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4: Der geheimnisvolle Fremde - Marquartstein

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Storytausch<br />

Pädagogisches Zentrum Schloss Niedernfels<br />

<strong>Der</strong> <strong>geheimnisvolle</strong> <strong>Fremde</strong><br />

Geschichte 4<br />

Autoren:<br />

Christina Bennemann<br />

Lena Dießel<br />

Verena Flockerzi<br />

Jasmin Hochlechner<br />

Beni Kassel<br />

Michelle Melzer<br />

Jonas Notter<br />

Lisa Schwab<br />

Jakob Senjor<br />

und<br />

Ralph Müller-Wagner<br />

Hintergrund:<br />

Schülerinnen und Schüler der Achental-Realschule und des<br />

Pädagogischen Zentrums Niedernfels produzierten im Herbst und<br />

Winter 2012 unter dem Motto „Storytausch“ eigene Geschichten mit<br />

Bezug zu <strong>Marquartstein</strong>. Storytausch heißt, dass verschiedene<br />

Gruppen auch jahrgangsübergreifend im Austausch jeweils<br />

mehrere Kapitel unter einem gemeinsamen Thema schreiben. Die<br />

Ergebnisse stellen wir jetzt im Zwei-Wochenrhythmus vor.<br />

Eingebettet ist diese Schüleraktion in den großen Rahmen Lesedorf<br />

<strong>Marquartstein</strong>. Als Leitidee der Gemeindeentwicklung strahlt<br />

Lesedorf in viele Bereiche aus: Bildung, Tourismus, Städtebau und<br />

Landschaft, Soziales, Wirtschaft. Ziel ist es, <strong>Marquartstein</strong> zu<br />

profilieren, damit sich Bürgerinnen und Bürger noch stärker mit<br />

ihrem Ort identifizieren und Gäste und Besucher auf <strong>Marquartstein</strong><br />

neugierig werden.<br />

Die weiteren Aktionen 2013 sind im Veranstaltungskalender<br />

Lesedorf aufgeführt und auch unter www.lesedorf.de abrufbar.<br />

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Storytausch<br />

Pädagogisches Zentrum Schloss Niedernfels<br />

<strong>Der</strong> <strong>geheimnisvolle</strong> <strong>Fremde</strong><br />

Geschichte 4<br />

Von Christina Bennemann, Lena Dießel, Verena Flockerzi,<br />

Jasmin Hochlechner, Beni Kassel, Michelle Melzer, Jonas<br />

Notter, Lisa Schwab, Jakob Senjor und Ralph Müller-Wagner<br />

Kapitel 1<br />

Winter im Achental, am Nordrand der Bayerischen Alpen.<br />

Dachfenster sind mit Eiszapfen unterschiedlicher Länge<br />

gesäumt. Fenster und Türen fest verschlossen. Eisblumen<br />

schimmern wie kleine Kunstwerke an den Scheiben. Angemalt<br />

vom kreativen Frost.<br />

Florian stapft frohen Mutes durch den knirschenden Schnee.<br />

<strong>Der</strong> große <strong>Marquartstein</strong>er Volksschüler ist in warme Kleider<br />

gehüllt. Als er die Eisblumen entdeckt, bleibt er fasziniert<br />

stehen. Staunt über die Schönheit des Augenblickes, der<br />

Vergänglichkeit. Dann schaut Florian interessiert in Richtung<br />

Schnappenberg. Beginnt die mittelalterliche Burganlage zu<br />

skizzieren.<br />

»Grüß Gott, junger Künstler«, spricht ihn ein alter Mann<br />

freundlich an, dessen braungebranntes Gesicht gefaltet ist.<br />

»Spannend, die Burg zu malen. Jeder Stein dort oben erzählt<br />

Geschichten aus längst vergangenen Tagen.«<br />

Florian mustert den Alten überrascht. Grüßt höflich zurück.<br />

Zeigt ihm den aktuellen Entwurf.<br />

»Sehr talentiert. Gefällt mir richtig gut. Hast du gestern auch<br />

daran gearbeitet?«, lobt ihn der <strong>Fremde</strong>.<br />

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»Danke. Äh…, Sie haben mich beobachtet?«, stammelt der<br />

Schüler jetzt unsicher, während er weiter skizziert.<br />

»Die ganze Woche schon. Bin dir wohl nicht aufgefallen?«,<br />

grinst der Alte. Kneift die Augen zusammen.<br />

»So langsam werden Sie mir unheimlich…«, scherzt Florian.<br />

»Geheimnisvoll und schauerlich sind eher einige Ereignisse,<br />

welche sich einst auf der Burg abgespielt haben«, lenkt der<br />

Alte gelassen ab. »Von der Geschichte verschluckt. Niemand<br />

kennt sie mehr. Dennoch bin ich darüber unterrichtet. Eine<br />

davon könnte ich dir erzählen. Neugierig?«<br />

Florian stimmt hellhörig zu, obwohl er den <strong>Fremde</strong>n nicht<br />

kennt. Ob der ihm einen Bären aufbinden will? Nein, das ist<br />

wohl nur ein flüchtiger Gedanke. Er skizziert weiterhin an<br />

seinem Bild, versucht den Mann auf höfliche Art und Weise<br />

abzuschütteln.<br />

Dieser bemerkt sein Verhalten, dass er unerwünscht ist und<br />

kommt auf den Punkt: »Na gut. Ich werde gehen, will dir aber<br />

dieses wertvolle Buch geben. Interessiert?«<br />

<strong>Der</strong> Junge antwortet patzig: »Ich will es nicht haben, nehme<br />

außerdem nichts von fremden Leuten an!«<br />

<strong>Der</strong> <strong>Fremde</strong> steckt das Buch enttäuscht wieder in eine<br />

schwarze Umhängetasche und verschwindet ohne ein Wort<br />

zu sagen.<br />

Kapitel 2<br />

Florian skizziert nachdenklich an seinem Bild weiter. Er ist so<br />

sehr in seine Arbeit vertieft, dass er die Zeit dabei vergisst. Als<br />

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es anfängt zu dämmern, geht er zufrieden nach Hause. Kaum<br />

ist er in seinem Zimmer, fällt er müde ins Bett und schläft kurz<br />

darauf ein. Noch nie hat er so eine Müdigkeit erfahren, wie an<br />

jenem Winterabend. In dieser Nacht träumt der Schüler von<br />

dem Buch, welches ihm der alte Mann geben wollte. Als der<br />

Traum fast schon zum Alptraum wird, wacht er auf, knipst die<br />

Taschenlampe an und bemerkt ein altes Buch, das neben<br />

dem Kopfkissen liegt. Seine Gedanken wirbeln wie ein<br />

aufgescheuchter Hühnerhaufen umher. Was ist das für ein<br />

Buch und wie ist es hergekommen? Florian kennt es nicht.<br />

So verunsichert er auch ist, packt ihn jedoch die Neugier und<br />

beginnt in dem Buch zu blättern. Auf einer Seite ist ein<br />

Medaillon abgebildet, welches er zu kennen glaubt. Nach<br />

kurzer Überlegung fällt ihm ein, dass er dasselbe Medaillon<br />

vor einem Jahr von seiner verstorbenen Großmutter geerbt<br />

hat. Ehe er sich versieht, liegt das Medaillon unerwartet unter<br />

seinem Kopfkissen. Nun kriegt er es richtig mit der Angst zu<br />

tun. Was ist hier eigentlich los?<br />

Es sind viele Fragen, die Florian beschäftigen. Ihm wird heiß<br />

und kalt. Warum drängt sich der <strong>geheimnisvolle</strong> alte Mann in<br />

sein Leben? Welche Rolle spielt das Buch? Was hat Oma mit<br />

dem Medaillon zu tun? Er hätte es gar nicht bemerkt, aber das<br />

Kopfkissen strahlt plötzlich ein bläuliches kaltes Licht in Form<br />

eines Intervalls aus. Ob es ein Signal ist? Florian versucht es<br />

zu erklären. Vorsichtig nimmt er das goldene Medaillon in die<br />

Hand, studiert es von beiden Seiten. Erst jetzt fällt ihm die<br />

ovale Form auf. Früher hat er das nie beachtet. Es ist eben<br />

ein Geschenk der Großmutter. Nicht, dass er ihren Präsenten<br />

wenig Beachtung schenkt. Er ist ein bisschen oberflächlich,<br />

der Florian. Gibt er ja auch zu. Aber nun interessiert ihn die<br />

plastische Darstellung auf dem Ornament. Ein griechischer<br />

Krieger, der einen Speer über der Schulter in Wurfstellung<br />

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hält. Er sitzt auf einem geflügelten Pferd. Das bärtige Gesicht<br />

ist filigran gezeichnet. Es drückt Entschlossenheit aus. Ist der<br />

Krieger ein Gott? Befindet er sich im Krieg? Schade. Oma<br />

kann er nicht mehr fragen. Vielleicht sollte Florian zu einem<br />

Kunsthändler gehen und sich aufklären lassen. Eventuell ist<br />

es sehr wertvoll. Aber er wird niemandem etwas über die<br />

Begegnung mit dem alten Mann und den mysteriösen<br />

Ereignissen erzählen, die sich in seinem Zimmer abgespielt<br />

haben. Glaubt ihm ohnehin keiner. Er lässt sich nicht gerne<br />

mit Spinner betiteln.<br />

Am nächsten Morgen steht Florian abermals unterhalb der<br />

alten Burg, skizziert aus einer anderen Perspektive. Allerlei<br />

Gedanken schwirren ihm durch den Kopf. Die Nacht hat er<br />

kein Auge zugedrückt. Insgeheim hofft er dem <strong>Fremde</strong>n zu<br />

begegnen. <strong>Der</strong> hat doch garantiert was mit der Sache zu tun!<br />

Ob er Großmutter von früher kennt? Falls er ihm erneut<br />

begegnet, will er ihn fragen, warum das Buch voller leerer<br />

Seiten ist. Nur das Medaillon ist auf Seite sieben zu sehen<br />

und eine Schrift, die er nicht kennt. Sieben. Eine magische<br />

Zahl. Wieder wird Florian heiß und kalt. Er ist unkonzentriert.<br />

Es will ihm gar kein Strich gelingen. Kalt ist es auch. Aber die<br />

Sonne lacht.<br />

Kapitel 3<br />

Florian hat keine Lust mehr weiter zu zeichnen, weil ihn die<br />

Geschichte derart fesselt. Eine Wolkendecke schiebt sich vor<br />

die Sonne und bald streichelt ihn ein leichter Windstoß, dem<br />

weitere folgen. Gesäusel dringt aus der Ferne und eine<br />

dunkle, unheimliche Stimme flüstert: »Begebe dich zur Burg,<br />

um die ganze Geschichte zu erfahren!« Florian ist unheimlich<br />

zu Mute. Obwohl er eingeschüchtert ist, macht er sich auf den<br />

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beschwerlichen Weg hinauf zur Burg. Oben angekommen,<br />

steht er gleich im Burggarten. Er geht durch das Eingangstor<br />

und befindet sich wiederum gleich im Ballsaal. Dort vernimmt<br />

er ein gruseliges Knacksen, aber es ist niemand zu sehen. Er<br />

wandelt nun durch den Saal und bemerkt ein altes Bild von<br />

seiner Großmutter, die das Medaillon des alten Mannes um<br />

den Hals trägt. Er berührt das Medaillon und plötzlich öffnet<br />

sich ein geheimer Gang. Florian fällt fast das Herz in die<br />

Hose, aber er ist ein mutiger Junge und so überschreitet er<br />

auch diese Schwelle. Fackeln rechts und links des Ganges<br />

fangen wie von Geisterhand entzündet, von allein zu brennen<br />

an. Er bekommt es langsam mit der Angst zu tun, doch die<br />

Neugier treibt ihn weiter an. Er ist so fasziniert und abwesend<br />

von diesem Augenblick, dass er eine lange, steile Treppe<br />

hinunter fällt. Nach einem kurzen Moment der Besinnung<br />

bemerkt er den fremden alten Mann, der ihn bereits erwartet,<br />

um jetzt die Geschichte des Medaillons und auch seiner<br />

Großmutter zu erzählen.<br />

»Eigentlich bin ich schon lange tot«, beginnt der <strong>Fremde</strong>,<br />

während er Florian wieder auf die Beine verhilft. Seine Hände<br />

fühlen sich eiskalt an, doch seine Stimme ist voller Wärme.<br />

»Ich brauche das Medaillon, um endlich den ewigen Frieden<br />

zu finden. Es gehört mir, aber verwirrte Geister entwendeten<br />

dieses. Sie brachten es in die Menschenwelt und legten es<br />

deiner Oma in die Wiege. Ihre Eltern waren darüber sehr<br />

verwundert. Sie glaubten, es wäre ein Geschenk der Mutter<br />

Jesu, damit es ihrer Tochter Glück bringen möge. So ist deine<br />

liebe Oma mit dem Medaillon aufgewachsen und ward immer<br />

behütet. In ihrer Kindheit, die manchmal gar keine Kindheit<br />

war, spielte sie mit dem himmlischen Geschenk, wie es deine<br />

Urgroßeltern einmal nannten. Später hütete sie es wie ihren<br />

Augapfel, als sie erfuhr, wie es zu ihr kam und weiter so<br />

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lange, bis sie es dir vererbte.«<br />

Florian hört aufmerksam zu, jedoch geht ihm mächtig die<br />

Düse, denn was er hier erlebt, geschieht nicht mit rechten<br />

Dingen. »Was, was wollen Sie damit sagen?«, fragt er den<br />

unheimlichen <strong>Fremde</strong>n zögerlich.<br />

»Ich bin ein Geist und kein bisschen weniger«, antwortet der<br />

Alte cool, schwebt langsam zur Decke des Saales empor, um<br />

gleich wieder neben Florian zu stehen. »Ich bitte dich herzlich<br />

um meinen Besitz. Wenn du mir das Medaillon aber nicht<br />

geben magst, fordere ich es zurück und dann wird es dir sehr<br />

schlecht ergehen! Ich denke aber, du bist weise und gerecht<br />

und handelst besonnen.«<br />

Kapitel 4<br />

Florian weiß gar nicht, wie ihm geschieht. »Verstehen Sie<br />

was von Levitation?«, sagt er beherzt. »Habe mal was von<br />

Leuten gehört, die für kurze Zeit vom Boden abheben, also<br />

buchstäblich nach oben schweben können. Finde ich übrigens<br />

echt abgefahren.«<br />

»Neben der Welt, welche du als real betrachtest, existieren<br />

noch viele Nebenwelten«, weiß der <strong>geheimnisvolle</strong> <strong>Fremde</strong> zu<br />

berichten. »Dunkle Seinsebenen, in denen unterschiedlichste<br />

Charaktere ihr Unwesen treiben. Ja, ich bin ein Geist und kein<br />

Scharlatan. Levitation ist eine bemerkenswerte Gabe, aber<br />

eher irdischen Ursprungs. Die Menschen können noch viel<br />

mehr. Mehr, als sie jemals erahnen und wissen oder erahnen<br />

und wissen dürfen. <strong>Der</strong> Komplex des Lebens besitzt eine<br />

solche <strong>geheimnisvolle</strong> Tiefe, wie du es dir niemals vorstellen<br />

kannst. Dasselbe gilt für den Tod. Das ewige Geheimnis. Er<br />

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soll es auch für dich bleiben. Ich will dich nicht mit meinen<br />

überirdischen Kenntnissen beeinflussen oder gar an deiner<br />

realen Weltanschauung rütteln. Ist nicht meine Bestimmung.<br />

Kannst du mir glauben. Möchte nur mein Eigentum wieder.<br />

Das Medaillon. Du verstehst?«<br />

Florians Augen werden immer größer, als er die Worte des<br />

Alten vernimmt. »Darf ich Sie anfassen und fühlen, ob Sie<br />

echt oder ein Gespenst sind? Spukgestalten sollen ja eine<br />

feinstoffliche Substanz besitzen, wie mir zu Ohren kam.«<br />

»Ach, sag doch lieber Geist als Gespenst, wenn du von<br />

meiner Wesenheit sprichst. Gespenst klingt so nach Angst<br />

und ich muss mal für kleine Mädchen. Übrigens interessant,<br />

was du schon alles über uns gehört hast. Natürlich darfst du<br />

mich anfassen. Hast du denn nichts gespürt, als ich dir vorhin<br />

vom Boden aufhalf?«<br />

»Freilich. Mir ist sehr kalt geworden«, erinnert sich Florian<br />

und schenkt dem Alten weiterhin seine Aufmerksamkeit. »Ich<br />

habe in jenem Augenblick nicht an Ihrer irdischen Existenz<br />

gezweifelt. Wenn Sie es aber erlauben, werde ich Sie einmal<br />

berühren. Ich bin gespannt.«<br />

»Manch einer ist dabei schon verbrannt oder hat sich in Luft<br />

aufgelöst«, entgegnet der Alte ehrfürchtig. »Allerdings hängt<br />

das mit der Energie zusammen, die jedes Wesen ausstrahlt.<br />

Los, versuche es!«, fordert er Florian auf.<br />

Dieser streckt zögerlich seine Hand aus, mit verschlossenen<br />

Augen. Dabei hört er den <strong>Fremde</strong>n kichern. Ob der nicht doch<br />

einen Spaß mit ihm treibt? Welche Blamage. Plötzlich wird es<br />

eiskalt an seiner Hand. Mehr spürt er nicht, als die Kälte. Er<br />

zieht die Hand zurück. Gleich wird es wärmer. Vielleicht sollte<br />

Florian die Augen öffnen. Nein. Er schafft es nicht. Das Herz<br />

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rast wie ein Formel 1 Rennwagen. Wieder streckt er die Hand<br />

aus. Diesmal länger. Es ist nicht mehr kalt. Dafür erfährt er<br />

tausend unbekannte Gefühle und glaubt zugleich alles zu<br />

wissen, was es auf der Welt und im Weltall zu wissen gibt. Bis<br />

zum Urknall blickt er zurück und weit darüber hinaus. Wie<br />

wunderbar doch die Schöpfung und deren Geheimnis ist, das<br />

er nun kennt. Etwas versucht ihn, in seinen Bann zu ziehen.<br />

Eine Kraft, stärker als die gewaltigste Strömung.<br />

Kapitel 5<br />

Florian sieht mit seinem geistigen Auge, wie sich sein Körper<br />

in Atome und Moleküle auflöst. Unzählige Teilchen, die schon<br />

bald einen neuen Kosmos bilden. So weit und groß, wie das<br />

irdische Auge reicht. Es ist sein Universum, in welchem er der<br />

Schöpfer ist. Dann endet die fantastische Reise ins Ich. Eine<br />

Erfahrung, die Florian schnell wieder vergisst, als er die Hand<br />

zurückzieht. »Was ist mit mir passiert?«, fragt er den Alten<br />

verwirrt und wartet ungeduldig auf dessen Antwort.<br />

»Als du mich berührtest, verschmolz unsere Energie und du<br />

wurdest ein Teil von mir«, deutet der unheimliche <strong>Fremde</strong> an.<br />

»Obwohl deine Augen fest geschlossen waren, konntest du<br />

alles sehen. Wir brauchen in dieser Seinsebene keine Augen.<br />

Sind eins mit den Dingen, mit dem gesamten Universum.<br />

Schade, dass du das Sehen wieder verlernt hast und dich an<br />

nichts mehr erinnern kannst. Ist ja auch eine Schutzfunktion,<br />

denn würdest du dich erinnern und dein Wissen unter die<br />

Leute bringen, würden dich alle auslachen und als Idioten<br />

bezeichnen. Äh, weißt du überhaupt, wovon ich spreche?«<br />

Florian runzelt ahnungslos die Stirn.<br />

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»So ist es gut«, sagt der Alte erfreut. »Jetzt erzähle ich dir,<br />

was deine Großmutter mit der Geschichte zu tun hat. Die<br />

Sache mit dem Medaillon kennst du bereits. Deine Oma war<br />

die Tochter meiner damaligen großen Liebe Anastasia. Diese<br />

wiederum gehörte dem Geschlecht der Spanheimer an. Sie<br />

war ein entfernter Nachkomme von Engelbert II., dem Anfang<br />

des zwölften Jahrhunderts die <strong>Marquartstein</strong>er Burg gehörte.<br />

Damals hat sie schon einmal gelebt, deine Großmutter. Ihr<br />

Bildnis hast du vorhin im Saal an der Ahnenwand gesehen.<br />

Sie war ein junges Burgfräulein, ihrer Zeit weit voraus und<br />

ging nach Verona in Italien, wo Engelbert auch Ländereien<br />

besaß. Dort lernte sie einen griechischen Großgrundbesitzer<br />

kennen, der auch was von der Kriegstechnik verstand. Er<br />

muss selber ein guter Speerwerfer gewesen sein, denn das<br />

Medaillon gehörte einst ihm. Verliehen für seine Verdienste im<br />

Byzantinischen Heer, welchem er vier Jahre lang diente. Wie<br />

du siehst, ist das Medaillon sehr wertvoll und wechselte oft<br />

seinen Besitzer, ehe es wieder meins wurde.«<br />

Florian, der Zeuge einer unglaublichen Begebenheit ist,<br />

staunt nicht schlecht über die Geschichte des <strong>Fremde</strong>n, in<br />

welcher sogar seine Großmutter eine tragende Rolle spielt.<br />

»Warum sagen Sie wieder meins? Gehörte das Medaillon<br />

ihnen denn wirklich schon einmal?«<br />

»Da liegst du vollkommen richtig«, seufzt der <strong>Fremde</strong>, der<br />

endlich seinen Frieden finden will. »Mein eigentlicher Name<br />

ist Abramius Rangabe. Alter Byzantinischer Adel. Ich bin jener<br />

feudale Großgrundbesitzer, der deine Großmutter vor fast<br />

tausend Jahren in Verona ehelichte. Wenn das eine Lüge ist,<br />

will ich ewig in der Hölle schmoren!«<br />

Florian kratzt sich hinter dem Ohr. Nein, er träumt nicht. Alles<br />

findet tatsächlich statt. »Starker Tobak«, schnauft er. »Ist ja<br />

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auch nicht ganz leicht, die Dinge hier richtig einzuordnen. Tut<br />

mir echt leid.«<br />

»Aber das verstehe ich doch«, antwortet der alte Mann aus<br />

der anderen Welt. »Warum sollte ich dich täuschen? Gut. Ich<br />

habe mich nicht gleich zu erkennen gegeben, was aber jeder<br />

machen würde, wenn es um so eine wichtige Sache geht.<br />

Freu dich, Florian. Irgendwie sind wir beide auch Verwandte«,<br />

grinst er den perplexen Schüler nun an.<br />

<strong>Der</strong> kratzt sich wiederum hinterm Ohr. Unglaublich, was hier<br />

abgeht! »Was passiert, wenn ich Ihnen das Medaillon gebe?<br />

Endet dann der ganze Spuk?«<br />

Kapitel 6<br />

»Ich kehre in meine Welt zurück. In die Welt der Geister, wo<br />

ewiger Friede gewiss ist. Versprochen.«<br />

»Okay. Hm. Na ja. Wie soll ich es sagen? Ist dort vielleicht<br />

auch Großmutter? Ach, vergessen Sie die blöde Frage….«<br />

»Es gibt unendliche viele Daseinsebenen. In einer von ihnen<br />

ist deine Großmutter ganz sicher. Ich habe sie leider noch<br />

nicht getroffen«, gibt der Alte zu.<br />

»Warum nehmen Sie das Medaillon nicht einfach? Dürfte<br />

Ihnen als Geist ja nicht schwer fallen«, fordert Florian ihn<br />

heraus und findet seine Frage berechtigt.<br />

»Auch in der jenseitigen Welt gibt es bestimmte Regeln und<br />

eine Ordnung, die jedes Wesen ausloben muss. Nehme ich<br />

dir das Medaillon unerlaubt weg, so ist das Diebstahl, obwohl<br />

es mir eins gehörte. Hast du noch weitere Fragen?«<br />

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Florian staunt über die Geduld des uralten Geistes, welcher<br />

konsequent seiner Bestimmung nachgeht. Ein Gentleman der<br />

Geisterwelt. Gut zu wissen, denkt der aufgeweckte Schüler.<br />

»Nein, danke. Keine weiteren Fragen mehr«, antwortet er<br />

freundlich, den Alten aufmerksam musternd.<br />

»Dann bereiten wir also die Übergabe vor, ja?«, freut sich<br />

dieser wie ein kleiner Junge. »Wann soll ich zu dir kommen?<br />

Heute noch oder vielleicht am Samstag?«<br />

»Nein. Wir machen es gleich hier. Ich habe das Medaillon<br />

einfach mal so mitgenommen«, meint Florian feierlich und<br />

erntet großen Beifall. »Warten Sie bitte einen Moment. Ich<br />

hole es aus der Tasche. So, da ist es. Werden Sie glücklich<br />

damit. Sie wissen schon. Ewiger Friede.«<br />

»Besäße ich noch irdische Tränen, würde ich jetzt weinen,<br />

mein Lieber«, beteuert der glückliche Geist. »Werde ich dir<br />

nie vergessen. Versprochen! Leider muss ich jetzt gehen. Die<br />

Ordnung verlangt es so. Fürchte dich nicht, wenn es gleich<br />

blitzt und donnert. Lebe wohl. Bewahre deine Großmutter im<br />

Herzen und denke vielleicht auch einmal an mich und das<br />

Medaillon, mit dem der Spuk begann. Danke, teurer Freund.<br />

Alle guten Energien für dich.« Sagt es und verschwindet mit<br />

donnerndem Getöse, wie zuvor gewarnt. Funken sprühen.<br />

Steine fallen aus den alten Mauern. Blitze unterschiedlicher<br />

Länge tauchen den Saal in ein farbiges Labyrinth, schaurig<br />

schön anzusehen. Dann ist es stockdunkel und Stille kehrt<br />

ein, als sei nichts geschehen.<br />

Florian verspürt keine Angst, bringt sich jedoch in Sicherheit.<br />

Glaubt ihm kein Mensch, die Geschichte. Schon am nächsten<br />

Morgen, ein Sonntag, beginnt er neue Motive zu zeichnen.<br />

Die jenseitige Welt ist es, die seine Fantasie beflügelt. Er malt<br />

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Fabelwesen der dunklen Seite. Trolle, Orks oder Drachen.<br />

Aber auch Engel, Elfen und Elben. Dann versucht er den alten<br />

Geist zu skizzieren. Nicht ganz einfach, doch es gelingt ihm.<br />

Nachmittags geht Florian zum Friedhof, besucht Großmutters<br />

Grab. Er spricht mit ihr in Gedanken. Berichtet, was er alles<br />

erlebt. Zum Schluss zündet er eine selbst geformte Kerze an.<br />

Gedenkt ihrer lange und macht sich mit etwas Wehmut auf<br />

den Heimweg.<br />

Es ist immer noch Winter. Winter in den Bayerischen Alpen.<br />

Flocken wie Federn schweben vom Himmel herab, der uns<br />

bisweilen mysteriös erscheint. So wie der <strong>geheimnisvolle</strong><br />

<strong>Fremde</strong>, mit dem unsere fantastische Geschichte begann.<br />

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