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Fantasy Fiction Leseprobe "Der Fluss des Lebens"

Eines Tages laufen sich Anja und Nick scheinbar rein zufällig über den Weg. Von diesem Moment an ist für die beiden nichts mehr so, wie es einmal war. Eine Reihe von äußerst seltsamen Begegnungen führt die zwei jungen Leute rund um den Globus und verwickelt sie in die unglaublichsten Abenteuer. Ihre Aufgabe besteht unter anderem darin, sich dem Fluss des Lebens vertrauensvoll hinzugeben, anstatt immer alles krampfhaft kontrollieren zu wollen. Wie sie bald feststellen, kann das Schicksal nur bis zu einem bestimmten Grad beeinflusst werden. Oder etwa doch nicht ...? - „Ein Meisterwerk an Schönheit und Tränen ist die Welt.“ (Roger Kappeler aus „Der Fluss des Lebens“) - Taschenbuch, 300 Seiten, auch als eBook bei Amazon erhältlich.

Eines Tages laufen sich Anja und Nick scheinbar rein zufällig über den Weg. Von diesem Moment an ist für die beiden nichts mehr so, wie es einmal war. Eine Reihe von äußerst seltsamen Begegnungen führt die zwei jungen Leute rund um den Globus und verwickelt sie in die unglaublichsten Abenteuer. Ihre Aufgabe besteht unter anderem darin, sich dem Fluss des Lebens vertrauensvoll hinzugeben, anstatt immer alles krampfhaft kontrollieren zu wollen. Wie sie bald feststellen, kann das Schicksal nur bis zu einem bestimmten Grad beeinflusst werden. Oder etwa doch nicht ...? - „Ein Meisterwerk an Schönheit und Tränen ist die Welt.“ (Roger Kappeler aus „Der Fluss des Lebens“) - Taschenbuch, 300 Seiten, auch als eBook bei Amazon erhältlich.

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

<strong>Der</strong> <strong>Fluss</strong> <strong>des</strong> Lebens<br />

Roger Kappeler<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

<strong>Leseprobe</strong><br />

<strong>Der</strong> <strong>Fluss</strong> <strong>des</strong> Lebens<br />

Roger Kappeler<br />

2. Auflage<br />

Korrektorat & Layout: Petra Schmidt, www.lektorat-ps.com<br />

Covergestaltung: H.-S. Damaschke, www.sheep-black.com<br />

Title page by Josephine Wall, www.josephinewall.co.uk<br />

Verlag: Create Space Independent Publishing Platform<br />

© 2014 by Roger Kappeler, Embrach (CH)<br />

www.rogerkappeler.ch<br />

Die Buch- und Cover-Rechte liegen beim Autor.<br />

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise – ist nur mit<br />

ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung <strong>des</strong> Autors gestattet. Alle<br />

Rechte, auch die der Übersetzung <strong>des</strong> Werkes, liegen beim Autor. Zuwiderhandlung<br />

ist strafbar und verpflichtet zu Schadenersatz.<br />

<strong>Der</strong> Dank <strong>des</strong> Autors geht an Frau Petra Schmidt, ohne deren Hilfe<br />

die 2. Auflage in dieser Form nicht möglich gewesen wäre.<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

Ein Meisterwerk an Schönheit und Tränen ist die Welt.<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

<strong>Der</strong> seltsame Nick<br />

Nick war ein scheinbar ganz normaler Mensch, der sein Leben<br />

auf ebenso unspektakuläre Weise verbrachte wie die meisten seiner<br />

Zeitgenossen auch. Es plätscherte einfach so dahin – Tag für<br />

Tag, Jahr für Jahr. Doch irgendetwas an diesem Mann Mitte dreißig<br />

war seltsam, äußerst seltsam sogar. Nick wusste selbst nicht<br />

genau, was ihm eigentlich fehlte, sodass er eines schönen Tages<br />

einen Psychiater aufsuchte.<br />

„Ich fühle mich in letzter Zeit so unerklärlich seltsam“, vertraute<br />

Nick dem Therapeuten an. „Mein ganzes Leben kommt<br />

mir plötzlich so unrealistisch vor. Manchmal denke ich, dass ich<br />

bloß eine machtlose Marionette bin, die nach dem Willen eines<br />

unsichtbaren Strippenziehers herumhampelt. Oder einfach nur<br />

eine erfundene Figur aus irgendeinem verrückten Buch. Können<br />

Sie mir weiterhelfen?“<br />

<strong>Der</strong> Psychiater zuckte nur mit den Schultern, während er<br />

gleichmütig antwortete:<br />

„Wer weiß, vielleicht sind wir ja alle bloß erfundene Figuren in<br />

einem gigantischen Puppentheater. Schließlich ist das Leben<br />

nichts weiter als eine Illusion, ein verrückter Traum, ein dreidimensionales<br />

Hologramm, wenn Sie so wollen. Verstehen Sie?“<br />

„Äh, nein, tut mir leid“, entgegnete Nick verwirrt, „ich habe<br />

keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“<br />

„Alles halb so wild. Denken Sie in Ruhe darüber nach, schlucken<br />

schön brav die verschriebenen Pillen und kommen Sie in<br />

vier Wochen nochmals vorbei. Die Rechnung für die Beratung<br />

schicke ich Ihnen nach Hause.“<br />

Murrend packte Nick die Schachteln mit den Medikamenten<br />

ein. Irgendwie fühlte er sich wieder einmal ziemlich verarscht.<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

„Vielen Dank für Ihre weisen Ratschläge“, brummelte er beim<br />

Hinausgehen. „Jetzt geht es mir wirklich viel besser als vor der<br />

Sitzung.“<br />

Die seltsame Anja<br />

Zur selben Zeit, im selben Gebäude, zwei Etagen tiefer. Eine<br />

hübsche Frau Mitte dreißig befand sich gerade bei ihrer alljährlichen<br />

ärztlichen Untersuchung. Obwohl sie gemäß ihrer Ärztin<br />

kerngesund war, fühlte sich Anja schon seit einiger Zeit seltsam,<br />

äußerst seltsam sogar.<br />

„Manchmal fühle ich mich so abgeschnitten und isoliert vom<br />

Leben, als wäre ein Teil von mir bereits abgestorben“, klagte Anja<br />

besorgt. „Ich funktioniere nur noch rein mechanisch, fast wie ein<br />

Roboter.“<br />

Die Ärztin musterte sie mit treuherzigem Blick.<br />

„Machen Sie sich keine Sorgen, das wird schon wieder“, antwortete<br />

sie gleichmütig, während sie routinemäßig eine Hand voll<br />

Schachteln mit irgendwelchen Pillen aus dem Schrank klaubte.<br />

„Diese Medikamente werden Ihnen helfen. Nehmen Sie von jetzt<br />

an dreimal täglich je eine Tablette von jeder Packung. Wir sehen<br />

uns dann in vier Wochen wieder. Die Rechnung für die Beratung<br />

schicke ich Ihnen wie üblich nach Hause.“<br />

Anja nahm die vermeintliche Medizin wortlos entgegen und<br />

verabschiedete sich zähneknirschend. Es war absolut zwecklos,<br />

mit ihrer Ärztin über ihre Probleme reden zu wollen. Sie verstand<br />

offensichtlich nur die für Normalsterbliche unverständliche Fachsprache,<br />

die vorwiegend aus einer Abfolge von medizinischen Begriffen<br />

bestand. Dafür gab es in ihrer klinischen Welt für je<strong>des</strong><br />

Wehwehchen die passende Medizin in Form von Pillen und Pül-<br />

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verchen. Von ganzheitlichen Zusammenhängen hatte die gute<br />

Frau offenbar noch nie etwas gehört. Aber mit solchem Humbug<br />

konnte man schließlich auch kein Geld verdienen und außerdem<br />

war das auch gar nicht im Sinn der Pharmaindustrie.<br />

Ein seltsamer Zufall<br />

Frustriert verließ Anja die Praxis, sie fühlte sich jetzt noch mieser<br />

als zuvor. Gedankenverloren wartete sie im Treppenhaus auf den<br />

Fahrstuhl, und als sich die Tür endlich öffnete, rempelte sie aus<br />

Versehen einen Mann im Fahrstuhl an, der min<strong>des</strong>tens ebenso<br />

betrübt aus der Wäsche guckte wie sie selbst.<br />

„Oh, entschuldigen Sie bitte“, murmelte Anja verlegen, der bei<br />

diesem unglücklichen Zusammenstoß sämtliche Tablettenpackungen<br />

aus den Händen geschleudert worden und rumpelnd<br />

zu Boden geprasselt waren. Darauf bückten sich beide<br />

gleichzeitig, um die verstreuten Schachteln aufzuheben, wobei ihre<br />

Köpfe mit einem krachenden Geräusch zusammenprallten.<br />

„Verflixt noch mal“, jammerte Anja genervt, „heute läuft aber<br />

auch wirklich alles schief.“<br />

<strong>Der</strong> Mann schaute sie einen Augenblick lang schweigend an,<br />

dann musste er plötzlich laut lachen.<br />

„Wem sagen Sie das?“, platzte es aus ihm heraus. „Manchmal<br />

könnte man meinen, das ganze verflixte Leben läuft irgendwie<br />

schief.“<br />

Anja musterte den eigenartigen Mann leicht irritiert, dann<br />

musste auch sie plötzlich grinsen. So knieten die beiden lachend<br />

auf dem mit diversen Medikamentenschachteln übersäten Boden<br />

<strong>des</strong> Fahrstuhls, bis sich die Tür im Erdgeschoss öffnete. Draußen<br />

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auf dem Flur standen zwei ältere Damen, die das skurrile Szenario<br />

mit großen Augen beobachteten.<br />

„Ich wusste gar nicht, dass Fahrstuhl fahren so lustig sein<br />

kann“, räusperte sich die eine Dame.<br />

Erst jetzt realisierten Anja und der fremde Mann, dass sie bereits<br />

im Erdgeschoss angelangt waren und gerade wie zwei exotische<br />

Tiere im Zoo begafft wurden.<br />

„Fahrstuhl fahren kann sogar extrem lustig sein“, entgegnete<br />

Anja keck, „vor allem, wenn man sich dabei gegenseitig die Köpfe<br />

einschlägt.“<br />

Die beiden schlenderten vergnügt hinaus, während ihnen die<br />

beiden Frauen kopfschüttelnd hinterher schauten. Draußen auf<br />

der Straße streckte der sportliche Typ der unbekannten Schönheit<br />

kameradschaftlich die Hand entgegen.<br />

„Ich heiße übrigens Nick“, stellte er sich höflich vor. „Diese<br />

zufällige Episode von vorhin hat mich ganz schön aufgeheitert.“<br />

„Mich auch“, lächelte Anja charmant und schlug in den kräftigen<br />

Händedruck ein. „Ich heiße Anja. Und so etwas wie zufällige<br />

Episoden gibt es übrigens nicht.“ Nick wollte gerade etwas erwidern,<br />

aber in diesem Moment fuhr der Bus vor und Anja stieg ein.<br />

„Tut mir leid, Nick, aber ich muss unbedingt diesen Bus erwischen,<br />

denn in zehn Minuten habe ich einen wichtigen Termin, den ich<br />

auf keinen Fall verpassen darf!“, rief sie ihm eilig zu und verabschiedete<br />

sich mit einer Kusshand sowie einem überirdisch zauberhaften<br />

Lächeln. Daraufhin entschwand ihre anmutige Silhouette in<br />

der Menschenmenge der anderen Fahrgäste und kurz darauf brauste<br />

der Bus davon.<br />

„He, Moment mal …, Anja …, Anja“, stammelte Nick völlig<br />

überrumpelt, während er dem abfahrenden Bus einige Schritte<br />

hinterher rannte.<br />

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Anja schaute nochmals aus dem Fenster, wobei sich ihre Blicke<br />

für einen kurzen Moment trafen. Dieser Blick kam Nick irgendwie<br />

vertraut vor. Wo hatte er den nur schon gesehen? Wie<br />

angewurzelt blieb er stehen, während sich der gegenwärtige Augenblick<br />

in einem undefinierbaren, milchigen Nebelschleier auflöste.<br />

Im Geiste drehte Nick das Rad der Zeit zurück bis in seine<br />

Kindheit. Bei dieser mentalen Zeitreise war ihm der eindringliche<br />

letzte Blick von Anja so präsent, dass ihn <strong>des</strong>sen unbeschreibliche<br />

Strahlkraft wie ein Leitstern in längst vergessene Ereignisse zurückführte.<br />

Wer bist du? Woher kennen wir uns?, fragte er sich in Gedanken<br />

abermals, während er wie in Trance zur Bushaltestelle zurücktaumelte.<br />

Ein kurzes Hupen holte ihn abrupt wieder in die<br />

Realität zurück.<br />

„Wollen Sie einsteigen oder nicht?“, rief ihm der Busfahrer<br />

ungeduldig zu.<br />

Nick schüttelte verneinend den Kopf, dann schaute er auf<br />

dem Fahrplan nach, in welchem Zeitabstand die Busse fuhren.<br />

Wow, ich habe volle acht Minuten hier gestanden und vor mich hin geträumt,<br />

ging es ihm durch den Kopf. Keine schlechte Leistung. Man hätte mich<br />

vermutlich ausrauben können, ohne dass ich es mitgekriegt hätte. Instinktiv<br />

fasste sich Nick an die hintere Hosentasche und stellte verwundert<br />

fest, dass seine Brieftasche tatsächlich verschwunden war.<br />

„Sehr witzig“, brummelte er leise vor sich hin, „das Leben ist<br />

manchmal wirklich außerordentlich witzig. Was passiert wohl als<br />

nächstes? Wahrscheinlich landet ein Flugzeug auf meinem linken<br />

Fuß oder ein aus dem Zoo entlaufenes Krokodil beißt mir den<br />

Kopf ab.“<br />

Seufzend schlenderte Nick die Straße entlang, während er gedankenverloren<br />

irgendeine Melodie vor sich hin summte.<br />

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Rückblende Nick<br />

„Wir Menschen werden als Sünder geboren, und wenn wir die<br />

von Gott aufgestellten Gebote und Gesetze nicht befolgen, dann<br />

schickt er uns zur Bestrafung in das ewige Fegefeuer. So steht es<br />

in den heiligen Schriften geschrieben“, beendete mit diesen Worten<br />

der Religionslehrer den heutigen Unterricht.<br />

Wieder einmal war es ihm hervorragend gelungen, sämtliche<br />

Schüler im Kin<strong>des</strong>alter in Angst und Schrecken vor einem<br />

scheinbar rachsüchtigen, zornigen Gott zu versetzen. Einer dieser<br />

Schüler hieß Nick. Tief in seinem Herzen fühlte er deutlich, dass<br />

diese niederschmetternden, lähmenden Worte nicht der Wahrheit<br />

entsprechen konnten. Obwohl Nick lediglich ein unwissen<strong>des</strong><br />

Kind war, lösten die wöchentlichen Predigten im Religionsunterricht<br />

allmählich einen kritischen Denkprozess in ihm aus, der wie<br />

eine ins Tal rollende Lawine immer größer und schwerer wurde.<br />

Eines Tages, als die Lawine beziehungsweise sein Unmut groß<br />

genug war, fing Nick an, den Unterricht regelmäßig zu schwänzen.<br />

Er dachte sich, dass dem lieben Gott das ewige Gejammere<br />

auf der Erde vermutlich sowieso ziemlich auf den Keks gehen<br />

würde. Anstatt ständig angefleht und angebettelt zu werden, wäre<br />

es ihm sicher lieber, wenn die Menschen endlich selbstständig<br />

dachten und aufrecht wie junge Götter durch das Leben gingen.<br />

Aus diesem Grund beschloss Nick, seine Zeit lieber in der freien<br />

Natur zu verbringen, anstatt sie im Religionsunterricht zu verplempern.<br />

z<br />

Eines Nachmittags, als der mittlerweile elfjährige Nick wieder<br />

einmal die Schule schwänzte und ziellos durch die Gegend schlenderte,<br />

traf er zufällig auf eine Gruppe älterer Schüler. Den Jugendlichen<br />

haftete der Ruf an, eine flegelhafte Horde gewalttätiger Halb-<br />

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starker zu sein, welche die ganze Gegend terrorisierten. Nick beobachtete<br />

die Rasselbande aus den Augenwinkeln, während er versuchte,<br />

sich so unauffällig wie möglich aus dem Staub zu machen.<br />

Gerade als er glaubte, aus dem Blickfeld der Rowdies verschwunden<br />

zu sein, hörte er eine laute Stimme hinter sich rufen:<br />

„He, du da! Wieso bist du nicht in der Schule?“<br />

Nick spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er tat so,<br />

als hätte er nichts gehört und lief eilig weiter, doch der Anführer<br />

der Bande ließ sich nicht so einfach abwimmeln. Mit seinem Moped<br />

fuhr er hinter Nick her und schubste ihn im Vorbeifahren mit<br />

einem gezielten Fußtritt ins Gebüsch. Die anderen sieben oder<br />

acht Jugendlichen grölten laut und klatschten vor Schadenfreude<br />

in die Hände.<br />

Nick lag in<strong>des</strong>sen reglos im Gebüsch, starr vor Schreck. Plötzlich<br />

packte ihn eine Hand und zerrte den verstörten Jungen aus<br />

dem Gestrüpp.<br />

„Na, wie hat dir mein Karate-Kick gefallen?“, sagte der Anführer<br />

und lachte fies.<br />

„Das war …, das war wirklich ganz große Klasse“, stotterte<br />

Nick zitternd.<br />

„Sehr gut, das wollte ich hören“, erwiderte der Grobian triumphierend.<br />

„Eines Tages wird die ganze Welt vor Sven dem Großen<br />

erzittern. Komm mit, du Zwerg, ich werde dich meinen Kumpels<br />

vorstellen.“<br />

Wortlos trottete Nick dem Anführer hinterher wie ein Tier,<br />

das soeben zur Schlachtbank geführt wird.<br />

„Hey Leute, seht mal, was ich da im Gebüsch gefunden habe“,<br />

polterte Sven. „Unser junger Freund hier scheint aber nicht sehr<br />

gesprächig zu sein. Gebt ihm doch eine Zigarette, das wird ihn<br />

vielleicht ein wenig auflockern.“<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

Einer der Halbstarken kramte eine zerknitterte Packung Zigaretten<br />

aus seiner Tasche und steckte eine davon in Nicks Mund.<br />

<strong>Der</strong> drehte den Kopf angewidert zur Seite.<br />

„Pfui Teufel, ich will nicht rauchen“, versuchte er sich zu wehren,<br />

„das ist doch ekelhaft. Und außerdem bin ich erst elf.“<br />

„Ach, halt die Klappe, du Muttersöhnchen. Mit elf haben wir<br />

schon geraucht und Bier getrunken wie die Weltmeister“, prahlte<br />

der andere Hohlkopf.<br />

Sie hielten Nick zu zweit fest und zwangen ihn, die Zigarette<br />

mittels Lungenzügen zu rauchen. Doch bereits nach ungefähr einer<br />

Minute bekam Nick einen Hustenanfall und musste sich beinahe<br />

übergeben.<br />

„Du hast den Eintrittstest für unsere elitäre Bruderschaft leider<br />

nicht bestanden“, meinte Sven sarkastisch, „aber keine Angst,<br />

wir werden es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen.<br />

Vielleicht bist du bis dann ein richtiger Mann – so wie wir –<br />

und kein heulen<strong>des</strong> Weichei mehr.“<br />

Daraufhin mussten alle lachen, außer Nick natürlich, in <strong>des</strong>sen<br />

Hirn sich dieses demütigende Erlebnis für immer und ewig eingebrannt<br />

hatte. Schließlich brausten die rüpelhaften Jungs mit ihren<br />

Motorrädern grölend davon, während Nick noch eine Weile lang<br />

alleine in der schmalen Seitenstraße stehen blieb.<br />

z<br />

Nachdem er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, schlich er<br />

auf leisen Sohlen davon wie ein getretener Hund. Tränen liefen<br />

ihm die Wangen hinunter, bittere Tränen <strong>des</strong> emotionalen<br />

Schmerzes. <strong>Der</strong> Schmerz verwandelte sich schließlich in unbändige<br />

Wut, ehe dieses alles zermalmende Gefühl in puren Hass ausartete.<br />

Zum ersten Mal in seinem jungen Leben spürte Nick die-<br />

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ses zerstörerische Hassgefühl gegen die Welt, die Menschen und<br />

letztendlich gegen sich selber.<br />

Wieso ist das ausgerechnet mir passiert? Warum hat mir Gott nicht geholfen?<br />

Wieso habe ich mich nicht gewehrt? Solche und noch unzählige<br />

andere Fragen stiegen in seinem Geist auf. In dieser dunklen<br />

Stunde veränderte sich einiges in Nicks bisher kindlich naivem<br />

Weltbild. Er schwor sich, dass er sich zukünftig für die Armen,<br />

Schwachen und Unterdrückten einsetzen wollte – wenn es sein<br />

musste, auch mit Gewalt. Damals konnte er natürlich noch nicht<br />

wissen, dass man mit Gewalt keine Probleme löste, sondern lediglich<br />

neue, noch größere schaffte.<br />

Immer noch außer sich vor Wut trat Nick gegen einen zufällig<br />

am Boden herumliegenden Stein und eine Sekunde später riss ihn<br />

ein klirren<strong>des</strong> Geräusch jäh aus seiner negativen Gedankenwelt.<br />

<strong>Der</strong> Stein war mit voller Wucht in die Fensterfront eines Wohnhauses<br />

geprallt und es dauerte keine Minute, bis der empörte Besitzer<br />

draußen auf dem Vorplatz auftauchte. Nick dachte kurz daran,<br />

wie ein Feigling davonzurennen, doch dann erinnerte er sich<br />

an seine guten Vorsätze von vorhin: Er würde nie mehr im Leben<br />

vor Konflikten davonlaufen, sondern sich tapfer jeder schwierigen<br />

Situation stellen.<br />

„Verfluchter Bengel!“, knurrte der verärgerte Besitzer <strong>des</strong><br />

baufälligen alten Hauses. „Hast du nichts Besseres zu tun, als<br />

Scheiben einzuschlagen? Na warte, dafür wirst du mir büßen, du<br />

kleiner Schurke.“ Ohne zu zögern, packte der ältere Mann das<br />

wehrlose Kind an den Ohren und zog es in den Korridor <strong>des</strong><br />

Hauses. „Jetzt werde ich dir erst mal gehörig den Hintern versohlen,<br />

bevor ich deine Eltern anrufe, damit sie den Schaden<br />

bezahlen.“<br />

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Nick erlebte die ganze Szene wie in Trance. Erstens war ihm<br />

immer noch schlecht von der Zigarette und außerdem gingen ihm<br />

Tausende von wirren Gedanken gleichzeitig durch den Kopf.<br />

„Wer sündigt, muss dafür büßen. So wollen es die von Gott aufgestellten<br />

Regeln“, hatte ihm sein Religionslehrer jahrelang eingetrichtert,<br />

oder „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.<br />

Emotionslos stand Nick da und wartete auf die Tracht Prügel,<br />

die er gleich beziehen würde, während er erneut über die Ungerechtigkeiten<br />

<strong>des</strong> Lebens nachgrübelte. Gerade als der Mann mit<br />

dem Teppichklopfer zum ersten Schlag ausholte, ertönte eine helle<br />

Mädchenstimme im Hintergrund:<br />

„Papa, bitte schlag ihn nicht. Er hat es bestimmt nicht absichtlich<br />

getan.“<br />

„Geh sofort auf dein Zimmer, Anja! Das hier geht dich nichts<br />

an!“, fauchte er sie barsch an.<br />

Für einen kurzen, aber zeitlosen Moment trafen sich die Blicke<br />

von Nick und Anja. Die beiden waren ungefähr im gleichen Alter.<br />

Dieser mitfühlende Blick traf Nick wie ein Blitz mitten ins Herz.<br />

Im selben Augenblick vergaß er all seine angestaute Wut und seine<br />

eben noch zermürbenden Hassgefühle verwandelten sich wie<br />

durch Zauberhand in Liebe. Es handelte sich nicht um eine billige,<br />

egogesteuerte Wegwerfliebe im menschlichen Sinn, sondern<br />

um ein erhabenes, demütiges Gefühl, <strong>des</strong>sen unbegreifliche Quelle<br />

in weitaus größeren Dimensionen beheimatet war. In diesem<br />

bewegenden Moment fühlte Nick in seinem tiefsten Herzen, dass<br />

Gott nicht etwa eine chemische Formel oder eine mathematische<br />

Gleichung war, sondern das Leben selbst. Zum ersten Mal hatte<br />

er wahrhaftig das strahlende Antlitz Gottes erblickt – und zwar in<br />

den Augen dieses ihm fremden Mädchens namens Anja.<br />

z<br />

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„Sie hat recht, es war keine Absicht“, murmelte Nick leise,<br />

„aber wenn es Ihnen Spaß macht, wehrlose Kinder zu schlagen,<br />

dann tun Sie es eben.“<br />

<strong>Der</strong> Mann schaute den seltsamen Jungen mit zusammengepressten<br />

Lippen an, dann besann er sich eines Besseren und legte<br />

den Teppichklopfer beiseite. Irgendetwas Unerklärliches an der<br />

Ausstrahlung dieses Burschen hinderte ihn daran, Gewalt gegen<br />

ihn anzuwenden. Wie durch ein Wunder entspannten sich seine<br />

grimmigen Gesichtszüge auf einmal, sodass er beinahe schon<br />

sympathisch wirkte.<br />

„Geh nach Hause, Junge“, sagte er schließlich, „es ist schon in<br />

Ordnung. Kinder stellen halt manchmal Dummheiten an – und<br />

ich Esel hätte auch fast eine gemacht.“<br />

Nach diesen Worten huschte sogar ein kurzes Lächeln über<br />

das Gesicht <strong>des</strong> Mannes. Nick verstand die Welt nicht mehr, aber<br />

irgendwie stellte er einen Zusammenhang zwischen seinem erhabenen<br />

Erleuchtungsgefühl von vorhin und dem plötzlichen Sinneswandel<br />

<strong>des</strong> Mannes her. Er sah gerade noch, wie ihm Anja<br />

hinter dem Rücken ihres Vaters lächelnd zuwinkte, bevor sie im<br />

Wohnzimmer verschwand.<br />

„Ich danke Ihnen“, erwiderte Nick höflich, dann verließ er<br />

den Ort <strong>des</strong> Geschehens aufrecht und hoch erhobenen Hauptes<br />

wie ein echter Kerl.<br />

Rückblende Anja<br />

Anja hatte keine einfache Kindheit gehabt. Ihre Mutter starb an<br />

einer unheilbaren Krankheit, als sie erst zehn Jahre alt war. Diesen<br />

tiefen Einschnitt konnte sie nie richtig verarbeiten, ebenso<br />

wenig wie ihr Vater. Aus Angst, dass seinem einzigen Kind eben-<br />

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falls etwas Schlimmes zustoßen konnte, hütete er sie wie seinen<br />

Augapfel. Mit anderen Worten: Sie war unter ständiger Kontrolle<br />

und hatte praktisch keine Freiheiten.<br />

Mit der Zeit färbte diese krankhafte Angst <strong>des</strong> Vaters vor dem<br />

Leben auch ein wenig auf Anja ab. Obwohl sie mit ihren mandelförmigen<br />

Augen und den dunklen langen Haaren ein äußerst hübsches<br />

Mädchen war, lebte sie sehr zurückgezogen. Sie bereiste die<br />

Welt viel lieber in Form von Abenteuerromanen und Filmen,<br />

denn das schien ihr weitaus weniger gefährlich als im realen Leben.<br />

Kein Wunder also, dass Anja eher kränklich veranlagt war.<br />

Sie bekam schon bei der Vorstellung einen Schnupfen, dass sie<br />

bei stürmischem Regenwetter einen Fuß vor die Haustür setzen<br />

musste. Oh nein, da verkroch sie sich lieber mit einem spannenden<br />

Buch unter der warmen Bettdecke und ließ ihren Geist in<br />

fremde Welten abschweifen. In ihrer kindlichen Fantasiewelt war<br />

sie natürlich stets die unbesiegbare Heldin, die Drachen bekämpfte,<br />

Einhörner bändigte und reihenweise hübsche Prinzen abschleppte.<br />

Die Realität sah jedoch, wie gesagt, leider nicht ganz so verwegen<br />

aus, denn alle zwei Stunden klopfte ihr Vater von außen an<br />

die Zimmertür und fragte besorgt:<br />

„Ist alles in Ordnung, Schätzchen? Oder brauchst du irgendwas?“<br />

„Alles in Ordnung, Papa“, pflegte Anja jeweils mechanisch zu<br />

antworten.<br />

Sie kuschelte sich wieder unter die sichere Bettdecke, wo sie in<br />

ihrer Fantasie die Welt vor dem Untergang rettete, wilden<br />

Barbarenhorden mit einem Nudelholz bewaffnet den Garaus<br />

machte oder in einer Nussschale den tobenden Ozean durchquerte.<br />

Dass es in diesem Ozean von bösartigen Seeungeheuern, ein-<br />

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äugigen Piraten und sonstigem üblen Gesindel nur so wimmelte,<br />

brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen. Und vermutlich ebenso<br />

wenig, dass Anja im richtigen Leben bereits seekrank wurde,<br />

wenn sie ohne Gummientchen und Rettungsring in der Badewanne<br />

planschte.<br />

z<br />

Inzwischen waren all diese eigenartigen Kindheitserinnerungen<br />

längst vergessen, denn Anja feierte heute ihren sechsundzwanzigsten<br />

Geburtstag. Aus dem schüchternen Mädchen von einst war<br />

nun eine strahlende, selbstsichere junge Frau geworden. Zumin<strong>des</strong>t<br />

äußerlich, denn tief in ihrem Innern wurde Anja nach wie vor<br />

von starken Selbstzweifeln und emotionalen Schwankungen geplagt.<br />

Sie hatte jedoch gelernt, niemanden hinter die glänzende<br />

Fassade blicken zu lassen, selbst wenn diese von Jahr zu Jahr immer<br />

mehr abbröckelte.<br />

Wie viele andere Leute in dieser leistungsorientierten Gesellschaft<br />

lebte auch Anja in ihrer eigenen verkorksten kleinen Welt,<br />

gefangen in ihrer ebenso verkorksten und vor allem beschränkten<br />

Weltsicht. Manchmal glaubte sie, in den schwarzen Fluten der<br />

Trägheit und <strong>des</strong> Pessimismus zu versinken, während sie das Leben<br />

wie ein unbeteiligter Zuschauer aus dem Fenster <strong>des</strong> Büros<br />

betrachtete, in dem sie arbeitete. Um sich selber zu motivieren,<br />

gaukelte sich Anja oftmals vor, dass sie mit ihrer täglichen Arbeit<br />

im Büro etwas Sinnvolles tat, was ihr Spaß machte. Durch diese<br />

Selbstverleugnung versuchte sie zu vermeiden, der schrecklichen<br />

Ungewissheit und Leere der menschlichen Existenz ins Gesicht<br />

zu blicken. Das war aber zwecklos, denn innerlich spürte Anja<br />

immer deutlicher, dass sie dieses Spiel der Selbsttäuschung nicht<br />

mehr länger mitspielen konnte.<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

An diesem speziellen Tag wollte sie sich natürlich nichts von<br />

alldem anmerken lassen. Anja freute sich sogar auf das geplante<br />

Aben<strong>des</strong>sen mit zwei Freundinnen, obwohl sie abends normalerweise<br />

nur ungern ausging, weil es ihr davor graute, im Dunkeln alleine<br />

nach Hause gehen zu müssen.<br />

z<br />

Ihre beiden besten Freundinnen Susanne und Andrea hatten<br />

heimlich eine kleine Überraschung vorbereitet und das Personal<br />

<strong>des</strong> Restaurants gebeten, den Tisch mit Luftballons und allerlei<br />

Firlefanz zu dekorieren. Als die drei jungen Frauen am Abend das<br />

gediegene Lokal betraten, führte sie der elegant gekleidete Oberkellner<br />

zu besagtem Tisch, wo sich bereits alle Angestellten inklusive<br />

Küchenpersonal versammelt hatten, um Anja ein Geburtstagsständchen<br />

zu singen.<br />

Zuerst lächelte Anja gequält, denn das ganze Brimborium war<br />

ihr doch eher peinlich. Sie war es nicht gewohnt, im Mittelpunkt<br />

zu stehen und so viel Aufmerksamkeit zu erhalten. Als ihr zusätzlich<br />

auch noch diverse Geschenke überreicht wurden, konnte sie<br />

ihre wahren Emotionen jedoch nicht mehr länger zurückhalten.<br />

Zu Tränen gerührt fiel sie ihren beiden Freundinnen um den<br />

Hals.<br />

„Ach, ihr seid so lieb“, schluchzte sie hemmungslos, „auf so<br />

etwas war ich echt nicht vorbereitet. Da habt ihr mich ganz schön<br />

erwischt.“<br />

„Heute sollst du auch mal Hahn im Korb sein“, meinte Andrea,<br />

„sonst bist du ja immer diejenige, die anderen Gutes tut.“<br />

„Genau, aber du kannst beruhigt sein“, ergänzte Susanne grinsend,<br />

„denn weitere Überraschungen haben wir nämlich nicht geplant.“<br />

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So verbrachten die drei einen gemütlichen und lustigen Abend<br />

miteinander. Gegen Mitternacht verließen sie das Lokal und<br />

machten sich kichernd auf den Heimweg. Vor allem Anja, die<br />

sonst nie Alkohol trank, spürte die Nachwirkung <strong>des</strong> Rotweins. In<br />

ihrem beschwipsten Zustand vergaß sie auch ihre ansonsten panische<br />

Angst vor der Dunkelheit.<br />

„Das war wirklich ein supertoller Abend, Mädels. Ich danke<br />

euch von ganzem Herzen. Bis zum nächsten Mal.“<br />

Anjas Wohnung befand sich keine zehn Minuten zu Fuß vom<br />

Restaurant entfernt und außerdem konnte sie die gut beleuchtete<br />

Hauptstraße entlang laufen. Aus diesem Grund machten sich Susanne<br />

und Andrea keine Sorgen, als sie ins wartende Taxi stiegen.<br />

Als der Wagen davonfuhr, kurbelten die beiden überdrehten<br />

Frauen das Fenster hinunter und johlten Anja nochmals ein improvisiertes,<br />

aber unglaublich falsch gesungenes Happy-Birthday-<br />

Ständchen hinterher. Anja winkte ihnen lachend zu, danach<br />

schlenderte sie leise vor sich hin summend nach Hause.<br />

z<br />

In ihrem leicht angetrunkenen Zustand bemerkte sie nicht,<br />

dass ihr eine hagere Gestalt heimlich folgte. Es war Raoul, ein<br />

Angestellter <strong>des</strong> Restaurants, der in der Küche arbeitete. Zufällig<br />

hatte er zum gleichen Zeitpunkt Feierabend, als die drei jungen<br />

Frauen das Lokal verließen. Ihm war die attraktive Anja schon auf<br />

den ersten Blick am frühen Abend ins Auge gestochen und nun<br />

witterte er seine einmalige Chance. Raoul war hin- und hergerissen<br />

zwischen seiner finsteren Begierde einerseits und der andererseits<br />

schier unüberwindlichen Herausforderung, die junge Frau<br />

auf normalem Wege anzusprechen. Wie ein Raubtier auf der<br />

Pirsch folgte er seiner potentiellen Beute in sicherem Abstand,<br />

während Tausende von Gedanken gleichzeitig durch seinen Kopf<br />

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rasten. Aus diesem Gewirr kristallisierte sich ein einzelner Gedanke<br />

allmählich immer deutlicher heraus: Sie will nichts von mir wissen.<br />

Wenn ich sie anspreche, wird sie mich abweisen, und diese Schmach könnte<br />

ich niemals ertragen.<br />

Raoul verkörperte tatsächlich nicht gerade das, was man einen<br />

Sonnyboy nannte. Mit seinem vernarbten Gesicht, den abstehenden<br />

Ohren und den schwarzen Locken, die ihm in fettigen Strähnen<br />

ins Gesicht hingen und seinen stechenden, irren Blick verdeckten,<br />

sah er eher aus wie der Hauptdarsteller aus einem drittklassigen<br />

Horrorfilm.<br />

Die Tatsache, dass er an der linken Hand nur noch vier Finger<br />

besaß, ließ ihn auch nicht gerade charmanter wirken. Bei einem<br />

Arbeitsunfall vor einigen Monaten hatte der kleine Finger von<br />

Raoul unglücklicherweise Bekanntschaft mit einem Stabmixer<br />

gemacht, als er für einige Gäste im Restaurant einen Früchtecocktail<br />

zubereiten wollte. Daraus wurde dann aber nichts, denn ein<br />

Cocktail mit einem zermalmten Finger drin ließ sich relativ<br />

schlecht verkaufen. Seit diesem Vorfall hatte der sonst schon verschlossene<br />

Raoul einen ernsthaften psychischen Knacks. Seine<br />

Arbeitskollegen hatten ihm aufgrund seines bizarren Aussehens<br />

bereits vor dem Unfall den liebevollen Kosenamen „Zombie“<br />

verpasst. Seit der Geschichte mit dem Mixer hatte dieser Name<br />

jedoch eine ganz neue, schauderhafte Bedeutung bekommen,<br />

denn seither war Raoul nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich<br />

immer mehr zum Zombie mutiert. Er begann allmählich, sich<br />

selbst zu hassen, dann seine Arbeitskollegen und schließlich auch<br />

die Gäste <strong>des</strong> Restaurants, vor allem, wenn sie fröhlich und gutaussehend<br />

waren. Er konnte es schlichtweg nicht mehr ertragen,<br />

dass er scheinbar minderwertig war, und steigerte sich immer<br />

mehr in seine dunkle Fantasiewelt hinein.<br />

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Inzwischen war sich Raoul definitiv sicher. Die junge Frau<br />

wollte bestimmt nichts von ihm wissen, <strong>des</strong>halb sah er sich dazu<br />

gezwungen, sich das Objekt seiner Begierde mit Gewalt zu nehmen.<br />

Das ist mein gutes Recht, redete er sich selber ein, auf diese Weise<br />

werde ich mich an all den Reichen und Schönen rächen, die mich an den<br />

Rand der Gesellschaft gedrängt haben.<br />

z<br />

Anja ahnte nichts von alldem. Sie dachte nur an ihr warmes<br />

Bett, das sich inzwischen nur noch fünfhundert Meter Luftlinie<br />

von ihr entfernt befand. Die mit den Geburtstagsgeschenken gefüllte<br />

Tasche, die sie um die Schulter gehängt hatte, wurde auch<br />

langsam schwer. <strong>Der</strong> Riemen der Tasche bohrte sich langsam in<br />

ihr Fleisch und verursachte einen unangenehmen Schmerz. Aus<br />

diesem Grund beschloss Anja, die Tasche für den Rest <strong>des</strong> Weges<br />

um die andere Schulter zu hängen. Als sie – für ihren Verfolger<br />

unerwartet – plötzlich anhielt und sich kurz umdrehte, nahm sie<br />

gerade noch die Silhouette eines schwarz gekleideten Mannes<br />

wahr, die hinter einem Baum am Straßenrand verschwand. Mit<br />

einem Mal ließ die Wirkung <strong>des</strong> Alkohols nach und Anja wurde<br />

sich der brenzligen Lage vollkommen bewusst. Gelähmt vor<br />

Angst blieb sie stehen, während diverse Gedankenfragmente in<br />

ihrem Kopf herumschwirrten: dunkel, alleine, Verfolger … Tod. Wie<br />

auf Knopfdruck breitete sich das unkontrollierbare Gefühl von<br />

Panik in ihr aus. Einen Moment lang wurde Anja schwarz vor<br />

Augen und ihr Herz raste wie wild, doch dann ergriff der nackte<br />

Überlebensinstinkt von ihr Besitz.<br />

Sie schluckte einmal leer, dann rannte sie los wie von der Tarantel<br />

gestochen. Anja spürte, dass sie um ihr Leben rennen<br />

musste.<br />

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Raoul war nun ebenfalls aufgestachelt. Diese unerwartete<br />

Wende hatte seinen Jäger- und Killerinstinkt erst richtig geweckt.<br />

Das Gefühl <strong>des</strong> Machtrausches verlieh ihm plötzlich ungeahnten<br />

Mut. Wie besessen spurtete er hinter seinem Opfer her, der Abstand<br />

verkürzte sich mit jeder Sekunde.<br />

Anja hörte den Atem <strong>des</strong> Mannes hinter sich, sie konnte ihn<br />

förmlich im Nacken spüren. Instinktiv drehte sie sich abrupt um<br />

und schlug dem überraschten Verfolger mit voller Wucht die Tasche<br />

ins Gesicht. Irgendein spitzer Gegenstand traf ihn offenbar<br />

unter dem linken Auge, denn er heulte laut auf und hielt sich beide<br />

Hände an die getroffene Stelle. Anja nutzte die günstige Gelegenheit<br />

eiskalt aus und verpasste ihm noch einen deftigen Fußtritt<br />

zwischen die Beine. Daraufhin sackte der Mann jaulend wie ein<br />

Straßenköter zusammen, während Anja ihn mit offenem Mund<br />

anstarrte.<br />

Sie stand unter Schock, <strong>des</strong>halb konnte sie noch nicht erfassen,<br />

was sie soeben angerichtet hatte. Ebenso wenig wusste sie,<br />

was sie jetzt tun sollte. Die Polizei rufen? Davonrennen und sich<br />

in Sicherheit bringen? Oder den Typ ganz fertigmachen?<br />

Dummerweise war Raoul hart im Nehmen und außerdem<br />

fühlte er sich nun zutiefst in seiner Ehre verletzt. Er, Raoul der<br />

Stolze, von einer Frau zusammengeschlagen? Das ging gar nicht.<br />

Das ließ sein südländisches Temperament auf keinen Fall zu.<br />

„Aaahh“, brüllte er wutentbrannt, „ich werde dich töten, du<br />

Miststück!“<br />

Er rappelte sich auf und wollte Anja an die Gurgel springen,<br />

um sie zu erwürgen. Doch die hatte bereits reagiert und rannte<br />

erneut um ihr Leben – diesmal ging es wirklich um Leben und<br />

Tod, das wusste sie genau. Sie hatte den blindwütigen Hass gesehen,<br />

der in den Augen <strong>des</strong> Mannes aufgeblitzt war.<br />

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Die Tasche mit den Geschenken hatte Anja an Ort und Stelle<br />

zurückgelassen, denn materielle Güter hatten jetzt keine Bedeutung<br />

mehr. Von Weitem sah sie bereits die rettende Haustür, sie<br />

musste es nur noch bis zur Straßenkreuzung schaffen.<br />

Doch Raoul war fest entschlossen, seine verletzte Ehre zu rächen,<br />

indem er das Opfer erlegte. Die unschuldige Frau musste nun<br />

für all den Hass büßen, den er seit Jahren in sich hineingefressen<br />

hatte. Sie war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Oder war<br />

es Schicksal? Gab es vielleicht sogar karmische Hintergründe?<br />

Oder war das Zusammentreffen dieser beiden Individuen zu diesem<br />

ungünstigen Zeitpunkt nichts weiter als ein dummer Zufall?<br />

Eine üble Laune der Natur?<br />

Für Anja waren solche Fragen in dieser Situation absolut bedeutungslos,<br />

sie wollte einfach nur ihre Haut retten. Gerade als sie<br />

die Straßenkreuzung vor ihrem Wohnblock erreichte, hechtete<br />

Raoul sie von hinten an und riss sie grob zu Boden.<br />

„Hilfe!“, schrie Anja in voller Lautstärke. „Hiilfeee!“<br />

Doch nichts passierte. Als Antwort kam nur das klagende<br />

Miauen einer herumstreunenden Katze. Da wusste Anja, dass ihr<br />

letztes Stündchen geschlagen hatte. Das letzte bewusste Bild, das<br />

sie registrierte, war eine vor ihr liegende Getränkedose, die jemand<br />

achtlos weggeschmissen hatte.<br />

Wieso können die Leute den Müll nicht einfach im Mülleimer entsorgen,<br />

wie es sich gehört?, ging es ihr noch durch den Kopf. Anja war irritiert<br />

über diesen banalen, ja geradezu lächerlichen Gedanken angesichts<br />

der verzwickten Lage, in der sie steckte. Aber um darüber<br />

nachzudenken, blieb keine Zeit, denn Raoul packte sie am Genick<br />

und schlug ihren Kopf mehrere Male auf den Asphalt, bis Anja<br />

das Bewusstsein verlor …<br />

z<br />

23


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In seinem Wahn hätte er Anja vermutlich umgebracht, aber<br />

wie das Leben manchmal so spielt, kamen genau in diesem Moment<br />

zwei Engel in Form von Passanten um die Ecke.<br />

„Du, Nick, schau mal da vorne. Das sieht aber gar nicht gut<br />

aus“, stupste Peter seinen Kumpel an.<br />

Die beiden befanden sich ebenfalls auf dem Heimweg, nachdem<br />

sie einen gemütlichen Abend im Pub verbracht hatten.<br />

Nick realisierte sofort, dass es sich bei dieser Szene, die sich<br />

gerade vor ihren Augen abspielte, nicht um die Hauptprobe für<br />

ein Kindertheater, sondern um einen Ernstfall handelte.<br />

„Los, wir müssen der Frau helfen, bevor es zu spät ist!“, erwiderte<br />

er hastig.<br />

Raoul war noch immer damit beschäftigt, die bewusstlose Anja<br />

zu schlagen und sie lauthals zu beschimpfen, sodass er die beiden<br />

nächtlichen Spaziergänger gar nicht bemerkt hatte.<br />

„Hey, du Penner, lass sie sofort los!“, brüllte Nick, so laut er<br />

konnte, doch Raoul dachte nicht im Traum daran, von seinem<br />

Opfer abzulassen.<br />

In Nicks Geist stiegen Erinnerungen aus seiner eigenen Kindheit<br />

hoch, als er von anderen verprügelt worden war. Aus diesem<br />

Grund konnte er es absolut nicht ertragen, wenn jemand ungerecht<br />

behandelt wurde, egal ob Mensch oder Tier. Ehe sich Nick<br />

versah, packte ihn dieselbe unbändige Wut, die ihm schon früher<br />

oft aus der Patsche geholfen hatte, indem sie ihm grenzenlosen<br />

Mut verlieh. Ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern,<br />

stürmte er auf den Übeltäter zu und stürzte sich heldenhaft auf<br />

ihn.<br />

Die beiden jungen Männer rauften sich eine Weile lang auf<br />

dem Asphalt wie zwei wilde Tiere, bis Peter seinem Kumpel end-<br />

24


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lich zu Hilfe eilte. Gemeinsam gelang es ihnen rasch, den völlig<br />

aufgebrachten Raoul dingfest zu machen.<br />

Daraufhin überstürzten sich die Ereignisse. Durch die nächtliche<br />

Randale auf offener Straße hatten aufgeschreckte Anwohner<br />

bereits die Polizei alarmiert. Als Raoul das Heulen der Sirenen<br />

vernahm, brannte auch noch die letzte Sicherung in seinem kaputten<br />

Hirn vollständig durch. Obwohl er ein eher hagerer Typ war,<br />

entwickelte er beim Anblick der eintreffenden Polizeiwagen auf<br />

einmal ungeahnte Bärenkräfte. Unter wildem Gezappel gelang es<br />

ihm, sich aus dem eisernen Griff von Nick zu befreien. Er<br />

schubste ihn zu Boden, und bevor Peter reagieren konnte, hatte<br />

ihm Raoul einen Faustschlag in die Magengegend verpasst. Vor<br />

den Augen der Polizisten flüchtete Raoul im Schutz der Dunkelheit<br />

durch einen nahegelegenen Park.<br />

<strong>Der</strong> Polizei gelang es erst einige Tage später, den geständigen<br />

Raoul an seinem Arbeitsplatz im Restaurant festzunehmen. Auf<br />

jeden Fall hatten Nick und Peter an diesem Abend das Leben von<br />

Anja gerettet, ohne dass sie erfahren hatte, wem sie ihr Leben zu<br />

verdanken hatte. Nachdem die Polizei die Aussagen aufgenommen<br />

und Anja ins Krankenhaus gebracht hatte, wurden Nick und<br />

Peter wieder entlassen.<br />

In ihrer Bescheidenheit verzichteten sie darauf, sich später bei<br />

Anja zu melden. Vor allem Nick wäre es peinlich gewesen, sich<br />

als Superheld oder Lebensretter aufzuspielen. Ihm genügte die<br />

stille, erfüllende Gewissheit, dass er in jener Nacht eine gute Tat<br />

vollbracht hatte, und dafür verlangte er keine Gegenleistung. Somit<br />

hatten sich die Lebenswege von Nick und Anja bereits zum<br />

zweiten Mal gekreuzt, ohne dass sie sich <strong>des</strong>sen bewusst waren.<br />

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<strong>Der</strong> <strong>Fluss</strong> <strong>des</strong> Lebens (Teil 1)<br />

Damit dieses Buch nicht nur aus Rückblenden besteht, werde ich<br />

zur Abwechslung mal etwas anderes schreiben. Vor lauter Rückblenden<br />

bin ich inzwischen schon so verblendet, dass mir der Rücken<br />

wehtut (Papperlapapp …, ich weiß schon). Wie dem auch<br />

sei …, mögt ihr euch noch erinnern, wo wir vor dem ganzen<br />

Rückblendenzeugs stehen geblieben waren? Nämlich dort, als<br />

Nick verzweifelt um die Bushaltestelle tigerte, weil sich erstens<br />

Anja einfach so aus dem Staub gemacht hatte und man ihm zweitens<br />

die Brieftasche gestohlen hatte. Genau dort knüpft dieses<br />

Kapitel an, sozusagen ein blendender Übergang …<br />

z<br />

„Fremden Menschen die Brieftasche zu klauen, das ist ja wohl<br />

das Niederste vom Niederen“, murmelte Nick empört vor sich<br />

hin, „wenn ich den erwische …“<br />

In Gedanken malte er sich die schlimmsten Albträume aus,<br />

falls der Dieb mit seiner Kreditkarte bereits sein ganzes Vermögen<br />

verpulvert hatte. Ich bin ruiniert, am Ende, mein Leben ist zerstört,<br />

dachte Nick in seiner melodramatischen Weltuntergangsstimmung<br />

besorgt. Er sah sich schon, wie er mit verfaulten<br />

Zähnen und verfilzten Haaren bei irgendeinem Supermarkt Regale<br />

einräumen musste, um sich über Wasser zu halten. Wahrscheinlich<br />

werde ich im Armenhaus enden, wenn nicht ein Wunder geschieht.<br />

Vor lauter pessimistischen Grübeleien merkte Nick erst in<br />

letzter Sekunde, dass er soeben an der örtlichen Polizeistation<br />

vorbeispaziert war. Einem inneren Impuls folgend marschierte er<br />

schnurstracks in das Büro, um Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten,<br />

obwohl ihm natürlich völlig klar war, dass so eine Anzeige<br />

nicht viel bringen würde. Doch dann geschah das Unfassbare,<br />

man könnte es auch ein kleines Wunder nennen.<br />

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„Vor knapp fünf Minuten kam ein langhaariger Junge hier<br />

vorbei, der Ihre Brieftasche im Fundbüro abgegeben hat“, erklärte<br />

der Polizeibeamte. „Gemäß eigenen Angaben hat er sie auf einer<br />

Parkbank neben der Bushaltestelle gefunden. Sie sind wirklich<br />

ein Glückspilz.“<br />

Nick glaubte, seinen Augen nicht zu trauen, als ihm der Beamte<br />

das Portemonnaie mitsamt allen Ausweisen und Karten überreichte.<br />

Vermutlich hatte er die Brieftasche unbewusst auf die<br />

Parkbank gelegt, als er Anja eine Visitenkarte in die Hand drücken<br />

wollte, bevor sie überraschend in den Bus hüpfte und aus seinem<br />

Leben ebenso schnell verschwand, wie sie kurz zuvor aufgetaucht<br />

war.<br />

„Hat Ihnen dieser Junge seine Adresse hinterlassen? Ich würde<br />

ihm für seine Ehrlichkeit gerne einen Finderlohn aushändigen.“<br />

„Ja, die kann ich Ihnen gerne geben“, entgegnete der Beamte<br />

hilfsbereit, „allerdings muss ich Sie darauf hinweisen, dass der<br />

Bursche taubstumm ist. Nur, damit Sie sich schon mal auf eine<br />

etwas ungewöhnliche Kommunikation einstellen können.“<br />

„In Ordnung, ich danke Ihnen für die Hilfe“, antwortete Nick,<br />

dann verließ er den Polizeiposten mit gemischten Gefühlen.<br />

Mehrmals holte er das zerknitterte Stück Papier mit der Adresse<br />

aus der Hosentasche, nur um es dann gleich wieder wegzustecken.<br />

Soll ich oder soll ich nicht?, war die Frage, die er sich abermals<br />

stellte. <strong>Der</strong> Verstand sagte: Ach, Scheiß drauf, vergiss es einfach, aber<br />

sein Bauchgefühl gab ihm deutlich zu verstehen, dass er unbedingt<br />

dort vorbeischauen sollte. Herz oder Verstand?, fragte sich<br />

Nick ein allerletztes Mal, denn langsam kam er sich ein bisschen<br />

albern vor. Schließlich war er ein erwachsener Mann, der dazu in<br />

der Lage sein sollte, klare Entscheidungen zu treffen.<br />

z<br />

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Eine Viertelstunde später klingelte Nick an der Tür eines<br />

Wohnblocks, der sich in einem idyllisch liegenden Stadtteil befand.<br />

Auf dem Türschild war, analog zur Adresse auf dem zerknitterten<br />

Stück Papier, der Familienname „Barry“ eingraviert.<br />

Nick dachte amüsiert, ob da wohl ein sabbernder Bernhardiner-<br />

Hund mit einem Schnapsfässchen um den Hals wohnte. Nachdem<br />

er geklingelt hatte, ertönte jedoch kein Hundegebell, dafür<br />

hauchte eine zarte Frauenstimme mit englischem Akzent: „Bitte<br />

hereinkommen, im zweiten Stock“ durch die Gegensprechanlage<br />

und betätigte den automatischen Türöffner.<br />

„Okay“, murmelte Nick achselzuckend und betrat das nach<br />

frischem Putzmittel riechende Gebäude ohne große Erwartungen.<br />

„Kommen Sie ruhig herein, ich habe Sie bereits erwartet“, begrüßte<br />

ihn die Frau an der Türschwelle höflich.<br />

„Wieso, sind Sie etwa eine Hellseherin oder so etwas Ähnliches?“,<br />

fragte Nick verblüfft.<br />

Die irgendwie zeitlos aussehende Frau hatte tatsächlich etwas<br />

Geheimnisvolles an sich. Sie erinnerte Nick spontan an eine dieser<br />

Zigeunerinnen mit den Kristallkugeln, die er als Kind oft auf<br />

Jahrmärkten gesehen hatte.<br />

„Nein, aber mein Sohn hat mir bereits von dem Vorfall mit<br />

der Brieftasche berichtet“, lächelte sie charmant. „Ich heiße übrigens<br />

Mary Ann.“<br />

„Nick, freut mich. <strong>Der</strong> Beamte auf dem Fundbüro hat mir erzählt,<br />

Ihr Sohn wäre taubstumm?“<br />

„Wir unterhalten uns telepathisch.“<br />

„Also doch eine Hellseherin?“<br />

„Das sollte ein Scherz sein“, kicherte Mary Ann verschmitzt,<br />

„wir kommunizieren natürlich mit Zeichensprache.“<br />

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Kurz darauf blickte ein etwa fünfzehnjähriger Junge mit ungewöhnlich<br />

langen schwarzen Haaren und min<strong>des</strong>tens ebenso<br />

ungewöhnlich glasklaren blauen Augen um die Ecke.<br />

„Das ist Puka, mein geliebter Sohn“, erklärte Mary Ann freudig<br />

und winkte ihn zu sich. „Er ist scheu wie ein Reh und gleichzeitig<br />

schlau wie ein Fuchs.“<br />

„Puka? Das ist aber ein seltsamer Name.“<br />

Nick erwähnte natürlich nicht, dass ihn dieser Name eher an<br />

ein polynesisches Medikament gegen Durchfall für irgendwelche<br />

verlausten Straßenköter als an einen Vornamen für zivilisierte<br />

Menschen erinnerte. Einen bekloppteren Namen als Puka Barry<br />

hatte er seinen Lebtag noch nicht gehört. In seiner lebhaften Fantasie<br />

malte sich Nick jedoch bereits einen fiktiven TV-Werbespot<br />

aus: Kaufen Sie Puka-Barry-Anti-Durchfall-Pillen. Dieser medizinische<br />

Leckerbissen wird Ihrem vierbeinigen Freund garantiert nicht am Allerwertesten<br />

vorbeigehen. Puka Barry – das polynesische Medikament für alle Fälle.<br />

Im Werbespot sähe man analog dazu einen mit hawaiianischen<br />

Blumengirlanden geschmückten Hund, der Hula-Hula tanzend<br />

um einen festlich dekorierten, mit Puka-Barry-Pillen gefüllten<br />

Fressnapf schwänzelte und dauerfurzend einen ganzen Berg voll<br />

davon verdrückte. Bei dieser Vorstellung konnte sich Nick ein<br />

leichtes Grinsen nicht verkneifen. Und dann war dieser arme Kerl<br />

dazu auch noch taubstumm und konnte sich nicht einmal gegen<br />

seinen Namen wehren. Aber dafür hatte ihn Mutter Natur mit einer<br />

saumäßig coolen Mähne gesegnet, die all diese vermeintlichen<br />

Handicaps wieder halbwegs wettmachten.<br />

„Wir kommen ursprünglich aus Neuseeland“, holte ihn Mary<br />

Ann aus seinen Gedanken in die Realität zurück. „Pukas Vater<br />

stammte von den Maori ab. Die Maori, das sind sozusagen die<br />

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Ureinwohner Neuseelands, die einst von den unzähligen Inseln<br />

der Südsee dort eingewandert waren.“<br />

„Ich weiß, diese Frage taucht oft in Kreuzworträtseln auf.“<br />

„<strong>Der</strong> Name Puka bedeutet übersetzt etwa so viel wie leuchtender<br />

Stern“, fuhr Mary Ann geduldig fort.<br />

Nick zückte lächelnd seine Brieftasche und hielt sie Puka demonstrativ<br />

unter die Nase. <strong>Der</strong> erkannte den Geldbeutel natürlich<br />

sofort wieder und nickte ebenfalls lächelnd, als wollte er sagen:<br />

„Ich bin froh, dass die Brieftasche wieder bei seinem rechtmäßigen<br />

Besitzer ist.“<br />

Mit einer eleganten Bewegung fischte Nick einen Geldschein<br />

heraus und steckte ihn dem überraschten Jungen zu, wofür er ein<br />

dankbares Kopfnicken erntete. Dabei leuchteten seine Augen<br />

dermaßen strahlend hell, dass Nick eine Gänsehaut bekam. Es<br />

fühlte sich fast so an, als hätte Puka eine Art Röntgenblick, mit<br />

welchem er durch alle Dinge hindurchsehen könnte. Zu diesem<br />

Zeitpunkt konnte Nick natürlich noch nicht wissen, dass er mit<br />

dieser Vermutung den Nagel ziemlich genau auf den Kopf getroffen<br />

hatte.<br />

„Jetzt ist mir auch klar, weshalb ihr den Jungen auf den Namen<br />

leuchtender Stern getauft habt“, meinte Nick beinahe etwas<br />

verlegen zu Mary Ann.<br />

„Ja, er ist in der Tat ein sehr ungewöhnlicher Mensch“, erwiderte<br />

sie nachdenklich, „aber ob er sogenannte übersinnliche Fähigkeiten<br />

besitzt, das weiß niemand, vielleicht nicht einmal Puka<br />

selber.“<br />

Bei diesen Worten streichelte sie ihrem Sohn liebevoll über<br />

das glatte, rabenschwarze Haar. Puka lächelte verträumt, während<br />

sein magischer Blick durch das Fenster <strong>des</strong> Wohnzimmers in den<br />

Wolken verhangenen Himmel gerichtet war. Durch den Umstand,<br />

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dass er weder hören noch sprechen konnte, hatte sich sein siebter<br />

Sinn im Laufe der Zeit in überproportionalem Maße entwickelt.<br />

Mit anderen Worten: Puka war hellfühlend. Er konnte gefühlsmäßig<br />

Dinge wahrnehmen, die normalen Menschen nicht zugänglich<br />

waren. Jeder Mensch, jeder Gegenstand strahlte eine bestimmte<br />

Energie aus und Puka war mit der seltenen Gabe gesegnet,<br />

aufgrund dieser feinstofflich wahrgenommenen Schwingungsfrequenzen<br />

die Vergangenheit sowie die potentielle Zukunft<br />

dieser Person oder dieses Gegenstan<strong>des</strong> zu erfühlen. Aus diesem<br />

Grund wusste er sofort, als er die Brieftasche am Vormittag gefunden<br />

hatte, dass einiges mehr hinter diesem Ereignis steckte als<br />

bloßer Zufall.<br />

Puka spürte deutlich, dass dieser fremde Mann aus einem ganz<br />

bestimmten Grund in sein Leben getreten war.<br />

Nick war auf seltsame Art und Weise ebenfalls enorm fasziniert<br />

von diesem äußerst ungewöhnlichen Burschen. Es fühlte<br />

sich an, als öffnete sich tief in ihm eine Tür, die lange Zeit verschlossen<br />

gewesen war. Hinter dieser Tür, tief in seinem Herzen,<br />

kam so etwas wie ein verborgener Schatz zum Vorschein. Plötzlich<br />

zuckte Nick zusammen, als hätte ihn ein Stromschlag getroffen.<br />

„Geht es dir gut?“, fragte Mary Ann verwundert, worauf Nick,<br />

gedanklich in anderen Welten schwebend, abwesend bejahte.<br />

Was ist los? Was passiert mit mir?, fragte er sich in Gedanken,<br />

während ihm der Schweiß von der Stirn tropfte. Kurz darauf löste<br />

sich diese unerklärliche Beklemmung auf einmal auf und wich einem<br />

noch viel unerklärlicheren Gefühl von Vertrauen, Hoffnung<br />

und grenzenloser Zuversicht.<br />

Nick hatte zwar keine Ahnung, was soeben mit ihm passiert<br />

war, aber eines wusste er genau: Irgendwie hatte sich etwas von<br />

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den wundersamen Fähigkeiten dieses mysteriösen Jungen auf ihn<br />

selbst übertragen und seinen eigenen siebten Sinn aus dem Tiefschlaf<br />

erweckt. Nick fühlte sich plötzlich ohne ersichtlichen<br />

Grund verbunden mit etwas Größerem. Ein erhabenes Gefühl<br />

von unendlicher Weisheit und Liebe durchströmte ihn wie das<br />

Regenwasser, das ein ausgetrocknetes <strong>Fluss</strong>bett zu neuem Leben<br />

erweckt.<br />

Nick erinnerte sich vage daran, dass er als Kind schon einmal<br />

etwas Ähnliches erlebt hatte. Damals, als er mit einem Stein aus<br />

Versehen die Fensterscheibe eines alten Hauses zertrümmert hatte<br />

und ihn der Besitzer hatte verprügeln wollen. Trotz allem war<br />

Nick natürlich nicht so naiv, dass er gleich jede lebhafte Gefühlswallung<br />

mit einer göttlichen Inspiration oder prophetischen Vision<br />

verwechselte. Dennoch wusste er eindeutig, dass das soeben<br />

Erlebte keine Pseudo-Halluzination, sondern äußerst real war.<br />

Obwohl Nick durch diesen erleuchtungsmäßigen Moment zu<br />

Tränen gerührt war, riss er sich zusammen und versuchte, sich<br />

nichts anmerken zu lassen.<br />

„Es tut mir leid, ich bin gedanklich gerade in eine sehr lebhafte<br />

Erinnerung aus meiner Kindheit abgeschweift“, entschuldigte er<br />

sein merkwürdiges Verhalten.<br />

Mary Ann gab sich mit dieser Erklärung zufrieden. Puka jedoch<br />

schaute Nick mit durchdringendem Blick an. Er spürte natürlich<br />

sehr genau, welch innere Wandlung sich soeben in diesem<br />

Mann vollzogen hatte. Er war nicht mehr länger von seinem wahren<br />

Selbst, vom <strong>Fluss</strong> <strong>des</strong> Lebens abgeschnitten, sondern die Verbindung<br />

zu dieser inneren Quelle der Weisheit war nun wiederhergestellt.<br />

All dies und noch vieles mehr konnte Puka mühelos<br />

erkennen, indem er die sich verändernde Aura von Nick beobachtete.<br />

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„So, dann werde ich mich jetzt wohl besser auf den Heimweg<br />

machen“, sagte Nick schließlich, um die etwas peinlich anmutende<br />

Stille zu durchbrechen.<br />

Gerade als er aufstehen wollte, fragte Mary Ann, ohne mit der<br />

Wimper zu zucken:<br />

„Möchtest du mit Puka und mir nach Neuseeland reisen?“<br />

Nick glaubte, nicht richtig gehört zu haben.<br />

„Wie bitte?“, entgegnete er leicht schockiert. „Neuseeland?“<br />

„Ja, genau, Neuseeland“, bestätigte Mary Ann trocken, „auch<br />

genannt Aotearoa, das Land der langen weißen Wolke.“<br />

„Aber … wie kommst du denn darauf? Ich meine, wir kennen<br />

uns doch kaum.“<br />

„Das stimmt. Die Frage ist einfach so über meine Lippen gekommen,<br />

ohne dass ich sie bewusst stellen wollte. Ich weiß, ehrlich<br />

gesagt, selber nicht, weshalb das passiert ist.“<br />

Nick ließ sich erneut in den bequemen Sessel plumpsen.<br />

„Was ist heute eigentlich für ein komischer Tag?“, dachte er<br />

laut nach. „Ständig widerfahren mir die seltsamsten Dinge. Was<br />

hat das alles zu bedeuten? Hat es überhaupt etwas zu bedeuten?<br />

Oder bin ich mittlerweile komplett verrückt?“<br />

Nick ließ die Serie von merkwürdigen Ereignissen nochmals in<br />

seinem Geist Revue passieren. Zuerst der Termin beim Psychiater,<br />

dann die zufällige Begegnung mit Anja und schließlich der<br />

Verlust der Brieftasche, der ihn hierher geführt hatte. Und als<br />

Krönung <strong>des</strong> Ganzen wollte ihn nun eine fremde Frau mit ihrem<br />

taubstummen Sohn zu einer Reise ans andere Ende der Welt mitschleppen.<br />

Na schön, sagte sich Nick, ich werde mich dem <strong>Fluss</strong> <strong>des</strong> Lebens nicht<br />

widersetzen und mich einfach treiben lassen. Mal sehen, wo es mich hinführt<br />

und was das Leben mit mir im Sinn hat.<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

„Was habt ihr denn dort unten vor? Blumen pflücken? Oder<br />

gibt es einen bestimmten Anlass für die Reise?“<br />

„Ja, den gibt es“, erklärte Mary Ann mit gedämpfter Stimme.<br />

„Mein Mann ist vor zehn Jahren dort gestorben und seither reise<br />

ich mit meinem Sohn alle zwei Jahre in unser Heimatland, um das<br />

Grab seines Vaters zu besuchen.“<br />

„Oh, das tut mir leid. Ich wollte nicht …“<br />

„Ist schon in Ordnung“, fuhr Mary Ann unbeirrt fort, „ich<br />

habe die ganze Sache inzwischen verarbeitet. Trotzdem geben mir<br />

diese regelmäßigen Besuche einen gewissen Halt im Leben. Auch<br />

für Puka sind diese Reisen wichtig, damit er seinen Vater und seine<br />

Heimat nicht vergisst.“<br />

„Weshalb seid ihr dann überhaupt von dort fortgegangen?“<br />

Mary Ann senkte ihren Blick, es war ihr sichtlich unangenehm,<br />

diese Frage zu beantworten.<br />

„Freunde hatten uns erzählt, dass es in Europa spezielle Schulen<br />

für taubstumme Kinder gibt“, erzählte sie bedrückt, „<strong>des</strong>halb<br />

hatten mein Mann und ich beschlossen, für einige Jahre in die<br />

Schweiz zu ziehen, um Puka später die bestmögliche Ausbildung<br />

zu ermöglichen, obwohl er damals erst fünf Jahre alt war.“ Sie zögerte<br />

einen Augenblick, bevor sie fortfuhr. „Nun ja, als uns meine<br />

Mutter an jenem verhängnisvollen regnerischen Morgen mit ihrem<br />

Auto zum Flughafen fuhr, da passierte es. Wir hielten an einer<br />

roten Ampel ordnungsgemäß an, als es plötzlich gewaltig<br />

krachte. Ein Lastwagen mitsamt Anhänger war mit voller Wucht<br />

von hinten in unseren Kleinwagen geknallt, weil der Fahrer durch<br />

das Klingeln seines Telefons kurz abgelenkt war. Mein Mann war<br />

auf der Stelle tot, wir anderen überlebten mit verhältnismäßig<br />

leichten Verletzungen. Nur Puka blieb wie durch ein Wunder unversehrt,<br />

er hatte nicht mal eine Schramme abbekommen.“<br />

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Nach dieser dramatischen Enthüllung herrschte eine Weile<br />

lang andächtiges Schweigen, jeder hing seinen eigenen Gedanken<br />

nach. Puka, der seiner Mutter die ganze Erzählung von den Lippen<br />

abgelesen hatte, legte tröstend den Arm um sie. Obwohl er<br />

sich nur noch verschwommen an seinen Vater erinnern konnte,<br />

fühlte er dennoch eine tiefe Verbundenheit zu ihm. Besonders<br />

dann, wenn er alte Fotos anschaute oder ihm seine Mutter Geschichten<br />

von früher erzählte.<br />

„Wow“, seufzte Nick ergriffen, „das ist ja ein Ding. Ich weiß<br />

gar nicht, was ich sagen soll.“<br />

Er fühlte sich mit den beiden eben noch fremden Menschen<br />

plötzlich so vertraut, als ob er sie schon seit Ewigkeiten kennen<br />

würde. Wer wusste, vielleicht tat er das ja auch.<br />

„So, jetzt kennst du unsere traurige Familiengeschichte“, sagte<br />

Mary Ann schließlich, „es war jedoch keineswegs meine Absicht,<br />

dich mit unseren Problemen zu belasten. Außerdem war es total<br />

unangemessen von mir, dich zu fragen, ob …“<br />

„… ob ich mit euch nach Neuseeland reise?“, beendete Nick<br />

den Satz. „Oh, nein, das war überhaupt nicht unangemessen von<br />

dir, liebe Mary Ann. Hiermit nehme ich das Angebot dankend an.<br />

Wann soll es denn losgehen?“<br />

Sie schaute ihn mit großen Augen an.<br />

„Was, du möchtest uns wirklich begleiten? Ich …, ich bin<br />

ganz aus dem Häuschen vor Freude“, quietschte sie aufgeregt.<br />

Puka, ein Meister im Lippen ablesen, lächelte ebenfalls voller<br />

Begeisterung. Er mochte den Mann, der irgendwie anders war als<br />

andere Erwachsene. Puka sah in Nick nicht nur einen großartigen<br />

Kumpel, sondern auch eine Art Vaterersatz.<br />

„Na, Puka, wie fin<strong>des</strong>t du das?“, fragte Nick und klopfte ihm<br />

aufmunternd auf die Schultern. „Und das alles, weil ich aus Ver-<br />

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sehen meine Brieftasche verlegt habe und du ehrliche Haut sie zurückgegeben<br />

hast.“<br />

Als Antwort hielt Puka den Daumen erfreut nach oben, dabei<br />

leuchteten seine Augen so strahlend hell wie die aufgehende Sonne<br />

am neuseeländischen Horizont.<br />

z<br />

Die große Reise sollte in drei Tagen losgehen. Nick war flexibel,<br />

denn er hatte seinen Job sowieso gekündigt und seine neue<br />

Arbeitsstelle konnte er erst in zwei Monaten antreten. Die geplante<br />

Auszeit wollte er ursprünglich dazu nutzen, um über das Leben<br />

nachzudenken und sich neu zu orientieren. Doch wieder einmal<br />

kam alles ganz anders als geplant. Trotzdem fühlte es sich unglaublich<br />

befreiend an, jegliche Verpflichtungen loszulassen und<br />

sich einfach ganz zwanglos dem <strong>Fluss</strong> <strong>des</strong> Lebens hinzugeben.<br />

Nick spürte förmlich, wie die Quelle längst versiegt geglaubter<br />

Lebensenergie zu sprudeln begann und ihn mit grenzenloser Vorfreude<br />

erfüllte.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Fluss</strong> <strong>des</strong> Lebens (Teil 2)<br />

Anja eilte Hals über Kopf in den Bus, ohne die Gelegenheit zu<br />

haben, sich richtig von diesem an und für sich sympathischen<br />

fremden Mann zu verabschieden. Obwohl, irgendwie war er ihr<br />

gar nicht so fremd vorgekommen, sondern eher vertraut, als wären<br />

sie alte Bekannte. Während ihr dieser Geistesblitz durch den<br />

Kopf schoss, schaute Anja instinktiv aus dem Fenster <strong>des</strong> abfahrenden<br />

Busses. Sie sah gerade noch, wie Nick mit einer Mischung<br />

aus Edelmut und Tollpatschigkeit eine Visitenkarte aus seiner<br />

Brieftasche zupfte, die er im Affekt auf die Parkbank neben der<br />

Bushaltestelle legte. Anschließend rannte er mit der Visitenkarte<br />

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wedelnd in der Hand dem Bus hinterher und schrie mit verzweifeltem<br />

Gesichtsausdruck ihren Namen. Sie konnte deutlich an<br />

seinen Lippen ablesen, dass er zweimal Anja gerufen hatte. Anja<br />

winkte ihm lächelnd zu, doch im selben Moment spürte sie eine<br />

eigenartige Gefühlswallung in ihrem Herzen aufflammen.<br />

Wieso habe ich nicht den nächsten Bus genommen?, machte sich Anja<br />

selber Vorwürfe. Weil ich dann zu spät zu meinem Vorstellungsgespräch<br />

gekommen wäre, versuchte sie sich vor sich selber zu rechtfertigen.<br />

Geschlagene drei Minuten lang führte Anja innerlich ein bitteres<br />

Kampfgespräch mit sich selbst, bis sie zwei Haltestellen weiter<br />

endlich auf ihr Herz hörte und kurz entschlossen ausstieg.<br />

Scheiß auf das dämliche Gespräch, ich muss Nick wiederfinden. Diese<br />

Begegnung lässt mir einfach keine Ruhe, waren die Worte, die ihr Herz<br />

ihr einflüsterte.<br />

Anja legte denselben Weg im Eiltempo zurück, den sie eben mit<br />

dem Bus hergefahren war. Einerseits kam sie sich ein wenig lächerlich<br />

vor bei dieser alles andere als gut durchdachten Guerillaaktion,<br />

andererseits klopfte ihr Herz vor Aufregung inzwischen so stark,<br />

dass sie gar nicht mehr rational denken konnte und ihr alles andere<br />

völlig egal war. Sie musste einfach um jeden Preis diesen Mann<br />

wiedertreffen.<br />

Unterwegs stolperte Anja in ihrer Hast über eine am Boden<br />

liegende Bierflasche und fiel beinahe hin. Ein zufällig entgegenkommender<br />

Junge mit langen schwarzen Haaren und auffällig<br />

hell leuchtenden Augen konnte sie aber in letzter Sekunde auffangen.<br />

„Es tut mir leid …, vielen Dank“, murmelte Anja nervös, bevor<br />

sie wie von Sinnen weiterhastete.<br />

z<br />

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<strong>Der</strong> Junge schaute ihr wortlos in die Augen, und nachdem die<br />

eigenartige Frau verschwunden war, kramte er die Brieftasche<br />

hervor, die er vor ein paar Minuten gefunden hatte. Auf dem<br />

Ausweis begutachtete er das Passfoto von dem Mann, welchem<br />

die Brieftasche gehörte. Da wusste der Junge sofort Bescheid,<br />

denn beim Anblick <strong>des</strong> Fotos spürte er genau dieselbe Energie,<br />

die er soeben in der Aura dieser Frau wahrgenommen hatte. In<br />

diesem Augenblick war ihm klar, dass sich ihre Lebenswege früher<br />

oder später wieder kreuzen würden.<br />

z<br />

Unter<strong>des</strong>sen erreichte die völlig aufgelöste und vor allem verschwitzte<br />

Anja den Ausgangspunkt ihrer kleinen Rundreise, aber<br />

Nick war bereits verschwunden. Anja hätte sich vor Wut ohrfeigen<br />

können.<br />

[…]<br />

Vielen Dank für Ihr Interesse an meiner <strong>Leseprobe</strong>.<br />

Das Taschenbuch, 300 Seiten, sowie das eBook sind bei Amazon<br />

erhältlich.<br />

Roger Kappeler<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

Autor<br />

Roger Kappeler<br />

erkannte bereits in der Schulzeit, dass seine blühende Fantasie<br />

bisweilen mit ihm durchgeht. Das Schreiben fiel ihm nie besonders<br />

schwer. Während einer sechsmonatigen Indienreise entstanden<br />

erste Ideen, aus denen schließlich die Starchild-Terry-<br />

Geschichten hervorgingen.<br />

Wie viele Autoren stand auch er vor der Wahl, sich anzupassen<br />

oder bei dem zu bleiben, was ihn als individuellen Autor auszeichnet.<br />

Er entschied sich – wie sollte es anders sein – für die<br />

Individualität und riskierte damit, dass manche Leser seine Werke<br />

zerreißen würden, hoffte jedoch, dass die auf seine Merkmale abgestimmte<br />

Lesergruppe größer wird und ihm treu bleibt, solange<br />

er sich selbst treu bleibt.<br />

Seine Zeilen sind gepaart mit humoristischem, zuweilen flapsigem,<br />

der Alltagssprache entlehntem Stil, welcher das stetige<br />

Element aller seiner Geschichten darstellt, aber natürlich auch<br />

substanzielle Themen <strong>des</strong> Lebens und Gedanken enthält.<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

Weitere Bücher<br />

"Mein letzter Tag auf der Erde"<br />

<strong>Fantasy</strong>, Fun-<strong>Fiction</strong>, 188 Seiten<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

"Hasret – Lady in Black"<br />

Roman, 204 Seiten<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

"Zürich – Magic happens"<br />

Roman, 170 Seiten<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

"Delia – Zwischen den Welten"<br />

<strong>Fantasy</strong>, Fun-<strong>Fiction</strong>, 242 Seiten<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

"Die Pforte von Nebadon"<br />

<strong>Fantasy</strong>, Fun-<strong>Fiction</strong>, 150 Seiten<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

In 2. Auflage in Kürze erhältlich<br />

<strong>Fantasy</strong>, Fun-<strong>Fiction</strong>, Abenteuer<br />

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<strong>Leseprobe</strong> © Roger Kappeler, www.rogerkappeler.ch<br />

Auf www.rogerkappeler.ch findet ihr mehr über Kappelers<br />

fantastische Geschichten.<br />

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