le sacre du printemps - Theater Osnabrück
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2 Dienstag, 1. Oktober 2013<br />
LE SACRE DU PRINTEMPS<br />
Arnd Wesemann über ein künst<strong>le</strong>risches Ereignis von Weltrang<br />
Mit der Rekonstruktion von Le<br />
Sacre <strong>du</strong> <strong>printemps</strong> in der Choreografie<br />
von Mary Wigman<br />
kehrt eines der wichtigsten Bal<strong>le</strong>tte<br />
des 20. Jahrhunderts in der<br />
Fassung einer der wegweisenden<br />
deutschen Tanzschöpferinnen<br />
wieder auf die Bühne zurück.<br />
Arnd Wesemann, Chefredakteur<br />
der Fachzeitschrift<br />
„Tanz“, schreibt für das THEA-<br />
TERjournal über Igor Strawinskys<br />
bahnbrechende Bal<strong>le</strong>ttkomposition,<br />
die vor 100 Jahren in<br />
Paris uraufgeführt wurde.<br />
Damals war noch was los im<br />
<strong>Theater</strong>. Die Aufführung des<br />
Tanzstücks Le Sacre <strong>du</strong> <strong>printemps</strong><br />
löste einen derartigen Rabatz<br />
aus, dass selbst die ferne<br />
New York Times über den Skandal<br />
der Pariser Kompanie Bal<strong>le</strong>ts<br />
Russes berichtete. Überlieferte<br />
Anekdoten vom Abend am 29.<br />
Mai 1913 erzäh<strong>le</strong>n vom fortdauernden<br />
Lärmen der Zuschauer in<br />
den Rängen bis hin zu einer veritab<strong>le</strong>n<br />
Massenrauferei im Pariser<br />
Théâtre des Champs-Élysées,<br />
kaum dass die Vorstellung zu Ende<br />
war. Gern spricht man auch<br />
von einer angeblich hundsgemeinen<br />
Fehde zwischen dem Komponisten<br />
Igor Strawinsky und dem<br />
Choreografen Waclaw Nijinsky,<br />
die sich gegenseitig der Unfähigkeit<br />
bezichtigt hätten, wobei <strong>le</strong>diglich<br />
der Komponist recht gehabt<br />
haben soll – aber das lässt<br />
Probe zu „Le Sacre <strong>du</strong> <strong>printemps</strong>“ von Mary Wigman mit Dore Hoyer in der Rol<strong>le</strong> des Opfers, 1957.<br />
sich nicht beweisen, denn die damalige<br />
Choreografie ist verschol<strong>le</strong>n.<br />
Hundert Jahre später aber gilt<br />
dieser Skandal nun uneingeschränkt<br />
als ein künst<strong>le</strong>risches<br />
Ereignis von Weltrang, als Bal<strong>le</strong>tt-Revolution<br />
und als ein Mei<strong>le</strong>nstein<br />
der Musikgeschichte zug<strong>le</strong>ich.<br />
Igor Strawinsky war schon<br />
damals kein Unbekannter. Sein<br />
Einstand mit Der Feuervogel<br />
drei Jahre zuvor war ein Riesenerfolg.<br />
Mit Petruschka tanzte<br />
sich die Kompanie der Bal<strong>le</strong>ts<br />
Russes in die damaligen Höhen<br />
der Moderne. Das handver<strong>le</strong>sene<br />
Tanzensemb<strong>le</strong> unter der Leitung<br />
von Sergei Djagi<strong>le</strong>w und Léon<br />
Bakst pro<strong>du</strong>zierte zudem seine<br />
eigenen Stars: Waclaw Nijinsky,<br />
Tamara Karsawina, Ida Rubinstein<br />
und Anna Pawlowa, und<br />
das in einer Zeit, als man erstmals<br />
Fotografien in hoher Auflage<br />
drucken konnte. Die Beziehung<br />
zur Öffentlichkeit, inklusive<br />
Krawall, war ebenfalls revolutionär<br />
in einer Zeit, als an staatliche<br />
<strong>Theater</strong>finanzierung noch nicht<br />
zu denken war. Heute will jede<br />
Bal<strong>le</strong>ttkompanie wenigstens einen<br />
Strawinsky-Klassiker im Repertoire<br />
haben. Nicht unbedingt<br />
aber den Le Sacre <strong>du</strong> <strong>printemps</strong><br />
(Das Frühlingsopfer), es spielt<br />
noch heute in einer anderen Liga.<br />
Der Grund: Ein Jahr nach dem<br />
Sinken der „Titanic“, ein Jahr vor<br />
dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs<br />
wurde hier eine Tanzmusik<br />
von einer derart körperlichen<br />
Qualität komponiert, die so energiegeladen<br />
war, dass selbst Strawinsky<br />
sie nie in neue Höhen<br />
trieb. Das choreografische Neuland,<br />
das Nijinsky dabei betrat,<br />
hatte weniger nur etwas mit dem<br />
Verzicht auf überliefertes Bal<strong>le</strong>ttvokabular<br />
zu tun, vielmehr mit<br />
dem Wunsch, den an sich bereits<br />
ungeheuerlichen Akt eines Opferns<br />
weder darzustel<strong>le</strong>n wie es in<br />
der Bal<strong>le</strong>ttpantomime üblich wäre,<br />
noch ihn <strong>le</strong>diglich zu symbolisieren.<br />
Es war wohl, wenn man<br />
so will, die erste Performance in<br />
der Tanzgeschichte: die Opferung<br />
des jungen Mädchens, nach einer<br />
Anbetung der Erde <strong>du</strong>rch al<strong>le</strong>r<strong>le</strong>i<br />
heidnische Stämme. Dieses nur<br />
scheinbar folkloristische Motiv<br />
griff erst nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
die deutsche Choreografin<br />
Mary Wigman wieder auf: 1957<br />
in West-Berlin. Bald darauf kam<br />
auch Maurice Béjart auf den Geschmack.<br />
Der amerikanische<br />
Wigman-Schü<strong>le</strong>r G<strong>le</strong>n Tet<strong>le</strong>y opferte<br />
den Frühling 1974 in Stuttgart,<br />
ein Jahr später tat es auch<br />
Pina Bausch in Wuppertal. Doch<br />
erst der Versuch einer Rekonstruktion<br />
der verlorenen Originalchoreografie<br />
1987 <strong>du</strong>rch das<br />
amerikanische Forscherpaar Milicent<br />
Hodson und Kenneth Archer<br />
für das amerikanische Joffrey<br />
Bal<strong>le</strong>t ließ die Schlagzahl<br />
neuer Sacre-Inszenierungen<br />
deutlich in die Höhe schnel<strong>le</strong>n:<br />
Zu den bekanntesten zählt mitt<strong>le</strong>rwei<strong>le</strong><br />
die diesjährige Interpretation<br />
von Sasha Waltz am Ort<br />
der Uraufführung in Paris <strong>du</strong>rch<br />
Foto: Harry Croner/ Stadtmuseum Berlin<br />
die Tänzer des Mariinksy-<strong>Theater</strong>s<br />
in Sankt Petersburg (der<br />
Heimatstadt von Diaghi<strong>le</strong>w).<br />
Und natürlich die 150 Berliner<br />
Schü<strong>le</strong>r, die der Tanzpädagoge<br />
Royston Maldoom 2004 <strong>du</strong>rch<br />
den Kinofilm Rhythm Is It! trieb.<br />
Heute interessieren sich Künst<strong>le</strong>r<br />
aber eher für getanzte Fußnoten<br />
zum Hauptwerk, wenn etwa Xavier<br />
Le Roy die damals dank der<br />
Polyrhythmik völlig neuen Herausforderungen<br />
für den Orchester<strong>le</strong>iter<br />
ins Zentrum rückt oder<br />
Laurent Chétouane das archaische<br />
Opfer mit unseren ritualähnlichen<br />
Gruppen-Gepflogenheiten<br />
in der Gegenwart konfrontiert.<br />
Dabei berührt Le Sacre <strong>du</strong><br />
<strong>printemps</strong> <strong>du</strong>rchaus noch immer<br />
Tabus – nicht nur wegen der<br />
mehr oder minder religiös verkappten<br />
Massenvergewaltigung<br />
eines unschuldigen Mädchens,<br />
auch wegen einer so wenig klassisch<br />
aus einer Improvisation heraus<br />
entstandenen, buchstäblich<br />
kol<strong>le</strong>ktiv zu organisierenden Musik,<br />
die für vie<strong>le</strong> noch immer so<br />
wuchtig erscheint als wäre sie<br />
einst eine Vorahnung des Ersten<br />
Weltkriegs gewesen, oder als drohe<br />
sie in ihrer so wenig europäisch<br />
anmutenden Direktheit mit<br />
der Rückkehr zu den ewigen Abgründen<br />
unseren Seins.<br />
Arnd Wesemann