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N° 42<br />

18. 1. —<br />

24. 1. 214<br />

POLITIK AUF DEM KOPF<br />

Das Comeback des Afro


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Befreiung der Haare — Haare sind nicht bloss ein beliebiges<br />

Accessoire oder eine manipulierbare Masse, sondern haben darüber<br />

hinaus Symbolcharakter. Jemand, der trauert, kann über<br />

Nacht ergrauen, so die Legende. Träumt man davon, alle Haare<br />

zu verlieren, wird das als Angst vor dem Verlust sexueller Kraft<br />

gedeutet. Die Haare gelten als Sitz der Seele, sie sind dem Himmel<br />

am nächsten. Aber Haare werden auch als ganz handfestes<br />

politisches Statement genutzt. In Korea rasiert man sich das Haupt,<br />

um damit gegen eine als ungerecht empfundene Entscheidung<br />

zu protestieren – ein ritueller körperlicher Protest. Auch in Afrika<br />

zeigt sich im Moment ein Umgang mit Haaren, der nicht<br />

einfach als Modetrend trivialisiert werden kann. Bisher glätteten<br />

die meisten schwarzen Frauen ihre Kraushaare mit Glättungscremes,<br />

sie flochten Kunstzöpfe ein oder trugen Perücken. Westliche<br />

Role Models wie Beyoncé, Oprah Winfrey und Michelle<br />

Obama machen die Natur auf ihrem Kopf vergessen. Jetzt gehen<br />

viele schwarze Frauen zurück zur Natur – und berufen sich damit<br />

auf ihre Wurzeln. Sie lassen ihre Haare los, und mit der Krause<br />

wächst ihr Selbstbewusstsein: als Frau, als Afrikanerin. «Magazin»-<br />

Reporterin Paula Scheidt hat sich in Nairobi auf die Spur dieser<br />

neuen Befreiungsbewegung gemacht.<br />

BIRGIT SCHMID<br />

Hier wird Politik gemacht: ein Haarsalon in Nairobi.<br />

BILDER — COVER: MARIO EPANYA’; INHALT: TILL MÜLLENMEISTER<br />

Text PAULA SCHEIDT & LINDA TUTMANN<br />

Bilder TILL MÜLLENMEISTER<br />

8 AFRO-POWER<br />

Afrikanische Haare gelten als fusselig und abartig. Deshalb<br />

glätten die meisten schwarzen Frauen ihre Krause. Eine neue<br />

Befreiungsbewegung will damit nun Schluss machen.<br />

Text SUSANNA SCHWAGER<br />

20 DER MANN VON<br />

DER SITTE<br />

Die Prostituierte «Rote Zora» arbeitete im Zürcher Milieu,<br />

als es noch keine Verrichtungsboxen gab. Ein Polizist erinnert<br />

sich an sie. Und daran, wen man alles antraf in den Salons.<br />

Mehr vom «Magazin» auf blog.dasmagazin.ch<br />

Leserbriefe veröffentlichen wir auf<br />

leserbriefe.dasmagazin.ch<br />

Text HANNES GRASSEGGER<br />

28 JEDER ZAHLT,<br />

WAS ER WILL<br />

Einer der grössten kapitalistischen Träume scheint gerade<br />

in Erfüllung zu gehen: der individualisierte Preis für Produkte<br />

und Dienstleistungen.<br />

DAS MAGAZIN 42/2014<br />

3


DANIEL<br />

BINSWANGER<br />

KLARE ANSAGE<br />

4 DAS MAGAZIN 42/2014<br />

Die öffentliche Debatte um die Umsetzung<br />

der Masseneinwanderungsinitiative und die<br />

Rettung der Bilateralen nimmt Fahrt auf –<br />

und das ist gut so. Das Schweizer Politiksystem<br />

ist verängstigt und überfordert. Nur<br />

Druck aus der Mitte der Zivilgesellschaft<br />

hat Aussicht, Parteien und Regierung zur<br />

Klärung der Lage zu zwingen.<br />

Mit dem Ja der Auns zu Ecopop sollten<br />

sich letzte Illusionen, der harte Flügel<br />

der SVP werde sich zu einer mit den Bilateralen<br />

vereinbaren Umsetzung des Masseneinwanderungsartikels<br />

bereit finden,<br />

eigentlich erledigt haben. Auf der Gegenseite<br />

formieren sich zivilgesellschaftliche<br />

Bewegungen wie der Appell «CH-in-<br />

Europa.ch», der mit der Signatur von 112<br />

öffentlichen Persönlichkeiten lanciert<br />

wurde und nun zur Unterzeichnung für<br />

alle Bürger offensteht. Auch die «Operation<br />

Libero», ein Zusammenschluss junger<br />

Akademiker, die sich Sorgen machen um<br />

die Zukunft der einzigen Schweizer Rohstoffressource<br />

– die Exzellenz von Universitäten<br />

und Berufsbildung –, versucht,<br />

an den etablierten Parteien und Verbänden<br />

vorbei die Mobilisierung für die Bewahrung<br />

der Bilateralen zu lancieren.<br />

Insbesondere der Appell «CH-in-<br />

Europa», der lanciert wird von so unterschiedlichen<br />

Persönlichkeiten wie Alt-<br />

Nationalbankpräsident Jean-Pierre Roth,<br />

Wirtschaftsführer Rolf Soiron, Alt-Bundesrichter<br />

Giusep Nay, Wirtschaftsanwalt<br />

Peter Nobel und Medienprofessor Kurt<br />

Imhof, ist bemerkenswert. Offenbar ist<br />

die Schweizer Zivilgesellschaft noch imstande<br />

zu jener Synthese von staatspolitischer<br />

Prinzipientreue (Nay), wirtschaftspolitischem<br />

Pragmatismus (Soiron) und<br />

sozialliberaler Intellektualität (Imhof), die<br />

einst die DNA des Schweizer Liberalismus<br />

ausmachte und deren Erbgut in der<br />

heutigen FDP weitgehend verschüttet zu<br />

sein scheint.<br />

Der zivilgesellschaftliche Druck ist<br />

desto nötiger, als die offizielle Politik nun<br />

in ein steriles Schattenboxen verfällt, bei<br />

dem beide Seiten mit ihren Spielchen über<br />

die Banden beschäftigt sind. Der Bundesrat<br />

wird mit kalkulierter Dramatik den<br />

Kampf für die «konsequente Umsetzung»<br />

inszenieren, will sich aber – da hat die SVP<br />

völlig recht – in Brüssel bestätigen lassen,<br />

dass der Verhandlungsspielraum extrem<br />

begrenzt ist. Es mag in der EU-Kommission<br />

eine marginale Bereitschaft geben,<br />

symbolische Konzessionsgesten zu machen,<br />

aber die Manövriermöglichkeiten<br />

sind limitiert. Die EU könnte nur Einschränkungen<br />

zustimmen, die auf alle EU-<br />

Mitgliedstaaten ausdehnbar wären, frei festgelegte<br />

Kontingente sind tabu – eine Diskriminierung<br />

zwischen Inländern und<br />

EU- Ausländern kommt nicht infrage. Am<br />

ehesten dürfte Brüssel bereit sein, den Zugang<br />

zu den Sozialwerken restriktiver zu<br />

gestalten, doch für die Schweiz wäre diese<br />

Massnahme irrelevant. Die Zuwanderung<br />

erfolgt bei uns grossmehrheitlich in den<br />

Arbeitsmarkt und nicht ins Sozialsystem.<br />

Theoretisch würde das von Alt-Staatssekretär<br />

Michael Ambühl ausgefeilte<br />

Schutzklauselsystem, das in der Gesamt-<br />

EU in Kraft gesetzt werden könnte, den<br />

bestehenden Spielraum am besten ausnützen.<br />

Dass sich die EU aber ausgerechnet<br />

vom Nicht-Mitglied Schweiz ein neues<br />

Freizügigkeitsmodell aufzwingen lässt, erscheint<br />

weiss Gott unrealistisch.<br />

Auch die SVP veranstaltet einen Kommunikations-Eiertanz.<br />

Am Sonntag vermeldete<br />

Christoph Blocher plötzlich, über<br />

den von Professor Reiner Eichenberger<br />

ge machten Vorschlag, die Zuwanderung<br />

durch Sondersteuern für ausländische Arbeiternehmer<br />

zu regulieren, könne man<br />

diskutieren. Die Medien nahmen eilfertig<br />

das «Zurückkrebsen» des SVP-Führers in<br />

die Schlagzeilen, obwohl es sich offenbar<br />

um eine taktische Finte handelt. Die Diskriminierung<br />

zwischen Inländern und EU-<br />

Ausländern ist für die EU exakt genauso<br />

inakzeptabel wie die Festlegung von Kontingenten.<br />

Blocher will sich heute so wenig<br />

wie gestern mit der EU verständigen. Bereits<br />

am Montag wurde die vermeintliche<br />

Kompromissbereitschaft wieder relativiert.<br />

Blocher versucht sich den Anschein der<br />

Ge sprächsbereitschaft zu geben, um Brüssel<br />

später desto heftiger Arroganz und diktatorisches<br />

Gehabe vorwerfen zu können.<br />

Der Bundesrat will die Bilateralen retten<br />

– glaubt aber, vorerst mit angestrengter<br />

Geste beweisen zu müssen, dass er<br />

alles Menschenmögliche zur Respektierung<br />

des Volkswillens tut. Blocher will die<br />

Bilateralen zerstören – muss sein Ziel aber<br />

bis zuletzt in Abrede stellen, damit die<br />

Bürger am Ende das «EU-Diktat» für das<br />

Scheitern einer Kompromisslösung verantwortlich<br />

machen und mit einer Trotzreaktion<br />

antworten.<br />

Klare Ansagen sind das Mindeste, was<br />

man von der Politik erwarten sollte. Nichts<br />

ist wichtiger für die Schweiz als die Gestaltung<br />

ihres Verhältnisses zu Europa. Die<br />

Zivilgesellschaft bleibt gefordert.<br />

Mehr von Daniel Binswanger auf<br />

blog.dasmagazin.ch<br />

– Phil Hansen, Multimedia-Künstler –<br />

zoo}-zoo}<br />

«Nur wer anders denkt,<br />

verändert die Welt.»<br />

DER MAZDA CX-5.<br />

Wer sagt, dass man als Künstler eine ruhige Hand braucht? Indem er sein Handicap, das Zittern<br />

seiner Hand, dass über die Jahre immer schlimmer wurde, annahm, entdeckte Phil Hansen neue Wege,<br />

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entwickelt. Sie kommt zum Beispiel im Mazda CX-5 zum Einsatz. Das Ergebnis: Ein Fahrzeug, das bezüglich Verbrauch<br />

und Leistung keinerlei Kompromisse eingeht. Entstanden ist so beispielsweise der SKYACTIV-D 150 Dieselmotor, der bei<br />

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Mazda CX-5 SKYACTIV-D 150 FWD. Mazda CX-5: Energieeffizienz-Kategorie A—E, Verbrauch gemischt 4,6—6,6 l/100 km, CO 2<br />

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MAX KÜNG<br />

AUS DEM MUSEUM<br />

DER DIALOGE<br />

In einer Bar. Zwei Männer im Gespräch, die beiden sind vielleicht<br />

vierzig Jahre alt, sie trinken Bier. Es läuft Musik. Ich glaube, es<br />

ist die neue CD von Caribou. Die Musik ist recht laut, aber die<br />

Männer sind lauter.<br />

«Sag: Wie hiess noch die Frau, auf die Mehmet Scholl stand?»<br />

«Mehmet wer?»<br />

«Scholl. Der ehemalige Fussballer.»<br />

«Ach der. Ich dachte schon, du meinst den Erfinder der Gesundheitssandale.<br />

Den Doktor Scholl. Aber beim Fussballer –<br />

keine Ahnung, auf wen er stand.»<br />

«Es ist eine Schauspielerin.»<br />

«Miss Marple?»<br />

«Etwas jünger.»<br />

«Tootsie?»<br />

«Nein, eine Deutsche.»<br />

«Rudi Carrell?»<br />

«Sie hat Momo gespielt, als sie noch ein Kind war.»<br />

«Momo? Das ist doch ein Hersteller von Leichtmetallfelgen<br />

aus Italien. Für Subaru Impreza und so.»<br />

«Nein, Momo ist eine Figur aus dem Film, der auch so heisst,<br />

nach dem Buch, das auch so heisst, von diesem Typen, der auch<br />

‹Die unendliche Geschichte› geschrieben hat.»<br />

«Ah, das Kinderbuch. Jetzt kommts mir in den Sinn. Hab<br />

ich nie gelesen. Ich hab nur ‹YPS› gelesen, ‹Michel Vaillant›, ‹Fix<br />

und Foxy›. Ist mir jedoch irgendwie vertraut – aber war Momo<br />

nicht ein Junge?»<br />

«Nein, Momo ist ein Mädchen.»<br />

«Also für mich klingt Momo schwer männlich. Moma wäre<br />

weiblich.»<br />

6 DAS MAGAZIN 42/2014<br />

«Glaub mir, Momo ist ein Mädchen …»<br />

«… ich weiss bis heute nicht, ob Wickie ein Mädchen ist oder<br />

Junge …»<br />

«… und im Film wurde sie gespielt von … ah, ich weiss nicht<br />

mehr.»<br />

«… meinst du, dein Fussballer weiss, dass Momo ein Mädchen<br />

ist?»<br />

«Sie hatte grosse Augen und Locken.»<br />

«Ah! Meinst du die mit den irren Locken?»<br />

«Genau. Ich glaub, sie hiess … ah … gleich hab ichs … Bo …<br />

Bo … Bo … etwas mit Bo …»<br />

«Boko Harum!»<br />

«Das glaub ich nicht.»<br />

«Warum nicht?»<br />

«Boko Harum ist doch eine Rockband.»<br />

«Nein, die Rockband heisst Procol Harum. Das weiss ich<br />

zufälligerweise genau. Ich hab irgendwo noch eine Platte von<br />

denen.»<br />

«Hatten die einen Hit?»<br />

«Das war kein Hit, das war ein Megahit. Er hiess ‹A Paler<br />

Shade of White›.»<br />

«Ist das ein Song aus einer Zahnpastawerbung?»<br />

«So mit Orgeln. Ein Schmachtfetzen. Der lief immer beim geschlossenen<br />

Tanzen an den Blauringpartys, Spaghettitanz und so.»<br />

«Aber wie hiess noch gleich die, die Momo spielte?»<br />

«Fällt mir echt nicht ein, sorry, muss ich passen.»<br />

«Warte, ich schau mal nach.»<br />

Ein Smartphone wird gezückt. Es wird gegoogelt. Ein Moment<br />

ist Ruhe zwischen den beiden. Der ohne Smartphone nimmt<br />

einen Schluck Bier. Dann sagt der Mann mit dem gezückten<br />

Smartphone:<br />

«Radost Bokel!»<br />

«Was?»<br />

«Radost Bokel. Das ist der Name der Schauspielerin.»<br />

«Verrückt! Dass dir das einfällt! Du bist echt der letzte Marokkaner<br />

des Kinderfilmwissens.»<br />

«Ich glaub, es heisst Mohikaner: der letzte Mohikaner, nicht<br />

Marokkaner. Und es ist mir nicht eingefallen. Ich habs ja eben<br />

gegoogelt. Hier stehts: Radost Bokel, geboren am 4. Juni 1975 in<br />

Bad Langensalza. Später hat sie sich dann für den ‹Playboy› ausgezogen<br />

und ging ins Dschungelcamp.»<br />

«Trotzdem. So was muss man erst mal googeln können. Du<br />

bist voll der letzte Momo.»<br />

«Ja, der letzte Momo.»<br />

«Der letzte Momo und sein Kind.»<br />

«Was heisst denn das?»<br />

«Und wer war der ehemalige Fussballer gleich wieder, der<br />

auf Momo stand? Murat Yakin?»<br />

«Nein. Das ist doch ein japanischer Schriftsteller.»<br />

Und so ging das Gespräch weiter. Ein Stück davon habe ich<br />

aus der Bar transportiert, konserviert und in das Museum der Dialoge<br />

gestellt, in den «Saal der Gespräche von Männern um die<br />

vierzig mit schon mehr als einem Bier intus». Es steht dort in der<br />

Mitte des Raumes auf einem Sockel aus Marmor. Der ist sicher<br />

sehr schwer.<br />

Mehr von Max Küng auf blog.dasmagazin.ch<br />

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AFRO-POWER<br />

Afrikanische Haare gelten als fusselig und abartig. Deshalb glätten die meisten schwarzen Frauen<br />

ihre Krause. Eine neue Befreiungsbewegung will nun Schluss damit machen.<br />

Susan (rechts) und ihre Freundinnen beim Styling sonntags auf dem Balkon.


Text PAULA SCHEIDT und<br />

LINDA TUTMANN<br />

Bilder TILL MÜLLENMEISTER<br />

Eine Locke ist nicht bloss eine Locke, für<br />

Yvette Mumanyi ist sie eine Ansage. Mit<br />

den Fingerspitzen entrollt sie zwei Haarsträhnen,<br />

die sie am Vorabend wie eine<br />

Kordel umeinandergeschlungen und als<br />

Knoten auf ihrem Kopf befestigt hat. Achtzehn<br />

solcher Bantu-Knoten hatte sie über<br />

Nacht. Nun löst sie einen nach dem anderen,<br />

und die Haare fallen ihr in Kringeln auf<br />

die Schulter. Eine natürliche Dauerwelle,<br />

ohne Lockenwickler, Klammern, Spray.<br />

Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtet<br />

sie sich im Spiegel. Es sind ihre eigenen<br />

Haare, und das ist nicht selbstverständlich.<br />

Denn Yvette hat afrikanische Haare,<br />

Typ 4c, z-förmig.<br />

Haare werden in drei ethnische Gruppen<br />

unterteilt: asiatisch, europäisch-kaukasisch<br />

und afrikanisch. Glaubt man dem<br />

Starstylisten Andre Walker, der unter anderem<br />

Oprah Winfrey betreut, ist das wichtigste<br />

Merkmal die Krümmung: 1 (gerade),<br />

2 (gewellt), 3 (gelockt) und 4 (zickzack),<br />

jeweils mit den Unterkategorien a, b, c.<br />

Asiatische und europäisch-kaukasische<br />

Haare haben eine Krümmung zwischen 1a<br />

und 3b. Bei 3c beginnen die afrikanischen<br />

Haare, und da wird aus einem Badezimmerthema<br />

plötzlich Politik.<br />

Verbrannte Kopfhaut<br />

Yvette setzt sich in der Stube auf einen<br />

Sessel und klappt ihr MacBook auf. Sie ist<br />

22 Jahre alt, studiert Massenkommunikation<br />

und wohnt mit ihrer Familie in Karen,<br />

dem wohlhabenden Stadtteil von Nairobi,<br />

einer Stadt mit Palmen und Wolkenkratzern,<br />

in der sechzig Prozent der Einwohner<br />

in Slums leben und Passanten manchmal<br />

am helllichten Tag eine Pistole an die<br />

Schläfe gehalten wird. Vor einer Woche hat<br />

Yvette angefangen, einen Blog zu schreiben:<br />

«Mane Attraction», Attraktion Löwenmähne,<br />

nennt sie ihn. Ihr Thema: afrikanische<br />

Haare. Ihr Ziel: Sie will anderen<br />

Afrikanerinnen beibringen, ihre natürlichen<br />

Haare zu pflegen und zu frisieren.<br />

Kaum eine kann das. Die meisten Kenianerinnen,<br />

wie auch die Frauen in anderen<br />

Ländern Afrikas, glätten ihre Afrokrause.<br />

Weil es von ihnen erwartet wird.<br />

Das geht so: Die Haare werden in<br />

Büschel getrennt, die Glättungscreme wird<br />

auf dem Ansatz verteilt und wirkt je nach<br />

Haardicke zehn bis fünfzehn Minuten ein.<br />

Die Chemikalien dringen in die Wurzel vor<br />

und weichen das Haar auf, sodass es nicht<br />

in Zickzackform, sondern gerade aus der<br />

Kopfhaut wächst. Schwangeren wird empfohlen,<br />

damit aufzuhören, weil die Chemikalien<br />

so giftig sind. Wenn man die Creme<br />

zu kurz einwirken lässt, bleibt der Effekt<br />

aus. Wenn man sie zu lange einwirken lässt,<br />

verbrennt die Kopfhaut. Zu Hause selbst<br />

zu glätten ist schwierig und riskant. Also<br />

muss man jede oder zumindest jede zweite<br />

Woche einen Profi aufsuchen. «Wer an fängt<br />

zu glätten, wird zur Sklavin des Salons»,<br />

sagt Yvette. Aber vielen Frauen ist es die<br />

Mühe wert. Denn das Ergebnis sind glatte,<br />

seidig glänzende Haare. Wie Beyoncé<br />

Knowles, Tyra Banks und Michelle Obama<br />

sie tragen. Haare, wie die Weissen sie haben.<br />

Mit den Menschen, die Afrika verlassen,<br />

emigriert auch die Haarfrage in andere<br />

Teile der Welt. Salons für afrikanische Haare<br />

gibt es nicht nur in Nairobi, es gibt sie in<br />

Baltimore, in Lyon, in Frankfurt, in Zürich.<br />

Überall werden die gleichen Glättungscremes<br />

aufgetragen und ähnliche Perücken<br />

und Extensions verkauft.<br />

Schwarze Menschen, die ihr krauses<br />

Haar zeigen, sind noch immer eine Seltenheit.<br />

Man hält sie für Drogensüchtige,<br />

politische Aktivisten oder im besten Fall<br />

für Künstler. Als die schwarze Wettermoderatorin<br />

Rhonda Lee sich im Dezember<br />

2012 auf Facebook gegen Beleidigungen<br />

ihrer Frisur verteidigte, wurde sie von ihrem<br />

Sender ABC in Louisiana gefeuert. Als Bill<br />

de Blasio Bürgermeister von New York<br />

werden wollte, nutzte sein Wahlkampfmanager<br />

die Afrokrause seines Sohnes Dante,<br />

der eine afroamerikanische Mutter hat, um<br />

den Vater als progressiven Politiker zu positionieren.<br />

Viele Kommentatoren hielten die<br />

Strategie für riskant, da der Afro in den<br />

Augen Weisser noch immer ein Zeichen<br />

schwarzer Aggression sei. De Blasio gewann<br />

– auch weil er die Afroamerikaner<br />

auf seiner Seite hatte. Als Barack Obama<br />

als erster Schwarzer für das Amt des Präsidenten<br />

kandidierte, veröffentlichte die<br />

Zeitschrift «The New Yorker» eine Titelgeschichte<br />

darüber, wie seine Gegner versuchten,<br />

ihn als Terroristen zu verunglimpfen.<br />

Der Karikaturist zeichnete ihn im Taliban-Umhang<br />

mit Turban und Sandalen.<br />

Daneben steht Michelle Obama, mit<br />

Kalaschnikow und wilder Afrokrause.<br />

Natürliche afrikanische Haare als Zeichen<br />

von Rückständigkeit, Kriminalität, Gefahr.<br />

So denken nicht nur die Menschen in Nairobi,<br />

so denken auch viele Weisse.<br />

Wenn junge Afrikanerinnen wie Yvette<br />

gegen dieses Stereotyp ankämpfen, dann<br />

geht es nicht nur um verschiedene Interpretationen<br />

von Schönheit. Es geht auch<br />

um Rassismus, Identität und sehr viel Geld.<br />

Der afrikanische Markt für Kosmetik- und<br />

Hygieneprodukte hat laut der Unternehmensberatung<br />

Roland Berger ein Volumen<br />

von 8,3 Milliarden Franken. Bis 2017<br />

dürfte es auf 12,7 Milliarden Franken anwachsen.<br />

Haare bedeuten Identität<br />

Yvette war neunzehn, als sie ihre Haare<br />

zum ersten Mal selbst gewaschen hat. Drei<br />

Jahre ist das her. Sie hatte keine Lust mehr,<br />

jede zweite Woche in den Haarsalon zu<br />

gehen, um sich Kunsthaar einflechten zu<br />

lassen. Warum kann ich nicht einfach meine<br />

eigenen Haare tragen?, fragte sie sich. An<br />

einem Freitagabend entfernte sie die Kunsthaarzöpfe,<br />

stellte sich unter die Dusche<br />

und massierte sich mit Wasser und Shampoo<br />

die Kopfhaut – zum ersten Mal überhaupt.<br />

«Der nächste Tag war der schlimmste<br />

meines Lebens», sagt Yvette. Als sie aufwachte,<br />

waren ihre Haare verknotet und<br />

standen in alle Richtungen vom Kopf ab.<br />

Sie hatte sich selbst nie zuvor mit Afrokrause<br />

gesehen – ausser im Haarsalon, wo<br />

immer jemand in der Nähe ist, um das<br />

Problem zu lösen. Am liebsten wäre sie<br />

sofort zum Coiffeur gegangen. Aber sie<br />

musste in die Schule. Die Blicke der Mitschülerinnen,<br />

alle mit geglätteten Haaren,<br />

Perücken oder Kunsthaarzöpfen, trafen<br />

sie wie Nadeln. Was ist mit dir los, bist du<br />

in den Regen gekommen?, wurde sie gefragt.<br />

«Ich habe mich so unsicher gefühlt»,<br />

sagt sie. «Ist das nicht verrückt? Ich war unsicher,<br />

weil ich meine eigenen Haare getragen<br />

habe.» Der Busfahrer fragte frech:<br />

«Bist du auf dem Weg zum Haarsalon?» Als<br />

Yvette ein paar Monate später Praktikum<br />

bei einem Fernsehsender machte und sich<br />

weigerte, ihre Krause wie die anderen Moderatorinnen<br />

unter einer Perücke zu verstecken,<br />

durfte sie nicht vor die Kamera.<br />

Natürliche Haare seien nicht adäquat für<br />

eine Nachrichtensendung, hiess es. Trotzdem<br />

fasste sie den Entschluss: Ich bin<br />

Afrikanerin, und ich stehe dazu!<br />

«Alles, was ich auf meine Haare tue,<br />

kann ich essen», sagt Yvette. Sie steht in<br />

der Küche und kocht Wasser. Afrikanische<br />

Haare müssen sorgfältig gepflegt werden.<br />

Wegen der Zickzackform dringt das Fett<br />

von der Kopfhaut nicht bis in die Spitzen<br />

vor, die Haare werden trocken und brechen<br />

leicht. Grosse Kosmetikkonzerne bieten<br />

kaum Produkte für natürliche Haare an,<br />

deshalb muss Yvette sie selbst anrühren.<br />

Auf der Arbeitsfläche vor ihr steht eine<br />

kleine Glasschüssel. Kokosnussöl ist bei<br />

Zimmertemperatur hart, also erhitzt sie es<br />

zuerst im Wasserbad. In die Haarspülung<br />

aus dem Supermarkt mischt sie Olivenöl,<br />

das ist dem körpereigenen Fett am ähnlichsten,<br />

dann Rizinusöl, das verhindert, dass<br />

Haare brüchig werden, und für den Duft<br />

Rosenöl. Aus dem Kühlschrank holt sie<br />

Aloe-Vera-Saft, der spendet Feuchtigkeit,<br />

giesst einen Schluck in die Schüssel, rührt<br />

mit dem Löffel, bis die Masse cremig wird.<br />

Am Abend wird sie die Emulsion auf<br />

den Haaren verteilen. Dann wird sie sich<br />

ein Seidentuch um den Kopf wickeln, denn<br />

Seide hält die Feuchtigkeit im Haar, statt sie<br />

wie Baumwolle aufzusaugen. Am Morgen<br />

wird sie die Strähnen nur mit den Fingern<br />

ordnen, statt sie mit Kamm oder Bürste zu<br />

frisieren. Denn Kämmen ziept und bricht<br />

die Haare.<br />

All das hat sie sich selbst beigebracht. Sie<br />

hat Youtube-Videos aus den USA ge schaut,<br />

von Naptural85, Kimmaytube und 4cHair-<br />

Chick. Sie hat Blogs gelesen, wie etwa «Naturally<br />

Curly» und «Black Girl Long Hair»,<br />

geschrieben von schwarzen Amerikanerinnen.<br />

«In den USA ist der Trend zum natürlichen<br />

Haar viel weiter», sagt Yvette. «Die<br />

Afroamerikanerinnen setzen sich wegen<br />

ihrer Geschichte als ehemalige Sklaven der<br />

Weissen intensiver mit ihrer Identität auseinander<br />

als wir Afrikanerinnen. Und Haare<br />

sind zentral für unsere Identität.»<br />

Die Afrokrause war das Markenzeichen<br />

der schwarzen Bürgerrechtsbewegung<br />

der 1960er-Jahre. Malcolm X hat in seiner<br />

Biografie schwarze Amerikaner dazu aufgerufen,<br />

zu ihren natürlichen Haaren zu<br />

stehen. Der «Fro», wie die Frisur auch genannt<br />

wird, war zentrales Element der<br />

«Black is beautiful»-Bewegung.<br />

Yvette würde nie ihre Haare glätten – es ist für sie ein Zeichen weisser Unterdrückung.<br />

Yvette findet es ironisch, dass die besten<br />

Blogs über natürliche Haare heute von<br />

Westlerinnen geschrieben werden. Aber<br />

langsam erfasst der Trend auch Afrika. Es<br />

entsteht eine Bewegung der natürlichen<br />

Haare, eine «natural hair movement», eine<br />

neue Frauenbewegung. Zwei von zehn<br />

Frauen in Nairobi tragen inzwischen ihre<br />

echten Haare. Genauso in anderen afrikanischen<br />

Metropolen, in Johannesburg,<br />

Accra, Lagos. Männer haben es einfach:<br />

Sie umgehen das Problem, indem sie sich<br />

den Schädel rasieren.<br />

Yvettes Mutter, eine gebildete, weltgewandte<br />

Frau der Oberschicht, hat jahrelang<br />

ihre Haare geglättet. Bis in die Siebzigerjahre<br />

trugen die meisten Afrikanerinnen<br />

natürliche Haare, so auch Yvettes<br />

Grossmutter. Dann kamen plötzlich neue<br />

Produkte auf den Markt. Zuerst Kunsthaare,<br />

die als lange schmale Zöpfe in die<br />

10 DAS MAGAZIN 42/2014<br />

11


10CFWLqw7DMBAEv-isvaftHqzMrIAo3CQq7v-jumWVdqQBs3OmF_x4juMaZzLYjDTUVdO7F6nB2VBLq9oj0cVkNw-0LVxd_y5k1sSB9W0IncRWkOjeYqgFHOV9vz4_HTpVeQAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDQx0TU2MzY1NgYAoQT1lw8AAAA=<br />

In den 1980er-Jahren war ein Afro ein Afro. Ein Helm aus Wolle, wie die Bürgerrechtlerin<br />

Angela Davis ihn trug. Heute gibt es zig Arten, seine Haare natürlich zu tragen.<br />

Cremig und zart.<br />

Und bitter, wenn die<br />

Packung leer ist.<br />

natürlichen Haare eingeflochten werden.<br />

Dann Perücken und Extensions, Haarverlängerungen,<br />

die man an die natürlichen<br />

Haare anklebt. Und dann Glättungsmittel.<br />

«Wir alle haben unsere Haare geglättet»,<br />

sagt Yvettes Mutter. «Dadurch waren sie<br />

einfacher zu pflegen. Wir wussten noch<br />

nicht, wie schädlich die Produkte sind.»<br />

Die neue Mode war Ausdruck von Wohlstand<br />

und Modernität. Bald trugen nur<br />

noch diejenigen Frauen Afro, denen die<br />

regemässigen Besuche im Haarsalon zu<br />

teuer waren.<br />

Heute sind Perücken, Extensions und<br />

geglättete Haare keine Frage des Portemonnaies<br />

mehr. Alle – selbst die Slumbewohnerinnen<br />

– können sich das leisten.<br />

Frauen, die ihre Haare natürlich tragen, tun<br />

es nicht aus Geldmangel, sondern weil sie<br />

sich bewusst dafür entscheiden.<br />

«Die weissen Unterdrücker haben den<br />

Trend der glatten Haare gestartet, um die<br />

Schwarzen zu demütigen», sagt Yvette. «Es<br />

ist eine sehr traurige Geschichte.» Vielleicht<br />

wird sie einen Blogeintrag darüber<br />

schreiben. Ab dem 16. Jahrhundert, als die<br />

Weissen begannen, in Amerika Schwarze<br />

als Sklaven zu halten, galten dunkle Haut<br />

und krause Haare als minderwertig. Die<br />

Sklavenhalter bestraften ihre Leibeigenen,<br />

indem sie ihren Kopf in den Waschtrog<br />

drückten. Die Seifenlauge brannte in den<br />

Augen, verätzte die Haut, aber sie hatte<br />

noch einen Effekt: Sie machte die Haare<br />

glatt. Die Schwarzen merkten, dass ihre<br />

weissen Herren diejenigen von ihnen bevorzugten,<br />

die hellere Haut und glattere<br />

Haare hatten. Und weil sie von ihnen abhängig<br />

waren, begannen sie, ihre Haare<br />

freiwillig in die Lauge zu tauchen. So jedenfalls<br />

erzählt man es sich. Vielleicht war es<br />

auch anders. Vielleicht haben die Sklaven<br />

beim Waschen der Kleider auch selbst herausgefunden,<br />

dass die alkalische Brühe ihre<br />

Haare glatt macht. Gesichert ist: Im Jahr<br />

1913 brachte C. J. Walker, eine Tochter ehemaliger<br />

Sklaven, die erste Glättungscreme<br />

auf den amerikanischen Markt. Basierend<br />

auf Lauge. Das Produkt war so erfolgreich,<br />

dass sie die erste afroamerikanische<br />

Millionärin wurde.<br />

Yvettes Mutter trägt heute Dreadlocks<br />

– eine traditionelle afrikanische Frisur.<br />

«Noch vor fünf Jahren hätten die Leute<br />

mich für einen kiffenden Freiheitskämpfer<br />

gehalten», sagt sie. Nie hätte sie mit<br />

solch einer Frisur ins Büro gehen können.<br />

Aber sie beobachtet, dass die Stimmung<br />

dreht. «Lange Zeit haben wir blind westlichen<br />

Schönheitsidealen nachgeeifert. Weil<br />

der Westen für uns Zivilisation bedeutete.<br />

Jetzt lernen wir langsam, Schönheit auch<br />

in afrikanischem Aussehen zu erkennen»,<br />

sagt sie. Es hat sie überrascht, wie viele<br />

Reaktionen der Blog ihrer Tochter ausgelöst<br />

hat. Freundinnen riefen sie an und<br />

fragten: «Das ist ja deine Tochter! Ich will<br />

auch so eine Frisur. Wie macht sie das?»<br />

In den 1980er-Jahren war ein Afro ein<br />

Afro. Ein Helm aus Wolle, wie die Bürgerrechtlerin<br />

Angela Davis ihn trug. Heute gibt<br />

es zig verschiedene Arten, wie man seine<br />

natürlichen Haare tragen kann. Yvette<br />

macht von jeder Frisur ein Foto und veröffentlicht<br />

es auf ihrem Blog.<br />

Frauen wie Yvette tauschen sich aus<br />

in der geschlossenen Facebook-Gruppe<br />

The Curly Diaries. Die Gruppe hat 1500<br />

Mitglieder – die meisten von ihnen leben<br />

in Nairobi. Geschlossen ist die Gruppe,<br />

12 DAS MAGAZIN 42/2014<br />

weil nur Frauen dabei sein sollen, die ernsthaft<br />

an die «Bewegung der natürlichen<br />

Haare» glauben. Wer sich längere Zeit nicht<br />

online an der Diskussion beteiligt, wird<br />

rausgeworfen, und der Platz wird neu vergeben.<br />

Eine der Administratorinnen ist<br />

Susan Kinuthia. Sie ist dreissig Jahre alt, hat<br />

zwei kleine Kinder, arbeitet in einer Werbeagentur<br />

und sagt über ihre Ehe: «Ich bin<br />

nicht auf meinen Mann angewiesen, ich<br />

verdiene selbst genug.»<br />

Susan lebt in South B, dem Stadtteil der<br />

aufstrebenden Mittelklasse von Nairobi.<br />

Die Strassen sind staubig, krumme Obststände<br />

drängen sich an die Hauswände, aber<br />

in den Höfen der mehrstöckigen Wohnhäuser<br />

parkieren schwarze BMWs. Hier<br />

wohnt das neue afrikanische Bürgertum.<br />

Es ist Sonntag, Susan hat drei Freundinnen<br />

eingeladen. Sie haben Pilau und<br />

Kachumbari, ein Reisgericht und Tomatensalat,<br />

zu Mittag gegessen, jetzt richtet<br />

Susan ihren privaten Salon her. «Sonntag<br />

ist mein Haartag», sagt sie. Auf dem Balkon<br />

steht ein Waschbecken wie beim Coiffeur,<br />

an der Wand hängen Handtücher,<br />

ein paar Plastikstühle stehen herum, in der<br />

Ecke lehnt ein grosser Spiegel.<br />

Bevor sie mit dem Styling anfangen,<br />

wollen Susan und ihre Freundinnen auf<br />

der Strasse ein paar Zutaten einkaufen. Am<br />

Tor zögert eine, die ihren Dutt bereits gelöst<br />

hat und deren Haare wild vom Kopf<br />

abstehen. «Jetzt verlasse ich meine Komfortzone»,<br />

sagt sie unsicher. Sie hatte nicht<br />

geplant, noch einmal auf die Strasse zu<br />

gehen. Nun hat sie das Gefühl, alle würden<br />

ihren Afro anstarren.<br />

«Bananen und Avocado benütze ich als<br />

Kur, genauso Mayonnaise», erklärt Susan<br />

Weckt bereits beim Auspacken die Vorfreude<br />

auf einen unvergesslichen Genuss:<br />

Adoro, das kleine Geschenk, das immer passt.<br />

Frey gibt’s in Ihrer Migros.


«Latte macchiato<br />

bitte – frisch gemahlen,<br />

nicht gekapselt.»<br />

In den Haarsalons flechten mehrere Mitarbeiterinnen gleichzeitig Kunstzöpfe in das<br />

Haar der Kundin. Es dauert bis zu vier Stunden und ist schmerzhaft.<br />

am Obststand. Sie verwendet – wie Yvette<br />

– fast nur natürliche Produkte, um ihre<br />

Haare zu pflegen und zu stylen. Essig eignet<br />

sich, um die Haare zu reinigen. Honig<br />

macht sie weich. Joghurt spendet Feuchtigkeit.<br />

Aufgequollene Leinsamen, durch<br />

ein Tuch gepresst, haben den gleichen<br />

Effekt wie Gel. Alle diese Informationen<br />

teilt Susan in der Facebook-Gruppe.<br />

Wenn sie im Forum ein Shampoo empfiehlt,<br />

das neu im Supermarktregal steht,<br />

ist es nach zwei Tagen ausverkauft. Mitglieder,<br />

die sich gerade erst entschieden<br />

haben, ihre Haare natürlich zu tragen, werden<br />

ermutigt: «Sieht toll aus, weiter so!»<br />

«The natural hair journey», die Reise zu den<br />

natürlichen Haaren, nennen sie es. Kürzlich<br />

haben sie eine Party veranstaltet. Zweihundert<br />

weibliche Gäste waren da. Das<br />

Fernsehen drehte einen Beitrag. Es war<br />

schon die dritte Party dieses Jahr. Nächsten<br />

Monat werden die vier Administratorinnen<br />

nach Mombasa reisen, um sich mit<br />

den Mitgliedern, die an der Küste leben,<br />

zu vernetzen.<br />

Zurück auf dem Balkon, teilt Susan die<br />

Haare ihrer Freundin in wuschelige Strähnen<br />

und bindet sie zu kleinen Pinseln ab.<br />

«Sag Bescheid, wenn es wehtut, dann mache<br />

ich es lockerer», sagt sie. «Ich will dir kein<br />

Kenyatta-Markt-Lifting verpassen.» Der<br />

Kenyatta-Markt ist ein schmutziges Labyrinth<br />

aus Metzgereien und Haarsalons und<br />

der bekannteste Ort in Nairobi, um sich<br />

Kunsthaare einflechten zu lassen. Hier sitzen<br />

die Kundinnen mehrere Stunden lang<br />

auf dem Stuhl, bestellen Grillfleisch, während<br />

drei, vier Mitarbeiterinnen gleichzeitig<br />

dünne Zöpfe flechten. Viele ziehen<br />

dabei so fest, dass die Kundinnen mit dem<br />

Gefühl nach Hause gehen, ihr Kopf<br />

klemme in einem Schraubstock. Die gespannte<br />

Kopfhaut zieht die Augenbrauen<br />

nach oben und macht Lachen unmöglich.<br />

«Schluck eine Schmerztablette», raten dann<br />

die Salonbesitzerinnen.<br />

Susan und ihre Freundinnen betreten<br />

seit Jahren keine Haarsalons mehr. «Wenn<br />

wir durch die Tür kommen, sehen die<br />

Frauen unsere krausen Haare, und das<br />

Erste, was sie tun: Sie greifen nach dem<br />

Föhn. Sie wollen unsere Haare glätten,<br />

damit sie anfangen können, damit zu arbeiten.<br />

Sie wissen einfach nicht, wie sie mit<br />

unserem störrischen Haar umgehen müssen»,<br />

sagt sie. «Und sie haben auch keine<br />

Geduld, es zu lernen.» Susan und die drei<br />

anderen Administratorinnen haben den<br />

Namen Curly Diaries bereits schützen lassen.<br />

Sie planen, demnächst eigene Salons zu<br />

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MADE<br />

14 DAS MAGAZIN 42/2014


eröffnen. Susans Balkon ist eine Art Pilotprojekt.<br />

Sie alle haben den Haaransatz von<br />

Naomi Campbell gesehen. Das Supermodel<br />

der 1990er-Jahre, die schwarze Exotin<br />

auf den Laufstegen in Paris, Mailand und<br />

New York, hat während ihrer ganzen Karriere<br />

die Haare geglättet und Verlängerungen<br />

oder Perücken getragen. Heute zeigen<br />

sich die Folgen: Campbells Ansatz hat sich<br />

nach hinten verschoben, drei Zentimeter<br />

breit sind ihr die Haare ausgefallen. So geht<br />

es vielen Frauen mit Anfang, Mitte vierzig.<br />

Wer über Jahrzehnte hinweg glättet, muss<br />

mit schlimmem Haarausfall rechnen. Die<br />

Entscheidung, sein Haar natürlich zu tragen,<br />

ist auch eine Entscheidung für die<br />

Gesundheit.<br />

Modemagazine und Werbung reagieren<br />

auf das neue afrikanische Selbstbewusstsein.<br />

Zeitschriften wie «Forbes Wo -<br />

man» und «New African Woman» zeigen<br />

Frauen in Ethno-Klamotten und mit krausen<br />

Haaren. Die moderne afrikanische Frau<br />

ist keine Barbie mehr mit langen, glatten<br />

Haaren und heller, milchkaffeefarbener<br />

Haut. Sie ist erfolgreich, dunkel und trägt<br />

Afro. Die kenianische Schauspielerin Lupita<br />

Nyong’o, die den Oscar für ihre Ne benrolle<br />

in «Twelve Years a Slave» ge wonnen<br />

hat, verkörpert diesen neuen Typ Frau. Sie<br />

zeigt ihre natürlichen Haare, wenn auch<br />

kurz. Und ist das neue Werbegesicht des<br />

Kosmetikherstellers L’Oréal. Als erste<br />

Schwarze überhaupt. Nach Julia Roberts,<br />

Kate Winslet, Lily Collins, Penélope Cruz.<br />

Schwarze Frauen sind für die Kosmetikindustrie<br />

wichtige Kundinnen – und sie<br />

werden immer wichtiger. 300 Millionen<br />

Menschen gehören heute der afrikanischen<br />

Mittelschicht an, bis 2060 werden<br />

es eine Milliarde sein. Und lange war klar,<br />

was die Frauen wollten: möglichst helle<br />

Haut und langes, glattes Haar. Das ändert<br />

sich nun. In den USA brachen die Verkaufszahlen<br />

für Glättungscreme im letzten<br />

Jahr drastisch ein: Die Hersteller verloren<br />

laut dem Marktforschungsinstitut<br />

Mintel ein Viertel ihres Umsatzes. In<br />

Afrika glättet zwar noch die Mehrheit der<br />

Frauen, aber langfristig ist mit derselben<br />

Entwicklung zu rechnen wie in den USA.<br />

Was also will die Kundin in Zukunft?<br />

L’Oréal ist die grösste Kosmetikfirma<br />

der Welt und die Glättungscreme «Dark<br />

and Lovely» ihr wichtigstes Produkt auf<br />

dem afrikanischen Markt. Seit zwei Monaten<br />

hat L’Oréal East Africa mit Sitz in Nairobi<br />

einen neuen Chef, den Belgier Philippe<br />

D’Have, einen weissen Mann. Nach<br />

acht Wochen im Amt fühlt er sich nicht in<br />

der Lage, ein Interview zu geben. Er sei<br />

noch nicht ausreichend eingearbeitet, lässt<br />

DEIN HEISSHUNGER<br />

ERWARTET DICH IN<br />

Nina sprüht Olivenöl auf das Haar ihrer dreijährigen Tochter Ela.<br />

Weil Ela einen schottischen Vater hat, ist ihr Haar nicht so stark gekräuselt wie das ihrer Mutter.<br />

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18 19<br />

er durch die Pressestelle in Paris ausrichten.<br />

Afrikanische Haare als schwer zu<br />

durchdringendes Mysterium. Auskunft<br />

geben kann nur eine Mitarbeiterin am<br />

Hauptsitz in Paris, Virginie Rouchier. «Die<br />

afrikanischen Frauen haben sehr viele verschiedene<br />

Frisuren, das müssen wir verstehen»,<br />

sagt sie am Telefon. Bei einer Reise<br />

durch Südafrika und Kenia war sie überrascht<br />

festzustellen, dass viele sogar unter<br />

ihrer Perücke die Haare geflochten haben.<br />

Natürliche Haare? Hat sie kaum gesehen.<br />

Es sei wichtig für die afrikanischen Frauen,<br />

dass sie ihre Haare besser managen können.<br />

Zu glätten sei von Vorteil, selbst<br />

wenn man nachher flicht. Ob das Glätten<br />

schädlich ist? «Nein, natürlich nicht, sonst<br />

würden die Frauen es ja nicht machen.»<br />

Kosmetikindustrie springt auf<br />

Am Samstagabend ist Nina Dunn, 37 Jahre<br />

alt, mit Freundinnen in ihrem Lieblingsrestaurant<br />

verabredet, dem «Talisman». Nina<br />

trägt ein buntes Sommerkleid mit dünnen<br />

Trägern und grosse, afrikanische Ohrringe.<br />

Sie hat in England Jus studiert, in Deutschland<br />

bei der UNO gearbeitet und in China<br />

Sprachunterricht gegeben. Seit der Geburt<br />

Es gibt Glättungscremes schon für Kinder. Von der lilafarbenen Verpackung lächelt ein<br />

kleines Mädchen mit glattem Haar, «Beautiful Beginnings» verspricht der Hersteller L’Oréal.<br />

ihrer Tochter arbeitet sie als persönliche<br />

Fitnesstrainerin. Ihr Mann, ein Schotte, leitet<br />

eine internationale Schule. Sie ist keine,<br />

die ihre Avocado selbst mixt, dafür hat sie<br />

keine Zeit.<br />

Mit ihren Freundinnen will sie auf den<br />

ersten Geburtstag ihres Blogs «My Big Fat<br />

Afro» anstossen. Es ist eine der meistgelesenen<br />

Websites zum Thema natürliches<br />

Haar in Nairobi. Zu fünft sitzen sie unter<br />

hohen Bäumen, auf den Bänken liegen<br />

orientalische Kissen. Es gibt Fusion Food,<br />

die Preise bewegen sich auf dem Niveau<br />

von New York. Alle tragen ihr Haar natürlich.<br />

Die Frauen nippen an ihren Cocktails<br />

mit Erdbeerscheiben auf dem Rand und<br />

dippen Teigtaschen in eine süsse, rote<br />

Chilisauce.<br />

Nina und ihre Freundinnen bestellen<br />

ihr Shampoo online in den USA oder lassen<br />

es sich von Bekannten von dort mitbringen.<br />

Afroamerikanerinnen haben in<br />

den letzten Jahren spezialisierte Kosmetikfirmen<br />

gegründet. Sie verwenden nur<br />

natürliche Inhaltsstoffe. «In Kenia gibt es<br />

kaum gute Produkte für unser Haar», sagt<br />

Nina. Dabei wäre sie bereit, Geld auszugeben.<br />

Wenn sie im Supermarktregal die<br />

Glättungscremes sieht, die sogar schon<br />

für Kinder angeboten werden, ärgert sie<br />

sich. Von der lilafarbenen Verpackung<br />

lächelt ein kleines Mädchen mit glattem<br />

Haar, «Beautiful Beginnings» verspricht<br />

der Hersteller L’Oréal. Nina misstraut den<br />

grossen Konzernen. Weil sie jahrzehntelang<br />

ihre Gewinne mit Glättungscreme<br />

gemacht haben. Eine Werbekampagne, mit<br />

der kürzlich ein neues Produkt als natürlich<br />

beworben wurde, erboste sie so, dass<br />

sie einen Blogeintrag schrieb mit dem<br />

Hashtag #MarketingHeadsShouldRoll.<br />

Vor vier Monaten bekamen Nina und<br />

ihre Freundinnen einen überraschenden<br />

Besuch. Vier weisse Männer in Anzügen<br />

klingelten an der Wohnungstür, sie wurden<br />

begleitet von muskulösen, schwarz<br />

gekleideten Riesen. Eine Bekannte aus der<br />

Kosmetikbranche hatte das Treffen arrangiert.<br />

Experten aus der Industrie, hiess es,<br />

die sich für natürliches Haar interessieren.<br />

Nina und ihre Freundinnen geben grundsätzlich<br />

gern Auskunft. Sie wissen, dass sie<br />

den Forschungslabors und Marketingabteilungen<br />

der grossen Konzerne um Jahre<br />

voraus sind. Die Herren setzten sich in<br />

der Stube aufs Sofa und stellten viele Fragen.<br />

Wie oft waschen Sie Ihre Kopfhaut?<br />

Welche Produkte kaufen Sie? Wie viel<br />

geben Sie aus? Was vermissen Sie im Supermarkt?<br />

Entschuldigung, dürfen wir die<br />

Haare mal anfassen? Nachdem die Männer<br />

gegangen waren, googelte Nina die Namen<br />

auf den Visitenkarten. Sie staunte nicht<br />

schlecht: Es waren hochrangige Manager<br />

eines US-Konzerns, der Haarprodukte herstellt.<br />

Nun verstand sie, warum die schwarz<br />

gekleideten Typen sich nicht hatten setzen<br />

wollen. Es waren Bodyguards.<br />

Die Frauen bestellen eine weitere<br />

Runde Drinks. Inzwischen ist es dunkel<br />

geworden, der Kellner bringt eine Kerze.<br />

Nina zieht ihre Jeansjacke über. Eine ihrer<br />

Freundinnen am Tisch stellt ihre eigene<br />

Haarpflege aus Sheabutter her und vertreibt<br />

sie übers Internet. In den nächsten<br />

Monaten soll es einen Relaunch geben.<br />

«Fällt euch ein guter Name ein?», fragt sie.<br />

Eine von ihnen wird das Design übernehmen,<br />

die anderen werden das Produkt testen.<br />

«In zwei Jahren verkaufe ich meine Butter<br />

an L’Oréal», ruft die Gründerin. «Ich<br />

spekuliere auf zwei Millionen Dollar, an<br />

eurer Stelle würde ich mir rechtzeitig Anteile<br />

sichern!» Die Frauen lachen und klatschen<br />

die Hände aneinander, high five.•<br />

PAULA SCHEIDT ist Reporterin des «Magazins».<br />

paula.scheidt@dasmagazin.ch<br />

LINDA TUTMANN ist freie Journalistin und lebt<br />

in Hamburg und Nairobi.<br />

linda.tutmann@enarro.de<br />

Der Fotograf TILL MÜLLENMEISTER lebt und<br />

arbeitet in Nairobi. www.tillmuellenmeister.com<br />

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(es gilt das zuerst Erreichte). Nur bei teilnehmenden Vertretern. Abgebildetes Modell enthält ggf. Optionen gegen Aufpreis.


DER MANN<br />

VON DER SITTE<br />

Die «Rote Zora» arbeitete im Zürcher Milieu, als es noch keine Verrichtungsboxen gab.<br />

Im neuen Buch von Susanna Schwager erinnert sich ein Polizist an sie. Und daran, wen<br />

man alles antraf in den Salons.<br />

BILD: JESSICA HAYE & CLARK HSIAO / THE COLLABORATIONIST<br />

«Ich trage zusammen, was in Gesprächen an mich herantritt<br />

und mir überlassen wird. Ich erfinde nichts, ich<br />

verdichte. Die Wahrheit entzieht sich, wie stets. Im besten<br />

Fall entsteht Wahrhaftigkeit», sagt Susanna Schwager.<br />

So hielt es die Zürcher Schriftstellerin in ihrem ersten<br />

Buch, «Fleisch und Blut», einer Hommage an ihre<br />

Grosseltern, und es ist nicht anders in ihrem neusten, das<br />

dieser Tage erscheint: «Freudenfrau» (Wörterseh Verlag).<br />

Es ist die Lebensgeschichte von Hedy aus St. Gallen,<br />

einem kleinen, schönen, gescheiten Mädchen «mit blondrötschigen<br />

Haaren bis zur Taille hinunter», aus dem Jahre<br />

später im Zürcher Niederdorf die «Rote Zora» wurde,<br />

eine Prostituierte, die rasch auffiel im Milieu – erst recht,<br />

nachdem sie 1984 in ihrem eigenen Salon grausam misshandelt<br />

und 1986 von einem Zuhälter angeschossen<br />

worden war. Viele kannten den Namen Zora, aber niemand<br />

Hedys Geschichte – bis Susanna Schwager sie jetzt<br />

aufgeschrieben hat, kurz vor dem Tod Hedys im Februar<br />

2014. Über eineinhalb Jahre hatte sie Hedy immer<br />

wieder besucht, ihr zugehört, während ihr treuer Gefährte<br />

Päuli und Hund Luzi II danebensassen. Sie erzählte<br />

vom «umgottswillen so verklemmten» St. Gallen<br />

und von ihrem ersten Mann, Hotelierssohn und Vater<br />

einer gemeinsamen Tochter, dem sie in den Maghreb<br />

folgte. Und sie berichtete von ihrer Zeit als Zora. Auf<br />

Hedys Geschichte ist Susanna Schwager über einen<br />

Bekannten aus Kindertagen gestossen, einen Mann von<br />

der «Sitte», den sie Werni Freudiger nennt. Auch ihm gibt<br />

sie im Buch eine Stimme. Die Schriftstellerin hat den pensionierten<br />

Polizisten am Spitalbett besucht, wo er sich,<br />

von einem Unfall genesend, nicht nur an Zora erinnert,<br />

sondern überhaupt an seine Arbeit im Zürcher Milieu,<br />

dreissig Jahre vor dem Zeitalter der Verrichtungsboxen.<br />

Davon handelt der folgende Buchauszug.<br />

Text SUSANNA SCHWAGER<br />

Ich nannte sie immer Frau Zora. Ich kenne keinen Polizisten,<br />

der mit ihr per Du war und es gewagt hätte, sie beim Vornamen<br />

zu nennen. Ansonsten war das normal. Aber die Zora<br />

war die Frau Zora. Inzwischen bin ich ja schon so lange pensioniert.<br />

Und jetzt kürzlich, als ich sie traf im Dorf, da gingen<br />

wir in der Kantorei zusammen essen. Und ich nannte sie wieder<br />

so. Sagte sie – Wir könnten uns du sagen, Werni. Wir sind<br />

ja jetzt nicht mehr im Geschäft. Wir sind doch fast Freunde<br />

und nur noch uns selber. – Einverstanden, Hedy. Das freut<br />

mich.<br />

Sie war mir eigentlich immer ein Rätsel. Und dass sie jetzt<br />

verschwunden ist, erstaunt mich gar nicht. Ich glaube, es ist<br />

lebenswichtig für sie, dass sie abtauchen kann ab und zu. Dass<br />

keiner ihren Namen kennt und ihre Adresse. Auch nicht ihre<br />

wahre Geschichte.<br />

Jedes Mal, wenn man sie antrifft, nimmt man etwas<br />

Neues auf von dieser Frau. Eine Überraschung. Nie weiss<br />

man alles. Das ist an und für sich – ich finde es richtig interessant.<br />

Das sagte ich auch zu Erna, meiner Frau – Komm<br />

doch gopfertelli mit zu dem Essen mit ihr. Komm mit. –<br />

Sie redet meistens wenig. Oder dann wie ein Wasserfall,<br />

man kann sie kaum bremsen. Meistens geht es gar nicht um<br />

sie. Von sich selber redet sie nicht gern. Es erstaunt mich, dass<br />

sie überhaupt etwas erzählt. Vor allem menschlich interessant<br />

und unvorhersehbar ist diese Frau. Sehr eigen. Sehr harter<br />

Kopf. Intelligent sowieso. Und hübsch. Ich finde sie<br />

immer noch sehr hübsch.<br />

Ich war es nicht, der sie fand, damals. Das war ein Kollege,<br />

er ist inzwischen fortgezogen. Ich hatte, wie alle, nur<br />

davon gehört. Und auf der Wache die Fotos gesehen. Jeder<br />

sprach davon, die ganze Stadt. Ich glaube, das war der grässlichste<br />

Fall, den es je gegeben hat in Zürich.<br />

Als Zora sah ich sie nie. Ich meine, ich traf sie nirgends<br />

an, wo man die Damen sonst antraf. In keinem Salon, in keinem<br />

Etablissement, nirgends. Auch nicht auf dem Trottoir,<br />

und auf dem Strassenstrich stand sie schon gar nicht rum. Nur<br />

einmal, später, fast am Schluss. Sonst sah ich sie nie anschaffen.<br />

So ist das ja mit ihr, man trifft sie nicht einfach so. Sie soll<br />

ihren Salon später untervermietet und nicht mehr selber gearbeitet<br />

haben. Daraus entstand wohl nachher diese grosse<br />

Katastrophe.<br />

Wenn sich unsere Wege kreuzten, war das eine ganz normale<br />

Person. Nicht aufgedonnert, adrett gekleidet. Wie eine<br />

normale Frau sah sie aus, aber hübscher als andere, freundlicher.<br />

Man erkannte sie von weitem an ihrer Sprache, sie<br />

sprach niemals ordinär, aber sie konnte ein giftiges Maul<br />

haben. Im St. Galler Dialekt giftet es natürlich besonders<br />

schön.<br />

Es ist so, wenn ich etwas mit ihr zu tun hatte, ging ich zu<br />

ihr in die Wohnung hinauf. Ab und zu musste ich sie etwas<br />

fragen oder etwas klären. Da war man bei ihr an einer guten<br />

Adresse. Die Zora sagte mehr die Wahrheit als die meisten.<br />

Und sie sah auch Zusammenhänge, sie machte sich einen<br />

Reim auf die Vorgänge, sie hatte die Augen offen. Vielleicht<br />

mehr, als für sie gut war.<br />

Bei ihr war übrigens der einzige Ort, wo ich einen Kaffee<br />

nahm. Immer alles tipptopp und blitzsauber. Sonst ist man<br />

lieber nicht auf die Stuhlkante gesessen. Ab und zu trank man<br />

schon mal ein Bier aus der Flasche und ging dann möglichst<br />

sofort wieder. Aber bei ihr, das muss ich sagen, war es angenehm.<br />

Richtig gastlich. Da konnte man sitzen, ein wenig ausruhen<br />

und über Gott und die Welt reden.<br />

Du musst wissen, es gab viele, die mit ihrer Identität<br />

spielten im Milieu. Auch mussten. Für manche war es lebensnotwendig,<br />

sich zu verkleiden. Nicht weil sie etwas auf dem<br />

Kerbholz hatten, sondern weil sie mit der Maske eine Persönlichkeit<br />

annahmen, mit der sie erst richtig leben konnten. Für<br />

andere war es überlebenswichtig, weil die prüde Gesellschaft<br />

sie sonst nicht in Ruhe liess. Es war ja, sagen wir, bis fast zur<br />

Jahrtausendwende, alles verboten. Ausser Arbeiten und ein<br />

bisschen Sex zwischen Mann und Frau am frühen Abend in<br />

der Missionarsstellung war offiziell eigentlich alles verboten.<br />

Da bin ich sehr allergisch. Ich meine, gegen dieses Geheuchel.<br />

Es gab so viel Getue in den sogenannt besseren Kreisen.<br />

Ich möchte ja nicht erzählen, wen wir alles antrafen in den<br />

Salons. Zum Beispiel die Seelsorger, sie nannten sich Seelsorger.<br />

Einer erklärte uns immer, er müsse diese Frauen erziehen.<br />

Umbiegen, nannte er es, auf den guten Weg bringen.<br />

Und ich – Scho guet! Alles klar. –<br />

Man sah Dinge, über die konnte ich einfach nur staunen.<br />

Ständig habe ich doch den Pfarrer angetroffen, beim Champagner<br />

und der Arbeit für den richtigen Weg. Auch andere,<br />

namhafte und stramm moralsichere Herren der Stadtprominenz.<br />

Aber gut, da machte man sicher keinen Ballon daraus.<br />

20 DAS MAGAZIN 42/2014<br />

21


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Jeder hat seine Bedürfnisse, geht mich nichts an. Nur die<br />

Heuchelei ging mir extrem auf den Sack. Und daraus Profit<br />

schlagen.<br />

Gewisse Leute hatten zum Beispiel Häuser unten an der<br />

Langstrasse und auch im Dorf. Die Verwaltung übertrugen<br />

sie scheinheilig einer Firma und liessen dann Huren einquartieren<br />

und von Zuhältern überwachen. Selber logierte man<br />

am Zürichberg, Sonnenberg, Herrliberg, und für die elenden<br />

Zimmerchen kassierte man zweihundert Stutz, in den<br />

Achtzigern. Pro Bett und Nacht. Verdammter Wucher.<br />

Die erwischst eben nie. Das hat mich immer gewurmt.<br />

Alles immer ganz legal.<br />

Unvergessliche Bilder<br />

Ich lernte viel über die Menschen und habe schon lange die<br />

romantischen Illusionen verloren. Vor allem über die sauberen<br />

Westen lernte ich viel. Und wie auslegbar und willkürlich<br />

auch das Rechtswesen sein kann. Ohne Kohl. Unsere hehren<br />

Gerichte. Überall hocken ein paar Gute und zu viele Schlechte.<br />

Käufliche. Eigentlich habe ich lange an unser Recht geglaubt,<br />

an unseren Rechtsstaat. Auch an eine rechte Politik. Aber man<br />

darf dem Seich nicht zu nahe kommen und nicht zu lange drin<br />

sein. Sonst sieht man nur noch schwarz. Berufskrankheit.<br />

Es kommt auf den Einzelnen an. Ich glaube, es geht<br />

letzten Endes immer um Courage im Leben. Ob etwas gut<br />

ist oder nicht und ob die Institutionen dem Leben dienen, das<br />

machen Einzelne. Es geht um ein Gewissen und den Mut,<br />

etwas zu tun oder nicht zu tun, nach dem Gewissen. Das ist<br />

ja meistens unbequem. Dafür hinstehen. Mir scheint, es werden<br />

immer weniger, die Courage haben und selber für etwas<br />

hinstehen. Es wird alles abgewälzt. Und natürlich wird von<br />

oben nach unten gewälzt, immer nach unten, bis ganz zuunterst.<br />

Die Untersten liegen flach und bluten.<br />

Ich bin jetzt viele Jahre weg von der Sitte. Aber du glaubst<br />

es nicht, ich träume doch ständig. Jede Nacht. Immer mehr<br />

eigentlich.<br />

Ich sah schon vieles, das nicht schön war. Es gibt Dinge,<br />

die kann man nicht verdauen. Wenn man Glück hat, kann<br />

man sie vergessen. Aber ich verschone dich damit.<br />

Die Hedy musste nicht ich finden, zum Glück.<br />

Manchmal kommt man an Grenzen. Oft, wenn man zu<br />

den sogenannt aussergewöhnlichen Todesfällen ausrücken<br />

muss. Und die Bilder hat man dann, sie brennen sich ein. Wie<br />

dieses eine, das immer wieder auftaucht. Ein junges Paar,<br />

Mann und Frau, nackt beide, in der Liebe vereint. Schöne<br />

junge Menschen. Wirklich noch ganz in der Liebe zusammen.<br />

Aber rundherum alles voller Blut und Flüssigkeiten. Die<br />

Köpfe kaputt und zerrissen. Sie hielt ihn ganz umschlossen.<br />

Und auf dem Abschiedsbrief – sie möchten so sterben. Für<br />

immer zusammenbleiben. Er erschoss zuerst sie, dann sich.<br />

Und tatsächlich waren sie immer noch ineinander. Wir liessen<br />

sie zusammen, wickelten sie in saubere Tücher.<br />

Für die, die das finden, ist es nicht schön. Wir mussten<br />

ausrücken. Die, die es zusammenschaufeln und einpacken<br />

und abtransportieren müssen, haben dann die Filme. Diese<br />

sterblichen Reste in der Nacht, diese verlassenen und verlorenen<br />

Leiber. Es brennt sich ein. Ich sage dir, ich mag die<br />

ewige Verbundenheit im Geiste nicht.<br />

Verfolgen tut es mich nicht, es kommt einfach und geht.<br />

Ich betrachtete die meisten Fälle eher – als menschlich interessant.<br />

Als Polizist studierst du die Menschen, du musst.<br />

Kennst ihre Ängste und Fehler. Aber manches kannst du nicht<br />

mehr einfach als interessant verschaffen.<br />

Die Sprüche der Gerichtsmediziner zum Beispiel. Einer<br />

war ganz grauenhaft, ein hoher Beamter. Einmal lag eine tote<br />

Frau auf dem Schragen. Und wenn jemand ohne ersichtlichen<br />

Vor allem über die sauberen Westen lernte ich viel. Und wie auslegbar und willkürlich<br />

auch das Rechtswesen sein kann. Ohne Kohl. Unsere hehren Gerichte.<br />

Grund tot ist, wird der Leichnam ausgezogen. Der Mediziner<br />

muss schauen, ob irgendwo eine Wunde ist oder ob sie<br />

ein Messer im Rücken hat. Und der medizinische Beamte<br />

beugte sich über die nackte Tote und sagte – Verdammi, ist<br />

die fett, wie kann man nur so verfressen sein. – Einen solchen<br />

Spruch hätte ich nie erwartet von einem Arzt.<br />

Weisst du, der Zynismus und die Menschenverachtung,<br />

sogar angesichts des Todes. Das ertrug ich ganz schlecht. Ich<br />

habe mich immer gefragt, ist das Zynische verzweifelt cool,<br />

oder ist es Verachtung? Und ist die Verachtung Selbstschutz?<br />

Der Schutzschild der Herzschwachen und Überforderten?<br />

Dann sind die doch am falschen Platz!<br />

Ich war ja auch kein Kirchenlicht, das hat dir die Zora<br />

sicher erzählt. Machte selber auch ab und zu einen Hurenseich.<br />

Das kommt dann eben auch nachts wieder.<br />

Du darfst die Nerven nie verlieren und den klaren Blick.<br />

Aber man ist auch nur ein Mensch. Vielleicht ist es das Wichtigste<br />

im Leben, Gelassenheit. Das Schwierigste auch. Hast<br />

du gute Nerven? Sonst will ich dir all diese Geschichten<br />

nicht antun. Sie haben nichts mit Hedy zu tun. Eine erzähle<br />

ich dir, weil Hedy den Psychiater gut kannte, der am Schluss<br />

eine Rolle spielte.<br />

Weil es menschelt<br />

Ein hohes Tier. Er spielte leider oft eine wichtige Rolle. Ich<br />

fuhr zehn Jahre Streife in der Stadt. Einmal telefonierte morgens<br />

um zwei der Abwart der MFO, Maschinenfabrik Oerlikon.<br />

Er höre Hilferufe bei den Gleisen unten. Wir sind<br />

natürlich im Affenzahn ausgerückt. Und da lag tatsächlich<br />

einer, ein Körper, zwischen den Gleisen. Ich meine, nur der<br />

Körper. Die Beine lagen neben dem Gleis. Wir versuchten<br />

noch, den Rumpf wegzutragen, aber dann kam schon wieder<br />

ein Zug, am Bahnhof Oerlikon kommen und gehen ständig<br />

die Züge. Wir konnten ihn nur blitzschnell so drehen, dass er<br />

ganz zwischen den Schienen lag. Und ich schrie – Chumm,<br />

Chopf abe! – Der hatte seinen Kopf auf die eine Schiene<br />

gelegt, auf die andere die Beine, aber dann wollte er plötzlich<br />

doch am Leben bleiben. Beim ersten Zug konnte er den<br />

Kopf noch rechtzeitig zurückziehen, aber die Beine nicht<br />

mehr. Ich schrie also – Mach schnell, zieh den Kopf ein! –<br />

Und dann kam schon der langsame Güterzug, morgens um<br />

zwei, dödpu dödpu dödöpudödöpudödöpu. Ewig. Wir waren<br />

sicher, den müssen wir in Wipkingen zusammenschaben.<br />

Aber verrückt, als nach unendlicher Zeit der letzte Wagen<br />

vorbei war, tauchte der Kopf auf und rief – Hallo? –<br />

Da friert es mich heute noch, so schön war das. Das war<br />

das fantastisch Schöne im unsagbar Traurigen. Die Sanitäter<br />

luden ihn auf die Bahre, nur mit den Fingerspitzen, und<br />

der Kollege und ich nahmen je ein Bein unter den Arm. Sie<br />

bluteten nicht, und sie waren warm, ich weiss es noch. Dann<br />

brachten sie ihn ins Spital und nähten ihm die Beine wieder<br />

an. Und der Psychiater kam und wies ihn in die Irrenanstalt.<br />

Zwei Tage nach der Operation starb der arme Kerli.<br />

Er war anscheinend abgehauen aus der Psychiatrischen,<br />

aus dem Burghölzli. War schon mehrmals geflüchtet aus der<br />

Nervenheilanstalt, um sich das Leben zu nehmen.<br />

Dieser mächtige Psychiater ist eben auch einer, der mich<br />

manchmal nachts verfolgt. Die Hedy kannte ihn, ein Gast.<br />

Sie erzählte mir eine Geschichte, die war von höherer Abgründigkeit,<br />

wie aus einem Dürrenmatt-Stück. Ein Psychiater kam<br />

immer, wenn wir einen heiklen Fall hatten. Also wenn zum<br />

Beispiel eine Frau durchdrehte. Und dieser Herr war ein ganz<br />

primitiver Siech, ich sage es offen. Er machte solche Sprüche<br />

– Die müsste man nur mal ordentlich drannehmen! Von vorn<br />

und von hinten. Dann würde die schnell wieder normal.<br />

Anscheinend war die Hedy einmal mit diesem Herrn in<br />

einem Hotel gewesen. Galantes Wochenende, er hatte sie eingeladen.<br />

Und hatte scheints einen grossen Koffer dabei.<br />

Damit sei er auf seiner Suite verschwunden, und nach einer<br />

Weile habe er sie gerufen.<br />

Und dann stand er da im Vollwichs, in einer SS-Uniform<br />

mit Reitgerte, du glaubst es nicht. Er wollte als SS-Offizier<br />

mit ihr essen auf dem Zimmer und dann von ihr gezüchtigt<br />

werden. Aber die Hedy habe dem die Uniform ausgezogen<br />

und zerschnitten. Und ihm dann nach Kräften und richtig<br />

den Hintern versohlt.<br />

Ich fragte die Hedy einmal, warum sie sich das antue und<br />

das mache. Sie sagte mit ihrem Lächeln – Weil ich mein eige­<br />

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es menschelt. Ich mache das meistens nicht ungern.<br />

Weisst du, in meinen Nächten denke ich manchmal,<br />

ich war kein guter Polizist. Im Grunde. Im Naturell bin<br />

ich einfach zu weich. Ich musste mich immer bemühen,<br />

ein harter Siech zu sein. Sonst hast du Probleme, weil<br />

es dir zu nahe geht und weil sie deine Gutmütigkeit ausnützen.<br />

Ich habe immer versucht, nicht nur hart zu sein,<br />

aber auch nicht blöd. Oft hätte ich ganz andere verhaften<br />

wollen, als ich es musste. Es ist eine Gratwanderung.<br />

Häufig wusste ich, das kann jetzt heikel werden für mich.<br />

Aber wenn ich diese Drogendirnen am Sihlquai und am<br />

Platzspitz habe, diese armen, kranken Geschöpfe, und<br />

wenn ich die ständig büsse und aufschreibe, was ändert<br />

das? Und wem nützt das?<br />

Ich redete lieber mit ihnen. Und wenn es gar nicht<br />

mehr anders ging, musste ich eine verzeigen, weil es sonst<br />

auffiel. Meistens drückte ich drei Augen zu. Ich kann dir<br />

sagen, viel lieber hätte ich die Hunde eingesperrt, die<br />

diese Frauen besteigen.<br />

Ich war ein schlechter Polizist, weil sie mir leid taten.<br />

Das war nicht Mode in unserem Beruf. Heute bin ich<br />

sehr froh darüber. Sonst könnte ich wahrscheinlich gar<br />

nicht mehr schlafen.<br />

Wir hatten so Spezialisten, für die war das Verzeigen<br />

von Huren ein Sport. Die konnten an einem Abend fünfzehn<br />

Drogendirnen reinnehmen und waren richtig stolz<br />

darauf. Am andern Tag wurden sie vom Chef gelobt. –<br />

Fünfzehn in einer Nacht! Gute Leistung. Und du Pfeife,<br />

Freudiger, was treibst eigentlich die ganze Zeit? –<br />

Der Casanova<br />

In der Gegend, wo ich auf Streife war, hocken ja jetzt<br />

diese gelangweilten Millionäre. Aber bis vor kurzem war<br />

zum Beispiel der Damm unter der Eisenbahnbrücke am<br />

Fluss nach dem Letten eine ganz verruchte Adresse, da<br />

sass das krasse Publikum. Grad gegenüber vom Spunten,<br />

auf der anderen Limmatseite, war die Bierfabrik, das<br />

Löwenbräu-Areal. Jetzt ist dort drin eine Schönheitsfabrik,<br />

vielleicht saugen sie Fett ab, so was gibt es, und ein<br />

Galerientempel. Darüber superteure Wohnungen, Stararchitektur.<br />

Ich war nie drin. Und der Damm ist zu und<br />

wird wohl irgendwann abgerissen oder aufgewertet.<br />

Zu meiner Dienstzeit fuhren dort noch die Rocker<br />

mit der Harley in die Beiz. Und wenn ich auftauchte,<br />

riefen sie – Sheriff, wen musst haben? – Sagte ich – Du,<br />

du und du auch, ihr wisst, wohin. – Jawoll, Sheriff. Betreibungsamt.<br />

– Ich hatte einen Vorführungsbefehl, und sie<br />

wussten, wenn sie nicht spurten, dann marschierten sie.<br />

Solange sie sich an die Regeln hielten, hatten sie Ruhe<br />

und wir auch. So funktionierte das, gegenseitig. Sie wussten,<br />

wenn ich sage – Jetzt musst den Finger rausnehmen<br />

und zahlen –, dann war das so. Sonst hätte ich sie verhaftet.<br />

Der Ton zwischen uns war familiär.<br />

Zu meinem Revier gehörte auch der Casanova. Ein<br />

wahnsinniger Siech, Eisenleger. Wahrhaftig wahnsinnig,<br />

aber meistens war er ruhig. Ich kam gut aus mit ihm,<br />

und viele Frauen standen ja auf den. Der Casanova war<br />

immer auf hundertachtzig, es brannten ihm sehr schnell<br />

die Sicherungen durch. Der hatte massiv psychische<br />

Probleme. Mich verteidigte er immer. Wenn ich am Tisch<br />

sass und einer kam herein und pöbelte mich an, dann<br />

stand der Casanova langsam auf – Sheriff, musst nur melden.<br />

– Sage ich – Alles gut, ich komme schon zurecht.<br />

– Und der andere pöbelt weiter – Wääädääädäbullenverdammtescheissschroterdädäblabla!!!<br />

– Da nimmt der<br />

Casanova einen schweren Metallaschenbecher und<br />

schwartet den über die Theke. Die war grad gespalten.<br />

Und ruft – Hat noch einer Probleme mit dem Freudiger?!<br />

Ich schlag ihm die Fresse ein! – Man musste ihn<br />

sehr vorsichtig runterholen.<br />

Leider konnte ich ihn ja nicht rund um die Uhr<br />

beruhigen.<br />

Der Huerenidiot. In einem ganz schlimmen Anfall<br />

brachte er später seine Frau um. Sie habe immer dreingeschwatzt<br />

beim Fernsehen. Da nahm er ein Kissen, drückte<br />

es ihr aufs Gesicht und setzte sich darauf. Damit sie endlich<br />

ruhig sei. Es soffen ja beide. Wir kamen zu spät.<br />

Es sind ja oft die Frauen, die diese durchgedrehten<br />

Typen ruhigstellen und einigermassen sozialisieren. Sie<br />

sogar auf eine Art mögen. Auch viele Prostituierte sind<br />

unzimperlich und Menschenkennerinnen. Es gab Freier<br />

und Zuhälter, auch gewöhnliche Beizengänger, die hatten<br />

einen gewaltigen Schaden in der Fadenzeine. Die<br />

käuflichen Frauen konnten die Typen so nehmen, dass<br />

sie es schafften, wieder einmal zu entspannen, statt alles<br />

klein zu schlagen. Die müssten doch haufenweise Friedenspreise<br />

bekommen.<br />

Warum will jemand die Peitsche?<br />

Eine kannte ich gut, wir gingen oft bei ihr vorbei, um zu<br />

schauen, ob alles in Ordnung sei. Die Suleika. Sie freute<br />

sich jedes Mal, wenn wir kamen, ohne Kohl. – Nehmt<br />

ihr ein Bierchen? – Gern. – Sie hatte einen Salon für solche<br />

Spezialbehandlungen. Einmal waren wir gerade bei<br />

ihr, da klingelte es. Sie schaute durch den Spion und verfrachtete<br />

uns sofort in die Küche – Ou, der Eisenleger.<br />

Ihr macht keinen Mucks. Ich muss ihn ans Kreuz binden.<br />

– Und nach einer Weile kam sie wieder und flüsterte<br />

– Jetzt könnt ihr etwas lernen. – Du glaubst es nicht,<br />

sie musste den abklöpfen, und wir schauten durch den<br />

Spion. Und ein anderer dieser Spezialisten schaute zu,<br />

durch ein Guckloch. Am Schluss bezahlten beide, der<br />

Suleika rentierte das doppelt. Man nennt das Gruppengeld.<br />

Wahnsinn. Ich fand es nicht ekelhaft, eher traurig.<br />

Irgendwie verzweifelt.<br />

In der Nacht, wenn ich wieder wach liege, frage ich<br />

mich manchmal, was diesen Typen angetan wurde. Was<br />

muss man einem Buben antun, damit er ein so durchgeknallter<br />

Erwachsener wird? Was ist diesen Männern passiert,<br />

dass sie das Kreuz und die Peitsche brauchen, um<br />

ein bisschen glücklich zu sein? Oder was haben sie sich<br />

selber angetan? Immer mehr sind es ja auch Frauen. Das<br />

fragte ich mich schon als Polizist und frage es mich immer<br />

noch, kannst du mir glauben.<br />

Frauen sind seltsame Wesen, denke ich manchmal.<br />

Ich konnte zum Beispiel nie verstehen, warum eine einen<br />

Zuhälter will. Es gibt Männer, die haben eine besondere<br />

Gabe, sie verstehen es extrem gut, Frauen zu manipulieren.<br />

Und machen sie sich gefügig. Manchmal auch abhän­<br />

Absolut scharf sehen?<br />

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24 DAS MAGAZIN 42/2014


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26 27<br />

gig, meistens bringen sie zuerst den Schmus und dann Drogen.<br />

Es gibt Frauen, die merken gar nicht, dass der Typ sie ausnimmt.<br />

Sind noch stolz, einen solchen Hengst zu haben. Und<br />

es gibt andere, die haben einfach keine Wahl mehr. Umgekehrt<br />

ist auch möglich, dass die Gockel nicht merken, wie die<br />

Frauen sie benützen.<br />

Die liebe Zora hatte ja auch einmal Scherereien mit<br />

einem, von der Olé-Olé-Bar. Anscheinend hatte sie mit<br />

dem irgendein Arrangement. Er habe ihr das ganze Geld<br />

abgeknöpft, das erzählte sie mir voller Empörung. Vielleicht<br />

hatte der sich getraut, sich aufzuführen wie ihr Zuhälter.<br />

Aber da war er bei der Zora an die ganz Falsche geraten.<br />

Diese kleine Person wehrte sich wie eine Tigerin, mit ihr war<br />

gar nicht gut Kirschen essen.<br />

«Sie Schafseckel»<br />

Es war ja auch die Zora, die sich mit allen Mitteln einsetzte,<br />

als es mir beinahe an den Kragen ging. Die ganze Geschichte<br />

wogte so hoch, dass es mich um ein Haar druntergenommen<br />

hätte. Eine fadengrade falsche Anschuldigung. Es verbreitete<br />

einer, er habe mich aus dem grünen Haus kommen sehen<br />

in Unterhosen. So ein Seich. Aber um einen Ruf zu ramponieren,<br />

kannst jeden Seich verbreiten, das ist nicht schwierig.<br />

Die Zora schaute, dass für mich ausgesagt wurde. Bemerkenswert<br />

ist, dass sie mir half, obwohl sie so wütend auf mich<br />

war. Ich hatte in einem Rapport «Wiederaufnahme der Gewerbsunzucht»<br />

schreiben müssen. Es war einfach zu augenfällig.<br />

Offiziell hatte sie ihren Salon aufgegeben, aber wir<br />

sahen sie ständig auf der Strasse stehen. Heute bin ich mir<br />

gar nicht mehr sicher, ob das richtig war. Vielleicht stand sie<br />

nur dort herum, um mit den Frauen in Kontakt zu bleiben.<br />

Sie war doch so engagiert.<br />

Anscheinend gab es aber ein Gerangel um diesen Käfig.<br />

Das war ja eine durchaus kostspielige Anschaffung. Es rief<br />

eine auf der Wache an, sie habe mit der Zora im gleichen<br />

Salon gearbeitet. Und jetzt sei die Madame ausgestiegen und<br />

habe auch den Käfig abgezügelt, diesen Zwinger einfach mitgenommen.<br />

Er gehöre ihr gar nicht. Wir mussten natürlich<br />

au srücken und einen Rapport machen.<br />

Das nahm sie mir sehr übel. – Herr Freudiger, da isch de<br />

Gipfel! Das stimmt einfach überhaupt nicht, dass ich wieder<br />

im Geschäft bin! Jetzt kommen sie dann vom Steueramt<br />

angerannt. Die Rechnung schicke ich aber grad Ihnen, Sie<br />

Schafseckel. – Von dem Moment an redete sie lange kein<br />

Wort mehr mit mir.<br />

Und dann kam sie eben, diese Katastrophe. Die Zora<br />

hatte die Gefahren unterschätzt. Wie diese Frau drankam!<br />

Das kann ich dir nicht beschreiben.<br />

Wahrscheinlich war es ein Racheakt von Zuhältern. Es<br />

gab eine neue, mächtige Zuhälterbande aus dem Ma ghreb.<br />

Und die Zora konnte doch sehr gut Arabisch und wird<br />

nicht aufs Maul gesessen sein. Ich bin nicht sicher, ob sie nicht<br />

den einen oder andern sogar kannte. Jedenfalls wurde ein Exempel<br />

statuiert, was mit Frauen passiert, die nicht gefügig<br />

sind und frech das Maul so weit aufmachen wie die Hedy.<br />

Zuerst unterschätzte sie die Gefahr, aber dann sah sie<br />

sie sofort kommen. Es war eine dieser schwarzen, verregneten<br />

Nächte. Sie merkte, dass sie verfolgt wurde, und flüch­<br />

tete in die Dörfli-Bar. Kannte die Leute dort und bat um<br />

Hilfe. Sogar der Stadtpolizei telefonierte sie, Hauptwache,<br />

die war ja gleich um die Ecke. Leider war ich nicht da, ein<br />

Kollege nahm ab. Und wie es so ist – die Zora telefonierte<br />

halt ständig und prangerte Missstände an. Und wenn sie ins<br />

Reden kam zum Thema Missstände, dann war das ein Wasserfall.<br />

Man konnte sie nicht mehr bremsen. Man hielt den<br />

Hörer ein wenig vom Ohr und machte weiter Kreuzworträtsel,<br />

bildlich gesprochen.<br />

Es ist tragisch. Sie wimmelten sie ab. Es hiess bei der<br />

Polizei – Ja, ja, wir kennen Sie, Frau Zora. Beruhigen Sie<br />

sich. Wegen so einem Seich rücken wir nicht aus. – Und<br />

schickten keine Streife! Die hätten ja nur über die Brücke<br />

fahren müssen.<br />

Sie konnte durch den Hinterausgang der Dörfli-Bar<br />

flüchten, aber dann wurde sie überfallen. In ihrer Wohnung,<br />

ihrem Salon.<br />

Man quälte sie auf unmenschliche Weise.<br />

Danach verschleppten sie sie nach Wipkingen in eine Zuhälterwohnung<br />

und liessen sie dort liegen. Ich sah nur Fotos.<br />

Befreit wurde sie durch einen Glücksfall. Der Kollege<br />

musste genau an diesem Tag, genau in dieser Strasse, genau<br />

in dieses Haus, auf dem genau gleichen Stockwerk eine Strafverfügung<br />

ausstellen gehen. Und hörte etwas, das ihm seltsam<br />

vorkam. Und rief sofort die Kollegen. Die konnten dann<br />

die lebensgefährlich verletzte Frau befreien. Im allerletzten<br />

Moment, sonst wäre sie verdurstet oder verblutet.<br />

Es ist nicht zu fassen, dass Menschen das einander antun<br />

können.<br />

Es ist mir ein grosses Rätsel, wie Männer das Frauen<br />

antun können.<br />

Es ist absolut nicht zu sagen, dass eine Gruppe von Männern<br />

das einer einzigen und wehrlosen Frau antun können.<br />

Kannst du mir bitte das Wasserglas dort drüben reichen?<br />

Und mit dieser Geschichte war noch nicht genug. Das<br />

Leben hielt noch mehr Albträume für sie auf Lager.<br />

Und wenn man sie heute sieht – sie lächelt doch immer.<br />

Sie ist hübsch und gepflegt und immer freundlich zu allen.<br />

Spaziert mit ihrem Päuli und dem Hund durch die Gassen<br />

und hat für alle ein gutes Wort. Das ist für mich das grösste<br />

Wunder. <br />

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IHR GANZ<br />

PERSÖNLICHER PREIS<br />

Einer der grössten kapitalistischen Träume ist grade dabei, in Erfüllung zu gehen:<br />

der individualisierte Preis für Dienstleistungen und Produkte.<br />

BILD: DENIS DARZACQ / AGENCE VU<br />

Text HANNES GRASSEGGER<br />

Die Zeichen dafür, dass sich das kapitalistische Nirwana nähert,<br />

mehren sich. Florian Stahl sieht sie, überall. Beim Einkauf im<br />

Netz, in den USA, in Deutschland. Er ist vom Fach: Ex-HSGler,<br />

heute Inhaber des Lehrstuhls für Quantitatives Marketing und<br />

Konsumentenanalyse, Universität Mannheim. Er sammelt die<br />

Indizien. Beispielsweise kürzlich in New York, als er sich bei<br />

booking.com ausloggte, die Cookies löschte, dann die Anfrage<br />

noch mal startete, diesmal anonym, da war das gleiche Hotelzimmer<br />

plötzlich günstiger. Weil der Algorithmus ihn nicht mehr<br />

identifizieren konnte, schlug er ihm einen anderen Preis vor.<br />

«Die Preismechanismen sind dabei, sich zu ändern», sagt Stahl,<br />

«und zwar fundamental.»<br />

In Prenzlauer Berg, in der Winsstrasse, im Supermarkt Kaiser’s,<br />

wo sich früher Berlin zum Flirten traf, drängen sich Architekten,<br />

Omas und coole Jungs vor einem roten Ständer mit einem<br />

Bildschirm. Sie halten eine Karte vor den mannshohen Apparat.<br />

Weisses Licht streichelt ihre Hände, ihre Extrakarte wird gescannt,<br />

ein leises Summen begleitet das Erscheinen des Bons. Darauf<br />

ihre Preisabschläge.<br />

Auch ich checke ein in die Betaphase der «Dritten Industriellen<br />

Revolution». Schon bald soll der Supermarkt-Algorithmus<br />

28 DAS MAGAZIN 42/2014<br />

29


30 31<br />

mich verstehen, meine Wünsche vorhersagen können, aber noch<br />

kennt er mich nicht. Er hat ja bisher keinen einzigen Kassenzettel<br />

von mir gescannt, nur meine neue Extrakarte. Der Erfolg<br />

dieser neuartigen Kundenkarte sorgt grade für Aufregung in der<br />

Welt des Detailhandels. Ein Drittel der Stammkäufer von Kaiser’s<br />

wurden Nutzer in den zwei Monaten seit der Einführung.<br />

Sensationell. Mein Ausdruck zeigt «Ihre persönlichen Angebote<br />

heute»: Neue Preise – je 20 Prozent Abschlag – für Harry-Brot<br />

(noch nie gehört) und Bärenmarke Die Alpenfrische Vollmilch<br />

(dachte, die machen nur Kaffeesahne); für Barilla-Nudeln gibt<br />

es 30 Prozent off, für Ritter Sport und Lätta-Margarine sogar 40.<br />

Vor gut hundert Jahren beobachtete Arthur Cecile Pigou,<br />

Professor in Cambridge, ein seltsames Phänomen: Er sah ins<br />

Herz des Kapitalismus, und es war leer. Der Preis, um den sich<br />

die Marktwirtschaft dreht – ein System der freien Preise –, existierte<br />

in Wahrheit gar nicht. In «The Economics of Welfare» von<br />

1920 beschrieb Pigou seine Beobachtung im Kapitel «Das spezielle<br />

Problem der Eisenbahntarife»: Für eine identische Leistung,<br />

die gleiche Bahnfahrt von A nach B, zahlen Menschen<br />

freiwillig verschiedene Tarife, je nach Klasse. Pigou sah viele<br />

Marktpreise für die gleiche Fahrt. Er leitete daraus ab, was für<br />

die Ökonomie heute so elementar ist wie die Unschärferelation<br />

für die Physik: Es gibt keinen objektiv richtigen Preis einer Ware.<br />

Es gibt einzig persönliche Werteinschätzungen.<br />

«Preisdiskriminierung» nannte Pigou die Unterscheidung von<br />

Menschen je nach den verschiedenen Preisen, die sie für das gleiche<br />

Produkt zu zahlen bereit sind. Für Händler ist sie eine wunderbare<br />

Möglichkeit, um mehr für die gleiche Leistung zu kassieren.<br />

Pigou fand drei Stufen. Auf der obersten Stufe, der «Preisdiskriminierung<br />

ersten Grades», könnten Anbieter jedem einzelnen<br />

Käufer seinen Höchstpreis für die Bahnfahrt setzen – und ihm so<br />

alles abnehmen, was er zu zahlen bereit ist. Fort an lernte jeder<br />

Ökonomiestudent totale Preisdiskriminierung als den heiligen<br />

Gral des Kapitalismus kennen. Im Vergleich dazu sind Festpreise<br />

ein archaisches Mittel der Marktsteuerung.<br />

An der Kaiser’s-Kasse zeige ich die Extrakarte. Piep. Registriert.<br />

Jeder Kauf verändert theoretisch meine zukünftigen Preise,<br />

also Ladenpreis minus persönlicher Rabatt. Ich bin erst mal auf<br />

keines der Angebote eingegangen. Weder Lätta noch Ritter Sport.<br />

Am Scanner hole ich mir den nächsten Bon. Wieder das gleiche<br />

Angebot. Dreimal muss ich da durch. Dann ist der Algorithmus<br />

angeblich so weit. Nächster Testkauf.<br />

Absolute Preisdiskriminierung schien bisher im Massenmarkt<br />

aus zwei Gründen unerreichbar. Fixe Preise schaffen – wie<br />

einheitliche Krankenkassenprämien – einen versteckten Sozialvertrag.<br />

Hinter Einheitspreisen in Supermärkten, Bahnhöfen und<br />

Drogerien steckt ein Gesellschaftskonzept: Alle Käufer sollen<br />

gleich sein. Einheitspreise schaffen Gewinner und Verlierer – dem<br />

Einheitspreise schaffen Gewinner und Verlierer – dem einen ist etwas eigentlich mehr wert,<br />

dem nächsten fast zu teuer. So subventionieren wir einander von Joghurtkauf zu Taxifahrt.<br />

einen ist etwas eigentlich mehr wert, dem nächsten ist es fast zu<br />

teuer. So subventionieren wir einander von Joghurtkauf zu Taxifahrt.<br />

Am meisten profitiert der Durchschnittskonsument, die<br />

Mittelklasse. Zudem waren im Massenmarkt personalisierte Preise<br />

technisch unmöglich, sagt Florian Stahl, da sie das Wissen über<br />

die Wertschätzung des Käufers für ein bestimmtes Produkt zu<br />

einem bestimmten Moment voraussetzen. In diese Wertschätzung<br />

kann theoretisch alles einfliessen. Bis hin zur Wetterlage, wie<br />

bei Eis oder Jacken. «Den individuellen Höchstpreis zu erkennen<br />

ist eigentlich ein unendliches Problem.»<br />

Pepsi- oder Cola-Liebhaber?<br />

Im Alltag entsprachen Preise bisher dem geschätzten Wert dessen,<br />

was unterschiedliche Käufer im Schnitt zu zahlen bereit sind.<br />

Bis die Computer kamen, das Internet, Facebook, Google, Scanner,<br />

Produkt-IDs, In-Store-Cams, Smartphones – ein Arsenal<br />

zur Datafizierung von Personen, deren Vorlieben, Verwandtschaftsverhältnissen,<br />

Jobs, Bewegungsmustern, Wertvorstellungen.<br />

Seit kurzem gibt es nun Algorithmen, die Big Data zusammenrechnen<br />

können zu «dynamischen Preisen», welche sich ihrer<br />

Umgebung anpassen, wie zuerst die Flugpreise, dann die Hotelpreise,<br />

die Elektrizitätspreise. Jetzt deutet sich an, dass sich alles<br />

herunterbrechen lässt auf den Einzelnen. Es ist, als ob ein Märchen<br />

wahr werden würde. Oder eine Schauergeschichte.<br />

Das Klingelschild ist golden, Oderberger Strasse 44, beste<br />

Lage in Prenzlauer Berg, direkt neben dem Modeladen «Kauf<br />

Dich Glücklich». SO1, steht an der Klingel, kurz für «Segment<br />

of One». Während in den USA bereits über die Hälfte aller Handelsunternehmen<br />

mit sogenannten Price-Intelligence-Verfahren<br />

und dynamischen Preisen experimentieren, bereits jeder zwanzigste<br />

Preis personalisiert ist, während in Frankreich die Preisschilder<br />

zunehmend durch Digitalanzeigen ersetzt werden, ist<br />

das Berliner Start-up SO1 einer der ersten deutschen Anbieter für<br />

totale Preisdiskriminierung.<br />

Hier arbeiten fünfzehn Statistiker, ITler, Ökonomen, Leute,<br />

die Google und Henkel verlassen haben, um die grosse Vision zu<br />

realisieren. Sie stecken hinter den roten Automaten in derzeit<br />

dreissig Berliner Kaiser’s-Testmärkten. Die Extrakarte sei eigentlich<br />

wie ein physischer Cookie, erklärt der junge CEO und Mitgründer<br />

Raimund Bau. SO1 trage die absolute Preisdifferenzierung<br />

aus dem Netz, wo Amazon oder Zalando längst so arbeiteten,<br />

nun in die physische Welt. Die Karten hätten eine anonyme<br />

Kundennummer. Man brauche im Gegensatz zu anderen Kundenkarten<br />

keine persönlichen Informationen wie Namen oder<br />

Adresse, darauf ist Bau stolz. Erfasst würden an der Kasse nur<br />

Kaufzeit, Produktnummer, Kartennummer und der gezahlte<br />

Preis. «Bei uns laufen die Daten aus den Kassen zusammen. Dann<br />

setzt das Machine Learning zu den Kundennummern ein. Wir<br />

können beispielsweise identifizieren, wer ein Pepsi-Käufer ist,<br />

sogar wenn er nie Pepsi bei Kaiser’s gekauft hat.» Das ergebe<br />

sich allein aus der erfassten Kombination gekaufter Produkte.<br />

Jedes Produkt sei ein statistischer Hinweis auf andere Produktvorlieben.<br />

Wie Weleda-Shampoo auf Bio-Obst hinweist. «Drei<br />

Einkäufe in vier Wochen genügen, um dich einzuschätzen.» Und<br />

mittels Preisen durch Märkte zu steuern.<br />

Auf Basis der Wahrscheinlichkeiten, die aus Testmärkten bekannt<br />

seien, könnten nicht nur Vorlieben errechnet werden, so<br />

Bau, sondern auch die persönliche Zahlungsbereitschaft und<br />

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Preissensibilität. Für Absatzförderungen erhalte SO1 von Händlern<br />

und Produzenten Promotionskapital zur Verfügung. «Wenn<br />

wir den Cola-Absatz erhöhen wollen, finden wir heraus, ob du<br />

als Pepsi-Liebhaber für Cola ein potenzieller Kunde bist. Ob du<br />

es wiederholt kaufen würdest, wenn du es einmal ausprobierst.<br />

Wie viel wir dir zahlen müssten, um dich zum Cola-Kauf zu<br />

bringen.» Lohne sich der Kunde für Cola, biete man ihm an den<br />

roten Automaten genau den passenden Preisnachlass für Cola.<br />

Das Resultat seien individuelle Preise. Es werde möglich, dass<br />

zwei Käufer mit dem gleichen Warenkorb an der Kasse zwei verschiedene<br />

Beträge zahlen.<br />

Heute arbeite SO1 noch mit Bons, bald werde vieles über<br />

Apps laufen. «PayPal, Mastercard, vielleicht auch Google arbeiten<br />

sicherlich an ähnlichen Technologien», glaubt Bau. Absolute<br />

Preisdiskriminierung sei eine weltweite Bewegung, die kaum<br />

aufzuhalten sei, weil in gesättigten Märkten wie dem Lebensmittelhandel<br />

der Preiswettkampf der einzige Weg sei, um Absätze zu<br />

steigern. « ‹Persil wäscht jetzt noch weisser› zieht nicht mehr»,<br />

sagt Bau. Und altbekannte Promotionen via Coupons oder<br />

Rabattmarken hätten aufgrund der Streuung kaum Effekt. Etwa<br />

ein Prozent aller Rabattmarken würden eingelöst in Deutschland.<br />

Vor allem von Leuten, die sowieso das Produkt kaufen würden.<br />

Personalisierte Angebote seien quasi die letzte Möglichkeit,<br />

Absätze zu steigern. Die Extrakarte bringe pro Nutzer Umsatzsteigerungen<br />

im höheren zweistelligen Prozentbereich. Für Bau<br />

eine Win-win-win-win-Situation für Kunde, Händler, Produzent<br />

und SO1.<br />

Unsere Daten im Kundenkartensystem<br />

Das will sich auch IBM nicht entgehen lassen. Allerdings arbeitet<br />

man dort weltweit. DemandTec heisst die eigene Software<br />

für Dynamic Pricing. Grosse Ketten, Lebensmittelhändler, Drogerien<br />

oder Baumärkte sollen sie nutzen, um ihre Preise auf Basis<br />

von persönlichen Kaufmustern, Konkurrenzpreisen oder anderen<br />

Einflüssen ständig zu optimieren. Das ermöglicht verschiedene<br />

Preise von Supermarkt zu Onlineshop zu Mobilgerät oder<br />

zwischen verschiedenen Verkaufsgebieten. Eine zweite IBM-Software<br />

namens Xtify bietet Techniken, um Kunden jederzeit ortsbezogen<br />

mit Angeboten anzusprechen.<br />

Shops haben sich derweil zu veritablen Überwachungsdiensten<br />

entwickelt mit dem Ziel, Kunden bis ins Detail auszuforschen.<br />

Schon heute weiss kaum jemand mehr über die Schweizer als<br />

Migros und Coop, über ihre Allergien, Aufenthaltsorte, Vorlieben,<br />

Familienstrukturen, Adressen. 80 Prozent aller Einkäufe können<br />

die beiden Ketten einem Haushalt zuordnen, dank der Kundenkarten.<br />

Es könnte erst der Anfang sein: Nach Angaben des Eidgenössischen<br />

Datenschutzbeauftragten testet eine «Schweizer<br />

Ladenkette» aktuell Kameras mit Gesichtserkennung, um das<br />

Kundenverhalten an den Verkaufsregalen individuell zu beobachten.<br />

Bei der US-Kette Safeways nutzen fast die Hälfte aller<br />

Kunden eine App, die ihnen im Supermarkt spezifische Nachlässe<br />

anzeigt, beruhend auf der eigenen Shoppingvergangenheit.<br />

So entstehen personalisierte Preise. Dank des entwickelten Kundenkartensystems<br />

ist die Schweiz dafür optimal positioniert.<br />

Ich habe Harry-Brot und Barilla-Nudeln verbilligt gekauft.<br />

Die beiden Angebote fehlen jetzt auf dem dritten Ausdruck. Sonst<br />

ist alles beim Alten. Noch ein Einkauf, dann kann ich sehen, was<br />

der Kaiser’s-Algorithmus von mir denkt. Ob er mir Cola anbietet?<br />

Es ist ein Dominoeffekt. Weltweit fällt derzeit ein Fixpreis<br />

nach dem anderen. 2020 sollen in den USA bereits drei von zehn<br />

Preisen personalisiert sein. Amazon und Coca-Cola experimentieren<br />

damit, Elektrizitätsanbieter, Supermärkte und Baumarktketten.<br />

Auch bei den Olympischen Spielen in London 2012<br />

passten sich Stadionpreise der Nachfrage an. Der neuerdings in<br />

Genf und Zürich aktive Mitfahrservice Uber, der derzeit global<br />

das Taxigeschäft umkrempelt mit auf den ersten Blick günstigen<br />

Preisen, berechnet fein differenzierte Tarife. Multiplikatoren wie<br />

der zwei-, drei- oder auch mal siebenfache Preis beruhen auf erhöhter<br />

Nachfrage. Nachdem erschreckte Kunden über unerwartet<br />

horrende Preise geklagt hatten, sah sich der Uber-Chef persönlich<br />

zu einer Videobotschaft genötigt, in der er davon abrät,<br />

zu gewissen Zeiten seinen Service zu nutzen. Die Preissteigerung<br />

sei ja in Wahrheit zugunsten der Kunden, ein Mittel, um<br />

mehr Fahrer auf die Strassen zu bringen. Dann wurden Fälle<br />

bekannt, in denen Uber seine Fahrer sogar von der Strasse holte,<br />

um die Preise künstlich hochzutreiben. Als kürzlich weltweit Taxifahrer<br />

auf die Strasse gingen, wütend auf vorbeirollende Uber-<br />

Limousinen eintraten, waren das Proteste gegen ein Preismodell,<br />

welches nicht nur das Potenzial hat, die Wirtschaft anzukurbeln.<br />

Es könnte Wohlhabenden besondere Vorteile verschaffen<br />

und die Durchschnittstypen hart treffen, wie Tyler Cowen<br />

schreibt, der Autor des Buches «Average Is Over». Es könnte<br />

uns einem Leben in Unsicherheit und Abhängigkeit ausliefern.<br />

«Von der Ernährung über die Mobilität bis zur Energieversorgung<br />

sind elementare Bereiche unseres Lebens von den neuen Preismodellen<br />

betroffen», meint der St. Galler Ökonom und Zukunftsforscher<br />

Joël Cachelin. Und diese Preise würden von uns unbekannten<br />

und un überprüfbaren Kriterien bestimmt. Die bedrohlichste<br />

Möglichkeit wäre die Verknüpfung aller Informationen<br />

über Firmen und Netzwerke hinweg. Jede unserer Handlungen<br />

und Äusserungen, auch vergangene, würde so den Preis beeinflussen,<br />

den wir für etwas zahlen. Das Netz würde zu einer Art<br />

Credit History, wie Kritiker des neuen, netzumspannenden<br />

Facebook-Werbedienstes Atlas befürchten. «Die Zeiten des Sozialvertrags<br />

im Preis gehen zu Ende», denkt Florian Stahl. Zukünftig<br />

könnten Menschen be ginnen, Identitäten zu tauschen, um niedrigere<br />

Preise zu zahlen.<br />

In Dänemark bietet derzeit der Reiseveranstalter Spies Sonderpreise<br />

für Paare, die in ihren Ferien nachweislich ein Kind zeugen.<br />

Der Werbegag ist ein Versuch, mit Preisen einem der grössten<br />

Probleme Dänemarks zu begegnen: dem Mangel an Nachwuchs.<br />

Preise sind eines der wichtigsten Steuerungsmittel unserer<br />

Gesellschaft. Sie sind Politik. Brotpreise starten Revolutionen.<br />

Was aber passiert mit einer Gesellschaft, deren Preissystem sich<br />

komplett ändert?<br />

Nach dem dritten Einkauf gehe ich zum Automaten, um endlich<br />

mein persönliches Angebot zu erhalten. Das Licht des Scanners<br />

wärmt meine Hand. Mein Rabatt erscheint mit sanftem Summen.<br />

20 Prozent auf Bärenmarke-Milch, 40 Prozent auf Lätta-<br />

Margarine.<br />

•<br />

Der Ökonom HANNES GRASSEGGER beschreibt den digitalen Wandel<br />

unseres Lebens. Kürzlich erschien von ihm «Das Kapital bin ich» (Kein & Aber).<br />

hns.grassegger@gmail.com<br />

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32 DAS MAGAZIN 42/2014


Taxifahren als Kunstform: Riccardo Paratores Aktion «Don’t talk to the driver» in Köln<br />

HANS ULRICH<br />

OBRIST<br />

NO TAXI NO CRY<br />

Ich fahre ja eher selten Taxi. Londoner Busfahrten<br />

dagegen liebe ich. Meistens gehe ich aber zu Fuss,<br />

meine Wohnung liegt nicht allzu weit von meinem<br />

Arbeitsplatz entfernt, sodass ich jeden Morgen einen<br />

schönen Spaziergang durch den Park machen kann.<br />

Überhaupt ist London eine Stadt, in der man viel<br />

zu Fuss läuft. Oft geht das sogar schneller, denn<br />

das Hauptproblem des Taxifahrens ist – neben<br />

den Abgasen, die man produziert – der Stau. Umso<br />

besser sollte man die Zeit nutzen, in der man im<br />

Verkehr feststeckt. Ich erinnere mich gut daran, wie<br />

vor einigen Jahren der damals noch unbekannte<br />

Künstler Ed Atkins zu uns in die Serpentine Gallery<br />

kam, um sein Werk zu zeigen. Ich hatte mich verspätet<br />

und dann keine Zeit mehr, mich mit ihm<br />

hinzusetzen, weil ich gleich woanders hinmusste,<br />

also schlug ich ihm vor, doch einfach mit ins Taxi<br />

zu steigen und mir seine Sachen dort zu zeigen,<br />

quasi als Atelierbesuch auf dem Autorücksitz.<br />

Das geräumige Abteil des Londoner Cabs erwies<br />

sich als ausgezeichneter Präsentationsort für<br />

Kunst, eine Entdeckung, die auch der junge Künstler<br />

Riccardo Paratore gemacht haben muss, als er<br />

im vergangenen Jahr in Köln und London sein Publikum<br />

in Taxis setzte, die es durch die Stadt fuhren,<br />

während eine Tonbandaufnahme abgespielt<br />

34<br />

DAS MAGAZIN 42/2014<br />

wurde. Der Künstler Anri Sala wiederum verteilte<br />

auf Biennalen die Nummer des Fahrers eines präparierten<br />

Taxis, das den Fahrgast, während er in<br />

Frankfurt, Miami oder Paris im Stau stand, mit<br />

dem Lärm eines Formel-1-Rennens beschallte.<br />

Den Titel der Arbeit – «No Formula One No Cry»<br />

– kann man als Anspielung auf das nervtötende<br />

Stop-and-go in verstopften Innenstädten deuten,<br />

wenn einen die Fantasie beschleicht, in einem<br />

Rennwagen in irrwitziger Geschwindigkeit alle anderen<br />

zu überholen. In London jedoch könnte der<br />

Stau bald der Vergangenheit angehören. Der Investor<br />

Nathaniel Rothschild hat eine App entwickelt,<br />

welche die Zielorte der Fahrgäste und die<br />

Strecke der Black Cabs so aufeinander abstimmt,<br />

dass mehrere Personen in einem Auto und dadurch<br />

auch insgesamt weniger, aber schnellere Taxis auf<br />

den Strassen unterwegs sind. Zur Kunstbetrachtung<br />

auf dem Rücksitz bleibt dann freilich weniger<br />

Platz und Zeit.<br />

Hans Ulrich Obrist ist Kurator und Co-Direktor der<br />

Serpentine Galleries in London.<br />

BILD: HARTWIG SCHWARZ<br />

«Das Magazin» ist die wöchentliche<br />

Beilage des «Tages-Anzeigers»,<br />

der «Basler Zeitung», der «Berner<br />

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GELESEN<br />

GELESEN<br />

Bei Platzmangel keimt Aggressivität auf<br />

Drei Beiträge aus dem Tages-Anzeiger.<br />

Gedruckt, online, als App und in unserer Vielfalt an Blogs.<br />

Die verstopftesten S-Bahnen<br />

GELESEN<br />

Körperkontakt macht glücklich


TRUDY MÜLLER–BOSSHARD<br />

1 2 3 4 5<br />

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18 19<br />

20 21 22<br />

23 24 25 26 27 28<br />

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34 35 36<br />

37 38 39<br />

40 41<br />

ER IRRTE BEZÜGLICH EISDECKENDICKE:<br />

Die Lösung ergibt sich aus den grauen Feldern waagrecht fortlaufend.<br />

WAAGRECHT (J + Y = I): 6 Bewegt sich gedämpften Schrittes – der Belag! – auf seiner Etage. 12 Was Macbeth im Laufe des Dramas überkam:<br />

erhebend. 18 Gesetzesbrecher durch deklarierte Mehrwertselbsteinschätzung. 19 Sie bedient herbstens die Presse. 20 Register, bei dem der Bass<br />

passt. 21 Ein Stück Schottenstoff? Liegt Hussein zu Füssen! 23 Simon, kein Mann für höchste Töne. 25 Von Guesch Patti besungene Stefan-<br />

Variante. 27 Zwischenhalt auf dem Weg zum Schlachthaus. 29 Worauf harrender Mietwagenfahrer hofft. 30 Kirchenvermehrung aufgrund von<br />

Disput über Lehre. 33 Gab lang vor Kevin den bemützten Schützen. 34 Befördern Zürcher und Basler gleichermassen. 35 Monumentalfilmstar –<br />

komplettiert Gaumenschmeichler Blumenthal. 36 Gefragte Zsa Zsa trägt Greta in sich. 37 Was an ihr hängt: Unterkühlte tuns ihm, sagt man,<br />

gleich. 38 Weswegen überkonsequente Veganer Studentenfutter meiden. 39 Ein deutscher deutscher Schäfer etwa. 40 Hatte, mit etwa Aston<br />

Martin beginnend, Gold in der Kehle. 41 Nicht Heulsuse, sondern Herbstfestmiss.<br />

SENKRECHT (J + Y = I): 1 Sitzt einem als Steuerberater zur Seite. 2 Trübsinn, der zur Hälfte Kamin. 3 Gewesene Zweierkisten? Bürgenpflicht!<br />

4 Ihr Arbeitsplatz ist auch meiner. 5 Worunter Mister Sinn versteht: dabei verwendetes Gerät. 6 Enthält seitenweise Stellungsspielanleitungen.<br />

7 Schlot oder klassisches Hilfszeitwort. 8 Grüne Witwe kann damit nicht rechnen. 9 Affirmation ist im Westen von Dunkerque Teil von<br />

gestern. 10 Drama-Queen findet dafür überall eine Bühne. 11 Siecher Riecher fällt in ihr Ressort. 13 Wobei der Auswuchsbekämpfer zum<br />

Schaumschläger wird. 14 Ist Putin egal. 15 Textmerkvermögen spielt bei ihr keine Rolle. 16 Wird, süss oder würzig, vor dem Reichen gestürzt.<br />

17 Auf seine Anfänge reduzierter Tom-Cruise-Guru. 22 Notrettergebot – von geschrieben: gewesener Abwehrpatron. 24 Im Westen ist Zeit<br />

auch Zeitung und Wetter. 26 Kapitän oder gesuchter Fisch – beide fiktiv. 28 Hat, dem Zweck zwar ähnlich, mehr Gravitas als das Fähnchen.<br />

31 Hat – auch ein fremder Frommer – in der Serie mehr als eine Phobie. 32 Der Mann ist in jedem Stand präsent.<br />

LÖSUNG Nº 41: RANDREGION<br />

WAAGRECHT (J + Y = I): 8 BUEROKRATIEABBAU. 13 MASKENBILDNERIN. 18 SIMSEN. 19 HOLLAENDER. 20 EINARMIG.<br />

23 BRINDISI. 24 BARREL. 25 Musicaltexter Tim RICE («Evita»). 26 OLEA (Olivenbaum), Anagramm: Aloe. 28 EST (franz. für Osten).<br />

29 BILLET(-doux = Liebesbrief). 31 HIHI. 32 Aria (engl. für Arie) in VARIA. 34 NUDA (ital. für nackt). 35 Herb RITTS (US-Fotograf).<br />

36 ELYSÉE (Ségolène Royal). 38 DINERO (span. für Geld [regiert die Welt]). 39 MIESMACHEREI. 40 ADRETT.<br />

41 Mathias GNAEDINGER (Kommissär Hunkeler).<br />

SENKRECHT (J + Y = I): 1 KUMMERBUND. 2 ARSÈNE (Wenger [Arsenal-Trainer]/Lupin). 3 ARNO, Anagramm: Nora. 4 STIL(-bruch).<br />

5 ZEDER(-nrevolution im Libanon). 6 ABREDE. 7 HUNDSTAGE. 8 «Rule BRITANNIA». 9 «EASY RIDER». 10 KEHRREIM.<br />

11 ABLICHTEN. 12 «ANNIE Get Your Gun». 14 KNALLROT. 15 «LA BOHÈME». 16 Dame EDNA. 17 IRISIEREN. 21 MITTIG.<br />

22 GEISS (Bärli in «Heidi»). 27 (De-)LILA. 30 LAREN. 32 Veni, Vidi, VICI. 33 ASH (engl. für Asche). 37 EEG (Abk. für Elektro enzephalografie).<br />

HELPLINE FÜR RATLOSE: Sie kommen nicht mehr weiter? Wählen Sie 0901 591 937 (1.50 Fr. / Anruf vom Festnetz), um einen ganzen Begriff<br />

zu erfahren. Wenn Sie nur den Anfangsbuchstaben wissen möchten, wählen Sie 0901 560 011 (90 Rp. / Anruf vom Festnetz).<br />

36 DAS MAGAZIN 42/2014


CHRISTIAN SEILER<br />

DIE ENTDECKUNG DER OKTOBERRÜBE<br />

ges Aroma, das man gut inszenieren kann,<br />

wenn man über die richtige Gebrauchsanweisung<br />

verfügt.<br />

Diese stammt von Fergus Henderson<br />

aus dessen Kochbuch «Nose to Tail» (Echtzeit)<br />

und heisst «Rübenauflauf». («Das mag<br />

sich», schreibt Henderson, «nach einem<br />

trostlosen Essen in einem trostlosen vegetarischen<br />

Restaurant anhören, aber das ist<br />

es ganz und gar nicht. Leider ist mir bisher<br />

kein verlockenderer Name für dieses<br />

köstliche Gericht eingefallen.»)<br />

Man braucht dafür:<br />

– 1 Zwiebel, geschält und in sehr<br />

dünne Scheiben geschnitten<br />

– 200 g Butter<br />

– 1,2 kg Navetten, geschält und in<br />

sehr dünne Scheiben geschnitten<br />

– Meersalz und schwarzen Pfeffer<br />

Die Zwiebelscheiben werden langsam<br />

in 150 Gramm Butter gedünstet, sie<br />

müssen glasig und süss sein, wenn sie beiseite<br />

gestellt werden. Nun sind die Navetten<br />

an der Reihe. Eine feuerfeste Form<br />

wird mit dem Rest der Butter eingefettet,<br />

danach kommt eine erste Schicht Navetten<br />

in die Form. Darüber legt man die<br />

erste Schicht buttriger Zwiebel, die gesalzen<br />

und mit Pfeffer bestreut werden. Das<br />

System ist jetzt klar: Sie fahren damit fort,<br />

bis die Form voll und alle Zwiebel- und<br />

Navettenscheiben verbraucht sind. Dann<br />

Alufolie mit der matten Seite nach oben<br />

auf das Gemüse legen und die Form in den<br />

DAS MAGAZIN 42/2014<br />

Diesmal Herbstgemüse. Wie selbstverständlich<br />

greifen wir nach reifen Tomaten,<br />

mit denen wir tatsächlich noch immer<br />

Freude haben, nach Peperoni, Karotten<br />

und Sellerieknollen, nach einem Kopf Blumenkohl<br />

oder ein paar letzten Auberginen.<br />

Manchmal seufzen wir leise, weil die<br />

guten Bekannten aus der Gemüseabteilung<br />

uns wieder bekannte Genüsse versprechen,<br />

und wir wünschen uns, es käme<br />

manchmal etwas Neues, Überraschendes<br />

auf unseren Speiseplan.<br />

Bin schon da. Mit einem Kilo Navetten.<br />

Navetten gehören zur Familie der<br />

Speiserüben. Ihr gebräuchlicher Zweitname<br />

«Mairüben» passt nicht unbedingt<br />

in den Oktober, erklärt sich aber daraus,<br />

dass Navetten, die zeitig im Frühjahr gesät<br />

wurden, im Mai reif sind, während jene<br />

Rüben, die im Juli oder August gesät wurden,<br />

jetzt aus der Erde gezogen werden –<br />

wer möchte, darf sie deshalb ohne Weiteres<br />

«Oktoberrüben» nennen, viel Erfolg<br />

auf dem Gemüsemarkt.<br />

Die runden Rüben haben einen Durchmesser<br />

von vielleicht fünf Zentimetern.<br />

Sie sind schön. Ihre Haut ist von einem<br />

cremigen Weiss, das an den Schultern in<br />

ein interessantes Violett übergeht. Dass die<br />

Navetten kräftig, fast scharf riechen, liegt<br />

an den Senfölen, die in ihrer Haut enthalten<br />

sind. Sind sie einmal von dieser Schärfe<br />

befreit, entfalten sie ein interessantes, erdiauf<br />

160 Grad vorgeheizten Ofen stellen. Es<br />

dauert etwa eine Stunde, bis das Ge mü se<br />

weich und mollig ist. Sie können es aus<br />

der Form essen oder diese auf eine grosse<br />

Platte stürzen. Einmal mehr ist es sinnvoll<br />

abzuwarten, bis man sich beim Essen nicht<br />

mehr verbrennt. Um eine Spur heisser als<br />

lauwarm ist die ideale Betriebstemperatur<br />

für diesen Auflauf, der, wie Fergus Henderson<br />

sagt, «danach schreit, mit einem<br />

Stück Lammbraten verspeist zu werden».<br />

Eine Salsiccia macht sich auch nicht<br />

schlecht, und ein kleiner, bitterer Radicchiosalat<br />

ist ein nahezu idealer Kontrast<br />

zum rustikalen Henderson-Auflauf.<br />

Ein etwas eleganteres Rezept präsentiert<br />

Alain Ducasse in seinem erstaunlich<br />

zugänglichen Kochbuch «Ducasse Nature»<br />

(Hädecke). Er zerteilt die Navetten in zwei<br />

Millimeter dicke Scheiben, karamellisiert<br />

sie im Schmortopf mit Honig und deglaciert<br />

sie mit Weissweinessig, um sie anschliessend<br />

in Geflügelbouillon mit einer<br />

raffinierten Gewürzmischung fertig zu<br />

kochen und zu Botschaftern einer einfachen,<br />

aber dennoch eindrucksvollen französischen<br />

Kochweise zu machen. Dazu<br />

gibt es pochierte Entenleber. Den ganzen<br />

Expeditionsbericht lesen Sie im Blog.<br />

Mehr von Christian Seiler immer montags in seiner<br />

«Montagsdemonstration» auf blog.dasmagazin.ch<br />

Illustration ALEXANDRA KLOBOUK<br />

37


DREI WOCHEN IM LEBEN<br />

Christoph Scheuring, 56, schlief im Kofferraum seines Autos, als er mit Strassenkindern<br />

unterwegs war, und entschloss sich zu etwas, das er eigentlich nie tun wollte.<br />

Der Satz, der mich in meiner Kindheit am meisten verfolgt hat,<br />

lautet: «Der Klügere gibt nach.» Er war so etwas wie das Mantra<br />

meiner Erziehung und galt für alle Lebensbereiche: beim<br />

Sport, im Spiel, beim letzten Stück Kuchen. Selbst wenn man<br />

beleidigt wurde. Ein kluger Mensch wehrt sich nicht, sondern<br />

fängt an zu rennen. Was wiegt schon eine Beleidigung gegen zwei<br />

ausgeschlagene Zähne?<br />

Ich schätze, ich war der klügste Junge des Universums. Mit<br />

fünfzehn hatte ich Hegel gelesen und mich noch kein einziges<br />

Mal geprügelt. Dann kamen mir langsam Zweifel an dem Prinzip:<br />

«Wenn der Klügere nachgibt, regiert am Ende die Dummheit»,<br />

dachte ich. «Das kann kein Erfolg versprechendes Konzept sein<br />

für die Evolution der Menschheit.» Ich fing an, Klugheit für eine<br />

überschätzte Tugend zu halten. Schule, Bildung, Wissen: alles<br />

überflüssiges Zeug. Und am überflüssigsten waren Bücher. Wie<br />

unklug, selbst eines schreiben zu wollen.<br />

Stattdessen wurde ich Reporter beim «Spiegel». Leider war<br />

dieses Blatt so etwas wie das deutsche Zentralorgan der Klugheit.<br />

Eine Institution, die immer und prinzipiell alles besser weiss.<br />

Meine Themen siedelten deshalb eher eine Etage tiefer: Hooligans,<br />

Hacker, Dieter Thomas Heck. 1995 schickte man mich<br />

nach Köln für eine Reportage über die Strassenkinder am dortigen<br />

Bahnhof.<br />

Also parkte ich meinen alten, tannengrünen Mercedes 240<br />

TD vor dem Hintereingang, legte die Rückbank um, rollte meinen<br />

Schlafsack aus und lebte die nächsten drei Wochen im Kofferraum.<br />

Der erste Mensch, den ich so kennenlernte, war Mischa.<br />

Am Bahnhof nannten ihn alle «Psycho», weil er sich schon mal<br />

mitten im Berufsverkehr auf eine vierspurige Strasse legte. Er<br />

rauchte Heroin, aber er drückte sich das Gift nicht in die Vene.<br />

Sein Körper war muskulös und irgendwie unversehrt, und jeder<br />

am Bahnhof war auf eine Art verliebt in seine Mischung aus Zartheit<br />

und Brutalität und Tragödie. Er war nicht schwul, aber die<br />

Nächte verbrachte er meistens bei einem Freier. Er tat es auch nicht<br />

für Geld, sondern damit seine Freunde vom Bahnhof tagsüber<br />

in der Wohnung duschen und schlafen konnten. Das war der Deal.<br />

Nur Mischas Freundin durfte davon nichts wissen. Sie kannten<br />

sich erst fünf Wochen. Es war nicht so, dass ihm der Freier<br />

peinlich war. Er wollte sie nur vor dem ganzen Schmutz in seinem<br />

Leben beschützen. Allerdings gab es in seinem Alltag kaum noch<br />

eine saubere Ecke. Also sahen sie sich immer nur ein paar Minuten<br />

am Tag. Nicht in der Nacht, wenn er bei seinem Freier war.<br />

Nicht am Tag, wenn er sein Heroin rauchte oder sich welches<br />

besorgte oder Geld organisieren musste dafür. Nach fünf Wochen<br />

hatte das Mädchen genug von der ewigen Warterei und nahm<br />

die Kette ab, die er ihr geschenkt hatte: 333er Gold mit einem<br />

Herz, gekauft, nicht geklaut. «Unsere Liebe hält so lange wie<br />

diese Kette», hatte er damals zu ihr gesagt.<br />

Ihr blanker Hals war dann auch das Erste, das er an jenem<br />

Tag im März an ihr bemerkte.<br />

«Wo ist die Kette?», fragte er.<br />

«Du bist ja nie da», meinte das Mädchen.<br />

«War ja klar», murmelte Mischa und stapfte wortlos davon.<br />

Raus auf die Brücke, die vom Hauptbahnhof auf die Deutzer<br />

Seite führt. Fünfzehn Meter weiter unten gurgelte der Rhein gegen<br />

die Pfeiler. Es war kalt und goss in Strömen. Ich schätze, der<br />

Strom war nicht wärmer als drei oder vier Grad.<br />

«Mach bloss kein Scheiss», sagte ich.<br />

«Keine Angst», meinte Mischa und flankte über das Geländer.<br />

Er war sofort verschwunden in der graubraunen Flut. Voller<br />

Panik rannte ich an das Ende der Brücke und kletterte die<br />

Steinschüttung runter zum Strom. Da stand Mischa schon zweihundert<br />

Meter flussabwärts im kniehohen Wasser.<br />

«Was willst du machen, wenn du jemanden liebst und genau<br />

weisst, dass deine Liebe ihm schadet?», sagte er.<br />

«Du hättest tot sein können, du Idiot», schimpfte ich.<br />

«Darum gehts», sagte Mischa. «Wie würdest denn du jemandem<br />

zeigen, dass du dich umbringen würdest für ihn?»<br />

«Und wenn du ertrunken wärst?»<br />

«Dann wäre die Sache geklärt.»<br />

«Ich schätze, da gibts schlauere Wege.»<br />

Als ich abends wieder in meinem Kofferraum lag, wusste<br />

ich, dass er recht hatte. Wenn einem etwas wirklich wichtig ist,<br />

muss man unkluge Dinge tun. In diesem Moment beschloss ich,<br />

doch irgendwann ein Buch zu schreiben und den Jungs und<br />

Mädchen vom Bahnhof ein Denkmal zu setzen. Selbst wenn es<br />

dann das überflüssigste Buch werden würde, das es je gab.<br />

Christoph Scheurings Jugendroman «Echt» über die Jungen und Mädchen<br />

vom Bahnhof ist soeben im Magellan Verlag erschienen.<br />

Bild KATHRIN SPIRK<br />

38 DAS MAGAZIN 42/2014<br />

39


OYSTER PERPETUAL<br />

COSMOGRAPH DAYTONA IN PLATINUM<br />

bucherer.com

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