Schmerzskoliose - Engelhardt Lexikon Orthopädie und Unfallchirurgie
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PDF 01792<br />
<strong>Engelhardt</strong> (Hrsg.)<br />
<strong>Lexikon</strong> Orthopädie <strong>und</strong> <strong>Unfallchirurgie</strong><br />
<strong>Schmerzskoliose</strong><br />
Synonyme<br />
Ischiasskoliose<br />
Englischer Begriff<br />
Sciatic scoliosis<br />
Definition<br />
Schmerzbedingte Seitneigung des Rumpfs bei bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäule.<br />
Pathogenese<br />
Als ursächlich wird eine unilaterale Tonuserhöhung der Rückenmuskulatur angenommen, die sich reflektorisch<br />
aus einer Irritation einer Nervenwurzel entwickelt. Durch die Neigung zur Gegenseite wird das Foramen<br />
intervertebrale erweitert <strong>und</strong> der bei einem Bandscheibenvorfall mögliche Druck von kaudal auf die<br />
Nervenwurzel reduziert. Liegt der Bandscheibenvorfall kranial der Nervenwurzel, findet sich eine<br />
Schmerzreduktion durch ipsilaterale Seitneigung der Wirbelsäule.<br />
Symptome<br />
Die Patienten demonstrieren eine auffällige Seitneigung des Rumpfs, die oft von einer Vorneigung begleitet ist.<br />
Berichtet wird über eine plötzliche Schmerzausstrahlung über das Gesäß in das Bein, die unter Einnahme dieser<br />
Zwangshaltung subjektiv zu lindern ist. Auch Rückenschmerzen in wechselnder Intensität sind möglich. Husten,<br />
Niesen oder Pressen führen in der Regel zu einer Schmerzverstärkung.<br />
Diagnostik<br />
Die schmerzbedingte Zwangshaltung besteht in einer Seitneigung der Wirbelsäule sowie einer Vorbeugung des<br />
Oberkörpers. Die Lordosierung der Lendenwirbelsäule ist meist abgeflacht. Meist liegen diffuse Druck- <strong>und</strong><br />
Klopfschmerzhaftigkeit über dem thorakolumbalen Wirbelsäulenabschnitt vor, wobei meist auch das Kreuz-<br />
Darmbein-Gelenk <strong>und</strong> die Valleix-Druckpunkte als schmerzhaft angegeben werden. Der Tonus der<br />
Rückenstreckmuskulatur auf der konkaven Seite ist deutlich erhöht. Die Beweglichkeit des betreffenden<br />
Wirbelsäulenabschnitts ist früh schmerzhaft eingeschränkt. Nervendehnungszeichen (Lasègue-Zeichen) können<br />
ebenso wie segmentale Sensibilitätsstörungen, abgeschwächte oder fehlende Reflexe sowie eine Schwäche der<br />
Kennmuskulatur auf ein radikuläres neurologisches Defizit hinweisen.<br />
Eine elektrophysiologische fachneurologische Untersuchung ist bei zweifelhaften Bef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> zum Ausschluss<br />
von Differentialdiagnosen empfehlenswert. Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule sind geeignet, knöcherne<br />
Veränderungen abzugrenzen <strong>und</strong> indirekte Zeichen einer Bandscheibendegeneration (z. B. Erniedrigung des<br />
Zwischenwirbelraums) darzustellen. Magnetresonanztomographien sind zur Darstellung der nervalen Strukturen<br />
der Computertomographie überlegen. Kombiniert werden können beide Verfahren mit einer Myelographie.<br />
Differenzialdiagnose<br />
Irritationen des Kreuz-Darmbein-Gelenks, Tumoren des Spinalkanals, epiduraler Abszess, Erkrankungen der<br />
Nieren oder der ableitenden Harnwege, Erkrankungen von Uterus oder Ovarien, Erkrankungen des Dickdarms.<br />
Therapie<br />
Der Bandscheibenprolaps selbst ist therapeutisch nicht zu beeinflussen. In Abhängigkeit von den beklagten<br />
Beschwerden <strong>und</strong> der Bef<strong>und</strong>konstellation können jedoch eine Vielzahl von konservativen <strong>und</strong> operativen<br />
Behandlungsoptionen eingesetzt werden, um die Irritation der Nervenwurzel zu reduzieren.<br />
file:///D|/RAW_TEST/all_pdf_drafts/to034770.html[12.10.2010 08:01:46]
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Akuttherapie<br />
Liegen keine neurologischen Ausfallerscheinungen vor, die ein invasives Vorgehen erfordern, steht primär die<br />
analgetische Behandlung im Vordergr<strong>und</strong>. Diese besteht in einer entlastenden Lagerung (Stufenbettlagerung für<br />
die Lendenwirbelsäule, extendierende Orthese für die Halswirbelsäule) <strong>und</strong> der Gabe hochdosierter<br />
Antiphlogistika <strong>und</strong> Myotonolytika. Dies kann im Bedarfsfall mit Steroiden <strong>und</strong> Diuretika kombiniert werden.<br />
Neurologische Ausfallerscheinungen können bei Nachweis eines ursächlichen Bandscheibenvorfalls die Indikation<br />
zu einem sofortigen operativen Vorgehen darstellen.<br />
Konservative/symptomatische Therapie<br />
Die konservative Therapie umfasst eine Vielzahl symptomatischer Maßnahmen, die auf das Erreichen einer<br />
Schmerzlinderung, einer muskulären Stabilisierung <strong>und</strong> einer Verhaltensschulung ausgerichtet sein können.<br />
Nach Abklingen der akuten Phase können gezielte Injektionen mit Lokalanästhetika <strong>und</strong>/oder Kortikosteroiden<br />
(z. B. epidurale Umflutungen, Nervenwurzelblockaden, Facetteninfiltrationen, Triggerpunktbehandlung) zu einer<br />
vorübergehenden Beschwerdefreiheit führen. Die Physiotherapie umfasst je nach Bef<strong>und</strong>konstellation<br />
physikalische Maßnahmen (Galvanik, Diadynamik, hochfrequenter Reizstrom, Wärmeanwendungen),<br />
Extensionsbehandlungen (Schlingentisch) <strong>und</strong> die Anleitung zur Durchführung eines isometrischen<br />
Trainingsprogramms. Verhaltensschulen („Rückenschule“) sind erforderlich, um das Ausmaß der<br />
wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten zu reduzieren.<br />
Mieder, Orthesen oder Korsette werden nur selten als vorübergehende externe Stabilisation oder zur<br />
Entlordosierung der Lendenwirbelsäule eingesetzt.<br />
Medikamentöse Therapie<br />
Die medikamentöse Therapie besteht, abgesehen von der analgetischen Behandlung der Akutphase, in der<br />
Gabe von Antiphlogistika mit langer Halbwertzeit, was gegebenenfalls mit muskelrelaxierenden Medikamenten<br />
kombiniert werden kann.<br />
Operative Therapie<br />
Das Ausmaß der operativen Therapie richtet sich nach dem vorliegenden Bef<strong>und</strong> sowie der beklagten<br />
Beschwerdesymptomatik. Die mikroskopisch assistierte offene Nukleotomie beinhaltet die Entfernung der<br />
prolabierten Bandscheibenanteile mit anschließender Dekompression der Nervenwurzel. Da es sich bei<br />
Ischiasskoliosen ursächlich meist um einen Massenprolaps oder einen sequestrierten Bandscheibenvorfall<br />
handelt, kommt den perkutanen Verfahren zur Verkleinerung der zentralen Bandscheibenregion (mikroskopisch<br />
assistierte perkutane Nukleotomie, MAPN; intradiskale Elektrothermotherapie, IDET; perkutane lumbale Laser-<br />
Diskektomie, PLLD) nur eine untergeordnete Bedeutung zu.<br />
Dauertherapie<br />
Gezielte isometrische Übungen zur Kräftigung der Muskulatur sollten dauerhaft fortgeführt werden.<br />
Wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten sollten insbesondere unter Berücksichtigung der angrenzenden<br />
Bewegungssegmente vermieden werden.<br />
Bewertung<br />
Die überwiegende Mehrheit an Ischiasskoliosen kann durch eine konsequent geführte konservative Behandlung<br />
beherrscht werden. Ein operatives Vorgehen bleibt den Patienten mit akuten <strong>und</strong> nicht frühzeitig reversiblen<br />
neurologischen Ausfallerscheinungen vorbehalten.<br />
Nachsorge<br />
Eine Behandlungsbedürftigkeit ist bis zum Abklingen der Schmerzsymptomatik gegeben. Da es sich bei der<br />
Ischiasskoliose auf dem Boden einer Bandscheibendegeneration um ein nicht kausal zu therapierendes<br />
chronisches Leiden handelt, sind wiederkehrende Schmerzattacken häufig. Perspektivisch sollte die Aufklärung<br />
über das Gr<strong>und</strong>leiden mit der Notwendigkeit zur Rückenschule <strong>und</strong> Gewichtskontrolle erfolgen.<br />
Operativ behandelte Bandscheibenerkrankungen sind nach Erreichen einer suffizienten muskulären Führung <strong>und</strong><br />
Beherrschen des selbständig durchzuführenden Trainingsprogramms nicht mehr behandlungsbedürftig.<br />
Autor<br />
Renée Fuhrmann<br />
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