als<br />
Migros und Coop, über ihre Allergien, Aufenthaltsorte, Vorlieben,<br />
Familienstrukturen, Adressen. 80 Prozent aller Einkäufe können<br />
die beiden Ketten einem Haushalt zuordnen, dank der Kundenkarten.<br />
Es könnte erst der Anfang sein: Nach Angaben des Eidgenössischen<br />
Datenschutzbeauftragten testet eine «Schweizer<br />
Ladenkette» aktuell Kameras mit Gesichtserkennung, um das<br />
Kundenverhalten an den Verkaufsregalen individuell zu beobachten.<br />
Bei der US-Kette Safeways nutzen fast die Hälfte aller<br />
Kunden eine App, die ihnen im Supermarkt spezifische Nachlässe<br />
anzeigt, beruhend auf der eigenen Shoppingvergangenheit.<br />
So entstehen personalisierte Preise. Dank des entwickelten Kundenkartensystems<br />
ist die Schweiz dafür optimal positioniert.<br />
Ich habe Harry-Brot und Barilla-Nudeln verbilligt gekauft.<br />
Die beiden Angebote fehlen jetzt auf dem dritten Ausdruck. Sonst<br />
ist alles beim Alten. Noch ein Einkauf, dann kann ich sehen, was<br />
der Kaiser’s-Algorithmus von mir denkt. Ob er mir Cola anbietet?<br />
Es ist ein Dominoeffekt. Weltweit fällt derzeit ein Fixpreis<br />
nach dem anderen. 2020 sollen in den USA bereits drei von zehn<br />
Preisen personalisiert sein. Amazon und Coca-Cola experimentieren<br />
damit, Elektrizitätsanbieter, Supermärkte und Baumarktketten.<br />
Auch bei den Olympischen Spielen in London 2012<br />
passten sich Stadionpreise der Nachfrage an. Der neuerdings in<br />
Genf und Zürich aktive Mitfahrservice Uber, der derzeit global<br />
das Taxigeschäft umkrempelt mit auf den ersten Blick günstigen<br />
Preisen, berechnet fein differenzierte Tarife. Multiplikatoren wie<br />
der zwei-, drei- oder auch mal siebenfache Preis beruhen auf erhöhter<br />
Nachfrage. Nachdem erschreckte Kunden über unerwartet<br />
horrende Preise geklagt hatten, sah sich der Uber-Chef persönlich<br />
zu einer Videobotschaft genötigt, in der er davon abrät,<br />
zu gewissen Zeiten seinen Service zu nutzen. Die Preissteigerung<br />
sei ja in Wahrheit zugunsten der Kunden, ein Mittel, um<br />
mehr Fahrer auf die Strassen zu bringen. Dann wurden Fälle<br />
bekannt, in denen Uber seine Fahrer sogar von der Strasse holte,<br />
um die Preise künstlich hochzutreiben. Als kürzlich weltweit Taxifahrer<br />
auf die Strasse gingen, wütend auf vorbeirollende Uber-<br />
Limousinen eintraten, waren das Proteste gegen ein Preismodell,<br />
welches nicht nur das Potenzial hat, die Wirtschaft anzukurbeln.<br />
Es könnte Wohlhabenden besondere Vorteile verschaffen<br />
und die Durchschnittstypen hart treffen, wie Tyler Cowen<br />
schreibt, der Autor des Buches «Average Is Over». Es könnte<br />
uns einem Leben in Unsicherheit und Abhängigkeit ausliefern.<br />
«Von der Ernährung über die Mobilität bis zur Energieversorgung<br />
sind elementare Bereiche unseres Lebens von den neuen Preismodellen<br />
betroffen», meint der St. Galler Ökonom und Zukunftsforscher<br />
Joël Cachelin. Und diese Preise würden von uns unbekannten<br />
und un überprüfbaren Kriterien bestimmt. Die bedrohlichste<br />
Möglichkeit wäre die Verknüpfung aller Informationen<br />
über Firmen und Netzwerke hinweg. Jede unserer Handlungen<br />
und Äusserungen, auch vergangene, würde so den Preis beeinflussen,<br />
den wir für etwas zahlen. Das Netz würde zu einer Art<br />
Credit History, wie Kritiker des neuen, netzumspannenden<br />
Facebook-Werbedienstes Atlas befürchten. «Die Zeiten des Sozialvertrags<br />
im Preis gehen zu Ende», denkt Florian Stahl. Zukünftig<br />
könnten Menschen be ginnen, Identitäten zu tauschen, um niedrigere<br />
Preise zu zahlen.<br />
In Dänemark bietet derzeit der Reiseveranstalter Spies Sonderpreise<br />
für Paare, die in ihren Ferien nachweislich ein Kind zeugen.<br />
Der Werbegag ist ein Versuch, mit Preisen einem der grössten<br />
Probleme Dänemarks zu begegnen: dem Mangel an Nachwuchs.<br />
Preise sind eines der wichtigsten Steuerungsmittel unserer<br />
Gesellschaft. Sie sind Politik. Brotpreise starten Revolutionen.<br />
Was aber passiert mit einer Gesellschaft, deren Preissystem sich<br />
komplett ändert?<br />
Nach dem dritten Einkauf gehe ich zum Automaten, um endlich<br />
mein persönliches Angebot zu erhalten. Das Licht des Scanners<br />
wärmt meine Hand. Mein Rabatt erscheint mit sanftem Summen.<br />
20 Prozent auf Bärenmarke-Milch, 40 Prozent auf Lätta-<br />
Margarine.<br />
•<br />
Der Ökonom HANNES GRASSEGGER beschreibt den digitalen Wandel<br />
unseres Lebens. Kürzlich erschien von ihm «Das Kapital bin ich» (Kein & Aber).<br />
hns.grassegger@gmail.com<br />
RACLETTE-<br />
ÖFELI-PIZZA IST DER<br />
TOAST HAWAII<br />
DIESER GENERATION.<br />
Das Inserat. Jeden effizient erreichen.<br />
David O.<br />
Teilen auch Sie der Schweiz etwas mit. Entweder auf SagesderSchweiz.ch<br />
oder via Hashtag. Und schon bald könnte Ihre Botschaft in einem<br />
Inserat wie diesem stehen. Weitere Teilnahmeinfos gibt’s auf der Website.<br />
Eine Aktion der<br />
32 DAS MAGAZIN 42/2014
Taxifahren als Kunstform: Riccardo Paratores Aktion «Don’t talk to the driver» in Köln<br />
HANS ULRICH<br />
OBRIST<br />
NO TAXI NO CRY<br />
Ich fahre ja eher selten Taxi. Londoner Busfahrten<br />
dagegen liebe ich. Meistens gehe ich aber zu Fuss,<br />
meine Wohnung liegt nicht allzu weit von meinem<br />
Arbeitsplatz entfernt, sodass ich jeden Morgen einen<br />
schönen Spaziergang durch den Park machen kann.<br />
Überhaupt ist London eine Stadt, in der man viel<br />
zu Fuss läuft. Oft geht das sogar schneller, denn<br />
das Hauptproblem des Taxifahrens ist – neben<br />
den Abgasen, die man produziert – der Stau. Umso<br />
besser sollte man die Zeit nutzen, in der man im<br />
Verkehr feststeckt. Ich erinnere mich gut daran, wie<br />
vor einigen Jahren der damals noch unbekannte<br />
Künstler Ed Atkins zu uns in die Serpentine Gallery<br />
kam, um sein Werk zu zeigen. Ich hatte mich verspätet<br />
und dann keine Zeit mehr, mich mit ihm<br />
hinzusetzen, weil ich gleich woanders hinmusste,<br />
also schlug ich ihm vor, doch einfach mit ins Taxi<br />
zu steigen und mir seine Sachen dort zu zeigen,<br />
quasi als Atelierbesuch auf dem Autorücksitz.<br />
Das geräumige Abteil des Londoner Cabs erwies<br />
sich als ausgezeichneter Präsentationsort für<br />
Kunst, eine Entdeckung, die auch der junge Künstler<br />
Riccardo Paratore gemacht haben muss, als er<br />
im vergangenen Jahr in Köln und London sein Publikum<br />
in Taxis setzte, die es durch die Stadt fuhren,<br />
während eine Tonbandaufnahme abgespielt<br />
34<br />
DAS MAGAZIN 42/2014<br />
wurde. Der Künstler Anri Sala wiederum verteilte<br />
auf Biennalen die Nummer des Fahrers eines präparierten<br />
Taxis, das den Fahrgast, während er in<br />
Frankfurt, Miami oder Paris im Stau stand, mit<br />
dem Lärm eines Formel-1-Rennens beschallte.<br />
Den Titel der Arbeit – «No Formula One No Cry»<br />
– kann man als Anspielung auf das nervtötende<br />
Stop-and-go in verstopften Innenstädten deuten,<br />
wenn einen die Fantasie beschleicht, in einem<br />
Rennwagen in irrwitziger Geschwindigkeit alle anderen<br />
zu überholen. In London jedoch könnte der<br />
Stau bald der Vergangenheit angehören. Der Investor<br />
Nathaniel Rothschild hat eine App entwickelt,<br />
welche die Zielorte der Fahrgäste und die<br />
Strecke der Black Cabs so aufeinander abstimmt,<br />
dass mehrere Personen in einem Auto und dadurch<br />
auch insgesamt weniger, aber schnellere Taxis auf<br />
den Strassen unterwegs sind. Zur Kunstbetrachtung<br />
auf dem Rücksitz bleibt dann freilich weniger<br />
Platz und Zeit.<br />
Hans Ulrich Obrist ist Kurator und Co-Direktor der<br />
Serpentine Galleries in London.<br />
BILD: HARTWIG SCHWARZ<br />
«Das Magazin» ist die wöchentliche<br />
Beilage des «Tages-Anzeigers»,<br />
der «Basler Zeitung», der «Berner<br />
Zeitung» und von «Der Bund»<br />
HERAUSGEBERIN<br />
Tamedia AG, Werdstrasse 21, 8004 Zürich<br />
Verleger: Pietro Supino<br />
REDAKTION Das Magazin<br />
Werdstrasse 21, Postfach, 8021 Zürich<br />
Telefon 044 248 45 01<br />
Telefax 044 248 44 87<br />
E-Mail redaktion@dasmagazin.ch<br />
Redaktionsleitung:<br />
Chefredaktor: Finn Canonica<br />
Redaktion: Birgit Schmid (Leitung),<br />
Sacha Batthyany, Martin Beglinger,<br />
Daniel Binswanger, Mathias Ninck,<br />
Anuschka Roshani<br />
Artdirektion: Michael Bader<br />
Gestaltungskonzept:<br />
Annina Mettler / Jonas Voegeli<br />
Bildredaktion: Frauke Schnoor /<br />
Studio Andreas Wellnitz<br />
Berater: Andreas Wellnitz (Bild)<br />
Abschlussredaktion: Isolde Durchholz<br />
Redaktionelle Mitarbeit:<br />
Sven Behrisch, Anja Bühlmann,<br />
Miklós Gimes, Dominik Gross,<br />
Max Küng, Trudy Müller-Bosshard,<br />
Mathias Plüss, Paule Scheidt,<br />
Christian Seiler, Thomas Zaugg<br />
Honorar: Claire Wolfer<br />
VERLAG Das Magazin<br />
Werdstrasse 21, Postfach, 8021 Zürich<br />
Telefon 044 248 41 11<br />
Verlagsleiter: Walter Vontobel<br />
Lesermarkt: Annemarie Ita (Leitung),<br />
Nicole Ehrat (Leitung Leserservice)<br />
Werbemarkt: Walter Vontobel (Leitung),<br />
Jean-Claude Plüss (Anzeigenleitung),<br />
Claudio Di Gaetano, Catherine Gujan<br />
(Gebietsver kaufsleitung), Michel Mariani<br />
(Agenturen), Katia Toletti (Romandie),<br />
Esther Martin-Cavegn<br />
(Verkaufsförderung)<br />
Werbemarktdisposition:<br />
Jasmin Koolen (Leitung), Selina Iten<br />
Anzeigen:<br />
Tamedia AG, ANZEIGEN-Service,<br />
Das Magazin, Postfach, 8021 Zürich<br />
Telefon Deutschschweiz 044 248 41 31<br />
Telefon Westschweiz 044 248 52 72<br />
anzeigen@dasmagazin.ch<br />
www.mytamedia.ch<br />
Trägertitel:<br />
«Tages-Anzeiger», Werdstrasse 21,<br />
Postfach, 8021 Zürich,<br />
Tel. 044 404 64 64,<br />
abo@tagesanzeiger.ch;<br />
«Berner Zeitung», Tel. 0844 844 466,<br />
abo@bernerzeitung.ch;<br />
«Basler Zeitung», Tel. 061 639 13 13,<br />
abo@baz.ch;<br />
«Der Bund», Tel. 0844 385 144,<br />
abo@derbund.ch<br />
Nachbestellung: redaktion@dasmagazin.ch<br />
Ombudsmann der Tamedia AG:<br />
Ignaz Staub, Postfach 837, CH-6330 Cham 1<br />
ombudsmann.tamedia@bluewin.ch<br />
Bekanntgabe von namhaften<br />
Beteiligungen (i. S. v. ART. 322 STGB):<br />
20 Minuten AG, 20 minuti Ticino SA,<br />
Berner Oberland Medien AG BOM,<br />
Brandstore FF AG, car4you Schweiz AG,<br />
CIL Centre d’Impression Lausanne SA,<br />
Distributionskompagniet ApS, Doodle AG,<br />
DZB Druckzentrum Bern AG, DZO<br />
Druck Oetwil a.S. AG, DZZ Druckzentrum<br />
Zürich AG, Edita S.A., Editions Le<br />
Régional SA, ER Publishing SA, Espace<br />
Media AG, FashionFriends AG, Glattaler<br />
AG, homegate AG, JobCloud AG,<br />
Jobsuchmaschine AG, LC Lausanne-cités<br />
S.A., Le Temps SA, LS Distribution<br />
Suisse SA, MetroXpress Denmark A/S,<br />
Olmero AG, Romandie Online SA en<br />
liquidation, Schaer Thun AG, search.ch<br />
AG, Société de Publications Nouvelles<br />
SPN SA, Soundvenue A/S, Swiss Classified<br />
Media AG, Tagblatt der Stadt Zürich AG,<br />
Tamedia Publications romandes SA,<br />
tutti.ch AG, Verlag Finanz und Wirtschaft<br />
AG, Zürcher Oberland Medien AG,<br />
Zürcher Regionalzeitungen AG<br />
GELESEN<br />
GELESEN<br />
Bei Platzmangel keimt Aggressivität auf<br />
Drei Beiträge aus dem Tages-Anzeiger.<br />
Gedruckt, online, als App und in unserer Vielfalt an Blogs.<br />
Die verstopftesten S-Bahnen<br />
GELESEN<br />
Körperkontakt macht glücklich
TRUDY MÜLLER–BOSSHARD<br />
1 2 3 4 5<br />
6 7 8 9 10 11<br />
12 13 14 15 16 17<br />
18 19<br />
20 21 22<br />
23 24 25 26 27 28<br />
29 30 31 32 33<br />
34 35 36<br />
37 38 39<br />
40 41<br />
ER IRRTE BEZÜGLICH EISDECKENDICKE:<br />
Die Lösung ergibt sich aus den grauen Feldern waagrecht fortlaufend.<br />
WAAGRECHT (J + Y = I): 6 Bewegt sich gedämpften Schrittes – der Belag! – auf seiner Etage. 12 Was Macbeth im Laufe des Dramas überkam:<br />
erhebend. 18 Gesetzesbrecher durch deklarierte Mehrwertselbsteinschätzung. 19 Sie bedient herbstens die Presse. 20 Register, bei dem der Bass<br />
passt. 21 Ein Stück Schottenstoff? Liegt Hussein zu Füssen! 23 Simon, kein Mann für höchste Töne. 25 Von Guesch Patti besungene Stefan-<br />
Variante. 27 Zwischenhalt auf dem Weg zum Schlachthaus. 29 Worauf harrender Mietwagenfahrer hofft. 30 Kirchenvermehrung aufgrund von<br />
Disput über Lehre. 33 Gab lang vor Kevin den bemützten Schützen. 34 Befördern Zürcher und Basler gleichermassen. 35 Monumentalfilmstar –<br />
komplettiert Gaumenschmeichler Blumenthal. 36 Gefragte Zsa Zsa trägt Greta in sich. 37 Was an ihr hängt: Unterkühlte tuns ihm, sagt man,<br />
gleich. 38 Weswegen überkonsequente Veganer Studentenfutter meiden. 39 Ein deutscher deutscher Schäfer etwa. 40 Hatte, mit etwa Aston<br />
Martin beginnend, Gold in der Kehle. 41 Nicht Heulsuse, sondern Herbstfestmiss.<br />
SENKRECHT (J + Y = I): 1 Sitzt einem als Steuerberater zur Seite. 2 Trübsinn, der zur Hälfte Kamin. 3 Gewesene Zweierkisten? Bürgenpflicht!<br />
4 Ihr Arbeitsplatz ist auch meiner. 5 Worunter Mister Sinn versteht: dabei verwendetes Gerät. 6 Enthält seitenweise Stellungsspielanleitungen.<br />
7 Schlot oder klassisches Hilfszeitwort. 8 Grüne Witwe kann damit nicht rechnen. 9 Affirmation ist im Westen von Dunkerque Teil von<br />
gestern. 10 Drama-Queen findet dafür überall eine Bühne. 11 Siecher Riecher fällt in ihr Ressort. 13 Wobei der Auswuchsbekämpfer zum<br />
Schaumschläger wird. 14 Ist Putin egal. 15 Textmerkvermögen spielt bei ihr keine Rolle. 16 Wird, süss oder würzig, vor dem Reichen gestürzt.<br />
17 Auf seine Anfänge reduzierter Tom-Cruise-Guru. 22 Notrettergebot – von geschrieben: gewesener Abwehrpatron. 24 Im Westen ist Zeit<br />
auch Zeitung und Wetter. 26 Kapitän oder gesuchter Fisch – beide fiktiv. 28 Hat, dem Zweck zwar ähnlich, mehr Gravitas als das Fähnchen.<br />
31 Hat – auch ein fremder Frommer – in der Serie mehr als eine Phobie. 32 Der Mann ist in jedem Stand präsent.<br />
LÖSUNG Nº 41: RANDREGION<br />
WAAGRECHT (J + Y = I): 8 BUEROKRATIEABBAU. 13 MASKENBILDNERIN. 18 SIMSEN. 19 HOLLAENDER. 20 EINARMIG.<br />
23 BRINDISI. 24 BARREL. 25 Musicaltexter Tim RICE («Evita»). 26 OLEA (Olivenbaum), Anagramm: Aloe. 28 EST (franz. für Osten).<br />
29 BILLET(-doux = Liebesbrief). 31 HIHI. 32 Aria (engl. für Arie) in VARIA. 34 NUDA (ital. für nackt). 35 Herb RITTS (US-Fotograf).<br />
36 ELYSÉE (Ségolène Royal). 38 DINERO (span. für Geld [regiert die Welt]). 39 MIESMACHEREI. 40 ADRETT.<br />
41 Mathias GNAEDINGER (Kommissär Hunkeler).<br />
SENKRECHT (J + Y = I): 1 KUMMERBUND. 2 ARSÈNE (Wenger [Arsenal-Trainer]/Lupin). 3 ARNO, Anagramm: Nora. 4 STIL(-bruch).<br />
5 ZEDER(-nrevolution im Libanon). 6 ABREDE. 7 HUNDSTAGE. 8 «Rule BRITANNIA». 9 «EASY RIDER». 10 KEHRREIM.<br />
11 ABLICHTEN. 12 «ANNIE Get Your Gun». 14 KNALLROT. 15 «LA BOHÈME». 16 Dame EDNA. 17 IRISIEREN. 21 MITTIG.<br />
22 GEISS (Bärli in «Heidi»). 27 (De-)LILA. 30 LAREN. 32 Veni, Vidi, VICI. 33 ASH (engl. für Asche). 37 EEG (Abk. für Elektro enzephalografie).<br />
HELPLINE FÜR RATLOSE: Sie kommen nicht mehr weiter? Wählen Sie 0901 591 937 (1.50 Fr. / Anruf vom Festnetz), um einen ganzen Begriff<br />
zu erfahren. Wenn Sie nur den Anfangsbuchstaben wissen möchten, wählen Sie 0901 560 011 (90 Rp. / Anruf vom Festnetz).<br />
36 DAS MAGAZIN 42/2014
CHRISTIAN SEILER<br />
DIE ENTDECKUNG DER OKTOBERRÜBE<br />
ges Aroma, das man gut inszenieren kann,<br />
wenn man über die richtige Gebrauchsanweisung<br />
verfügt.<br />
Diese stammt von Fergus Henderson<br />
aus dessen Kochbuch «Nose to Tail» (Echtzeit)<br />
und heisst «Rübenauflauf». («Das mag<br />
sich», schreibt Henderson, «nach einem<br />
trostlosen Essen in einem trostlosen vegetarischen<br />
Restaurant anhören, aber das ist<br />
es ganz und gar nicht. Leider ist mir bisher<br />
kein verlockenderer Name für dieses<br />
köstliche Gericht eingefallen.»)<br />
Man braucht dafür:<br />
– 1 Zwiebel, geschält und in sehr<br />
dünne Scheiben geschnitten<br />
– 200 g Butter<br />
– 1,2 kg Navetten, geschält und in<br />
sehr dünne Scheiben geschnitten<br />
– Meersalz und schwarzen Pfeffer<br />
Die Zwiebelscheiben werden langsam<br />
in 150 Gramm Butter gedünstet, sie<br />
müssen glasig und süss sein, wenn sie beiseite<br />
gestellt werden. Nun sind die Navetten<br />
an der Reihe. Eine feuerfeste Form<br />
wird mit dem Rest der Butter eingefettet,<br />
danach kommt eine erste Schicht Navetten<br />
in die Form. Darüber legt man die<br />
erste Schicht buttriger Zwiebel, die gesalzen<br />
und mit Pfeffer bestreut werden. Das<br />
System ist jetzt klar: Sie fahren damit fort,<br />
bis die Form voll und alle Zwiebel- und<br />
Navettenscheiben verbraucht sind. Dann<br />
Alufolie mit der matten Seite nach oben<br />
auf das Gemüse legen und die Form in den<br />
DAS MAGAZIN 42/2014<br />
Diesmal Herbstgemüse. Wie selbstverständlich<br />
greifen wir nach reifen Tomaten,<br />
mit denen wir tatsächlich noch immer<br />
Freude haben, nach Peperoni, Karotten<br />
und Sellerieknollen, nach einem Kopf Blumenkohl<br />
oder ein paar letzten Auberginen.<br />
Manchmal seufzen wir leise, weil die<br />
guten Bekannten aus der Gemüseabteilung<br />
uns wieder bekannte Genüsse versprechen,<br />
und wir wünschen uns, es käme<br />
manchmal etwas Neues, Überraschendes<br />
auf unseren Speiseplan.<br />
Bin schon da. Mit einem Kilo Navetten.<br />
Navetten gehören zur Familie der<br />
Speiserüben. Ihr gebräuchlicher Zweitname<br />
«Mairüben» passt nicht unbedingt<br />
in den Oktober, erklärt sich aber daraus,<br />
dass Navetten, die zeitig im Frühjahr gesät<br />
wurden, im Mai reif sind, während jene<br />
Rüben, die im Juli oder August gesät wurden,<br />
jetzt aus der Erde gezogen werden –<br />
wer möchte, darf sie deshalb ohne Weiteres<br />
«Oktoberrüben» nennen, viel Erfolg<br />
auf dem Gemüsemarkt.<br />
Die runden Rüben haben einen Durchmesser<br />
von vielleicht fünf Zentimetern.<br />
Sie sind schön. Ihre Haut ist von einem<br />
cremigen Weiss, das an den Schultern in<br />
ein interessantes Violett übergeht. Dass die<br />
Navetten kräftig, fast scharf riechen, liegt<br />
an den Senfölen, die in ihrer Haut enthalten<br />
sind. Sind sie einmal von dieser Schärfe<br />
befreit, entfalten sie ein interessantes, erdiauf<br />
160 Grad vorgeheizten Ofen stellen. Es<br />
dauert etwa eine Stunde, bis das Ge mü se<br />
weich und mollig ist. Sie können es aus<br />
der Form essen oder diese auf eine grosse<br />
Platte stürzen. Einmal mehr ist es sinnvoll<br />
abzuwarten, bis man sich beim Essen nicht<br />
mehr verbrennt. Um eine Spur heisser als<br />
lauwarm ist die ideale Betriebstemperatur<br />
für diesen Auflauf, der, wie Fergus Henderson<br />
sagt, «danach schreit, mit einem<br />
Stück Lammbraten verspeist zu werden».<br />
Eine Salsiccia macht sich auch nicht<br />
schlecht, und ein kleiner, bitterer Radicchiosalat<br />
ist ein nahezu idealer Kontrast<br />
zum rustikalen Henderson-Auflauf.<br />
Ein etwas eleganteres Rezept präsentiert<br />
Alain Ducasse in seinem erstaunlich<br />
zugänglichen Kochbuch «Ducasse Nature»<br />
(Hädecke). Er zerteilt die Navetten in zwei<br />
Millimeter dicke Scheiben, karamellisiert<br />
sie im Schmortopf mit Honig und deglaciert<br />
sie mit Weissweinessig, um sie anschliessend<br />
in Geflügelbouillon mit einer<br />
raffinierten Gewürzmischung fertig zu<br />
kochen und zu Botschaftern einer einfachen,<br />
aber dennoch eindrucksvollen französischen<br />
Kochweise zu machen. Dazu<br />
gibt es pochierte Entenleber. Den ganzen<br />
Expeditionsbericht lesen Sie im Blog.<br />
Mehr von Christian Seiler immer montags in seiner<br />
«Montagsdemonstration» auf blog.dasmagazin.ch<br />
Illustration ALEXANDRA KLOBOUK<br />
37
DREI WOCHEN IM LEBEN<br />
Christoph Scheuring, 56, schlief im Kofferraum seines Autos, als er mit Strassenkindern<br />
unterwegs war, und entschloss sich zu etwas, das er eigentlich nie tun wollte.<br />
Der Satz, der mich in meiner Kindheit am meisten verfolgt hat,<br />
lautet: «Der Klügere gibt nach.» Er war so etwas wie das Mantra<br />
meiner Erziehung und galt für alle Lebensbereiche: beim<br />
Sport, im Spiel, beim letzten Stück Kuchen. Selbst wenn man<br />
beleidigt wurde. Ein kluger Mensch wehrt sich nicht, sondern<br />
fängt an zu rennen. Was wiegt schon eine Beleidigung gegen zwei<br />
ausgeschlagene Zähne?<br />
Ich schätze, ich war der klügste Junge des Universums. Mit<br />
fünfzehn hatte ich Hegel gelesen und mich noch kein einziges<br />
Mal geprügelt. Dann kamen mir langsam Zweifel an dem Prinzip:<br />
«Wenn der Klügere nachgibt, regiert am Ende die Dummheit»,<br />
dachte ich. «Das kann kein Erfolg versprechendes Konzept sein<br />
für die Evolution der Menschheit.» Ich fing an, Klugheit für eine<br />
überschätzte Tugend zu halten. Schule, Bildung, Wissen: alles<br />
überflüssiges Zeug. Und am überflüssigsten waren Bücher. Wie<br />
unklug, selbst eines schreiben zu wollen.<br />
Stattdessen wurde ich Reporter beim «Spiegel». Leider war<br />
dieses Blatt so etwas wie das deutsche Zentralorgan der Klugheit.<br />
Eine Institution, die immer und prinzipiell alles besser weiss.<br />
Meine Themen siedelten deshalb eher eine Etage tiefer: Hooligans,<br />
Hacker, Dieter Thomas Heck. 1995 schickte man mich<br />
nach Köln für eine Reportage über die Strassenkinder am dortigen<br />
Bahnhof.<br />
Also parkte ich meinen alten, tannengrünen Mercedes 240<br />
TD vor dem Hintereingang, legte die Rückbank um, rollte meinen<br />
Schlafsack aus und lebte die nächsten drei Wochen im Kofferraum.<br />
Der erste Mensch, den ich so kennenlernte, war Mischa.<br />
Am Bahnhof nannten ihn alle «Psycho», weil er sich schon mal<br />
mitten im Berufsverkehr auf eine vierspurige Strasse legte. Er<br />
rauchte Heroin, aber er drückte sich das Gift nicht in die Vene.<br />
Sein Körper war muskulös und irgendwie unversehrt, und jeder<br />
am Bahnhof war auf eine Art verliebt in seine Mischung aus Zartheit<br />
und Brutalität und Tragödie. Er war nicht schwul, aber die<br />
Nächte verbrachte er meistens bei einem Freier. Er tat es auch nicht<br />
für Geld, sondern damit seine Freunde vom Bahnhof tagsüber<br />
in der Wohnung duschen und schlafen konnten. Das war der Deal.<br />
Nur Mischas Freundin durfte davon nichts wissen. Sie kannten<br />
sich erst fünf Wochen. Es war nicht so, dass ihm der Freier<br />
peinlich war. Er wollte sie nur vor dem ganzen Schmutz in seinem<br />
Leben beschützen. Allerdings gab es in seinem Alltag kaum noch<br />
eine saubere Ecke. Also sahen sie sich immer nur ein paar Minuten<br />
am Tag. Nicht in der Nacht, wenn er bei seinem Freier war.<br />
Nicht am Tag, wenn er sein Heroin rauchte oder sich welches<br />
besorgte oder Geld organisieren musste dafür. Nach fünf Wochen<br />
hatte das Mädchen genug von der ewigen Warterei und nahm<br />
die Kette ab, die er ihr geschenkt hatte: 333er Gold mit einem<br />
Herz, gekauft, nicht geklaut. «Unsere Liebe hält so lange wie<br />
diese Kette», hatte er damals zu ihr gesagt.<br />
Ihr blanker Hals war dann auch das Erste, das er an jenem<br />
Tag im März an ihr bemerkte.<br />
«Wo ist die Kette?», fragte er.<br />
«Du bist ja nie da», meinte das Mädchen.<br />
«War ja klar», murmelte Mischa und stapfte wortlos davon.<br />
Raus auf die Brücke, die vom Hauptbahnhof auf die Deutzer<br />
Seite führt. Fünfzehn Meter weiter unten gurgelte der Rhein gegen<br />
die Pfeiler. Es war kalt und goss in Strömen. Ich schätze, der<br />
Strom war nicht wärmer als drei oder vier Grad.<br />
«Mach bloss kein Scheiss», sagte ich.<br />
«Keine Angst», meinte Mischa und flankte über das Geländer.<br />
Er war sofort verschwunden in der graubraunen Flut. Voller<br />
Panik rannte ich an das Ende der Brücke und kletterte die<br />
Steinschüttung runter zum Strom. Da stand Mischa schon zweihundert<br />
Meter flussabwärts im kniehohen Wasser.<br />
«Was willst du machen, wenn du jemanden liebst und genau<br />
weisst, dass deine Liebe ihm schadet?», sagte er.<br />
«Du hättest tot sein können, du Idiot», schimpfte ich.<br />
«Darum gehts», sagte Mischa. «Wie würdest denn du jemandem<br />
zeigen, dass du dich umbringen würdest für ihn?»<br />
«Und wenn du ertrunken wärst?»<br />
«Dann wäre die Sache geklärt.»<br />
«Ich schätze, da gibts schlauere Wege.»<br />
Als ich abends wieder in meinem Kofferraum lag, wusste<br />
ich, dass er recht hatte. Wenn einem etwas wirklich wichtig ist,<br />
muss man unkluge Dinge tun. In diesem Moment beschloss ich,<br />
doch irgendwann ein Buch zu schreiben und den Jungs und<br />
Mädchen vom Bahnhof ein Denkmal zu setzen. Selbst wenn es<br />
dann das überflüssigste Buch werden würde, das es je gab.<br />
Christoph Scheurings Jugendroman «Echt» über die Jungen und Mädchen<br />
vom Bahnhof ist soeben im Magellan Verlag erschienen.<br />
Bild KATHRIN SPIRK<br />
38 DAS MAGAZIN 42/2014<br />
39
OYSTER PERPETUAL<br />
COSMOGRAPH DAYTONA IN PLATINUM<br />
bucherer.com