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Aus: Kirstin Frieden Neuverhandlungen des Holocaust Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas Januar 2014, 370 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2627-8 Die Tabus sind überwunden, Schuld ist abgegolten, political und memorial correctness bedeuten keinen Maulkorb mehr – immer wieder wird behauptet, dass die junge Generation die erste sei, die sich ohne Last der deutschen Vergangenheit annehmen und frei über sie sprechen kann. Aber ist das wirklich der Fall? Besteht nicht weiterhin ein Unbehagen mit der Vergangenheit? Abseits literaturwissenschaftlicher Trampelpfade untersucht Kirstin Frieden Formate unterschiedlicher Mediensegmente wie Performances, Comedy und Neue Medien (z.B. Facebook und YouTube). Sie diagnostiziert neue Möglichkeiten des Sprechens über den Holocaust sowie einer Erinnerungskultur, die das manifeste Gedächtnisparadigma medial transformiert. Kirstin Frieden (Dr. phil.) promovierte an der Graduate School »Practices of Literature« der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und war Stipendiatin der FAZIT-Stiftung. Weitere Informationen und Bestellung unter: www.transcript-verlag.de/ts2627/ts2627.php © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Aus:<br />

<strong>Kirstin</strong> <strong>Frieden</strong><br />

<strong>Neuverhandlungen</strong> <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong><br />

Mediale Transformationen <strong>des</strong> Gedächtnisparadigmas<br />

Januar 2014, 370 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2627-8<br />

Die Tabus sind überwunden, Schuld ist abgegolten, political und memorial correctness<br />

bedeuten keinen Maulkorb mehr – immer wieder wird behauptet, dass die junge Generation<br />

die erste sei, die sich ohne Last der deutschen Vergangenheit annehmen und<br />

frei über sie sprechen kann.<br />

Aber ist das wirklich der Fall? Besteht nicht weiterhin ein Unbehagen mit der Vergangenheit?<br />

Abseits literaturwissenschaftlicher Trampelpfade untersucht <strong>Kirstin</strong> <strong>Frieden</strong><br />

Formate unterschiedlicher Mediensegmente wie Performances, Comedy und Neue<br />

Medien (z.B. Facebook und YouTube). Sie diagnostiziert neue Möglichkeiten <strong>des</strong><br />

Sprechens über den <strong>Holocaust</strong> sowie einer Erinnerungskultur, die das manifeste Gedächtnisparadigma<br />

medial transformiert.<br />

<strong>Kirstin</strong> <strong>Frieden</strong> (Dr. phil.) promovierte an der Graduate School »Practices of Literature«<br />

der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und war Stipendiatin der<br />

FAZIT-Stiftung.<br />

Weitere Informationen und Bestellung unter:<br />

www.<strong>transcript</strong>-verlag.de/ts2627/ts2627.php<br />

© 2014 <strong>transcript</strong> <strong>Verlag</strong>, Bielefeld


Inhalt<br />

Vorwort | 7<br />

I BESTAND UND TRANSFORMATION<br />

1. Einleitung | 11<br />

2. Modifizierungen <strong>des</strong> Gedächtnisbegriffs | 26<br />

3. Generationen im Wandel | 35<br />

4. Plurale Räume | 46<br />

II WORK IN PROGRESS TEIL 1: LITERARISCHE<br />

VERHANDLUNGEN<br />

1. Der <strong>Holocaust</strong> in der Literatur – Historische Einordnung<br />

und Vorgehen | 63<br />

2. Das Vennemann-Prinzip | 73<br />

3. Positionierung und Neuverortung: Wo, was und wer<br />

ist Deutschland? | 106<br />

4. <strong>Holocaust</strong> und Popkultur | 140<br />

III WORK IN PROGRESS TEIL 2: PERFORMANCES<br />

1. „Performing the past“ – Einführung | 175<br />

2. Yael Ronens Dritte Generation. Work in Progress | 180<br />

3. Performance Radikal | 215<br />

IV WORK IN PROGRESS TEIL 3: NEUE MEDIEN<br />

1. ‚Things might change‘ – Medien- und Kommunikationswandel<br />

der Gegenwart | 233<br />

2. Erinnerungskulturen im Web 2.0 | 236<br />

3. Erinnerungskultur auf Facebook | 255<br />

4. Erinnerungskultur auf YouTube | 280<br />

V FAZIT | 317<br />

VI AUSBLICK | 331<br />

LITERATUR/QUELLEN | 339


Vorwort<br />

„Die einzige Möglichkeit, die Erinnerung an die<br />

Vernichtung durch die Nazis lebendig zu halten und<br />

zu erneuern, hängt davon ab, ob im Laufe der<br />

kommenden Jahre kühne und bescheidende Werke<br />

erscheinen […]; Werke, die es wagen, sich dieser<br />

erschütternden Herausforderung zu stellen.“<br />

JORGE SEMPRUN/KLARAS NEIN<br />

Die häufigste Reaktion, die ich auf die Nennung meines Dissertationsthemas in den<br />

vergangenen Jahren erhalten habe, war in etwa folgende „Puh, schwieriges Thema<br />

[…] warum machst Du das?“ Das Thema <strong>Holocaust</strong> und Nationalsozialismus ist ein<br />

unbequemes Thema, ja, und es mit Blick auf ‚Transformationen‘ und gar ‚<strong>Neuverhandlungen</strong>‘<br />

einer lang gepflegten Gedenktradition zu untersuchen, ist sicherlich<br />

nicht ganz einfach. Jedoch – im Grunde bedarf es dazu ‚nur‘ zweierlei: einen unbedingten<br />

Willen und ein dickes Fell.<br />

Immer wieder habe ich skeptische oder gar entsetzte Blicke geerntet, manchmal<br />

bin ich mit meinem Thema auch auf schlichte Ablehnung gestoßen; äußerst selten<br />

in jedem Fall erwartete mich offenes, unvoreingenommenes Interesse. Einige, auch<br />

etablierte Wissenschaftler, fragten mich, warum ich mich auf dieses „verminte Gebiet“<br />

begebe, zu dem doch außerdem vermeintlich alles schon gesagt und geschrieben<br />

worden ist. Während ich zu Anfang meiner Promotion noch versuchte, mich zu<br />

rechtfertigen und glaubhaft zu versichern, warum und weshalb und mit welchen<br />

besten Absichten ich untersuche, was ich untersuche und dass es sehr wohl hier<br />

auch Neues zu entdecken gibt, habe ich mir später angewöhnt, einfach mit „weil<br />

das Thema nun einmal wichtig ist“ zu antworten. Und so ist es in der Tat! Die Motivation,<br />

Begeisterung, ja Leidenschaft für dieses Thema, entstanden auch aus einem<br />

latenten Unbehagen, immer noch vielerorts auf ebensolche Sprachschwierig-


8 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

keiten und Tabuschwellen zu stoßen, war der Antrieb, mich mit <strong>Neuverhandlungen</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong> und medialen Transformationen <strong>des</strong> Gedächtnisparadigmas zu beschäftigen.<br />

All diejenigen, die der Meinung sind, über den <strong>Holocaust</strong> und seine mediale<br />

Darstellung und Erinnerungskultur sei bereits genug gesagt und geschrieben, werden<br />

dieses Buch vielleicht nicht mögen. Für eine andere Gruppe, von der ich nicht<br />

(nur) aus persönlicher Eitelkeit, sondern vielmehr auch aus idealistischen Gründen<br />

hoffe, sie möge größer als die erste sein, für diese Gruppe ist dieses Buch gedacht.<br />

Es ist zweifelsohne eine Herausforderung, sich nicht nur der Gegenwart, die mitunter<br />

problematisch genug ist, sondern sich immer wieder ebenso der Vergangenheit<br />

zu stellen. Dass nicht jeder diese Herausforderung annimmt und dies mitunter auch<br />

nicht erwartet werden kann, konnte ich über die Arbeit an diesem Buch lernen. So<br />

habe ich zugleich auch das Verständnis für diejenigen entwickelt, die die ‚ewig<br />

gleiche Leier’ über dieses alte ‚Nazi-Thema‘ nicht mehr hören können und wollen<br />

und sich gerade nicht für die Vergangenheit ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern<br />

verantwortlich fühlen. Besonders jene ‚junge Generation‘, als vielleicht erste Generation,<br />

die tatsächlich in der Lage ist, <strong>Neuverhandlungen</strong> nicht zu fordern, sondern<br />

auch zu führen, steht im Mittelpunkt meines Forschungsinteresses und meiner Suche<br />

nach den neuen Tönen abseits der alten Leier. Möglicherweise gibt es also noch<br />

eine weitere Gruppe, für die mein Buch eine interessante Lektüre verspricht und die<br />

sich der Aufforderung zu einem andauernden Work in Progress stellt – nicht weil<br />

sie es müsste, sondern weil es wichtig ist.<br />

Ein Promotionsprojekt ist ein Mammutprojekt. So bewusst ich mir <strong>des</strong>sen in der<br />

Rückschau bin, so zugegeben unwissend bin ich vor nunmehr fünf Jahren in dieses<br />

Wagnis offenen Ausgangs gestartet. Heute bin ich nicht nur glücklich und dankbar<br />

darüber, es erfolgreich abgeschlossen zu haben, sondern auch, dass mich Personen<br />

und Institutionen unterstützt und begleitet, und mich liebende Menschen dabei nicht<br />

verlassen haben. Am Ende zu sagen, was mich in schwierigen Zeiten, in Zeiten <strong>des</strong><br />

Zweifelns und der Verzweiflung, neben dem eigenen unbedingten Willen hat<br />

durchhalten lassen, ist schwierig. Gar nicht schwierig ist es jedoch, denjenigen zu<br />

danken, die dabei in jeden Fall eine wichtige Rolle gespielt und damit einen wichtigen<br />

Beitrag zu diesem Buch geleistet haben.<br />

Zunächst bedanke ich mich also bei der Graduate School Practices of Literature<br />

der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, die mich im Oktober 2008 in ihr<br />

strukturiertes Promotionsprogramm aufgenommen und mir damit die Promotion<br />

möglich gemacht hat. Den Erfolg meiner Promotion habe ich jedoch vor allem meinem<br />

Betreuerteam zu verdanken. Ich bedanke mich sehr herzlich bei Cornelia Blasberg,<br />

die mein Promotionsprojekt als Erstbetreuerin angenommen und mir mal unauffällig,<br />

mal mit leichtem Druck, aber immer mit Respekt, Achtung und geduldiger<br />

Zuneigung den richtigen Weg gewiesen hat. Ich bedanke mich bei Achim Hölter,<br />

dem ich nicht nur die Zweitbetreuung zu verdanken habe, sondern der mich


VORWORT I 9<br />

auch schon während meiner Magisterarbeit und sogar noch früher, in meinem Magisterstudium,<br />

derart für die Literatur und das wissenschaftliche Arbeiten begeistern<br />

konnte, dass ich diesen Weg überhaupt erst eingeschlagen habe. Besonderer Dank<br />

und zwar einer über die reine wissenschaftliche Betreuungsleistung hinaus, geht an<br />

Frau Aleida Assmann. Frau Assmann hat mich vorbehaltlos und zunächst ohne<br />

mich zu kennen, unter ihre ‚Fittiche‘ genommen und sie hat mich in meiner Wissenschaft<br />

und Person auf eine Weise geachtet, die mich nicht bloß mit Dankbarkeit,<br />

sondern auch mit einer guten Portion Stolz erfüllt. Sie war mir stets ein Fels in der<br />

wissenschaftlichen, manchmal rauen Brandung und hat meine Arbeit entscheidend<br />

mitgeprägt.<br />

Zu großem Dank verpflichtet bin ich der FAZIT-Stiftung der Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung. Das von Ihr bezogene zweijährige Promotionsstipendium sowie<br />

die großzügige Bezuschussung der Drucklegung dieses Buches hat mir finanzielle<br />

Erleichterung verschafft.<br />

Nicht am Finanziellen gescheitert ist die Gestaltung dieses Buches. Gerne hätte<br />

ich Bildmaterial eingefügt und damit den Kapiteln über visuelle Darstellungen <strong>des</strong><br />

<strong>Holocaust</strong> auch einen visuellen Eindruck verschafft. Leider habe ich vom Management<br />

<strong>des</strong> Comedian Oliver Polak keine Freigabe für Fotomaterial erhalten und<br />

konnte daher dieses Vorhaben nicht umsetzen – auch für diese leise Kritik sollte ein<br />

Vorwort meiner Meinung nach Platz bieten.<br />

Keinerlei Kritik, sondern außerordentlicher Dank gilt dem <strong>transcript</strong> <strong>Verlag</strong> und<br />

meinen dortigen Projektbetreuern, denen ich für die gute Zusammenarbeit danke.<br />

Zu den ‚Machern‘ dieses Buches zählen auch Aleida Assmann und Birgit<br />

Schwelling, die als Herausgeberinnen der Reihe „Erinnerungskulturen/Memory<br />

Cultures“ für mein Projekt einstehen.<br />

Ich danke von Herzen meinen Freunden, unter einigen, die hier namentlich zu<br />

erwähnen wären, stellvertretend und zugleich besonders Stephanie Pordomm. Stephanie<br />

hat ohne den geringsten Zweifel an meinen Fähigkeiten, ohne Groll oder<br />

Missgunst meine Launen und mein zeitweiliges Untertauchen akzeptiert und mir<br />

nicht nur in der Münsteraner Zeit immer das Gefühl gegeben, einen sicheren Zufluchtsort<br />

und den unschätzbaren Wert einer besten Freundin zu besitzen.<br />

Nicht am Ende, sondern vor allem zu danken habe ich zwei Menschen, denen dieses<br />

Buch gewidmet ist. Meine Mutter Heidrun hat stets an mich geglaubt und bedingungslos<br />

hinter mir gestanden, nie auch nur den geringsten Druck ausgeübt und<br />

mich selbstlos in allen Bereichen meiner Promotionszeit unterstützt. Dass ich trotz<br />

der familiär schwierigen Umstände nicht nur studieren, sondern auch promovieren<br />

konnte und nun diesen Doktortitel tragen darf, verdanke ich ihr.<br />

Christian, mein Freund und Ehemann, er hat mir bis an die eigene Belastungsgrenze<br />

und weit darüber hinaus Rückhalt gegeben und Liebe geschenkt, mich aufgefangen,<br />

angetrieben, getröstet, mir den Kopf hin und wieder zurecht gerückt, mir<br />

Mut gemacht und immer das Gefühl vermittelt, diesen oft steinigen Weg niemals


10 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

allein gehen zu müssen. Ohne ihn hätte ich weder dieses Buch geschrieben, noch<br />

wäre ich der Mensch, der ich heute bin. Dieses Buch ist vor allem auch Dein Buch,<br />

Christian.<br />

Dr. <strong>Kirstin</strong> <strong>Frieden</strong>, München, im Oktober 2013


I<br />

Bestand und Transformation<br />

1. EINLEITUNG<br />

„War Ur-Opa ein Nazi? Und ist das mein Problem?“ 1 Mit dieser als provokante<br />

Titel-Adaption der Studie Opa war kein Nazi 2 zu verstehenden Überschrift machte<br />

das Zeit-Magazin in seiner Ausgabe vom 4. November 2010 auf. Unter der nicht<br />

minder provokanten Frage „Was geht mich das noch an?“ untersuchten die Autorinnen<br />

und Autoren 3 die Bedeutung <strong>des</strong> Nationalsozialismus und <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong> in<br />

der ‚vierten Generation‘, welche dort mit der Altersklasse der 14- bis 19-Jährigen<br />

eingegrenzt wurde. Sofern die demonstrative Headline und Ikonographie der<br />

Heftaufmachung – das Titelbild ziert eine schwarz-weiß-Fotomontage marschierender<br />

Soldaten sowie Adolf Hitler inklusive Hitler-Gruß im unscharfen Bildhintergrund;<br />

darüber gelegt das Profilfoto eines älteren Herren im Anzug – noch einen<br />

gewissen Innovationsanspruch und empirischen Ehrgeiz ankündigt, verpufft die<br />

Studie enttäuschend schnell im egalisierenden Tenor einer gedeckelten Konsensmeinung<br />

ohne eine tatsächliche Erkenntnis zu generieren. Nur ein gutes Jahr später,<br />

im Januar 2012, erbrachte eine Forsa-Studie das Ergebnis, dass 21 Prozent der 18-<br />

bis 30-Jährigen in Deutschland lebenden jungen Erwachsenen nicht die Bedeutung<br />

von Auschwitz kennen; im Gegensatz zu 95 Prozent der über 30-Jährigen, die den<br />

Begriff ‚Auschwitz‘ z.T. mit mehr oder weniger umfangreichen Fachwissen füllen<br />

können. 4 Diese erschreckend hohe Prozentzahl ‚Unwissender‘ stellt also einen gro-<br />

1 „War Ur-Opa ein Nazi?“, Titelblatt, in: Zeit-Magazin 45 (2010).<br />

2 Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschnuggnall, Karoline: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus<br />

und <strong>Holocaust</strong> im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M.:. Fischer 2002.<br />

3 Im Folgenden wird die maskuline Form verwendet, welche stellvertretend für das weibliche<br />

und das männliche Subjekt steht.<br />

4 Erwähnenswert ist diese Untersuchung auch in Kombination mit einer fast zeitgleich<br />

veröffentlichten Studie einer unabhängigen Expertenkommission im Auftrag <strong>des</strong> Deutschen<br />

Bun<strong>des</strong>tags, deren Bericht vom 24.01.2012 einen „latenten Antisemitismus“ bei ca.


12 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

ßen Teil der aktuellen deutschen Gesellschaft und wirkt sich auf eine problematische<br />

‚Erinnerungssituation‘ 5 aus, die gegenwärtig festzustellen ist.<br />

Während die Anzahl der thematisch an die Zeit <strong>des</strong> Nationalsozialismus Anschluss<br />

nehmenden medialen Formate in der Literatur, im Film und Kino, der<br />

Kunst, dem Theater etc. nicht abnimmt, scheint sich dem entgegengesetzt nicht nur<br />

das oberflächige Interesse, sondern auch das faktische Wissen der jungen, in<br />

Deutschland lebenden Generationen auf andere Bereiche zu verlagern. Liegt dies<br />

nun aber an einem ‚Zuviel‘ der Präsentation, wie es von kritischer Seite immer wieder<br />

verlautbart wird und schon mit Martin Walser und seiner Kritik an der „Dauerpräsentation<br />

unserer Schande“ 6 seinen Lauf genommen hat? Oder liegt es an der<br />

‚falschen‘ oder besser gesagt nicht mehr ‚zeitgemäßen‘ Darstellung und Vermittlung<br />

der Vergangenheit, die sich insbesondere durch ‚<strong>des</strong>truktive‘, ‚doktrinäre‘<br />

Sprachformeln konstituiert, die ein anderes, neues Sprechen über den <strong>Holocaust</strong><br />

eher verhindert denn befördert? Die von Walser besprochene ‚Schande‘ und<br />

‚Schuld‘ gehört ohnedies nicht mehr in den Erfahrungshorizont der jungen Generation.<br />

Jedoch, auch hier sei eine erneute Terminologie Martin Walsers bemüht, wäre<br />

ein ‚Wegschauen‘ nirgendwo problematischer als dort, wo ohnehin ein gewisses<br />

natürliches Verblassen und Verschwinden gesetzmäßig ist: im Fall der Vergangenheit<br />

und ihrer sichtbaren Zeichen und lebendigen Zeitzeugen. Ist der <strong>Holocaust</strong>-<br />

Diskurs also schier ‚übersättigt‘ oder bedarf er gerade jetzt weiterer, neuer Formate<br />

und Möglichkeiten der Repräsentation, welche das Verblassen der Vergangenheit<br />

überwinden und die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart auch<br />

ohne die Deutungsinstanz der Zeitzeugen herstellen können? Die diskursive Relevanz<br />

<strong>des</strong> Themas bei gleichzeitiger, ungebrochener Streitwilligkeit besteht fort und<br />

macht eine andauernde Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem<br />

<strong>Holocaust</strong> unabdingbar.<br />

20 Prozent der deutschen Bevölkerung feststellte. Siehe http://www.bun<strong>des</strong>tag.de/dokumente/textarchiv/2012/37499490_kw04_antisemitismusbericht/index.html<br />

vom 25.01.<br />

2012.<br />

5 Der Begriff ‚Erinnerungssituation‘ wird in dieser Arbeit als Terminologie für verschiedene<br />

Ebenen der Auseinandersetzung mit dem <strong>Holocaust</strong> und dem Nationalsozialismus<br />

verwendet. Eingeschlossen sind dabei die Diskurse der Vergangenheits- und Gedenkpolitik,<br />

Erinnerungs- und Gedenkkultur sowie Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft.<br />

6 Hier heißt es: „[…] merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer<br />

Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer<br />

Schande, fange ich an wegzuschauen.“ Walser, Martin: Erfahrungen beim Verfassen einer<br />

Sonntagsrede – <strong>Frieden</strong>spreis <strong>des</strong> Deutschen Buchhandels 1998, Frankfurt a.M.:<br />

Suhrkamp 1998, hier S. 18.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 13<br />

Es kündigt sich ein Generationswechsel in der ‚Zuständigkeit‘ für die Thematisierung<br />

der Vergangenheit an. Heute wird immer wieder behauptet, dass die junge<br />

Generation der Deutschen anders als ihre ‚älteren Vorbilder‘ wie Günter Grass oder<br />

Martin Walser, sich doch weitgehend ‚unbelastet‘ und ‚frei‘ den Themen <strong>Holocaust</strong><br />

und Nationalsozialismus annehmen und eine freie Sprache nicht nur in der Literatur<br />

wählen kann. Sind diese Stimmen, die in ihrer Euphorie oft gerade nicht aus der<br />

gemeinten Generation selbst stammen, Ausdruck einer Hoffnung der Älteren, eine<br />

nachträgliche ‚Schuld-Lossprechung‘ zu erlangen oder liegt in der wachsenden<br />

zeitlichen Distanz zu den Ereignissen in der Tat die Möglichkeit eines ‚unbefangeneren‘<br />

und ‚emotionsloseren‘ Umgangs mit der deutschen Vergangenheit?<br />

„Was zu hoffen bleibt, ist folgen<strong>des</strong>: Daß in ‚meiner Generation‘ die Reflektion<br />

über die Vergangenheit nüchterner, objektiver, besonnener geführt wird.“ 7 Was<br />

Tanja Dückers – sie selbst ist Angehörige der ‚verheißungsvoll‘ jungen Generation<br />

– 2005 noch als Hoffnung formuliert, lässt sich heute bereits zeigen. Für die liminale<br />

Situation der jungen Generation, für eine Zeitenwende, Transformationen und<br />

einen Paradigmenwechsel im <strong>Holocaust</strong>-Diskurs spricht gegenwärtig nicht nur aufgrund<br />

<strong>des</strong> unmittelbar bevorstehenden Wegfalls der Augenzeugengeneration und<br />

<strong>des</strong> damit einhergehenden Abreißens der ‚Gedächtnislinie‘ Einiges. Wie sich der<br />

Wandel sozial- und gedächtnistheoretisch kennzeichnen lässt und welche kulturellen,<br />

medialen Erzeugnisse ihn repräsentieren, sind die wesentlichen Punkte, die im<br />

Verlauf dieser Arbeit herausgearbeitet werden sollen. Was also passiert mit den<br />

individuellen Erinnerungen und dem kulturellen Gedächtnis, wenn sie nicht mehr<br />

im Rahmen <strong>des</strong> Gedächtnisparadigmas ‚spontan‘ produziert und ‚automatisch‘ an<br />

ihnen partizipiert wird? Welche neuen Verhandlungsmöglichkeiten werden möglicherweise<br />

gerade jetzt erst denkbar und was, z.B. ein Gefühl <strong>des</strong> ‚Unbehagens‘,<br />

bleibt bestehen oder pflanzt sich gar fort?<br />

Die Nachgeschichte <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs, <strong>des</strong> Nationalsozialismus und <strong>des</strong><br />

<strong>Holocaust</strong> darf im westlichen Kulturkreis und in den interdisziplinären Wissenschaften<br />

mit Fug und Recht als eines der am umfangreichsten erforschten Themengebiete<br />

gelten. Für die Literaturwissenschaft erscheint es bisweilen geradezu so, als<br />

sei der Bereich der ‚Nachkriegs- und Erinnerungsliteratur‘ schier bis zur völligen<br />

Er- und Ausschöpfung erforscht – was sonst mag beispielsweise ein literaturwissenschaftliches<br />

Lexikon der Vergangenheitsbewältigung 8 suggerieren –, und damit<br />

ebenfalls von einer gewissen Übersättigung bedroht. Auch wenn in jüngster Zeit<br />

einige Forschungsbeiträge zur ‚Vergangenheitsliteratur‘ der jüngeren Zeit und der<br />

7 Dückers, Tanja: „Der Schrecken nimmt nicht ab, sondern wächst“, in: Süddeutsche Zeitung<br />

vom 27.04.2002.<br />

8 Fischer, Torben/Lorenz, Matthias N. (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in<br />

Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte <strong>des</strong> Nationalsozialismus nach 1945,<br />

Bielefeld: <strong>transcript</strong> 2007.


14 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

jüngeren Generationen publiziert wurden, etwa von Friederike Eigler, Meike Herrmann<br />

oder Ariane Eichenberg, 9 arbeiten sich diese Studien überwiegend – und auch<br />

dann, wenn sie etwas anderes in Aussicht stellen – an Familienromanen und ausschließlich<br />

literarischen Formen tradierter Geschichte in traditionellen Gedächtnisund<br />

Generationenkonstellationen ab. Wenn auch die literarischen Neuerscheinungen<br />

zum Thema <strong>Holocaust</strong> und Nationalsozialismus durchaus fruchtbar und vielfältig<br />

sind, lässt sich parallel dazu feststellen, dass die literaturwissenschaftliche Forschung<br />

sowie die Literaturkritik seit Mitte der 2000er Jahre abseits der Problematisierung<br />

von Generationenkonflikten und transgenerationeller Traumatisierungen 10<br />

keine entsprechend neuen, bedeutsamen Untersuchungsfelder hervorgebracht hat.<br />

Neuere Genreuntersuchungen finden so gut wie nicht statt, auch <strong>des</strong>halb nicht, weil<br />

bislang niemand die ‚Genrefrage‘ gestellt und es sich die literaturwissenschaftliche<br />

Forschung offensichtlich in der Untersuchung der Familienromane recht bequem<br />

gemacht hat. 11<br />

Als ebenso ungenügend zu betrachten ist die Einbindung der literarischen Motive<br />

in komplexere kulturelle und mediale Rahmungen, welche doch gerade für dieses<br />

Thema unabdingbar sind. Durch den transmedialen Vergleich und die Verknüpfung<br />

mit weiteren kulturellen Phänomenen kann sich die Literaturwissenschaft, die<br />

durch ihren Cultural Turn in vielen anderen Kernbereichen ihres Fachs ohnehin<br />

breiter aufgestellt ist, für zusätzliche Perspektiven öffnen. Vor allem die neuen Medien,<br />

die in dieser Arbeit einen wichtigen Platz einnehmen, werden in der deutschsprachigen<br />

Literaturwissenschaft bislang äußerst randständig behandelt. 12 Abgese-<br />

9 Eigler, Friederike: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende,<br />

Berlin: Erich Schmidt 2005. Herrmann, Meike: Vergangenwart. Erzählen vom Nationalsozialismus<br />

in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren, Würzburg: Königshausen<br />

& Neumann 2010. Eichenberg, Ariane: Zwischen Erfahrung und Erfindung. Jüdische<br />

Lebensentwürfe nach der Shoah, Köln: Böhlau Köln 2004.<br />

10 Vgl. u.a. die Beiträge in: Beßlich, Barbara (Hg.): Wende <strong>des</strong> Erinnerns? Geschichtskonstruktionen<br />

in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin: Erich Schmidt 2006. Blasberg,<br />

Cornelia: „Geschichte als Palimpsest“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft<br />

und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 464-495.<br />

11 Eine Ausnahme ist hier Aleida Assmann, die in einer ihrer jüngsten Veröffentlichungen<br />

nach dem ‚Genre der neuen Erinnerungsliteratur‘ fragt. Assmann, Aleida: „Wem gehört<br />

die Geschichte? Fakten und Fiktionen in der neueren deutschen Erinnerungsliteratur“, in:<br />

Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Band 36, Heft 1<br />

(2011), S. 213-227.<br />

12 Erfreuliche interdisziplinäre Ausnahmen stellen folgende Sammelbände dar: Paul,<br />

Gerhard/Schoßig, Bernhard (Hg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung <strong>des</strong> Nationalsozialismus.<br />

Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre, Göttingen: Wallstein 2010. Korte,


BESTAND UND TRANSFORMATION I 15<br />

hen von der Transmedialität fehlen auch der Rückbezug zum gesellschaftlichen<br />

Diskursfeld und die soziale Verortung von Literatur und kulturellen Medien, für<br />

welche Astrid Erll jüngst die schöne Formel <strong>des</strong> „Social life of texts“ entworfen<br />

hat. 13 Danach sind Literatur und andere Medien nicht als genuine, autarke Bereiche<br />

der Kultur, sondern als sozial-gesellschaftliche und kulturelle ‚Experimentierräume‘<br />

zu untersuchen – eine Sichtweise, der sich auch diese Arbeit verpflichtet.<br />

„Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft ist zunächst einmal durch ihren besonderen<br />

Blick und durch ihr besonderes thematisches Interesse bestimmt: Sie betrachtet Literatur als<br />

Teil der Gesamtkultur, also in ihrer Mitwirkung an Konstitution, Tradierung und Veränderung<br />

von kulturellen Sinn- und Zeichenbildungen.“ 14<br />

Ausgehend von den Culture Studies wird in dieser Arbeit Literaturwissenschaft als<br />

Kulturwissenschaft verstanden, auch und vor allem aufgrund <strong>des</strong> hier zu verhandelnden<br />

Gegenstands, der Erinnerungskultur <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong>, welcher ein interdisziplinäres<br />

und gesamtkulturelles Gebiet beschreibt. Der stets gewahrte kulturwissenschaftliche<br />

Blick wird vor allem auch <strong>des</strong>halb für das Vorgehen in dieser Arbeit<br />

erforderlich sein, da Kultur und insbesondere die Erinnerungskultur als „konfliktärer<br />

Prozess“ 15 betrachtet wird, in dem derzeit der Paradigmenwechsel, Wandel und<br />

Übergang einsetzt.<br />

Als Arbeitsgrundlage gilt das kulturwissenschaftliche Gedächtnismodell Aleida<br />

und Jan Assmanns, 16 auch wenn es hier als Gedächtnisparadigma in erster Linie der<br />

Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte<br />

in populären Medien und Genres, Bielefeld: <strong>transcript</strong> 2009. Explizit zu den neuen Medien:<br />

Meyer, Erik (Hg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen<br />

Medien, Frankfurt a.M.: Campus 2009.<br />

13 Erll, Astrid: „The social life of texts“ – Erinnerungsliteratur als Gegenstand der Sozialgeschichte,<br />

in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Band<br />

36, Heft 1 (2011), S. 227-233.<br />

14 Dieterle, Bernard/Engel, Manfred/Lamping, Dieter/Ritzer, Monika: „KulturPoetik – Eine<br />

Zeitschrift stellt sich vor“, in: Dieterle, Bernard/Engel, Manfred/Lamping, Dieter/Ritzer,<br />

Monika (Hg.): KulturPoetik Band 1 (2001), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001,<br />

S. 1.<br />

15 Hepp, Andreas: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung. 3. Auflage, Wiesbaden:<br />

VS 2010, S. 21.<br />

16 Aus der umfassenden Forschung Aleida und Jan Assmanns werden folgende Arbeiten<br />

zugrunde gelegt: Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung<br />

zur öffentlichen Inszenierung, München: C.H. Beck 2007. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume.<br />

Formen und Wandlungen <strong>des</strong> kulturellen Gedächtnisses, München: C.<br />

H. Beck 2006 und 1999. Assmann, Aleida: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kul-


16 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

Modifizierung bzw. der Transformation unterzogen werden soll, wie u.a. von Astrid<br />

Erll und Ansgar Nünning oder den Kommunikationswissenschaftlern Dörte Heins<br />

und Martin Zierold in Ansätzen unternommen wurde. 17<br />

Für die deutsche Gegenwartskultur, in deren großen Rahmen sich auch diese<br />

Studie einfügt, gilt, dass durch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen<br />

der Jahre 1989/1990 von einer erneuten – der zweiten nach dem Ende <strong>des</strong><br />

Zweiten Weltkriegs – Zäsur und einem neuen Abschnitt in der Kunst und Kultur,<br />

besonders der Gegenwartsliteratur, ausgegangen werden kann. Die literaturgeschichtliche<br />

Zäsur wird in übergreifenden Bestandsaufnahmen und Sammelbändern<br />

wie Kammler/Pflugmacher oder Kammler/Wilczek 18 ebenso deutlich wie in Einzelwerken,<br />

welche die Texte und Autoren der ‚Nach-Wende-Zeit‘ versammeln, wie<br />

z.B. die oben erwähnten Arbeiten Eiglers oder Herrmanns. Doch nicht nur dass in<br />

der Literatur nach 1989/1990 neue (historische) Gegenstände verhandelt und in der<br />

Forschung rezipiert werden, auch für die Themen <strong>Holocaust</strong> und Nationalsozialismus<br />

hat die deutsche Wende eine neue Blickrichtung geöffnet. 19 Heute, noch einmal<br />

gut 23 Jahre später und mehr als ein Jahrzehnt nach einer weiteren globalhistorischen<br />

Zäsur durch die Terroranschläge vom 11. September 2001, lässt sich<br />

eine neue Benchmark setzen. Wie kann die Literatur fast 70 Jahre nach Kriegsende,<br />

nach der deutschen Wiedervereinigung und nach den Erfahrungen von 9/11 noch<br />

turellen Erinnerung, Frankfurt a.M.: Fischer 1991. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis.<br />

Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München:<br />

Beck 2000 und 1992.<br />

17 Vgl. u.a.: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft.<br />

Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin: De Gruyter<br />

2005; Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Medien <strong>des</strong> kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität<br />

– Historizität – Kulturspezifität, Berlin: De Gruyter 2004; außerdem Erll, Astrid/Wodianka,<br />

Stephanie (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen,<br />

Berlin: De Gruyter 2008. Hein, Dörte: Erinnerungskulturen online: Angebote,<br />

Kommunikatoren und Nutzer von Websites zu Nationalsozialismus und <strong>Holocaust</strong>, Konstanz:<br />

UVK 2009. Zierold, Martin: Gesellschaftliche Erinnerung: eine medienkulturwissenschaftliche<br />

Perspektive, Berlin: De Gruyter 2006.<br />

18 Kammler, Clemens/Pflugmacher, Torsten (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur<br />

seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Heidelberg: Synchron<br />

2004. Kammler, Clemens/Wilczek, Reinhard (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur<br />

seit 1989. Gattungen – Themen – Autoren. Eine Auswahlbibliographie, Heidelberg:<br />

Synchron 2003.<br />

19 Siehe exemplarisch die Beiträge in: Gansel, Carsten/Zimniak, Pawel (Hg.): Das „Prinzip<br />

Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989, Göttingen:<br />

Vandenhoeck & Ruprecht Unipress 2010.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 17<br />

etwas Neues zum <strong>Holocaust</strong>-Diskurs, zur Verhandlung <strong>des</strong> Nationalsozialismus<br />

beitragen? Wie kann etwas Neues erzählt und gehört werden, wenn außerdem das<br />

Gefühl einer Übersättigung besteht und doch eigentlich schon alles gesagt und ausführlich<br />

elaboriert worden ist? Die bereits erwähnte Literaturwissenschaftlerin Meike<br />

Herrmann konstatiert dazu:<br />

„Wer künftig über den <strong>Holocaust</strong> und den Nationalsozialismus schreiben will, wird sich, ob<br />

als Nachfahre von Opfern oder Tätern, auf einen der beiden Wege begeben müssen: die Erfindung<br />

von Erinnerung oder die Spurensuche auf dem immer länger werdenden Weg zurück<br />

in die Geschichte.“ 20<br />

Die Auswahl der in dieser Arbeit versammelten Texte und Medien erfolgt nicht<br />

über die Entscheidung für eine dieser beiden Verfahren, Fiktion oder Authentizität.<br />

Über beide Wege wurde ohnehin bereits ausreichend gesprochen und geschrieben.<br />

Hier soll es eher um die kleineren ‚Trampelpfade‘ zwischen diesen Wegen gehen<br />

und um ihre (Über-)Kreuzungen. Dazu ist es wichtig, die Dichotomien, Begrenzungen<br />

und starren Kategorien aufzuweichen, die sich im Vergangenheits- und Erinnerungsdiskurs<br />

weitgehend manifest zeigen, und diesen alternative Begriffe und Analyseinstrumentarien<br />

entgegen zu stellen, denn:<br />

„fängt in Deutschland einer an, über die Juden zu sprechen, so verstummt meist das Gespräch,<br />

erst recht, wenn ein Jude dabei ist. Neben vielen anderen Gründen ist dafür ein einziger<br />

für sich schon genug: den Deutschen hat es über die Juden buchstäblich die Sprache verschlagen.“<br />

21<br />

Es werden im Verlauf dieser Arbeit Begriffe verwendet, die von ‚Bedeutungsschwere‘<br />

getragen sind, terminologische Schwierigkeiten bergen oder gar Fallstricke<br />

bereit halten, die es möglichst zu umgehen gilt, jedoch: „Wie kann man über<br />

gesellschaftliche Zuordnungsbegriffe schreiben, ohne diese Begriff selbst zu verwenden?<br />

Mit anderen Worten, wie kann man schwimmen, ohne naß zu werden?“ 22<br />

20 Herrmann, Meike: „Spurensuche in der dritten Generation. Erinnerung an Nationalsozialismus<br />

und <strong>Holocaust</strong> in der jüngsten Literatur“, in: Fröhlich, Margit/Lapid,<br />

Yariv/Schneider, Christian (Hg.): Repräsentationen <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong> im Gedächtnis der Generationen.<br />

Zur Gegenwartsbedeutung <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong> in Israel und Deutschland, Frankfurt<br />

a.M.: Bran<strong>des</strong> & Apsel 2004, S. 139-157, hier S. 154.<br />

21 Mattenklott, Gert: Über Juden in Deutschland, Frankfurt a.M.: Jüdischer <strong>Verlag</strong> 1992, S.<br />

2.<br />

22 Stellvertretend zur Thematik der ‚richtigen Wortwahl‘ und ‚Anführungszeichen‘: Beck-<br />

Gernsheim, Elisabeth: „Schwarze Juden und griechische Deutsche. Ethnische Zuordnung


18 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

Die Thematik und der Gegenstand machen es unumgänglich, an dieser Stelle die<br />

‚Frage der Anführungszeichen‘ zu klären, definitorische Weichen zu stellen und<br />

Begriffe festzulegen, die durch die folgenden Seiten und an den ‚Fettnäpfchen‘<br />

vorbei führen sollen. Dabei verweist die Problematik der Wortwahl bereits auf eine<br />

der hier zu vertretenden Kernthesen: auf das Sprachproblem im Sprechen über den<br />

<strong>Holocaust</strong>, das ‚Nicht-Passen‘ und die Überdeterminiertheit sprachlich ‚doktrinär‘<br />

auftretender Narrative im <strong>Holocaust</strong>-Diskurs.<br />

„Es provoziert die Frage danach, wem gehört die Geschichte? Darf nur ein Mann über die<br />

Geschichte eines Mannes schreiben? Darf nur ein Jude über Juden schreiben? Nur der Ostler<br />

über den Osten? Nur die Deutschen über ihre Geschichte, ihre Teilung, ihre Grenze? Nur das<br />

Opfer über Opfer? Nur der Zeitzeuge über seine Zeit? Wer kann, wer muss – und wem erteilt<br />

wer ein Verbot?“ 23<br />

Darf hier also von ‚den Juden‘ und ‚den Deutschen‘, von ‚den Tätern‘ und ‚den<br />

Opfern‘ überhaupt und speziell in dieser Opposition die Rede sein, vor allem da es<br />

gerade darum gehen soll, die Dichotomien, das ‚Entweder-Oder-Prinzip‘ pauschalisierender<br />

Oppositionen aufzulösen? Gibt es alternative Begriffe, die weniger problematisch,<br />

dabei aber auch nicht derartig konstruiert sind, dass sie ein Stocken provozieren?<br />

Nationale, ethnische und religiöse Kennzeichnungen sollen im Folgenden<br />

überhaupt nur dort explizit vorgenommen werden, wo es argumentativ notwendig<br />

ist; in diesen Fällen dann jedoch mit Anführungszeichen. 24<br />

Deutschlands Erinnerungskultur ist ‚Exportschlager‘ und die bun<strong>des</strong>deutsche<br />

Auseinandersetzung mit den Verbrechen während der Zeit <strong>des</strong> Nationalsozialismus<br />

und <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs gilt im internationalen Vergleich als geradezu „vorbildlich“<br />

25 . Kein anderes Land hat derart großen Aufwand und Aufwendungen politischer,<br />

gesellschaftlicher und kultureller Art für die Aufarbeitung, Bewältigung und<br />

letztlich auch der Bewahrung ihrer Vergangenheit aufgebracht wie Deutschland.<br />

Gerade <strong>des</strong>halb lassen sich jedoch heute auch min<strong>des</strong>tens zwei Meinungen bezüglich<br />

dieser Anstrengungen kennzeichnen: Einigen wird immer noch zu wenig erinim<br />

Zeitalter der Globalisierung“ in: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft,<br />

Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 1998, S. 125-169, hier S. 151.<br />

23 Franck, Julia: Grenzübergänge, Frankfurt a.M.: Fischer 2009, S. 2.<br />

24 Die Verwendung der Begriffe ‚Juden‘ oder ‚Deutsche‘“, aber auch ‚Türken‘ oder ‚Migranten‘<br />

wird nicht programmatisch pauschalisierend oder gar homogenisierend und ausschließlich<br />

verstanden, sondern unterstützt bzw. erleichtert die jeweilige situative Argumentation.<br />

25 Wüllenkemper, Cornelius: „Diktaturerfahrungen der Deutschen – Wie machen wir das<br />

wieder gut?“, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.06.2011.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 19<br />

nert und gemahnt und anderen wird es, wie bereits bemerkt, mittlerweile schier zu<br />

viel. 26 Damit einhergehend erhalten auch die Begriffe ‚Erinnerungskultur‘, ‚Gedenkkultur‘,<br />

‚Erinnerung‘ und ‚Gedächtnis‘ heute eine inflationäre Verwendung<br />

und werden zuweilen ohne die nötige Trennschärfe gebraucht; gleichwohl kreieren<br />

Wissenschaft und Öffentlichkeit permanent neue Alternativbegriffe. Das Gedächtnis,<br />

in dieser Arbeit vor allem als kulturelles gedacht, wird nicht als starres, statisches<br />

Archiv, als Konzeption zur Speicherung, sondern ausdrücklich als ‚Handlungs-‘<br />

oder ‚Aktionsraum‘ und dynamisches Gebilde, welches Erinnerungen bzw.<br />

besser ‚Erinnerungshandlungen‘ bündelt und reproduziert, betrachtet. In Richtung<br />

einer Raummetaphorik, die ein Fundament dieser Arbeit stellt, tendiert auch der<br />

Begriff der „Erinnerungstopographien“ 27 der Kulturwissenschaftlerin Alexandra<br />

Lübcke, von dem die Definition der ‚Erinnerungshandlungen‘ abzuleiten ist.<br />

Für die Auseinandersetzungen mit den Themen <strong>Holocaust</strong> und Nationalsozialismus<br />

können heutige Jugendliche und junge Erwachsene nicht mehr auf eigene<br />

Erinnerungen zurückgreifen, mehr noch, auch die vermittelten Erinnerungen ihrer<br />

Eltern, Großeltern und Urgroßeltern reißen durch den bevorstehenden Generationswechsel<br />

ab. Dem Wortsinn nach kann es kein Erinnern mehr geben; weder ein<br />

Erinnern, noch die Erinnerung sind in diesen Altersgruppen rein biologisch und<br />

kognitiv möglich. Daraus ableitend soll in dieser Arbeit statt ‚Erinnerung‘ und ‚Erinnern‘<br />

vielmehr der Begriff ‚Erinnerungshandlung(en)‘ zum Einsatz kommen. 28 In<br />

der Inanspruchnahme <strong>des</strong> Begriffs ‚Erinnerungshandeln‘ geht es explizit um den<br />

aktiven Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um ‚Memory<br />

Work‘. In der jungen Generation und allen nachkommenden Generationen werden<br />

Rückbezüge, Reflexionen, Partizipationen (an) der Vergangenheit nur unter ‚bewussten<br />

Anstrengungen‘ möglich, so dass der Begriff <strong>des</strong> Erinnerungshandelns<br />

26 Vgl. Jureit, Ulrike: „Opferidentifikation und Erlösungshoffnung: Beobachtungen im<br />

erinnerungspolitischen Rampenlicht“, in: Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte<br />

Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart: Klett-Cotta 2010, S. 17-105,<br />

hier S. 19.<br />

27 Lübcke, Alexandra: „Enträumlichungen und Erinnerungstopographien: Transnationale<br />

deutschsprachige Literaturen als historiographisches Erzählen“, in: Schmitz, Helmut<br />

(Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige<br />

Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration, Amsterdam: Rodopi 2009, S. 77-99.<br />

28 Ähnliche Alternativbegriffe haben unlängst Martin Zierold („Erinnerungslaboration“)<br />

und Kirsten Prinz („Erinnerungsverhandlung“) in den Diskurs eingeführt. Vgl.: M.<br />

Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 165; Prinz, Kirsten: „‚Möchte doch keiner was<br />

davon hören‘ – Günter Grass‘ im Krebsgang und das Feuilleton im Kontext aktueller Erinnerungsverhandlungen“,<br />

in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Medien <strong>des</strong> kollektiven<br />

Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin: De Gruyter<br />

2004, S. 179-195.


20 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

besonders den aktiven, dynamischen Prozess und die damit einhergehenden mehr<br />

oder weniger starken Anstrengungen sowie die grundsätzliche Unabgeschlossenheit<br />

dieses mitunter konflikthaften Prozesses bezeichnet. Während das Erinnerungshandeln<br />

vor allem für die sozial-gesellschaftliche Beobachtung der jungen Generation<br />

fruchtbar gemacht werden soll, steht der Prozess <strong>des</strong> ‚Work in Progress‘ als Überbegriff<br />

und übergeordnetes Denkmodell der exemplarischen Analysen ein. Auch die<br />

mediale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist durch einen Arbeitsprozess,<br />

ein aktives Aneignen und die Prozessualität der Reflexion gekennzeichnet. Dabei<br />

ist entscheidend, dass das in diesem Prozess entstehende ‚Werk‘ entweder noch<br />

aktuell und noch im Begriff der Vollendung ist bzw. gar nicht voll- und beendet<br />

werden kann und soll. Als dauerhafter Übergangsstatus nimmt diese Vorstellung<br />

auch die Verhandlung von Vergangenheit als einen unabschließbaren Prozess der<br />

Aktualisierung und Neuinterpretation auf. Der Projekt-Begriff wird insofern in verschiedenen<br />

Kontexten dieser Arbeit aufgegriffen. So besitzt der Gedanke eines<br />

permanent im Wandel begriffenen ‚Nicht-Zustan<strong>des</strong>‘ vor allem auch im Bereich der<br />

Popkultur und der Performance eine starke Signifikanz als „prozessual entstehen<strong>des</strong><br />

Kunstwerk“ und „Augenblickskunst.“ 29 Dort, wo Leben und Kunst per se zum ‚Projekt‘<br />

und die Vergangenheitsreflexion nicht selten zum ‚Event‘ stilisiert, wird die<br />

Liminalität <strong>des</strong> Übergangs zur Raum- und Zeitmetapher und die Ereignishaftigkeit<br />

zum leitenden Paradigma einer „Kultur der Aufmerksamkeit“ 30 .<br />

Ein weiterer Begriff soll in dieser Arbeit Bedeutung erhalten. Angelehnt an den<br />

ebenfalls mittlerweile inflationär verwendeten Begriff der ‚Political Correctness‘<br />

entsteht als Negativfolie der hier im Zentrum der Analyse stehenden medialen Vergangenheitsreflexionen<br />

der Begriff der ‚Memorial Correctness‘ 31 .<br />

29 Goetz, Reinald: Rave, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 84.<br />

30 Assmann, Aleida: „Druckerpresse und Internet. Auf dem Weg von einer Gedächtniskultur<br />

zu einer Kultur der Aufmerksamkeit: Oberfläche, Geschwindigkeit und Supermarkt“,<br />

in: Frankfurter Rundschau vom 18.01.2003.<br />

31 Bei dem Begriff ‚Memorial Correctness‘ handelt es sich um einen konstruierten Begriff,<br />

den es weder im Englischen noch in der deutschen Übersetzung gibt. Hier wird ‚memorial‘<br />

als Adjektiv im Sinn von ‚gedenk‘- und insbesondere als Analogie zu dem Begriff<br />

‚Political Correctness‘ verwendet, mit dem er eng verknüpft ist. Ins Deutsche übersetzt<br />

würde er wörtlich ‚gedenk-korrekt‘ oder freier ‚erinnerungskulturell-korrekt‘ meinen. Es<br />

geht jedoch eher um den übertragenen Sinn, der im Englischen etwa ‚remembering in a<br />

frame of political correctness‘ meint und im Deutschen ‚Erinnern/Gedenken im Rahmen<br />

etablierter, erinnerungskulturell als angemessen geltender Vorstellungen‘, wobei hier vor<br />

allem das künstlerische, darstellende ‚Erinnern‘ der Medien gemeint ist.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 21<br />

„Das Hantieren mit dem nur halb verstandenen Ausdruck ‚political correctness‘ […] verrät<br />

normative Enthemmung und kognitive Entdifferenzierung im Umgang mit sensiblen Themen.“<br />

32<br />

Der Begriff ‚Political Correctness‘ verweist auf eine lange, vor allem politische,<br />

Tradition und geht dem heutigen Verständnis nach auf die Vereinigten Staaten der<br />

1960er Jahre und die Zeit der Bürgerrechtsbewegungen zurück. 33 So unpräzise die<br />

Definition von Political Correctness auch bisweilen ist – „Ach, die politische Korrektheit<br />

gleicht diesem glitschigen grünen Gelkissen, die man auf dem Temple<br />

Street Flohmarkt in Hongkong kaufen kann und die jedem aus der Hand rutschen,<br />

der sie anfasst“ 34 – so eindeutig und klar wird ein (vermeintlicher) Verstoß gegen<br />

diese geahndet. Political Correctness bzw. ein Verstoß gegen sie unter dem Zeichen<br />

der ‚Political Incorrectness‘ führt auf sprachliche Äußerungen zurück, welche<br />

neben der wörtlichen Rede auch kulturelle und künstlerische Sprechakte und Texte<br />

einschließt. Kulturwissenschaftlich untersucht wurden Phänomene der politisch<br />

‚inkorrekten‘ oder verletzenden Sprache vor allem von Judith Butler in ihrer Definition<br />

als „hate speech 35 , die, auch wenn sie sich auf Geschlechterbeziehungen sowie<br />

den US-amerikanischen Rassismus bezieht, hier von Bedeutung ist. Die ‚verletzende<br />

Sprache‘ bewirkt ein Verletzen der Gefühle einer ausgegrenzten Minderheit,<br />

ebenso wie auch der Gesetzmäßigkeiten von Moral und Ethik. Mit im Dunstkreis<br />

von Political Correctness tummelt sich das Tabu, <strong>des</strong>sen Differenzierung beispielsweise<br />

von Nicole Colin und Matthias N. Lorenz für historische Kontexte unternommen<br />

wurde. 36 Während Colin und Lorenz eine Unterscheidung zwischen<br />

Tabu und Political Correctness stark machen, sind darüber hinaus gerade für den<br />

Verhandlungsraum von Nationalsozialismus und <strong>Holocaust</strong> deutliche Überschnei-<br />

32 Habermas, Jürgen: Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine politische Schriften,<br />

Band. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 173.<br />

33 Vgl. u.a. Schenz, Viola: Political Correctness. Eine Bewegung erobert Amerika, Frankfurt<br />

a.M.: Peter Lang 1994.<br />

34 Klute, Hilmar: „Was du nichts sagst. Der Mechanismus von Provokation und Empörung<br />

ist eine Art Desinfektionsmittel der Gesellschaft. Und er behindert das Denken“, in: Süddeutsche<br />

Zeitung vom 31.10/01.11.2009.<br />

35 Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik <strong>des</strong> Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp<br />

1998.<br />

36 Vgl. Colin, Nicole/Lorenz, Matthias N./Umlauf, Joachim: „Einleitung“, in: Colin, Nicole/Lorenz,<br />

Matthias N./Umlauf, Joachim (Hg.): Täter und Tabu. Grenzen der Toleranz in<br />

deutschen und niederländischen Geschichtsdebatten Essen: Klartext 2011, S. 7-11. Außerdem<br />

im selben Band: Lorenz, Matthias N.: „Die Motive <strong>des</strong> Monsters oder die Grenzen<br />

<strong>des</strong> Sagbaren. Tabubrüche in den Niederlanden und Deutschland und ihre literarische<br />

Spiegelung in Erzählungen von Harry Mulisch und F.C. Delius“, S. 119-139.


22 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

dungen dieser beiden Diskurse bemerkenswert. Besonders die öffentlichkeitswirksamen<br />

und medialen Debatten sind von Tabus und Sprachverletzungen durchzogen<br />

bzw. entstehen überhaupt erst durch diese. Der gute „historische Geschmack“ 37 , der<br />

durch die Wahrung der Political Correctness garantiert werden soll, wird hierbei<br />

(bewusst) überschritten und die (vermeintlichen) Verletzungen durch ihre mediale<br />

Inszenierung verstärkt. Derartige Grenzgänge, der Versuch der Überwindung und<br />

Enttabuisierung <strong>des</strong> Tabus durch <strong>des</strong>sen Versprachlichung, sind dabei gleichzeitig<br />

auch von wesentlicher Bedeutung für die gesellschaftliche wie individuelle Moral,<br />

da sie nur so überhaupt diskursfähig werden können. 38 Im Zuge historischer Diskurse<br />

wie dem Nationalsozialismus hat sich in den vergangenen Jahren der Begriff der<br />

„historischen Korrektheit“ 39 an die Seite der Politcal Correctness gestellt, welcher<br />

auf dem Weg zu meiner Definition der Memorial Correctness als Bindeglied gelten<br />

darf.<br />

Der Ruf nach politisch korrekter Sprache und Handlung besitzt für die Auseinandersetzung<br />

mit der NS-Zeit und dem <strong>Holocaust</strong> vor allem in Deutschland eine<br />

enorme Relevanz. In den 1950er Jahren, einer Zeit, in der die Verbrechen <strong>des</strong> Nationalsozialismus<br />

erstmals beim Namen genannt wurden, mussten sich öffentliche<br />

Redensführer nicht selten daran messen lassen, wie gut oder schlecht sie sich zur<br />

deutschen Vergangenheit äußern konnten. Dies zeigt sich auch heute, denn immer<br />

wieder unterliegt das Sprechen über die deutsche Vergangenheit der besonderen<br />

Beobachtung und Reglementierung durch die Verteidiger der Correctness. Als These<br />

dieser Arbeit lässt sich daraus ableiten, dass von einer Depotenzierung der<br />

Tabudebatte keinesfalls die Rede sein kann, auch wenn sich das Sprechen über den<br />

<strong>Holocaust</strong> heute wesentlich vielfältiger gestaltet und der Disput darüber auch wichtige,<br />

neue Energien freisetzt. Die Schablone der Political Correctness wird im Verlauf<br />

dieser Arbeit immer wieder einmal angelegt, nicht um ihr das Wort zu reden,<br />

sondern um die Ambivalenz wie auch die aus ihr hervorgehende Dynamik gegen<br />

bestehen<strong>des</strong> Unbehagen zu verdeutlichen, denn: „es gibt Tabus, die zerstört werden<br />

müssen, wenn wir nicht daran würgen sollen.“ 40<br />

37 Kansteiner, Wulf: „Alternative Welten und erfundene Gemeinschaften: Geschichtsbewusstsein<br />

im Zeitalter interaktiver Medien“, in: Meyer, Erik (Hg.): Erinnerungskultur<br />

2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt a.M.: Campus, S.<br />

29-54, hier S. 46.<br />

38 Vgl. Klein, Gabriele: „Körper zeigen. Performance-Kunst als Tabubruch“, in: Benthien,<br />

Claudia/Gutjahr, Ortrud (Hg.): Tabu. Interkulturalität und Gender, München: Wilhelm<br />

Fink 2008, S. 247-261, hier S. 251.<br />

39 M. N. Lorenz: Die Motive <strong>des</strong> Monsters, S. 121.<br />

40 Tabori, George: Unterammergau oder die guten Deutschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp<br />

1981, S. 37.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 23<br />

Die Debatte um Political Correctness bestellt auch heute noch ein „modernes Tabu“<br />

41 , das sich keinesfalls mit der Postmoderne und ihrer allgemein verlautbarten<br />

‚Tabulosigkeit‘ verflüchtigt hat. Für die Reflexionen der Vergangenheit kommt<br />

hinzu, dass es nicht mehr nur darum geht, was politisch oder historisch korrekt<br />

kommuniziert werden kann, sondern auch, was dem Sinn einer ‚angemessenen‘<br />

Erinnerungskultur entspricht. Damit geht es um nichts weniger als um die Frage,<br />

was gesagt, geschrieben oder zu Kunst gemacht werden ‚darf‘. Welche Sprache,<br />

welcher Text, welches Bild gilt also als ‚memorial correct‘ und was ist dem Thema<br />

und Anlass nicht angemessen?<br />

Besonders bei der Frage, wie die politische, gesellschaftliche und mediale Auseinandersetzung<br />

mit dem <strong>Holocaust</strong> auszusehen hat, schlagen moralische, ethische<br />

und ästhetische Anforderungen große Wellen. Dabei geht es immer auch um die<br />

Frage nach der richtungsweisenden Instanz und den Inhabern der Deutungsmacht,<br />

welche bisweilen vor allem die den Begriff der Political Correctness besonders<br />

prägende Generation der sogenannten 68er-Generation mit ihrem moralischen Mantra<br />

‚Nie wieder Auschwitz‘ vereint hält. Aus diesen Reihen waren und sind die Forderungen<br />

nach Political Correctness besonders laut und besonders auch dort zu<br />

vernehmen, wo es über ‚angemessene‘ Formen der Auseinandersetzung, der Repräsentation<br />

und der künstlerischen Darstellung <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong> zu diskutieren gilt. Wie<br />

aber lässt sich eine angemessene von einer weniger angemessenen oder gar völlig<br />

inkorrekten, verbotenen Sprechweise unterscheiden? Was also bedeutet Memorial<br />

Correctness?<br />

„Dieses Verbot ist nicht kodifiziert, es wird nirgends direkt ausgesprochen, ihm kommt aber,<br />

wie unschwer an der Reaktion abzulesen ist – […] eine allgemeine Gültigkeit zu. Dieses<br />

unausgesprochene Verbot grenzt einen rechten Umgang mit dem Nationalsozialismus und der<br />

Shoah von einem unrechten ab.“ 42<br />

Vermeintliche Sprachtabus und Diskurse der Political Correctness werden auch<br />

bewusst aufrecht erhalten, sie müssen „immer wieder öffentlich, lautstark und<br />

nachdrücklich eingefordert werden, um einem Vergessen und Verdrängen schmerzlicher<br />

[…] Erinnerungen entgegenzuwirken“ 43 . Nur durch ihre Thematisierung können<br />

sie überhaupt zum Bestandteil tragender Diskurse werden. Vor allem an die<br />

41 Kraft, Hartmut: „Nigger und Judensau. Tabus heute“, in: Benthien, Claudia/Gutjahr,<br />

Ortrud (Hg.): Tabu. Interkulturalität und Gender, München: Wilhelm Fink 2008, S. 261-<br />

275, hier S. 261.<br />

42 Kramer, Sven: „Tabuschwellen im literarischen Diskurs über den Nationalsozialismus<br />

und die Shoah“, in: Benthien, Claudia/Gutjahr, Ortrud (Hg.): Tabu. Interkulturalität und<br />

Gender, München: Wilhelm Fink 2008, S. 177-191, hier S. 177.<br />

43 H. Kraft: Nigger und Judensau, S. 272.


24 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

junge Generation wird immer wieder herangetragen – und wie einleitend bemerkt<br />

teilweise empirisch bestätigt –, sie interessiere sich nicht mehr für die unpopuläre<br />

Vergangenheit. Daraus, so der Vorwurf, entwickelt sich entweder gar keine Auseinandersetzung<br />

mit der Vergangenheit oder eine ‚unrechte‘, eine, die auf Eventisierung,<br />

Erlebnis und Flüchtigkeit, nicht aber auf besonnenes Innehalten, stilles Gedenken<br />

und Dauer fokussiert ist. Bei der Fragestellung unrechter, im Sinne einer<br />

Memorial Correctness unangemessener Thematisierungen <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong> geht es<br />

nicht zuletzt um die moralische Bewertung, also um die Frage, ob ästhetische Formate<br />

der Bedeutungsschwere der Verbrechen der NS-Zeit moralisch gerecht werden<br />

und ihnen ‚angemessen‘ sind. Mit dem Generationswechsel und dem Übertritt<br />

in eine „Erlebnisgesellschaft“ 44 werden gegenwärtig auch die Karten der <strong>Holocaust</strong>-<br />

Repräsentation und ihrer Akzeptanz neu gemischt. Nicht nur dass die Formen und<br />

Formate der Vergangenheitsreflexionen unter den gegenwärtigen Bedingungen an<br />

Vielfalt zunehmen und immer mehr unter das Gebot der Aufmerksamkeit fallen,<br />

auch die angesprochene Deutungshoheit der 68er-Generation sowie der Augen- und<br />

Zeitzeugengeneration gerät mehr und mehr zur Ausnahme. Wer übernimmt nun die<br />

Autorisierung von Memorial Correctness oder ist dies ein Modell, welches unter<br />

postmodernen Zeichen, ‚chaotischen Zuständen‘ und eines allgemeinen ‚Anything<br />

goes‘ ohnehin obsolet wird?<br />

Die Frage einer allgemeingültigen Angemessenheit – dies sei hier vorausgestellt<br />

– wird auch diese Arbeit nicht klären können. An das oben vorgetragene Zitat<br />

Herrmanns über zukünftige Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem <strong>Holocaust</strong><br />

anknüpfend ist aber auch bereits zu konstatieren, dass von mehr als nur zwei<br />

Möglichkeiten eines Sprechens, Schreibens und künstlerischen Thematisierens der<br />

Vergangenheit auszugehen ist. Die exemplarischen Analysen sollen zeigen, dass es<br />

fernab von erfundener Erinnerung und langwieriger Spurensuche, Pfade, wenn auch<br />

verschlungene und zumal äußerst schmale oder gar abgründige, gibt, auf denen ein<br />

Zugang zur deutschen Vergangenheit gelingen kann. Die Zeit <strong>des</strong> einen, verbindlichen<br />

‚Master Narratives‘, der Rahmen- und Identität gebenden Master-Erzählung,<br />

scheint dabei vorbei zu sein. 45 An seine Stelle treten gerade auch für Thematisierungen<br />

der deutschen Vergangenheit plurale, sich verbindende und kreuzende Ge-<br />

44 Diesen Begriff prägte der Soziologe Gerhard Schulze, siehe dazu vor allem Kapitel I, 4.<br />

45 „Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren“, sagt Jean-Francois Lyotard.<br />

Vgl.: Lyotard, Jean-Francois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Böhlau 1986,<br />

S. 112. Auch Aleida Assmann spricht von „mehrere[n] Geschichten“ anstelle eines Master-Narrativs<br />

(siehe dazu Kapitel I, 2).


BESTAND UND TRANSFORMATION I 25<br />

schichten nach dem methodischen Vorbild Leslie A. Adelsons „Touching Tales 46 .<br />

Nicht nur auf der Folie der Gesellschaftsgegenwart berühren sich die Lebens- und<br />

Erinnerungsräume unterschiedlicher Couleur, auch die Vergangenheit wird aus<br />

unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und perspektiviert. Um Möglichkeiten für<br />

Erinnerungshandlungen in der Zukunft zu schaffen, ist es so unabdingbar, diese<br />

pluralen Perspektiven in die Verhandlungsmasse aufzunehmen, ebenso aber auch<br />

nicht zu unterschlagen, woher diese stammen. Spätestens mit dem attestierten<br />

Übergang in die Postmoderne als „kulturelle Dominante“ 47 verschwimmen die Paradigmen<br />

der Moderne, lassen sie sich nicht mehr in einen „traditionellen Verstehenszusammenhang<br />

einbinden“ 48 .<br />

Das methodische Handwerkszeug, um Literatur und Kultur in einem umfassenden<br />

Sinn zu betrachten, liefert die Diskursanalyse; im Interesse stehen hierbei speziell<br />

die politischen, kulturellen und sozial-gesellschaftlichen Diskurse. Um das<br />

methodologisches Vorgehen zusammenfassend mit Astrid Erlls bereits erwähnten<br />

‚Social-Life-Formel‘ zu beschreiben: „Faszination, Herausforderung und Problematik<br />

eines solchen Social-life-Zugangs […] bleibt freilich die dazu notwendige Zusammenführung<br />

von Methoden der Geschichts-, Sozial-, Medien- und Literaturwissenschaften.“<br />

49 Neben der in der Tat faszinierenden Herausforderung und dem innovativen<br />

Ansatz eines solchen Vorgehens, nicht nur unterschiedliche Medien,<br />

sondern auch zwei wesentliche Diskurse, den sozialen und den im weitesten Sinne<br />

medialen, unter zwei Forschungszielen – einerseits die ästhetische Dimension der<br />

<strong>Holocaust</strong>-Repräsentationen und andererseits deren gesellschaftliche Funktion – zu<br />

integrieren, bringt dieser Ansatz auch ein methodisches Problem mit sich. Eine<br />

besondere Herausforderung stellt dabei nämlich die Lesbarkeit insbesondere multimedialer<br />

Medienformate und die Analyse ihrer Narrative vor dem Hintergrund literarischer<br />

Erzählformen, die den Ausgangspunkt und Kern dieser Arbeit bereiten.<br />

Die Frage, wie eine Website, ein Facebook-Profil oder ein YouTube-Video zu ‚lesen‘<br />

ist, soll mit dem Modell der Transformation angegangen und die multimedialen<br />

Medien als kulturelle und literarische Transformationen ihrer traditionellen<br />

Formen betrachtet und unter weitgehend narratologischen Aspekten analysiert werden.<br />

46 Vgl. Adelson, Leslie A.: „Touching Tales of Turks, Germans, and Jews: Cultural Alterity,<br />

Historical Narrative, and Literary Riddles for the 1990s“, in: New German Critique,<br />

80 (2000), S. 93-124.<br />

47 Jameson, Fredric: „Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus“, in:<br />

Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus R. (Hg.): Postmoderne: Zeichen eines kulturellen<br />

Wandels, Reinbek: Rowohlt 1986, S. 45-102, hier S. 47 f.<br />

48 Förster, Nikolaus: Die Wiederkehr <strong>des</strong> Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und<br />

90er Jahre, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 9.<br />

49 A. Erll: The social life of texts, S. 231.


26 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

Diese Arbeit verlangt eine grundsätzlich integrative Methodik, was für die Einbindung<br />

theoretischer Aspekte bedeutet, dass diese im Wesentlichen innerhalb der<br />

Analysekapitel erfolgen und nicht als ‚Theorieblock‘ voran gestellt werden. Die<br />

exemplarischen Analysen in den Kapiteln II, III und IV bilden den Schwerpunkt der<br />

Arbeit und sind in unterschiedliche Mediensegmente – Literatur, Performances und<br />

Neue Medien – unterteilt, deren Verbindungsglied das Modell <strong>des</strong> Work in Progress<br />

bildet. Für die Auswahl der Beispiele gelten neben Innovationsanspruch, Relevanz<br />

für jüngere Adressaten sowie jüngerer Publikationszeit (um/nach 2000), z.T.<br />

auch die Autoren/Künstler selbst, die in ihrer Mehrheit der dritten Generation (um<br />

1965 geboren) oder der ‚jungen Generation‘ (um 1975 geboren) angehören bzw.<br />

sich an diese anlehnend inszenieren. Die Autoren und Künstler sind entweder<br />

deutschsprachig, produzieren ihre Werke für eine deutsche Rezipientengemeinschaft<br />

oder werden im Diskurs deutscher Erinnerungskultur thematisiert. Es wird<br />

darüber hinaus keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen deutschsprachigen<br />

jüdischen und nicht-jüdischen Autoren vorgenommen. Die Fragestellungen dieser<br />

Arbeit richten sich ausdrücklich nicht an ‚typisch jüdische‘ oder ‚typisch deutsche‘<br />

Texte, sondern an gegenwärtige Aushandlungsprozesse und ihre medialen Reflexionen,<br />

an denen deutschsprachige jüdische und deutschsprachige nicht-jüdische Autoren<br />

und Künstler gleichermaßen beteiligt sind, mehr noch: Sie sind gerade für das<br />

vielfältige Panorama, welches hier gebildet wird, wesentlich verantwortlich. Kapitel<br />

V bildet das Fazit und zieht eine knappe Bilanz aus den zuvor durchgeführten Analysen,<br />

um dann in einem Ausblick in die noch weiter entfernte Zukunft der Vergangenheit<br />

zu blicken und mit der Notwendigkeit eines andauernden Work in Progress<br />

zu enden.<br />

2. MODIFIZIERUNGEN DES GEDÄCHTNISBEGRIFFS<br />

Für kaum eine andere Thematik wird die Gedächtnisforschung seit Jahren derart<br />

vielfältig und interdisziplinär fruchtbar gemacht wie für die Themen <strong>Holocaust</strong> und<br />

Nationalsozialismus. Gleichzeitig scheint der Untersuchungsgegenstand selbst, das<br />

Gedächtnis, auch in Bezug auf keine andere Thematik derartig „umkämpfter Gegenstand“<br />

50 der Gegenwartskultur zu sein. Der historische Zeitraum von 1933 bis<br />

1945 ist, so darf man heute mit Gewissheit konstatieren, ein wichtiger Bestandteil<br />

<strong>des</strong> kollektiven und kulturellen Gedächtnisses – mit je nationaler, vor allem für<br />

Deutschland, und internationaler Bedeutung als globales Zeichen. Um die Transformationen<br />

<strong>des</strong> Gedächtnisparadigmas zu zeigen, soll nun der zugrunde liegende<br />

50 A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 16.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 27<br />

Gedächtnisbegriff und die Theorie, die sich hinter ihm verbirgt, auf Anknüpfungspunkte<br />

und Möglichkeiten der Veränderung hin untersucht werden.<br />

„Memory Sells“ 51 – Die Bedeutung <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong> in den Erinnerungskulturen<br />

ist ungebrochen und erhält heute immer größere Aufmerksamkeit je deutlicher und<br />

provokanter seine Narrative in die Öffentlichkeit hineindrängen. Wie aber manifestierte<br />

sich dieses für die Weltbevölkerung traumatische Ereignis als „Memory“ derart<br />

fest im Bewusstsein, dass ein ebenso großes wie interdisziplinäres Forschungsfeld<br />

der Gedächtnistheorien als ein „neue[s] Paradigma der Kulturwissenschaft“ 52<br />

ausgerufen wurde?<br />

Geschichte und Gedächtnis sind zwei immer wieder miteinander in Verbindung<br />

gebrachte Begriffe. Der in Deutschland in den 1990er Jahren festzustellende sogenannte<br />

„Gedächtnis-Boom“ 53 setzte zu einer Zeit ein, die wesentlich durch die Wiedervereinigung<br />

Deutschlands bestimmt war und in der sich nach Jahrzehnten der<br />

Trennung auch eine gesamtdeutsche Identität entwickeln sollte. Mit der Deutschen<br />

Wiedervereinigung wurde nicht nur auf politischer Ebene die Zusammengehörigkeit<br />

der beiden deutschen Staaten postuliert, sondern auch das ‚Deutschsein‘ erstmals<br />

seit dem Ende <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs wieder als ‚nationale Aufgabe‘ empfunden.<br />

Ein „verstärkter Nationalismus“ 54 machte sich nach der Wende in beiden<br />

deutschen Staaten bemerkbar und intensivierte auch die Neuverhandlung von historischem<br />

Gedächtnis und historischer Identität. Etwa zeitgleich entstand ein internationales<br />

Forschungsinteresse daran, sich mit Hilfe der konkreten Verfahrensweisen<br />

<strong>des</strong> menschlichen Gedächtnisses wie auch seiner symbolischen Beschaffenheit den<br />

Zusammenhang von Vergangenheit, kollektiver Erinnerung und Identität zu erschließen.<br />

55 In Deutschland galt es dabei allem voran, den <strong>Holocaust</strong> nicht nur als<br />

„negativen Gründungsimpuls“ 56 <strong>des</strong> vereinten Deutschlands zu betrachten, sondern<br />

51 A. Erll: The social life of texts, S. 228.<br />

52 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 11.<br />

53 Erll, Astrid: „Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen“, in: Nünning, Ansgar/Nünning,<br />

Vera (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen<br />

– Ansätze – Perspektiven, Stuttgart: Metzler 2003, S. 156-185, hier S. 3.<br />

54 Dayioglu-Yücel, Yasemin: „Identität und Integrität in der türkisch-deutschen Migrationsliteratur“,<br />

In: Heinrich Böll-Stiftung (Hg.): Migrationsliteratur. Eine neue deutsche Literatur?<br />

Online-Dossier, März 2009, S. 31-36, hier S. 33.<br />

55 Vgl. Neumann, Birgit: „Literatur, Erinnerung, Identität“, in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar<br />

(Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, Berlin: De Gruyter 2005, S. 149-<br />

179, hier S. 150.<br />

56 Frevert, Ute: „Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit“, in: Assmann, Aleida/Frevert,<br />

Ute (Hg.): Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang<br />

mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart: Deutsche <strong>Verlag</strong>sanstalt 1999, S.<br />

151-293, hier S. 259.


28 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

seine historischen, kollektiven und individuellen Auswirkungen auf die politischen<br />

und gesellschaftlichen Handlungen in der Gegenwart zu analysieren.<br />

Heute beschäftigt sich mit der Begriffskomposition ‚Geschichte im Gedächtnis‘<br />

eine interdisziplinäre und zumal internationale Forschung: Psychologen, Historiker,<br />

Politik-, Literatur- und Kulturwissenschaftler arbeiten an dem Phänomen Gedächtnis:<br />

„Das Phänomen <strong>des</strong> Gedächtnisses ist in der Vielfalt seiner Erscheinungen<br />

nicht nur transdisziplinär in dem Sinne, daß es von keiner Profession aus abschließend<br />

zu bestimmen ist, es zeigt sich auch innerhalb der einzelnen Disziplinen widersprüchlich<br />

und kontrovers“ 57 , stellt Aleida Assmann 1999 fest. Auch gegenwärtig<br />

scheint der Forschungsbedarf an diesem Thema ungebrochen, besonders da sich<br />

durch den Generationswechsel und den damit verbundenen Wegfall der Augenzeugen<br />

erst kürzlich die akute Notwendigkeit einer solchen Arbeit wieder bestärkt hat.<br />

Für die literaturwissenschaftliche Forschung hat die Gedächtnistheorie eine breite<br />

Argumentationsfläche geschaffen, auf der besonders die Erinnerungsliteratur und<br />

ihre narrativen Gedächtniskonzepte interpretierbar werden. 58 Inwiefern diese Konzepte<br />

auch in der jüngsten Literatur der dritten bzw. jungen Generation sowie in<br />

weiteren kulturellen Texten und Medien vorhanden sind, sollen die exemplarischen<br />

Analysen zu einem späteren Zeitpunkt klären.<br />

Den Ausgangspunkt einer Transformation <strong>des</strong> Gedächtnisparadigmas bilden im<br />

Kern vier Argumente. Dies ist zum einen das Faktum, dass gegenwärtig ein sich<br />

global vollziehender Generationswechsel bevorsteht, der für die Vergegenwärtigung<br />

der NS-Zeit und <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong> zur Folge hat, dass erstens die Zeit- und Augenzeugengeneration<br />

in wenigen Jahren völlig fehlen und es keine primären Erinnerungen<br />

mehr geben wird, und damit zweitens in den kommenden jungen Generationen<br />

nicht mehr erinnert werden kann. Bei<strong>des</strong> zusammengenommen bringt eine Zäsur<br />

und Epochenschwelle hervor, denn:<br />

„40 Jahre markieren eine Epochenschwelle in der kollektiven Erinnerung: wenn die<br />

lebendige Erinnerung vom Untergang bedroht und die Formen kultureller Erinnerung zum<br />

Problem werden“. 59<br />

Diese Schwelle wird heute überschritten. An die Stelle der erlebten, individuellen<br />

Erinnerung sind in den vergangenen Jahren durch den zunehmenden Wegfall der<br />

Zeit- und Augenzeugen mehr und mehr die kulturellen Gedächtnismedien getreten.<br />

Damit drängte sich auch in der interdisziplinären <strong>Holocaust</strong>-Forschung zunehmend<br />

57 A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 16.<br />

58 Vgl. u.a. die Beiträge in: A. Erll/A. Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft.<br />

59 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 11.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 29<br />

die Frage auf, wie sich künftige Generationen mit dem Nationalsozialismus und<br />

dem <strong>Holocaust</strong>, den sie persönlich nicht mehr erinnern können, auseinandersetzen<br />

sollen, wie also die „Zukunft <strong>des</strong> Erinnerns“ 60 unter diesen Voraussetzungen aussehen<br />

könnte. Hier muss die Frage konkretisiert werden, nämlich: Wie sieht die Zukunft<br />

ohne ein Erinnern aus?<br />

Das zweite Argument ist im Grunde eine logische Folge aus dem ersten. Durch<br />

den Wegfall von persönlichen, familiären Tradierungen und einer zugleich nicht<br />

unwesentlichen zeitlichen und emotionalen Distanz zu den historischen Ereignissen<br />

werden die kulturellen Medien und ihre Deutungen diskursbestimmend. Die Gedächtnisforschung<br />

merkt an, dass in der Zukunft das kulturelle Gedächtnis die Aufgabe<br />

übernehmen wird, die Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit<br />

auch ohne die unmittelbaren Erfahrungen der Zeitzeugen lebendig zu halten. 61<br />

„Während bestimmte Arten von Gedächtnis im Rückzug begriffen sind, […] in Bezug auf die<br />

Shoah, das Erfahrungsgedächtnis, nehmen andere Formen <strong>des</strong> Gedächtnisses, wie das der<br />

Medien oder der Politik offensichtlich an Bedeutung zu.“ 62<br />

Dass sich durch den Machtgewinn der Medien aber nicht immer nur ‚Positives‘<br />

entwickelt und z.T. Inhalte instrumentalisiert werden, bleibt ebenso zu beachten wie<br />

die Tatsache, dass sich Medieninhalte, insbesondere solche neuer oder digitaler<br />

Medien, auch auf unspezifische und wesentlich unkontrollierte Weise vervielfältigen<br />

und an ihre Empfänger weiter geleitet werden können. Die neuen und digitalen<br />

Medien sind in der Assmann’schen Gedächtnistheorie weitgehend ausgeklammert<br />

bzw. in die Systematik <strong>des</strong> kulturellen Gedächtnisses hinein gepresst. 63 Dabei kön-<br />

60 In einer Vielzahl jüngster wissenschaftlicher Abhandlungen finden sich häufig mind. ein<br />

Kapitel unter dieser Überschrift. Vgl. hier u.a.: Georgi, Viola B.: Entliehene Erinnerung.<br />

Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg: Hamburger Editionen<br />

2003. S. 309 f. Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der <strong>Holocaust</strong>,<br />

aktualisierte Neuausgabe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 225 f. Jüngst:<br />

Assmann, Aleida/Hartmann Geoffrey: Die Zukunft der Erinnerung und der <strong>Holocaust</strong>,<br />

Konstanz: University Press 2012.<br />

61 Vgl. hierzu u.a.: Thamer, Hans-Ulrich: „Der <strong>Holocaust</strong> in der deutschen Erinnerungskultur<br />

vor und nach 1989“, in: Birkmeyer, Jens/Blasberg, Cornelia (Hg.): Erinnern <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong>?<br />

Eine neue Generation sucht Antworten, Bielefeld: Aisthesis 2006, S. 81-95. K.<br />

Prinz: Möchte doch keiner was davon hören. Assmann, Aleida: „Zwischen Pflicht und<br />

Alibi. Wozu nationales Gedenken? Die Debatte um das zentrale <strong>Holocaust</strong>-Mahnmal<br />

zeigt die Deutschen auf der Suche nach einem neuen Gedächtnis“, in: Michael Jeismann<br />

(Hg.): Mahnmal Mitte. Eine Kontroverse, Köln: DuMont 1999, S. 157-166.<br />

62 A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 15.<br />

63 Vgl. M. Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 91 f.


30 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

nen sie durchaus als gewissermaßen ‚transformierte Gedächtnis- bzw. Erinnerungsmedien‘<br />

fungieren, indem sie über den Medienwechsel einen Form- und<br />

Sprachwechsel initiieren und so für die Frage nach einer ‚neuen Sprache‘ relevant<br />

sind.<br />

Dem dritten Argument einer Kritik am Gedächtnisparadigma wird insbesondere<br />

in Kapitel I, 4 Rechnung getragen. Die Gesellschaftsstruktur zeigt sich heute im<br />

Gegensatz zu den 1990er Jahren, dem Höhepunkt der Gedächtniskonjunktur, wesentlich<br />

verändert. In einer durch Globalisierung und Migration strukturell stark<br />

veränderten Gesellschaft können Gedächtnis, Erinnerungskultur und historisches<br />

Bewusstsein kaum noch isoliert, in ihren jeweiligen „nationalen Containern“ 64 betrachtet<br />

werden. Im Zuge der Entwicklung von heterogenen kollektiven Gedächtnissen<br />

und Erinnerungsgemeinschaften verlassen Gedächtnis- und Identitätsausbildung<br />

immer häufiger den nationalen Bezugsrahmen. 65<br />

In diese Richtung und unter dem Stichwort „Gedächtnis-Problem“ argumentierte<br />

auch bereits Aleida Assmann:<br />

„Das Gedächtnis-Problem besteht in der Transformation von ‚weichen‘, d.h. von diffusen<br />

und höchst unterschiedlichen biographischen Erinnerungen in Formen eines ‚harten‘, d.h.<br />

organisierten, gemeinsam geteilten und verbindlichen Gedächtnisses oder, mit den Worten<br />

Niethammers, von ‚individueller Erfahrungsverarbeitung‘ in ‚kulturelle Gerinnung‘.“ 66<br />

Hier wird also ein Gedächtnisproblem angenommen, welches sich auf den Übergang<br />

von kommunikativer, individueller Erinnerung in das kulturelle Gedächtnis<br />

bezieht und durch den Generationswechsel zur eklatanten Hürde wird. Die Medien<br />

<strong>des</strong> kulturellen Gedächtnisses übernehmen die Deutungsmacht der Vergangenheit<br />

und müssen in der erinnerungslosen Zukunft die Vergangenheit vermittelbar gestalten.<br />

Interessant ist an dieser, jedoch nach wie vor zu kurz gegriffenen Problematisierung<br />

besonders Assmanns Wortwahl von „weichen Erinnerungen“ und „hartem<br />

Gedächtnis“, auf die noch zurückzukommen sein wird.<br />

64 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 10.<br />

65 Vgl. Georgi, Viola B.: „,Ich kann mich für Dinge interessieren, für die sich jugendliche<br />

Deutsche auch interessieren‘“. Zur Bedeutung der NS-Geschichte und <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong> für<br />

Jugendliche aus Einwandererfamilien, in: Georgi, Viola B./Ohliger, Rainer (Hg.):<br />

Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft,<br />

Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2009, S. 90-109, hier S. 90.<br />

66 Aleida Assmann: „Geschichtsvergessenheit/Geschichtsversessenheit“, in: Assmann,<br />

Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit/Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit<br />

deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart: Deutsche <strong>Verlag</strong>s Anstalt 1999, S. 19-<br />

147, hier S. 30.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 31<br />

In der Vergangenheit ließ sich beobachten, dass sich das kulturelle Gedächtnis<br />

weitgehend aus den Bedürfnissen der ersten und zweiten Generation heraus generiert<br />

hat und sich bisweilen wenig an den Ansprüchen und Erwartungen der jungen<br />

Generation orientierte. Die Konzeption wie auch die vorausgegangene Debatte um<br />

das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas 67 lag beispielsweise gänzlich<br />

in den Händen der Initiatoren und Stadtväter. Weder erreichten Vorschläge<br />

junger Künstler den engeren Auswahlkreis noch wurde eine ernsthafte Diskussion<br />

mit der dritten Generation – für die das Mahnmal eigentlich bestimmt war – geführt.<br />

Die Diskussion verlief in den bekannten Bahnen der Wortführerschaft der<br />

ersten und zweiten Generation.<br />

„Einerseits ist die Ablösung der Erlebnisgenerationen <strong>des</strong> Nationalsozialismus nahezu abgeschlossen,<br />

andererseits zeigen die öffentlichen Diskussionen nach wie vor eine starke normative<br />

Bindung just an diese […] vormaligen Zeitgenossen Hitlers. Dabei kreist die Diskussion<br />

um die Veränderung der hiesigen Geschichtskultur längst um die Schwierigkeit, den jüngsten<br />

Nachgeborenen […] die fortdauernde politische Bedeutung von NS-Diktatur, Weltkrieg und<br />

Völkermord adäquat zu vermitteln.“ 68<br />

Was nun mit den angelegten „kulturellen Gedächtnisspeichern“ 69 passieren wird,<br />

wie sie ihren Weg in das Gedächtnis und den Alltag der jungen Generation finden<br />

sollen, bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen und vielfach diskutabel. Ein<br />

wichtiger Faktor scheint zu sein, dass sowohl die Anforderungen der Jüngeren als<br />

auch jüngste mediale Formate, an denen sie partizipieren, nicht auf eine dauerhafte<br />

Speicherung und normative Narrative bestehen, sondern dynamisch und in sich<br />

veränderbar sind. In der Weise, in der sich die mediale Gegenwart und Öffentlichkeit<br />

ändert, werden auch neue Begehrlichkeiten der Produktion und Vermittlung<br />

von Geschichtsnarrativen geweckt.<br />

Auf diese Möglichkeit der Vergangenheitsaneignung hat Aleida Assmann in ihrer<br />

Unterscheidung von Funktions- und Speichergedächtnis 70 sowie in dem oben<br />

hervorgehobenen Zitat zum Gedächtnisproblem hingewiesen. Das Archiv wird darin<br />

zum funktionalen Ort, zum ‚weichen Archiv‘ oder ‚Diskurs-Archiv‘, in dem<br />

67 Im Folgenden genannt: Berliner <strong>Holocaust</strong>-Mahnmal.<br />

68 Schmid, Harald: Von der „‚Vergangenheitsbewältigung‘ zur „‚Erinnerungskultur‘. Zum<br />

öffentlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus seit Ende der 1970er Jahre“, in: G.<br />

Paul/B. Schoßig: Öffentliche Erinnerung und Medialisierung <strong>des</strong> Nationalsozialismus, S.<br />

171-203, hier S. 194 f.<br />

69 Agazzi, Elena/Kocziszky, Eva: „Vorwort“, in: Agazzi, Elena/Kocziszky, Eva (Hg.):<br />

Fragile Körper. Zwischen Fragmentierung und Ganzheitsanspruch, Göttingen: Vandenhoeck<br />

& Ruprecht Unipress 2005, S. 7-21, hier S. 13.<br />

70 Vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 134 f.


32 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

Inhalte nicht in primär archiviert, sondern ‚diskursiviert‘ werden. Dies setzt auch<br />

ein anderes Raum- und Zeitkonzept voraus, da die Archive aktiv angeeignet und<br />

dem Diskurs zugeführt werden müssen. Die <strong>Holocaust</strong>-Narrative ‚verstauben‘ bildlich<br />

gesprochen nicht im verschlossenen Archiv, sondern werden als dynamische<br />

Leerstellen oder als Anlässe zu Erinnerungshandlungen und Partizipationsprozessen<br />

funktional gemacht.<br />

„Das kulturelle Gedächtnis ist eine soziale Konstruktion, deren Beschaffenheit<br />

sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwarten her<br />

ergibt.“ 71 Diese sozial-konstruktivistische Prämisse Jan Assmanns ist signifikant, da<br />

sie die Vergangenheit in Beziehung zur Gegenwart setzt. Anders formuliert bedeutet<br />

sie nämlich auch, dass nicht nur der Archivbegriff flexibel gedacht werden muss,<br />

sondern sich auch die junge Generation ihre Zugänge zur Vergangenheit und damit<br />

zum kulturellen Gedächtnis, welches in einer Gegenwart ohne Augenzeugen ihren<br />

einzigen Bezugspunkt bildet, aktiv neu aushandeln muss, denn – dies sei hier bewusst<br />

noch einmal erwähnt – das kulturelle Gedächtnis wird nicht automatisch an<br />

die nachkommenden Generationen vererbt. Das, was den erinnerungslosen Generationen<br />

fehlt – die Erinnerung, die Erfahrung – muss in den kulturellen Medien und<br />

Institutionen auf eine andere, aktive Weise erzeugt werden. Dabei sind didaktische<br />

wie auch künstlerische Projekte heute weniger um die Vermittlung von Fachwissen<br />

bemüht, sondern fokussieren Selbstreflexivität, Nacherleben, Teilhabe oder die<br />

Eventkultur. Historisches Wissen wird heute vielfach als Gegebenheit vorausgesetzt,<br />

nicht zuletzt auch <strong>des</strong>halb, weil das kulturelle Gedächtnis nie zuvor derart<br />

leicht und vielfältig verfügbar war wie heute. Die Frage ist also gegenwärtig weniger<br />

eine <strong>des</strong> ‚Was‘ als <strong>des</strong> ‚Wie‘: Wie werden Pfade für die kommenden Generationen<br />

in die Vergangenheit gelegt? 72<br />

Aleida Assmann konkretisiert noch ein weiteres Problem, welches nun auf die<br />

veränderte Gesellschaftsstruktur und die daraus resultierende Pluralität der Geschichte(n)<br />

und ihrer Deutungen zielt:<br />

„Heterogene Perspektiven bestehen nebeneinander und fügen sich nicht zu einer gemeinsamen<br />

Geschichte, geschweige denn zu einer ‚master narrative‘. […] Die Deutschen sind längst<br />

eine heterogene Gruppe geworden, die unter den neuen Bedingungen einer Einwanderergesellschaft<br />

von Tag zu Tag noch heterogener wird. Bei der Wiedererfindung der Nation im<br />

Medium der Geschichte ist darauf zu achten, dass es nicht nur eine (lange oder kurze) Geschichte,<br />

sondern mehrere Geschichten gibt“. 73<br />

71 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 48.<br />

72 Vgl. Düllo, Thomas: Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft <strong>des</strong> Performativen<br />

und <strong>des</strong> Crossover, Bielefeld: <strong>transcript</strong> 2011, S. 189.<br />

73 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 181, S. 193.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 33<br />

Dieser Ansatz geht hier jedoch noch nicht weit genug. Obwohl Assmann nicht von<br />

der Vorstellung einer homogenen, nationalen Gesellschaft ausgeht, liegt ihrem<br />

Konzept doch ein gemeinsamer, national geprägter Verstehenshorizont zugrunde,<br />

an dem die unterschiedlichen Generationen partizipieren. In dieser Arbeit geht es<br />

nicht um die „Wiederfindung der Nation“, sondern gerade um alternative, auch hier<br />

‚aufgeweichte‘ Formen. Wenn wir es in der heutigen Gesellschaftskonstellation,<br />

vor allem in den jungen Generationen, mit einer enormen Vielschichtigkeit der sozialen<br />

und kulturellen Prägungen zu tun haben und zudem ein großer Teil der Bevölkerung<br />

einen völlig anderen geschichtlichen und kulturellen Hintergrund als den<br />

deutschen besitzt, wird es dann nicht auch schwierig, diese Menschen für die deutsche<br />

Vergangenheit, zumal für eine derart unpopuläre wie die nationalsozialistische,<br />

zu sensibilisieren, damit sie an ihren Inhalten partizipieren? Hierbei muss nun<br />

eine zweifach fremde Vergangenheit in die Gegenwart übersetzt werden: die einer<br />

fremden Zeit und die eines fremden Lan<strong>des</strong>. In der nationalstaatlichen Ausrichtung<br />

<strong>des</strong> Gedächtnisparadigmas weist sich hierzu ein Stillstand aus. Besonders die Debatten<br />

in den 1980er und 1990er Jahren forcierten exklusiv die deutsche ‚Schicksals-<br />

bzw. Haftungsgesellschaft‘ und schlossen damit andere Bevölkerungsgruppen<br />

aus. 74 Den globalen Lebensverhältnissen unserer Gegenwart wird diese Exklusivität<br />

nicht mehr gerecht. Dass es, obwohl der <strong>Holocaust</strong> längst zu einer relevanten „global-politischen<br />

und global-kulturellen Norm“ 75 avanciert ist, nationale Unterschiede<br />

in der Bedeutung der deutschen Vergangenheit gibt, ist dabei selbstredend unstrittig.<br />

Dass sich jedoch innerhalb der Gesellschaft auch unterschiedliche Erinnerungskulturen<br />

ausbilden, die nebeneinander und ineinander verlaufen, sollte mit ins Kalkül<br />

gezogen werden. In diesem Zusammenhang ist es insbesondere spannend zu<br />

hinterfragen, inwiefern sich die junge Generation trotz proklamierter Unabhängigkeit<br />

und kosmopolitischer Gesinnung in Bezug auf die Themen <strong>Holocaust</strong> und Nationalsozialismus<br />

nicht doch noch oder gerade wieder an traditionellen Rollenmustern<br />

und der Diskurssemantik orientiert. Nimmt sie explizit oder implizit nicht doch<br />

die Bürden ‚ihrer‘ Vergangenheit auf oder ist sie tatsächlich die erste Generation,<br />

die den <strong>Holocaust</strong> nicht mehr als normativen Erzähltopos und „zentrale[n] Fokus<br />

deutscher Kultur und Poetik“, sondern als „Quelle für ein kreatives ethisches und<br />

ästhetisches Erinnern“ 76 begreift? Diese liminale Situation am Paradigmenwechsel<br />

74 Vgl. Georgi, Viola B.: „Wem gehört die deutsche Geschichte? Bikulturelle Jugendliche<br />

und die Geschichte <strong>des</strong> Nationalsozialismus“, in: Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Lieb–<br />

herz-Groß, Till (Hg.): „Erziehung nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft,<br />

Weinheim: Juventa 2001, S. 141-163, hier S. 142.<br />

75 D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter (2001), S. 18.<br />

76 Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Zweite, überarbeitete<br />

und erweiterte Auflage, Wien: Springer 2008, S. 264.


34 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

wird vor allem medial gespiegelt und lässt sich in den verschiedenen exemplarischen<br />

Analysen nachweisen.<br />

Die bis hierhin wesentlichen Punkte können wie folgt zusammengefasst werden.<br />

Ausgegangen wurde von der These, dass aufgrund gesellschaftlicher, politischer,<br />

generationeller und medialer Veränderungen und Transformationen auch eine Neuverhandlung<br />

bzw. Modifizierung <strong>des</strong> traditionellen Gedächtnismodells erfolgen<br />

muss, welche in den Rahmen umfangreicher kultureller Transformationsprozesse<br />

fällt. Für die Reformierung <strong>des</strong> Gedächtnisparadigmas spricht offensichtlich die<br />

Tatsache, dass das kulturwissenschaftliche und stark sozialpsychologisch durch<br />

Generationen, Täter- und Opferkategorien geprägte Gedächtnismodell auf dem sehr<br />

starken Begriff der Erinnerung/<strong>des</strong> Erinnerns sowie einer recht statischen Begriffsdeutung<br />

<strong>des</strong> Gedächtnisses als Speicher aufbaut. Während der Begriff der Erinnerung/<strong>des</strong><br />

Erinnerns spätestens mit den letzten Zeitzeugen seine Diskurshoheit einbüßt,<br />

bleibt das nationale, kulturelle Gedächtnis zwar als funktionale Größe bestehen,<br />

es wird jedoch stark durch die Veränderungen der Medien- und Kommunikationskultur<br />

und der Partizipationsweisen der jungen Generation aufgeweicht und<br />

modifiziert.<br />

Neben den Begriffspaaren Erinnerung/Erinnern und Gedächtnis/Gedenken müssen<br />

aber auch die verhandelten Inhalte und ‚alten‘ kategorisierten Diskursparameter<br />

wie ‚Opfer-/Täterzuschreibung‘, ‚Schuld‘, ‚Scham‘, ‚Wiedergutmachung‘, ‚Vergebung‘,<br />

‚Versöhnung‘ etc. auf ihre ‚Aktualität‘ und vor allem auf ihr ‚Passen‘ auf die<br />

junge Generation und ihre Gegenwartsdiskurse hin untersucht werden. Damit steht<br />

nichts weniger als die Sprache und das Sprechen über den <strong>Holocaust</strong> selbst im<br />

Zentrum der Modifizierung. Einiges scheint darauf hin zu deuten, dass die nach wie<br />

vor bestimmende Diskurssemantik mit ihren Begriffen von ‚Schuld‘, ‚Trauma‘,<br />

‚Erblast‘ etc. für die junge Generation und ihre Lebenswirklichkeit nicht mehr ganz<br />

zu ‚passen‘ scheint, zur leeren Worthülse verkommt bzw. einen semantischen „Eiertanz“<br />

provoziert:<br />

„‚Unbefangene‘ Begriffe gibt es hier nicht, statt <strong>des</strong>sen tragen alle in sich die Last der Geschichte<br />

[…]. Deshalb kommt je<strong>des</strong> Reden darüber einem Eiertanz gleich. Auf der einen Seite<br />

bekannte, z.T. noch immer gebräuchliche Begriffe, die aber durch die Geschichte problematisch<br />

geworden sind; auf der anderen Seite neu geschaffene Kunstwörter, die mehr bis minder<br />

mühsam versuchen, die wertenden Assoziationen abzustreifen und neutrale Bezeichnungen<br />

zu finden. Dazwischen ein hochsensibler Balance-Akt.“ 77<br />

An dieser Stelle muss konstatiert werden, dass nicht nur von einem Gedächtnisproblem<br />

aufgrund <strong>des</strong> Generations- und Gesellschaftswechsels, sondern auch von<br />

77 E. Beck-Gernsheim: Schwarze Juden und griechische Deutsche, S. 149 f.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 35<br />

einem Sprachproblem aufgrund der Übermacht sprachlich ‚dogmatischer‘ Diskurse<br />

und ‚festgezurrter‘, überdeterminierter <strong>Holocaust</strong>-Narrative auszugehen ist. Hier<br />

befindet sich schließlich das vierte und wichtigste Argument für die Transformation<br />

<strong>des</strong> Gedächtnisparadigmas. Auch wenn es immer wieder gegenteilige Äußerungen<br />

gibt, die behaupten, es gäbe keine Tabus mehr im Sprechen und in der Sprache über<br />

den <strong>Holocaust</strong> und den Nationalsozialismus, ist diese Freiheit wie schon einleitend<br />

bemerkt anzuzweifeln. Wir haben ein Sprachproblem.<br />

3. GENERATIONEN IM WANDEL<br />

Der Begriff ‚Generation‘ erfährt in der Gegenwartskultur eine enorme Popularität.<br />

In politischen, sozialen und ökonomischen Debatten werden Diskussionen über den<br />

‚Generationenvertrag‘, ‚Generationengerechtigkeit‘ oder den ‚Generation Gap‘<br />

zum Thema gemacht. Allen voran wissen vor allem die Popkultur und die Massenmedien<br />

die Generation als ‚Label‘ zu vermarkten, auch mit der Gefahr der Beliebigkeit<br />

oder in der Überdeterminiertheit <strong>des</strong> Begriffs als „Leerformel“. 78 Auch für<br />

die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit ist der Begriff der Generation<br />

zur wichtigen Kategorie avanciert, mehr noch, es entsteht unlängst der Eindruck,<br />

die gerade beschriebene „Gedächtniskonjunktur“ 79 in den Kultur-, Politik-,<br />

Geschichts- und Literaturwissenschaften der vergangenen 20 Jahre hätte im ersten<br />

Jahrzehnt <strong>des</strong> 21. Jahrhunderts den ursprünglichen Gegenstand, das Gedächtnis,<br />

verlassen und sich statt<strong>des</strong>sen der Generation als Untersuchungseinheit für Erinnerungsprozesse<br />

zugewandt. 80 Besonders für die Literaturwissenschaft haben sich die<br />

unterschiedlichen Generationen als fruchtbare Analysekategorien erwiesen, nicht<br />

zuletzt auch für die verschiedenen literarischen Genres der Erinnerungsliteratur –<br />

Augenzeugenberichte, Väterbücher, Familienromane. Für die exemplarischen Ana-<br />

78 Jureit, Ulrike: Generationenforschung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 19.<br />

79 Vgl. Nora, Pierre: „Gedächtniskonjunktur“, in: Transit 22 (2002), S. 18-31.<br />

80 U.a. verzeichnet Kaspar Maase einen „Generationsboom“: Maase, Kaspar: „Farbige Bescheidenheit:<br />

Anmerkungen zum postheroischen Generationenverständnis“, in: Jureit, Ulrike/Wildt,<br />

Michael (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriff,<br />

Hamburg: Hamburger Editionen 2005, S. 220-244, hier S. 222. Andreas Kraft<br />

und Mark Weisshaupt erkennen eine Überschneidung von Generationen- und Erinnerungsdiskurs:<br />

Kraft, Andreas/Weisshaupt, Mark: „Erfahrung – Erzählung – Identität und<br />

die ‚Grenzen <strong>des</strong> Verstehens‘: Überlegungen zum Generationenbegriff“, in: Kraft, Andreas/Weisshaupt,<br />

Mark (Hg.): Erfahrung – Erzählung – Identität und die „Grenzen <strong>des</strong><br />

Verstehens“: Überlegungen zum Generationenbegriff, Konstanz: UVK 2009, S. 17-49,<br />

hier S. 42.


36 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

lysen in dieser Studie wird die Generation, hier besonders die ‚junge Generation‘,<br />

von wesentlicher Bedeutung sein. Allerdings soll dabei ihre Bindung an das Generations-<br />

und Gedächtnisschema ebenso gelöst werden wie die natürliche Genealogie<br />

und statt<strong>des</strong>sen ihre Inszenierung als Medien-, Pop- „Delete“ 81 -Generation in den<br />

Fokus gestellt werden.<br />

Der Begriff ‚Generation‘ beinhaltet schon seit Karl Mannheims soziologischer<br />

Definition zweierlei Bezugsgrößen. 82 Zum einen erhalten Generationsmitglieder<br />

durch ihr „biologisches Setting“ 83 bestimmte Rahmungen und Voraussetzungen,<br />

welche durch Erbschaft und Tradierung Kontinuität erzeugen. 84 Zum anderen werden<br />

sie durch Prägung ihrer Lebenswirklichkeit und ihrer Altersgenossen erst zu<br />

einer Generation zusammengeschlossen bzw. inszenieren sich als eine Generation.<br />

Ein derartiges ‚Generationen-Konstrukt‘ zeigt sich in gewisser Weise typisch, das<br />

heißt, die Generation besitzt typische Eigenschaften wie einen ähnlichen, gemeinsamen<br />

Kommunikationsraum, kollektive Handlungsweisen etc. und ist damit nicht<br />

zuletzt durch eine gemeinsame Identität geprägt. Diese Identität gewinnt die Generation<br />

durch den Prozess der ‚Selbstthematisierung‘ und vermehrt durch Selbstinszenierung<br />

und bildet sich auf unterschiedlichen Ebenen bedeutsam heraus.<br />

Zu unterscheiden sind grundlegend politisch-gesellschaftliche und familiäre<br />

Generationen. Karl Mannheim hatte in seinen Ausführungen vor allem die Kategorie<br />

der politischen Generationen vor Augen, die sich z.T. in der Vorstellung politischer<br />

Eliten auflöst. Auch heute sind im allgemeinen Verständnis die ‚populärsten‘<br />

Generationen jene politischen wie die 68er-Generation, welche vielfach als die diskursbestimmende<br />

Generation <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts angesehen wird. Beide Phänomene<br />

der sozialen Generation, das auf natürlicher, familiärer Tradierung beruhende<br />

und das durch Erfahrungen und Selbstthematisierungen erzeugte, dienen dem hier<br />

zu entwickelnden Generationenkonzept als Grundlage, wobei sich klar der Schwerpunkt<br />

von der ‚Natürlichkeit‘ auf den Inszenierungscharakter von Generation, Identität<br />

und Gedächtnis verlagert.<br />

81 Carnaby, Penny: The Delete Generation. Citizen-created content, digital equity and the<br />

preservation of community memory. G Gorman public lecture: 2009.<br />

82 Mannheim, Karl: „Das Problem der Generationen“, in: Mannheim, Karl: Wissenssoziologie.<br />

Soziologische Texte 28, Neuwied: Luchterhand 1964 (1928).<br />

83 U. Jureit: Generationenforschung, S. 86.<br />

84 Vgl. Jureit, Ulrike: „Generationen als Erinnerungsgemeinschaften. Das ‚Denkmal für die<br />

ermordeten Juden Europas‘ als Generationsobjekt“, in: Jureit, Ulrike/Wildt, Michael<br />

(Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg:<br />

Hamburger Editionen 2005, S. 244-266, hier S. 251 f.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 37<br />

3.1 Der <strong>Holocaust</strong> und ‚seine‘ Generationen<br />

Mit dem <strong>Holocaust</strong> hat nicht nur eine Zäsur in der Zivilisation stattgefunden; ‚nach<br />

dem <strong>Holocaust</strong>‘ beginnt eine neue Zeitrechnung. Auch für die Generationenabfolge<br />

ist diese Signatur im wortwörtlichen Sinne entscheidend, da in ihrer Folge die Generationen<br />

überhaupt zähl- und erzählbar werden. Der <strong>Holocaust</strong> gibt für das gesamte<br />

20.- und bis ins 21. Jahrhundert hinein die Taktung der Generationenabfolge<br />

vor, die sich je nach der zeitlichen Nähe zum Ereignis in die Terminologie „erste“,<br />

„zweite“, „dritte“ Generation „nach dem <strong>Holocaust</strong>“ bringen lässt. Mit dem <strong>Holocaust</strong><br />

wird ein Nullpunkt bestimmt, die „Gründungsinstanz einer Abstammungslinie“<br />

85 gesetzt und von dieser ausgehend die nachfolgenden Generationen mit den<br />

entsprechenden nummeralischen Bezeichnungen versehen. Die ‚Generationen nach‘<br />

werden dadurch auch als generationelle ‚Schicksalsgemeinschaften‘ deklariert, deren<br />

gemeinsames, historisches Ereignis und Schicksal die Erfahrung <strong>des</strong> Zweiten<br />

Weltkriegs und <strong>des</strong> <strong>Holocaust</strong> ist.<br />

Die Kulturwissenschaft hat innerhalb dieser drei großen Generationen zusätzlich<br />

weitere ‚Untergenerationen‘ angelegt, die zum einen vom Zeitpunkt der Geburt,<br />

zum anderen von der damit verbundenen historischen Verantwortung abhängen.<br />

Auch Aleida Assmann führt in ihrer Abhandlung Geschichte im Gedächtnis<br />

(2007) insgesamt sieben historische Generationen <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts auf und teilt<br />

der Zeit nach 1945 grundsätzlich drei große ‚Nachkriegsgenerationen‘ zu, die sie in<br />

Anlehnung an die Semantik ‚erste, zweite, dritte Generation nach dem <strong>Holocaust</strong>‘<br />

an die Jahreszahlen 1945, 1968 und 1985 bindet.<br />

Die erste Generation, nach Assmann jene zwischen 1926-1929 geborene, ist<br />

diejenige, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche erlebt und überlebt<br />

hat und daher auch als Generation der Zeit- und Augenzeugen gilt. Die wohl<br />

unumstritten populärste und ebenso am meisten mythologisierte Generation der<br />

deutschen Nachkriegszeit ist die 68er-Generation, deren Angehörige, zwischen<br />

1940 und 1950 geboren, die Studentenunruhen der Jahre 1968/1969 aktiv miterlebt<br />

bzw. selbst mitbestimmt haben und sich bis in ihr heutiges höheres Alter hinein<br />

selbst unter dem Etikett der politisch aktiven, streitbaren ‚Revoluzzer‘ präsentieren.<br />

Die 68-Generation machte sich nach Kriegsende die Aufarbeitung <strong>des</strong> Zweiten<br />

Weltkriegs zum Thema und rebellierte offen gegen die ‚Verdrängungsmechanismen‘<br />

und das Schweigen der Elterngeneration, ihrer ‚Täter-Eltern‘. Diese z.T. aggressive<br />

Wendung gegen die Eltern, der Versuch einer „jungfräulichen Kopfgeburt<br />

85 Parnes, Ohad/Vedder, Ulrike/Willer, Stefan: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts-<br />

und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 307.


38 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

mit Trennung der Nabelschnur“ 86 und die „kollektive Selbstvergewisserung“ 87 <strong>des</strong><br />

‚Andersseins‘ macht einen Großteil der Popularität und <strong>des</strong> Mythos‘ der 68er-<br />

Generation aus. Keine andere Generation zuvor oder danach hat ihre Identität derartig<br />

offensiv inszeniert, behauptet und politisch und gesellschaftlich instrumentalisiert<br />

wie die 68er-Generation. Auch wenn aus heutiger Sicht einiges ihrer Wirkmacht<br />

als Mythos entlarvt scheint, halten die Angehörigen der Generation ihren<br />

‚Herrschaftsanspruch‘ vor allem in Bezug auf die Deutung und den Umgang mit der<br />

deutschen Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein aufrecht und inszenieren sich<br />

nicht selten als „moralische Elite“ 88 Deutschlands. Die Worte der 68er haben in den<br />

öffentlichen Debatten über die Vergangenheit und als Hüter der Political- und Memorial<br />

Correctness nach wie vor Gewicht. Die z.T. als absolut veranschlagte Deutungshoheit<br />

der 68er-Generation ist es, die sie immer wieder zu den Wort- und Debattenanführern<br />

macht, wenn es um den Umgang mit dem Nationalsozialismus und<br />

die vermeintlich ‚angemessene‘, ‚political- und memorial correcte‘ Auseinandersetzung<br />

mit dem <strong>Holocaust</strong> geht. Das Sprachproblem im <strong>Holocaust</strong>-Diskurs geht<br />

schließlich nicht zuletzt auch auf die Behauptung ihrer unanfechtbaren Sprecherposition<br />

als Generation der „Entronnenen“ zurück – eine Haltung, die auf Opferidentifizierung<br />

und höchsten, dabei umso fraglicheren, moralischen Anspruch referiert:<br />

„Sie [die 68er-Generation] fühlte sich – und inszenierte sich – als die Alterskohorte<br />

der ‚Entronnenen‘- und meinte, daraus das Privileg einer unangreifbaren Sprecherposition<br />

ableiten zu können.“ 89<br />

Nach der 68er-Generation betitelt Aleida Assmann recht lapidar als „Zwischengeneration“<br />

die 78er-Generation, die jedoch in anderen Abhandlungen durchaus<br />

einen dominanten Stellenwert im Generationsgefüge <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts erhält.<br />

Heinz Bude etwa hebt diese Generation als ganz besonders ‚geeignet‘ für eine Auseinandersetzung<br />

mit der deutschen Geschichte hervor, da sie genau in der Mitte<br />

zwischen der „befangenen Generation“ der 68er und der „unbefangenen Generati-<br />

86 Weigel, Sigrid: „Familienbande, Phantome und die Vergangenheitspolitik <strong>des</strong> Generationsdiskurses.<br />

Abwehr von und Sehnsucht nach Herkunft“, in: Jureit, Ulrike/Wildt, Michael<br />

(Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg:<br />

Hamburger Editionen 2005, S. 108-126, hier S. 123.<br />

87 U. Jureit: Generationen als Erinnerungsgemeinschaften, S. 258.<br />

88 U. Jureit: Generationen als Erinnerungsgemeinschaften, S. 257.<br />

89 Schneider, Christian: „Besichtigung eines ideologischen Affekts: Trauer als zentrale<br />

Metapher deutscher Erinnerungspolitik“, in: Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte<br />

Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart: Klett-Cotta 2010, S. 105-<br />

213, hier S. 166.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 39<br />

on“ ihrer Kinder angesiedelt ist. 90 Die unbefangene Kindergeneration der 68er wird<br />

bei Assmann die „85er-Generation“ genannt und umschreibt schließlich im Ansatz<br />

die Generation, die in dieser Arbeit als ‚junge Generation‘ an Bedeutung gewinnen<br />

soll. Die Angehörigen der 85er-Generation, zwischen etwa 1965 und 1980 geboren,<br />

sind die ersten, die „kriegsschadenfrei“ 91 aufgewachsen sind und ihre Sozialisation<br />

nicht im Nachkriegsdeutschland, sondern in den Wohlstandsjahrzehnten der 1980er<br />

und 1990er Jahre erfahren haben. Anders als die Generationen <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts<br />

vor ihr ist diese, als „dritte Generation nach dem <strong>Holocaust</strong>“ bekannte Generation<br />

nicht mehr unmittelbar durch die Ereignisse <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs geprägt und<br />

hat entsprechend nicht primär das eine, große historisches Ereignis zum Bezugspunkt<br />

ihrer Identität. Sie erfährt ihre Sozialisation und Prägung vor allem durch<br />

politische, gesellschaftliche und mediale Wandlungen sowie durch ein ausgeprägtes<br />

Krisenbewusstsein. Die Schlüsselerlebnisse dieser Generation sind vielfältig und<br />

von globaler Bedeutung; zu ihnen zählen das Ende <strong>des</strong> Kalten Krieges, der Mauerfall<br />

und die deutsche Wiedervereinigung, Tschernobyl, die Terroranschläge vom<br />

11. September 2001, AIDS und HIV, Migration, Konsum, Markenidentität und die<br />

neuen Medien. In ihrer Abgrenzung zu den älteren Generationen verhält sich diese<br />

Generation auf den ersten Blick weniger resolut – vor allem im direkten Vergleich<br />

mit der 68er-Generation. Auch ihre politische und öffentliche Wirkmacht zeigt sich<br />

zurückhaltend, besonders in der Behandlung der deutschen Vergangenheit. Die<br />

dritte Generation hat sich von dem „zersetzenden Aufklärungsdruck“ der 68er gelöst<br />

und bekennt sich eher zu einem „fröhlichen Hedonismus und selbstzentrierter<br />

Indifferenz“ 92 . Dennoch bleibt auch für diese Generation der Zweite Weltkrieg und<br />

der <strong>Holocaust</strong> als feste Größen ihres historischen Bewusstseins bestehen, jedoch<br />

nicht als primärer, normativ-identitärer Ausgangspunkt.<br />

Die dritte Generation wurde besonders seit den 1990er Jahren verstärkt im Zusammenhang<br />

von Erinnerung, <strong>Holocaust</strong>-Gedächtnis und transgenerationeller<br />

Traumatisierungen interdisziplinär untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass diese<br />

Generation trotz der zeitlichen Distanz zu den Ereignissen noch eine starke soziale<br />

Verankerung im Generationenverbund der ‚<strong>Holocaust</strong>-Generationen‘ besitzt und<br />

sich in die Chronologie ‚erste, zweite, dritte Generation nach <strong>Holocaust</strong> und Nationalsozialismus‘<br />

eingliedern lässt. Das historische Großereignis, welches in dieser<br />

Generation zwar nicht mehr selbst erlebt wurde, prägt dennoch ihre Mitglieder –<br />

dies sicherlich in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlicher Intention,<br />

wie unter anderem Harald Welzer in seiner Studie Opa war kein Nazi (2002) unter-<br />

90 Bude, Heinz: „Die Erinnerung der Generationen“, in: König, Helmut/Kohlstruck, Michael/Wöll,<br />

Andreas (Hg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende <strong>des</strong> zwanzigsten Jahrhunderts,<br />

Opladen: Westdeutscher <strong>Verlag</strong> 1998, S. 69-85, hier S. 85.<br />

91 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 64.<br />

92 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 64.


40 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

sucht. In politischen und öffentlichen Debatten zu diesen Themen tritt die dritte<br />

Generation hingegen nur selten in Erscheinung, was nicht unbedingt in einer allgemeinen<br />

Politik- oder Geschichtsverdrossenheit begründet liegt, sondern mitunter<br />

Resultat der erwähnten Sprecher-Dominanz der 68er-Generation ist. Die dritte Generation<br />

befindet sich in Bezug auf ihren Umgang mit dem <strong>Holocaust</strong> und der Verbundenheit<br />

mit den älteren Generationen sowie ihren Sprach- und Gedächtnisdiskursen<br />

in einer liminalen Situation, einer Schwellenposition. Einerseits erlebt sie<br />

noch die Augenzeugengeneration, ist in der Tradierungslinie und der familiären<br />

Erzählgemeinschaft gerade noch verankert, andererseits verlieren diese Bezüge an<br />

identitärer Kraft, sie werden elastisch oder drohen als ‚Gedächtnisstrang‘ gar abzureißen.<br />

Die ‚Last der Vergangenheit‘ tragen sie zwar nach wie vor in ihrem Bewusstsein;<br />

gleichzeitig aber erwacht eine primär sprachlich behauptete Emanzipation,<br />

sich selbst und ihre Generation zumin<strong>des</strong>t als das zu inszenieren, was sie de<br />

facto sind: unbeteiligt und schuldlos.<br />

3.2 Die junge Generation<br />

Trendforscher, Werber wie auch Generationenforscher rufen geradewegs saisonal<br />

immer wieder neue, mit wohlklingenden und sprechenden Namen versehene Generationen<br />

aus wie ‚Generation Ally‘, ‚Generation Golf‘, ‚Generation Praktikum‘ oder<br />

‚Generation X‘, um hier nur einige zu nennen. Dabei scheint es, als habe sich „das<br />

Begriffsfeld Generation […] von lebenden, menschlichen Generationen auf die<br />

technischen Geräte und medialen Generationen ausgeweitet“ 93 – und von denen gibt<br />

es gegenwärtig unbestritten viele.<br />

Da der Begriff der jungen Generation für diese Arbeit <strong>des</strong>kriptiv Verwendung<br />

findet, ist unter ihm im Folgenden primär jene Gruppe der Bevölkerung zu fassen,<br />

deren Merkmale Aleida Assmanns oben genannter 85er-Generation entsprechen<br />

und der nun weitere Charakterisierungen zukommen sollen. 94 Die besonderen<br />

93 Zinnecker, Jürgen: „‚Das Problem der Generationen‘. Überlegungen zu Karl Mannheims<br />

kanonischen Text“, in: Parnes, Ohad/Vedder, Ulrike/Willer, Stefan (Hg.): Das Konzept<br />

der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp<br />

2008, S. 33-59, hier S. 51.<br />

94 Bei Aleida Assmann ist im Begriff der „85er-Generation“ die „dritte Generation“ mit<br />

intendiert. Unter dem Begriff der ‚jungen Generation‘ ist nach diesem Schema die dritte<br />

bis vierte, wenn es um die ‚Digital Natives‘ geht, auch die fünfte Generation nach dem<br />

<strong>Holocaust</strong> gemeint. Nachfolgend wird im Wesentlichen diese Terminologie der ‚jungen<br />

Generation‘ verwendet, sofern es um eigene Herleitungen geht. In Bezugnahmen oder der<br />

Zitation anderer Theorien/Texte alterieren die Begriffe der ‚dritten Generation‘ bzw.<br />

‚vierten Generation‘.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 41<br />

Merkmale gilt es herauszustellen, um die so identifizierbare Gruppe später sowohl<br />

als Produzentin als auch als Adressatin in den Fokus der exemplarischen Analysen<br />

zu stellen und der Frage nachzugehen: Wohin bewegt sich die Gesellschaft? Welches<br />

sind mögliche Bestimmungs- und Bezugsgrößen dieser jungen Generation?<br />

Welche Ereignisse haben sie geprägt? Welche Vorbilder und Identifikationsobjekte<br />

haben sie? Schließlich und wesentlich: Welche Rolle spielen Nationalsozialismus<br />

und <strong>Holocaust</strong> in ihrem Gegenwartsraum?<br />

Die Gegenwart der jungen Generation in den westlichen Ländern ist seit etwa<br />

20 Jahren stark durch zwei Einflüsse geprägt: Medialisierung und Globalisierung,<br />

beide inklusive ihrer vielfältigen Meta- und Subdiskurse. Nicht umsonst wird sie<br />

häufig als „Mediengeneration“ 95 bezeichnet und ist besonders durch subkulturelle<br />

Identitätsmerkmale wie Mode, Musik oder Medien geprägt, welche ein hohes Identifikationspotential<br />

bergen und darüber deutliche Zeichen der Abgrenzung zu der<br />

Elterngeneration herstellen. 96 Medienereignisse lösen in dieser Generation zunehmend<br />

die historischen Ereignisse ab und ihre Identität erwächst im Wesentlichen<br />

aus medialen, statt aus historisch-politischen Erfahrungen. Die Medien markieren,<br />

charakterisieren und interpretieren die Generationen und der Generationswechsel<br />

wird zukünftig mehr und mehr von der Beschleunigung der Medienentwicklung<br />

vorgegeben. 97 Besonders die neuen Kommunikationsmedien spielen eine entscheidende<br />

Rolle in der Entwicklung eines „sozialisationsorientierten“ Raumes, in welchem<br />

Persönlichkeitsmerkmale und Trends Identitätszuschreibungen erhalten. 98<br />

Dieser Raum zeigt sich durch die „kleinen Dinge <strong>des</strong> Konsumalltags“ 99 geprägt, zu<br />

denen nicht nur Aspekte der sogenannten Hochkultur zählen, sondern gerade auch<br />

verschiedene Subkulturen identifikatorische Geltung erlangen. Eine dieser Subkulturen,<br />

die jedoch mittlerweile einen Anspruch auf Mainstream deklariert, wird im<br />

Folgenden noch besondere Bedeutung erhalten: die Popkultur.<br />

Seit mehreren Jahrzehnten lebt die Bevölkerung in Deutschland ohne Krieg und<br />

auch wenn es an bedrohlichen und krisenhaften Ereignissen nicht mangelt, hat die<br />

junge Generation heute keine auch nur annähernd ähnlichen Erfahrungen gemacht<br />

wie die Generation ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Die Mannheim’sche<br />

95 Hörisch, Jochen (Hg.): Mediengenerationen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997.<br />

96 Für die heutige Generation der 20- bis 30-Jährigen ist beispielsweise der Umgang mit den<br />

neuesten Kommunikationsmedien wie Facebook oder Twitter selbstverständlich. Höhere<br />

Altersstufen sind zwar noch mit SMS und der E-Mail vertraut, können aber an vielen ‚digitalen<br />

Kommunikationsformen‘ der jüngeren nicht mehr teilnehmen. Dies kann eine<br />

‚mediale Abgrenzung‘ bewirken, die als Folge <strong>des</strong> Medien- und Generationswechsels zu<br />

sehen ist.<br />

97 S. Weigel: Familienbande, Phantome und die Vergangenheitspolitik, S. 115.<br />

98 Vgl. K. Maase: Farbige Bescheidenheit, S. 223.<br />

99 Vgl. J. Zinnecker: Das Problem der Generationen, S. 53.


42 I NEUVERHANDLUNGEN DES HOLOCAUST<br />

Theorie, dass sich Generationen durch die gemeinsame Teilhabe an einschneidenden<br />

historischen (Kriegs-)Erlebnissen bilden, ist in dieser Eindringlichkeit als Maßgabe<br />

für die junge Generation nicht aufrechtzuerhalten. Sucht man dennoch nach<br />

einem zentralen historischen Ereignis für die junge Generation, dann lässt sich dieses<br />

auf deutschem Boden in der Deutschen Wiedervereinigung finden, auf globaler<br />

Ebene sind dies die Terroranschläge vom 11. September 2001 und ihre Folgen.<br />

Doch auch wenn die Politik- und Geschichtswissenschaft in den Jahren 1989/90<br />

eine deutliche Zäsur ausmacht, ist dieses Ereignis, an dem die Angehörigen der<br />

jungen Generation doch eher als „Zaungäste“ 100 beteiligt waren, nur mit Mühe als<br />

‚identitätssichernd‘ zu veranschlagen.<br />

„Trotz der Schattenseiten der 68er-Bewegung hat die Teilnahme an Protestaktionen und Diskussion<br />

[…] eine generationsspezifische Erfahrung vermittelt, die […] zum letzten Mal die<br />

Kraft zur Prägung einer politischen Generation besaß. Alle späteren Konstruktionen einer<br />

‚Generation Golf‘ oder einer ‚Generation Reform‘ sind im Vergleich damit literarische<br />

Kunstprodukte, deren soziales Substrat nicht herbeigeschrieben werden kann.“ 101<br />

Das „identitätspolitische Konzept“ 102 einer Generation als jahrgangsverwandte Kohorte,<br />

deren ähnliche Biographie durch ein bestimmtes, katastrophales, historisches<br />

Erlebnis geformt wurde, gerät also spätestens mit der jungen Generation an seine<br />

Grenzen. Identität wird in der jungen Generation weniger durch die innere Auseinandersetzung<br />

mit der (eigenen) Vergangenheit konstituiert. Nicht die historische<br />

Erfahrung, sondern Erlebnisse eines gegenwärtigen Lebensgefühls fingieren neue<br />

Deutungs- und Identifikationsangebote, welche vor allem durch die Medien, Werbung<br />

und subkulturelle Merkmale bestimmt sind und über Teilhabe und Kommunikation<br />

„Generation Building“ 103 ermöglichen. Generationen entstehen nicht, sie<br />

werden anhand von überwiegend äußeren, subjektiven Merkmalen gemacht. 104 Die<br />

Inszenierung der jungen Generation, auch unter den oben von Wehler monierten<br />

Merkmalen als „literarische Kunstprodukte“, in die „soziales Substrat“ hineinge-<br />

100 Leggewie, Claus: „Generationsschichten und Erinnerungskulturen – Zur Historisierung<br />

der ‚alten‘ Bun<strong>des</strong>republik“, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXVIII<br />

(1999), S. 211-237, hier S. 227.<br />

101 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990. Fünfter Band:<br />

Bun<strong>des</strong>republik und DDR, Bonn: Bun<strong>des</strong>zentrale für politische Bildung 2009, S. 191.<br />

102 Weigel, Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund<br />

Naturwissenschaften, München: Wilhelm Fink 2006, S. 95.<br />

103 U. Jureit: Generationenforschung, S. 16 f.<br />

104 Vgl. Bohnenkamp, Björn: Doing Generation. Zur Inszenierung generationeller Gemeinschaft<br />

in deutschsprachigen Schriftmedien, Bielefeld: <strong>transcript</strong> 2011.


BESTAND UND TRANSFORMATION I 43<br />

schrieben wird, bildet sich literarisch besonders eindrücklich in den Generationenund<br />

Pop-Romanen ab. Marken, Etiketten oder auch personale Identifikationsobjekte<br />

werden dort schon im Titel als besonderes generationsstiften<strong>des</strong> Potential ausgewiesen,<br />

wie ‚Generation Golf‘ und ‚Generation Ally‘ deutlich machen.<br />

Neben einer prägenden Medien- und Sozialkultur, welche den natürlichen Alltagsraum<br />

der jungen Generation bestellt – die Jüngsten der jungen Generation werden<br />

nicht umsonst als „Digital Natives“ 105 bezeichnet –, bestimmt auch ein globales<br />

Krisenbewusstsein sowie deutliche multikulturelle Einflüsse das soziale Umfeld, in<br />

dem sich Generationen heute inszenieren. Die junge Generation wächst in sehr heterogenen,<br />

individuellen Milieus auf, die stärker als die familiären oder politischen<br />

Generationenverbunde der Vergangenheit eine soziale Verortung markieren. 106 Sie<br />

ist kulturell und ethnisch vielfältig zusammengesetzt und damit eher als das Oxymoron<br />

einer ‚hybriden Einheit‘ denn als eine fest abzugrenzende Entität zu bezeichnen.<br />

Mit der „Ausdünnung“ von Großmilieus und der Entstehung unterschiedlicher<br />

„Szenen“ wird das soziale Umfeld der Jungen immer heterogener und das<br />

„Patchwork der Identitätsbildung wird kleinteiliger“. 107 Besonders durch diese Faktoren,<br />

die nicht zuletzt Folgen von Globalisierung und Migration sind, lassen sich<br />

Generationenidentitäten per se nicht mehr unmittelbar durch ein gemeinsam geteiltes<br />

historisches oder politisches Urereignis bestimmen, sie werden vielmehr unabhängiger<br />

von ihnen. Menschen aus unterschiedlichen Ländern besitzen, auch wenn<br />

sie in die gleiche Zeit hinein geboren wurden, oft völlig unterschiedliche historische,<br />

soziale und kulturelle Prägungen, von den familiären ganz zu schweigen,<br />

wodurch die Frage berechtigt scheint, ob überhaupt von der einen jungen Generation<br />

und damit einer gewissen Positionierung im Generationen- und auch Gedächtnisdiskurs<br />

gesprochen werden kann oder ob hier nicht vielmehr die mediale Konstruktivität<br />

und Inszenierung ihre Konturen und Geschichten bestimmt 108 . Diese<br />

Perspektive gilt es weiter zu verfolgen.<br />

105 Prensky, Mark: „Digital Natives, Digital Immigrants“, in: On the Horizon, Vol. 9 No. 5<br />

(2001).<br />

106 Vgl. J. Zinnecker: Das Problem der Generationen, S. 49 f.<br />

107 K. Maase: Farbige Bescheidenheit, S. 241.<br />

108 Vgl. A. Kraft/M. Weißhaupt: Erfahrung – Erzählung – Identität, S. 24. May, Christina:<br />

„Rentnerkohorten und soziale Ungleichheit. Fakt und Fiktion generationeller Prägungen<br />

im Wohlfahrtsstatt“, in: Bohnenkamp, Björn/Mannig, Till/Silies, Eva-Maria (Hg.): Generation<br />

als Erzählung, Göttingen: Wallstein 2009, S. 226-242.

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