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Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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Nº09<br />

SEPTEMBER<br />

2014<br />

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CHF 13<br />

Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €, Spanien: 9.50 € , Finnland: 12.80 €<br />

09<br />

4 196392 008505<br />

Letzter Vorhang<br />

Der Niedergang des<br />

deutschen Stadttheaters<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong><br />

<strong>Nationalgefühl</strong><br />

Schottland. Schweiz. Deutschland?<br />

Warum Staaten heute wieder<br />

ihr Heil im Alleingang suchen<br />

Geheimwaffe Swift<br />

Zwingt ein Finanzdienstleister<br />

Putin in die Knie?<br />

Zurück zum Sie!<br />

Ein Aufschrei<br />

gegen das Duzen


ATTICUS<br />

N°-9<br />

SCHOTTEN DICHT?<br />

Titelbild: Olaf Hajek; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

Bannockburn kennt in Schottland<br />

jedes Kind. Am 23. und 24. Juni 1314<br />

tobte dort eine Schlacht, in der das<br />

schottische Heer die englischen Truppen<br />

zurückschlug. Es war einer der raren<br />

Siege der Hochländer über den Aggressor<br />

aus dem Süden. Am Ende behielten die<br />

Engländer die Oberhand. 700 Jahre nach<br />

der Battle of Bannockburn möchten die<br />

schottischen Nationalisten um Regierungschef<br />

Alex Salmond die Engländer<br />

abermals abschütteln, diesmal nicht in<br />

einer Schlacht, sondern per<br />

Volksabstimmung.<br />

<strong>Das</strong> Referendum am 18. September<br />

fällt in eine Zeit, in der der Nationalismus<br />

in Europa ohnehin auf dem Vormarsch<br />

ist. Die Schweiz hat gerade ihre<br />

Grenzen dichter gemacht. Großbritannien<br />

könnte 2017 die EU verlassen,<br />

wenn die Europakritiker erfolgreich an<br />

englische <strong>Nationalgefühl</strong>e appellieren.<br />

In Deutschland ist mit der AfD eine<br />

national ausgerichtete Kraft entstanden.<br />

Auch anderswo in Europa wird unverhohlen<br />

gefragt: Wären wir alleine nicht<br />

besser dran?<br />

Die Sympathie der <strong>Cicero</strong>-Redaktion<br />

für Europa gilt. Man muss das Phänomen<br />

des <strong>neue</strong>n Nationalismus nicht mögen,<br />

aber die Debatte darüber ist nötig. Ist der<br />

Nationalstaat die Instanz mit der stärksten<br />

Bindekraft, wie sich bei der Fußball-<br />

WM wieder gezeigt hat? Kommt dieses<br />

<strong>Nationalgefühl</strong> zurück, weil es im Sinne<br />

des europäischen Gedankens unterdrückt<br />

wurde? Der Politologe Herfried Münkler<br />

kommt zu einem dialektischen Ergebnis<br />

( ab Seite 16 ). Thomas Weber,<br />

Geschichtsprofessor im schottischen<br />

Aberdeen, hat in seinen Lehr- und<br />

Wanderjahren im Ausland erfahren,<br />

dass es etwas gibt, das er als Deutscher<br />

für unmöglich hielt: guten Nationalismus<br />

( ab Seite 22 ).<br />

Der Publizist Wilfried Scharnagl<br />

und der frühere EU-Kommissar Günter<br />

Verheugen streiten über das richtige<br />

Verhältnis zur Nation – und sind sich<br />

doch einig: Wenn Schottland seine<br />

Unabhängigkeit erklärt, löst das eine<br />

Kettenreaktion in Europa aus ( ab Seite<br />

26 ). Ein glühendes Plädoyer für Schottlands<br />

Unabhängigkeit hält in dieser<br />

Ausgabe Sean Connery, früher James<br />

Bond, heute Agent der schottischen<br />

Sache.<br />

Mit besten Grüßen<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Chefredakteur<br />

3<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


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INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

16<br />

EIN GEFÜHL VON GEBORGENHEIT<br />

Der Nationalstaat ist effektiv und leistungsfähig.<br />

<strong>Das</strong> gilt im Schlimmen wie im Guten<br />

Von HERFRIED MÜNKLER<br />

Illustration: Olaf Hajek<br />

22<br />

DIE ALTEN SÜNDEN<br />

SIND VERJÄHRT<br />

Ein deutscher Historiker<br />

lernt in Schottland guten<br />

Nationalismus kennen<br />

Von THOMAS WEBER<br />

26<br />

„DIE GROSSEN VERLIERER SIND DIE LÄNDER“<br />

Der bayerische Separatist Wilfried<br />

Scharnagl und Ex-EU-Kommissar<br />

Günter Verheugen im Streitgespräch<br />

Von ALEXANDER MARGUIER und<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

30<br />

EINE EINMALIGE<br />

GELEGENHEIT<br />

Glühendes Plädoyer<br />

für die schottische<br />

Unabhängigkeit<br />

Von SEAN CONNERY<br />

5<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />

32 IM OHR DAS MASSAKER<br />

Der deutsche Zahnarzt Ali Khalaf<br />

setzt sich in Berlin für seine<br />

jesidischen Verwandten ein<br />

Von CHRISTOPH SEILS<br />

54 AN DER SEITE DER BÜRGER<br />

Vassilios Skouris fällt als Präsident<br />

des Europäischen Gerichtshofs<br />

wegweisende Urteile<br />

Von HARTMUT PALMER<br />

82 MIDAS MUSK<br />

Geld hat er genug, daher<br />

teilt Tesla-Gründer Elon<br />

Musk seine Patente für<br />

Elektroautos mit allen<br />

Von ELLEN ALPSTEN<br />

34 EINE MARKE<br />

FDP-Vizechefin Marie-Agnes<br />

Strack-Zimmermann wirbt für<br />

die Umbenennung ihrer Partei<br />

Von DENISA RICHTERS<br />

36 ERDOGANS SPÄTZLE<br />

Lobbyismus für die Türkei und<br />

grüne Identität: Rezzo Schlauch<br />

bringt beides locker zusammen<br />

Von JULIA PROSINGER<br />

38 „SIE SIND EINE MORALTANTE“<br />

Zwei grundverschiedene linke<br />

Publizisten sprechen über Putin,<br />

Mandarine, Moral und die Liebe<br />

Von JAKOB AUGSTEIN und FRANK A. MEYER<br />

44 UNVERBLÜMT<br />

Die Debatte um den Gazakrieg<br />

bringt eine unheimliche<br />

antisemitische Allianz hervor<br />

Von TIMO STEIN<br />

46 DIE HOCHBURG<br />

Die Chefs der AfD im Erzgebirge<br />

sind erfolgsverwöhnt. Bei ihnen<br />

lässt sich viel über die DNA<br />

einer Protestpartei lernen<br />

Von GUNNAR HINCK<br />

58 DAS MASTERMIND<br />

Hamas-Chef Chalid Maschal sitzt fester<br />

im Sattel, als manche glauben wollen<br />

Von SILKE MERTINS<br />

60 ZÜNDELNDE SCHEICHS<br />

<strong>Das</strong> Emirat Katar ist einer<br />

der wichtigsten Finanziers<br />

islamistischen Terrors<br />

Von LINA KHATIB<br />

64 STILLE WASSER<br />

In Argentinien gibt es das<br />

größte Süßwasserdelta der<br />

Welt – ein Fotoessay über das<br />

Leben nach Gezeiten<br />

Von ALEJANDRO CHASKIELBERG<br />

74 DIE MISSION NACH DEM KRIEG<br />

Die Nato bekommt einen <strong>neue</strong>n<br />

Generalsekretär. Der muss das<br />

Bündnis neu ausrichten<br />

Von HEIDI REISINGER<br />

76 DER BÖSE IST IMMER DER WESTEN<br />

In der Ukrainekrise hat die russische<br />

Propaganda tiefe Spuren in den<br />

Köpfen der Russen hinterlassen<br />

Von MORITZ GATHMANN<br />

84 AUS REISHÜLSEN GEBAUT<br />

Bernd Duna hat in Asien<br />

einen Ersatzstoff für<br />

Tropenhölzer gefunden<br />

Von TIL KNIPPER<br />

86 DIE SWIFT-WAFFE<br />

Über eine Finanzfirma in<br />

Belgien könnte der Westen<br />

Russland von den Bankkonten<br />

der Welt abschneiden<br />

Von TOMÁŠ SACHER<br />

90 „NUR ALDI IST<br />

DOCH TRAURIG“<br />

Der Kaufmann Volker Wiem<br />

über Motoröl, Olivenöl und<br />

den Erfolg des Andersseins<br />

Von TIL KNIPPER<br />

86<br />

51 FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… ob sie als Amazon-Kundin<br />

ein schlechter Mensch ist<br />

Von AMELIE FRIED<br />

46<br />

Altwerden<br />

Protestieren im Gartenhaus<br />

64<br />

am Fluss<br />

Kriegführen am Finanzmarkt<br />

Fotos: Christoph Busse für <strong>Cicero</strong>, Alejandro Chaskielberg; Illustration: Mario Wagner<br />

6<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


STIL<br />

SALON<br />

CICERO<br />

STANDARDS<br />

94 OPERATION PINK<br />

Die Modedesignerin Elsa<br />

Schiaparelli und ihre Mission<br />

im Zweiten Weltkrieg<br />

Von ILONKA WENK<br />

96 TRAGEN SIE DEUTSCH?<br />

Was zeichnet eigentlich deutsche<br />

Mode aus? Eine Erkundung<br />

106 DIE WERTARBEITERIN<br />

Frauke Gerlach ist die <strong>neue</strong><br />

Chefin des Grimme-Instituts<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

108 TIFLIS? POTI?<br />

HAUPTSACHE ITALIEN<br />

Die Autorin Nino Haratischwili rückt<br />

Europa auf 1300 Seiten zurecht<br />

3 ATTICUS<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

8 STADTGESPRÄCH<br />

12 FORUM<br />

14 IMPRESSUM<br />

138 POSTSCRIPTUM<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

Von ANNE WAAK<br />

Von FRÉDÉRIC SCHWILDEN<br />

102 GIB MIR MEIN SIE ZURÜCK!<br />

Warum uns beim Duzen<br />

das Gespür für menschliche<br />

Größe abhandenkommt<br />

110 „SHAKESPEARE ALTERT NIE“<br />

Thomas Ostermeier und Hartmut Lange<br />

über den größten Dichter aller Zeiten<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

Von HOLGER FUSS<br />

Fotos: Patrick Houi/Hien Le; Illustration: Martin Haake<br />

104 WARUM ICH TRAGE,<br />

WAS ICH TRAGE<br />

Jedes Kleidungsstück, das<br />

ich besitze, kann eine<br />

Geschichte erzählen<br />

Von HATICE AKYÜN<br />

96<br />

Glanz oder Modehandwerk<br />

116 MAN SIEHT NUR, WAS<br />

MAN SUCHT<br />

Heinrich Füsslis böser Blick auf<br />

eigene Eheangelegenheiten<br />

Von BEAT WYSS<br />

118 DER LETZTE VORHANG<br />

Wie könnte die Zukunft des deutschen<br />

Stadttheaters aussehen? Eine Rundreise<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

124 LITERATUREN<br />

Mit Büchern von Dave Eggers,<br />

Bernhard Schlink, Volker<br />

Reihnhardt und Karen Köhler<br />

130 BIBLIOTHEKSPORTRÄT<br />

Die lettische Organistin Iveta Apkalna<br />

liest Mankell, Hesse – und Janis Rainis<br />

Von CLAUDIA RAMMIN<br />

134 HOPES WELT<br />

Mit Google-Brille auf der Bühne<br />

Von DANIEL HOPE<br />

136 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />

Von T.C. BOYLE<br />

118<br />

Überleben trotz hoher Kosten<br />

Der Titelkünstler<br />

Wie bebildert man Gefühle<br />

für eine Nation? Eigentlich<br />

lösen sie in Deutschland<br />

unangenehme Assoziationen<br />

aus: Nation, das klingt<br />

alt, männlich, kriegerisch.<br />

Aber wir wollten anlässlich<br />

des schottischen Referendums<br />

unseren Blick öffnen,<br />

ohne wieder beim alten<br />

Mann im karierten Rock zu<br />

landen, der ähnlich alten<br />

Whisky trinkt. Wir wollten<br />

nicht im Klischee enden.<br />

Der Berliner Künstler Olaf<br />

Hajek hat sich der Frage<br />

angenommen. Als Motiv<br />

wählte er eine Frau. Jung,<br />

selbstbewusst, aber gar<br />

nicht großspurig sieht sie<br />

aus. Auch wenn sie nicht<br />

eindeutig in einem bestimmten<br />

Land zu verorten<br />

ist, so fühlt sie sich erkennbar<br />

wohl in der Natur ihrer<br />

Heimat. Ihrer selbst ist sie<br />

sich so sicher, dass sie es<br />

allein versuchen kann mit<br />

der Zukunft. Vielleicht gibt<br />

ihr ihre Nation auch nur<br />

festen Stand in einem geeinten<br />

Europa. Interessant:<br />

Der schottische Mythos ist<br />

trotzdem ziemlich stark.<br />

Olaf Hajek hat noch ein<br />

zweites Bild gemalt, das im<br />

Innern dieses Heftes folgt.<br />

Der Schotte im Kilt kommt<br />

dort zu seinem Recht.<br />

7<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


CICERO<br />

Stadtgespräch<br />

Der SPD-Chef mäht unbeobachtet den Rasen, Rolf Hochhuth rät vom Besuch<br />

seines eigenen Stückes ab – und bei der Linkspartei geht das Theater weiter<br />

Gauck, die Zweite?<br />

Zögerliche SPD<br />

Hassprediger<br />

Der Imam differenziert<br />

Rasenmäher-Trauma<br />

Kein Bild mit Gabriel<br />

FDP wie Grüne, auch einige Christdemokraten<br />

haben sich bereits für<br />

eine zweite Amtszeit von Bundespräsident<br />

Joachim Gauck ausgesprochen.<br />

Gauck selbst lehnt es bisher ab, sich zu<br />

diesem Thema zu äußern. Er antwortet<br />

lieber: „Sie sehen einen Mann vor<br />

sich, der sich sehr freut.“ <strong>Das</strong> ist noch<br />

kein Ja, aber auch kein Nein zu einer<br />

Verlängerung vom Jahr 2017 an. Eines<br />

jedoch ist klar: Seine Lebensgefährtin<br />

Daniela Schadt steht dem Gedanken<br />

ganz gewiss nicht ablehnend gegenüber;<br />

die ehemalige Journalistin erfreut sich<br />

längst sehr an den Pflichten und Aufgaben,<br />

die das Amt auch für sie mitbringt.<br />

In der SPD hingegen wird die Idee einer<br />

zweiten Amtszeit für Gauck sorgsam<br />

zurückhaltend behandelt. Denn die<br />

Sozialdemokraten brauchen den Präsidentenposten<br />

nach der Bundestagswahl<br />

2017 womöglich als politisches Spielmaterial<br />

für eine Koalition. tz<br />

Was macht eigentlich Sheikh Abu<br />

Bilal Ismail? Der Imam hatte in<br />

der Neuköllner Al-Nur-Moschee Mitte<br />

Juni für die Vernichtung der Juden gebetet.<br />

Im Internet war ein Video aufgetaucht,<br />

auf dem Ismail die israelischen<br />

Juden als „Schlächter des Propheten“ bezeichnet.<br />

Er bittet darin, die jüdischen<br />

Zionisten bis zum letzten Mann zu töten.<br />

Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt<br />

wegen des Verdachts der Volksverhetzung.<br />

Bilal Ismail soll nun wieder in Dänemark<br />

sein. Dort ist er eigentlich Imam<br />

der Grimhøj Moschee in Aarhus. Der<br />

Vorsitzende der Organisation hinter der<br />

Moschee, Oussama El Saadi, stellt sich<br />

indes vor Abu Bilal. Er spricht von einem<br />

Übersetzungsfehler. In einer Mitteilung<br />

heißt es: Imam Bilal sei bewusst falsch zitiert<br />

worden. Er rufe nicht zum Mord an<br />

Juden auf, sondern bitte lediglich Allah,<br />

zionistische Juden zu töten. So viel Differenzierung<br />

muss schon sein. ts<br />

<strong>Das</strong>s SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar<br />

Gabriel trotz aller Amtsgeschäfte<br />

jede Woche von Berlin nach<br />

Goslar reist, daraus macht er kein Geheimnis.<br />

In Goslar arbeitet seine Frau<br />

Anke als Zahnärztin, und Töchterchen<br />

Marie besucht die Kita. Gabriel hat versprochen,<br />

sie einmal pro Woche, meist<br />

am Mittwoch, dort abzuholen. Ungern<br />

gibt Gabriel jedoch zu, dass er zu<br />

Hause auch für den Garten zuständig<br />

ist. Er hat sich dafür einen stattlichen<br />

Aufsitz-Rasenmäher zugelegt, lehnt es<br />

aber konsequent ab, sich darauf fotografieren<br />

zu lassen. Vermutlich erinnert<br />

sich Gabriel an ein Rasenmäher-Bild<br />

seines Amtsvorgängers Oskar Lafontaine.<br />

Der war einst beim Rasenmähen<br />

von <strong>Cicero</strong> abgelichtet worden – und<br />

hinterher lachte die halbe Republik darüber,<br />

wie ausgeprägt massig auf dem<br />

Foto Lafontaines „Maurer-Dekolleté“<br />

über seinem Po zur Geltung kam. tz<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

8<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


∆Wie wachsen Fachkräfte nach?<br />

Der deutsche Mittelstand bildet 86 % aller Auszubildenden aus, im weltweit vorbildlichen<br />

dualen Ausbildungssystem. Und das ist nur einer von vielen Gründen, warum es sich lohnt,<br />

Verantwortung zu übernehmen. Als eine der größten Förderbanken der Welt investiert<br />

die KfW in Unternehmen und Arbeitsplätze – und ermöglicht jeder Generation, ihre Lebensbedingungen<br />

nachhaltig zu verbessern.<br />

Veränderung fängt mit Verantwortung an. kfw.de/verantwortung


CICERO<br />

Stadtgespräch<br />

Sommertheater<br />

Hochhuth warnt<br />

Linkspartei<br />

Neues Dreamteam<br />

SPD-Generalin<br />

Ausputzen oder stören?<br />

In der Hauptstadt schreibt man Sommerloch<br />

mit H wie Hochhuth. Einmal<br />

im Jahr sorgt der Stückeschreiber<br />

für Trubel im Berliner Ensemble – und<br />

zwar, wenn die Eigentümerin der Immobilie<br />

am Schiffbauerdamm, die<br />

Holzapfel-Stiftung, ihr Recht wahrnimmt,<br />

„in den Theaterferien ein selbst<br />

finanziertes Gastspiel anzubieten“. Ilse<br />

Holzapfel war Hochhuths Mutter. Diesmal<br />

übertraf der 83-Jährige sich selbst,<br />

indem er vor seinem eigenen Stück<br />

warnte. Natürlich wollte Rolf Hochhuth<br />

nicht von dem Textmonstrum „Sommer<br />

14 – ein Totentanz“ abraten, sondern<br />

von der Zurichtung durch Regisseur<br />

Torsten Münchow. Dieser bot energische<br />

Schnitte und ein pfiffiges Bühnenbild:<br />

Die Hauptfiguren der Julikrise waren<br />

in einem Wellnesstempel für High<br />

Potentials gestrandet, Bademäntel inklusive.<br />

Dort mussten sie Hochhuth-<br />

Texte aufsagen. Udo Walz mimte (in<br />

der Premiere nur) einen Friseur. Ottfried<br />

Fischer hatte einen winzigen Auftritt<br />

mit Kaiser Franz Joseph zugeschobenen<br />

Sätzen, Mathieu Carrière gab<br />

im Elitencamp einen quengeligen Kaiser<br />

Wilhelm mit Sonnenbrille, Caroline<br />

Beil eine Fürstin. Im Foyer des am<br />

vierten Abend schütter besuchten Theaters<br />

saß Hochhuth an einem Tischlein,<br />

spreizte die Zehen in der Sandale<br />

und tat, was er kann: finster schauen,<br />

Anstoß nehmen, die Zeitläufte herabrufend.<br />

Dann und wann gab er ein<br />

Autogramm. Dieser Sommer war ein<br />

November. akis<br />

Für die Linke gilt Gregor Gysi als<br />

unverzichtbar. Mehrere Versuche,<br />

Kronprinzen aufzubauen, sind in<br />

25 Jahren misslungen. Jetzt könnte<br />

das nächste Prinzenpaar scheitern. Eigentlich<br />

war ausgemacht, dass Gysi<br />

den Vorsitz der Bundestagsfraktion<br />

Mitte der Legislaturperiode abgibt. Der<br />

66-Jährige schmiedete schon Pläne für<br />

die Zeit nach der großen Politik.<br />

Die beiden Nachfolger Sahra Wagenknecht<br />

und Dietmar Bartsch stehen<br />

bereit. In der Fraktion wurden bereits<br />

Posten vergeben und die Einflusssphären<br />

neu abgesteckt. Doch zugleich<br />

machte sich dort eine politische Eiszeit<br />

breit. Denn Wagenknecht und Bartsch<br />

können nicht miteinander.<br />

Jetzt kommt es vielleicht ganz anders.<br />

Wie so viele Politiker ist auch<br />

Gysi der Politik verfallen. Gründe,<br />

noch ein paar Jahre dranzuhängen, finden<br />

sich immer. Hinzu kommt: Gysi ist<br />

der auserkorenen Nachfolgerin in tiefer<br />

Abneigung verbunden. Auch gönnt er<br />

seinem Nicht-mehr-Freund Lafontaine,<br />

dem Lebensgefährten Wagenknechts,<br />

diesen letzten Triumph nicht.<br />

Kurz vor der Sommerpause traf<br />

sich im Bundestag eine illustre Runde<br />

einflussreicher Abgeordneter und entwarf<br />

einen Alternativplan: Gysi hängt<br />

noch ein paar Jahre dran. An seiner<br />

Seite übernimmt die Parteichefin Katja<br />

Kipping den Co-Vorsitz der Fraktion.<br />

Die Linke hätte ein <strong>neue</strong>s Dreamteam<br />

und Kipping endgültig die Macht in der<br />

Partei an sich gerissen. cse<br />

Die SPD-Generalsekretärin Yasmin<br />

Fahimi hat offenbar unter dem<br />

Eindruck der gewonnenen Fußballweltmeisterschaft<br />

über ihre eigene politische<br />

Funktion nachgedacht. Zumindest<br />

klingt die Wortwahl der ehemaligen<br />

Gewerkschaftssekretärin, die seit ihrer<br />

Berufung ins Willy-Brandt-Haus<br />

noch nicht sonderlich viel von sich reden<br />

gemacht hat, sehr nach dem wohlvertrauten<br />

Kicker-Jargon. Anfänglich<br />

hatte Fahimi ihre Position auf dem rotschwarzen<br />

Spielfeld noch mit „Torwart“<br />

beschrieben. Da die CDU/CSU<br />

bisher allerdings nicht besonders kraftvoll<br />

auf den SPD-Kasten zielt, will sich<br />

die 46-Jährige jetzt offenbar spieltaktisch<br />

umorientieren. Jedenfalls bezeichnet<br />

sie <strong>neue</strong>rdings „frühes Stören“<br />

im Mittelfeld als ihre wichtigste<br />

Aufgabe auf dem Rasen der Politik.<br />

In der Umgebung des SPD-Vorsitzenden<br />

Sigmar Gabriel vernimmt man dies<br />

mit leisem Missvergnügen: Stören –<br />

wen denn? Die Entourage des Parteichefs<br />

kommentiert mit schrägem Blick<br />

auf den stellvertretenden SPD-Vorsitzenden<br />

Ralf Stegner ziemlich unmissverständlich:<br />

„In dieser Funktion operiert<br />

der ja bereits ausgiebig.“ Hier<br />

könne sich die Generalsekretärin, flüstern<br />

daher Gabriel-Vertraute, ja gerne<br />

fußballstrategisch „als Vorstopperin<br />

betätigen“. Den modernen Libero mit<br />

offensiver Spielweise praktiziere Gabriel<br />

bereits. Aber einen „Ausputzer“<br />

könne die SPD zuweilen schon noch<br />

gut vertragen. tz<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

10<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


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CICERO<br />

Leserbriefe<br />

FORUM<br />

Es geht um den Islam, Amerika, Karl Lauterbachs<br />

medizinische Kompetenz und bärtige Jungfrauen<br />

Zum Beitrag „Die zaudernde Weltmacht“ von Roger Cohen, August 2014<br />

Was die Welt nicht braucht<br />

Amerika war und ist zweifellos in vielen Bereichen führend, und die Welt hat<br />

ihm sicher etliche positive, erfreuliche Entwicklungen zu verdanken, aber es<br />

trägt auch für viele Fehlentwicklungen Verantwortung. Ob die Welt alles, was<br />

aus Amerika kommend über sie geschwappt ist, wirklich gebraucht hätte, sei einmal<br />

dahingestellt, entziehen konnte sie sich ihm nur schwerlich. Was die Welt<br />

aber keinesfalls braucht, weil es sie destabilisiert und ihre Ordnung völlig durcheinanderbringt,<br />

ist eine freiheitlich demokratische Weltmacht, die demokratische<br />

Grundsätze leichtfertig über Bord wirft, wenn sie es für angeraten hält, und die<br />

Gesetze anderer Staaten missachtet.<br />

Nelly Böhmert, Rodenbach<br />

Zum Beitrag „Totalitäre Religion“ von<br />

Frank A. Meyer, August 2014<br />

Treffende Worte<br />

Vielen Dank für die treffenden<br />

Worte in Ihrem Artikel. Es ist so nötig,<br />

dass jemand das Offensichtliche<br />

formuliert und auf den Punkt bringt.<br />

Leider ist die deutsche Gesellschaft<br />

mehr und mehr von einer linken<br />

Sichtweise dominiert, die eine kritische<br />

Auseinandersetzung mit Themen<br />

der Integration und eben auch<br />

mit dem Islam unmöglich macht. Ich<br />

habe mich oft gefragt, woran das<br />

liegt. Wahrscheinlich ist es eine Mischung<br />

aus dem von Sigmund Freud<br />

formulierten Abwehrmechanismus<br />

„Reaktionsbildung“ (bei dem unangemessene<br />

Gedanken abgewehrt<br />

werden, indem sie ins Gegenteil umgekehrt<br />

werden) und einer unerträglichen<br />

kognitiven Dissonanz, die<br />

entstehen würde, wenn die Wirklichkeit<br />

in die Vorstellungswelt vieler<br />

Sozialromantiker Einzug halten<br />

würde.<br />

Daniel Spitzer, Heilbronn<br />

Religion ist nie modern<br />

Als ich in der Unterzeile von der<br />

Überlegenheit des „christlich-jüdischen<br />

Kulturkreises“ las, hatte<br />

ich einen Moment lang Zweifel am<br />

sonst so kritischen Blick von Herrn<br />

Meyer. Aber zum Glück hat die Redaktion<br />

den Kommentar nur falsch<br />

zusammengefasst. Vom Christenund<br />

Judentum muss in einem Artikel<br />

über den reaktionären Islam (übrigens<br />

eine gute Analyse!) gar nicht<br />

vergleichend die Rede sein, da jede<br />

Religion, wie Meyer schreibt, „Behinderung<br />

von Intelligenz, von Neugierde,<br />

von Ehrgeiz, von Eigenverantwortung<br />

– von Leben“ ist. Mit<br />

Schaudern denke ich ans Luther-Jubiläum<br />

in drei Jahren, wenn es wieder<br />

allerorten heißen wird, wie modern<br />

„unsere“ Religion ist. Religion<br />

ist nie modern, muss es auch nicht<br />

sein. Denn die Selbstentwürdigung<br />

des Menschen durch den Glauben<br />

an einen, der ihn und andere lenkt,<br />

wohnt jeder Religion inne.<br />

Tilman Lucke, Berlin<br />

Danke<br />

Danke für Ihren aufklärerischen<br />

und gradlinigen Beitrag im <strong>neue</strong>n<br />

<strong>Cicero</strong>. Nicht immer liebe ich, was<br />

Sie schreiben, aber lese alles. Dieser<br />

Beitrag ist so klar, dass ich mich<br />

spontan dafür bedanken muss.<br />

Kurt Reuter, Heusenstamm<br />

Mangelnde Seriosität<br />

Die August-Ausgabe des <strong>Cicero</strong><br />

steht unter dem Titel: „Ist der Islam<br />

böse?“ Als ich das sah, hoffte<br />

ich, dass es in dem Heft um Ressentiments<br />

gehen würde, und<br />

nicht, dass abgestandene Ressentiments<br />

ein weiteres Mal aufgewärmt<br />

würden.<br />

Da Herr Meyer nicht als Experte<br />

ausgewiesen wird, gehe ich<br />

davon aus, dass er vom Islam ungefähr<br />

so viel weiß wie andere informierte<br />

Menschen auch. Nun kann<br />

es ja erfrischend sein, wenn informierte<br />

Laien ihre Eindrücke und<br />

Gedanken schildern. Aber wenn<br />

sich jemand anschickt, ohne tiefere<br />

Kenntnis über das Wesen einer Religion<br />

zu schreiben, ist doch jede<br />

Seriosität schon verloren gegangen.<br />

In seinem Hang zum Essentialismus<br />

steht Herr Meyer den islamistischen<br />

Fundamentalisten in<br />

nichts nach, wenn er meint, am Islam<br />

sei etwas, das alle seine Vorkommen<br />

im Vorhinein verdirbt<br />

und es unmöglich macht, muslimischen<br />

Glaubens und gleichzeitig<br />

modern, intellektuell, zweifelnd<br />

und so weiter zu sein.<br />

Philipp Bode, Oldenburg<br />

12<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


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IMPRESSUM<br />

VERLEGER Michael Ringier<br />

CHEFREDAKTEUR Christoph Schwennicke<br />

STELLVERTRETER DES CHEFREDAKTEURS<br />

Alexander Marguier<br />

REDAKTION<br />

TEXTCHEF Georg Löwisch<br />

CHEFIN VOM DIENST Kerstin Schröer<br />

RESSORTLEITER Lena Bergmann ( Stil ),<br />

Judith Hart ( Weltbühne ), Dr. Alexander Kissler ( Salon ),<br />

Til Knipper ( Kapital ), Constantin Magnis<br />

( Reportagen ), Dr. Frauke Meyer-Gosau ( Literaturen )<br />

CICERO ONLINE Christoph Seils ( Leitung ),<br />

Petra Sorge, Timo Stein<br />

ASSISTENTIN DES CHEFREDAKTEURS<br />

Monika de Roche<br />

REDAKTIONSASSISTENTIN Sonja Vinco<br />

ART-DIREKTORIN Viola Schmieskors<br />

BILDREDAKTION Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

PRODUKTION (DRUCK + DIGITAL) Utz Zimmermann<br />

VERLAG<br />

GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />

Michael Voss<br />

VERTRIEB UND UNTERNEHMENSENTWICKLUNG<br />

Thorsten Thierhoff<br />

REDAKTIONSMARKETING Janne Schumacher<br />

NATIONALVERTRIEB/LESERSERVICE<br />

DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH<br />

Düsternstraße 1–3, 20355 Hamburg<br />

VERTRIEBSLOGISTIK Ingmar Sacher<br />

ANZEIGEN-DISPOSITION Erwin Böck<br />

HERSTELLUNG Michael Passen<br />

DRUCK/LITHO Neef+Stumme<br />

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CICERO ERSCHEINT IN DER<br />

RINGIER PUBLISHING GMBH<br />

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GRÜNDUNGSHERAUSGEBER<br />

Dr. Wolfram Weimer<br />

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in<br />

Onlinedienste und Internet und die Vervielfältigung<br />

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Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder<br />

übernimmt der Verlag keine Haftung.<br />

Copyright © 2014, Ringier Publishing GmbH<br />

V.i.S.d.P.: Christoph Schwennicke<br />

Printed in Germany<br />

EINE PUBLIKATION DER RINGIER GRUPPE<br />

Zum Beitrag „Die Blutspur des<br />

Propheten“ von Gilles Kepel, August 2014<br />

Zynischer Missbrauch<br />

Religiosität ist, anerkannt oder geleugnet,<br />

ein Grundbedürfnis des<br />

Menschen. Es ist eine tragische Paradoxie,<br />

dass die Religionen einerseits<br />

zu den größten Kulturgütern<br />

der Menschheit gehören, andererseits<br />

für sie eine große Gefahr darstellen.<br />

Religiöser Transzendenzbezug<br />

ist schwer zu rationalisieren.<br />

<strong>Das</strong> verführt zu dogmatisch fixierter<br />

Irrationalität. Es ist diese unheilvolle<br />

Allianz zwischen Dogmatismus<br />

und Irrationalität, welche<br />

Religionen dafür anfällig macht,<br />

zu Nährböden für machtpolitische<br />

Ideologisierungen zu werden.<br />

Der Islam ist in dieser Hinsicht<br />

besonders gefährdet, da sich in seiner<br />

Lehre ein inhärentes Gewaltpotenzial,<br />

das sich politisch ausbeuten<br />

lässt, mit einer im Vergleich zu den<br />

anderen großen Religionen geringergradigen<br />

intellektuellen Durchdringung<br />

verbindet. Diese Gefahr<br />

wird durch die weltweite Verbreitung<br />

des Islam noch potenziert. Dabei<br />

ist nicht der muslimische Glaube<br />

selbst das Problem, sondern der<br />

zynische Missbrauch intellektueller<br />

Schwachstellen der islamischen<br />

Glaubenslehre im Interesse politischer<br />

Machtausübung.<br />

Dr. Jürgen Lambrecht, Baden-Baden<br />

SERVICE<br />

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einer <strong>Cicero</strong>-Ausgabe? Ihr <strong>Cicero</strong>-Leserservice hilft Ihnen<br />

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Großhändler nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist dann in der<br />

Regel am Folgetag erhältlich.<br />

Europa schaut zu<br />

Als ich vor etlichen Jahren für drei<br />

Jahre beruflich in arabischen Ländern<br />

tätig war, gab es zwar auch<br />

schon Terror, aber nicht in dem teuflischen<br />

Ausmaß wie heute. Die Verschleppung<br />

von über 200 jungen<br />

Schulmädchen in Nigeria, das feige<br />

Vorgehen von Al Schabab in Somalia<br />

oder die grausamen Tötungen<br />

der „IS-Horden“ in Syrien und im<br />

Irak sind Verbrechen an der eigenen<br />

Bevölkerung.<br />

Was ist zu tun? Die Alliierten<br />

damals haben uns Deutsche von<br />

den feigen Nazi-Schergen befreit.<br />

Wie lange noch will Europa nur Zuschauer<br />

spielen?<br />

Dipl.-Ing. Erwin Chudaska, Rödermark<br />

14<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

Zum Beitrag „Ich scanne jeden<br />

automatisch“ von Georg Löwisch und<br />

Christoph Schwennicke, August 2014<br />

Karikatur: Hauck & Bauer<br />

Klinischer Theoretiker<br />

<strong>Cicero</strong> nennt sich „Magazin für<br />

politische Kultur“, und in diesem<br />

Sinne klang das Gespräch (Interview<br />

erscheint mir zu hoch gegriffen)<br />

mit Herrn Lauterbach nur als<br />

eine dünne „politische“ Dampfplauderei.<br />

Die nichtssagenden Allgemeinplätze<br />

des Interviewten zeigten<br />

einmal mehr, wie weit Herr Lauterbach<br />

vom Alltag des Arztes entfernt<br />

lebt. Weder sind seine „medizinischen“<br />

Verlautbarungen noch seine<br />

Anamnesen und Befunde spezifisch<br />

für einen Arzt. Es handelt sich in<br />

seinen Antworten fast nur um<br />

Oberflächlichkeiten, Vermutungen<br />

und Banalitäten.<br />

Es wäre schön und politisch<br />

korrekt, wenn Herr Lauterbach sich<br />

eindeutiger dazu bekennt, nur ein<br />

klinischer Theoretiker zu sein ( seine<br />

ärztliche Zulassung hat er ja auch<br />

erst vor kurzer Zeit erhalten ). Denn<br />

lebendige Patienten und einen<br />

Arbeitsalltag als Arzt hat er lange<br />

nicht mehr erlebt. Deshalb sind seine<br />

Ideen, Theorien und Pläne für den<br />

deutschen Medizinbetrieb kontraproduktiv<br />

und nur klientelorientiert<br />

(und am Ende wieder überteuert für<br />

die gesetzlich Versicherten).<br />

Dr. Moritz Ries, Ebstorf<br />

Zum Beitrag „Bärtige Jungfrauen küsst<br />

man nicht“ von Beat Wyss, Juli 2014<br />

Medizinische Erklärung<br />

Im Artikel über die heilige Kümmernis<br />

vermisse ich als Frauenarzt<br />

eine naturwissenschaftliche alternative<br />

Erklärung. Es gibt seltene Eierstocktumore,<br />

die aus sich heraus<br />

männliche Geschlechtshormone bilden<br />

und bei den betroffenen Frauen<br />

zu einem erheblichen Bartwuchs<br />

führen können. In Abhängigkeit<br />

von der Wachstumsgeschwindigkeit<br />

des Tumors kann der Bartwuchs relativ<br />

rasch auftreten, sodass aus<br />

der Distanz von mehreren Jahrhunderten<br />

ein Bartwuchs „über Nacht“<br />

plausibel erscheint.<br />

Prof. Dr. Volker Hanf, Fürth<br />

Zu <strong>Cicero</strong>, August 2014<br />

Bereichernd<br />

Ich bin ein frisch gebackener <strong>Cicero</strong>-Leser.<br />

Zu meinem Geburtstag<br />

habe ich ein Abo von meiner<br />

Mutter geschenkt bekommen. Wie<br />

sich herausstellt, hätte meine Mutter<br />

mir kein besseres Geschenk machen<br />

können. Denn ich kenne kein<br />

vergleichbares Magazin. Hervorragende<br />

journalistische Arbeit, von<br />

der man nicht genug kriegen kann.<br />

Perfekte Themenauswahl mit super<br />

Hintergrundrecherchen sowie die<br />

Profile, die Sie von vielen Politikern<br />

zeichnen, bereiten mir in jedem Artikel<br />

aufs <strong>neue</strong> Euphorie.<br />

Gerade weil der Spiegel meiner<br />

Meinung nach qualitativ sehr leidet,<br />

kann ich meine Freude über den <strong>Cicero</strong><br />

und all seine zahlreichen Facetten<br />

nicht mehr länger für mich<br />

behalten. Darum wollte ich mir dieses<br />

Lob für niemand anderen als die<br />

Redaktion aufsparen: Vielen Dank<br />

für die bereichernde journalistische<br />

Glanzleistung!<br />

Laura-Marina Föller, Bonn<br />

Richtigstellung<br />

Im August-Heft berichtete Peter Henning<br />

unter dem Titel „Licht im Schacht“<br />

auf S. 103 von einer Begegnung mit der<br />

Schriftstellerin Judith Hermann. Wir<br />

bedauern außerordentlich, feststellen<br />

zu müssen, dass es die Begegnung zwischen<br />

der Autorin und Peter Henning<br />

nicht gegeben hat. Wir entschuldigen<br />

uns in aller Form bei Frau Hermann für<br />

die falsche Berichterstattung, die zudem<br />

noch zu früh erfolgt ist: Ihr Roman<br />

„Aller Liebe Anfang“ ist am 15. August<br />

2014 im Verlag S. Fischer erschienen.<br />

Die <strong>Cicero</strong>-Redaktion<br />

Anmerkung der Redaktion<br />

Zu dieser Richtigstellung, die auf<br />

Wunsch des Verlags S. Fischer erscheint,<br />

möchten wir anmerken, dass der Autor<br />

uns getäuscht hat. Er gab schriftlich<br />

und telefonisch eingeholte Zitate als<br />

Resultat eines Treffens aus. Wir bedauern<br />

den Vorfall sehr.<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen<br />

senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />

15<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

EIN GEFÜHL VON<br />

GEBORGENHEIT<br />

Von HERFRIED MÜNKLER<br />

Der Nationalstaat stellt die effektivste<br />

und leistungsfähigste Ordnung dar, die es in<br />

der politischen Geschichte je gegeben hat.<br />

<strong>Das</strong> gilt im Guten wie im Schlimmen – die<br />

Fusion von Staat und Nation bleibt ein<br />

gefährliches Projekt<br />

Illustrationen OLAF HAJEK<br />

16<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

Der Begriff „Nationalstaat“ geht uns flott von<br />

den Lippen. Dabei ist das Kompositum aus<br />

Nationalität und Staatlichkeit das Ergebnis<br />

harter politischer Kämpfe – politischer Konflikte<br />

im Innern, in denen politische Intellektuelle die<br />

Idee der Nation als Hebel der Veränderung angesetzt<br />

haben, um den Dienern des Königs die Macht streitig<br />

zu machen, ebenso aber auch zwischenstaatlicher<br />

Kriege, in denen unter Verweis auf nationale Zugehörigkeit<br />

Grenzen verschoben und Menschen vertrieben<br />

wurden. Die Idee der Nation hat in der politischen<br />

und kulturellen Geschichte Europas eine<br />

überaus ambivalente Wirkung gehabt. Sie diente als<br />

Parole der Befreiung wie der Unterdrückung. Ob die<br />

Nation bei ihren Bürgern einen guten Ruf hat oder<br />

eher übel beleumundet ist, hängt von den geschichtlichen<br />

Erfahrungen ab. Dementsprechend<br />

unterschiedlich wird<br />

das Nationale in Europa beurteilt:<br />

Während Polen und Franzosen auf<br />

ihre Nation nichts kommen lassen,<br />

sind die Deutschen skeptisch, wenn<br />

von der Nation die Rede ist, jedenfalls<br />

bei politischen Fragen. In Angelegenheiten<br />

des Sports ist man<br />

etwas großzügiger.<br />

Dabei ist keineswegs eindeutig,<br />

was mit Nation gemeint ist und<br />

nach welchen Kriterien man ihr zugerechnet<br />

wird: Ist sie das Ergebnis<br />

einer Zugehörigkeitserklärung, die<br />

individuell oder im Kollektiv abgegeben<br />

worden ist, oder handelt es<br />

sich um eine Schicksalsgemeinschaft,<br />

in die man hineingeboren<br />

wird? Steht der Begriff der Nation,<br />

wissenschaftlich formuliert, für „demos“<br />

oder „ethnos“? Über diese Frage ist zu Beginn<br />

des 20. Jahrhunderts eine Debatte zwischen deutschen<br />

und französischen Gelehrten ausgetragen worden, Ernest<br />

Renan und Friedrich Meinecke in vorderster Linie.<br />

Ausgangspunkt war der Problemfall Elsass, wo<br />

man deutsch sprach, sich aber mehrheitlich der französischen<br />

Republik zugehörig fühlte. Die Zugehörigkeitslinien<br />

überschnitten sich, Kulturnation stand gegen<br />

Staatsnation. Der Konflikt ließ sich erst lösen, als<br />

man ein Drittes ins Spiel brachte: Europa als gemeinsamen<br />

politisch-kulturellen Raum. Nationalitätenkonflikte<br />

haben eine Intensität, der nur noch Religionskonflikte<br />

gleichkommen. Will man deren kriegerische<br />

Austragung vermeiden, braucht man übergreifende<br />

Ideen und Strukturen. Der Völkerbund war und die<br />

Vereinten Nationen sind ein Projekt, das Konfliktpotenzial<br />

des Nationalen zu entschärfen, ohne auf die<br />

Kohäsionskraft und das Solidarisierungspotenzial des<br />

Nationalen verzichten zu müssen. Ob das auch für die<br />

EU gilt, ist umstritten. Die Idee der Nation sperrt sich<br />

Der Staat will<br />

die Menschen<br />

ordnen und<br />

disziplinieren.<br />

Die Nation<br />

dagegen versetzt<br />

sie<br />

in Aufregung<br />

gegen ein Zuviel an Europa, wenn dies auf eine Trennung<br />

von Nation und Staat hinauslaufen soll. Die Suche<br />

nach Kompromissen ist zäh und schwierig; einmal<br />

mehr machen sich die unterschiedlichen Erfahrungen<br />

mit der Nation bemerkbar.<br />

Im Zusammenspiel von Staatlichkeit und Nationalität<br />

steht der Staat für die Statik des politischen<br />

Systems, für eine Ordnung, die vor allem aus vertikalen<br />

Verstrebungen besteht, während der Nation ein<br />

starkes Moment von Dynamik eigen ist: Gegen die<br />

Vertikalität des Staates stellt sie horizontale Bindungen,<br />

gegen die Fürsorglichkeit von „Vater Staat“ die<br />

„Brüderlichkeit“ der Bürger. Ein ums andere Mal war<br />

es die politische Idee der Nation, die Veränderungen<br />

angestoßen hat, etwa in den Anfängen der Französischen<br />

Revolution, als der Begriff der Nation zum<br />

Hebel wurde, um Königsherrschaft<br />

und Ständeordnung aus den Angeln<br />

zu heben und die Idee von der<br />

Rechtsgleichheit aller Bürger durchzusetzen.<br />

Oder im Deutschland des<br />

Vormärz, als sich Nation und Demokratie<br />

miteinander verbanden,<br />

um gegen Restauration, Kleinstaaterei<br />

und Ungleichheit anzukämpfen.<br />

Der Staat war und ist darauf<br />

bedacht, die Menschen in Ruhe zu<br />

halten, sie zu ordnen und zu disziplinieren.<br />

Die Nation dagegen versetzt<br />

sie in Aufregung und bringt<br />

sie in Bewegung.<br />

Es kommt nicht von ungefähr,<br />

dass die Kombination von Staat und<br />

Nation, der Nationalstaat, die effektivste<br />

und leistungsfähigste politische<br />

Ordnung darstellt, die es in der<br />

politischen Geschichte gegeben hat,<br />

im Guten wie im Schlimmen. <strong>Das</strong> zeigen Verlauf und<br />

Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs: Betrachtet man<br />

den Krieg einmal als eine Auseinandersetzung zwischen<br />

Nationalstaat und multinationalem Großreich im<br />

Sinne konkurrierender politischer Ordnungsmodelle,<br />

so war sein Ausgang ein schlagender Nachweis für die<br />

Überlegenheit des Nationalstaats: Er konnte nicht nur<br />

seine materiellen Ressourcen besser einsetzen, sondern<br />

auch die Opferbereitschaft der Menschen in viel<br />

höherem Maße mobilisieren, als dies die Großreiche<br />

des Ostens vermochten. Mit Blick auf die Opferbereitschaft<br />

kann man das auch als ein Argument gegen die<br />

Nationalstaaten auffassen – freilich nur so lange, wie<br />

man sie auf das Menschenschlachthaus Krieg bezieht.<br />

<strong>Das</strong> Zusammenspiel von Staat und Nation beruht<br />

jedoch auf Voraussetzungen, die weder selbstverständlich<br />

noch überall herzustellen sind. So gibt es<br />

Räume, wie etwa den Balkan, wo sich eine kleinräumige<br />

Siedlungsstruktur unterschiedlicher ethnischer<br />

(und religiöser) Gruppen herausgebildet hat, sodass<br />

19<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

die Gründung eines Nationalstaats dort zwangsläufig<br />

zur Entstehung nationaler Minderheiten führen musste,<br />

die einen niederen Status bekamen und sich diskriminiert<br />

fühlten. So entstand die Versuchung, auf die daraus<br />

erwachsene politische Instabilität mit „ethnischen<br />

Säuberungen“ zu reagieren. In anderen Fällen wurde<br />

eine „Obernation“ erfunden, unter der die verschiedenen<br />

Ethnien zu einer nationalen Einheit zusammengefasst<br />

werden konnten. In einigen Fällen ging das gut,<br />

wie bei den Deutschen, wo Sachsen, Franken, Bayern,<br />

Schwaben und all die anderen auf den Status einer Nation<br />

verzichteten und sich mit dem des Volksstamms<br />

beschieden; in anderen Fällen führte es zu Spannungen<br />

und Separationsbestrebungen, etwa in Spanien,<br />

wo die Katalanen die Unabhängigkeit anstreben, oder<br />

bei den Briten, wo die Schotten jetzt in einer Abstimmung<br />

entscheiden, ob sie sich von<br />

den Engländern trennen, mit denen<br />

sie seit mehr als drei Jahrhunderten<br />

einen gemeinsamen Staat bilden.<br />

Tschechen und Slowaken haben<br />

sich in den neunziger Jahren<br />

friedlich getrennt, im Unterschied<br />

zu Jugoslawien, wo das zu mehreren<br />

Kriegen führte. Wie es um die<br />

Ukraine als Nationalstaat bestellt<br />

ist, wird sich in den nächsten Monaten<br />

zeigen. <strong>Das</strong> Zusammenbringen<br />

von Staat und Nation ist ein politisch<br />

riskantes Projekt: Wenn es<br />

scheitert, hinterlässt es meist eine<br />

Spur der Verwüstung.<br />

Es waren und sind die Staatenund<br />

Bürgerkriege, die viele in der<br />

Auffassung bestärkt haben, man<br />

solle, ja müsse sich von der Idee der<br />

Nation verabschieden und stattdessen<br />

politische Einheiten bilden, die weniger starke Inklusions-<br />

und Exklusionsmechanismen aufweisen. Je<br />

mehr Kompetenzen von den europäischen Nationalstaaten<br />

auf „Brüssel“ übergehen, desto stärker wird<br />

die EU zu einem solchen Projekt. Nach den Vorstellungen<br />

einiger soll die Nation eine weitgehend auf Folkloreniveau<br />

gestutzte Größe sein, der politisch so gut wie<br />

keine Bedeutung mehr zukommt. Man erhofft sich davon<br />

eine stärkere Integration des EU-Raumes.<br />

Die Ironie der europäischen Integration besteht jedoch<br />

darin, dass man so die Nation gerade nicht loswird:<br />

Die nationalen Selbstständigkeitsbestrebungen<br />

der Katalanen, Schotten, Bretonen und manch anderer<br />

sind nichtintendierte Effekte der EU. Erst die EU hat<br />

die Überzeugung bestärkt, man könne sich vom bisherigen<br />

Staat lossagen, weil die negativen wirtschaftlichen<br />

und sozialen Effekte durch die EU abgefedert<br />

würden. Ohne die Überlebensgarantien der EU wären<br />

die Separationsforderungen Parolen einer kleinen Minderheit<br />

geblieben, politische Folklore eben.<br />

Staaten werden geschaffen, von Politikern,<br />

Bürokraten und Militärs. Nationen dagegen<br />

werden erfunden, und dabei spielen Gelehrte<br />

und Intellektuelle eine entscheidende Rolle.<br />

Sie sorgen für eine gemeinsame Hochsprache, indem<br />

sie deren Wortschatz bereichern und eine Grammatik<br />

ausarbeiten, indem sie die Geschichte der Nation festhalten<br />

und Karten zeichnen, die deren Grenzen zeigen.<br />

So entsteht in Raum und Zeit ein Identifikationsangebot,<br />

das vielen als eine zweite Natur erscheint. <strong>Das</strong> alles<br />

sind jedoch – nach der <strong>neue</strong>ren Forschung – Imaginationen,<br />

also nur Vorstellungen und Erfindungen.<br />

Diese Imaginationen sind allerdings sehr wirksam:<br />

Sie schaffen Ebenen der Zusammenarbeit und Chancen<br />

für Karrieren, die es bis dahin in dieser Breite<br />

und Egalität nicht gegeben hat. <strong>Das</strong> Imaginative wird<br />

zum Realen. Es war (und ist) diese<br />

Erfahrung, die viele Menschen so<br />

eng an die Nation gebunden hat.<br />

Der Nationalstaat<br />

ist auch<br />

so etwas wie<br />

die Rückversicherung<br />

der EU.<br />

Ohne ihn wäre<br />

sie auf Treibsand<br />

gebaut<br />

Sie hat ihnen gegeben, was zuvor<br />

nur getrennt zu haben war: sozialer<br />

Aufstieg und das Gefühl von<br />

Geborgenheit. Mit der Globalisierung<br />

hat sich beides wieder voneinander<br />

getrennt, und es gibt einen<br />

Zwang, sich für das eine oder das<br />

andere zu entscheiden.<br />

Es sind jedoch nicht nur die<br />

Globalisierungsverlierer, die an<br />

der Nation hängen und den Nationalstaat<br />

nicht aufgeben wollen. Der<br />

Nationalstaat ist auch so etwas wie<br />

eine Rückversicherung der EU. <strong>Das</strong><br />

hat sich in der Eurokrise gezeigt.<br />

Als die EU vielen als ein Raum der<br />

Entsolidarisierung erschien, wurde<br />

der Nationalstaat als Raum der Solidarität<br />

wahrgenommen. Diese Wahrnehmung mag zutreffend<br />

oder falsch sein, aber sie wirkt. Eine EU ohne<br />

nationalstaatlichen Unterbau wäre ein in den Treibsand<br />

der Globalisierung gebautes Haus. Es bekäme<br />

bald Risse und fiele auseinander. Die Verbindung von<br />

Statik und Dynamik, die dem Nationalstaat gelungen<br />

ist, lässt sich auf europäischer Ebene nicht wiederholen.<br />

Man muss die Nationen mitsamt einer gewissen<br />

Staatlichkeit in die EU einbauen, um ihr die erforderliche<br />

Elastizität zu verschaffen.<br />

HERFRIED MÜNKLER ist Professor für<br />

Politikwissenschaften an der Humboldt-<br />

Universität in Berlin. Vom 1951 geborenen Autor<br />

zahlreicher Bücher ist zuletzt erschienen: „Der<br />

Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“<br />

Foto: Caro Fotoagentur<br />

20<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Überblick<br />

EUROPA UND<br />

SEINE SEPARATISTEN<br />

Schotten, Katalanen, Südtiroler:<br />

Projekte der Abspaltung sind in Europa<br />

häufig. Mal sind sie in der Schwebe ,<br />

mal gescheitert oder schon vollzogen<br />

SCHOTTLAND<br />

Am 18. September entscheidet<br />

eine Volksabstimmung, ob<br />

Schottland nach über 300 Jahren<br />

das Vereinigte Königreich verlassen<br />

wird. Wie genau eine<br />

Abspaltung vonstattengehen soll,<br />

wissen auch die hartgesottensten<br />

Separatisten nicht.<br />

KATALONIEN<br />

Diktator Franco unterdrückte<br />

Sprache und Kultur der<br />

Katalanen brutal. Im demokratischen<br />

Spanien sind es die<br />

Transferzahlungen, die eine<br />

Sezession im reichen Barcelona<br />

populär machen. Katalonien<br />

will am 9. November über die<br />

Unabhängigkeit abstimmen. <strong>Das</strong><br />

spanische Verfassungsgericht hält<br />

das Referendum für unrechtmäßig.<br />

FLANDERN<br />

Die flämischen Separatisten<br />

aus dem wohlhabenden Norden<br />

sehnen die Auflösung des<br />

belgischen Staates herbei. Die<br />

Überweisungen ins arme, fran-<br />

zösischsprachige Wallonien sind<br />

ihnen ein Graus. In der <strong>neue</strong>n<br />

Mitte-Rechts-Regierung, in der<br />

flämische Parteien klar überwiegen,<br />

sitzen die Separatisten nun<br />

gar mit am Kabinettstisch.<br />

NORDITALIEN<br />

Laut schimpft die Lega Nord auf<br />

Rom und Italiens Süden – und regierte<br />

jahrelang an der Seite Silvio<br />

Berlusconis. Derzeit findet ihr Ruf<br />

nach Unabhängigkeit in Venetien<br />

Anklang: Laut einer inoffiziellen<br />

Online-Abstimmung unterstützt<br />

dort eine Mehrheit die Trennung<br />

von Italien.<br />

GRÖNLAND<br />

Die ehemalige dänische Kolonie<br />

genießt weitgehende Autonomie.<br />

Bereits 1985 war das Territorium<br />

aus der Europäischen Union<br />

ausgetreten. Wirtschaftlich ist<br />

es aber immer noch vom EU-<br />

Mitglied Dänemark abhängig.<br />

Nationalisten geht die Autonomie<br />

nicht weit genug – sie wollen ein<br />

souveränes Grönland.<br />

SÜDTIROL<br />

Als Kriegsbeute ging Südtirol nach<br />

dem Ersten Weltkrieg an Italien.<br />

Mit einer weitgehenden Autonomie<br />

schien Rom eine Antwort auf die<br />

Sezessionsforderungen gefunden<br />

zu haben. Doch die italienische<br />

Misere gibt den deutschsprachigen<br />

Separatisten wieder Auftrieb. Eine<br />

Mehrheit aber bilden sie nicht.<br />

KORSIKA<br />

Anschläge auf Napoleons Heimatinsel<br />

scheinen nach beinahe<br />

40 Jahren passé. Die korsische<br />

Untergrundbewegung FLNC hat diesen<br />

Sommer verkündet, auf Gewalt<br />

verzichten zu wollen. Nun sollen<br />

Verhandlungen mit der französischen<br />

Regierung der Mittelmeerinsel<br />

mehr Autonomie verschaffen.<br />

BASKENLAND<br />

Die Terroristen der Eta haben<br />

der Gewalt abgeschworen. Doch<br />

mit dem Ende der Anschläge<br />

ist die Frage der Autonomie<br />

noch nicht gelöst. Der Ruf nach<br />

Unabhängigkeit bleibt in der<br />

nordspanischen Region äußerst<br />

populär. <strong>Das</strong> zeigte sich bei den<br />

jüngsten Wahlen: Seit 2012 stellen<br />

die baskischen Nationalisten wieder<br />

die Regierung.<br />

UNGARN<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg<br />

büßte Ungarn zwei Drittel seines<br />

Staatsgebiets ein. Dies haben<br />

die hartgesottenen Nationalisten,<br />

unter ihnen Präsident Viktor<br />

Orbán, bis heute nicht verwunden.<br />

Regelmäßig provoziert<br />

Budapest seine Nachbarn mit<br />

Autonomieforderungen für die<br />

ungarischen Minderheiten, zuletzt<br />

im Mai die Ukraine.<br />

NORDIRLAND<br />

<strong>Das</strong> Karfreitagsabkommen zwischen<br />

Dublin und London brachte 1998 so<br />

etwas wie Stabilität in den Norden<br />

der Insel. Aber radikale Gegner<br />

der britischen Präsenz und ebenso<br />

sture Unionisten bleiben weiter eine<br />

Gefahr für Nordirland.<br />

BAYERN<br />

Wäre Bayern eigenständig durch<br />

die Geschichte geschritten, dann<br />

wäre es heute eine „Mittelmacht“,<br />

vergleichbar mit Holland, dozierte<br />

einst Edmund Stoiber. Allerdings:<br />

Die offen sezessionistisch agierende<br />

Bayernpartei errang bei der<br />

Landeswahl 2013 nur 2,1 Prozent.<br />

JUGOSLAWIEN<br />

Nach den Kriegen der neunziger<br />

Jahre war der Vielvölkerstaat<br />

Geschichte. Serbien hatte vergeblich<br />

das Unabhängigkeitsstreben<br />

der Slowenen, Kroaten und Bosnier<br />

bekämpft. Als letzter Staat spaltete<br />

sich Montenegro friedlich ab.<br />

In Kosovo und Bosnien schwelt der<br />

Konflikt bis heute.<br />

TSCHECHOSLOWAKEI<br />

Den Kommunismus schüttelten<br />

Tschechen und Slowaken noch Seite<br />

an Seite ab. Aber auf eine gemeinsame<br />

Verfassung oder auch nur<br />

den Namen der jungen Demokratie<br />

konnten sie sich nicht mehr einigen.<br />

Ab 1993 gingen Tschechien und die<br />

Slowakei, einvernehmlich getrennt,<br />

eigene Wege.<br />

SM<br />

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TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

DIE ALTEN<br />

SÜNDEN SIND<br />

VERJÄHRT<br />

Wie ich auf Umwegen<br />

und zu meinem eigenen<br />

Erstaunen mit dem<br />

heiklen Begriff der<br />

Nation endlich Frieden<br />

schloss: Erfahrungen<br />

eines deutschen Historikers,<br />

der seit 18 Jahren<br />

im Ausland studiert,<br />

lehrt und forscht<br />

Von THOMAS WEBER<br />

Als ich im Herbst 1996 schwer bepackt einen<br />

Zug nach England bestieg, um in Oxford<br />

mein Studium der Geschichte fortzusetzen,<br />

hätte ich kaum geglaubt, dass mir zehn Jahre<br />

später eine 1918 in Polen geborene Jüdin mein erstes<br />

Deutschland-T-Shirt schenken würde. Schon gar nicht<br />

hätte ich mir vorstellen können, dass ich 18 Jahre später,<br />

im Jahr 2014, Verständnis für Nationalisten bei einem<br />

Unabhängigkeitsreferendum haben würde.<br />

Wie alle guten Deutschen bin ich in Oxford sogleich<br />

der Oxford University European Society beigetreten<br />

– und nicht der German Society der Universität.<br />

Ich fand zwar schon damals das Gebaren von Deutschen<br />

in Oxford albern, die auf keinen Fall als Deutsche<br />

wahrgenommen werden wollten, dadurch aber<br />

genau das Gegenteil erreichten. In deutsche Uniform<br />

gekleidet – Jack-Wolfskin-Jacke und Sandalen mit Socken<br />

–, ereiferten sie sich mit starkem deutschen Akzent<br />

pausenlos darüber, wie teuer hier doch alles sei.<br />

Dennoch dauerte es eine Zeit, bis ich merkte, dass<br />

ich mit der European Society der wahren Oxford University<br />

German Society beigetreten war. Denn die<br />

meisten Griechen, Polen oder Franzosen waren der<br />

Greek, Polish oder French Society und nur gelegentlich<br />

der European Society beigetreten. Dennoch waren<br />

sie genauso proeuropäisch wie die Deutschen. Sie<br />

verstanden sich auch gut mit uns, konnten nur oft nicht<br />

verstehen, warum so viele junge Deutsche unbedingt<br />

nur europäisch, aber nicht auch deutsch sein wollten.<br />

Es war eigenartig: Trotz der Millionen von Deutschen<br />

ermordeten Polen des Zweiten Weltkriegs hatten<br />

meine polnischen Freunde in Oxford mit Deutschland<br />

ein viel geringeres Problem als manche deutsche<br />

Kommilitonen. Sie griffen Radosław Sikorski vor, der<br />

ein Jahrzehnt vor mir in Oxford studiert hatte. Im Jahr<br />

2011 sollte Sikorski, mittlerweile zum polnischen Außenminister<br />

avanciert, sagen, dass er heute deutsche<br />

Macht weniger fürchte als deutsche Untätigkeit.<br />

Als ich nach sechs Jahren England verließ, um<br />

meine erste Dozentenstelle in Glasgow anzutreten,<br />

war ich abermals gezwungen, meinen Nationen- und<br />

Nationalismusbegriff zu überdenken. Eine Zeit lang<br />

lief ich täglich auf dem Weg zu meinem Büro an einem<br />

Wahlplakat der schottischen Nationalisten vorbei. Es<br />

feierte schottische Nationalisten aller Hautfarben. In<br />

Deutschland hätte das gleiche Poster Werbung für einen<br />

Eine-Welt-Laden gemacht.<br />

Ferner entpuppte sich mein Glasgower Kollege<br />

und Freund Conan Fischer als glühender schottischer<br />

Nationalist, der eng mit der Führung der schottischen<br />

Nationalisten vernetzt ist. Als vielleicht wichtigster<br />

Experte für den Aufstieg der deutschen Nationalsozialisten<br />

kennt der gebürtige Neuseeländer wie kein<br />

Zweiter die dunklen Seiten des Nationalismus. Dennoch<br />

erzählte Fischer mir begeistert von einem Nationalismus,<br />

der gleichermaßen nationale Identität<br />

und Kultur auf der einen und europäische Integration<br />

auf der anderen Seite bejaht. Zu meinem Erstaunen<br />

stellte Fischer mir seine taufrischen Forschungen vor.<br />

22<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

Sie zeigten, dass ein Nebeneinander von ausgeprägter<br />

Vaterlandsliebe und europäischer Integration weder<br />

neu noch ein Geschöpf der nationalen Identitäten der<br />

Staaten der Neuen Welt ist und schon gar nicht rechtem<br />

Gedankengut entsprang.<br />

Natürlich hätten weder die Vaterlandspartei<br />

des späten Kaiserreichs noch die NSDAP<br />

mit einem solchen Nationalismusbegriff etwas<br />

anfangen können. Aber Fischers faszinierende<br />

Funde offenbarten, dass deutsche und französische<br />

Politiker in der Zeit zwischen Stresemann<br />

und Hitler eine solche Nationen- und Europapolitik<br />

verfolgten.<br />

So richtig fielen mir die nationalen Scheuklappen<br />

in Kanada in der jüdischen Familie meiner Frau<br />

von den Augen. Bei meinem ersten Besuch bei meinen<br />

künftigen Schwiegereltern in Toronto wehte mir eine<br />

kanadische Flagge entgegen, als ich auf das Haus zuging,<br />

in dem meine Frau aufgewachsen war. Genauso<br />

selbstverständlich, wie die Frau meiner Familie am<br />

jährlichen Canada Day sich in den Farben Kanadas<br />

zum Grillen kleidet, schenkte mir die Großmutter meiner<br />

Frau vor der Fußball-WM 2006 ein Deutschland-T-<br />

Shirt. Meine Schwiegereltern verstanden nicht, wieso<br />

die zur Weltmeisterschaft auftauchenden schwarzrot-goldenen<br />

Fahnenmeere zu Kontroversen in meiner<br />

Heimat führten: „Aber es ist doch schön, wenn sich<br />

die Deutschen mit ihrer Mannschaft freuen.“<br />

Der Kontrast zwischen kanadischer Vaterlandsliebe<br />

und deutscher wohlgemeinter, aber verkrampfter<br />

Nabelschau wurde mir in den vergangenen Jahren immer<br />

wieder in der unterschiedlichen Erinnerung an den<br />

Ersten Weltkrieg deutlich. 1997 reiste meine Frau mit<br />

ihren Schülern der National Ballet School in Toronto<br />

zum 90. Jahrestag der Schlacht von Vimy Ridge nach<br />

Frankreich. Zusammen mit 3000 weiteren in Replikauniformhemden<br />

gekleideten kanadischen Schülern gedachten<br />

sie der Toten am kanadischen Nationaldenkmal<br />

in Vimy. Begeistert ließen sie sich zusammen mit<br />

dem damaligen kanadischen Oppositionsführer Michael<br />

Ignatieff fotografieren.<br />

Bewegend beschreibt Ignatieff in einem seiner Bücher<br />

diesen Tag und bettet ihn dort in die Geschichte<br />

des kanadischen Liberalismus ein, der vielleicht attraktivsten<br />

politischen Bewegung der Welt. Bei Ignatieff,<br />

dem Autor der Schutzverantwortungsdoktrin der UN,<br />

sind nationale Identität und Internationalismus zwei<br />

Seiten einer Medaille und beide den Toten der Weltkriege<br />

verpflichtet. Die eine Seite bedingt die andere,<br />

da Nationalstaaten nach Ignatieff den Menschen erlauben,<br />

auch in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts<br />

Herr im eigenen Haus zu sein.<br />

Auch Joschka Fischer sprach in einem Band mit<br />

dem Historiker Fritz Stern über das Totengedenken an<br />

den Ersten Weltkrieg. Wie Ignatieff fühlt sich Fischer<br />

dem progressiven Lager zugehörig. Hier enden aber<br />

die Gemeinsamkeiten. Voller Verachtung zog Deutschlands<br />

Ex-Außenminister über Denkmäler wie dasjenige<br />

in Vimy her. Sie sind für ihn nur „ein paar verwitterte<br />

Steine in Form von Kriegerdenkmälern und<br />

Soldatenfriedhöfen“. In den Erinnerungsfeiern an der<br />

ehemaligen Westfront kann er nur „erstarrte Rituale<br />

in Flandern und Nordfrankreich“ sehen. Er war offensichtlich<br />

im Gegensatz zu Ignatieff nicht bei der Gedenkfeier<br />

der Schüler meiner Frau zugegen. Denn Fischer<br />

meint, solche Feiern stießen junge Leute ab und<br />

stünden so einer „kollektiven Erinnerung und Selbstvergewisserung“<br />

im Wege.<br />

Fischers Reaktion ist typisch für den Irrglauben<br />

mancher Deutscher, dass alle anderen Nationen die<br />

gleichen Schlüsse wie sie selbst aus den dunkelsten<br />

Kapiteln gezogen hätten und dass diese Schlüsse programmatisch<br />

sein sollten für eine bessere Zukunft.<br />

Was Fischer und andere Deutsche nicht merken: Sie<br />

stoßen nicht nur die Schüler meiner Frau, sondern die<br />

ganze Welt vor den Kopf. Sie erreichen das Gegenteil<br />

ihres Zieles. Sie treiben Völker auseinander.<br />

Wie mir in den vergangenen 18 Jahren in Oxford,<br />

Glasgow, Toronto, meinen Wanderjahren in Amerika<br />

in Chicago, Philadelphia und am Institute for Advanced<br />

Study in Princeton, dann in Aberdeen und in<br />

Harvard klar geworden ist, beruht die deutsche Herangehensweise<br />

an Nationalstaatlichkeit auf einem einfachen<br />

Denkfehler. Weil die Kriege der Jahre 1914<br />

bis 1945 Auseinandersetzungen zwischen bestehenden<br />

und entstehenden Nationalstaaten gewesen sind,<br />

wird irrigerweise gefolgert, dass die Essenz von Nationalstaatlichkeit<br />

ein überhöhter Nationalismus sei, der<br />

Die deutsche<br />

Herangehensweise<br />

an Nationalstaatlichkeit<br />

beruht auf einem<br />

einfachen<br />

Denkfehler<br />

24<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Illustrationen: Olaf Hajek (Seiten 23 bis 25); Foto: Picture Alliance/DPA<br />

mehr oder weniger unweigerlich zu gewaltsamen Konflikten<br />

führe. In Wahrheit waren die Konflikte der ersten<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts deshalb so blutig, weil<br />

sie Teil einer Transformationsphase von multiethnischen,<br />

dynastischen Reichen, wie sie bis ins 19. Jahrhundert<br />

die Norm gewesen waren, zu modernen Nationalstaaten<br />

sind.<br />

Diese Transformation verlief relativ reibungsfrei<br />

in West- und Nordeuropa, wo die Grenzen<br />

dynastischer Reiche und jene von Ethnien<br />

mehr oder weniger deckungsgleich<br />

waren. Die Logik der Transformation in solchen Gebieten<br />

hingegen, die von ethnischen und religiösen Flickenteppichen<br />

übersät waren wie in Zentral-, Ost- und<br />

Südosteuropa, sorgte für Jahrzehnte ethnischer Säuberungen<br />

und Genozide. Wenn diese Transformation abgeschlossen<br />

ist, sind Nationalstaaten nicht mehr, nicht<br />

weniger kriegerisch als andere Arten von Staaten. Und<br />

sie stehen keineswegs supranationaler Integration im<br />

Wege, wenn diese geboten ist, damit etwa Europäer<br />

auch im 21. Jahrhundert Herren in ihrem Haus sind. Im<br />

Gegenteil: Sie ermöglichen eine Integration mit höherer<br />

politischer Legitimität, sodass sich auch deutsche<br />

Politiker einmal trauen könnten, die Deutschen über<br />

die großen Schicksalsfragen ihrer Zukunft in Referenden<br />

abstimmen zu lassen.<br />

Ich konnte dem deutschen Denkfehler über die<br />

Geschichte und die Gegenwart von Nationalstaaten<br />

durch meine Erfahrungen als Auslandsdeutscher entgehen.<br />

Vor allem konnte ich ihm durch die liberale<br />

Wissenschaftskultur von Oxford, Aberdeen oder Harvard<br />

entkommen. Es ist wahrlich nicht so, als ob es<br />

in Deutschland keine guten Historiker gäbe. In der<br />

deutschen Zunft vergiften aber Historiker wie der<br />

Berliner Geschichtswissenschaftler Heinrich-August<br />

Winkler durch infame Unterstellungen, wie wir sie aus<br />

dem Wahlkampf zwischen George W. Bush und John<br />

Kerry kennen, das Klima und hemmen Innovation. In<br />

Deutschland würde ich meine akademische Karriere<br />

mit innovativer Forschung vielleicht riskieren. Es ist<br />

kein Zufall, dass Cambridge – und keine deutsche Universität<br />

– derzeit in der Erforschung deutscher Geschichte<br />

weltweit führt.<br />

Wenn die Attacken zu absurd werden, kann ich<br />

mich ins Flugzeug nach Boston oder Aberdeen setzen<br />

und in eine freiere Welt zurückkehren. In Aberdeen<br />

begegne ich dann natürlich schottischen Nationalisten.<br />

Vielleicht ist Schottland sogar vom 18. September<br />

an ein eigener Staat. Ein solcher Fall löste bei mir<br />

keine Begeisterung aus, aber auch keine Abscheu, wie<br />

bei jener Art von Deutschen, die die Welt, ohne es<br />

zu verinnerlichen, in erster Linie durch deutsche Augen<br />

betrachten. So echauffierte sich kürzlich Jürgen<br />

Habermas über das schottische Unabhängigkeitsreferendum.<br />

Der schottische Wunsch nach Unabhängigkeit<br />

sei, so sagte er am Institute for Advanced Study<br />

Bei Joschka<br />

Fischer und<br />

Jürgen Habermas<br />

sehen wir<br />

deutsche Selbstbezogenheit,<br />

blind für andere<br />

Erfahrungen<br />

in Princeton, eine pure Regression, ein nostalgisches<br />

Fantasieren, das mit den politischen Problemen der<br />

Gegenwart nichts zu tun habe. Wie bei Joschka Fischer<br />

sehen wir hier eine deutsche Selbstbezogenheit,<br />

die blind ist für andere Erfahrungen. Es sind gerade<br />

meine linken und linksliberalen schottischen Freunde,<br />

die mir erzählen, dass sie für Schottlands Unabhängigkeit<br />

stimmen werden.<br />

In Schottland ist die Debatte über das Referendum<br />

bisher relativ unaufgeregt verlaufen, da alle im Gegensatz<br />

zu Habermas wissen, dass sich nicht ein Rückfall<br />

in die Sünden der Vergangenheit oder aber eine europäische<br />

Zukunft gegenüberstehen. Vielmehr geht es<br />

bei den europabegeisterten Schotten um zwei Dinge:<br />

zum einen darum, welche Art von Union sie mit den<br />

Engländern eingehen; auch die Nationalisten wollen<br />

nicht alle Bande mit dem südlichen Nachbarn kappen.<br />

Zum anderen, ob sie als Schotten oder als Briten Teil<br />

einer sich vertiefenden EU sein werden.<br />

Wenn ich es ganz unverkrampft haben will,<br />

kann ich nach Toronto fliegen. Da kann ich das <strong>neue</strong><br />

Deutschland-T-Shirt überstreifen, das mir mein jüdischer<br />

Schwiegervater für die diesjährige WM geschenkt<br />

hat, und begeisterten Deutschen begegnen,<br />

etwa dem Kölner Iraner, der in Toronto das „Pfannkuchen<br />

Köln“-Café betrieb, oder dem indischen Taxifahrer,<br />

der mir begeistert von seiner Zeit in Düsseldorf<br />

erzählt und mich mit einer Deutschlandflagge<br />

am Wagen zum Flughafen fährt. Und bei all dem<br />

wird niemand vergessen, dass der deutsche Holocaust<br />

den Großvater meiner Frau 1941 in Polen ermordet<br />

hat.<br />

THOMAS WEBER ist Professor of History<br />

and International Affairs an der University of<br />

Aberdeen, Gastwissenschaftler an der Harvard<br />

University und schrieb unter anderem „Hitlers<br />

erster Krieg: Der Gefreite Hitler im Weltkrieg“<br />

25<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

„DIE GROSSEN VERLIERER<br />

SIND DIE LÄNDER“<br />

Der ehemalige EU-Kommissar<br />

Günter Verheugen und der<br />

bayerische Separatist Wilfried<br />

Scharnagl streiten über<br />

Europa und das Streben nach<br />

Unabhängigkeit<br />

Moderation ALEXANDER MARGUIER<br />

und CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Herr Verheugen, der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten<br />

im Europäischen Parlament, Martin Schulz,<br />

hat in den letzten Tagen des zurückliegenden Europawahlkampfs<br />

plakatiert: „Nur wenn Sie SPD wählen,<br />

kann ein Deutscher Kommissionspräsident werden.“<br />

War das nicht ein Rückfall in nationale Denkmuster,<br />

die Ihre Partei eigentlich überwinden will?<br />

Günter Verheugen: Ich habe diesen Slogan nicht<br />

verstanden. Und da ich etwas von Wahlkämpfen verstehe,<br />

war ich auch nicht überzeugt davon, dass er<br />

überhaupt wirkt. Ganz davon abgesehen, dass so ein<br />

Spruch bei unseren Nachbarn eher ungute Gefühle<br />

weckt. Die Frage, wer Kommissionspräsident wird,<br />

kann nicht davon abhängig gemacht werden, woher<br />

jemand kommt. Sondern ausschließlich von der Qualifikation<br />

und der Überzeugungskraft.<br />

Wilfried Scharnagl: Wenn die CSU solch einen<br />

Slogan plakatiert hätte, hätte es eine Riesenkampagne<br />

gegen uns gegeben. Außerdem wählt kein Mensch einen<br />

Spitzenkandidaten, den er nicht kennt. <strong>Das</strong> zeigt<br />

auch die ganze Absurdität dieses Projekts. Bei der<br />

Europawahl wurden in Wahrheit nationale Wahlen<br />

abgehalten.<br />

Verheugen: Trotzdem wurde durch die Kür von<br />

Spitzenkandidaten der Finger in eine Wunde gelegt.<br />

Nämlich das Gefühl einer Mehrheit der Bürgerinnen<br />

und Bürger in Europa, dass sie nicht darüber mitbestimmen<br />

können, was in Brüssel passiert. Deshalb<br />

sollte auch die Frage der Spitzenkandidaten solide<br />

verankert werden, anstatt es dem taktischen Kalkül<br />

der Parteien zu überlassen. Jedenfalls bin ich überzeugt<br />

davon, dass es keinen Kommissionspräsidenten<br />

mehr geben wird, der vorher nicht zum Spitzenkandidaten<br />

seiner Parteienfamilie bestimmt wurde. Irgendwann<br />

wird das auch in den entsprechenden Verträgen<br />

so stehen. Und dann bekommen wir vielleicht so etwas<br />

wie eine echte parlamentarische Demokratie auf<br />

europäischer Ebene.<br />

Scharnagl: Da bin ich völlig anderer Meinung.<br />

Eine echte parlamentarische Demokratie würde nämlich<br />

bedeuten, dass das Europäische Parlament entscheidende<br />

demokratische Qualität hat. Denn dann<br />

müsste auch der Grundsatz „one man, one vote“ gelten.<br />

Verheugen: Mit diesem Argument spricht ja auch<br />

das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Parlament<br />

die demokratische Qualifikation ab. Ich halte<br />

diese Begründung für himmelschreiend. Wenn man<br />

sich Demokratie nur vorstellen kann in der egalitären<br />

Form, wie sie sich in den Nationalstaaten durchgesetzt<br />

hat, kann das auf supranationaler Ebene nicht funktionieren.<br />

Denn natürlich müssen auch kleine Nationen<br />

so vertreten sein, dass sie wahrgenommen werden.<br />

Was würde denn „one man, one vote“ konkret für die<br />

Sitzverteilung im Europäischen Parlament bedeuten?<br />

Scharnagl: Entweder, dass Sie das Parlament so<br />

aufblähen, dass auch kleine Länder mindestens einen<br />

Sitz bekommen. Andernfalls eben, dass kleine Länder<br />

Allianzen schließen müssen, um dort vertreten zu sein.<br />

Oder dass man sich am amerikanischen Beispiel mit<br />

Senat und Repräsentantenhaus orientiert.<br />

„Schleichende Entdemokratisierung“: Wilfried Scharnagl<br />

kritisiert den europäischen Einigungsprozess<br />

26<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Verheugen: <strong>Das</strong> ist doch überhaupt nicht möglich!<br />

Scharnagl: <strong>Das</strong> ist doch wieder typisch! Auf die<br />

Frage, ob das Volk abstimmen darf, sagt Herr Verheugen,<br />

das ist nicht möglich!<br />

Verheugen: Natürlich nicht! <strong>Das</strong> Grundgesetz erlaubt<br />

es nicht.<br />

Scharnagl: Ach, Herr Verheugen, das Grundgesetz<br />

ist schon viele Male geändert worden!<br />

Verheugen: Aber genau diese Änderung haben<br />

CDU und CSU immer verhindert.<br />

Fotos: Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong><br />

„Die EU erhebt keinen imperialen Anspruch“: Günter<br />

Verheugen sieht die Union als Wertegemeinschaft<br />

Verheugen: Aber Herr Scharnagl, das Charakteristische<br />

an Europa ist doch gerade die Vielfalt seiner<br />

nationalen Identitäten! Was die Menschen in Europa<br />

am stärksten bindet, ist die Zugehörigkeit zu einer Nation.<br />

Es wäre auch unhistorisch, sich ein Europa vorzustellen,<br />

das die Tradition der Nationen über Bord wirft.<br />

Scharnagl: Man kann doch kein Europäisches Parlament<br />

mit einer allumfassenden Zuständigkeit schaffen,<br />

wenn es kein europäisches Staatsvolk gibt!<br />

Verheugen: Die Krankheit der Europäischen Union<br />

besteht doch vielmehr darin, dass in den Augen der<br />

Menschen die Balance zwischen nationaler Verantwortung<br />

und europäischem Machtanspruch vollständig gestört<br />

ist. Ich bin nicht der Meinung, dass wir in einem<br />

supranationalen Verbund ein „Staatsvolk“ brauchen.<br />

Dieses Denken entspricht doch nur dieser typisch deutschen<br />

Staatsrechtstheorie.<br />

Scharnagl: Ich sehe das Hauptproblem in einer<br />

schleichenden Entdemokratisierung. Der frühere und<br />

der amtierende Präsident des Bundesverfassungsgerichts,<br />

Hans-Jürgen Papier und Andreas Voßkuhle,<br />

stellen eindeutig fest, dass die großen Verlierer des<br />

europäischen Vereinigungsprozesses die deutschen<br />

Länder sind. Deren Parlamente haben nämlich immer<br />

weniger Macht. Dort verdunstet die demokratische<br />

Substanz der deutschen Länder, auf denen unsere<br />

Verfassung gründet. Und diese Länder existierten bereits<br />

vor Gründung der Bundesrepublik!<br />

Herr Scharnagl, der Titel eines Ihrer letzten Bücher<br />

lautet „Bayern kann es auch allein“. Würden Sie Ihre<br />

Landsleute gern über eine Autonomie des Freistaats<br />

abstimmen lassen?<br />

Herr Scharnagl, wäre ein souveränes Bayern denn<br />

noch Mitglied der EU?<br />

Scharnagl: Warum fangen Sie beim Ende an? Betrachten<br />

Sie doch erst einmal die innerdeutsche Entwicklung.<br />

Da ist es doch so, dass die gesetzgebende<br />

und sogar die vollziehende Gewalt seit dem Jahr 1949<br />

systematisch von den Ländern auf den Bund übertragen<br />

wurden. Es muss das Gleichgewicht eines lebendigen<br />

deutschen und europäischen Staatswesens wiederhergestellt<br />

werden. Es kann nicht sein, dass sich<br />

alles immer mehr in Berlin konzentriert und dann von<br />

Berlin nach Brüssel geliefert wird. <strong>Das</strong> muss gestoppt<br />

werden! Ich will ein Bewusstsein dafür schaffen, dass<br />

Bayern in einer Europäischen Union von der Einwohnerzahl<br />

und der Wirtschaftskraft her auf den Plätzen<br />

sieben oder acht stünde und daher in Europa entsprechendes<br />

politisches Gewicht haben müsste.<br />

Verheugen: <strong>Das</strong> ist ein anregendes und amüsantes<br />

Gedankenspiel – aber eben auch nicht mehr. Die Konsequenz<br />

eines bayerischen Alleingangs wäre ja die europäische<br />

Kleinstaaterei. Die Kleinstaaten könnten es<br />

nur deshalb allein schaffen, weil es dieses dichte Netz<br />

der europäischen Integration gibt. Sobald einer von ihnen<br />

nicht mehr von den offenen Grenzen profitieren<br />

würde, wäre er zum Scheitern verurteilt.<br />

Scharnagl: Warum kann es denn keine europäische<br />

Organisation geben, in der die Regionen ihre Interessen<br />

in Europa selbst vertreten? Warum brauchen wir eine<br />

Art Stiefmuttervertretung über Berlin?<br />

Verheugen: Herr Scharnagl, Sie greifen die Staatsidee<br />

der deutschen Nation an!<br />

Scharnagl: Ich will sie zunächst einmal durchlüften.<br />

Verheugen: Es funktioniert deshalb nicht, weil es<br />

so starke Regionen wie die deutschen Länder sonst nur<br />

noch in Österreich gibt.<br />

„ Sie greifen<br />

die Staatsidee<br />

der deutschen<br />

Nation an! “<br />

Günter Verheugen<br />

zu Wilfried Scharnagl<br />

27<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

Herr Scharnagl, Sie zitieren den Philosophen Friedrich<br />

August von Hayek mit den Worten, wenn man die Freiheit<br />

abschaffen wolle, müsse man ein großes Reich<br />

schaffen. Es seien die großen zentralistischen Machtund<br />

Einheitsstaaten, die in Tod und Verderben führten.<br />

Ist die EU tatsächlich solch ein Höllenfeuer?<br />

Scharnagl: Für mich schon. Weil der Reichtum Europas<br />

in seiner Vielfalt niedergebügelt wird.<br />

Verheugen: Mit aktiver Beteiligung aller Mitgliedstaaten!<br />

Man kann der EU vieles vorwerfen, aber ganz<br />

sicher nicht, dass sie einen imperialen Anspruch erhebt.<br />

Sie ist ein auf Freiwilligkeit und gemeinsamen Werten<br />

gegründeter Verband ohne jeden Herrschafts- und<br />

Expansionsanspruch. Der Vergleich mit Hayek ist da<br />

wirklich irreführend. Ich glaube nicht, dass die europäische<br />

Integration ein Risiko für die Freiheit bedeutet.<br />

Zumindest, wenn wir uns nicht selbst in ein immer<br />

engeres Korsett an Vorschriften und Regeln zwängen.<br />

Ist die EU als Staatsgebilde überdehnt?<br />

Scharnagl: Die jahrelange Erweiterungspolitik<br />

war ein Irrweg. Es haben doch vor sieben Jahren alle<br />

gewusst, dass weder Bulgarien noch Rumänien reif für<br />

eine Aufnahme ist. Man hat Milliarden über Milliarden<br />

Euro in diese Länder investiert. Und sie bleiben<br />

doch ein großes ungelöstes Problem innerhalb der EU.<br />

Verheugen: Rumänien und Bulgarien sind zum<br />

Beitritt eingeladen worden vor dem historischen Hintergrund<br />

des Kosovokonflikts. <strong>Das</strong> war eine geopolitische<br />

Entscheidung. Und die geopolitischen Erwartungen<br />

haben Rumänien und Bulgarien erfüllt. Ohne sie<br />

hätten wir ein riesiges Problem.<br />

Scharnagl: Mit ihnen erst recht. Es gibt aus diesen<br />

Ländern massiven Zuzug in die deutschen Sozialsysteme.<br />

Und Korruption und Kriminalität sind leider<br />

auch mit diesen beiden Ländern verbunden.<br />

Verheugen: Also, wenn Sie mich fragen, welches<br />

Land das größte Korruptionsproblem in Europa hat,<br />

dann fallen mir nicht Rumänien und Bulgarien ein. Natürlich<br />

hat jeder gewusst, dass diese Länder gewaltige<br />

Defizite haben. Die Frage ist doch aber: Lässt sich demokratische<br />

Reife besser fördern, wenn sie drin oder<br />

wenn sie draußen sind? Die übereinstimmende Meinung<br />

war: besser, wenn sie drin sind.<br />

Schottland, Katalonien, Ungarn – sind die aufkommenden<br />

Fliehkräfte des Nationalen unmittelbare<br />

Folge der Erweiterung?<br />

WILFRIED SCHARNAGL<br />

Der 74 Jahre alte Journalist<br />

und Buchautor war enger<br />

Weggefähr te von Franz Josef<br />

Strauß und von 1977 bis<br />

2001 Chefredakteur der CSU-<br />

Parteizeitung Bayernkurier<br />

GÜNTER VERHEUGEN<br />

Der 70 Jahre alte Sozialdemokrat<br />

war von 1999 bis 2009 Mitglied der<br />

EU-Kommission und dort zunächst<br />

für die Erweiterung zuständig, später<br />

für Industrie und Unternehmenspolitik.<br />

Er leitet heute eine Beratungsfirma<br />

Verheugen: Die Fälle liegen unterschiedlich. Aber:<br />

Ja, dieser epochale Wandel – weg von der Integration<br />

als westeuropäisches Projekt hin zu einem gesamteuropäischen<br />

Projekt mit Völkern, die jahrzehntelang ihrer<br />

nationalen Souveränität beraubt wurden – weckt in<br />

diesen Ländern einen Nachholbedarf. Mir war das immer<br />

klar, und ich finde auch nicht, dass das ein großes<br />

Problem ist. Aber dieses nationale Selbstbewusstsein<br />

darf man bitte nicht verwechseln mit Nationalismus.<br />

Polen zeigt vorbildlich, dass europäische Orientierung<br />

und ein starkes <strong>Nationalgefühl</strong> sehr gut vereinbar sind.<br />

Scharnagl: Ein Narr, der nicht für die Einigung Europas<br />

ist. Aber genauso ein Narr, der meint, wir müssen<br />

die Nationalstaaten auslöschen, damit Europa funktioniert.<br />

Es ist doch grotesk: Wenn sich die Deutschen<br />

freuen über die Fußballweltmeisterschaft, dann kommen<br />

sofort die Volkserzieher und sagen: <strong>Das</strong> geht zu<br />

weit! Gerade bei den Grünen. Wo früher stand: „Atomkraft,<br />

nein danke!“, steht jetzt: „Patriotismus, nein<br />

danke!“ Wenn einer der Grünen-Häuptlinge, Anton<br />

Hofreiter, im Streit über die selbstherrliche Politik<br />

der EZB deutsche Politiker dazu auffordert, sich die<br />

Deutschlandfarben aus dem Gesicht zu wischen! <strong>Das</strong><br />

wäre in Polen undenkbar! Überall wäre das undenkbar!<br />

Schottland stimmt am 18. September über seine Unabhängigkeit<br />

ab. Was wären die Folgen eines Erfolgs<br />

der Nationalisten in Edinburgh?<br />

Scharnagl: Wenn sich Schottland wuchtig lossagt,<br />

dann würde da etwas ins Rutschen kommen. Dann würden<br />

es auch andere versuchen, dann würden sich auch<br />

die Katalanen nicht mehr aufhalten lassen. <strong>Das</strong> Thema<br />

wäre in ganz großem Stil auf der europäischen Agenda.<br />

Verheugen: Vor einem Jahr hätte ich gesagt: Da brauchen<br />

wir gar nicht drüber zu reden, das wird nicht passieren.<br />

Aber dank der Ungeschicklichkeiten der britischen<br />

Regierung muss man heute sagen: Es wird mit Sicherheit<br />

knapp. <strong>Das</strong>selbe gilt auch für das Referendum der Briten<br />

über den Verbleib in der EU im Jahr 2017. Da halte<br />

ich den Ausgang sogar für noch ungewisser. Wenn die<br />

Schotten für ihre Unabhängigkeit stimmen, dann wird<br />

das zu einem tiefen Grundsatzkonflikt innerhalb der EU<br />

führen. Denn die Länder, die dann befürchten müssen,<br />

dass ihnen ihre Regionen ebenfalls um die Ohren fliegen,<br />

werden strikt dagegen sein, dass man diesen schottischen<br />

Separatismus mit einer Aufnahme in die EU belohnt.<br />

Also: In den nächsten Monaten entscheidet sich<br />

auf der britischen Insel Grundsätzliches für Europa.<br />

Fotos: Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong><br />

28<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Von Bestsellerautor<br />

John le Carré<br />

Ein Film von<br />

Anton Corbijn<br />

AB 11. SEPTEMBER IM KINO


TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

EINE EINMALIGE GELEGENHEIT<br />

Von SEAN CONNERY<br />

Nun, da ich schon mehr als 50 Jahre für die Unabhängigkeit<br />

eintrete, habe ich das Gefühl,<br />

dass man alle Argumente schon bis zum Überdruss<br />

gehört hat. Jetzt, da der Tag der Abstimmung<br />

naht, löst sich ein Schreckgespenst nach dem andern<br />

auf, die Gegner der Unabhängigkeit an die Wand gemalt<br />

haben. Ein <strong>neue</strong>s Gefühl der Hoffnung auf eine<br />

bessere Zukunft macht sich breit. Schottland hat die<br />

Chance, eine große Veränderung herbeizuführen.<br />

Ein Land wird vor allem durch seine Kultur bestimmt.<br />

Sie verschafft internationale Sichtbarkeit und<br />

regt das globale Interesse an – viel mehr als es die Politik<br />

des Landes, das Geschäftsleben<br />

oder die Wirtschaft je<br />

vermögen.<br />

Schottland ist wahrhaft gesegnet<br />

mit einer schillernden<br />

Geschichte, einer starken Identität,<br />

seinen tief verwurzelten<br />

Traditionen, seinem Engagement<br />

für künstlerische Er<strong>neue</strong>rungen<br />

und seinen vielfältigen<br />

und schönen Landschaften.<br />

All dies hat dazu beigetragen,<br />

dass Schottland eines der bekanntesten<br />

Länder der Erde ist.<br />

Als Schotte, der viel Zeit seines<br />

Lebens nicht in Schottland verbracht<br />

hat, bin ich immer wieder<br />

erstaunt über die Kenntnisse<br />

der Menschen und ihrer<br />

Liebe für diese Nation.<br />

Ich habe keine Zweifel daran, dass ein Grund hierfür<br />

das 1999 konstituierte schottische Parlament ist.<br />

Mein Eindruck ist, dass die Dezentralisierung eine<br />

<strong>neue</strong> Ausdrucksform kultureller Werte und einen<br />

<strong>neue</strong>n Stolz auf unser nationales Erbe gefördert hat;<br />

sie hat einen Rahmen geschaffen für die gälische Sprache<br />

bis zu einer innovativen Architektur. Als ich an<br />

der Eröffnung des Parlaments in meiner Heimatstadt<br />

Edinburgh teilnahm, war das einer der stolzesten Tage<br />

meines Lebens.<br />

Ich glaube daran, dass Schottland mehr schaffen<br />

kann. Die Zustimmung für die schottische Unabhängigkeit<br />

im September wird die Aufmerksamkeit der<br />

Welt erregen. Sie wird noch stärker auf unsere Kultur<br />

und unsere Politik schauen. <strong>Das</strong> gibt uns die einmalige<br />

Gelegenheit, sich auf unser Erbe und unsere Kreativität<br />

zu besinnen. Durch die Kraft der Unabhängigkeit<br />

wird es uns Schotten gelingen, unsere Kultur weiterzuentwickeln,<br />

sie zu bereichern und sie effektiver zu<br />

vermarkten. Wir können da auf den Erfolg von Veranstaltungen<br />

wie den Commonwealth-Spielen, dem Ryder<br />

Cup und vielen anderen Festivals aufbauen. Kultur<br />

und Kreativität sind eine Kraft zum Wohle der Gesellschaft,<br />

und mit den verbesserten Ressourcen, die die<br />

Unabhängigkeit bietet, wird Schottland mit den Besten<br />

im Wettbewerb stehen.<br />

Niemand wird überrascht sein, dass ich besonders<br />

begeistert bin von den Möglichkeiten, die eine Unabhängigkeit<br />

der schottischen Filmindustrie eröffnet – sie<br />

animiert <strong>neue</strong> ausländische Investitionen<br />

und die internationale<br />

Vermarktung Schottlands<br />

als unverwechselbarer Drehort.<br />

Eine größere und selbstbewusstere<br />

Film- und Rundfunkbranche<br />

wird einen Zufluss an Mitteln<br />

und <strong>neue</strong>n Arbeitsplätzen<br />

nach sich ziehen.<br />

Wenn man die Zahlen betrachtet,<br />

ist vollkommen klar,<br />

dass es sowohl große wirtschaftliche<br />

wie auch kulturelle<br />

Vorteile gibt. Im Jahr 2011 hat<br />

Schottlands kreative Industrie<br />

2,8 Milliarden Pfund (etwa<br />

3,5 Milliarden Euro) erwirtschaftet.<br />

Die historischen Stätten<br />

haben 2 Milliarden Pfund<br />

(2,5 Milliarden Euro) eingebracht<br />

und für 60 000 Arbeitsplätze gesorgt. <strong>Das</strong> sind<br />

eindrucksvolle Zahlen. Mit der Unabhängigkeit könnten<br />

sie noch eindrucksvoller werden.<br />

Ich respektiere vollkommen, dass die Entscheidung,<br />

vor der Schottland am 18. September steht, eine<br />

derjenigen ist, die dort leben und arbeiten – das ist<br />

richtig und angemessen. Als Schotte und als jemand,<br />

der sein Leben lang Schottland wie auch die Kunst geliebt<br />

hat, bin ich überzeugt, dass die Gelegenheit für<br />

die Unabhängigkeit zu gut ist, um sie zu verpassen.<br />

Einfacher ausgedrückt: Es gibt nichts Kreativeres,<br />

als eine <strong>neue</strong> Nation zu schaffen.<br />

SEAN CONNERY, 84, ist von Geburt und mit Leidenschaft<br />

Schotte. Seit Jahren kämpft er für die Unabhängigkeit<br />

Schottlands. Allerdings nicht im Auftrag Ihrer Majestät wie<br />

einst als James Bond<br />

Dieser Text ist erstmals erschienen im New Statesman; Foto: Chris Watts/Scopefeatures.com/Bulls Press [M]<br />

30<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

„ Liebe ist alles,<br />

was über einen selbst<br />

hinausgeht.<br />

Man fängt in dem<br />

Augenblick zu<br />

lieben an, in dem<br />

man sich selbst nicht<br />

mehr als Zentrum<br />

seiner Überlegungen<br />

begreift “<br />

Der Publizist und Verleger Jakob Augstein im Gespräch mit Frank A. Meyer, Seite 38<br />

31<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

IM OHR DAS MASSAKER<br />

Der deutsche Zahnarzt Ali Khalaf ist Jeside. <strong>Das</strong> Leiden seiner Verwandten bekommt er<br />

live übers Handy mit. Er versucht alles, um ihnen von Deutschland aus zu helfen<br />

Von CHRISTOPH SEILS<br />

Die Weltpolitik kommt selten nach<br />

Bad Salzuflen. Mitte August jedoch,<br />

an einem bewölkten Freitagnachmittag,<br />

demonstrieren plötzlich<br />

500 Jesiden in der Kleinstadt. Ostwestfalen<br />

ist eine Hochburg der Religionsgemeinschaft<br />

in Deutschland. „Stoppt den<br />

Isis-Terror“, skandieren die Menschen.<br />

Grün-rot-gelbe Fahnen wehen auf dem<br />

mittelalterlichen Salzhof.<br />

Am Rande steht Ali Khalaf, 41 Jahre<br />

alt. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug<br />

und hat einen weißen Knopf im Ohr. Eigentlich<br />

telefoniert er schon den ganzen<br />

Tag. Immer wieder erreichen ihn Hilferufe<br />

aus seiner Heimat. Khalaf versucht<br />

über einen Gewährsmann ins Auswärtige<br />

Amt und in die US-Botschaft vorzudringen.<br />

„Warum tun die nichts?“, fragt<br />

er verzweifelt. In Kocho, einem Dorf im<br />

Irak, haben die Milizen des neu gegründeten<br />

Islamistenstaats schon vor Tagen<br />

die Jesiden zusammengetrieben. Ali<br />

Khalaf bekommt das mit, live über sein<br />

Handy. Massaker in Zeiten der Globalisierung.<br />

„Man kann nichts mehr machen“,<br />

sagt er mit Tränen in den Augen,<br />

„die Hinrichtungen haben begonnen.“<br />

Auf der Straße in Bad Salzuflen sprechen<br />

ihn Passanten mit „Dr. Ali“ an. Eigentlich<br />

ist er nur ein Zahnarzt mit einer<br />

kleinen Praxis an Rande der Altstadt.<br />

Im Alter von neun Jahren wurde er mit<br />

seiner Familie aus dem Irak nach Syrien<br />

vertrieben. Mit 24 floh er von dort nach<br />

Deutschland. Er erhielt Asyl und baute<br />

sich in Bad Salzuflen eine Existenz auf.<br />

Stolz ist Ali Khalaf auf seine deutsche<br />

Approbation, „natürlich“ besitze er die<br />

deutsche Staatsbürgerschaft.<br />

Seit ihn die ersten Hilferufe aus dem<br />

Irak erreicht haben, hat Ali Khalaf eine<br />

Mission. Seine Frau und seine zwei Kinder<br />

bekommen ihn kaum noch zu Gesicht,<br />

seine Patienten behandelt ein Vertreter.<br />

Stattdessen mobilisiert er Freunde, Verwandte,<br />

Glaubensbrüder und beteiligt<br />

sich an der Gründung eines Hilfskomitees.<br />

Er wird von SPD-Chef Sigmar Gabriel<br />

empfangen und im Auswärtigen<br />

Amt von Staatssekretär Stephan Steinlein.<br />

Er organisiert Hilfslieferungen und<br />

Demonstrationen. „Ich muss das tun“,<br />

sagt er, „ich kann nicht eine Minute in<br />

meiner Praxis arbeiten.“<br />

<strong>Das</strong> Jesidentum ist eine Religion im<br />

Schatten, älter als Islam und Christentum,<br />

eine heilige Schrift gibt es nicht.<br />

Im Irak lebt etwa die Hälfte der weltweit<br />

circa eine Million Jesiden. Dort werden<br />

sie dreifach diskriminiert. Ethnisch<br />

zählen sie zur kurdischen Minderheit,<br />

religiös leben sie in der Diaspora, politisch<br />

werden sie verfolgt. Und nicht nur<br />

im Irak, sondern auch im Iran, in Syrien<br />

und der Türkei. Die IS-Fanatiker töten sie<br />

als „Ketzer“, als „Teufelsanbeter“.<br />

NACH DEUTSCHLAND KAMEN die ersten<br />

Jesiden vor einem halben Jahrhundert,<br />

heute sind es 50 000 bis 100 000.<br />

„Bislang haben sie in Deutschland im Verborgenen<br />

gelebt“, sagt Ali Khalaf. Nach<br />

außen schotten sie sich ab, Hochzeiten<br />

sind nur innerhalb der Gemeinschaft erlaubt.<br />

„Wir mussten das tun“, erklärt er,<br />

die Jesiden seien über Jahrhunderte verfolgt<br />

worden, „wir mussten uns schützen.“<br />

Aber er räumt ein, dass sich seine Religion<br />

modernisieren und öffnen müsse.<br />

Familienangehörige von Ali Khalaf<br />

sind zusammen mit Zehntausenden anderen<br />

Jesiden ins Sindschar-Gebirge geflohen,<br />

eine Tante ist entführt worden.<br />

„Warum ist es möglich, mit den Eingeschlossenen<br />

im Berg zu telefonieren, aber<br />

nicht möglich, die IS-Terroristen zu stoppen?“,<br />

fragt er verzweifelt. Keiner tue etwas,<br />

„auch die kurdischen Peschmerga<br />

lassen uns im Stich“.<br />

In seinem Wohnzimmer hat Khalaf<br />

ein improvisiertes Büro eingerichtet,<br />

im Fernsehen laufen via Satellit kurdische<br />

Nachrichten. „Wir müssen verhindern,<br />

dass die Jesiden vernichtet werden“,<br />

sagt er und tippt WhatsApp-Botschaften.<br />

Dann springt er auf, redet mal kurdisch,<br />

mal arabisch, mal deutsch. „Was haben<br />

Sie für Infos?“, ruft er ins Telefon. „Melden<br />

Sie sich, wenn Sie was wissen, auch<br />

von den Amerikanern, damit wir die Angehörigen<br />

beruhigen können.“<br />

<strong>Das</strong> Massaker im Sindschar-Gebirge<br />

konnte zunächst abgewendet werden,<br />

aber das Morden geht weiter. In<br />

Kocho sterben mindestens 80 Jesiden.<br />

Ali Khalaf steht in Bad Salzuflen auf dem<br />

gepflasterten Salzhof und berichtet den<br />

Demonstranten von den Hinrichtungen.<br />

„Hawara“, ruft er ihnen zu, ein kurdischer<br />

Trauerschrei.<br />

„Die Kurden verfolgen eine dreckige<br />

Strategie“, sagt Ali Khalaf, „die bekommen<br />

jetzt ihre Waffen, aber uns hilft keiner.“<br />

Nur für einen Moment standen die<br />

Jesiden im Fokus. Vielleicht lasse sich die<br />

Aufmerksamkeit nutzen, hofft er, vielleicht<br />

helfe Deutschland, vielleicht richteten<br />

die Vereinten Nationen eine Schutzzone<br />

ein, um zumindest die jesidischen<br />

Heiligtümer in Lalisch zu schützen.<br />

Ali Khalaf wird weiter telefonieren,<br />

und er will wieder nach Berlin fahren.<br />

Die Erwartungen an die Bundesregierung<br />

sind riesig. Die Demonstranten<br />

in Bad Salzuflen beschwören nicht nur<br />

die „internationale Solidarität“, sondern<br />

rufen auch „Danke, Deutschland“. „Es<br />

ist ein Drama“, sagt Dr. Ali. Wann er in<br />

seine Zahnarztpraxis zurückkehrt, weiß<br />

er nicht.<br />

CHRISTOPH SEILS, Politologe,<br />

ist Ressortleiter Online von <strong>Cicero</strong><br />

Foto: Michael Löwa für <strong>Cicero</strong><br />

32<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

EINE MARKE<br />

Sie will die FDP wieder aufbauen. Und umbenennen. Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist<br />

Vizechefin der Liberalen. Sie selbst profiliert sich als Kommunalpolitikerin in Düsseldorf<br />

Von DENISA RICHTERS<br />

Foto: Andreas Bretz<br />

Wenn sie einen freien Kopf<br />

braucht, steigt Marie-Agnes<br />

Strack-Zimmermann auf ihre<br />

BMW C 1200. Es ist ein ungleiches Paar,<br />

die zierliche Frau und die schwere Maschine.<br />

Doch auf ihrer BMW kommt die<br />

56 Jahre alte Freidemokratin auf andere<br />

Gedanken, gerade in schwierigen Zeiten.<br />

Davon gab es reichlich, seit die Düsseldorfer<br />

Kommunalpolitikerin auf Vorschlag<br />

von FDP-Chef Christian Lindner<br />

im Dezember 2013 zu einer der Vizevorsitzenden<br />

gewählt wurde. Als Frau mit<br />

Lebenserfahrung und Familie, frei von<br />

bundespolitischen Altlasten wurde sie<br />

Teil des Neuanfangs.<br />

Noch immer liegen die Liberalen<br />

in Umfragen unter 5 Prozent. Auch<br />

die Landtagswahlen in Ostdeutschland<br />

versprechen nicht den ersehnten Aufschwung.<br />

Strack-Zimmermann hat in der<br />

Debatte um die Neuausrichtung der Partei<br />

den radikalsten Vorschlag gemacht:<br />

Sie schlug vor, die FDP umzubenennen.<br />

Dafür gab es viel Spott. Aber sie sagt:<br />

„Politik ist nichts für Weicheier.“<br />

Strack-Zimmermann weiß, dass es<br />

Jahre dauern kann, Vertrauen zurückzugewinnen.<br />

15 Jahre gehörte sie zur<br />

schwarz-gelben Mehrheit im Düsseldorfer<br />

Rathaus. Nordrhein-Westfalens Landeshauptstadt,<br />

in der auch Lindner lebt,<br />

ist schuldenfrei, legt an Einwohnern zu,<br />

ist beliebt bei Familien und Investoren.<br />

Strack-Zimmermann spielte darin eine<br />

tragende Rolle. Bis zum 25. Mai. Da landete<br />

die FDP bei den Kommunalwahlen<br />

in NRW bei 4,7 Prozent. Zerrieben zwischen<br />

Imagedesaster, AfD und bürgerlichen<br />

Grünen. In Düsseldorf, wo Strack-<br />

Zimmermann innerhalb weniger Jahre<br />

von einer Stadtteilpolitikerin zur Bürgermeisterin<br />

aufgestiegen war, holten die Liberalen<br />

7 Prozent. Ein gutes Ergebnis angesichts<br />

des Gegenwinds. Doch für die<br />

CDU/FDP-Mehrheit reichte es nicht. Dabei<br />

hatte die liberale Frontfrau für den<br />

CDU-Amtsinhaber Dirk Elbers sogar auf<br />

eine Oberbürgermeister-Kandidatur verzichtet.<br />

Obwohl sie vielen Bürgerlichen<br />

als die Bessere galt: Er der Zauderer mit<br />

der Attitüde des Arroganten, sie die Anpackerin,<br />

zuverlässig, eine Marke.<br />

Erst ging Schwarz-Gelb verloren,<br />

später der OB-Posten des Bündnispartners<br />

von der CDU. Strack-Zimmermann<br />

wirft so etwas nicht um. „Die Kompetenz<br />

liegt in den Kommunen“, sagt die Politologin<br />

mit Doktortitel. Ein Potenzial, das<br />

die Bundes-FDP vernachlässigt habe. Zu<br />

viel neo-, zu wenig sozialliberal. Kaltherzig<br />

das Image. Dabei sei liberale Politik,<br />

davon ist sie überzeugt, die sozialste<br />

überhaupt. „Weil Geld erst erwirtschaftet<br />

und dann ausgegeben wird.“<br />

IN IHR BÜRGERMEISTERBÜRO im Rathaus<br />

ist ein Grüner eingezogen. Der<br />

<strong>neue</strong> OB heißt Thomas Geisel, ein Sozialdemokrat.<br />

Im Wahlkampf hatte Strack-<br />

Zimmermann ihn als Schuldenmacher<br />

beschimpft. Nun sitzt sie mit ihm, der<br />

SPD und den Grünen am Verhandlungstisch.<br />

Eine Ampelkoalition soll sich zu<br />

einer knappen Ratsmehrheit zusammenraufen.<br />

Strack-Zimmermann, die gerade<br />

noch ausgeteilt hat, muss nun als FDP-<br />

Kreisvorsitzende lächelnd manches ertragen,<br />

damit die Liberalen in Düsseldorf<br />

mitregieren können. Womöglich ist am<br />

Ende Opposition die würdigere Variante.<br />

Leicht fällt ihr das alles nicht. Strack-<br />

Zimmermann wird ungehalten, wenn aus<br />

ihrer Sicht etwas falsch läuft. Wie bei der<br />

Rentenpolitik der Großen Koalition in<br />

Berlin. „Jetzt wäre die Gelegenheit, Geld<br />

zurückzulegen. Stattdessen wird es aus<br />

dem Fenster geworfen, als ob wir nicht<br />

mehr alle Tassen im Schrank hätten!“<br />

Nein, den Wählern hinterherrennen will<br />

sie nicht. Oft sieht man sie mit der Aktentasche<br />

in der Hand mit resolutem Schritt<br />

von einem Termin zum anderen eilen. Im<br />

Vorbeigehen schüttelt sie Hände. Dann<br />

weicht der düster-konzentrierte Blick<br />

kurz einem Lächeln.<br />

Sie hat eine Familie mit drei Kindern<br />

gemanagt, nun will sie gestalten, notfalls<br />

mit unkonventionellen Mitteln. Dazu gehört<br />

ihr Vorstoß, der FDP einen <strong>neue</strong>n<br />

Namen zu geben. Christian Lindner hat<br />

die Idee schnell abgetan. Harley-Davidson<br />

habe in einer Krise auch nicht den<br />

Traditionsnamen aufgegeben, sondern<br />

die Motoren modernisiert, sagt er.<br />

Strack-Zimmermann gibt nicht klein<br />

bei. Aus der Verlagsbranche, in der sie als<br />

Selbstständige arbeitet, weiß sie, dass es<br />

manchem wenig beachteten Buch geholfen<br />

hat, den Titel zu ändern. „Natürlich<br />

geht es um Inhalte und Personen. Aber<br />

auch um die Frage, ob die Marke FDP<br />

noch die richtige ist.“<br />

Als FDP-Vize ist sie in Deutschland<br />

herumgekommen, hat erlebt, wie schwer<br />

liberale Politik zu vermitteln sein kann.<br />

Wo der Wohlstand gering ist und die Arbeitslosigkeit<br />

hoch, lässt sich mit dem<br />

Prinzip Eigenverantwortung, des Förderns<br />

und Forderns, nicht punkten. Doch<br />

gerade dann sei das nötig, sagt sie.<br />

„Trümmerfrau“ hatte ihr Parteifreund<br />

Wolfgang Kubicki sie bespöttelt,<br />

als sie das Vizeamt der darniederliegenden<br />

Liberalen übernahm. „Frauen wie<br />

meine 90-jährige Mutter haben es geschafft,<br />

Deutschland wieder aufzubauen“,<br />

kontert Strack-Zimmermann. Immerhin<br />

eine Sanierungsstrategie für die FDP.<br />

Wie auch immer sie heißen möge.<br />

DENISA RICHTERS berichtet in Düsseldorf<br />

über Kommunalpolitik. Sie ist Redakteurin<br />

der Rheinischen Post und beobachtet Strack-<br />

Zimmermanns Karriere seit Jahren<br />

35<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

ERDOGANS SPÄTZLE<br />

Rezzo Schlauch fand Anerkennung durch Provokation: ein Gründungsgrüner pro Autos<br />

und für den Krieg, ein Gründungsgrüner bei EnBW. Jetzt arbeitet er für Erdogan<br />

Von JULIA PROSINGER<br />

Foto: Hans-Bernhard Huber/Laif<br />

Eine Welle schwappt durch Stuttgart,<br />

geradewegs zu auf einen Tisch in<br />

der Innenstadt, Weinstube Vetter.<br />

Dort hält die Welle an und bestellt einen<br />

schwäbischen Rostbraten. Mit Spätzle.<br />

Ein paar Stuttgarter drehen die<br />

Köpfe, manche winken. Sie kennen die<br />

Welle, sie kennen den Gang, ein Rollen,<br />

kein Laufen.<br />

Die Welle heißt Rezzo Schlauch. Bei<br />

der Kandidatur als Oberbürgermeister<br />

1996, bereits seiner zweiten, kokettierte<br />

der Grüne mit diesem Kultstatus. „Keiner<br />

kennt den Roten. Keiner kennt den<br />

Schwarzen. Alle kennen Rezzo.“ Er verlor<br />

knapp, weil die SPD ihren aussichtslosen<br />

Gegenkandidaten nicht zurückzog.<br />

Von diesen alten Zeiten erzählt er<br />

gern, hingegossen an den Bistrotisch<br />

wie eine von Dalis zerfließenden Uhren.<br />

Die Beine fortgestreckt, der Flosse einer<br />

Meerjungfrau gleich, den Schädel auf einen<br />

Arm gestützt, den Bauch im freien<br />

Fall zwischen Tisch und Stuhl. Im Bundestag,<br />

wo er einst Grünen-Fraktionschef<br />

war, sollen seine Mitarbeiter ihm geraten<br />

haben: „Fläz doch nicht so.“ Schlauch<br />

hörte nicht. Schlauch blieb Schlauch.<br />

Heute, mit 66 und neun Jahre nachdem<br />

er sich aus der Politik zurückgezogen<br />

hat, ist er Lobbyist und überredet<br />

deutsche Firmen, ihre Angst vor der<br />

Türkei abzulegen. Im Namen der türkischen<br />

Investitionsagentur Ispat. Sie untersteht<br />

Recep Tayyip Erdogan, einst als<br />

Modernisierer gefeiert, dann als Brutalo<br />

vom Gezi-Park gehasst, gerade als Regierungschef<br />

zum Präsidenten gewählt.<br />

Als Schröder zu Putin ging, Niebel zur<br />

Rüstungsindustrie und Pofalla zur Bahn,<br />

schrien viele. Nur Rezzo darf Rezzo sein.<br />

Von ihm erwartet man keine Moral.<br />

Er lag schließlich immer schräg, so<br />

wie jetzt am Tisch. Als Student in Freiburg<br />

war er Mitglied einer Burschenschaft. Im<br />

Landtag von Baden-Württemberg störte<br />

der junge Anwalt durch Zwischenrufe,<br />

verteidigte Hausbesetzer und Kiffer. Er<br />

gründete die Grünen mit, eine Partei<br />

der Provokation. Die wiederum provozierte<br />

er, wenn er Sätze sagte wie diesen:<br />

„Mit Frauenpolitik holt man heute<br />

keinen Schwanz mehr hinterm Ofen vor.“<br />

Bereits 1984 dachte er laut über eine<br />

schwarz-grüne Koalition nach. Er ließ<br />

sich im Sportwagen fotografieren. Boxte<br />

mit Joschka Fischer den Kosovo-Einsatz<br />

durch. Machte mit dienstlich erflogenen<br />

Bonusmeilen Urlaub in Thailand.<br />

Wer viel umtreibe, mache eben Fehler,<br />

sagt Schlauch. Ist das nicht sogar sympathisch?<br />

Seine Geschäftspartner mögen<br />

ihn deshalb, den einfachen Hohenloher<br />

Pfarrerssohn, den dialektschwätzenden<br />

Teddybären, der mal, ganz menschlich,<br />

auf dem Weinfescht zu viel trinkt. Und<br />

den die Moralstrenge der Grünen anwidert.<br />

Erst kürzlich schalt er sie für ihre<br />

Steuerpläne, motzte über den Veggie-<br />

Day, dann zog er sich wieder zurück.<br />

SCHWARZ-GRÜN IST eine Realität, Fritz<br />

Kuhn OB in Stuttgart, was gestern Provokation<br />

war, ist heute Normalität. Wo<br />

soll er noch hin, Rezzo Schlauch?<br />

2005 verließ er die Politik freiwillig.<br />

„Mir fehlt nichts. Wenn ich eine<br />

Bühne brauche, suche ich mir eine.“<br />

Noch während seiner Tätigkeit als parlamentarischer<br />

Staatssekretär im Wirtschaftsministerium<br />

hatte Schlauch beim<br />

Atomriesen EnBW unterschrieben. Der<br />

Grüne verkauft es als Revolution: „Als<br />

Achtundsechziger predigten wir den<br />

Marsch durch die Institutionen, jetzt<br />

wird es Zeit für den Marsch durch die<br />

Industriekomplexe.“<br />

Schlauch berät auch einen Anbieter<br />

von chinesischen Zahnersatzprodukten,<br />

einen Online-T-Shirt-Handel und zwei<br />

Bauernbuben von der Schwäbischen<br />

Alb, die Zündkerzen durch Mikrowellen<br />

ersetzen wollen. Er hat gerade als<br />

Rektor bei einer <strong>neue</strong>n Hochschule für<br />

Computerspiele in Stuttgart unterschrieben.<br />

„Manchmal verstelle ich mich –<br />

dann bin ich der, der ich bin“, ein alter<br />

Spontispruch.<br />

Macht Ihnen das gar nichts aus, ausgerechnet<br />

Erdogan zu unterstützen, Herr<br />

Schlauch? Die Welle rollt an. „In der Politik<br />

habe ich manchmal problematischere<br />

Positionen einnehmen müssen – in der<br />

Substanz kann ich das gut vertreten. Ich<br />

bin felsenfest überzeugt, dass die Industrialisierung,<br />

die in der Türkei maßgeblich<br />

unter Erdogan stattgefunden hat, und<br />

die damit einhergehende gesellschaftliche<br />

Modernisierung nicht mehr umkehrbar<br />

sind.“<br />

Man kann sich vorstellen, wie Gerhard<br />

Schröder sich gefühlt haben muss,<br />

wenn Fischer nach einem Koalitionskrach<br />

mal wieder den Fraktionschef Schlauch<br />

vorbeischickte. Schlauch brachte Schröder<br />

dazu, seinen Ärger herunterzuschlucken.<br />

„Unsere Gespräche waren nicht<br />

selten von Rotwein getränkt.“<br />

Schlauch schwappt vom Tisch. Die<br />

Türken, er wechselt auf die Metaebene,<br />

hätten doch eine ganz andere politische<br />

Kultur. Da könne man deutsche<br />

Maßstäbe nicht ansetzen. „In zehn Jahren<br />

werden die Europäer die Türkei auf<br />

Knien bitten, in die EU zu kommen. Was<br />

würde es dem Prozess bringen, wenn ich<br />

jetzt unter großem öffentlichen Aplomb<br />

Kritik üben würde?“<br />

Durchgespült. Wenn die Welle verebbt,<br />

bleiben nur ein paar Tropfen.<br />

JULIA PROSINGER lebt als Reporterin<br />

in Berlin. Ihr Blick reicht vom Lokalen<br />

auf die Weltbühne; oft verbindet sie die<br />

beiden Ebenen<br />

37<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Gespräch<br />

Jakob Augstein ( links ) und Frank<br />

A. Meyer. „Moralische Außenpolitik<br />

gibt es nicht“, sagt Augstein<br />

Zwei grundverschiedene<br />

Linke,<br />

zwei Generationen,<br />

ein Norddeutscher<br />

und ein Schweizer.<br />

Die Publizisten<br />

Jakob Augstein und<br />

Frank A. Meyer<br />

sprechen über den<br />

frommen Putin,<br />

die fahrlässige EU,<br />

über Machtsphären<br />

und Moral.<br />

Und über die Liebe<br />

Fotos ANTJE BERGHÄUSER<br />

„ SIE SIND EINE<br />

38<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


MORALTANTE “<br />

39<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Gespräch<br />

Jakob Augstein: Herr Meyer, würden Sie<br />

die Ukrainekrise als einen Konflikt zwischen<br />

Ost und West bezeichnen?<br />

Frank A. Meyer: <strong>Das</strong> ist ein Konflikt<br />

zwischen Ost und West. Aber nicht<br />

so, wie wir den Ost-West-Konflikt in Erinnerung<br />

haben: dort das diktatorische<br />

Sowjet-Imperium, hier der freie Westen.<br />

Es ist ein Konflikt zwischen der römischchristlichen<br />

und der orthodox-christlichen<br />

Kultur. Natürlich: nicht nur! Aber<br />

eben doch ein Konflikt, dessen Ursachen<br />

tiefer in der Geschichte zu finden sind<br />

und nicht einfach im Machtpoker zwischen<br />

dem EU-Raum und Russland. Die<br />

Religionskultur ist ein ganz wesentlicher<br />

Punkt, der vom Westen, von Brüssel,<br />

auch von der Nato leider kaum in<br />

Betracht gezogen wurde. <strong>Das</strong>s man auf<br />

europäischer Ebene ein Assoziierungsabkommen<br />

mit der Ukraine aushandelte,<br />

ohne die kulturellen Bruchlinien in diesem<br />

Land zu beachten, war fahrlässige<br />

ökonomische Machtpolitik.<br />

Dann sind Sie ja ein richtiger Putin-<br />

Versteher.<br />

Ich kann verstehen, dass es in der<br />

Ukraine zu kulturellen Verwerfungen<br />

kam: Ungleichzeitigkeiten. Ja, wir erleben<br />

in diesem Konflikt die Ungleichzeitigkeit<br />

der ehemaligen sowjetischen<br />

Welt, die sich in jüngster Zeit ganz stark<br />

nach dem Orthodoxen zurücksehnt. <strong>Das</strong><br />

sieht man in der Ukraine, in Russland<br />

und auch bei Putin selbst. Der frühere<br />

KGB-Agent ist fromm geworden. Er gräbt<br />

nach einer Herkunftskultur, die von der<br />

Sowjetdiktatur verschüttet wurde.<br />

Ob er selber fromm ist oder nicht, wissen<br />

wir nicht. Er wurde in einem Interview<br />

gefragt, da hat er sich nicht geäußert.<br />

Er umgibt sich mit dem orthodoxen<br />

Klerus, sonnt sich in kirchlichem Glanz.<br />

Aber Sie glauben doch nicht, dass er das<br />

macht, weil er selbst fromm geworden<br />

ist!<br />

Ich glaube, er sucht nach einer <strong>neue</strong>n<br />

alten Identität für sich und für Russland.<br />

Auf uns Westeuropäer wirkt das befremdlich.<br />

Unsere Identität ist eine moderne,<br />

säkulare. Wir suchen Identität<br />

eher in unserer Demokratie, in der Sicherung<br />

des Rechtsstaats und im Erhalt von<br />

Freiheitsräumen. Unsere Frage lautet:<br />

„ Die EU hat<br />

die kulturellen<br />

Bruchlinien in<br />

der Ukraine<br />

nicht beachtet.<br />

Fahrlässige<br />

Machtpolitik “<br />

Frank A. Meyer<br />

Wie setzen wir das Ich und das Wir in<br />

ein möglichst ausgewogenes Verhältnis?<br />

Sie erklären den Ukrainekonflikt zu einem<br />

kulturellen Konflikt. Ich glaube,<br />

so groß ist der kulturelle Unterschied<br />

zwischen den Russen und uns gar nicht,<br />

sondern hier handelt es sich um einen<br />

Interessenkonflikt zwischen Kulturen,<br />

die vielleicht nicht in einem Geschwisterverhältnis<br />

zueinander stehen, aber<br />

in einem Vetternverhältnis. Wir erleben<br />

einen Interessenkonflikt, es geht<br />

um Abgrenzung und um Dominanz.<br />

Mich hat sehr gewundert zu hören und<br />

zu lesen: „Die Geopolitik kehrt zurück.<br />

<strong>Das</strong> Denken in Einfluss- und Machtsphären<br />

kehrt zurück.“ <strong>Das</strong> Denken in Einfluss-<br />

und Machtsphären prägt doch<br />

die internationale Politik immerzu, in<br />

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.<br />

In den letzten 20 Jahren haben<br />

40<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Anzeige<br />

JAKOB AUGSTEIN, 4 7,<br />

ist Verleger der Wochenzeitung<br />

Der Freitag und<br />

Publizist. Für Spiegel und<br />

Spiegel Online schreibt<br />

er die Kolumne „Im Zweifel<br />

links“. Der gebürtige<br />

Hamburger wuchs als<br />

Sohn des Spiegel-Gründers<br />

Rudolf Augstein auf<br />

FRANK A. MEYER, 70, ist<br />

Kolumnist und publizistischer<br />

Berater des Ringier-Verlags.<br />

<strong>Das</strong> Geschehen der Berliner<br />

Republik kommentiert er<br />

jeden Monat in <strong>Cicero</strong>. In<br />

der Schweiz schreibt er wöchentlich<br />

im Sonntagsblick.<br />

Er wuchs im zweisprachigen<br />

Biel-Bienne als Sohn eines<br />

Uhrmachers auf<br />

die Chinesen die Bühne der Weltpolitik<br />

betreten, Indien und Pakistan tragen<br />

einen schweren Konflikt aus, auf globaler<br />

Ebene gibt es seit 9/11 den Konflikt<br />

zwischen christlicher und islamischer<br />

Welt. <strong>Das</strong> sind immer Konflikte<br />

um Einfluss- und Machtsphären.<br />

Lieber Jakob Augstein, ich habe ganz<br />

bewusst gesagt: Es ist nicht ausschließlich<br />

ein kultureller Konflikt. Doch wir Europäer<br />

haben etwas übersehen. Wir haben<br />

es schon bei der Integration von Bulgarien<br />

und Rumänien in die EU übersehen: Die<br />

früheren „Satelliten-Staaten“ der Sowjetunion,<br />

wie wir sie nannten, haben nicht<br />

viel Zeit und Gelegenheit gehabt, demokratisches<br />

Bewusstsein zu entwickeln. Sie<br />

haben ihre Geschichte nicht bewältigen<br />

können. Sie lebten bis 1989 als hermetisch<br />

abgeschlossene Gesellschaften. Diktatur<br />

ist ja hermetisch. Der Kommunismus<br />

hat verhindert, dass sich die Kultur dieser<br />

Völker entwickelt. Zwischen Kirche und<br />

Staat konnte kein zeitgemäßes Verhältnis<br />

entstehen. Bleiben wir bei der Ukraine:<br />

Die Ostukraine ist kulturell anders grundiert,<br />

pflegt andere kulturelle Sensibilitäten<br />

als die Westukraine. Aber natürlich haben<br />

Sie recht: <strong>Das</strong> alles ist auch ein Kampf<br />

um Einflusssphären. Die Welt ist derart<br />

ökonomisiert, dass es tatsächlich immer<br />

auch um krude kommerzielle Macht geht.<br />

Warum tun wir uns denn so schwer,<br />

das einfach zuzugestehen und zu sagen:<br />

„Hier herrscht ein Kampf um Einflusssphären.<br />

Die Russen haben ihre Interessen,<br />

und wir haben unsere – mal<br />

schauen, ob es einen Interessenausgleich<br />

gibt, oder: mal schauen, ob sich<br />

hier tatsächlich der Stärkere durchsetzt?“<br />

Weshalb laden wir diese Debatte<br />

so stark mit Moral auf? Warum<br />

müssen wir sagen: „Putin ist der Böse.<br />

Er ist ein Aggressor, der das Gleichgewicht<br />

der Kräfte in Europa bedroht.“<br />

Dabei geht es dem Westen selbst doch<br />

um nichts anderes als die Verschiebung<br />

des Gleichgewichts zu seinen Gunsten.<br />

Wir haben eine kulturelle Bruchstelle,<br />

wir haben Ungleichzeitigkeiten,<br />

und wir haben ganz automatisch den<br />

Kampf um ökonomische Einflusssphären.<br />

<strong>Das</strong> sind die drei Konfliktfelder. Wir wollen<br />

auch Putin verstehen. Motive nachvollziehen<br />

zu können, heißt aber noch<br />

nicht, sie zu billigen. Sie und ich haben<br />

bestimmte Maßstäbe für den Umgang mit<br />

dem Völkerrecht. Und wir haben ein bestimmtes<br />

Verständnis vom Umgang mit<br />

den Menschen. Wir können unsere Werte<br />

zwar nicht anderen Kulturen und Staaten<br />

überstülpen, aber wir können sagen:<br />

„Die Werte, die in eurem Land gelten,<br />

sind nicht unsere Werte.“<br />

Aber moralische Außenpolitik gibt es<br />

nicht.<br />

In der Außenpolitik gibt es keine<br />

Freunde, nur Interessensphären. Aber<br />

es ist dennoch ganz klar, dass man in einer<br />

Wertewelt verwurzelt ist und aus dieser<br />

Wertewelt heraus ethische und moralische<br />

Prinzipien für das eigene Handeln<br />

entwickelt. Alles andere wäre zynisch!<br />

Wenn wir Wirtschaftsbeziehungen mit<br />

Saudi-Arabien pflegen, kennen wir keine<br />

moralische Komponente.<br />

eröffnung 16. Sep, 19 uhr<br />

akademie der künSte, hanSeatenweg<br />

41<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014<br />

www.berlinartweek.de


BERLINER REPUBLIK<br />

Gespräch<br />

Wir müssen diskutieren, ob wir mit<br />

Saudi-Arabien eine Wirtschaftsbeziehung<br />

haben wollen. <strong>Das</strong> wird ja auch diskutiert.<br />

Ich behaupte überhaupt nicht, dass die<br />

westliche Außenpolitik – ob die amerikanische,<br />

europäische oder deutsche – stets<br />

moralisch handelt. Ich sage nur: Es gibt<br />

sie, die Werte, es gibt sie, die Moral. Daran<br />

orientiert man sich. <strong>Das</strong> tun Sie doch<br />

ganz einfach als Mensch. Der Begriff Moral<br />

ist zu Unrecht diffamiert. Moral steckt<br />

in uns: im Menschen, in jedem Menschen –<br />

das ist das Universale.<br />

Die Moral, von der Sie sprechen, ist immer<br />

eingebettet in ein sehr feines Gewebe<br />

aus eigenen Interessen und Einsicht<br />

in eigene Möglichkeiten. Sie ist<br />

deshalb nachrangig. Am Ende ist nicht<br />

die Moral das entscheidende Kriterium<br />

für außenpolitisches Handeln, und das<br />

ist auch gut so! Alles andere wäre eine<br />

Katastrophe. Außenpolitik, überhaupt<br />

Politik, ist nicht dafür da, die Moral eines<br />

Landes zu vertreten, sondern seine<br />

Interessen – das ist ein anderer Job. Was<br />

ich als unangenehm empfinde, ist unsere<br />

moralische Argumentation im Verhältnis<br />

zu anderen Staaten und Kulturkreisen.<br />

Wenn wir glauben, es uns nicht<br />

leisten zu können, tun wir es nicht.<br />

Wenn wir aber glauben, es uns leisten<br />

zu können, tun wir es. Wer es tut, diskreditiert<br />

sich meiner Meinung nach für<br />

alle Situationen. Deshalb sollten wir es<br />

niemals tun.<br />

Sie sagen „wir“. Wer ist für Sie das<br />

„Wir“?<br />

Die westliche Öffentlichkeit.<br />

Und da widerspreche ich nun vehement.<br />

Es beeindruckt mich stark, auf<br />

welch differenzierte Weise diese Debatte<br />

in der Öffentlichkeit geführt wird,<br />

gerade als Debatte um Werte. Es heißt<br />

nicht einfach zynisch: „Siemens hat Interessen<br />

in Moskau. Ergo lass uns schweigen,<br />

um diese Interessen nicht zu gefährden.“<br />

<strong>Das</strong> wäre Interessenpolitik, reine<br />

Interessenpolitik. Ich finde es toll, dass es<br />

Leute gibt, die sagen: „Hier geht es um<br />

universale Werte, die nicht nur bei uns,<br />

sondern auch in diesem Teil der Welt gelten<br />

müssen.“<br />

Für mich ist der Konflikt in der Ukraine<br />

ein gutes Beispiel dafür, wie der Westen<br />

„ Außenpolitik ist<br />

nicht dafür da,<br />

die Moral eines<br />

Landes zu vertreten,<br />

sondern<br />

seine Interessen “<br />

Jakob Augstein<br />

seine Werte instrumentalisiert. Der<br />

Westen sagt: „Weil wir diese Werte haben,<br />

haben wir auch das Recht, dieses<br />

und jenes zu tun.“ Andere Kulturkreise<br />

sagen: „Weil wir diese Interessen haben,<br />

machen wir das und das.“ Aber im Endeffekt<br />

läuft es auf dasselbe hinaus.<br />

Sie sagen: „Wir im Westen sind<br />

Heuchler.“ Ein moralisches Urteil. Sie<br />

fällen ebenfalls moralische Urteile. Sie<br />

sind das beste Beispiel dafür, dass es immer<br />

auch um die Moral geht.<br />

Es ist vor allen Dingen ein emotionales<br />

Urteil, kein moralisches. Es geht mir auf<br />

die Nerven.<br />

Nur Moral kann so viele Emotionen<br />

freisetzen. Ich will aber festhalten:<br />

Es gibt das Problem der Ungleichzeitigkeit;<br />

wir haben es in der EU selbst. Beim<br />

Computerhandel an der Börse entscheiden<br />

Nanosekunden über Erfolg und Misserfolg.<br />

Gleichzeitig leben in diesem Europa<br />

Gesellschaften, deren Probleme auf<br />

Jahreszahlen wie 1914 oder 1933 oder<br />

1945 oder 1956 oder 1968 oder 1973 –<br />

das Jahr der Ölkrise – zu datieren sind.<br />

Schon das Fernsehen hat uns Bilder gebracht<br />

aus Weltgegenden, die wir vorher<br />

nicht kannten …<br />

… der Vietnamkrieg ist ein Fernsehkrieg<br />

gewesen.<br />

Genau. Deshalb hat er uns in ethische<br />

Bedrängnisse gebracht, die die Leute so<br />

vorher nicht kannten. Plötzlich sahen<br />

sie sich mit der Vorstellung konfrontiert,<br />

in Mitteleuropa komfortabel zu Hause<br />

zu sein, während in einem anderen Teil<br />

der Erde Kinder verbrannt werden.<br />

Sie beschreiben jetzt eine moralische<br />

Konfliktsituation. Die Welt ist voller moralischer<br />

Konfliktsituationen. Damit ist<br />

sie voller Moral. Wir streiten uns über<br />

Konfliktsituationen aus unserem moralischen<br />

Impetus heraus. Hätten wir ihn<br />

nicht, könnten wir Geschäftsleute sein<br />

und sagen: „Ist uns doch einerlei – machen<br />

wir doch einfach gute Geschäfte!“<br />

Aber das tun wir nicht.<br />

Aber genauso machen wir es: Wir zermartern<br />

uns erst das Hirn, machen<br />

dann die Geschäfte und gehen am Ende<br />

gut essen. <strong>Das</strong> ist es, was wir tun.<br />

Ja, aber das charakterisiert eine<br />

moderne, aufgeklärte Gesellschaft, die<br />

Skepsis kennt – auch dem eigenen Handeln<br />

gegenüber …<br />

… und die in einem Zustand permanenter<br />

moralischer Selbstüberforderung lebt.<br />

Was dabei herauskommt, ist eine Art<br />

Perversion.<br />

Nein. Die Bilanz unserer Gesellschaft<br />

ist nun wirklich eine positive.<br />

In einem Balzac-Roman findet sich – ich<br />

habe das in einem Buch von Henning<br />

42<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Ritter gelesen – das Beispiel des Mandarins.<br />

Einer sagt: „Was würdest du<br />

tun, wenn du in China mit einem Gedanken<br />

einen Mandarin töten und dadurch<br />

selbst unvorstellbar reich werden<br />

könntest? Würdest du es machen?“<br />

<strong>Das</strong> beschreibt das moralische Dilemma<br />

im 19. Jahrhundert – praktisch erdacht,<br />

geradezu paradigmatisch. Damals<br />

war das nur ein Gedankenspiel. Heute<br />

ist es Realität. Wir handeln so. Wir töten<br />

durch unsere Gedanken immerzu<br />

irgendwelche Leute auf der Welt und<br />

werden dadurch unvorstellbar reich.<br />

Auf die Frage, die im 19. Jahrhundert<br />

gestellt wurde, geben wir die Antwort:<br />

„Ja, wir machen das.“<br />

Sie sind mir ja eine Moraltante. Sie<br />

sind die größte Moraltante, die mir untergekommen<br />

ist! Was Sie hier entwickeln,<br />

ist reine moralische Empörung. Ich kann<br />

mich nur wiederholen: Die Antwort hat<br />

Kant mit dem kategorischen Imperativ<br />

gegeben: Handle stets nach der Maxime,<br />

die zugleich als Prinzip einer allgemeinen<br />

Gesetzgebung gelten kann. Dieser<br />

Imperativ steckt im Menschen, weil der<br />

Mensch sowohl ein Ich-Mensch als auch<br />

ein Wir-Mensch ist.<br />

Ja, aber die Leute sehen doch, dass es so<br />

nicht läuft. Sie können mit einem Gedanken<br />

den Mandarin töten, aber der<br />

Mandarin kann sie nicht töten. Sie tun<br />

es, weil sie es können.<br />

Längst kann der Mandarin töten. Er<br />

tötet Tausende. Jedes Jahr tötet der moderne<br />

Mandarin in seinem Reich Tausende.<br />

Die Menschen, die dem Mandarin<br />

nicht passen, werden aus der Gesellschaft<br />

entfernt und kaputt gemacht, körperlich<br />

und seelisch. So ist es seit dem Mandarin<br />

Mao. China ist eine Diktatur – wir sind<br />

gegen diese Diktatur. Natürlich: Auch<br />

die Mächte des Westens begehen aus Interessen<br />

Böses … <strong>Das</strong> ist skandalös. In<br />

der Demokratie gibt es täglich Skandale,<br />

weil wir eine freie Gesellschaft sind. In<br />

der Diktatur gibt es keine Skandale, es<br />

sei denn, den einen einzigen: die Diktatur<br />

selbst.<br />

Hier veröffentlichen wir Auszüge aus Frank<br />

A. Meyers Buch „Es wird eine Rebellion geben.<br />

Was unsere Demokratie jetzt braucht.<br />

Gespräche mit Jakob Augstein“, das im<br />

September im Verlag Orell Füssli erscheint<br />

„DIE LIEBE, DAS WUNDER“<br />

Sie birgt das Glück, ist die Hoffnung, geht immer<br />

nach draußen. Gedanken über ein großes Gefühl<br />

Jakob Augstein: Sie haben gesagt,<br />

dass Sie über die Liebe sprechen<br />

wollen. Warum?<br />

Frank A. Meyer: Wir sprechen über<br />

das Leben. Kann man über das Leben<br />

reden, ohne über die Liebe zu reden?<br />

<strong>Das</strong> kann man schon.<br />

Ich kann es nicht. Ich glaube, man<br />

kann es grundsätzlich nicht. Es gibt<br />

keinen großen Roman, keine große<br />

Erzählung, die vom Leben des Menschen<br />

handelt, ohne von der Liebe<br />

zu handeln. Wirklich leben heißt:<br />

Man liebt und man scheitert im<br />

Lieben. Die Liebe birgt das Glück. Die<br />

Liebe, das ist der Raum, den wir dem<br />

geliebten Menschen öffnen: „Bitte<br />

tritt ein, ich liebe Dich.“ Die Liebe ist<br />

das Wunder, das sich in jedem Leben<br />

ereignet – hoffentlich. Ja, es ist die<br />

Hoffnung an sich.<br />

Die Liebe, von der Sie sprechen – ist<br />

das eine Liebe für andere Menschen<br />

oder auch für Ideen oder Dinge?<br />

Ich liebe keine Ideen. Ich liebe kein<br />

Vaterland. Ich liebe keine Dinge. Ich<br />

liebe nur Menschen.<br />

Sind Sie ein Macho?<br />

Aber sicher. Sie doch auch.<br />

Ich habe Sie gefragt.<br />

Ich bin ein Mann – also bin ich ein<br />

Macho. Glauben Sie etwa, meine<br />

Generation habe den Macho schon<br />

überwunden? Es wird lange dauern,<br />

bis sich unsere Erkenntnis, dass Männerherrschaft<br />

das Allerdümmste ist,<br />

auch genetisch umgesetzt hat. <strong>Das</strong><br />

soll keine Entschuldigung sein. Wir<br />

sind ja dabei, unser Stammhirn mit<br />

dem Verstand zu steuern, jedenfalls<br />

wir zwei, hoffe ich. Aber einfach ist<br />

das nicht.<br />

Fällt Ihnen das schwer?<br />

Ihnen nicht?<br />

Ich bin hier, um Sie zu befragen.<br />

Immer wenn es persönlich wird, weichen<br />

Sie aus. Warum eigentlich?<br />

Weil ich ein zurückhaltender Norddeutscher<br />

bin. <strong>Das</strong> liegt bei uns in<br />

der Kultur.<br />

Und ich bin Süditaliener?<br />

Sie kommen aus der Schweiz.<br />

Biel ist von Hamburg bestimmt<br />

700 oder 800 Kilometer entfernt.<br />

Es könnte auch einfach so sein,<br />

dass Sie in dieser Hinsicht scheu<br />

sind.<br />

Ja, das bin ich auch.<br />

Wie sehen Sie nun die Liebe?<br />

Ich glaube, Liebe ist alles, was<br />

über einen selbst hinausgeht.<br />

Man fängt in dem Augenblick zu<br />

lieben an, in dem man sich selbst<br />

nicht mehr als Zentrum seiner<br />

Überlegungen begreift. Liebe ist<br />

immer etwas, das nach draußen<br />

geht. Von drinnen nach draußen.<br />

<strong>Das</strong> ist eine sehr schöne Formulierung.<br />

Die merke ich mir. Liebe<br />

ist letztlich ein Transzendieren.<br />

Da gibt es für mich auch eine<br />

religiöse Komponente.<br />

Ja, so sehe ich das auch. Deshalb<br />

finde ich, dass das Christentum<br />

eine ganz große zivilisatorische<br />

Errungenschaft ist. Als Religion<br />

der Liebe hat es die Zivilisation<br />

unglaublich vorangebracht.<br />

Es ist eine Religion, die den Menschen<br />

befreit.<br />

Es ist eine sehr romantische Religion<br />

im Vergleich zum Beispiel<br />

zur Gesellschaftsreligion in der<br />

chinesischen Kultur, wo es mehr<br />

darum geht, wie die Leute gut<br />

miteinander zurechtkommen.<br />

In der Religion der Liebe geht es<br />

immer um das Verhältnis vom<br />

Ich zu Gott. In der chinesischen<br />

Kultur geht es immer um das<br />

Ich und die anderen. Der Christ<br />

muss Gott in sich selbst und<br />

in seinen Mitmenschen lieben.<br />

Die Idee, dass es ein Innen<br />

und ein Außen gibt, habe ich<br />

erst verstanden, als ich Kinder<br />

hatte. Vorher habe ich keinen<br />

Unterschied zwischen einer<br />

Innen- und einer Außenwelt<br />

gemacht.<br />

Die Liebe ist das intime Hinausgehen<br />

des Menschen über sich<br />

selbst. <strong>Das</strong> Bürgersein ist das gesellschaftliche<br />

Hinausgehen des<br />

Menschen über sich selbst.<br />

43<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Kommentar<br />

UNVERBLÜMT<br />

Der Gazakrieg lässt<br />

einen Antisemitismus in<br />

Deutschland aufbrechen,<br />

der an dunkle Traditionen<br />

anknüpft und eine <strong>neue</strong><br />

Allianz hervorbringt<br />

Von TIMO STEIN<br />

Der Ton ist rau. Der Diskurs ermüdend, weil er<br />

keine Mitte hat. Er kennt nur Pole: Selbst im<br />

so empörungsstarken Internet setzt das Stichwort<br />

Israel beispiellose Empörung frei. Von Apartheid<br />

ist die Rede, von einer So-called-Demokratie, einem<br />

künstlichen Staat, dem zionistischen Aggressor, von<br />

Völkermord und Massakern an<br />

Palästinensern. Israels Premier<br />

Benjamin Netanjahu wird eine<br />

derart obsessive Aufmerksamkeit<br />

zuteil, dass jeder zwielichtige<br />

Diktator vor Neid erblassen<br />

müsste. In Köln, Essen, Stuttgart,<br />

Duisburg und Berlin skandieren<br />

sie „Kindermörder Israel“,<br />

„Judenschweine“, sie singen die<br />

Internationale oder rufen „Allahu<br />

Akbar“: Allah ist groß. Die<br />

Feindschaft zu Israel ist der gemeinsame<br />

Nenner sehr unterschiedlicher<br />

Akteure: Islamisten,<br />

Linke, Rechte, Anhänger der<br />

Querfrontbewegung, die in Berlin<br />

auf montäglichen Demonstrationen<br />

links- wie rechtsradikale<br />

Positionen und Insignien vereint.<br />

Der gemeinsame Feind ist Israel.<br />

Man könnte auch von gelungener<br />

Integration sprechen, wenn die religiös motivierte<br />

Judenfeindschaft in Teilen der muslimischen<br />

Community auf solchen Kundgebungen auf die landesübliche<br />

„Israelkritik“ stößt. Wenn Friedensbewegte<br />

aus den Opfern von einst die Täter von heute machen<br />

und ihr Nie-wieder-Krieg-Pathos auf Israel projizieren,<br />

ein Land, das sich seit seiner Gründung sein <strong>Das</strong>ein an<br />

allen Fronten erkämpfen muss. Wann endlich, so lautet<br />

Protest vor dem Holocaust-Museum in<br />

Washington D. C. gegen den Gazakrieg<br />

der israelkritische Tenor, wollen die Juden aus unserer<br />

Geschichte lernen? Schließlich haben wir Deutschen<br />

den Holocaust auch hinter uns gelassen.<br />

Die Proteste kennzeichnet eine Überidentifikation<br />

mit der Krise in Nahost, welche die Kritiker die einzige<br />

Demokratie in dieser Region mit besonderem Maß<br />

messen lässt. So kommt es, dass Israel der einzige Staat<br />

ist, dessen Existenz im Jahre 2014 noch infrage gestellt<br />

wird. Es ist ein Blick mit eigenen Gesetzmäßigkeiten.<br />

Ursache und Wirkung werden bis in biblische Zeiten<br />

historisiert oder gänzlich außer Kraft gesetzt. Zu Nahost<br />

haben alle in Deutschland eine Meinung, die selten<br />

wägend und häufig wütend daherkommt. Die Debatte<br />

wird so unerbittlich geführt, als würden sich Leid und<br />

Elend der Welt in Luft auflösen, wenn sich nur Israel<br />

in Luft auflöste.<br />

Zum Antisemitismus gehört es, an Juden Maßstäbe<br />

anzulegen, die man an andere Menschen nicht<br />

anlegt. Ihnen werden Eigenschaften zugeschrieben,<br />

die sie pauschal erhöhen oder erniedrigen. Wenn der<br />

Krieg in Nahost ausbricht, zeigt<br />

sich, wie tief solche Stereotype<br />

in der Gesellschaft verankert<br />

sind. Studien sprechen davon,<br />

dass 15 bis 20 Prozent der Deutschen<br />

antisemitische Haltungen<br />

haben. Heute wird deutlich, wie<br />

anschlussfähig sich Israelkritik<br />

für den Antisemitismus zeigt.<br />

Natürlich, Kritik an Israel<br />

ist nicht per se antisemitisch. Sie<br />

wird es aber dann, wenn sich die<br />

Kritik nicht gegen die Politik Israels,<br />

sondern gegen Israel als jüdischen<br />

Staat selbst wendet.<br />

Nach 1945 war offener Antisemitismus<br />

noch tabuisiert. Er<br />

suchte sich ein <strong>neue</strong>s Gewand<br />

und fand den Antizionismus,<br />

der erklärte, sich nicht gegen<br />

die Juden, sondern gegen Israel<br />

zu richten. Doch häufig sagten<br />

Israelkritiker Zionist und meinten Jude, sie argumentierten,<br />

als hätte es den Holocaust nie gegeben. Es ist<br />

diese Geschichtslosigkeit, die ihn immer schon anfällig<br />

für antisemitische Stereotype macht.<br />

Gleichwohl bestand die antizionistische Argumentation<br />

darauf, dass nicht die Juden, sondern die<br />

Zionisten kritisiert würden. Dagegen macht die antizionistische<br />

Rhetorik im Sommer 2014 auf den<br />

Foto: Mandel Ngan/AFP/Getty Images<br />

44<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


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X, Y, ZUKUNFT – SO TICKT<br />

DIE NEUE GENERATION<br />

Demonstrationen und in den Kommentarspalten des<br />

Internets aus den Zionisten ganz unverblümt Juden.<br />

Deutsche demonstrieren vor Synagogen statt vor israelischen<br />

Botschaften. Juden auf der ganzen Welt werden<br />

in kollektive Haftung für israelische Politik genommen.<br />

Die Israelis werden zu den Nazis von heute<br />

erklärt, während gleichzeitig antisemitische Organisationen<br />

wie Hamas oder Hisbollah als Freiheitsbewegung<br />

verharmlost werden. Von alttestamentarischer<br />

Rache ist die Rede: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.<br />

Ein biblischer Vers, den bereits der nationalsozialistische<br />

Stürmer instrumentalisierte, um das Judentum<br />

als Vergeltungsreligion zu stigmatisieren.<br />

Israel wird zum Fremdkörper innerhalb der arabischen<br />

Welt erklärt, dem das eigentliche Volk der Palästinenser<br />

gegenübersteht. All diese Erzählungen sprechen<br />

Israel die Legitimität ab. All diese Erzählungen<br />

haben ein antisemitisches Narrativ, das an früher erinnert,<br />

als die Juden zum Fremdkörper in Europa erklärt<br />

wurden.<br />

Selbst Deutsche, die sich in der Tradition des Humanismus<br />

und der Menschenrechte sehen, verteidigen<br />

Antidemokraten, Hassprediger und eine Hamas,<br />

die für alle nachlesbar den Tod der Juden zum Programm<br />

erhoben hat. <strong>Das</strong>s gerade die Friedensbewegung,<br />

die Linke diese falsche Solidarität übt, hat freilich<br />

Tradition.<br />

Nach 1945 war die Linke in Deutschland zunächst<br />

proisraelisch ausgerichtet. Diese Positionierung kippte<br />

infolge des Sechstagekriegs im Juni 1967. Israel setzte<br />

sich damals militärisch gegen vermeintlich überlegene<br />

Truppen arabischer Staaten durch. Dieser Sieg entfachte<br />

eine proisraelische Begeisterung in bürgerlichkonservativen<br />

Kreisen in der Bundesrepublik. In der<br />

Konsequenz verlor eine bewusst gegen die Elterngeneration<br />

ausgeübte proisraelische Positionierung vieler<br />

Linker ihre oppositionelle Sprengkraft. Die USA,<br />

die Eltern und Springer unterstützten Israel, so dachten<br />

viele, dann musste man als junger Linker doch gegen<br />

die Zionisten auf die Straße gehen.<br />

Schon damals wies die Kritik am US-Kapitalismus<br />

Ähnlichkeiten mit alten antisemitischen Verschwörungstheorien<br />

auf, wenn sie sich nicht nur gegen Strukturen<br />

wandte, sondern in Personen und Institutionen<br />

eingängige Feindbilder erschuf. 1967 war der Anfangspunkt<br />

einer verzerrten Israelkritik, die für eine ganze<br />

Generation identitätsstiftend sein sollte.<br />

Heute erleben wir ein <strong>neue</strong>s 1967. Der Antisemitismus<br />

tritt wieder ganz offen auf. Er eint Linke, Rechte<br />

und Islamisten, er bringt zusammen, was eigentlich<br />

nicht zusammenpasst. Eine unheimliche Allianz.<br />

Leseprobe auf www.beltz.de<br />

255 Seiten, gebunden | ISBN 978-3-407-85976-1<br />

Auch als erhältlich<br />

»Die heimliche Revolution der Generation Y hat<br />

gerade erst begonnen. Wenn die Ypsiloner einmal<br />

in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind,<br />

wird unsere Welt eine andere sein.«<br />

Klaus Hurrelmann, Erik Albrecht<br />

DIE BUNDESTAGSFRAKTION LÄDT EIN<br />

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Foto: Zack Seckler/Corbis<br />

DER GRÜNE FREIHEITSKONGRESS<br />

19. September im Bundestag<br />

TIMO STEIN ist Redakteur bei <strong>Cicero</strong> online. Von ihm<br />

erschien 2011 das Buch „Zwischen Antisemitismus und<br />

Israelkritik: Antizionismus in der deutschen Linken“<br />

Infos & Anmeldung » gruene-bundestag.de


46<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

DIE HOCHBURG<br />

Von GUNNAR HINCK<br />

In wenigen Gegenden sind Politiker der AfD so erfolgreich<br />

wie im Erzgebirge. Sie tagen in einem Gartenhäuschen in<br />

Großrückerswalde. Die Sachsen erzielen Topergebnisse. Aber:<br />

Sie haben ein Frauenproblem<br />

Fotos CHRISTOPH BUSSE<br />

47<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

Der Geruch von Fleisch und Zwiebeln<br />

erfüllt das Gartenhäuschen,<br />

er steigt von einem Teller Mettbrötchen<br />

auf. Die Männer im Raum würden<br />

zugreifen, aber erst einmal muss die<br />

Tagesordnung des Kreisvorstands der<br />

AfD Erzgebirge durchgearbeitet werden.<br />

Carsten Hütter, 50 Jahre, Kfz-Meister,<br />

Autohausbesitzer und Oberfeldwebel<br />

a. D., sitzt am Tischende. Es ist sein<br />

Gartenhäuschen, hier in Großrückerswalde<br />

bei Marienberg, und es ist sein<br />

Kreisverband. Er motiviert, moniert und<br />

mahnt. Die Wahlkampfhelfer aus Nordrhein-Westfalen<br />

müssen betreut werden!<br />

Trommelt mehr Plakataufhänger zusammen!<br />

Teilt unsere Posts auf Facebook!<br />

Ein Pin-up-Girl lächelt von der Wand<br />

herunter. Eine Golftasche lehnt in der<br />

Ecke. <strong>Das</strong> Gartenhäuschen ist wohl das,<br />

was man im Englischen eine man cave,<br />

eine Männerhöhle, nennt. <strong>Das</strong> Familienhaus<br />

steht in sicherer Distanz knappe<br />

40 Meter entfernt.<br />

Hütter ist Landesvize der sächsischen<br />

AfD. Der Wahlkampf läuft. Am 31. August<br />

wählen die Sachsen ihren Landtag,<br />

Hütter kandidiert auf einem aussichtsreichen<br />

Listenplatz. Seit der Bundestagswahl<br />

vor einem Jahr und erst recht seit<br />

den Kommunal- und Europawahlen im<br />

Mai gilt Sachsen als AfD-Hochburg. In einem<br />

Gürtel entlang der Grenze zu Tschechien<br />

und Polen, der vom Vogtland im<br />

Westen bis Görlitz im Osten reicht, waren<br />

Im Erzgebirge<br />

setzte einst sogar<br />

die SED auf die<br />

CDU. Aber nun<br />

nagt die AfD an<br />

der Union<br />

Sein Gartenhaus, seine AfD.<br />

Carsten Hütter ( links ), Parteichef<br />

im Kreis Erzgebirge, mit einem<br />

Mitstreiter, der Gastwirt ist<br />

die Wahlergebnisse nochmal höher. Im<br />

Erzgebirge erreichte sie bei den Europawahlen<br />

11,4 Prozent, in manchen Städten<br />

wie Schwarzenberg und eben in der<br />

Großen Kreisstadt Marienberg um die<br />

13 Prozent. Seit der Wahl im Mai sitzen<br />

sieben AfD-Abgeordnete im Kreistag, die<br />

SPD hat nur ein Mandat mehr. Hier in der<br />

Hochburg kann man etwas über das Wesen<br />

der AfD lernen, über ihre DNA.<br />

EIN SOMMERABEND, kurz nach sieben,<br />

draußen ist die Luft etwas abgekühlt.<br />

Drinnen in Hütters Gartenhäuschen<br />

riecht es frisch nach dem Hobbykellerholz,<br />

mit dem die Wand verkleidet ist.<br />

Es geht auch ums Geld, heikel, denn der<br />

Kreisverband ist jetzt, in Wahlkampfzeiten,<br />

finanziell und personell am Limit.<br />

Ein wenig Geld kommt von der Bundespartei,<br />

viel zahlt Hütter selbst, 1000 Euro<br />

im Monat allein für den Sprit. Aber die<br />

Kostenerstattung aus dem Landeshaushalt<br />

ist greifbar. Und die Mittel und Mitarbeiter,<br />

die einer Landtagsfraktion zustehen.<br />

Hütter mahnt: „Fraktions- und<br />

Parteiaufgaben müssen klar getrennt<br />

sein, da achtet der Rechnungshof drauf.“<br />

Im Erzgebirge rüttelt die AfD an der<br />

mächtigen CDU. Eine <strong>neue</strong> Partei, die<br />

nur 60 Mitglieder im Kreis hat und nur<br />

20 aktive, macht der CDU Probleme. Die<br />

Union ist in dieser Gegend traditionell<br />

so verankert, dass schon die SED in einigen<br />

Städten Bürgermeister der Blockpartei<br />

CDU hinnahm; sie wusste, wie<br />

schwer es gewesen wäre, SED-Bürgermeister<br />

einzusetzen. Die Menschen sind<br />

für ostdeutsche Verhältnisse überdurchschnittlich<br />

gläubig. Die evangelische<br />

Landeskirche ist stark, überdies beten<br />

die Menschen in Freikirchen und evangelikalen<br />

Gemeinden, die nach 1989 entstanden<br />

sind. Viel Wald, raues Klima, die<br />

Leute sind eigensinnig. Manche Familien<br />

arbeiten noch wie im 19. Jahrhundert und<br />

pflegen ihr Handwerk in der Werkstatt<br />

hinterm Haus. 1000 Euro mehr oder weniger<br />

in der Kasse können zu einer Existenzfrage<br />

für einen Betrieb werden.<br />

Nachfrage bei Albrecht Kohlsdorf,<br />

früher lange CDU-Landrat: Was macht<br />

die CDU falsch? Kohlsdorf meint, die<br />

Euro-Rettungspolitik habe Wähler von<br />

der CDU weggetrieben. Die Erzgebirger<br />

seien Sparer, die Angst um ihre Einlagen<br />

hätten. Zudem wünschten sich<br />

48<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


viele ein Korrektiv der CDU. Nachdem<br />

die FDP versagt habe, wählten viele die<br />

AfD. Kohlsdorf fällt auf, dass die lokalen<br />

AfD-Kandidaten Unbekannte sind. Hat<br />

er recht, ist dies ein Zeichen dafür, dass<br />

die AfD im Erzgebirge eine typische Protestpartei<br />

ist, die nicht wegen des Personals<br />

oder ihrer Verankerung gewählt<br />

wird, sondern als Ventil für den Unmut<br />

vieler Menschen dient.<br />

DIE TAGESORDNUNG ist endlich abgearbeitet.<br />

Hütter gibt die Mettbrötchen frei.<br />

Die Männer öffnen ihre Bierflaschen.<br />

Der harte Kern der AfD Erzgebirge<br />

besteht an diesem Abend aus Hütter<br />

und vier anderen. Ein ernsthafter<br />

Sie fühlen sich unverstanden –<br />

dieses Gefühl eint die Männer<br />

von der AfD. Und es findet<br />

Widerhall<br />

Polizeihauptkommissar, ein introvertierter<br />

Berufsschullehrer, ein ruhiger Steuerberater<br />

und ein wütender Wirt. Der<br />

Wirt – schwarze Weste, schwerer Dialekt<br />

– ballt die Faust. Er presst die Worte<br />

heraus: „Die Gaststättenkultur wird hier<br />

zerstört!“ Wegen des Rauchverbots habe<br />

er seinen Betrieb aufgeben müssen. Er<br />

vertritt außerdem das Ressentiment-Element<br />

der AfD, wenn er von „dem deutschen<br />

Steuerzahler“ spricht und den<br />

Asylbewerbern, die „auf unsere Kosten“<br />

leben. Wenn der Wirt in Fahrt kommt,<br />

verzieht der Hauptkommissar das Gesicht<br />

und verteidigt die Asylbewerber<br />

mit bedächtiger Stimme: „Sie nehmen<br />

nur ihre Rechte wahr.“ Es seien „traumatisierte<br />

Leute“, denen man nicht jeden<br />

Regelverstoß ankreiden sollte.<br />

Der Hauptkommissar spricht über<br />

die Droge Crystal Meth, die in Tschechien<br />

produziert und über die Grenze<br />

gebracht wird. Die Therapie der Süchtigen<br />

sei so wichtig wie die strafrechtliche<br />

Verfolgung. Er könnte locker als Drogenpolitiker<br />

der SPD durchgehen.<br />

Der Lehrer, <strong>neue</strong>rdings im Kreistag,<br />

stört sich an der Ausländerpolitik. Sie<br />

gehe von einer Willkommenskultur aus,<br />

die jedoch „basisfremd“ sei. Man müsse<br />

sich an der Masse der Wähler orientieren.<br />

Er schimpft auch über die CDU-Seilschaften,<br />

die sich seit 1990 in Marienberg<br />

gebildet hätten.<br />

Auch Carsten Hütter ist von der<br />

CDU enttäuscht. 2010 trat er aus, weil<br />

sie ihm zu links geworden war. Die Mehrwertsteuererhöhung,<br />

die die Große Koalition<br />

in Berlin – 2005 bis 2009 – beschlossen<br />

hatte, sei ein Schlag gewesen.<br />

Und: Als normales Mitglied habe er nie<br />

eine Chance gehabt, in der Partei vor Ort<br />

etwas zu werden. Ein kleiner Funktionärskreis<br />

vergebe die Posten unter sich.<br />

Sachsen sei nach fast 25 Jahren an der<br />

Regierung von der CDU durchtränkt, die<br />

Amtsträger benähmen sich wie Gutsherren.<br />

„Wer als Kleinunternehmer mit den<br />

Steuern säumig ist, dem sperren sie sofort<br />

das Konto – Zack, Ende.“<br />

Die Motive der einzelnen Vorstandsmitglieder<br />

sind verschieden. Aber sie alle<br />

fühlen sich unverstanden. Pathetisch gesagt:<br />

Sie halten sich für politisch heimatlos.<br />

Dieses Gefühl stößt auf Widerhall.<br />

Befragt man Passanten auf der Straße<br />

in Marienberg zur Landtagswahl, stößt<br />

49<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

man immer wieder auf das Wort Alternative,<br />

ohne dass damit gleich die Partei gemeint<br />

ist, die den Begriff im Namen trägt.<br />

Die FDP sei keine Alternative, seit deren<br />

Landeschef die evangelische Kirche kritisiert<br />

habe, sagt eine 60 Jahre alte Frau<br />

mit Einkaufstasche.<br />

Am Morgen. Carsten Hütter ist auf<br />

Kontrollgang in der Werkstatt seines<br />

Autohauses. Zwei Azubis richten Trabants<br />

her, die die sächsische AfD für<br />

eine Wahlkampftour einsetzen will. Die<br />

Frage, was Hütter machen würde, wenn<br />

die Mitarbeiter SPD- oder CDU-Anhänger<br />

wären und die Arbeit für die AfD verweigern<br />

würden, stellt sich hier nicht. Er<br />

ist der Chef, der Patriarch.<br />

Die Termine drängen. In Chemnitz<br />

muss er AfD-Broschüren von der Druckerei<br />

abholen, in Dresden AfD-Werbefilme<br />

fürs Fernsehen abnehmen. Hütter<br />

organisiert auch den Wahlkampf der<br />

Landespartei. Eine schnelle Zigarette,<br />

Marlboro light mit tschechischem Warnhinweis<br />

auf der Packung. Hütter raucht<br />

aus und steigt in seinen 300-PS-Mercedes-Geländewagen.<br />

„Habe ich günstig<br />

gebraucht gekauft“, sagt er. Der Wagen<br />

Oldtimerservice, Ersatzteilhandel,<br />

Abschleppservice. Und dann<br />

noch die AfD. Bringt Carsten<br />

Hütter das alles zusammen?<br />

zieht an den Toyotas und Dacias und Subarus<br />

vorbei.<br />

Hütter kommt aus Unna am Rand<br />

des Ruhrgebiets, was man an seinem Dialekt<br />

hört. 1990 war er Zeitsoldat bei der<br />

Bundeswehr. Er meldete sich, um nach<br />

Marienberg zu kommen, wo die Bundeswehr<br />

die Kaserne der Nationalen Volksarmee<br />

übernommen hatte. <strong>Das</strong> Erzgebirge<br />

interessierte ihn, seit er mit seinem<br />

Vater zu DDR-Zeiten dort gewesen war.<br />

Carsten Hütter ist der Typus findiger<br />

Geschäftsmann, der mit Flexibilität und<br />

<strong>neue</strong>n Ideen seine Existenz sichert.<br />

Inzwischen verkauft er nicht nur Autos,<br />

sondern führt einen Onlinehandel<br />

für Allradersatzteile, möbelt Oldtimer<br />

auf und betreibt einen Abschleppdienst.<br />

Er holt deutsche Autofahrer zurück, die<br />

irgendwo im tschechischen Grenzgebiet<br />

liegen geblieben sind und nicht weiterwissen.<br />

Auch wenn jemand in der Nacht<br />

aus Prag anruft, zögert er angeblich nicht.<br />

„Ich bin in einer Stunde dort“, sagt Hütter.<br />

Dann koppelt er einen Anhänger an<br />

seinen Geländewagen, fährt über die<br />

Grenze und hievt das liegen gebliebene<br />

Auto auf sein Gespann.<br />

50<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

Merkwürdig: Die AfD im Erzgebirge<br />

betont die Probleme, die mit der<br />

offenen Grenze nach Tschechien zusammenhängen.<br />

Doch ihr Spitzenmann profitiert<br />

längst von der offenen Grenze. Die<br />

Angst vor Zuwanderung, die trotz eines<br />

Ausländeranteils von nur 1,5 Prozent im<br />

Erzgebirge existiert, teilt er nicht. In Marienberg<br />

soll ein <strong>neue</strong>s Flüchtlingsheim<br />

eröffnet werden, das Asylthema ist Stadtgespräch.<br />

Insgesamt soll das Erzgebirge<br />

mehr Asylbewerber aufnehmen als ursprünglich<br />

geplant. „Die Asylbewerber<br />

müssen doch irgendwohin“, sagt Hütter.<br />

Seine private Meinung zur Einwanderungsfrage<br />

steht vermutlich quer zur<br />

Mehrheitsmeinung im Erzgebirge: Man<br />

brauche Einwanderung, die Region leide<br />

unter Wegzug und Überalterung.<br />

HÜTTER STAMMT aus einem katholischen<br />

SPD-Elternhaus. Der Vater blieb auch in<br />

der Partei, als er sich nach Jahrzehnten<br />

als Angestellter selbstständig machte.<br />

„Er sagte, die SPD kann ich nicht verraten,<br />

weil sie so viel für mich getan hat.“<br />

Katholisch, Ruhrgebiet, SPD-Eltern – wer<br />

diese Prägung durchlaufen hat, kann<br />

vermutlich nie ein echter Fremdenfeind<br />

werden, der ist stark gegen nationalkonservatives<br />

Denken immunisiert. Die offizielle<br />

Meinung des AfD-Politikers Carsten<br />

Hütter ist folglich etwas konstruiert.<br />

„Abmachungen müssen eingehalten werden,<br />

man kann nicht einfach die Zahl der<br />

Asylbewerber erhöhen“, sagt er.<br />

Ein Wahlkampfauftritt ein paar Tage<br />

später im Waldgasthof Bad Einsiedel in<br />

Seiffen, der alten Holzspielzeug-Stadt.<br />

Grenzgebiet in 700 Meter Höhe, das<br />

Handy wählt sich automatisch ins tschechische<br />

Netz ein. Die AfD lädt zur Diskussion<br />

zum Thema Grenzkriminalität.<br />

20 Leute haben sich versammelt, fünf<br />

sind Funktionäre der AfD. Der Saal ist<br />

kühl, ein nackter Betonboden, die Luft<br />

müffelt.<br />

„Wie Sie hören, ich komme nicht von<br />

hier!“, sagt Hütter. Er legt die Hände ineinander,<br />

ein wenig wie Angela Merkel,<br />

aber es wirkt etwas unsicher. Er hat sich<br />

für den Tag eine Krawatte zum Kurzarmhemd<br />

angezogen. Er redet über den Stellenabbau<br />

bei der Polizei und fordert mehr<br />

Personal für die Polizei, mehr Grenzkontrollen<br />

und vor allem Kontrollen von<br />

„einschlägigen Autos“. „Wenn Sie heute<br />

FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… ob sie als Amazon-Kundin ein schlechter<br />

Mensch ist<br />

Alle sind sich <strong>neue</strong>rdings einig: Amazon ist böse. Von ungebremster<br />

Expansion ist die Rede, von miesen Arbeitsbedingungen.<br />

Amazon will nicht nur Verlage überflüssig machen und<br />

sich langfristig die gesamte Produktions- und Vertriebskette von Büchern<br />

einverleiben, der Konzern will unser Kaufverhalten kontrollieren.<br />

Zuzugeben, dass man bei Amazon kauft, ist in meinen Kreisen inzwischen<br />

fast so populär wie der Konsum von Kinderpornografie.<br />

Ich bin zwischen den 15 000 Büchern meiner Eltern aufgewachsen.<br />

Die Liebe zu Büchern und die Hochachtung für jene, die sie schreiben,<br />

gestalten, verlegen und verkaufen, wurde mir gewissermaßen mit der<br />

Muttermilch eingeflößt. Amazon zu boykottieren, müsste selbstverständlich<br />

für mich sein. Aber ich schaffe es nicht, jedenfalls nicht völlig.<br />

Und frage mich, ob es dafür eine Rechtfertigung gibt.<br />

Seit ich einen Kindle besitze, bestelle ich viele Bücher als E-Book,<br />

die ich mir sonst nicht gekauft hätte. An meinen Downloads verdienen<br />

nicht nur die Bösen bei Amazon, sondern auch Autoren und Verlage.<br />

Außerdem bin ich nicht nur Leserin, sondern auch Autorin. Meine Bücher<br />

werden in großer Menge bei Amazon gekauft. Meine Verlagsoberen<br />

schimpfen zwar auf den Versandhändler, machen aber trotzdem<br />

Geschäfte mit ihm, weil sie gar nicht anders können. Soll ich als Autorin<br />

verlangen, dass sie auf einen ihrer wichtigsten Vertriebspartner<br />

verzichten – zu ihrem und meinem Schaden?<br />

Gut möglich, dass Amazon das Monster ist, als das viele den Konzern<br />

sehen. Aber dieses Ungeheuer haben wir alle gezüchtet, es ist<br />

eine Ausgeburt unserer Konsumgier, unserer Ungeduld, unserer Bequemlichkeit.<br />

Wir haben es gefüttert und gehätschelt, und nun, da es<br />

alles zu verschlingen droht, jammern wir und glauben, wir könnten es<br />

wieder einfangen und unschädlich machen.<br />

Dafür ist es zu spät. Wir können nur versuchen, es zu domestizieren.<br />

Verlage müssen hart verhandeln und dürfen sich nicht erpressen<br />

lassen – die Konzerne Hachette und Bonnier machen es gerade vor.<br />

Und wir Kunden können durch unser Kaufverhalten Einfluss nehmen.<br />

Dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn wir dem Monster einen<br />

Happen zuwerfen. Wir können es nämlich jederzeit auf Diät setzen.<br />

AMELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin.<br />

Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />

sonst an Fragen aufwirft<br />

51<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

In Seiffen erwähnt Hütter drei Mal,<br />

dass er Familienvater mit fünf Kindern<br />

ist. Er präsentiert sich als Oberhaupt einer<br />

großen Familie, das in das vermeintliche<br />

konservative Ideal passt. Dabei stammen<br />

seine Kinder aus drei Ehen. <strong>Das</strong>s<br />

Ehen zerbrechen können, ist auch in konservativen<br />

Milieus so selten nicht. Im Gespräch<br />

mit dem Reporter erzählt Hütter<br />

offen von den Brüchen in seinem Privatleben.<br />

Aber als Politiker nutzt er die Zahl<br />

Fünf als Einsatz im bürgerlich-konservativen<br />

Leistungswettbewerb: Wer bietet<br />

mehr? Wer hat die heilste und größte<br />

Familie?<br />

Foto: Privat (Autor)<br />

einen Notruf absetzen, braucht die Polizei<br />

im Erzgebirge fünf Minuten, um zu<br />

Ihnen zu kommen“, sagt er und setzt eine<br />

Kunstpause. „Fünf Minuten können sehr<br />

lang sein – Sie können drei Mal in den<br />

fünf Minuten sterben, bevor die Polizei<br />

kommt.“ Ein paar ältere Frauen im Raum<br />

blicken zu Boden, vermutlich malen sie<br />

sich aus, wie das ist, in fünf Minuten dreimal<br />

zu sterben.<br />

<strong>Das</strong> ist das populistische Moment der<br />

sächsischen AfD. Selbst wenn ein Funktionär<br />

wie Hütter eigentlich liberal eingestellt<br />

ist, wittert er die Ängste der Leute<br />

und nutzt sie.<br />

In Seiffen möchte er aber auch etwas<br />

anderes loswerden: „Früher war unsere<br />

Zeiteinteilung zwischen Beruf und Familie<br />

besser, früher hatte man mehr Zeit,<br />

es war weniger hektisch.“ Es ist ironisch,<br />

dass ausgerechnet der umtriebige Unternehmer<br />

über Work-Life-Balance spricht,<br />

aber es ist ihm ernst.<br />

Sorgen macht er sich auch schon wegen<br />

der Zeit nach dem 31. August, wenn<br />

er im Parlament sitzt. So ein Abgeordnetenmandat<br />

frisst Zeit, was wird dann<br />

aus den Allradersatzteilen, den Oldtimern<br />

und dem Abschleppdienst?<br />

Er mag das Leben im Erzgebirge mit<br />

„Vater, Mutter und Kind“ – wobei Hütter<br />

„Vatta“ und „Mutta“ sagt. Es erinnere ihn<br />

an seine Kindheit, wo „der Vatta gesagt<br />

hat: Mutta muss nicht mehr arbeiten, weil<br />

ich jetzt genug Geld verdiene.“<br />

Der Sommer der AfD in Sachsen.<br />

Nach dem 31. August winkt die<br />

Belohnung<br />

Die AfD als<br />

Rückzugsgebiet<br />

für den konservativen<br />

Mann.<br />

Und dann noch<br />

eine Chefin mit<br />

„Topfigur“<br />

BESONDERS CHRISTLICH wie Frauke Petry<br />

– sächsische Spitzenkandidatin, Pastorenfrau<br />

und vierfache Mutter – sind die<br />

Vorstandsmitglieder der erzgebirgischen<br />

AfD nicht. Keiner von ihnen ist in einer<br />

Kirche aktiv oder betont seinen Glauben.<br />

Ihre Familienwerte rühren mehr aus einem<br />

Lebensgefühl.<br />

Nach außen präsentiert sich die AfD<br />

als Familien- und Heimatpartei, nach innen<br />

dient sie, zumindest im Erzgebirge,<br />

als eine Art Rückzugsgebiet für den heterosexuellen<br />

mittelalten konservativen<br />

Mann. Hier können noch Zoten gerissen<br />

werden, wenn man unter sich ist,<br />

hier kann man Frauke Petry ungehemmt<br />

nicht nur nach inhaltlichen Kriterien bewerten.<br />

„Eine Topfigur“, sagt er und berichtet<br />

stolz, wie er einmal in ihrem Garten<br />

war und sie im Minirock gesehen hat.<br />

In der AfD-Hochburg spielen Frauen<br />

dagegen kaum eine Rolle. Im Gartenhäuschen<br />

in Großrückerswalde sehen<br />

die AfDler dieses Defizit. Sie sind gerade<br />

beim Personal. Carsten Hütter sagt:<br />

„Wir brauchen mehr Frauen.“ Die anderen<br />

schauen ihn ratlos an. Hütter spricht<br />

weiter. Mit sich selbst. Er erwähnt eine<br />

Melanie, eine Mandy. „Lasst uns doch<br />

die mal fragen.“ Schweigen. Hütter wird<br />

grundsätzlich. „Die Frauen haben’s doch<br />

auch schwer in der Politik mit dem Haushalt<br />

und den Kindern.“<br />

Die Genderdebatte in der Männerhöhle,<br />

eine echte Alternative.<br />

GUNNAR HINCK<br />

ist Politologe und freier<br />

Journalist in Berlin. Von ihm<br />

erschien 2007 das Buch<br />

„Eliten in Ostdeutschland“<br />

52<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


WELTBÜHNE<br />

„ Ich habe während<br />

des ganzen WM‐Finales<br />

nicht richtig<br />

mitbekommen, für wen<br />

er eigentlich war “<br />

Hans-Jürgen Papier, früher Präsident des Bundesverfassungsgerichts, über seinen Freund<br />

Vassilios Skouris, Präsident des Europäischen Gerichtshofs, Seite 54<br />

53<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

AN DER SEITE DER BÜRGER<br />

Google-Urteil, Datenspeicherung, Eurorettung: Der Europäische Gerichtshof macht von<br />

sich reden. An seiner Spitze steht Vassilios Skouris, der mächtigste Richter Europas<br />

Von HARTMUT PALMER<br />

Foto: Martin Langhorst/Photoselection<br />

Der Mann mit der hermelinbesetzten<br />

Schärpe über der Schulter<br />

redet und redet. Juristen-Französisch.<br />

Die Dolmetscher in ihren Kabinen<br />

rackern sich ab und übersetzen<br />

jedes Wort simultan, aber die Sätze bleiben<br />

unverständlich an diesem Dienstagmorgen<br />

im Großen Sitzungssaal des Europäischen<br />

Gerichtshofs in Luxemburg.<br />

Bis plötzlich der Vorsitzende Richter<br />

den Wortschwall stoppt. „Kommen Sie<br />

zur Sache, Herr Anwalt“, sagt Vassilios<br />

Skouris.<br />

„Pardon?“<br />

„Sie sollen bitte zur Sache kommen“,<br />

wiederholt der Präsident in makellosem<br />

Französisch – und lächelt höflich.<br />

Advokat Didier Matray, Chef und<br />

Mitbegründer einer der größten belgischen<br />

Wirtschaftskanzleien, hebt ratlos<br />

die Hände. Was hat er falsch gemacht?<br />

Es geht um Flüchtlinge, die in Belgien<br />

um ihre Anerkennung als Asylanten<br />

kämpfen. Sie sind krank, einer hat Aids.<br />

Sie haben sich mit der Unterstützung von<br />

Menschenrechtsorganisationen bis zum<br />

belgischen Verfassungsgericht hochgeklagt.<br />

Dieses Gericht will nun von den<br />

Kollegen in Luxemburg wissen, ob das<br />

Begehren der Flüchtlinge mit europäischem<br />

Recht vereinbar ist. Nein, sagen<br />

die europäischen Regierungen. Ja, sagen<br />

die Anwälte der Flüchtlinge.<br />

Ein Fall für die Große Kammer. Sie<br />

tagt immer nur hier, im Großen Sitzungssaal.<br />

Es gibt keine Fenster, man<br />

weiß nicht, wie die Welt draußen aussieht.<br />

Die Wände sind mit goldgelbem<br />

Stoff verhängt. Vorne am Richtertisch<br />

sitzen neben dem Vorsitzenden Skouris<br />

14 Richter – alle in roten Roben, außerdem<br />

ein Kanzleimitarbeiter und der Generalanwalt.<br />

Gegenüber in Schwarz die<br />

Anwälte der Betroffenen und die der Mitgliedstaaten,<br />

am Rednerpult Matray mit<br />

seiner Hermelinschärpe. Deutschland,<br />

Frankreich, Griechenland und die Europäische<br />

Kommission sind beteiligt. Auch<br />

Großbritannien, erkennbar an der Perücke,<br />

die der Anwalt Ihrer Majestät trägt.<br />

Didier Matray, der den Widerstand<br />

der Regierungen vortragen und begründen<br />

sollte, ist aus dem Konzept geraten.<br />

Er fängt sich hastig und redet – noch<br />

schneller als vorher.<br />

Wieder unterbricht ihn der Gerichtspräsident:<br />

„Bitte reden Sie langsam, damit<br />

der Präsident und das Gericht Ihnen<br />

folgen können.“ Ein paar Sekunden ist es<br />

jetzt ganz still im großen Saal. Niemand<br />

rührt sich. Bis der Präsident dem Anwalt<br />

mit einem leichten Kopfnicken zu verstehen<br />

gibt, dass er fortfahren soll.<br />

ES SIND SOLCHE Momente, in denen<br />

Vassilios Skouris demonstriert, dass er<br />

die Fäden in der Hand hat – auch wenn<br />

andere den Durchblick verlieren. Der<br />

66 Jahre alte Grieche hat Routine und<br />

Macht. Er ist der einflussreichste Jurist in<br />

Europa. Sein Gericht macht immer häufiger<br />

Schlagzeilen: Google-Urteil, Vorratsdatenspeicherung,<br />

Eurorettung, Familiennachzug.<br />

Wenn Andreas Voßkuhle,<br />

der Präsident des Bundesverfassungsgerichts,<br />

und sein Senat über ein deutsches<br />

Gesetz entscheiden, betrifft das<br />

maximal 80 Millionen Deutsche. Wenn<br />

Skouris und seine Richter urteilen, kann<br />

das Auswirkungen auf 28 Staaten und<br />

mehr als eine halbe Milliarde Europäer<br />

haben. Trotzdem ist er in Deutschland<br />

kaum bekannt.<br />

Donnerstagmorgen, Kabinett des<br />

Präsidenten. <strong>Das</strong> Büro liegt im siebten<br />

Stock des Präsidialbaus. Von hier<br />

hat man einen wunderbaren Blick über<br />

den Luxemburger Kirchberg. Als Skouris<br />

2003 zum ersten Mal von seinen Kollegen<br />

zum Gerichtspräsidenten gewählt<br />

wurde, war das hier noch eine Brache.<br />

Jetzt stehen neben dem Palais zwei goldfarbene<br />

Bürotürme, in denen die meisten<br />

der 2139 Mitarbeiter des Gerichts untergebracht<br />

sind. Ein dritter Büroturm ist<br />

geplant. Es gibt <strong>neue</strong> Straßen, Grünflächen,<br />

aber noch keine hohen Bäume. Ein<br />

paar Hotels haben sich angesiedelt. Die<br />

Gerichtsgebäude sind im Erdgeschoss<br />

miteinander durch eine 300 Meter lange<br />

überdachte Galerie verbunden. Es war<br />

Skouris, der dafür das Geld – insgesamt<br />

350 Millionen Euro – beim Großherzogtum<br />

lockermachte.<br />

Der Präsident weiß um seine Macht,<br />

aber er schätzt es nicht, wenn darüber<br />

diskutiert wird. Er will leise Einfluss nehmen,<br />

so ist sein Gerichtshof gewachsen,<br />

Schritt für Schritt.<br />

In Karlsruhe beobachtet man sein<br />

Wirken seit Jahren mit Argwohn. Wer<br />

hat das letzte Wort? <strong>Das</strong> Bundesverfassungsgericht<br />

hat sich im Urteil über<br />

den Lissabon-Vertrag die Letztkontrolle<br />

über „ausbrechende Rechtsakte“ der Europäischen<br />

Union vorbehalten – und damit<br />

auch über alle Entscheidungen des<br />

EuGH. Die Eiserne Lady Margaret Thatcher<br />

vermutete schon vor drei Jahrzehnten<br />

im „EuGH das wahre Machtzentrum<br />

der Gemeinschaft“. Roman Herzog, erst<br />

oberster Verfassungsrichter und später<br />

Bundespräsident, zog 2007 vom Leder:<br />

„Der EuGH entzieht mit immer erstaunlicheren<br />

Begründungen den Mitgliedstaaten<br />

ureigene Kompetenzen.“<br />

Vassilios Skouris kennt die Kritik.<br />

„Jeder ist frei zu glauben, was er möchte.<br />

Was soll ich dazu sagen?“ Er schaut zum<br />

Fenster hinaus.<br />

Es kränkt ihn, dass ausgerechnet<br />

Herzog, dessen Vorlesungen er als Student<br />

vor 40 Jahren in Berlin besucht hat,<br />

so über den EuGH lästert. „Es ist sehr bitter,<br />

wenn einem vorgeworfen wird, dass<br />

55<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

„ Er lässt<br />

keinen so<br />

dicht an<br />

sich heran,<br />

dass man<br />

hinter<br />

seine Stirn<br />

schauen<br />

könnte “<br />

Heiko Maas,<br />

Bundesjustizminister, über<br />

Vassilios Skouris<br />

man das Recht verletzt. Gerade wenn<br />

man einem Gericht angehört.“ Aber er<br />

will den Konflikt nicht anheizen. „Wenn<br />

zwei Gerichte frontal aufeinanderprallen,<br />

kann keines davon profitieren. Es<br />

gibt dann nur Besiegte.“<br />

Vier Mal haben ihn seine Richterkollegen<br />

für jeweils drei Jahre gewählt, so<br />

lange amtierte kein anderer Präsident.<br />

Beiläufig lässt er jetzt aber durchblicken,<br />

dass er nächstes Jahr nicht mehr antreten<br />

will. „Irgendwann mal gibt es eine<br />

Grenze, und es gibt auch einen Schluss.“<br />

Am 6. Oktober 2015 wird er aufhören.<br />

Deutsch spricht der 1948 in Thessaloniki<br />

geborene Jurist fließend, weil seine<br />

Eltern ihn in seiner Heimatstadt auf eine<br />

deutsche Schule schickten. Er ist in beiden<br />

Ländern heimisch geworden. Nach<br />

dem Abitur ging er 1965 mit 17 Jahren<br />

als Stipendiat nach Westberlin und studierte<br />

Jura. Es war die Zeit der Studentenunruhen<br />

und bald auch der Diktatur<br />

in Griechenland, die von 1967 bis 1974<br />

dauerte. Gelegentlich nahm er an Demonstrationen<br />

gegen die Junta teil, aber<br />

nie als Wortführer. Er hielt sich immer<br />

zurück. Statt mit Studenten zu demonstrieren,<br />

ging er lieber ins Olympiastadion,<br />

wenn Hertha BSC spielte.<br />

Er war Schüler von Karl August<br />

Bettermann, der Öffentliches Recht und<br />

Prozessrecht las und dessen Assistent er<br />

später in Hamburg wurde. Dort lernte<br />

er auch Hans-Jürgen Papier kennen. Sie<br />

wurden Freunde. Oft haben sie mit ihren<br />

Familien Urlaub in Skouris’ Ferienhaus<br />

auf der Halbinsel Chalkidiki gemacht. Einige<br />

Jahre waren sie gleichzeitig Präsidenten:<br />

Er in Luxemburg, Papier in Karlsruhe.<br />

Eine schöne Zeit. Es gab zwar noch<br />

den Grundsatzkonflikt zwischen den Gerichtshöfen<br />

– aber er ruhte.<br />

FRÜHER SAGTE man dem EuGH nach, er<br />

entscheide im Zweifel im Sinne der EU-<br />

Kommission und der europäischen Regierungen,<br />

nicht der Bürger. Seit Skouris<br />

Präsident ist, behauptet das niemand<br />

mehr.<br />

2008 stärken die Luxemburger<br />

Richter die Rechte homosexueller Lebenspartner,<br />

als sie entscheiden, dass der<br />

überlebende Partner Anspruch auf Witwerrente<br />

hat. 2011 schützen sie Asylbewerber<br />

vor der Abschiebung nach Griechenland.<br />

Und im April dieses Jahres<br />

fegt die Große Kammer unter Vorsitz<br />

von Skouris die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung<br />

vom Tisch. Im Mai<br />

dann das Google-Urteil: Wer alte Eintragungen<br />

aus der Suchmaschine entfernen<br />

lassen will, kann jetzt deren Löschung<br />

verlangen. Im Juli schließlich verboten<br />

die Richter deutschen Behörden, türkischen<br />

Ehepartnern automatisch den Zuzug<br />

nach Deutschland zu verwehren,<br />

wenn sie durch den Sprachtest fallen.<br />

<strong>Das</strong> Urteil zu den belgischen Flüchtlingen<br />

steht noch aus. Sollte das Gericht<br />

die Frage bejahen, ob auch eine schwere<br />

Krankheit wie Aids ein Asylgrund sein<br />

kann, könnten sich Hunderte Kranke aus<br />

Afrika auf den Weg nach Europa machen.<br />

Deshalb sind die Regierungen – darunter<br />

Deutschland – strikt dagegen.<br />

Spannend wird es auch, wenn der<br />

EuGH sich demnächst zu der Frage äußert,<br />

ob der Präsident der Europäischen<br />

Zentralbank, Mario Draghi, europäisches<br />

Vertragsrecht verletzt hat, als er ankündigte,<br />

er werde in theoretisch unbegrenzter<br />

Höhe Staatsanleihen aufkaufen, um<br />

Not leidende EU-Staaten vor Spekulanten<br />

zu schützen. Dieser sogenannte<br />

OMT-Beschluss ist heftig umstritten. <strong>Das</strong><br />

Bundesverfassungsgericht neigt der Auffassung<br />

der Draghi-Kritiker zu, hat aber<br />

genau diese Frage im Februar dem EuGH<br />

zur Prüfung vorgelegt.<br />

Natürlich lässt der Präsident mit keiner<br />

Andeutung erkennen, in welche Richtung<br />

er denkt. Zu seinem Erfolgskonzept<br />

gehört es, sich nie zu früh festzulegen<br />

und sich schon gar nicht politisch einordnen<br />

zu lassen. Gewiss: Die sozialistische<br />

Regierung unter Kostas Simitis hat ihn<br />

1999 nach Luxemburg geschickt, eine<br />

andere sozialistische Regierung wollte<br />

ihn 2011 zum Ministerpräsidenten küren.<br />

Aber wer von ihm wissen will, wo<br />

er politisch steht, erntet nur ein spöttisches<br />

Lächeln: „Sie erwarten doch nicht,<br />

dass ich darauf antworte.“<br />

Im Juni hat ihn Justizminister Heiko<br />

Maas in Luxemburg besucht. Man sprach<br />

über die Vorratsdatenspeicherung. Es sei<br />

klar geworden, sagt der Sozialdemokrat<br />

Maas, „dass, selbst wenn die Kommission<br />

eine <strong>neue</strong> Richtlinie vorlegen sollte,<br />

es eine anlasslose Sammlung von Daten,<br />

wie einige Sicherheitspolitiker sie<br />

sich noch immer wünschen, nicht geben<br />

wird“. Aber auch er kann Skouris nicht<br />

einsortieren: „Er lässt keinen so dicht an<br />

sich heran, dass man hinter seine Stirn<br />

schauen könnte.“<br />

Skouris’ Freund Papier sagt: „Ich<br />

habe meine Vermutungen, aber wir haben<br />

darüber nie gesprochen.“ 2006, als<br />

Papier noch Präsident in Karlsruhe war,<br />

wurde er zum Endspiel der Fußball-WM<br />

ins Berliner Olympiastadion eingeladen:<br />

Frankreich gegen Italien. Er brachte einen<br />

Gast mit – Skouris. Direkt vor den<br />

beiden Rechtsgelehrten saß Bill Clinton,<br />

weiter vorne Angela Merkel. „Ich habe<br />

während des ganzen Spieles nie so richtig<br />

mitbekommen, für wen er eigentlich ist.“<br />

Wo er steht, erzählen seine Urteile:<br />

Auf dem Boden des europäischen Rechts –<br />

im Zweifel an der Seite der Bürger.<br />

HARTMUT PALMER hat schon viele Richter<br />

porträtiert, angefangen vom Vorsitzenden<br />

des Parteispendenprozesses 1986. An Skouris<br />

gefiel ihm die straffe Verhandlungsführung<br />

56<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


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WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

DAS MASTERMIND<br />

Fernab von Gaza, aus dem sicheren Doha, dirigiert Chalid Maschal die Raketenangriffe<br />

auf Israel. Dadurch erweist sich der Hamas‐Chef als mächtigster Palästinenser<br />

Von SILKE MERTINS<br />

Foto: Kate Geraghty/The Sydney Morning Herald/Fairfax Media via Getty Images<br />

<strong>Das</strong> gerahmte Foto über den Polstersesseln<br />

in Chalid Maschals Arbeitszimmer<br />

zeigt eine Großaufnahme<br />

der Jerusalemer Altstadt. Über<br />

der Al-Aksa-Moschee und der goldenen<br />

Kuppel des Felsendoms hängen<br />

schwere, dunkle Wolken. Es sieht aus,<br />

als könnte jeden Augenblick ein Unwetter<br />

losbrechen.<br />

Maschal hat sein Leben wie auf diesem<br />

Bild ausgerichtet – immer am Rande<br />

eines Sturmtiefs. Der Politbüro-Chef der<br />

radikalislamischen Palästinenserorganisation<br />

Hamas geht seinen Geschäften<br />

meist bei klarem, blauem Himmel nach.<br />

Aber das, was er dabei einfädelt, erinnert<br />

an ein Weltuntergangsszenario: Raketenhagel<br />

auf Südisrael, Tunnelbau zum<br />

Angriff auf Soldaten, Entführungen, Terroranschläge<br />

– und im Ergebnis nicht enden<br />

wollende israelische Luftschläge und<br />

Zerstörung in Gaza.<br />

Die Aufnahme von seinem Arbeitszimmer<br />

stammt aus einer Serie privater<br />

Fotos, die Maschal der Fotografin des australischen<br />

Journalisten Paul McGeough<br />

erlaubt hat. Sie zeigen Maschals Tagesablauf<br />

in seinem Haus in einem Vorort von<br />

Doha, im märchenhaft reichen Golfemirat<br />

Katar. Hierher ist er geflohen, seit er<br />

wegen des syrischen Bürgerkriegs seinen<br />

Exilsitz in Damaskus verlor. Auf einem<br />

dieser Bilder scherzt der 58-Jährige mit<br />

einem politischen Weggefährten, auf einem<br />

anderen ist er mit seinen Enkelkindern<br />

zu sehen, dann wieder beim Training<br />

in einem privaten Fitnessstudio und<br />

an der Tischtennisplatte.<br />

Es sind diese Fotos aus dem Frühjahr<br />

2013, die nun während des Gazakriegs<br />

wieder auftauchen, auf Facebook und<br />

Twitter. Wie kann Maschal es sich beim<br />

Essen und beim Fitness gut gehen lassen,<br />

während im Gazastreifen Hunderte<br />

Menschen sterben? Gleichzeitig werden<br />

schwere Korruptionsvorwürfe gegen ihn<br />

erhoben. In der Hamas brodele es, heißt<br />

es. Ihm sei die Kontrolle über die Organisation<br />

entglitten.<br />

Mit der Wirklichkeit hat das wenig<br />

zu tun. Alle Berichte haben eines gemeinsam:<br />

Die Quellen sind dubios. <strong>Das</strong>s<br />

Hamas-Chef Maschal abgeschlagen im<br />

Luxusexil sitzt, bleibt Wunschdenken.<br />

Die Hamas hat eine disziplinierte<br />

Entscheidungs- und Kommandostruktur,<br />

sagt der Hamas-Experte Matthew<br />

Levitt vom Thinktank Washington Institute.<br />

Differenzen entstünden höchstens<br />

in der Hitze des Gefechts. „Der militärische<br />

Flügel erkennt die zentrale Rolle<br />

der politischen Führer bei operativen<br />

Entscheidungen an.“<br />

DAHER SEI ES ABSURD zu glauben, der<br />

exilierte Chef sei ins Hintertreffen geraten.<br />

„Chalid Maschal hat in dieser historischen<br />

Schlacht an Einfluss gewonnen,<br />

ebenso wie die Hamas“, sagt Hani<br />

al Masri, Direktor des Palestinian Center<br />

for Media and Research. Die Mehrheit<br />

der Palästinenser sieht nicht, dass die<br />

Hamas Zivilisten als Schutzschild missbraucht<br />

und immer <strong>neue</strong> Luftangriffe<br />

provoziert. Sie sieht das Entsetzen der<br />

Israelis über den unterbrochenen Flugverkehr<br />

und das ausgebaute Tunnelsystem.<br />

Und dass es Maschal ist, der das<br />

Geld dafür besorgt.<br />

<strong>Das</strong> britische Magazin New Statesman<br />

listete ihn schon 2010 auf Platz 18<br />

der 50 einflussreichsten Menschen der<br />

Welt. Inzwischen ist er der mächtigste palästinensische<br />

Politiker seit Jassir Arafat.<br />

Chalid Maschal entscheidet im Nahen<br />

Osten über Krieg und Frieden.<br />

In der Bevölkerung ist Maschal ohnehin<br />

eine Legende. Seit der israelische<br />

Geheimdienst Mossad 1997 versucht hat,<br />

ihn umzubringen, gilt er als „lebender<br />

Märtyrer“. Den Agenten gelang es zwar,<br />

Maschal ein Gift ins Ohr zu injizieren,<br />

dabei wurden sie jedoch erwischt, und<br />

der jordanische König zwang die Israelis,<br />

ein Gegengift einzufliegen.<br />

Heute ist Maschal alles in einer Person:<br />

Waffenschmuggler, Fundraiser, Diplomat,<br />

Oberbefehlshaber und PR-Experte.<br />

Er hat es perfektioniert, radikale<br />

Inhalte in harmlos klingende Sätze zu<br />

kleiden. „Bevor Israel stirbt, muss es gedemütigt<br />

und degradiert werden“, sagte<br />

er vor sechs Jahren in Damaskus. Heute<br />

klingt das so: „Wir bekämpfen nicht die<br />

Juden an sich. Wir bekämpfen die Besatzer.“<br />

Aber in beiden Fällen soll Israel von<br />

der Landkarte ausradiert werden.<br />

In Katar hat Maschal einen Verbündeten<br />

und Geldgeber für seine Ziele gefunden.<br />

„Er lebt komfortabel und hat<br />

Zugang zu Entscheidungsträgern“, sagt<br />

Theodore Karasik, Forschungsdirektor<br />

des Institute for Near East and Gulf Military<br />

Analysis in Dubai. „Katar garantiert<br />

seine Sicherheit.“<br />

Ob das reicht? Vor vier Jahren tötete<br />

der Mossad Mahmoud al Mabhouh, Mitbegründer<br />

der Qassam-Brigaden, in seinem<br />

Hotelzimmer in Dubai. Gerade erst<br />

hat Israels Außenminister Avigdor Lieberman<br />

dazu aufgerufen, Maschal endlich<br />

zur eliminieren: „Es ist der einzige<br />

Weg, der Hamas Schaden zuzufügen.“<br />

Frei bewegen kann sich der mächtigste<br />

Palästinenser deshalb auch in Katar<br />

nicht. Ein alter Freund, erzählt der<br />

australische Journalist McGeough, vergleicht<br />

Maschal deshalb mit seinem im<br />

Käfig sitzenden Kanarienvogel. Er hat<br />

ihn Chalid genannt.<br />

SILKE MERTINS ist seit 25 Jahren im Nahen<br />

Osten unterwegs. In den Wohnzimmern der<br />

Hamas-Vertreter faszinieren sie besonders die<br />

umhäkelten Papiertaschentuch-Boxen<br />

59<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


WELTBÜHNE<br />

Analyse<br />

ZÜNDELNDE<br />

SCHEICHS<br />

Katar will um jeden<br />

Preis ein Global<br />

Player sein. Um sich<br />

außenpolitisch zu<br />

profilieren, finanziert<br />

das Emirat isla mis tische<br />

Gruppen und legt sich<br />

mit seinem Nachbarn<br />

Saudi-Arabien an.<br />

Mit fatalen Folgen<br />

Von LINA KHATIB<br />

Illustrationen SIMON PRADES<br />

Der Emir ist kleinlaut geworden.<br />

Noch im Frühjahr hatte Katars<br />

Machthaber mit allen Mitteln<br />

versucht, eine bedeutendere politische<br />

Rolle in der Golfregion zu spielen. Nun<br />

steht sein Land unter Druck, insbesondere<br />

durch den regionalen Hauptrivalen<br />

Saudi-Arabien. Katar hat sich verkalkuliert<br />

– sowohl in Syrien als auch bei seiner<br />

Unterstützung für die Muslimbruderschaft<br />

in Ägypten.<br />

Alle Versuche, Baschar al Assads<br />

Regime in Syrien zu stürzen, sind bislang<br />

gescheitert. Die von Katar geförderten<br />

dschihadistischen Gruppen,<br />

insbesondere der Al-Qaida-Ableger Al-<br />

Nusra-Front, gelten in den USA und in<br />

anderen Golfstaaten inzwischen als Gefahr<br />

für die Stabilität des gesamten Nahen<br />

Ostens. In Ägypten unterdrückt<br />

die Regierung des Militärs Abdel Fatah<br />

al Sisi Katars Hauptverbündete – Hunderte<br />

Muslimbrüder wurden verhaftet<br />

und zum Tode verurteilt.<br />

EIGENTLICH KÖNNTE Katar sich einfach<br />

auf dem Reichtum ausruhen, den sich das<br />

Königreich durch seine Gas- und Erdölvorkommen<br />

erworben hat. <strong>Das</strong> Emirat,<br />

das kleiner als Thüringen ist und etwa<br />

halb so viele Einwohner hat, will sich<br />

aber nicht mit seinen internationalen<br />

Investitionen wie beim Automobilkonzern<br />

VW, dem Bauunternehmen Hochtief<br />

oder der Deutschen Bank begnügen.<br />

Es will vor allem aus dem Schatten des<br />

übermächtigen Nachbarn Saudi-Arabien<br />

heraustreten. Dafür sind dem Emirat alle<br />

Mittel recht – sei es die Fußball-WM ins<br />

eigene Land zu holen oder Islamisten zu<br />

finanzieren.<br />

Katars Streben nach größerer politischer<br />

Macht hat zu einer direkten<br />

Konfrontation mit dem saudischen Königreich<br />

geführt. Vorerst zog Katar dabei<br />

den Kürzeren und wurde von den<br />

Nachbarn wieder auf saudischen Kurs<br />

gebracht.<br />

2011 sah das noch anders aus. Die<br />

arabischen Aufstände waren für Katar<br />

eine willkommene Gelegenheit, sich als<br />

regionaler Player zu profilieren. Dabei<br />

setzten der Emir und seine Leute auf die<br />

Muslimbruderschaft: Sie war in Ägypten,<br />

Tunesien und Libyen die am besten organisierte<br />

politische Bewegung, und sie<br />

schien auch die Kraft mit den besten Erfolgsaussichten<br />

zu sein. So unterstützte<br />

das Emirat die Muslimbrüder mit kräftigen<br />

Finanzspritzen, später sollten sie<br />

einmal Katars Machtinteressen sichern.<br />

<strong>Das</strong> erwies sich als Fehlinvestition.<br />

In Libyen konnten die Muslimbrüder bei<br />

den Wahlen keine Mehrheit gewinnen, in<br />

Ägypten gewannen sie zwar, verspielten<br />

aber mit ihrem Versuch, ein Machtmonopol<br />

aufzubauen, schnell wieder alle<br />

Sympathien.<br />

Katar hielt weiter an ihnen fest. Mit<br />

fatalen Folgen. Saudi-Arabien, ein Erzrivale<br />

der Bruderschaft, förderte und<br />

finanzierte Sisis Militärputsch gegen<br />

Ägyptens Präsidenten Mohammed Mursi.<br />

Unter der Ägide Saudi-Arabiens beriefen<br />

drei Golfstaaten ihre Botschafter aus<br />

der katarischen Hauptstadt Doha zurück.<br />

60<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Damit nicht genug: Saudi-Arabien stufte<br />

die Muslimbruderschaft als terroristische<br />

Vereinigung ein und forderte eine solche<br />

Einstufung auch von Europa. Man<br />

müsse, hieß es aus Riad, die Öffentlichkeit<br />

darauf aufmerksam machen, welch<br />

Unsicherheitsfaktor Katar in der Golfregion<br />

sei.<br />

Doha hat auf Riads Druck reagiert<br />

und die Unterstützung für die Muslimbruderschaft<br />

eingeschränkt. In Ägypten<br />

hat die Bruderschaft absehbar keine Aussicht<br />

auf eine Rückkehr an die Macht, womit<br />

auch Katar dort kaum Einfluss gewinnen<br />

kann. Kairo steht mittlerweile fest<br />

unter der Kuratel der Saudis.<br />

Wie stark, ließ sich während der<br />

Waffenstillstandsverhandlungen zwischen<br />

Israel und der Hamas in Kairo beobachten.<br />

Katar hatte sich gerne zum wesentlichen<br />

Vermittler stilisiert. Es pflegte<br />

enge Beziehungen zur Hamas, es hatte<br />

Hamas-Chef Chalid Maschal (Porträt auf<br />

Seite 58) Asyl gewährt, nachdem die Organisation<br />

sich gegen Baschar al Assad<br />

gestellt hatte, und es hatte die palästinensischen<br />

Islamisten finanziell kräftig<br />

unterstützt. Alles umsonst – während der<br />

Waffenstillstandsverhandlungen in Kairo<br />

hatte Katar nur eine Nebenrolle.<br />

AUCH IM FALLE SYRIENS hat sich das<br />

Emirat gründlich verrechnet. Sowohl<br />

Saudi-Arabien als auch Katar wollten<br />

zwar den Sturz Assads. Allerdings unterstützten<br />

sie jeweils unterschiedliche<br />

oppositionelle Gruppen und vertieften<br />

damit nur deren politische Spaltung.<br />

Erst dadurch wurde der Erfolg anfangs<br />

noch marginaler dschihadistischer<br />

Gruppen möglich. Dschihadistische Milizen,<br />

die jeweils von saudischem oder<br />

katarischem Geld finanziert wurden,<br />

bekämpften bald nicht mehr den syrischen<br />

Präsidenten, sondern bekriegten<br />

sich gegenseitig.<br />

So finanzierte der saudische Prinz<br />

Bandar bin Sultan dschihadistische Gruppen<br />

wie die Armee des Islam, während<br />

Katar die Al-Nusra-Front unterstützte.<br />

Alle setzten auf die Dschihadisten. <strong>Das</strong><br />

sollte sich rächen – Dschihadisten mit<br />

katarischem und saudischem Geld gingen<br />

nicht gemeinsam gegen das Assad-<br />

Regime vor, sondern verwickelten sich<br />

61<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


WELTBÜHNE<br />

Analyse<br />

in Kämpfe an zwei anderen Fronten: gegen<br />

die Terrorgruppe Islamischer Staat.<br />

Und gegeneinander.<br />

Was das Ganze noch komplizierter<br />

macht, sind die nichtstaatlichen Akteure,<br />

darunter machthungrige Prinzen, die jeweils<br />

eigene militante Gruppen in Syrien<br />

finanzieren, selbst solche, die wie der Islamische<br />

Staat quer zur Außenpolitik<br />

sowohl Katars wie Saudi-Arabiens agieren.<br />

Sie benutzen die Dschihadisten, um<br />

ihre Regierungen unter Druck zu setzen.<br />

Diese Kriegssponsoren mit ihren unterschiedlichen<br />

Zielen sind verantwortlich<br />

für etliche Kämpfe zwischen den jeweiligen<br />

Protegés in Syrien. Was wiederum<br />

dazu führt, dass auch den von Staaten,<br />

also von Katar und Saudi-Arabien, unterstützten<br />

Dschihad-Rebellen noch immer<br />

jede kohärente Militärstrategie für<br />

den Kampf sowohl gegen Assad wie gegen<br />

den Islamischen Staat fehlt.<br />

Doha hat sich in eine<br />

Lage manövriert, in<br />

der es ohne Riad nichts<br />

mehr machen kann<br />

KATARS AMBITIONEN in Syrien erlitten<br />

drei wesentliche Rückschläge: Die Al-<br />

Nusra-Front konnte keine Erfolge erzielen;<br />

die USA setzten das Emirat unter<br />

Druck, jegliche Unterstützung für die<br />

Dschihadisten einzustellen und stattdessen<br />

in enger Absprache mit Saudi-Arabien<br />

die gemäßigte Opposition in Syrien<br />

zu unterstützen; die aber ist in Gestalt<br />

der Nationalen Koalition der syrischen<br />

Oppositionskräfte und der Freien Syrischen<br />

Armee schwach und zersplittert.<br />

<strong>Das</strong> wiederum hat verschiedene<br />

Gründe: Etlichen Angehörigen der Nationalen<br />

Koalition fehlt die politische Erfahrung.<br />

Die Freie Syrische Armee hat keine<br />

realistische Militärstrategie gegen eine<br />

immer noch starke syrische Armee. Und<br />

die internationale Gemeinschaft unterstützt<br />

Syriens Opposition nur zögerlich.<br />

Doch der wesentliche Grund für<br />

die Schwäche der Opposition ist auch in<br />

der Rivalität zwischen Katar und Saudi-<br />

Arabien zu suchen. Saudi-Arabien wollte<br />

schon bald nach der Gründung der Nationalen<br />

Koalition 2012 in Doha mehr Kontrolle<br />

über die Organisation – und bekam<br />

sie im Juli 2013 auch, als der enge saudische<br />

Verbündete Ahmed al Dscharba<br />

zum Präsidenten der Nationalen Koalition<br />

der syrischen Revolutions- und<br />

Oppositionskräfte gewählt wurde; ihm


Foto: Privat; Übersetzung: Pieke Biermann<br />

folgte im Juli 2014 mit Hadi al Bahra<br />

ebenfalls ein Mann der Saudis.<br />

Hundertprozentig war der saudische<br />

Einfluss innerhalb der Nationalkoalition<br />

allerdings von Anfang an nicht.<br />

Die einzelnen Fraktionen werden von unterschiedlichen<br />

ausländischen Gönnern<br />

unterstützt; die einen sind Freunde der<br />

Saudis, andere Freunde Katars. Diese Polarisierung<br />

innerhalb der Koalition hat<br />

das Vertrauen untereinander geschwächt<br />

und zu internen Reibereien auf der obersten<br />

Führungsebene geführt.<br />

AUCH KATARS VERSUCHE, sich durch die<br />

Zusammensetzung der Koalition Einfluss<br />

zu verschaffen, sind fehlgeschlagen. Katar<br />

wollte vor allem die syrische Muslimbruderschaft<br />

zum Herzstück des Oppositionsbündnisses<br />

Syrischer Nationalrat<br />

machen, der seinerseits die wichtigste<br />

Institution innerhalb der Koalition sein<br />

sollte. In Syrien ist die Bruderschaft aber<br />

weder beim Volk beliebt, noch verfügt<br />

sie über ein ähnliches Potenzial wie das<br />

der ägyptischen Muslimbrüder vor dem<br />

Sturz Mohammed Mursis; sie geriet bald<br />

zur bloßen Randgröße, was die ganze Nationalkoalition<br />

eher in Richtung Saudi-<br />

Arabien als Katar trieb.<br />

Unter ähnlichen internen Reibereien<br />

und einem Mangel an Strategie leidet<br />

auch die zum Teil von Katar finanzierte<br />

und von einem Teil der sunnitischen<br />

Mehrheit Syriens getragene Freie Syrische<br />

Armee. Außerdem hat sie seit Beginn<br />

des Bürgerkriegs schwere Verluste<br />

sowohl durch das syrische Regime als<br />

auch durch den Islamischen Staat hinnehmen<br />

müssen.<br />

Diese drei Faktoren – die militärischen<br />

Niederlagen der Freien Syrischen<br />

Armee und der Al-Nusra-Front, die politischen<br />

Niederlagen der syrischen Muslimbrüder<br />

und der Druck der USA, den<br />

Geldfluss an Dschihadisten zu stoppen –<br />

haben Katar veranlasst, seine Syrienpolitik<br />

zu ändern.<br />

Heute arbeitet das Emirat gemeinsam<br />

mit den Saudis daran, die syrische<br />

Opposition zu einen und militärisch zu<br />

stärken sowie die Unterstützung für<br />

Dschihadisten zu unterbinden. Weder<br />

Saudi-Arabien noch Katar allein bekommen<br />

jedoch die Dschihadisten in<br />

den Griff, weil zu viele private Akteure<br />

ihre eigenen Machtinteressen verfolgen.<br />

Beide Golfstaaten haben daher Angst vor<br />

Unruhen im eigenen Land, falls sie kurzen<br />

Prozess mit den Mäzenen der dschihadistischen<br />

Gruppen machen. Besonders<br />

Katar unter seinem <strong>neue</strong>n jungen<br />

Emir Tamim al Thani scheut Maßnahmen,<br />

die die Stabilität im Land beeinträchtigen<br />

und die Position des Herrschers gefährden<br />

könnten.<br />

Im Fall Ägyptens hat Saudi-Arabien<br />

klar über Katar obsiegt. <strong>Das</strong> Emirat hat<br />

pragmatisch reagiert und das Sisi-Regime<br />

öffentlich anerkannt, nachdem es Katars<br />

Protegé Mursi mit einem Militärputsch<br />

aus dem Amt jagte. Im Fall Syriens ist<br />

die Lage komplizierter. Sowohl Katar als<br />

auch Saudi-Arabien sind inzwischen zu<br />

Geiseln der schwächelnden oppositionellen<br />

Gruppen geworden, die sie selbst geschaffen<br />

oder gefördert haben.<br />

Jetzt, da der Islamische Staat im Irak<br />

und in Syrien militärisch erfolgreich ist<br />

und das Assad-Regime immer noch ein<br />

enormes Durchhaltevermögen zeigt, haben<br />

sowohl Katar als auch Saudi-Arabien<br />

Macht und Einfluss in Syrien eingebüßt.<br />

Die größeren Verluste hat allerdings<br />

das Emirat erlitten: Es wollte mit seiner<br />

ambitionierten Außenpolitik eine größere<br />

Unabhängigkeit von Saudi-Arabien.<br />

Stattdessen hat es sich in eine Lage manövriert,<br />

in der es ohne Riad nichts mehr<br />

unternehmen kann. <strong>Das</strong>s Katar wieder<br />

auf Linie gebracht worden ist, zeigt, dass<br />

Saudi-Arabien vorerst der stärkste politische<br />

Player in der Golfregion bleibt.<br />

Falls Saudi-Arabien und Katar aus<br />

ihren Fehlern etwas lernen können, dann<br />

dies: Wollen sie ihre politische Bedeutung<br />

bewahren, müssen sie politische Rivalitäten<br />

überwinden und strategische<br />

Kooperationen eingehen. Wie sich die<br />

beiden Staaten in nächster Zeit in Ägypten,<br />

Syrien und im Gazakonflikt engagieren,<br />

wird entscheidend sein für die künftige<br />

Außenpolitik beider Staaten.<br />

LINA KHATIB ist Direktorin des<br />

Carnegie Middle East Center in<br />

Beirut und Mitbegründerin des<br />

Middle East Journal of Culture<br />

and Communication<br />

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63<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


64<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

STILLE<br />

WASSER<br />

<strong>Das</strong> Leben im argentinischen<br />

Paraná‐Delta bestimmen die Gezeiten.<br />

Der Fotograf Alejandro Chaskielberg<br />

hat die Symbiose von Mensch und Landschaft<br />

in Mondlicht getaucht<br />

Ein Steg führt Sergio auf ein Baggerschiff, das am<br />

Ufer liegt. Früher arbeitete er als See mann an Bord.<br />

Doch der Kapitän starb, und das Schiff wurde<br />

zurückgelassen. Heute ist es sein Zuhause<br />

65<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Dieser Jäger wird von allen El Tucumano genannt.<br />

Er lebt in einem Bambushain, ohne Elektrizität,<br />

ohne Kontakt zu anderen Menschen. Gerade hat er<br />

ein Wasserschwein erlegt


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

Luna Paiva steht vor der Zárate-Brazo-Largo-Brücke, die<br />

über den Paraná führt. Sie ist die Tochter des argentinisch-paraguayischen<br />

Fotografen Roland Paiva. Jahrelang<br />

fotografierte er das Delta und seine Umgebung<br />

68<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Straßen sucht man im Paraná-Delta vergeblich.<br />

Dieser Bauarbeiter wartet am Fluss auf eine<br />

lancha colectiva, den öffentlichen Wasserbus, der<br />

ihn nach Hause bringen soll<br />

69<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Eine Frau liegt am Rande eines Bachbetts, das sich<br />

durch eine der vielen Inseln windet. <strong>Das</strong> Wasser<br />

steht tief. Bei der nächsten Flut wird es den<br />

anschwellenden Fluss ableiten


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

Paraná de las Palmas: Hier sieht man jeden<br />

Dienstag das Einkaufsboot Raquel N den Fluss<br />

hinauffahren. Es bringt frische Lebensmittel<br />

und Getränke zu den Isleños<br />

Etwa 40 Kilometer nordwestlich der argentinischen<br />

Hauptstadt Buenos Aires, vor den Toren<br />

von Tigre, öffnet sich die Welt der weißen Reiher,<br />

der Sumpfhirsche und der Capybaras, der Schwertlilien<br />

und der Moskitos. Der braune Strom des Paraná<br />

mündet hier nach langer Reise in den Río de la Plata<br />

und bildet kurz vor dem Atlantik auf über 14 000 Quadratkilometern<br />

eines der größten Süßwasserdeltas der<br />

Welt: das Paraná-Delta.<br />

Ein subtropisches Labyrinth aus unzähligen verschlungenen<br />

Wasserwegen und Insellandschaften erschließt<br />

sich hier – bewohnt von den Isleños, wie die<br />

fernen Städter die Einheimischen nennen.<br />

<strong>Das</strong> karge Gemüt der Inselbewohner und die eigenwillige<br />

Schönheit der Gegend sind es, die Alejandro<br />

Chaskielberg faszinieren. Zwei Jahre verbrachte der<br />

argentinische Fotograf im Delta, lenkte sein Motorboot<br />

die Flussarme hinauf und beobachtete den Paraná und<br />

die Menschen, die mit ihm in selten einträchtiger Symbiose<br />

leben. Der Rhythmus von Leben und Arbeit, allein<br />

bestimmt von den Gezeiten.<br />

Entstanden ist so die Porträtreihe „The High Tide“.<br />

Sie erzählt von der Gemeinschaft im Delta, von der<br />

Mühsal und dem ökonomischen Überleben am Rande.<br />

Fotografiert wurde ausschließlich nachts, bei Vollmond.<br />

„Ich wollte traumhafte Szenarien schaffen“, sagt Chaskielberg,<br />

„aber mit echten Menschen in echten Situationen.“<br />

Herausgekommen sind surreale Bilder, die<br />

die Lücke zwischen Dokument und Fiktion schließen.<br />

Die Inselbewohner selbst interessieren sich nur<br />

wenig für ihre Porträts. Für sie sind es Momentaufnahmen<br />

in völliger Regungslosigkeit, bis der Mond<br />

wieder abnimmt. Zurück bleiben die Menschen. Und<br />

der Fluss. <br />

Sarah-Maria Deckert<br />

72<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


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WELTBÜHNE<br />

Kommentar<br />

DIE MISSION<br />

NACH DEM KRIEG<br />

Anders Fogh Rasmussen hatte sich das anders vorgestellt.<br />

Als erster ehemaliger Premierminister im Amt des Nato-<br />

Generalsekretärs wollte er eine größere Durchschlagskraft<br />

haben als alle seine Vorgänger. Viel politischer agieren würde er,<br />

strategischer handeln und vor allem mit seiner Erfahrung als dänischer<br />

Premierminister die Nato-Staaten zusammenraufen und<br />

die Allianz fit machen für die Zukunft. Vor schwierigen Aufgaben<br />

würde er nicht zurückschrecken und wichtige Projekte vorantreiben.<br />

Der Bürokratie die Sporen geben. Am Ende würden<br />

die Fußstapfen, die er hinterlässt, groß sein.<br />

Tatsächlich muss sich der <strong>neue</strong> Generalsekretär Jens Stoltenberg,<br />

der am 1. Oktober das Amt von Rasmussen übernimmt,<br />

vor dessen Fußstapfen nicht fürchten. Dabei hatte sich Rasmussen<br />

redlich bemüht. Er hatte viele gute Ideen und noch bessere<br />

Namen dafür. Zweifellos ist er ein Meister im Branding, dem<br />

Erschaffen von Markennamen. Smart Defense, für eine verbesserte<br />

Abstimmung bei technischen Kooperationsprojekten,<br />

und Connected<br />

Forces Initiative, für eine Vernetzung<br />

der Streitkräfte bei Ausbildung und<br />

Übungen, sind nur die prominentesten<br />

Beispiele. Dennoch ist die To-do-<br />

Liste, die er seinem Nachfolger hinterlässt,<br />

herausfordernd.<br />

ABZUG AUS AFGHANISTAN<br />

Jahrelang stand dieses Thema unangefochten<br />

an erster Stelle jeder Nato-<br />

Runde. Der Abschluss der Isaf-Mission<br />

und der Übergang zur Ausbildungsmission<br />

Resolute Support stellen ein<br />

politisches und militärisches Minenfeld<br />

dar. Im wahrsten Sinne des Wortes.<br />

Anschläge auf Nato-Soldaten könnten<br />

sich wiederholen und die Allianz<br />

dazu bringen, die Pläne zu überdenken.<br />

Derart schwierige Herausforderungen<br />

können nur im engen Schulterschluss<br />

der Verbündeten gelingen.<br />

Von HEIDI REISINGER<br />

Der künftige Nato-<br />

Generalsekretär<br />

Jens Stoltenberg<br />

muss das Bündnis<br />

auf eine <strong>neue</strong> Lage<br />

einstellen: das Ende<br />

des Einsatzes in<br />

Afgha n is tan, die<br />

Aggressivität Putins,<br />

die gekürzten<br />

Wehretats. Was<br />

Stolten berg tun sollte.<br />

Und was er<br />

falsch machen kann<br />

NEUAUSRICHTUNG DER ALLIANZ IM ZUGE DER UKRAINEKRISE<br />

Die Krise wurde zwar nicht von der Nato ausgelöst, aber<br />

sehr schnell zu einem defining moment der Allianz. Betroffen<br />

von der Krise sind alle drei Kernaufgaben der Nato – die<br />

Bündnisverteidigung, das Krisenmanagement und die Zusammenarbeit<br />

mit Nicht-Nato-Staaten, den sogenannten Partnern.<br />

Alle Bereiche müssen neu ausbalanciert werden.<br />

Die Ukrainekrise, die nicht wie andere Krisen zuvor weit<br />

weg vom Bündnisgebiet stattfindet, sondern mitten in Europa,<br />

rüttelt am Sicherheitsgefühl vieler osteuropäischer Verbündeter.<br />

Die USA zeigten für deren Bedürfnisse erneut mehr<br />

Verständnis als die europäischen Nachbarn. Eine stärkere militärische<br />

Präsenz in den Nato-Staaten nahe am Krisenherd<br />

muss ernsthaft diskutiert werden (dürfen), geht es bei einem<br />

militärischen Bündnis schließlich genau darum.<br />

Vordergründig hielt die Allianz erstaunlich gut zusammen.<br />

So gut, dass auch die Probleme in den transatlantischen<br />

Beziehungen zeitweise überdeckt wurden. Doch diese Einigkeit<br />

muss nun in eine politische Strategie übersetzt werden,<br />

die auch nach der aktuellen Krise Gültigkeit besitzt. <strong>Das</strong>, obwohl<br />

oder gerade weil die Positionen der Verbündeten teilweise<br />

weit auseinander liegen.<br />

74<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


DIE ALLIANZ UND RUSSLAND<br />

Die Kombination von überraschendem<br />

Handeln und militärischen Fähigkeiten,<br />

die man den Russen nicht<br />

zugetraut hatte, traf die Allianz unvorbereitet.<br />

Obwohl man wusste, dass in<br />

Moskau die Unzufriedenheit wuchs und<br />

alle offiziellen russischen Strategiepapiere<br />

von der Nato als einer Hauptgefahrenquelle<br />

sprachen, hatte man jahrelang<br />

die Beziehungen zu Russland dahinplätschern<br />

lassen. Die Zusammenarbeit galt<br />

seit Jahren als politische Fassade ohne<br />

wirkliche Substanz.<br />

Es wird niemandem etwas ausmachen,<br />

dass die geringe Zusammenarbeit<br />

mit den russischen Streitkräften<br />

wegfällt. Doch die Frage, wie man mit<br />

Russland in Zukunft politisch umgehen<br />

soll, ist heikel. Für eine Reihe von Nato-<br />

Staaten hat der Kreml in der Ukrainekrise<br />

sein wahres Gesicht gezeigt; für sie kommt eine partnerschaftliche<br />

Zusammenarbeit nicht mehr infrage. Andere sehen das lockerer, wollen<br />

weiterhin Geschäfte machen und haben kein Interesse an einer Funkstille.<br />

Einige Staaten fühlen sich durch die Krise nicht direkt betroffen<br />

und verhalten sich daher eher indifferent.<br />

Die Wirksamkeit des derzeitigen Kurses, alle Kontakte abzubrechen<br />

und nur den Nato-Russland-Rat auf Botschafterebene aufrechtzuerhalten,<br />

ist mehr als zweifelhaft. Erzieherische Maßnahmen gegenüber Moskau<br />

sind sinnlos. Alle Energie sollte darauf gerichtet werden, eine gemeinsame<br />

Linie innerhalb des Bündnisses zu finden.<br />

In Wahrheit<br />

geht es nicht<br />

um zusätzliche<br />

Fähigkeiten,<br />

sondern darum,<br />

militärische<br />

Grundkompetenzen<br />

zu erhalten<br />

HEIDI REISINGER ist Expertin für<br />

Sicherheitspolitik am Nato Defense<br />

College in Rom. Sie gibt ihre persönliche<br />

Meinung wieder<br />

MILITÄRISCHE FÄHIGKEITEN ENTWICKELN<br />

In Wahrheit geht es nicht um zusätzliche Fähigkeiten, sondern darum, militärische<br />

Grundkompetenzen zu erhalten. In Zeiten fortdauernder Geldknappheit,<br />

die auch die großen und militärisch starken Mitgliedstaaten erfasst hat, darf<br />

sich niemand der Illusion hingeben, dass Staaten in naher Zukunft mehr für Verteidigung<br />

ausgeben würden. Oder dass sie die Mittel, die sie aufgrund der auslaufenden<br />

Afghanistanmission einsparen, in ihre Streitkräfte investieren. <strong>Das</strong><br />

Smart-Defense-Programm sollte sicherstellen, dass durch koordinierte gemeinsame<br />

Planung und eine verbesserte Zusammenarbeit „mehr mit weniger“ erreicht<br />

werden könnte. Realistisch ist eher, dass in Zukunft „weniger mit weniger“<br />

geschafft werden muss.<br />

Wenn sich dieser Trend nicht stoppen lässt, so muss doch sichergestellt werden,<br />

dass kontrolliert gekürzt wird und keine kleinen Bonsai-Streitkräfte übrig<br />

bleiben. Wichtige militärische Fähigkeiten dürfen nicht verloren gehen – insbesondere<br />

solche, die die Allianz durch ihre langjährige Mission in Afghanistan erworben<br />

oder ausgebaut hat. Gerade im Zuge des Übergangs von einer Nato im<br />

Einsatz zu einer einsatzbereiten Nato muss das Bündnis mit Bedacht vorgehen.<br />

Es wird systematisch angelegte und finanziell unterfütterte Übungsprogramme<br />

benötigen, um zu vermeiden, dass Fähigkeiten verloren gehen.<br />

PARTNERSCHAFTEN DER NATO<br />

Die zum Teil überalterten Partnerschaftsprogramme,<br />

auf deren Grundlage die Nato mit<br />

Nicht-Nato-Staaten kooperiert, wurden auf<br />

Drängen Rasmussens überarbeitet, was ihm<br />

hoch anzurechnen ist. Problematisch ist nur,<br />

dass man es allen recht machen wollte. Als Resultat<br />

dieser inkonsequenten Reform sind viele<br />

politische Marker verloren gegangen. Keiner<br />

weiß mehr genau, was es eigentlich bedeutet,<br />

„ein Partner der Nato“ zu sein. Kann das jeder<br />

werden, und was hat man davon? Und was will<br />

die Allianz damit erreichen? Auch hier hat die Ukrainekrise die letzten Klarheiten<br />

beseitigt: Obwohl klar war, dass die Ukraine als Nicht-Nato-Staat keinen<br />

Anspruch auf Artikel 5, die Bündnisverteidigung hat, hatte sich Kiew mehr vom<br />

„Partner Nato“ versprochen.<br />

<strong>Das</strong> Thema Partnerschaften bedarf daher auf beiden Seiten der Klärung. Partnerstaaten<br />

in Osteuropa, in der islamischen Welt, Afrika und Asien brauchen in<br />

Zukunft vor allem politische Ansagen, was mit der Nato-Partnerschaft genau gemeint<br />

ist und bezweckt wird.<br />

Auch die Nato muss für sich einiges klären: Soll sie mit Schurkenstaaten kooperieren,<br />

wenn dies operationell geboten ist? Sind alle Partner gleich wichtig? Und<br />

wie soll die Nato mit den (bald ehemaligen) Isaf-Partnern in Verbindung bleiben,<br />

wenn die Mission erst einmal Geschichte ist und damit die Sitzungen, Treffen und<br />

die konkrete militärische Zusammenarbeit wegfallen? Über keine dieser Fragen<br />

sind sich die Verbündeten einig.<br />

Die Antwort auf diese Fragen und viele weitere Punkte auf der langen To-do-<br />

Liste, wie etwa die Ausrichtung der Nato auf <strong>neue</strong> Bedrohungen wie Cyberangriffe,<br />

die Raketenabwehr oder mögliche Konflikte in der Arktis, kann der Generalsekretär<br />

nicht im stillen Kämmerlein finden. Es sind vor allem die Mitgliedstaaten, die<br />

mitziehen und mit viel Überzeugungsarbeit zum Konsens geführt werden müssen.<br />

Da reicht keine persönliche Magie des Generalsekretärs, sondern nur harte Arbeit,<br />

die meistens – wenig medienwirksam – im Hintergrund geleistet wird.<br />

Dringend erforderlich sind daher eine <strong>neue</strong> Bescheidenheit und eine ausgleichende<br />

Gesprächskultur. Jens Stoltenberg scheint man das nicht extra sagen zu<br />

müssen. Jedenfalls sind von ihm bisher keine Starallüren bekannt.<br />

75<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


WELTBÜHNE<br />

Report<br />

DER<br />

BÖSE<br />

IST IMMER<br />

DER<br />

WESTEN<br />

Von MORITZ GATHMANN<br />

Fotos DENIS SIMPSON<br />

Die Propagandamaschine<br />

des Kremls hat tiefe Spuren in den<br />

Köpfen der Russen hinterlassen.<br />

Sie gibt den Menschen Antworten,<br />

die ihnen gefallen. Putin wird<br />

zum Helden stilisiert<br />

76<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


77<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


WELTBÜHNE<br />

Report<br />

Seit zwei Jahrzehnten bin ich in Russland unterwegs,<br />

und über die Jahre habe ich mich an diese<br />

seltsame Doppelrolle gewöhnt: In Russland bin<br />

ich der Deutschen-Erklärer, der Europa-Erklärer, sogar<br />

der USA-Erklärer. Ich versuche den Russen darzulegen,<br />

warum die Frauen von Pussy Riot bei uns als<br />

Heldinnen gelten, was der Vorteil von echter Demokratie<br />

und Pressefreiheit ist, und ganz allgemein, dass<br />

wir im Westen ihnen nichts Böses wollen.<br />

Zu Hause dann erkläre ich den Deutschen – obwohl<br />

Russen-Versteher inzwischen fast schon ein<br />

Schimpfwort ist –, warum viele Russen nach Jahren<br />

des Chaos’ Putins Stabilität höher schätzen als die Demokratie,<br />

warum man über Pussy Riot nur verständnislos<br />

den Kopf schüttelt, und immer, immer wieder,<br />

warum der Deutschen liebster Russe Michail Gorbatschow<br />

in Russland nicht geliebt wird.<br />

Bisher war es so: Man stritt, dann schüttelte man<br />

den Kopf über die Absonderlichkeiten des anderen,<br />

und gut war’s. Aber jetzt ist alles anders.<br />

„Kannst du mir bitte mal erklären, was in der Welt<br />

los ist? Warum zeigt man uns, dass die Ukraine Bomben<br />

auf die eigenen Bürger wirft, und dann werden<br />

Sanktionen gegen Russland verhängt?“, fragt mich<br />

ein Freund, 33 Jahre jung, gebildet, Mittelschicht, Geschäftsmann.<br />

Und ich denke: Wir kommen nicht mehr<br />

zusammen.<br />

Nachdem in der Ukraine die Maidan-Bewegung<br />

gesiegt hat, scheinen die Russen kollektiv in den Schützengraben<br />

gesprungen zu sein. Von dort rufen sie den<br />

Ukrainern, den Westlern, insbesondere aber den Amerikanern<br />

zu: Keinen Schritt näher oder wir schießen!<br />

Ich habe Freunde, die den Separatisten in der Ostukraine<br />

Geld zukommen lassen, weil sie überzeugt sind,<br />

dass der Osten der Ukraine zu Russland gehört. Ich<br />

habe Freunde, die der Staatspropaganda keinen Glauben<br />

schenken, aber die Putin dennoch unterstützen,<br />

weil er sich der amerikanischen Dominanz<br />

entgegenstellt. Und ich habe<br />

einige wenige Freunde, vor allem solche,<br />

die Fremdsprachen sprechen und<br />

die deshalb jenes Weltbild, das ihnen<br />

zu Hause vorgesetzt wird, mit dem<br />

aus anderen Ländern abgleichen können,<br />

die stehen an diesem Schützengraben<br />

und murmeln: „Seid ihr denn<br />

alle verrückt geworden?“<br />

Wie konnte es so weit kommen?<br />

Einen großen Anteil daran hat die<br />

russische Propagandamaschine. Um<br />

den 20. Februar, als der ukrainische Präsident Wiktor<br />

Janukowitsch aus Kiew floh und der Maidan siegte,<br />

stellte der Kreml die Regler dieser Maschine auf Volldampf.<br />

Die Erzählung, die der russische Fernsehzuschauer<br />

seitdem in jeder Nachrichtensendung in<br />

Variationen serviert bekommt, geht so: In Kiew haben<br />

Faschisten, unterstützt und instruiert von den<br />

Amerikanern, den demokratisch gewählten<br />

Präsidenten gestürzt und die<br />

Macht errungen. Nun geht von ihnen<br />

eine physische Bedrohung gegen alle<br />

Russen, ja alles Russische an sich aus.<br />

<strong>Das</strong> Verlockende an dieser Erzählung<br />

ist, dass es vor diesem durch und<br />

durch finsteren Hintergrund einen<br />

Helden gibt: Russland. Russland rettet<br />

seine Landsleute, Russland unterbreitet<br />

Friedensvorschläge, Russland<br />

nimmt Flüchtlinge auf. Die Schuld für<br />

die tragischen Ereignisse in der Ukraine<br />

trägt dagegen der Westen. Davon<br />

waren Ende Juli dem unabhängigen<br />

Meinungsforschungsinstitut Lewada<br />

zufolge 64 Prozent der Russen überzeugt.<br />

Nur 3 Prozent sehen eine Einmischung<br />

Russlands als Grund.<br />

Mit dem Sieg der Maidan-Bewegung<br />

änderte sich die Berichterstattung<br />

grundlegend: Waren zuvor noch in begrenztem<br />

Maße unterschiedliche Stimmen<br />

zu hören, gibt es seitdem nur noch<br />

eine. Waren die Ereignisse im Nachbarland<br />

zuvor nur ein Thema unter vielen,<br />

dominiert die Ukraine nun jede Nachrichtensendung.<br />

„Die Bevölkerung konnte sich dagegen nicht mehr wehren“,<br />

sagt der Soziologe Denis Wolkow, der sich bei<br />

Lewada intensiv mit der Wirkung von Medien auf die<br />

öffentliche Meinung beschäftigt.<br />

Der Soziologe erinnert an eine ähnlich mediale<br />

Aufrüstung in früheren Zeiten: Im Herbst 1999<br />

wurde mit einer Dämonisierung des Gegners der<br />

zweite Tschetschenienkrieg vorbereitet, 2008 wurde<br />

der Georgienkrieg von ähnlich lautem patriotischen<br />

Getöse begleitet. „Aber das Niveau ist heute viel höher“,<br />

sagt Wolkow, „die Propaganda<br />

kompromissloser.“<br />

Im Kreml, sagt Wolkow,<br />

habe man schnell verstanden,<br />

wie man die Ereignisse in der<br />

Ukraine für die eigenen Zwecke<br />

nutzen könne, unter anderem,<br />

um die Umfragewerte des<br />

Präsidenten wieder zu steigern.<br />

Die nähern sich inzwischen der<br />

Rekordmarke von 90 Prozent –<br />

bis zum Beginn der Ukrainekrise<br />

waren sie konstant gefallen.<br />

Im November 2013 hatten nur noch 61 Prozent<br />

der Russen Putins Präsidentschaft positiv bewertet.<br />

Ein weiterer Unterschied zu früher: Diesmal ist die<br />

mediale Landschaft bereinigt wie nie zuvor. Im Januar<br />

verbannten viele Kabelbetreiber den letzten unabhängigen<br />

Fernsehsender Doschd auf Druck aus ihren Netzen.<br />

Wenig später wurde das populäre unabhängige<br />

Auf dem<br />

Moskauer Platz<br />

der Revolution<br />

sorgt ein<br />

Mitarbeiter<br />

eines Sicherheitsdiensts<br />

im Militarylook<br />

für Ordnung<br />

Die westlichen<br />

Sanktionen<br />

werden in<br />

Moskau mit<br />

Spott quittiert.<br />

Auf einem<br />

Moskauer BMW<br />

steht: „Sanktionen!<br />

Präsident<br />

Barack Obama<br />

und den Mitgliedern<br />

des<br />

amerikanischen<br />

Kongresses ist<br />

es verboten,<br />

in dieses Auto<br />

einzusteigen<br />

und mit ihm zu<br />

fahren“<br />

78<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Fotos: Denis Simpson/n-ost (Seiten 76 bis 79)<br />

Nachrichtenportal Lenta „geköpft“: Der Besitzer entließ<br />

die Chefredakteurin, mit ihr verließ der größte<br />

Teil der Journalisten das Portal. Aber das Internet nutzen<br />

ohnehin nur wenige Russen, um sich zu informieren:<br />

90 Prozent der Erwachsenen erhalten Nachrichten<br />

über Russland und die Welt im Fernsehen. Gut<br />

drei Viertel der Russen glauben, was ihnen dort gezeigt<br />

wird.<br />

Erfolgreich ist die Propaganda auch, weil sie die<br />

Sehnsüchte der Menschen befriedigt. Schlüsselmoment<br />

der Konsolidierung zwischen Regime und Bevölkerung<br />

war die Annexion der Krim: <strong>Das</strong>s sie zu Russland<br />

gehört, galt unter den Russen immer als Gemeinplatz,<br />

die Schenkung an die Ukraine im Jahr 1954<br />

als historischer Fehler. „Die Russen haben den Anschluss<br />

der Krim unterstützt. Da dieser politische Akt<br />

Unterstützung gefunden hat, vertraut man auch der<br />

Berichterstattung darüber“, sagt Andrei Wyrkowski,<br />

Medienwissenschaftler an der Journalistikfakultät der<br />

Moskauer Lomonossow-Universität.<br />

Der bekannte Historiker Andrei Subow spricht<br />

von einer „nationalen Psychose“, die sein Land erfasst<br />

habe. Subow diagnostiziert in Anlehnung an das<br />

„Versailler Syndrom“ der Deutschen nach dem Ersten<br />

Weltkrieg bei den heutigen Russen das „Belowescha-<br />

Syndrom“. Im Urwald von Belowescha hatte Boris<br />

Jelzin im Dezember 1991 die Auflösung der Sowjetunion<br />

vollendet. <strong>Das</strong>s er das Imperium praktisch widerstandslos<br />

aufgab, wird von vielen Russen als Urkatastrophe<br />

empfunden.<br />

So wie die Deutschen sich die Niederlage von 1918<br />

mit dem „Dolchstoß“ erklärten, so sei der Zusammenbruch<br />

der Sowjetunion im Volksbewusstsein die Folge<br />

von „Verschwörung und Verrat“ durch die Feinde. Der<br />

Feind – das sind die USA und die Nato, der Verräter<br />

heißt Michail Gorbatschow. Nun sei der lang ersehnte<br />

Moment der Revanche gekommen – diese Botschaft<br />

senden zumindest der Kreml und seine Medien.<br />

Der renommierte Historiker Subow selbst wurde<br />

Opfer dieser Psychose: Anfang März entließ ihn seine<br />

Universität MGIMO, die Kaderschmiede des Außenministeriums.<br />

Der Grund: ein Zeitungsartikel, in dem<br />

er die Annexion der Krim mit dem Anschluss Österreichs<br />

verglichen hatte. Inzwischen darf Subow allerdings<br />

wieder lehren.<br />

DER WUNSCH, DEN AMERIKANERN wieder – mindestens<br />

– auf Augenhöhe zu begegnen, ist dabei keine fixe<br />

Idee Putins: Er hat heute den Großteil der Bevölkerung<br />

hinter sich. Seit mehreren Jahren stellt das Institut Lewada<br />

den Russen folgende Frage: „Bevorzugen Sie es,<br />

eine Großmacht zu sein, aber mit einem bescheidenen<br />

Lebensniveau, oder ein eher schwaches Land, aber<br />

mit einer blühenden Wirtschaft?“ Im März 2014 bewerteten<br />

48 Prozent es als wichtiger, eine Großmacht<br />

zu sein, 47 Prozent wählten die Variante Wohlstand.<br />

2006 war der Großmachtstatus nur 36 Prozent wichtig,<br />

62 Prozent wollten den Wohlstand. „Viele sind bereit,<br />

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Der Kontinent findet keine Ruhe. Er driftet von<br />

Krise zu Krise. Die Baustelle Europa benötigt also<br />

nichts dringender eine geistige Ordnung.<br />

Werner Weidenfeld gibt eine klare Antwort auf die<br />

Fragen der Zeit und formuliert ebenso originelle<br />

wie plausible Perspektiven.<br />

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ISBN 978-3-466-37122-8<br />

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WELTBÜHNE<br />

Report<br />

Zwieback zu essen, dafür aber in einer Großmacht zu<br />

leben“, fasst Subow das Ergebnis zusammen.<br />

Die trotzige Reaktion vieler Russen auf die westlichen<br />

Sanktionen und der kaum spürbare Protest gegen<br />

die im August erlassenen Einfuhrverbote für westliche<br />

Lebensmittel beweisen das. „Wir sind bereit, den<br />

Gürtel enger zu schnallen. Aber wir<br />

wollen uns nicht mehr sagen lassen,<br />

was wir zu tun und zu lassen haben“,<br />

sagt etwa ein 60 Jahre alter Ingenieur<br />

aus einer Kleinstadt bei Moskau.<br />

Subow weist allerdings auf einen<br />

wichtigen Unterschied zu den Deutschen<br />

der dreißiger Jahre hin: Die<br />

Russen fürchten den Krieg. Lewada<br />

zufolge glauben zwei Drittel der Befragten,<br />

dass der Konflikt im Osten<br />

der Ukraine in einen Krieg zwischen<br />

Russland und der Ukraine münden<br />

könnte. Die Hälfte glaubt sogar an<br />

einen dritten Weltkrieg. Zwar waren<br />

noch gut die Hälfte der Russen<br />

Ende Juli bereit, ihre Führung in einem<br />

Krieg gegen die Ukraine zu unterstützen.<br />

Doch die Eskalation des<br />

Konflikts im Osten der Ukraine, die<br />

Bilder von zerstörten Häusern und getöteten Zivilisten,<br />

haben auf viele ernüchternd gewirkt. Im März, als die<br />

Kriegsgefahr noch sehr abstrakt erschien, waren noch<br />

drei Viertel der Russen auf Kriegskurs.<br />

Die Dämonisierung des Gegners kennt derweil<br />

keine Grenzen. Russische Medien schlachten jeden<br />

Fehler der Ukrainer aus. Es begann, als das ukrainische<br />

Parlament drei Tage nach dem Sieg der Maidan-<br />

Bewegung den Sonderstatus der russischen Sprache abschaffte.<br />

„Und das sollen keine Faschisten sein?“, fragt<br />

mich ein Freund aus St. Petersburg. <strong>Das</strong>s Übergangspräsident<br />

Alexander Turtschinow unter westlichem Druck<br />

wenig später sein Veto gegen die Entscheidung einlegte,<br />

ist in Russland nie angekommen.<br />

LETZTE ZWEIFEL BESEITIGTE das „Massaker von<br />

Odessa“, wie es in Russland genannt wird: Am 2. Mai<br />

kamen dort bei Unruhen 48 Menschen ums Leben. Die<br />

meisten Opfer waren prorussische Aktivisten, die im<br />

brennenden Gewerkschaftshaus eingeschlossen wurden.<br />

Während die Katastrophe in westlichen Medien<br />

nur am Rande thematisiert wurde, hat sie in den Köpfen<br />

der Russen tiefe Spuren hinterlassen. Grund sind<br />

auch die erschütternden Bilder, die das Fernsehen<br />

zeigte und die in den sozialen Netzwerken hunderttausendfach<br />

geteilt wurden: Ein Mob johlender Nationalisten,<br />

die Molotowcocktails auf das Gewerkschaftshaus<br />

werfen, Menschen, die sich in Panik aus den oberen<br />

Stockwerken stürzen, verkohlte Körper.<br />

Bilder dieser Art dominieren die russische Berichterstattung<br />

über die Ukraine. Von den Kämpfen<br />

der ukrainischen Armee mit den Separatisten in der<br />

Ostukraine bekommt der russische Fernsehzuschauer<br />

vor allem getötete Zivilisten zu sehen, in den Abendnachrichten<br />

hört er die Hilferufe von Menschen, deren<br />

Wohnungen von Ukrainern zerbombt wurden. <strong>Das</strong><br />

wirkt. Es wirkt umso mehr, als die Menschen vor der<br />

Kamera russisch sprechen und<br />

vor Häusern stehen, die so auch<br />

in jeder russischen Stadt zu finden<br />

sind. Viele Russen haben zudem<br />

Bekannte oder Verwandte<br />

in der Ukraine, die per Telefon,<br />

in E-Mails und in den russischsprachigen<br />

sozialen Netzwerken<br />

von ihrem Leben im Kriegszustand<br />

berichten. Für die Deutschen<br />

sind, auch wenn es zynisch<br />

klingen mag, die Opfer<br />

von Krieg und Vertreibung in<br />

Luhansk zwar bemitleidenswert,<br />

aber fern und fremd.<br />

So kommt es, dass die Vorstellungen<br />

von den Ereignissen<br />

in der Ukraine sich so stark unterscheiden,<br />

dass wir praktisch<br />

nicht mehr darüber sprechen<br />

können. Bei „Maidan“ denke ich an die friedlichen<br />

Demonstrationen von Hunderttausenden gegen einen<br />

korrupten Präsidenten, mit denen alles begann. Russen<br />

hingegen denken an bewaffnete Faschisten, die<br />

unschuldige Polizisten mit Molotowcocktails bewerfen.<br />

Beim Stichwort „Slawjansk“ erzählen die Russen<br />

von angeblichen Napalmangriffen auf friedliche Zivilisten,<br />

und ich erzähle vom russischen Ex-Geheimdienstler<br />

Igor Strelkow, der die Stadt in seine Gewalt<br />

brachte und damit den bewaffneten Konflikt erst auslöste.<br />

Strelkow? Die meisten meiner Bekannten blicken<br />

mich fragend an, wenn ich den Namen nenne. Über<br />

die wirklichen Hintergründe des Konflikts erfährt der<br />

russische Zuschauer wenig. Die Gegner der ukrainischen<br />

„Strafbataillone“ hießen im russischen Fernsehen<br />

lange Zeit „friedliche Befürworter der Föderalisierung“,<br />

dabei waren es von Anfang an bewaffnete<br />

Freischärler. Auch über die Unterstützung mit Waffen<br />

und Kriegsgerät über die russische Grenze erfahren<br />

die Russen nichts.<br />

Wohlmeinende Freunde und Verwandte sagen<br />

meist irgendwann versöhnlich: Die Wahrheit liegt wohl<br />

in der Mitte. Aber als Journalist, der alles mit eigenen<br />

Augen gesehen hat, muss ich ihnen entgegnen: Nein,<br />

dort liegt sie nicht.<br />

MORITZ GATHMANN bereiste Russland<br />

zum ersten Mal 1994 während eines<br />

Schüleraustauschs. Seit zwölf Jahren berichtet<br />

er als Journalist aus der Region. Er ist mit<br />

einer Russin verheiratet<br />

Stolz ragen<br />

die Kuppeln<br />

der Basilius-<br />

Kathedrale<br />

über Moskau.<br />

<strong>Das</strong> Gefühl<br />

von Stärke<br />

gibt Putin mit<br />

seiner Politik<br />

nun seiner<br />

Bevölkerung<br />

Fotos: Inger Vandyke/VWPics/Redux/Laif, Privat (Autor)<br />

80<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


KAPITAL<br />

„ Manchmal muss<br />

ich aber auch nach<br />

London fliegen<br />

und im Koffer cash<br />

die Gehälter für<br />

die kommenden drei<br />

Monate zurück<br />

nach Teheran bringen “<br />

Richard Oladi, britischer Trader an der Börse in Teheran, über die alltäglichen Auswirkungen der<br />

Finanz- und Wirtschaftssanktionen im Iran, Seite 86<br />

81<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

MIDAS MUSK<br />

Um Geld geht es Elon Musk schon lange nicht mehr. Als Gründer von Paypal und Tesla<br />

hat er Milliarden verdient. Jetzt teilt er seine Patente für Elektroautos mit allen<br />

Von ELLEN ALPSTEN<br />

In Jon Favreaus Film „Iron Man“<br />

zwingt der Bösewicht Obadiah Stane<br />

seine Wissenschaftler, die genialen<br />

Entwürfe seines Gegenspielers, des Milliardärs<br />

Tony Stark, zu studieren, bis ihnen<br />

die Köpfe rauchen. Ähnlich geht es<br />

nun der Konkurrenz des Unternehmers<br />

Elon Musk, der die Patente seines Automobilkonzerns<br />

Tesla offengelegt hat.<br />

„Wie will man wirklich etwas ändern,<br />

wenn nicht alle Zugriff zum notwendigen<br />

Wissen haben?“, fragt Musk entwaffnend<br />

in seinem Blog. Der Vergleich<br />

zwischen Iron Man Tony Stark und Elon<br />

Musk liegt nah, aber noch mehr erzählt<br />

Musks Reaktion darauf: „Fällt Ihnen außer<br />

mir noch jemand ein, der dem Vergleich<br />

standhält?“, fragt der gebürtige<br />

Südafrikaner gern.<br />

Aber ist alles wirklich so einfach?<br />

Also: Musk, der visionäre Technologe<br />

und Physiker; Musk, der grenzenlos risikofreudige<br />

Spieler; Musk, der rücksichtslose<br />

Lebemann. In der Alphamann-<br />

Apartheidsgesellschaft im Pretoria der<br />

siebziger Jahre aufgewachsen, las das<br />

Kind Elon – sein Name bedeutet auf Hebräisch<br />

„Eiche“, er selbst ist allerdings<br />

nicht jüdisch – alles von Lexika über<br />

Schopenhauer und Nietzsche bis zum<br />

„Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“. Von<br />

da an kam es ihm nicht mehr so sehr auf<br />

die Antwort als auf die richtige Fragestellung<br />

im Leben an. Sein erstes Videospiel<br />

entwickelte er mit zwölf Jahren und<br />

verkaufte es für 300 Dollar. Um dem Militärdienst<br />

zu entgehen, wanderte Musk<br />

erst nach Kanada, dann in die USA aus.<br />

Seine Teilnahme an dem Master-Programm<br />

in Physik der Stanford University<br />

währte zwei Tage: Statt weiter zu<br />

studieren, baute Musk lieber Unternehmen<br />

auf. Er gehörte zu den Gründern des<br />

Bezahldiensts Paypal, für den Ebay später<br />

1,5 Milliarden Dollar zahlte.<br />

Musk dachte nicht daran, in Pension<br />

zu gehen, sondern griff mit Space X, dem<br />

ersten privaten Konzern für Raumtransporte<br />

und -reisen, nach den Sternen: Er<br />

wolle auf dem Mars sterben, allerdings<br />

nicht schon beim Aufprall, sagte Musk<br />

nur halb im Scherz. Seine Leute konstruieren<br />

gerade 60 Meter hohe Raketen,<br />

die Fracht und bis zu sieben Passagiere<br />

transportieren können.<br />

IST ER WIE MIDAS, jener Sagenkönig, der<br />

alles, was er anfasste, zu Gold machte?<br />

Musk träumte weiter. Schon früh hatte<br />

er über Elektroautos nachgedacht, die<br />

wollte er nun auch bauen. Aber die Wirtschaftskrise<br />

traf seine junge, reelle Firma<br />

so hart, dass er sich Heiligabend 2008 mit<br />

seinem gesamten Privatvermögen in den<br />

Konzern einbrachte: All in! Für seine Vision<br />

setzte er den letzten Knopf auf seiner<br />

Hosennaht aufs Spiel.<br />

<strong>Das</strong> Risiko lohnte sich, denn 2009<br />

stieg Daimler mit 50 Millionen Dollar<br />

bei Tesla ein. Die Firma war gerettet, die<br />

Google-Gründer Larry Page und Sergey<br />

Brin zählten zu den ersten Abnehmern<br />

des Modells Tesla S. Über das vergangene<br />

Jahr stiegen die Tesla-Aktien um<br />

142 Prozent. Musks Modelle halten bei<br />

allem mit – Ästhetik, Stauraum, Service,<br />

Bequemlichkeit, Sicherheit –, und er bietet<br />

schnelle Ladestationen.<br />

Hat er Angst vor dem Scheitern? Ja,<br />

aber er weiß sie zu begrenzen. Schlimmer<br />

ist für ihn die Vorstellung, eines Tages zu<br />

sterben – auf der Erde oder dem Mars –<br />

und nicht alles getan zu haben, um die<br />

hochgesteckten Ziele zu erreichen.<br />

<strong>Das</strong> wahre Genie, der wahre Spieler<br />

kennt eben keine Grenzen und ist<br />

absolut, in allem. Seine erste Frau Justine,<br />

eine Schriftstellerin, lernte ihn als<br />

armen Studenten kennen und lieben.<br />

Nach dem plötzlichen Kindstod ihres<br />

ersten Sohnes Nevada gebar sie in nur<br />

zwei Jahren erst Zwillinge, dann Drillinge:<br />

Alles Söhne. „Ich bin deine Frau,<br />

nicht deine Angestellte“, warnte Justine<br />

ihn, während sie gegen eine postnatale<br />

Depression kämpfte. „Wenn du<br />

meine Angestellte wärst, hätte ich dich<br />

längst gefeuert“, erwiderte Musk – und<br />

tat dann doch genau dies. Über das Ende<br />

der Ehe wurde sie im Büro ihrer Therapeutin<br />

informiert.<br />

Musk dagegen beschrieb sich damals<br />

als „sehr privat“. <strong>Das</strong> änderte sich: No<br />

Sex before Marriage, beschied ihm die<br />

englische Schauspielerin Talulah Riley –<br />

optisch eine Mischung aus Kate Moss<br />

und Milla Jovovich – bei ihrem Kennenlernen<br />

in einer Londoner Bar. Nur sechs<br />

Wochen später waren sie verlobt. Wie<br />

schon Justine wurde Talulah in kürzester<br />

Zeit sehr blond und sehr schlank. Gemeinsam<br />

zierten sie die Titel der Regenbogenpresse.<br />

Kein Fest fand mehr ohne<br />

die Musks statt – sei es die Oscar-Verleihung<br />

oder ein Dinner bei Obama. Doch<br />

nur ein Jahr später verkündete Musk auf<br />

Twitter das Ende der Ehe. Seitdem ist das<br />

Paar mal zusammen, mal getrennt.<br />

Musks feine Gesichtszüge erinnern<br />

noch immer an den Jungen, der unter der<br />

Freiheit des unendlichen Sternenhimmels<br />

Südafrikas von einer grenzenlosen Welt<br />

träumte. Träume, die Wirklichkeit werden<br />

sollen: Koste es, was es wolle; die Suche<br />

wie auch das Finden. Denn das Gegenteil<br />

einer großen Wahrheit, schrieb<br />

einst der Physiker Niels Bohr, ist ebenfalls<br />

eine große Wahrheit. Auch den Vergleich<br />

mit Bohr würde Musk vermutlich<br />

nicht scheuen.<br />

ELLEN ALPSTEN hat nichts gegen<br />

Internetunternehmer, aber schreiben kann<br />

sie am besten über sie, wenn sie sich zwingt,<br />

offline zu bleiben<br />

Foto: Brian van der Brug/Los Angeles Times/Polaris/Laif<br />

82<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

AUS REISHÜLSEN GEBAUT<br />

Auf der Suche nach einem Ersatzstoff für Tropenhölzer hat Bernd Duna in Asien<br />

ein <strong>neue</strong>s Material entdeckt. Jetzt will er mit Resysta die Welt erobern<br />

Von TIL KNIPPER<br />

Bernd Duna hat schon mit 21 Jahren<br />

nach dem Tod seines Vaters den<br />

Familienbetrieb für Gartenmöbel<br />

übernehmen müssen, zusammen mit seinem<br />

Bruder Markus. Wenn man ihn fragt,<br />

was er heute macht, antwortet der inzwischen<br />

43-Jährige: „Ich bin Zulieferer für<br />

die Chemieindustrie.“ Dann schickt der<br />

stets gut gebräunte Duna sein schepperndes<br />

Lachen hinterher, das immer ein bisschen<br />

so klingt, als könne er selbst nicht<br />

ganz fassen, was da in den vergangenen<br />

Jahren passiert ist.<br />

Ihren Anfang hat die Geschichte dieses<br />

einschneidenden Strategiewechsels<br />

2005 in Asien. Bernd Duna, Typ wohlgenährter<br />

Surfer mit schulterlangem Haar,<br />

ist auf der Suche nach einem Ersatzstoff<br />

für Tropenhölzer, die aufgrund ihrer<br />

Härte und Beständigkeit beim Bau von<br />

Gartenmöbeln breite Verwendung finden.<br />

Für Duna ist das ein Problem, weil seine<br />

Kunden einerseits hohe Materialansprüche<br />

stellen, andererseits mit dem Kauf<br />

ihrer Gartenmöbel nicht zur Abholzung<br />

des Regenwalds beitragen wollen. „Ich<br />

war es selbst leid, Tropenhölzer zu kaufen,<br />

bei denen ich die Herkunft nie hundertprozentig<br />

nachvollziehen konnte und<br />

deren Preise unaufhaltsam nach oben<br />

gingen“, sagt Duna.<br />

Die Lösung seines Problems hat<br />

Duna in Malaysia gefunden. Über einen<br />

Bekannten lernt er den Chemiker<br />

Alexander Siu kennen. Der experimentiert<br />

in seinem Familienbetrieb damals<br />

schon seit geraumer Zeit mit einem Holzersatzstoff<br />

herum, der aus Reishülsen<br />

und PVC besteht. Siu zeigt Duna sein<br />

Referenzobjekt, einen „Reis“-Steg in<br />

Hongkong, der seit sieben Jahren ununterbrochen<br />

Sonne und Salzwasser ausgesetzt<br />

ist. „Die schlimmsten Bedingungen,<br />

die man sich vorstellen kann“, sagt Duna.<br />

Aber das Material sieht aus wie neu: Es ist<br />

nicht aufgequollen, nicht verbogen, splittert<br />

nicht und die Farbe ist unverändert.<br />

„Es fehlte nur noch der echte Touch and<br />

Feel von Holz“, sagt Duna, ein großer<br />

Freund der Anglizismen.<br />

Gemeinsam entwickelten Duna und<br />

Siu das Reisholz weiter. Optik, Haptik<br />

und das Herstellungsverfahren werden<br />

verbessert. <strong>Das</strong> Ergebnis heißt Resysta<br />

und besteht zu 60 Prozent aus Reishülsen,<br />

zu 22 Prozent aus Steinsalzen und<br />

zu 18 Prozent aus Mineralöl. Marktreife<br />

erreichte ihr <strong>neue</strong>r Werkstoff 2007, als<br />

sie ihren ersten Stuhl aus Resysta verkauften.<br />

2009 kamen die ersten Bodendielen<br />

hinzu. Nachdem die Materialentwicklung<br />

noch unter dem Dach der vom<br />

Vater gegründeten Firma MBM stattgefunden<br />

hatte, gründeten Duna und Siu<br />

2011 die Firma Resysta International in<br />

Taufkirchen bei München.<br />

Glaubt man Duna, sind die Einsatzmöglichkeiten<br />

für Resysta fast unbegrenzt:<br />

Nicht nur für Gartenmöbel,<br />

sondern auch für Hausfassaden, Bäder,<br />

Zäune, Türen, Fenster, Böden und Bootsdecks<br />

sei das wasserfeste, trittsichere Resysta<br />

wegen seiner Witterungsbeständigkeit<br />

geeignet.<br />

In der Tat stößt das <strong>neue</strong> Material<br />

bei Kunden auf großes Interesse: Internationale<br />

Konzerne wie McDonalds, Starbucks<br />

und Tchibo nutzen bereits Möbel<br />

aus Resysta in ihren Außenbereichen,<br />

und auch das Disney Resort in Orlando<br />

hat 1000 Gartenstühle aus dem <strong>neue</strong>n<br />

Werkstoff aufgestellt. Luxushotels in<br />

China, Miami und Südtirol haben ihre<br />

Wellnessbereiche mit Resysta verkleidet.<br />

Schon dieses Jahr rechnet Duna mit einem<br />

Umsatz von 20 Millionen Euro, den<br />

er in den kommenden drei bis vier Jahren<br />

auf 250 Millionen Euro steigern will.<br />

Nur von der ursprünglichen Idee,<br />

die gesamte Wertschöpfung alleine<br />

auszureizen – von der Herstellung des<br />

Werkstoffs bis hin zu dessen Veredelung –<br />

musste sich Duna verabschieden: „<strong>Das</strong><br />

hätten wir finanziell gar nicht stemmen<br />

können.“ Stattdessen liefert er das im eigenen<br />

Werk in Malaysia erstellte Pulver<br />

aus Reishülsen und einer geheimen Formel<br />

aus Additiven an Chemieunternehmen<br />

wie Ineos in der Schweiz oder Westlake<br />

in den USA. Die fügen Steinsalze<br />

und PVC hinzu und verkaufen es als<br />

Granulat an Möbel- und Fensterhersteller<br />

wie Schüco oder Salamander, die es<br />

erhitzen und nach eigenem Bedarf pressen<br />

und formen können.<br />

<strong>Das</strong> Geschäftsmodell hat sich Duna<br />

bei Gore-Tex abgeguckt. „Dieser atmungsaktive,<br />

wasserdichte Stoff war ein<br />

tolles Produkt, aber richtig erfolgreich<br />

wurde die Firma erst, als sie es an andere<br />

große Hersteller verkaufte. Wir wollen<br />

das Gore-Tex der Holzindustrie werden“,<br />

sagt Duna. Um Qualität und Materialzusammensetzung<br />

garantieren zu können,<br />

verpflichtet Duna jedes Partnerunternehmen,<br />

den „Made of Resysta“-Button zu<br />

verwenden.<br />

TIL KNIPPER leitet das Ressort Kapital bei<br />

<strong>Cicero</strong>, besitzt aber mangels Balkons oder<br />

eigener Terrasse gar keine Gartenmöbel<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht haben?<br />

Den Mittelstand!<br />

<strong>Cicero</strong> stellt in jeder Ausgabe<br />

einen mittelständischen<br />

Unternehmer vor.<br />

Die bisherigen Porträts<br />

finden Sie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

Foto: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong><br />

84<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


KAPITAL<br />

Report<br />

86<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


DIE<br />

SWIFT-<br />

WAFFE<br />

Über eine Finanzfirma<br />

in Belgien könnte der<br />

Westen Russland von den<br />

Bankkonten der Welt<br />

abschneiden<br />

Von TOMÁŠ SACHER<br />

Illustrationen MARIO WAGNER<br />

Hier soll eine Institution sitzen, die den Konflikt<br />

in der Ukraine schnell beenden könnte? Wer<br />

als Besucher zum ersten Mal nach La Hulpe<br />

kommt, mag das kaum glauben. Die etwas verschlafene<br />

belgische Kleinstadt, die eine halbe Stunde Fahrt<br />

südlich von Brüssel liegt, präsentiert sich sommerlich<br />

träge. Bürgerliche Einfamilienhäuser, eine enge Hauptstraße<br />

mit wenigen Läden und Restaurants, wallonische<br />

Provinz in Reinkultur.<br />

Aber plötzlich steht man vor einem meterhohen<br />

Zaun, der einen weitläufigen Park mit Teich und<br />

Springbrunnen umschließt. Durch die Baumkronen<br />

hindurch sieht man ein pseudoklassizistisches Gebäude<br />

mit großen Fensterfronten, das einem Schloss<br />

nachempfunden ist. Durch den Haupteingang fahren<br />

regelmäßig Limousinen mit abgedunkelten Scheiben<br />

ein und aus. Wer sich zu lange davor herumtreibt,<br />

gerät ins Visier der zahlreichen Überwachungskameras<br />

und wird kurze Zeit später vom Sicherheitsdienst<br />

freundlich, aber entschieden aufgefordert, wieder<br />

zu verschwinden. Vorher gestellte Anfragen für<br />

Interviews oder schriftliche Fragenkataloge bleiben<br />

unbeantwortet.<br />

Willkommen bei Swift, der Society for Worldwide<br />

Interbank Financial Telecommunication, deren Hauptsitz<br />

hinter diesem Zaun liegt. Über die Computersysteme<br />

dieses Finanzdienstleisters tauschen Banken in<br />

mehr als 200 Staaten ihre Zahlungsdaten aus. <strong>Das</strong> als<br />

Genossenschaft organisierte Privatunternehmen arbeitet<br />

am liebsten genau so, wie seine Eigentümer, mehr<br />

als 10 000 Finanz institute weltweit, es mögen: diskret,<br />

schnell und ohne viele Fragen zu stellen.<br />

3000 Angestellte arbeiten in der Zentrale in La<br />

Hulpe, in Büros an den großen Finanzplätzen der Welt<br />

und in drei großen, hermetisch abgesicherten Rechenzentren<br />

in der Schweiz, den Niederlanden und den<br />

USA. Täglich verschickt Swift mehr als 20 Millionen<br />

Nachrichten seiner Mitglieder, hinter denen Transaktionen<br />

von mehr als 7,5 Billionen Euro stehen. <strong>Das</strong><br />

1973 gegründete Unternehmen hat sich zum Rückgrat<br />

des grenzüberschreitenden, internationalen Zahlungsverkehrs<br />

entwickelt, ganz gleich, ob es um Überweisungen,<br />

Wertpapierverkäufe oder den Rohstoffhandel<br />

geht. Mitglieder können mit ihrer Swift-Nummer<br />

über das Datennetzwerk sicher und schnell miteinander<br />

kommunizieren.<br />

Gleichzeitig genießt Swift durch seine weltweite<br />

Monopolstellung eine ungeheure Macht, weil Nichtmitglieder<br />

faktisch vom internationalen Zahlungsverkehr<br />

ausgeschlossen sind. Eine Macht, die immer öfter<br />

auch politische Begehrlichkeiten weckt. Schließt<br />

man die Banken eines Landes aus dem Swift-Netzwerk<br />

aus, kann man dessen Exportwirtschaft in die<br />

Knie zwingen.<br />

Auch im Ukrainekonflikt gehört die Swift-Waffe<br />

zum Arsenal, das EU und USA zur Verfügung steht.<br />

„Je nachdem, wie Putin weiter vorgeht, ist es durchaus<br />

vorstellbar, dass die Swift-Waffe auch gegen<br />

Russland zum Einsatz kommt“, sagt der Ökonom<br />

und Russlandfachmann Anders Aslund vom renommierten<br />

Peterson Institute for International Economics<br />

in Washington. Der Finanzsektor in Russland<br />

nimmt dieses Szenario sehr ernst. Ein möglicher Ausschluss<br />

aus Swift heißt in russischen Bankenkreisen:<br />

die „Atomwaffenoption“.<br />

BIS VOR KURZEM wäre diese Art der politischen Instrumentalisierung<br />

des Swift-Systems undenkbar gewesen.<br />

Selbst Kubas und Nordkoreas Banken sind seit<br />

der Gründung nie aus dem Swift-System ausgeschlossen<br />

worden. Doch seit 2012 gibt es einen Präzedenzfall,<br />

den Iran. Während die ganze Welt damals wegen<br />

des Atomwaffenprogramms Teherans über einen<br />

möglichen Militärschlag der Amerikaner oder Israelis<br />

diskutierte, trafen die USA und die EU überraschend<br />

eine andere Entscheidung. Beide verschärften ihre<br />

Wirtschaftssanktionen gegen den Iran und verboten<br />

den in den USA und der EU ansässigen Banken alle<br />

finanziellen Transaktionen mit dem Iran und dessen<br />

87<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


KAPITAL<br />

Report<br />

Finanzsektor. Swift schweigt zunächst; erst einige Wochen<br />

später bestätigte der damalige Swift-Vorstandschef<br />

Lazaro Campos, dass die iranischen Banken aus<br />

dem Netzwerk ausgeschlossen worden waren.<br />

Dem Unternehmen selbst und der Finanzindustrie<br />

scheint die Instrumentalisierung durch die Politik unangenehm<br />

zu sein. Nach außen präsentiert sich Swift<br />

am liebsten als eine neutrale, supranationale Institution,<br />

die die erzielten Gewinne immer direkt wieder<br />

in die Sicherheit des eigenen Datennetzwerks investiert.<br />

Bei Nachfragen zur Verbannung des Iran verweist<br />

Swift auf die eigene Webseite. Dort heißt es, als<br />

belgisches Unternehmen habe man sich an das EU-<br />

Recht zu halten und lediglich die im März 2012 von<br />

der EU beschlossenen Sanktionen umgesetzt. Auch<br />

die großen deutschen Swift-Mitglieder pflegen weiter<br />

das Bild von der Neutralität des Systems. Und was ist<br />

mit dem Iran oder einem möglichen Ausschluss Russlands?<br />

„Fragen Sie direkt bei Swift nach, da gibt es<br />

von unserer Seite nichts zu kommentieren“, lautet die<br />

immer gleiche Antwort der Pressestellen der großen<br />

deutschen Banken.<br />

Was die Verbannung des Iran aus Swift in der Praxis<br />

bedeutet, davon kann Richard Oladi ein Lied oder<br />

eher ein ganzes Gesangbuch voll singen. Der Brite arbeitet<br />

an der Teheraner Börse für eine in London ansässige<br />

Tradingfirma. Seit der Zugang der iranischen<br />

Banken zum Swift-System blockiert ist, kann Geld<br />

nur noch auf Schleichwegen in und aus dem Golfstaat<br />

transferiert werden. Was vorher mit einem Knopfdruck<br />

ging, hat sich seitdem zu einem Abenteuer entwickelt.<br />

„Anfangs konnten wir noch mithilfe von Wechselstuben<br />

im Irak, die über gute Kontakte zu Banken in<br />

Dubai und der Türkei verfügten, Geldtransfers abwickeln“,<br />

erzählt Oladi. Es handelt sich um ein uraltes<br />

System, das auf Persisch Havaleh heißt. Aber die<br />

USA und Europa erhöhten den Druck auf die Banken<br />

der iranischen Nachbarländer. Diese stiegen aus dem<br />

Der Ausschluss<br />

aus dem Swift-System<br />

für internationale<br />

Zahlungen ist die<br />

Atomwaffenoption der<br />

Sanktionspolitik<br />

Havaleh-Kreislauf aus, um nicht den eigenen Zugang<br />

zu den westlichen Finanzmärkten zu riskieren. „So<br />

war auch diese Route für unsere Überweisungen nicht<br />

mehr verfügbar“, sagt Oladi.<br />

Plötzlich wurden einfachste Dinge, wie die Bezahlung<br />

der iranischen Angestellten, zu großen Herausforderungen,<br />

weil das Geld dafür aus London kam. „Wir<br />

fingen an, das Geld per Kurier oder via DHL in bar zu<br />

verschicken. Manchmal muss ich aber auch nach London<br />

fliegen und im Koffer cash die Gehälter für die<br />

kommenden drei Monate zurück nach Teheran bringen“,<br />

sagt Oladi.<br />

Der Bannstrahl aus La Hulpe hat den Iran hart getroffen.<br />

Zusammen mit den Sanktionen gegen den iranischen<br />

Finanzsektor und die Öl exportierenden Unternehmen<br />

hat der Ausschluss aus dem internationalen<br />

Zahlungsverkehrssystem die iranische Wirtschaft erheblich<br />

geschwächt. In den vergangenen zwei Jahren<br />

ist das Bruttoinlandsprodukt des Landes um knapp<br />

ein Drittel gesunken.<br />

DIE GESPRÄCHE MIT DEM IRAN sind noch nicht erfolgreich<br />

abgeschlossen, aber insbesondere die amerikanische<br />

Diplomatie geht davon aus, dass der Swift-Bann<br />

entscheidend war, um die iranischen Politiker zurück<br />

an den Verhandlungstisch zu bringen, und gleichzeitig<br />

den Weg geebnet hat für die Wahl des moderaten<br />

Präsidenten Hassan Rohani im vergangenen Jahr.<br />

Entsprechend groß ist die Versuchung jenseits des Atlantiks,<br />

die Swift-Waffe auch im Ukrainekonflikt gegen<br />

Russland in Stellung zu bringen. „Unter Präsident<br />

Barack Obama setzen die USA in der Außenpolitik<br />

verstärkt auf wirtschaftliche Sanktionen, während<br />

George W. Bush lieber Soldaten geschickt hat“, sagt<br />

Ökonom Aslund.<br />

Wie ernst es die Obama-Regierung mit ihrer Sanktionspolitik<br />

meint, hat sie Anfang Juli unter Beweis gestellt.<br />

<strong>Das</strong> US-Justizministerium verurteilte die französische<br />

Großbank BNP Paribas zu einer Rekordstrafe<br />

in Höhe von knapp sieben Milliarden Euro, weil sie<br />

gegen die von den USA verhängten Sanktionen gegen<br />

den Sudan, den Iran und Kuba verstoßen hatte. „Hier<br />

wurde sehr deutlich gemacht, was passiert, wenn eine<br />

Bank aus dem Westen gegen die von den USA aufgestellten<br />

Regeln verstößt“, sagt Anders Aslund.<br />

Gegen Russland sind die USA schon bisher wesentlich<br />

entschlossener vorgegangen als die Europäer. Die<br />

beiden US-Kreditkartenunternehmen Mastercard und<br />

Visa haben bereits im März die Zusammenarbeit mit<br />

mehreren russischen Banken fristlos beendet. Da wirkt<br />

es eher hilflos, wenn Öl-Oligarch und Putin-Freund<br />

Gennadi Timtschenko demonstrativ ironisch in die russischen<br />

Kameras sagt: „Funktioniert ja prima!“ Er verwende<br />

jetzt einfach das chinesische System UnionPay.<br />

<strong>Das</strong>s dessen Infrastruktur in Russland sehr übersichtlich<br />

ist, verschweigt er lieber.<br />

88<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Bisher schrecken vor allem die Staaten in Mittelund<br />

Osteuropa aufgrund ihrer Abhängigkeit von russischen<br />

Gaslieferungen vor weiteren Maßnahmen zurück.<br />

Die Südeuropäer fürchten einen Rückfall ihrer<br />

krisengeschwächten Volkswirtschaften in die Rezession,<br />

während Großbritanniens Finanzindustrie in der<br />

Londoner City nur ungern auf das lukrative Geschäft<br />

mit den Russen verzichten will. Anders die USA: Sie<br />

plädieren für härtere Sanktionen, ein Ausschluss Russlands<br />

aus dem Swift-System inklusive. Allerdings sind<br />

sie auf die Europäer angewiesen. Denn La Hulpe liegt<br />

ja in Belgien, weshalb das Unternehmen nicht dem<br />

amerikanischen Recht unterliegt.<br />

Foto: Privat<br />

Auch sonst beginnen die bisher verhängten Sanktionen<br />

in Russland offenbar zu wirken. Der Leitindex<br />

der Moskauer Börse hat seit Beginn des Jahres bereits<br />

16 Prozent seines Wertes eingebüßt. Die Europäische<br />

Zentralbank beziffert den Kapitalabfluss aus Russland<br />

seit Ausbruch des Konflikts auf mehr als 160 Milliarden<br />

Euro.<br />

Anders als in Washington steht man in Brüssel<br />

und den anderen europäischen Hauptstädten noch<br />

weitergehenden Finanz- und Wirtschaftssanktionen<br />

eher zögerlich gegenüber. „Die Fälle Iran und Russland<br />

kann man nicht vergleichen, weil das europäische<br />

und das russische Bankensystem wesentlich<br />

enger miteinander verknüpft sind“, sagt Hosuk Lee-<br />

Makiyama vom European Center for International Politics<br />

and Economics in Brüssel, der sich seit langem<br />

mit den Auswirkungen internationaler Sanktionspolitik<br />

beschäftigt.<br />

FALLS DER KONFLIKT in der Ukraine weiter eskaliert<br />

oder Russland sich unabhängige Staaten wie Georgien<br />

oder Moldawien oder sogar die Nato- und EU-Mitglieder<br />

im Baltikum vornimmt, wären schärfere Sanktionen<br />

der Europäer sicher. Schon jetzt schränken EU<br />

und USA den Zugang Russlands zu westlichen Kapitalmärkten<br />

ein. Russische Banken, die mehrheitlich<br />

im Staatsbesitz sind, bekommen keine Darlehen mehr,<br />

wenn sie eine Laufzeit von mehr als 90 Tagen haben.<br />

Die Geldinstitute sind jedoch stark abhängig vom westlichen<br />

Kapitalmarkt. Würde der Hebel bei Swift umgelegt<br />

wie im Fall des Iran, wären die Geldströme des<br />

russischen Finanzsektors gestoppt. Russland wäre von<br />

den Konten der Welt abgeschnitten.<br />

Dies wäre faktisch gleichbedeutend mit einem Exportverbot<br />

für russisches Gas und Öl und träfe die<br />

russische Volkswirtschaft hart. Die weitgehend staatlich<br />

kontrollierte Energieindustrie hat allein im Jahr<br />

2012 durch Exporte 278 Milliarden Euro verdient. <strong>Das</strong><br />

entspricht 80 Prozent des russischen Staatshaushalts.<br />

In La Hulpe hinter den Fassaden der Swift-Zentrale<br />

wird man die drohende Sanktionsspirale wohl mit<br />

Sorge verfolgen. Wird Swift zum zweiten Mal politisch<br />

eingesetzt, könnte dies das Geschäftsmodell des belgischen<br />

Dienstleisters gefährden. Es ist bekannt, dass die<br />

Russen und Chinesen schon mehrfach Gespräche über<br />

den Aufbau eines alternativen Systems geführt haben.<br />

An einer Fragmentierung des Zahlungsverkehrs in einer<br />

globalisierten Welt kann aber insbesondere der<br />

Westen kein Interesse haben, der bisher über seine<br />

Großbanken das Swift-System kontrolliert.<br />

Die Lehre aus dem Kalten Krieg kann für alle Beteiligten<br />

daher nur lauten, dass die „Atomwaffenoption“<br />

der Sanktionspolitik am besten als Drohung<br />

funktioniert.<br />

TOMÁŠ SACHER<br />

leitete das Wirtschaftsressort des tschechischen<br />

Magazins Respekt und beobachtet seit<br />

langem die Beziehungen zwischen Russland<br />

und Europa<br />

89<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


KAPITAL<br />

Interview<br />

„ NUR ALDI IST<br />

DOCH TRAURIG “<br />

Fotos HENNING BODE<br />

Volker Wiem gehört der Supermarkt des Jahres 2014<br />

in Hamburg-St. Georg. Ein Gespräch über Motoröl,<br />

die Lebensmittelkultur in der Discounterrepublik Deutschland<br />

und den Erfolg des Andersseins<br />

90<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


„ In Berlin muss<br />

man leider mit<br />

der Lupe nach<br />

guten Supermärkten<br />

suchen “<br />

Gibt es insgesamt ein regionales Gefälle?<br />

Ja, eindeutig. Je weiter Sie in den<br />

Süden kommen, desto besser werden die<br />

Supermärkte. Ich glaube, das ist auch<br />

kulturell bedingt, weil die Menschen<br />

im Norden und im Osten Deutschlands<br />

lange wenig Wert auf gutes Essen gelegt<br />

haben.<br />

Herr Wiem, warum macht Einkaufen im<br />

Supermarkt fast überall auf der Welt<br />

mehr Spaß als in Deutschland?<br />

Volker Wiem: Es gibt ja diesen<br />

Spruch, dass die Deutschen mehr Geld<br />

für ihr Motoröl ausgeben als für ihr Olivenöl.<br />

<strong>Das</strong> wirkt sich natürlich auch auf<br />

die Supermarktkultur hierzulande aus.<br />

Bei den Franzosen und den Italienern ist<br />

es genau andersrum. Denen ist es nicht so<br />

wichtig, dass es ihrem Auto gut geht, die<br />

kümmern sich lieber ums eigene Wohlergehen:<br />

gute Flasche Wein, guter Käse,<br />

Aufschnitt – die Wertschätzung für gutes<br />

Essen ist in diesen Ländern einfach größer<br />

als bei uns.<br />

Sie betreiben mit Ihrer Familie acht<br />

Edeka-Filialen in Hamburg. Einer Ihrer<br />

Märkte wurde gerade vom Handelsverband<br />

zum „Supermarkt des Jahres 2014“<br />

gewählt. Woran erkenne ich als Kunde,<br />

ob ich einen gut geführten Supermarkt<br />

betrete?<br />

Ich achte als Erstes darauf, ob die<br />

Mitarbeiter aufmerksam und freundlich<br />

sind. Finde ich in allen Abteilungen einen<br />

Ansprechpartner, wenn ich beraten<br />

werden will? Wird Käse und Aufschnitt<br />

so verpackt und aufgeschnitten,<br />

wie ich das möchte? Sieht die Ware an<br />

der Fleisch- und Fischtheke gut aus, sind<br />

Obst und Gemüse frisch? Wenn Sie das<br />

alles bejahen können und dann noch die<br />

Volker Wiem<br />

Dem 44-jährigen Kaufmann<br />

gehört zusammen mit seiner<br />

Frau, seinem Schwager und<br />

seinem Schwiegervater die<br />

Edeka-Kette Niemerszein mit<br />

acht Filialen in Hamburg,<br />

die insgesamt 400 Mitarbeiter<br />

beschäftigt. Schon Wiems<br />

Eltern hatten einen Supermarkt,<br />

sodass er als Baby nicht im<br />

Kinder-, sondern im Einkaufswagen<br />

neben der Kasse schlief<br />

Atmosphäre stimmt, dann sind Sie in einem<br />

guten Supermarkt.<br />

Wenn Sie die deutsche Supermarktkultur<br />

benoten müssten, wo liegen wir da<br />

auf der Schulnotenskala?<br />

Es gibt alles zwischen sehr gut und<br />

mangelhaft. Gerade die von selbstständigen<br />

Händlern betriebenen Läden, die es<br />

ja fast nur noch bei Edeka und Rewe gibt,<br />

werden mit sehr viel Passion und Leidenschaft<br />

geführt, und auch im Kaufhausbereich<br />

gibt es gute Abteilungen. Aber es<br />

gibt eben Regionen, wo man mit der Lupe<br />

nach guten Supermärkten suchen muss.<br />

<strong>Das</strong> gilt für Berlin, aber auch in Hamburg<br />

war es lange Zeit schwierig.<br />

Der deutsche Lebensmittelmarkt wird<br />

mit einem Marktanteil von über 40 Prozent<br />

ja sehr stark von den Discountern<br />

beherrscht. Waren die inzwischen verstorbenen<br />

Gebrüder Albrecht aus Ihrer<br />

Sicht eher gewiefte Gauner oder großartige<br />

Unternehmer?<br />

Als Gauner würde ich sie nie bezeichnen,<br />

und für ihr Lebenswerk Aldi<br />

bewundere ich sie. Mit so günstigen Produkten<br />

so viel Geld zu verdienen, das<br />

muss man erst mal hinbekommen. <strong>Das</strong><br />

ist ja irgendwie fast ein Treppenwitz,<br />

dass die Erfinder des Discounters zu den<br />

reichsten Deutschen aufgestiegen sind.<br />

Aber haben die Aldi-Brüder mit der<br />

Schaffung der Discounterrepublik<br />

Deutschland unserem Umgang mit Lebensmitteln<br />

nicht eher geschadet?<br />

Sicher haben sie das Einkaufsverhalten<br />

der Deutschen geprägt, aber man<br />

muss mit einem solchen Konzept auch<br />

auf eine Mentalität stoßen, die das gut<br />

findet. Sie haben erkannt, was die deutschen<br />

Kunden haben wollten, nämlich<br />

extrem günstige Lebensmittel. Es liegt<br />

aber nicht nur an den Preisen. In Frankreich<br />

ist der Marktanteil der Discounter<br />

wesentlich geringer, obwohl es den Franzosen<br />

wirtschaftlich schlechter geht als<br />

uns. Ich finde es aber traurig, wenn man<br />

sich als Kunde nur auf das Angebot Aldi<br />

beschränkt, weil einem da viel entgeht.<br />

91<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


KAPITAL<br />

Interview<br />

„ Über den<br />

Preis können<br />

wir nicht gewinnen,<br />

aber<br />

wir setzen uns<br />

über bessere<br />

Qualität ab “<br />

Was zum Beispiel?<br />

Viele Leute wollen mir immer erzählen,<br />

dass es bei Aldi und Lidl ausgezeichnete<br />

Weine gäbe. Da bin ich eher skeptisch,<br />

weil Wein eben nicht gleich Wein<br />

ist. Für mich muss hinter einem guten<br />

Wein ein Winzer mit einer Philosophie<br />

stehen, der seine Arbeit mit Leidenschaft<br />

macht und nicht nur auf Profitmaximierung<br />

aus ist. Weingüter, die so arbeiten,<br />

können aber gar nicht in den von den<br />

Discountern benötigten Mengen liefern.<br />

Verstehen Sie sich denn als Verkäufer<br />

oder wollen Sie Ihre Kunden zu besseren<br />

Essern und Trinkern erziehen?<br />

Den Begriff Erziehen mag ich in diesem<br />

Zusammenhang nicht. Wir sind eher<br />

Entwicklungshelfer, die die Kunden liebevoll<br />

überzeugen wollen, dass es noch<br />

mehr gibt als den Einheitsbrei der Lebensmittelindustrie.<br />

Ich finde es sprachlich<br />

schon so furchtbar, dass sich die großen<br />

Hersteller als Industrie verstehen.<br />

Dabei haben wir im Deutschen mit dem<br />

Wort Lebensmittel den schönsten Begriff<br />

für unsere Nahrung. <strong>Das</strong> sind unsere Mittel<br />

zum Leben, mit denen wir viel zu unachtsam<br />

umgehen.<br />

Aber Sie verkaufen doch auch die Marken<br />

der großen Hersteller?<br />

Ja, aber es kommt auf die Mischung<br />

an. Wir beziehen nur etwa die Hälfte<br />

In die <strong>neue</strong>ste Filiale hat Wiem<br />

einen historischen Krämerladen<br />

integriert, den er Bernhard Paul,<br />

Chef des Zirkus Roncalli, aus<br />

dessen Sammlung abgekauft hat<br />

unseres Sortiments über Edeka, den Rest<br />

kaufen wir über eigene Lieferanten oder<br />

direkt beim Erzeuger ein. Da wir solche<br />

Kontakte intensiv pflegen, bekommen<br />

wir für unser Weinsortiment auch Weine,<br />

die sonst nur an den Fachhandel und die<br />

Gastronomie geliefert werden.<br />

Wer sind Ihre schärfsten Wettbewerber?<br />

Ich kümmere mich nicht so sehr um<br />

die Konkurrenz, mich interessieren vor<br />

allem die Wünsche der Kunden. Daher<br />

bin ich auch ständig in den Läden präsent.<br />

Ich weiß, dass ich den Wettbewerb<br />

über den Preis eh nicht gewinnen kann,<br />

aber man kann sich auch durch bessere<br />

Qualität absetzen.<br />

Wie geht das konkret?<br />

Wir haben zum Beispiel die Produkte<br />

vieler regionaler Kleinsterzeuger<br />

im Sortiment. Süßigkeiten und Schokolade,<br />

Gebäck und Kaffee verschiedener<br />

Manufakturen aus Hamburg. Wir haben<br />

als Erste echten Hamburger Gin und<br />

Wodka von zwei verschiedenen kleinen<br />

Brennern verkauft oder das Craft Beer<br />

von der wiederbelebten Elbschlossbrauerei.<br />

Die Jungs von Fritz-Kola haben gegenüber<br />

von einem unserer Märkte mit<br />

der Abfüllung ihrer Limonaden angefangen<br />

und die ersten Kisten noch per Hand<br />

zu uns gebracht. Hier in St. Georg, in unserer<br />

<strong>neue</strong>n preisgekrönten Filiale, betreiben<br />

wir jetzt auch die Bäckerei selbst. Dafür<br />

haben wir uns die besten Sachen von<br />

vier verschiedenen Lieferanten zusammengestellt.<br />

Die Kunden honorieren das,<br />

weil sie wissen, dass andere Supermärkte<br />

ihnen das nicht bieten können. Teilweise<br />

empfehlen sie uns auch <strong>neue</strong> Erzeuger.<br />

Die Bedeutung guter Mitarbeiter und der<br />

Qualität der Ware haben Sie schon betont.<br />

Wie wichtig ist die Präsentation?<br />

Unser Firmenmotto heißt: Anders<br />

sein als die anderen. Die Präsentation<br />

soll die Frische der Ware unterstreichen.<br />

Deswegen haben wir schon seit Jahren<br />

offene Salatbars, die Fertiggerichte zum<br />

Mitnehmen kommen aus unserer eigenen<br />

Küche, und es gibt überall Probierstationen.<br />

In St. Georg lagern wir unseren<br />

Käse in einem gläsernen Klimaraum,<br />

es gibt Sitzecken zum Verweilen, und besonders<br />

stolz bin ich auf unseren historischen<br />

Krämerladen, den wir Roncalli-<br />

Chef Bernhard Paul aus seiner Sammlung<br />

abkaufen konnten.<br />

<strong>Das</strong> Gespräch führte TIL KNIPPER<br />

92<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


STIL<br />

„ Ich kann ein Kleid<br />

in meinem Schrank<br />

sehen und sagen:<br />

1997, Fifth Avenue,<br />

ich war mit diesem<br />

Mann zusammen,<br />

und es war der<br />

schönste Sommer<br />

meines Lebens “<br />

Hatice Akyün erklärt „Warum ich trage, was ich trage“, Seite 104<br />

93<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


STIL<br />

Porträt<br />

OPERATION PINK<br />

70 Jahre Zweiter Weltkrieg: Mit der Modedesignerin Elsa Schiaparelli rückt eine besondere<br />

Zeitzeugin in den Blick – dank ihrer nun auf Deutsch erscheinenden Autobiografie<br />

Von ILONKA WENK<br />

Foto: Condé Nast Archive/CORBIS<br />

Ende August 1944. Nach ihrer Landung<br />

in der Normandie kämpfen<br />

sich die alliierten Truppen vorwärts,<br />

um Europa von der Nazidiktatur<br />

zu befreien. Gerade hat General von<br />

Choltitz in Paris kapituliert. Emigranten<br />

fiebern ihrer Heimkehr entgegen – in<br />

New York auch die 53-jährige Elsa Schiaparelli,<br />

eine der großen Modedesignerinnen<br />

des 20. Jahrhunderts.<br />

Die Wahlfranzösin italienischer Herkunft<br />

begab sich während des Zweiten<br />

Weltkriegs auf US-Mission, wo sie für<br />

den Ruf der französischen Mode kämpfte.<br />

Ihre Motive waren nicht politisch – und<br />

doch ist Elsa Schiaparelli damit zwischen<br />

alle Fronten geraten. Ihre Autobiografie<br />

„Shocking Life“ von 1954 erscheint jetzt<br />

erstmals in deutscher Übersetzung. Im<br />

Ton entspricht sie ihrer Markenfarbe Shocking<br />

Pink – strahlend, vital, offensiv.<br />

Der Reihe nach. Als römische Professorentochter<br />

heiratet sie blutjung einen<br />

Esoteriker, mit dem sie nach New<br />

York geht. Er lässt sie mittellos mit der<br />

Tochter Gogo sitzen. Sie schließt Freundschaft<br />

mit surrealistischen Künstlern wie<br />

Man Ray und Marcel Duchamps und<br />

zieht 1929 mit ihnen nach Paris.<br />

Sie ist eine Autodidaktin. In Paris<br />

baut sie ihr eigenes Mode-Imperium auf.<br />

Ihre bizarren Kleider, von den Surrealisten<br />

Salvador Dalí oder Jean Cocteau mit<br />

Hummern und Schubladen bemalt, machen<br />

Schlagzeilen. Ihr legendäres Skelett-Kleid,<br />

das durch Steppungen das<br />

menschliche Knochengerüst nachzeichnete,<br />

schrieb Modegeschichte. Einfälle<br />

wie breite Schulterpolster, asymmetrische<br />

Dekolletés und der Einsatz von<br />

Reißverschlüssen als Blickfang gehen<br />

auf sie zurück.<br />

Der brisante Teil von Schiaparellis<br />

Leben beginnt im Mai 1940. Die<br />

deutschen Truppen haben bereits die<br />

Beneluxländer überrannt. Nur zu genau<br />

wissen die Pariser Vertreter der<br />

Haute Couture, was ihnen blüht, wenn<br />

die Deutschen auch bei ihnen einmarschieren:<br />

„Heim ins Reich“ – die Gleichschaltung<br />

ihrer französischen Eleganz<br />

mit dem völkischen Geschmack der Besatzer.<br />

Aber Lucien Lelong, selbst Couturier<br />

und Sprecher der Standesorganisation<br />

Chambre Syndicale, verhandelt<br />

geschickt. In einer Art Blase, abgeschottet<br />

vom Ausland, wird die Branche überleben.<br />

Die Pariser Modemacher kleiden<br />

nun keine Hollywoodstars mehr ein, sondern<br />

die Frauen von Hitlers Statthaltern.<br />

DIESE ISOLATION VERANLASST prominente<br />

Modeschöpfer wie Jeanne Lanvin<br />

bei einem Geheimtreffen im unbesetzten<br />

Biarritz in Südwestfrankreich, eine<br />

Kollegin in die USA zu schicken: Elsa<br />

Schiaparelli, denn sie kennt sich dort<br />

aus. Während des Krieges macht es sich<br />

„Schiap“ zur Aufgabe, die Wertschätzung<br />

für die französische Mode von den<br />

USA aus in die Zeit nach dem Krieg hinüberzuretten.<br />

Äußerlich unscheinbar<br />

und ohne Erfahrung als Rednerin startet<br />

sie eine zweimonatige Vortragsreise<br />

mit Modenschauen durch 42 Städte. Zunächst<br />

läuft es zäh, doch am Schluss, in<br />

St. Paul, Minnesota, bejubeln sie Tausende<br />

Zuhörerinnen.<br />

Um dem wachsenden Elend in Europa<br />

zu begegnen, organisiert sie Benefizauktionen,<br />

die Rekordsummen erzielen.<br />

In den New Yorker Räumen von „American<br />

Aid To France“ veranstaltet sie zum<br />

Beispiel eine sensationelle Verkaufsausstellung<br />

mit Werken ihrer Malerfreunde<br />

Salvador Dalí, Marcel Duchamp,<br />

Fernand Léger und Pablo Picasso. Wenn<br />

nur das FBI mit seinem Verfolgungswahn<br />

nicht wäre. Spioniert sie, die gebürtige<br />

Italienerin, etwa für Mussolini? Und ist<br />

der konfiszierte braune Samthut aus Paris,<br />

den sie über Chile an ihre Adresse in<br />

Princeton schicken ließ, nicht Beweis für<br />

ein Komplott auch mit den Nazis?<br />

Elsa Schiaparelli muss sich getrieben<br />

gefühlt haben, wie ein Flüchtling. Zum<br />

Albtraum wird eine Reise, die sie unternimmt,<br />

um in Frankreich eine Medikamentenspende<br />

der Quäker abzuliefern.<br />

Spontan schaut sie in Paris vorbei, wo<br />

ihr das Personal treu die Stellung hält. Im<br />

Zug dorthin nehmen ihr die Deutschen<br />

das Geld ab. Und für den Weg zurück<br />

zum Hafen von Lissabon quer durch die<br />

Vichy-Zone fehlen ihr die Transitvisa.<br />

Schiaparelli entgeht zwar einer Inhaftierung,<br />

doch zurück in den USA ändert<br />

sie erneut ihr Leben: Sie wird Krankenschwester<br />

und betreut in New York<br />

junge Patienten, die an Polio erkrankt<br />

sind – so wie als Kind auch ihre Tochter<br />

Gogo, die sich inzwischen selbst für<br />

Hilfskorps engagiert.<br />

Der Gipfel der Absurdität: Bevor<br />

Schiaparelli nach vier Jahren wieder in<br />

Paris einreisen darf, muss sie sich einem<br />

Verhör stellen. Wie ein Schulmädchen<br />

legt sie Vertretern der Chambre Syndicale<br />

über ihren Einsatz in den USA Rechenschaft<br />

ab. Auch geschäftlich ist die<br />

Lage schwierig. Vor ihrer Pariser Boutique<br />

stehen zwar die GIs Schlange, die<br />

Parfum für ihre Freundinnen kaufen wollen.<br />

Doch insgesamt hat sich der Stil ihres<br />

Labels überlebt. Während ihrer Rivalin<br />

Coco Chanel, einer politischen Opportunistin,<br />

das Comeback gelingt, zieht<br />

Schiaparelli in ihrer tunesischen Villa Bilanz<br />

– unsentimental und mit grimmigem<br />

Humor. So ist ein Zeitdokument entstanden,<br />

das alle Moden überdauert.<br />

ILONKA WENK ist freie Autorin und schreibt<br />

am liebsten über Mode, Kunst und Design.<br />

Sie lebt in München<br />

95<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


STIL<br />

Report<br />

TRAGEN SIE<br />

DEUTSCH?<br />

Von ANNE WAAK<br />

Fotos: Patrick Houi/Hien Le, Laurent Humbert/Madame Figaro/Laif<br />

So sieht es der deutsche Nachwuchs:<br />

Rock und Bluse aus der aktuellen<br />

Kollektion von Hien Le ( links ). Dies<br />

erinnert an die schlichte Eleganz,<br />

für die der Name Jil Sander steht<br />

Frankreich hat Tradition, Italien hat Glamour, die<br />

USA haben Weltläufigkeit. Aber was zeichnet eigentlich<br />

deutsche Mode aus? Eine Erkundung<br />

97<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


STIL<br />

Report<br />

BIRKENSTOCK,<br />

CAMP DAVID<br />

Zwei Marken, an denen<br />

man in Deutschlands<br />

Fuß gängerzonen nicht<br />

vorbeikommt und die auch<br />

im Ausland das Image<br />

deutscher Mode prägen –<br />

auch wenn Camp David<br />

amerikanisch klingt<br />

Vielleicht hat die Mode gerade ihren deutschesten<br />

Moment seit langem. Genauer: die Schuhmode.<br />

Denn wenn es in diesem nun dahinsterbenden<br />

Sommer einen Trend gab, dann hieß er: hässliche<br />

Schuhe. Von hier bis Seoul galten sie auf einmal<br />

als der letzte Schrei. Und da Deutsche sich mit Hässlichkeit<br />

auszukennen scheinen, lief also die halbe Welt<br />

in Birkenstocks und Adiletten rum. Sprich: Orthopädische<br />

Sandalen mit Korksohle und Plastikschlappen<br />

für die Dusche. Die ganz Harten trugen dazu weiße<br />

Tennissocken.<br />

Apropos hässlich: Läuft man durch deutsche Innen-<br />

und Kleinstädte, wird einem schnell klar, wie die<br />

derzeit erfolgreichste deutsche Modemarke heißt. Man<br />

muss nur lesen, was da allenthalben auf Männerbrüsten<br />

und -rücken steht: Camp David. <strong>Das</strong> ist jenes Label,<br />

dem Dieter Bohlen als Werbefigur zum Durchbruch<br />

verhalf – das mit den Dada-Schriftzügen wie „Int. 1963<br />

New York Superior Club“.<br />

Clinton heißt das Brandenburger Unternehmen,<br />

das hinter Camp David und der Damen-Linie Soccx<br />

steht. (Ja, Clinton wie der amerikanische Präsident,<br />

Camp David wie der präsidiale Sommersitz, Soccx<br />

nach der Präsidentenfamilien-Katze). Man veröffentlicht<br />

keine Umsatzzahlen, schon 2011 aber lag der<br />

jährliche Erlös bei mehr als 100 Millionen Euro, heute<br />

dürfte es ein Vielfaches sein. <strong>Das</strong> von drei badischen<br />

Brüdern geführte Familienunternehmen, das 1993 seinen<br />

ersten Laden in Berlin eröffnete und lange Jahre<br />

den ganz überwiegenden Teil seines Umsatzes in Ostdeutschland<br />

machte, verkauft mittlerweile in 250 eigenen<br />

Stores in 20 europäischen Ländern.<br />

EINE ANDERE DEUTSCHE Erfolgsgeschichte ist die von<br />

Philipp Plein. Der ehemalige Münchner Jura-Student<br />

ist innerhalb weniger Jahre zu so etwas wie dem deutschen<br />

Roberto Cavalli geworden, der seinen Namen<br />

als Tattoo auf dem Arm trägt und dessen Kollektionen<br />

hinreichend mit „viel mit viel dran“ beschrieben<br />

sind: Leder, Fell, Strass und Nieten. Die zeigt er auf<br />

der Mailänder Modewoche, verkauft werden sie höchst<br />

Fotos: Camp David, 2014 BIRKENSTOCK GmbH & Co. KG<br />

98<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Fotos: Thuy Pham, Patrick Houi/Hien Le<br />

erfolgreich in 35 eigenen Läden in Monte Carlo, Saint-<br />

Tropez, Cannes, Moskau, Kitzbühel, Seoul, Baku, Dubai,<br />

Miami. Auch bei Philipp Plein ist man geizig mit<br />

Umsatzzahlen, die Zuwachsraten aber sind steigend.<br />

Ein rasantes Wachstum, von dem andere Modefirmen<br />

nur träumen können: Strenesse, seit 2013 Ausstatter<br />

der deutschen WM-Elf, befindet sich seit Anfang<br />

Juli im Insolvenzverfahren. Um das 65 Jahre alte<br />

bayerische, mit rund 20 Millionen Euro verschuldete<br />

Unternehmen zu retten, soll nun ein Finanzinvestor<br />

gesucht werden.<br />

Camp David, Philipp Plein, Strenesse. Prollig,<br />

edelprollig und schnarchöde, das sind anscheinend<br />

die Koordinaten der deutschen Mode. „Deutschland<br />

ist ein sehr großer Markt, wir haben Geld, wir geben<br />

auch sehr viel Geld für Mode aus – im Schnitt mehr<br />

als die Franzosen“, sagt Rike Döpp, Gründerin der<br />

Mode-PR-Firma Agency V mit Sitz in New York, Berlin<br />

und Kopenhagen. „Aber wir kaufen eben s.Oliver<br />

und Esprit, Closed und Schumacher.“ 65 Prozent beträgt<br />

der Marktanteil deutscher Labels am heimischen<br />

Modemarkt. „Was wir nicht haben“, sagt Döpp,<br />

„ist die große Mode. Der Teil, der auf den Catwalks<br />

stattfindet.“<br />

In Frankreich hat Luxusmode mit Häusern wie<br />

Louis Vuitton, Chanel und Yves Saint Laurent Tradition,<br />

in Italien atmet sie mit Gucci, Dolce & Gabbana<br />

und Versace Glamour, die USA stehen mit Labels<br />

wie Tommy Hilfiger oder Michael Kors für Sportlichkeit<br />

und Internationalität. Deutschland hat: Kleidung.<br />

Also Unauffällig-Bieder-Mittelständiges, das man in<br />

der Fußgängerzone kauft: Betty Barclay, Tom Taylor,<br />

Carlo Colucci, Tom Tailor, s.Oliver (das s. steht für<br />

„Sir“) oder, auf der edleren Seite: Gerry Weber, Marc<br />

Cain und René Lezard. Fast ist man geneigt, die Namen<br />

dieser allesamt in den fünfziger bis siebziger Jahren<br />

gegründeten Marken zu Zeugen einer kleinen Mentalitätsgeschichte<br />

der Deutschen zu machen. Der Befund<br />

müsste wohl lauten: Hier sollte eine große Sehnsucht<br />

nach Weltläufigkeit befriedigt werden. Denn keiner<br />

dieser Namen geht auf real existierende Menschen<br />

oder gar Designer zurück.<br />

GANZ IM GEGENSATZ zu den hoffnungsvollen deutschen,<br />

und das heißt immer: Berliner Nachwuchslabels<br />

der jüngeren Generation. International sind<br />

sie von ganz allein, denn heute sind es besonders<br />

Designer mit sogenanntem Migrationshintergrund,<br />

die ein Label gründen: Issever Bahri arbeiten sich<br />

an den Handarbeitstechniken ihrer türkisch-griechischen<br />

Großmütter ab, das Markenzeichen des Bulgaren<br />

Vladimir Karaleev sind offene Säume, der Laote<br />

Hien Le gilt dank der minimalistischen Schnitte seiner<br />

einfarbigen Seidentops und Blousons als legitimer<br />

Nachfolger Jil Sanders – ein Ehrentitel, den auch<br />

das deutsch- vietnamesische Duo Perret Schaad schon<br />

verpasst bekam. Ein Grund, warum ausgerechnet<br />

HIEN LE<br />

Der Laote gab sein<br />

Debüt 2011 auf der Berliner<br />

Fashionweek. Er macht<br />

elegante Mode mit simplen<br />

Schnitten und wird mit<br />

Jil Sander verglichen, die als<br />

deutsche Designerin nach<br />

außen immer noch die größte<br />

Strahlkraft besitzt<br />

Einwanderer den Schritt in die Selbstständigkeit<br />

wagen, sieht Derya Issever, eine Hälfte von Issever<br />

Bahri, in deren weniger ausgeprägtem Sicherheitsdenken.<br />

„Man muss relativ sorglos an eine Label-Gründung<br />

herangehen, es einfach machen. Die Sicherheit,<br />

einen festen Job zu haben, kennen viele Migranten<br />

der zweiten Generation nicht. Und so wachsen auch<br />

ihre Kinder ohne dieses Bedürfnis auf.“<br />

Was nur von Vorteil sein kann. Denn selbst internationaler<br />

Erfolg, wie ihn das deutsch-französische<br />

Duo Augustin Teboul oder Issever Bahri haben, garantiert<br />

kein akzeptables Auskommen. Derya Issever und<br />

Cimen Bahri haben Nebenjobs, Annelie Augustin und<br />

Odély Teboul sind auf Zuschüsse ihrer Familien angewiesen<br />

und auf Preisgelder der Wettbewerbe, die sie<br />

99<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


STIL<br />

Report<br />

MYKITA<br />

2003 gründeten vier<br />

Freunde die Berliner<br />

Brillenmanufaktur,<br />

die ihre Brillen heute<br />

in über 60 Ländern<br />

verkauft. Die Besonderheit:<br />

Die Modelle<br />

kommen ohne Lötund<br />

Schraubverbindungen<br />

aus<br />

regelmäßig gewinnen. „Deutschland ist keine Modenation“,<br />

fasst Annelie Augustin das Problem zusammen.<br />

Augustin Teboul verkaufen, wie viele junge deutsche<br />

Designer, einen Großteil ihrer Sachen in Asien (in ihrem<br />

Fall in Hongkong) und den USA. „Wenn wir merken,<br />

dass der amerikanische Markt gut für uns läuft,<br />

stellen wir uns schon die Frage, ob wir unsere Kollektion<br />

nicht lieber in New York zeigen als in Berlin.“ So<br />

wie Hugo Boss. Aber auch die wenigen anderen Großen<br />

der deutschen Mode zeigen ihre Kollektionen lieber<br />

im Ausland: Jil Sander in Mailand, Wolfgang Joop<br />

in Paris.<br />

LABELS, DIE ZWISCHEN diesen deutschen Klassikern<br />

und den Newcomern angesiedelt sind, wie Kaviar<br />

Gauche oder Lala Berlin, seit mehr als zehn Jahren<br />

erfolgreich, treten ein wenig auf der Stelle. „Für<br />

Investoren sind die Berliner Labels zu nischig und besitzen<br />

zu wenig Strahlkraft“, sagt Modeexpertin Döpp.<br />

„<strong>Das</strong> funktioniert nicht.“<br />

Anders als die Londoner oder New Yorker Modemacher:<br />

Ende 2013 stieg mit LVMH der größte Luxuskonzern<br />

der Welt beim Unternehmen des 30-jährigen<br />

Iren J. W. Anderson ein – gerade fünf Jahre nach<br />

SASKIA DIEZ<br />

Die Münchner<br />

Schmuckdesignerin<br />

verkauft ihre<br />

Kollektionen von<br />

Japan bis Kanada.<br />

<strong>Das</strong> Design ist<br />

klar, verspielt sind<br />

jedoch oft die<br />

Hängungen<br />

dessen Unternehmensgründung. Nur kurz zuvor hatte<br />

LVMH Anteile des Labels des britischen Schuhdesigners<br />

Nicholas Kirkwood und des New Yorkers Joseph<br />

Altuzarra gekauft, genau wie LVMHs direkter Konkurrent<br />

Kering beim schottischen Womenswear-Designer<br />

Christopher Kane. Diese relativen Newcomer sind nun<br />

auf dem besten Weg dahin, international bedeutende<br />

Modehäuser zu werden.<br />

Der Wegzug vom Label Achtland erscheint in diesem<br />

Licht konsequent. Nach nur drei Jahren, in denen<br />

Thomas Bentz und Oliver Lühr die Marke in Berlin aufgebaut<br />

hatten, zogen die Lieblinge der Modepresse zurück<br />

nach London. Als Grund gaben die beiden an, in<br />

Berlin keine internationale Plattform und Zugang zu<br />

internationalen Einkäufern gefunden zu haben. London<br />

dagegen hat in den vergangenen Jahren weltweit<br />

100<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Fotos: Mykita(2), Martin Fengel/Saskia Diez, Julian Baumann, Joachim Bessing (Autorin)<br />

anerkannte Designer wie Peter Pilotto, Mary Katrantzou<br />

und Erdem hervorgebracht, die heute zum Beispiel<br />

bei Saks Fifth Avenue in den USA verkaufen. Die<br />

einzigen deutschen Labels, die exklusive amerikanische<br />

Kaufhäuser führen, heißen Escada und Hugo Boss,<br />

dazu kommen die Abendroben von Talbot Runhof.<br />

Die Zeiten, in denen Escada das weltweit größte<br />

Damenmodeunternehmen und das Juwel in der Krone<br />

deutscher Damenmode war und von Prinzessin Diana,<br />

Kim Basinger oder Demi Moore getragen wurde, sind<br />

nur noch blasse Erinnerung. Hugo Boss immerhin<br />

schafft sich mit der Verlegung seiner Modenschauen<br />

nach New York und der Verpflichtung des Amerikaners<br />

Jason Wu einen stetig wachsenden internationalen<br />

Nimbus.<br />

Aber vor allem eine Marke steht wie keine andere<br />

für deutsche Mode. In dem kürzlich erschienenen Band<br />

„German Fashion“ ( Prestel ) antworten die meisten der<br />

befragten deutschen Stylisten, Designer und Redakteure<br />

auf die Frage, was ihnen zu „deutscher Mode“<br />

einfällt: Jil Sander. <strong>Das</strong> Label, das seit dem privat begründeten<br />

Abgang seiner Gründerin unter der kreativen<br />

Führung des langjährigen Prada-Designers Rodolfo<br />

Paglialunga steht, ist seit den neunziger Jahren<br />

Synonym für aufgeräumte, zeitlose und doch elegante<br />

Mode, die zum nüchternen Image des Landes und seiner<br />

Bewohner passt. Ein klares Profil, das den meisten<br />

anderen Labels zu fehlen scheint.<br />

IM SELBEN BUCH antworten die Betreiber der Berliner<br />

Luxusboutique The Corner, Emmanuel de Bayser<br />

und Josef Voelk, auf die Frage, warum sie keine deutschen<br />

Labels führen: „Wir wählen die Marken aus, die<br />

eine sehr präzise Identität haben – was uns bei vielen<br />

Designern aus Berlin ein wenig fehlt.“ Es mangelt also<br />

an Alleinstellungsmerkmalen. <strong>Das</strong> ist auch Suzy Menkes<br />

aufgefallen, der weltweit wichtigsten Modekritikerin:<br />

„Wenn ich nach Berlin komme, suche ich was<br />

ganz anderes als in Paris und London“, sagt sie. Und<br />

das scheint es noch nicht so richtig zu geben. Während<br />

Antwerpen nach wie vor für avantgardistische Mode<br />

steht, die ein halbes Dutzend Designer wie Walter Van<br />

Beirendonck, Ann Demeulemeester und Dries Van Noten<br />

Anfang der Achtziger von der Antwerp Royal Academy<br />

of Fine Arts aus zum Markenzeichen belgischer<br />

Mode machten, hat deutsche Mode bislang noch kein<br />

Alleinstellungsmerkmal gefunden.<br />

Anders sieht es da schon bei Accessoires aus: Der<br />

Schmuck von Sabrina Dehoff und Saskia Diez ist in<br />

Shops von Japan bis Kanada erhältlich, die Tücher<br />

von Vonschwanenflügelpupke im New Yorker Kaufhaus<br />

Saks, die opulenten, im Erzgebirge herstellten<br />

henkellosen Abendtaschen von Katrin Langer auf der<br />

Website Moda Operandi, die von der Münchnerin Ayzit<br />

Bostan designten Taschen für pb 0110 im superhippen<br />

Pariser Store „The Broken Arm“. Die Brillenfirma Mykita<br />

hat sogar eigene Läden in New York, Tokio, Mexiko<br />

und Kolumbien.<br />

Zu Agency Vs erfolgreichsten Marken in New York<br />

gehört dann auch Nomos Glashütte. Die Firma stellt<br />

erschwingliche mechanische Uhren her. „Sie machen<br />

das, was man von deutschem Design erwartet“, sagt<br />

Döpp. „Langlebiges Handwerk, das nüchtern ist und<br />

visuell trotzdem spannend.“ Genau das, wofür Jil Sander<br />

bis heute steht. „Darin sind wir gut und das nimmt<br />

man uns auch ab.“<br />

Vielleicht hilft in Sachen der großen Mode ein<br />

Blick nach London: Genau 30 Jahre ist es her, dass<br />

der British Fashion Council gegründet wurde, mit dem<br />

Ziel, die Entwicklung des britischen Modedesigns voranzutreiben.<br />

Mittlerweile zählt die London Fashion<br />

Week zu den Big Four, den vier wichtigsten Modewochen<br />

der Welt. Berlins eher bescheidene Fashion Week<br />

hingegen befindet sich gerade mal im achten Jahr ihres<br />

Bestehens.<br />

Derweil baut sich der Camp-David-Konzern Clinton<br />

im brandenburgischen Hoppegarten eine 57 Millionen<br />

Euro teure Europazentrale.<br />

ANNE WAAK<br />

ist freie Autorin<br />

und trägt<br />

selbst kaum<br />

deutsche Mode<br />

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Von der zärtlichen<br />

Verteidigung der Vernunft<br />

Was passiert, wenn der kleine Prinz erwachsen wird?<br />

Emile Vigneron denkt die Geschichte vom kleinen<br />

Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry weiter und<br />

lässt den großen Prinzen Geschichten erzählen über<br />

die Orte, Begegnungen und Erlebnisse während seiner<br />

langen Reise in einer globalisierten Welt.<br />

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STIL<br />

Etikette<br />

GIB MIR MEIN<br />

SIE ZURÜCK!<br />

Unsere Gesellschaft<br />

ist völlig verduzt.<br />

Doch die kollektive<br />

Du-Anrede ist eine<br />

Maskerade, hinter<br />

der sich Verachtung<br />

verbirgt<br />

Von HOLGER FUSS<br />

Illustration SERAFINE FREY<br />

Ein Kollege hatte mich unlängst zu<br />

einem Geburtstagsbarbecue am<br />

Elbufer mitgenommen. Ich war weder<br />

eingeladen noch kannte ich jemanden.<br />

Der Gastgeber wurde 49, wendete<br />

in sommerlichen Dreiviertelhosen und<br />

Sandalen die Steaks auf dem Rost und<br />

begrüßte mich leutselig mit: „Ich bin der<br />

Bernd!“ Ich entbot meine Geburtstagswünsche<br />

und antwortete: „Ich bin der<br />

Herr Fuß!“ Die Vorteile waren dreierlei.<br />

Erstens hatte die ansonsten dahinplätschernde<br />

Gesellschaft ihren running<br />

gag. Zweitens konnte sich die Gästeschar<br />

meinen Namen nachdrücklicher einprägen.<br />

Drittens erfuhr ich umgekehrt lauter<br />

Vornamen, an denen ich das Hamburger<br />

Sie ausprobieren konnte: „Silke, darf ich<br />

Ihnen noch Wein nachschenken?“<br />

Eine Art Volksbelustigung durch paradoxe<br />

Intervention. Üblicherweise neigt<br />

die Generation der Babyboomer, neigen<br />

die Endvierziger und Anfangfünfziger<br />

zum formlosen Umgang miteinander. Sie<br />

marinieren den zwischenmenschlichen<br />

Verkehr in einer Duz-Soße, der schwer<br />

zu entkommen ist. <strong>Das</strong> vertrauliche Ankumpeln<br />

zwischen einander wildfremden<br />

Erwachsenen bei privaten Geselligkeiten<br />

gehört zu den gemäßigten Ausschreitungen<br />

in Sachen Etikettenignoranz.<br />

Weitaus fahrlässiger mutet es an, wie<br />

sich im öffentlichen Raum eine Duz-Hegemonie<br />

ausbreitet. Bei den gut 6000 Reklamekontakten,<br />

die ein Institut pro Tag<br />

und Kopf ermittelt hat, werden wir immer<br />

öfter in der zweiten Person Singular<br />

angesprochen. Ein Smartphone behauptet:<br />

„In dir steckt mehr, als du denkst.“<br />

Eine Bausparkasse tönt: „Du kaufst den<br />

Luxus, dich über alles aufzuregen – nur<br />

nicht über steigende Energiepreise.“ Ein<br />

102<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


schwedisches Möbelhaus mahnt: „Wann<br />

hast du eigentlich das letzte Mal deine<br />

Matratze ausgewechselt?“ Als Besucher<br />

einer deutschen Filiale des Unternehmens<br />

hören wir aber schon mal eine<br />

Lautsprecherdurchsage: „Gesucht wird<br />

der Halter des Fahrzeugs mit dem Kennzeichen<br />

XY. Bitte melden Sie sich umgehend<br />

an der Information!“ Damit die<br />

Älteren beim flüchtigen Hinhören nicht<br />

denken, es würde nach einem Kind gesucht,<br />

wird sicherheitshalber gesiezt.<br />

IM BERUFSALLTAG nimmt das Duzen epidemische<br />

Ausmaße an. In Österreich dominiert<br />

laut einer Umfrage das Du am<br />

Arbeitsplatz zu 58 Prozent. Hierzulande<br />

dürfte es ähnlich sein. Die Verwirrung<br />

ob der Anreden ist dermaßen groß, dass<br />

Praxisratgeber kursieren. Denn, heißt es<br />

bei stil.de, „es ist heute nicht mehr so,<br />

dass man sich im Berufsleben nur noch<br />

dann duzt, wenn man sich schon länger<br />

kennt oder einander sympathisch ist“.<br />

So hat eine Nürnberger Bank vor<br />

Jahren bereits das Du zur Firmenetikette<br />

erklärt – vom Vorstandsvorsitzenden<br />

bis zum Pförtner. „Wir wollen es möglichst<br />

geschlossen tun“, gab der Bankchef<br />

vor. „<strong>Das</strong> müssen wir üben, und es wird<br />

manchmal auch zu Irritationen führen.“<br />

Wohlgemerkt, sagte der Banker: „Es handelt<br />

sich nicht um ein Sympathie-Du, sondern<br />

um einen Ausdruck von Professionalität<br />

im Sinne des englischen You.“<br />

Sattelfest scheint der Mann im Angelsächsischen<br />

nicht gewesen zu sein. You<br />

heißt übersetzt nicht Du. You ist zweite<br />

Person Plural und bedeutet Euch. <strong>Das</strong><br />

altenglische Thou, zweite Person Singular,<br />

war die ursprüngliche Duz-Form. Im<br />

13. Jahrhundert setzte sich in England als<br />

Anrede das vornehme You nach dem Vorbild<br />

französischer Hofsitten durch. <strong>Das</strong><br />

intime Thou blieb in literarischer Form<br />

etwa bei Shakespeare erhalten – und dem<br />

Zwiegespräch mit Gott, wie die Bibelübersetzung<br />

in der King-James-Version<br />

belegt: „How hast thou helped him that<br />

is without power?“, hadert Hiob mit seinem<br />

Schöpfer („Wie sehr stehst du dem<br />

bei, der keine Kraft hat?“).<br />

Kurzum, das You ist keine Umarmung<br />

von jedermann, sondern ein diskreter<br />

Nachhall vergangener Zeiten, da<br />

die Menschen einander auf schickliche<br />

Distanz hielten. In deutschen Landen<br />

Die Tyrannei<br />

der Nähe durch<br />

das Du verdanken<br />

wir der antibürgerlichen<br />

Bewegung der<br />

sechziger Jahre<br />

gingen jahrhundertelang das Ihr und das<br />

Er dem späteren Sie und Du voraus. Adel<br />

wie Klerus wurden seit dem 8. Jahrhundert<br />

ge-ihr-zt: „Erlaubt Ihr, dass ich vortrete?“<br />

Der Fürst selbst pflegte den Pluralis<br />

Majestatis: „Wir erlauben.“ Als sich<br />

im 19. Jahrhundert die ständische Gesellschaft<br />

in eine bürgerliche wandelte,<br />

wurde das Sie gebräuchlich, mithin die<br />

Anrede „Herr“, „Frau“ und „Fräulein“.<br />

Bis nach dem Ersten Weltkrieg siezten<br />

Kinder ihre Eltern.<br />

Die Tyrannei der Nähe durch das Du<br />

verdanken wir der antibürgerlichen Bewegung<br />

der sechziger Jahre. Rock ’n’ Roll<br />

und studentische Linke orientierten sich<br />

am kommunistisch-genossenschaftlichen<br />

Bruder-Du. Siezen galt als spießig, das<br />

universelle Du täuschte ein egalitäres<br />

Miteinander vor. Die Anfänge des westdeutschen<br />

Zwangs-Duzens erlebte ich in<br />

den siebziger Jahren, als die Achtundsechziger<br />

an den Schulen unterrichteten<br />

und ich meinen Lateinlehrer „Niklas“<br />

nennen sollte. Die einstigen Duz-Lehrer<br />

erteilten Zensuren. Die heutigen<br />

Duz-Vorgesetzten sind weisungsbefugt.<br />

Einmal entzog ein Journalistenkollege<br />

seinem Chef aus Protest das Du – und<br />

wurde kurz darauf entlassen.<br />

Unsere verduzte Gesellschaft ist<br />

eine Simulation. Wir spüren die sinkende<br />

Temperatur im täglichen Konkurrenzkampf.<br />

Mit dem Du wollen wir uns<br />

Freundlichkeit, Vertraulichkeit und Nestwärme<br />

vorgaukeln. Dahinter verbirgt<br />

sich die Lebenslüge einer Generation.<br />

Die Babyboomer regieren das Land –<br />

in Wirtschaft, Politik, Kultur. Es sind die<br />

Plusminusfünfzigjährigen, die sich weigern,<br />

erwachsen zu werden. Obwohl<br />

sie Kinder haben, leitende Positionen<br />

einnehmen und erste Altersbeschwerden<br />

beklagen, delirieren sie beharrlich, jung<br />

zu sein. Frauen lassen sich liften, betagte<br />

Kerle laufen in Kapuzenjacken herum.<br />

Wer von Berufs wegen Krawatte trägt,<br />

gibt eine Zwangslage zu erkennen – wie<br />

in einen Konfirmationsanzug genötigt.<br />

Derlei Dresscodes verraten, dass<br />

die Babyboomer noch immer so tun, als<br />

hätten sie mit der Welt der Erwachsenen<br />

nichts gemein. Mit den gesellschaftlichen<br />

Widersprüchen, der sozialen Kälte,<br />

dem Raubbau an der Natur. Es wird Zeit,<br />

dass meine Generation akzeptiert, dass<br />

sie selbst verantwortlich ist für die Verwahrlosung<br />

der Sitten.<br />

Zu den Prototypen der Peter-Pan-<br />

Fraktion gehören der TV-Komiker Stefan<br />

Raab, 47, und der Kulturstaatssekretär<br />

Berlins, Tim Renner, 49. Der vormalige<br />

Musikmanager mit dem Gestus des ewigen<br />

Halbstarken sagt: „Facebook ist für<br />

mich der Kontakt zur Groundcontrol.“<br />

In seiner Behörde arbeitet er an behaglichen<br />

Umgangsformen: „Selbst das für<br />

die Musikbranche notorische Duzen haben<br />

wir in der Verwaltung übernommen.<br />

Wir duzen uns zwar noch nicht alle, sind<br />

aber auf dem besten Wege.“<br />

MEINE ALTERSKOHORTE nennt solch eine<br />

Haltung modern. Tatsächlich steckt hinter<br />

der vermeintlichen Lockerheit ein<br />

verächtlicher Brutalismus. Wir schauen<br />

auf andere Menschen herab wie auf<br />

uns selbst. <strong>Das</strong> Gespür für menschliche<br />

Größe ist uns abhandengekommen. Deshalb<br />

gehen wir achtlos miteinander um,<br />

halten uns für affektgesteuerte Gestalten,<br />

die mutlos auf Verbraucherrechte pochen.<br />

Deshalb entfährt uns das Du.<br />

Eine Rekultivierung des Sie wäre ein<br />

aufschlussreiches kollektives Exerzitium.<br />

Wir kämen raus aus der unechten Nähe<br />

und würden einen wohltuenden Abstand<br />

schaffen, einen Spielraum für unsere<br />

Wahrnehmung, um das Andersartige<br />

beim Mitmenschen zu entdecken. Es<br />

könnte ein Trainingslager sein, um zu lernen,<br />

von Sterblichen wieder grandios zu<br />

denken und Respekt zu empfinden. Ich<br />

kenne Menschen, die das tun. Es sind<br />

Menschen, die gerne siezen.<br />

HOLGER FUSS empfindet als Norddeutscher<br />

seit jeher schon ein Unbehagen wider unpassende<br />

Vertraulichkeiten<br />

103<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


STIL<br />

Kleiderordnung<br />

WARUM<br />

ich trage,<br />

WAS<br />

ich trage<br />

HATICE AKYÜN<br />

Wenn ich als Kind in die Moschee<br />

in Duisburg ging, ließ<br />

ich meine deutsche Welt draußen.<br />

Ich ging mit einem Kopftuch hinein.<br />

Es störte mich nicht, weil das Kopftuch<br />

für mich nichts Bedrohliches hatte.<br />

Meine Großmutter trug eines, meine Mutter<br />

auch. Sobald ich aber raus aus der Moschee<br />

war, zog ich es mir vom Kopf und<br />

stopfte es in meine Tasche. In der Schule<br />

trug ich es nie, das wurde auch nicht von<br />

mir verlangt. Auch meine Schwestern<br />

trugen nur in der Moschee Kopftücher.<br />

Irgendwann wollte mein Vater, dass ich<br />

mich mehr auf die Schule konzentriere.<br />

So ging ich nach der Schule nicht mehr in<br />

die Moschee, und das Kopftuch war damit<br />

auch aus meinem Leben verschwunden.<br />

Ich trage es nur noch, wenn ich Festlichkeiten<br />

in der Moschee besuche, wie<br />

religiöse Trauungen oder das Ende der<br />

Fastenzeit. Junge Frauen tragen heute ihr<br />

Kopftuch mit Stolz. Es ist einerseits ein<br />

Zeichen von Religiosität und andererseits<br />

ihr wichtigstes modisches Accessoire.<br />

Ich bin mit vier Schwestern in einer<br />

türkischen Familie in Deutschland groß<br />

geworden. In der türkischen Gesellschaft<br />

werden Mädchen sehr feminin erzogen.<br />

Wir waren immer von vielen weiblichen<br />

Verwandten umgeben. Ich wuchs mit dieser<br />

Femininität auf. Meine Schwestern<br />

und ich haben schon mit zehn Jahren gelernt,<br />

einen Kajalstift zu benutzen oder<br />

uns mit einem Faden die Augenbrauen<br />

zu zupfen. Wenn man als Mädchen mitbekommen<br />

hat, dass man seine Weiblichkeit<br />

ausleben darf, geht man als Frau im<br />

Erwachsenenalter ganz anders damit<br />

um. Als ich studierte, haben meine deutschen<br />

Freundinnen nicht besonders auf<br />

sich geachtet. Sie trugen weite T-Shirts<br />

und Schlabberhosen, während ich sehr<br />

Hatice Akyün, 45, ist eine deutsche<br />

Autorin und Journalistin.<br />

Ihr Buch „Einmal Hans mit scharfer<br />

Soße“ wurde zum Kinoereignis.<br />

Diesen Monat erscheint ihr viertes<br />

Buch „Verfluchte anatolische<br />

Berg ziegenkacke“<br />

darauf bedacht war, wie ich aussah. Da<br />

war ich natürlich mit meinen offenen<br />

Haaren und hohen Schuhen immer die<br />

Exotin. Mit meiner Kleidung lebte ich<br />

auch meine Emanzipation aus. Weiblich<br />

und selbstbewusst.<br />

Ich habe nicht viele Kleidungsstücke,<br />

aber alles, was ich besitze, jedes Paar<br />

Schuhe und jedes Kleid, kann eine Geschichte<br />

erzählen. Ich kann meinen Kleiderschrank<br />

aufmachen, ein Kleid sehen<br />

und sagen: 1997, Fifth Avenue, ich war<br />

mit diesem Mann zusammen, und es war<br />

der schönste Sommer meines Lebens. Ich<br />

habe Respekt vor meinen Kleidern, denn<br />

sie bewirken etwas, sie lösen Erinnerungen<br />

in mir aus. Für besondere Anlässe<br />

liebe ich den ganz großen Auftritt und<br />

bereite ihn strategisch vor. <strong>Das</strong> ist das<br />

Türkische an mir. Alles muss passen:<br />

<strong>Das</strong> Auto muss vorfahren, der Gang über<br />

den roten Teppich, die Ausstrahlung, die<br />

Körperhaltung und das Lächeln müssen<br />

stimmen. Vornehme Zurückhaltung zeigt<br />

man im Verhalten, nicht im Auftreten.<br />

Peinlich angezogen fühlte ich mich nie.<br />

Vieles würde ich heute nicht mehr tragen,<br />

aber jedes meiner Outfits entsprach zu<br />

seiner Zeit meinem Lebensgefühl.<br />

Aufgezeichnet von LENA BERGMANN<br />

Foto: Heike Steinweg<br />

104<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


SALON<br />

„ Der Georgier ist<br />

der Fuck-off-Genießer<br />

vor dem Herrn. <strong>Das</strong><br />

kannst du wirklich mit<br />

Italien vergleichen “<br />

Die Schriftstellerin Nino Haratischwili über ihr Heimatland Georgien, dessen Geschichte im<br />

20. Jahrhundert sie in einem <strong>neue</strong>n 1300-Seiten-Roman erzählt, Seite 108<br />

105<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

DIE WERTARBEITERIN<br />

Die <strong>neue</strong> Chefin des Grimme-Instituts, Frauke Gerlach, will Fernsehen und Internet<br />

dauerhaft kritisch begleiten. Früher ließ sie sich von der Staatsmacht wegtragen<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

Foto: Frank Schoepgens für <strong>Cicero</strong><br />

Ob Kurt Krömer einmal im Jahr<br />

nach Marl wallfahrt, vielleicht<br />

mit Bastian Pastewka und Christian<br />

Ulmen, Joko und Klaas im Gefolge?<br />

Die Spaßmacher haben Grund, der mittelgroßen<br />

Stadt in Nordrhein-Westfalen<br />

auf Knien zu danken, denn hier, zwischen<br />

dem Einkaufszentrum „Marler<br />

Stern“ und zwei beeindruckend hässlichen<br />

Betontürmen auf schmalem Säulenfuß,<br />

dem Marler Rathaus, residiert das<br />

Grimme-Institut. Dessen jährlich verliehener<br />

Grimme-Preis prämiert „vorbildliches,<br />

modellhaftes“ Fernsehen, und die<br />

fünf Komiker haben ihn schon erhalten.<br />

Seit Mitte des Jahres hat das Haus<br />

eine <strong>neue</strong> Herrin, erstmalig ist es eine<br />

Frau, erstmalig eine Politikerin, von den<br />

„Grünen“. So stand es zu lesen. Frauke<br />

Gerlach widerspricht: Weder habe sie ein<br />

Parteibuch noch sei sie Politikerin. Sie<br />

finde nur ihre Werte am ehesten bei den<br />

Grünen wieder. Darum arbeitete sie von<br />

1996 bis 1998 im Büro des grünen Bundestagsabgeordneten<br />

Gerald Häfner und<br />

war die vergangenen 15 Jahre Justiziarin<br />

und stellvertretende Geschäftsführerin<br />

der Grünen-Fraktion im Düsseldorfer<br />

Landtag. <strong>Das</strong>s sie nun bei Marl eine<br />

Bleibe sucht, hängt eher mit der Medienkommission<br />

des Landes zusammen. Die<br />

gebürtige Kielerin stand dem Gremium,<br />

das auch über die Belegung der Senderplätze<br />

im Kabelfernsehen entscheidet,<br />

seit 2005 vor. Damals nannte sie längst<br />

einen Fernseher ihr Eigen.<br />

Zuvor, in den wilden achtziger Jahren,<br />

hatte sie gegen die Einführung des<br />

Privatfernsehens unterschrieben. Und<br />

gegen den Nato-Doppelbeschluss, zu<br />

dessen Verhinderung sie im niedersächsischen<br />

Nordenham einen Platzverweis<br />

in Kauf nahm. „Ich war in einer Bezugsgruppe,<br />

so hieß das damals. Wir hatten<br />

trainiert, wie man sich wegtragen lässt.“<br />

Ein Mensch der Bewegungen sei sie, nicht<br />

der Parteien. Freiheit ist ihr wichtiger als<br />

Linientreue. Sie will wissen, diese groß<br />

gewachsene Frau mit der Wuschelfrisur<br />

und dem verschmitzt zu nennenden Lächeln,<br />

wie „politische Steuerungsprozesse“<br />

funktionieren. <strong>Das</strong> Studium der<br />

Jurisprudenz sollte Klarheit schaffen.<br />

Gerlachs Überzeugungsgerüst lautet:<br />

Gesetze brauchen Normen, Systeme<br />

brauchen Regeln und Gesellschaften<br />

Werte. Im Bereich der digital zugespitzten<br />

Medien erweisen sich Gesetze zunehmend<br />

als stumpf. In ihrer Dissertation<br />

von 2011 folgerte sie, dass „in Zeiten<br />

des Internets“ komplexe Prozesse weniger<br />

vom Recht als von Geld und Macht<br />

gesteuert werden. Ergo – da schließt sich<br />

der Kreis zu Marl – muss die Gesellschaft<br />

sich ihrer Werte gewiss sein. <strong>Das</strong> Recht<br />

allein kann die Normen des Zusammenlebens<br />

weder retten noch hervorbringen.<br />

FRAUKE GERLACH will deshalb das<br />

Grimme-Institut zu einem Ort des permanenten<br />

Mediendiskurses machen.<br />

Qualität bedeute nicht nur, dass eine<br />

Fernseh- oder Onlineproduktion handwerklich<br />

herausrage – „Man kann auch<br />

eine Hinrichtung gut erzählen“ –, Qualität<br />

bedeute auch, Werte einzuhalten,<br />

Menschen nicht herabzusetzen, Minderheiten<br />

nicht zu kujonieren. Es wäre ein<br />

Gang zurück zu den Quellen, verdankt<br />

sich doch der 1961 ins Leben gerufene<br />

Grimme-Preis einer medienpädagogischen<br />

Initiative des deutschen Volkshochschul-Verbands.<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> Medium sollte<br />

einen Qualitätslotsen bekommen.<br />

Der Kielerin ist es wichtig, das Fernsehen<br />

ebenso wie das Internet kritisch<br />

zu begleiten. „Wir müssen die gesellschaftliche<br />

Entwicklung, die mit gewissen<br />

Formaten einhergeht, beobachten“ –<br />

„Dschungelcamp“ und „Bachelorette“<br />

dürfen sich auf Marler Seitenblicke<br />

freuen, jenseits von Grimme-Preis und<br />

Grimme Online Award.<br />

Zentral für diese Neupositionierung<br />

als immerwährender Ständetag der audiovisuellen<br />

Medien soll eine Kooperation<br />

mit einer renommierten nordrhein-westfälischen<br />

Universität sein.<br />

Landesmittel von 200 000 Euro jährlich<br />

stehen bereit, „um den Themenschwerpunkt<br />

‚Medien und Gesellschaft im digitalen<br />

Zeitalter‘ zu bearbeiten“. Doktoranden<br />

sollen sich künftig in Marl<br />

tummeln, dessen Ruf lauter als bisher in<br />

der Hochschullandschaft erschallen darf.<br />

Frauke Gerlach schlägt Pflöcke ein.<br />

Grenzen der Ideen gibt es kaum,<br />

Grenzen des Machbaren sehr wohl. Auf<br />

Rosen ist das Institut mit seinen 33 Mitarbeitern<br />

nicht gebettet. Hoffnungsfroh<br />

stimmt Frauke Gerlach, dass es seit diesem<br />

Jahr vom Land Nordrhein-Westfalen<br />

mit 1,12 Millionen Euro institutionell<br />

statt projektbezogen gefördert wird. Seit<br />

Juli ist auch eine jährliche Förderung von<br />

850 000 Euro durch die Landesanstalt<br />

für Medien festgeschrieben. Eine „kurzund<br />

mittelfristige Planungssicherheit“ sei<br />

gegeben bei insgesamt „sehr knapp bemessener<br />

finanzieller Ausstattung“.<br />

Der Frau, der es um Freiheit, um<br />

Werte, um Normen im Angesicht der<br />

Flimmerschirme geht, kommt am leichtesten<br />

das Wort Struktur über die Lippen.<br />

„Ich bin ein Strukturmensch“, sagt<br />

sie am Ende eines Marler Nachmittags,<br />

sie verwandle gerne Unordnung in Ordnung.<br />

Strukturen sorgten für einen „ganz<br />

alten Wert“, für Verlässlichkeit. Womit<br />

der Wert aller Werte benannt wäre.<br />

ALEXANDER KISSLER studierte<br />

Medienwissenschaft, nicht Jura, um ebenso<br />

den Strukturen der Welt auf die Spur zu kommen.<br />

Heute leitet er das Ressort Salon<br />

107<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

TIFLIS? POTI? HAUPTSACHE ITALIEN<br />

Die Schriftstellerin Nino Haratischwili stammt aus Georgien und schreibt auf Deutsch.<br />

Ihr <strong>neue</strong>r Roman rückt Europa auf 1300 Seiten zurecht und vermisst das 20. Jahrhundert<br />

Von FRÉDÉRIC SCHWILDEN<br />

Wir sitzen in Hamburg auf einer<br />

Bank vor einem Café. Es regnet,<br />

als wolle die Welt untergehen.<br />

Dicke Tropfen, die fast wehtun,<br />

wenn sie den Kopf treffen. Zum Glück<br />

sind da Sonnenschirme. Und zum Glück<br />

macht Nino Haratischwili das Ganze<br />

nichts aus. Wahrscheinlich ist sie ein Regenmensch.<br />

Es raucht sich einfach besser,<br />

wenn es regnet.<br />

Also raucht sie und trinkt einen Latte<br />

macchiato und eine Rhabarberschorle.<br />

Am 1. September erscheint ihr dritter<br />

Roman „<strong>Das</strong> achte Leben (Für Brilka)“.<br />

Auf 1280 Seiten legt Haratischwili eine<br />

106 Jahre dauernde georgische Familiengeschichte<br />

vor. Eine Chronik über das<br />

Jahrhundert der größten, der schrecklichsten<br />

und wichtigsten Umstürze.<br />

Zum Teil ist es ihre Geschichte. „Autobiografisch,<br />

das möchte ich klarstellen,<br />

ist dieser Roman nicht“, sagt sie. Dennoch<br />

ist es unumgänglich, die eigene<br />

Geschichte zu erzählen, wenn man die<br />

Geschichte des Landes, aus dem man<br />

stammt, erzählen will. 1983 wird Nino<br />

Haratischwili in der Hauptstadt Tiflis geboren.<br />

Diese liegt für den Kontinentaleuropäer<br />

ebenso wie etwa die Hafenstadt<br />

Poti irgendwo drüben im Osten. Ein nicht<br />

greifbares Land, arm vielleicht. Tatsächlich<br />

ist Georgien die Schnittstelle zwischen<br />

Europa und Asien.<br />

In ihrem Buch schreibt sie viele Sätze<br />

über Georgien, Sätze, die kurz, aber stark<br />

sind. „Ich finde“, schreibt sie, „dass unser<br />

Land durchaus sehr komisch sein kann<br />

(nicht nur tragisch, will ich damit sagen).“<br />

Sie erzählt die Entstehungsgeschichte<br />

Georgiens: Auf einem Jahrmarkt hatten<br />

die Menschen einst um die Gunst Gottes<br />

buhlen müssen. Wer am lautesten schrie,<br />

durfte sich ein Land aussuchen. Ein Mann<br />

mit Bart und Wampe, der bereits Wein<br />

intus hatte, verschlief die Aufteilung der<br />

Erde. Gott weckte ihn und wollte wissen,<br />

warum der Mann kein Interesse an einem<br />

eigenen Land habe. Der Mann antwortete,<br />

er sei zufrieden, die Sonne scheine,<br />

er begnüge sich mit dem, was übrig bleibt.<br />

Gott hatte als Urlaubssitz für sich den<br />

schönsten Fleck der Erde zurückbehalten.<br />

Mit Flüssen, Wasserfällen, Früchten<br />

und „dem besten Wein der Welt“ – das<br />

schreibt Haratischwili wirklich –, und so<br />

erhielt der dicke Mann Georgien.<br />

„<strong>Das</strong> achte Leben“ besteht aus sieben<br />

einzelnen Büchern, die die Namen<br />

der Protagonisten tragen. „Buch 1 – Stasia“<br />

oder „Buch 3 – Kostja“. <strong>Das</strong> letzte<br />

Buch heißt „Buch 8 – Brilka“ und besteht<br />

aus drei weißen Seiten. Es ist die ungeschriebene<br />

Zukunft eines jungen Mädchens.<br />

Die einzelnen Bücher springen<br />

zwischen Berlin-Wedding im Jahr 2006,<br />

Sankt Petersburg vor der Oktoberrevolution<br />

oder sonstwo in einer Welt zwischen<br />

modernem Europa und Sowjetunion.<br />

HARATISCHWILI KOMMT 1995 das erste<br />

Mal nach Deutschland. Die Mutter sucht<br />

Arbeit im Westen. In der heimatlichen<br />

Schule hatte sie Deutsch gelernt. Der Vater<br />

geht in die Ukraine. Sie bleibt zwei<br />

Jahre, Nordrhein-Westfalen, kleines Dorf.<br />

Mit 14 kehrt sie zurück nach Georgien,<br />

macht ihr Abitur. 2003 beginnt sie in<br />

Hamburg Theaterregie zu studieren. Bis<br />

heute hat Haratischwili mehr als nur eine<br />

Hand voll Preise gewonnen, den Autorenpreis<br />

des Heidelberger Stückemarkts etwa,<br />

den Adelbert-von-Chamisso-Preis, den<br />

Kranichsteiner Literaturförderpreis. Ihre<br />

Stücke werden in Deutschland und Georgien<br />

gespielt. Im November feiert „Land<br />

der ersten Dinge“ am Deutschen Theater<br />

in Berlin Premiere. Haratischwili kann<br />

nicht still sitzen. Sie muss schreiben.<br />

Der Regen prasselt noch auf die Sonnenschirme.<br />

Haratischwili ist schwarz<br />

gekleidet. Schwarze, offene Schuhe, rot<br />

lackierte Zehen, schwarzes Oberteil,<br />

schwarze Haare. Von weitem würde man<br />

vielleicht denken, sie sei eine grimmige<br />

Frau. Aber wenn sie lacht, lacht sie wie ein<br />

Hühnchen, das Geburtstag hat. „Der Georgier<br />

ist der Fuck-off-Genießer vor dem<br />

Herrn“, sagt sie und lacht. „<strong>Das</strong> kannst<br />

du wirklich mit Italien vergleichen.“ Sie<br />

redet über die Mentalitätsunterschiede<br />

zwischen Ost und West. Erklärt den Tamada,<br />

den georgischen Tischanführer, der<br />

bei Gelagen bestimmt, wann getrunken<br />

wird. Erzählt von ihrem Lieblingsgericht<br />

„Hühnchen in Walnusssauce“.<br />

Ihr dritter Roman ist eine Frage an<br />

sich selbst. Wer bin ich? Wo komme ich<br />

her? Um das zu beantworten, kartografierte<br />

Haratischwili ein ganzes Jahrhundert.<br />

Für die Recherchen besuchte sie<br />

russische Bibliotheken, Moskau („der<br />

Horror, etwas Graues, Grausames, Unfreundliches“),<br />

Sankt Petersburg („offener,<br />

freundlicher, schöner, europäischer“).<br />

Collagenartig schreibt sie<br />

manchmal. Wenn sowjetische Propagandaposter<br />

mitten im Text auftauchen.<br />

Poppig, wenn sie vom Kiffen und Pink-<br />

Floyd-Hören hinter dem Eisernen Vorhang<br />

schreibt. Historio grafisch, wenn<br />

man Zeuge von Revolutionen wird.<br />

„Wir finden einander“ … bricht die<br />

Erzählung von „Buch 7 – Niza“ ab. Nino<br />

Haratischwili hat sich gefunden. In einem<br />

großen, sprachgewaltigen Buch, das Georgien<br />

näher an Europa rückt. Von Europa<br />

schreibt die Autorin einmal als einem<br />

„Kontinent der Gleichgültigkeit“.<br />

Aber dass ihr das alles andere als egal<br />

ist, zeigt der Roman.<br />

FRÉDÉRIC SCHWILDEN ist Reporter und<br />

Autor aus Berlin. Den Bart hat er schon,<br />

an der Wampe muss er noch arbeiten, um<br />

Georgier zu werden<br />

Foto: Henning Bode für <strong>Cicero</strong><br />

108<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


SALON<br />

Gespräch<br />

„ SHAKESPEARE<br />

Thomas Ostermeier ( links )<br />

und Hartmut Lange schätzen<br />

Shakespeare – aus sehr<br />

verschiedenen Gründen<br />

110<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


ALTERT NIE “<br />

450 Jahre Shakespeare:<br />

Wie lässt sich der größte<br />

Dichter aller Zeiten<br />

entschlüsseln? Regisseur<br />

Thomas Ostermeier und<br />

Schriftsteller Hartmut<br />

Lange über Poesie,<br />

Politik und den ewigen<br />

Zwang zur Verstellung<br />

Moderation ALEXANDER KISSLER<br />

Fotos THOMAS MEYER<br />

Christian Wulff griff auf William Shakespeare<br />

zurück, um seine Zeit als Bundespräsident<br />

zu bilanzieren: „Mir ist mehr<br />

Unrecht geschehen, als ich je Unrecht<br />

getan habe.“ So drückt der tragisch<br />

scheiternde König Lear seinen gerechten<br />

Zorn gegen eine ungerechte Weltordnung<br />

aus: „I am a man more sinned<br />

against than sinning.“ Ist Wulff eine Figur<br />

von shakespearescher Größe?<br />

Hartmut Lange: Er ist es insofern,<br />

als ich mich angesichts der massiven<br />

Anwürfe der Presse gefragt habe, ob er<br />

sich nicht irgendwann am Fensterkreuz<br />

erhängt. Ansonsten hat er mit diesem<br />

Zitat immerhin gezeigt, dass er gebildet<br />

ist. Einen Shakespeare-Kenner würde ich<br />

ihn nicht nennen.<br />

Sie hingegen, Herr Ostermeier, haben<br />

den „Sommernachtstraum“, „Maß für<br />

Maß“, „Hamlet“ und „Othello“ inszeniert.<br />

Demnächst werden Sie sich „Richard<br />

III.“ vornehmen. Warum ist das<br />

Theater vernarrt in Shakespeare?<br />

Thomas Ostermeier: Ganz einfach:<br />

Weil er der komplizierteste Autor überhaupt<br />

ist.<br />

Inwiefern?<br />

Ostermeier: Seine Stücke haben sehr<br />

unterschiedliche Echoräume, die es freizulegen<br />

gilt. Ich inszeniere ihn, um ihn<br />

besser zu verstehen. Erst auf der Bühne<br />

entkleidet sich vieles, was man bei der<br />

Lektüre nicht begreift. Der dreidimensionale<br />

Raum macht es offenbar.


SALON<br />

Gespräch<br />

Was wird da offengelegt?<br />

Ostermeier: Die zwei wichtigsten<br />

Gründe für meine Lust an Shakespeare<br />

sind die politische Dimension der Stücke<br />

und die Beziehung der Figuren zum<br />

Zuschauerraum. Beides hängt zusammen:<br />

indem die Figuren wissen, dass<br />

ihnen zugeschaut wird, und indem sie<br />

sich gegenseitig dabei zugucken, wie sie<br />

sich verstellen. Der Zwang zur Verstellung<br />

kommt aus der Situation. Darin war<br />

Shakespeare ein Meister. Dieses Maskenhafte,<br />

dieses Schauspielen in der Öffentlichkeit<br />

hat eine eminent politische<br />

Bedeutung.<br />

Sie, Herr Lange, nannten Shakespeare<br />

jüngst „den Größten aller Zeiten“. Laut<br />

Ralph Waldo Emerson schrieb er den<br />

„Text des modernen Lebens“.<br />

Lange: Herr Ostermeier spricht als<br />

Mann des Theaters. Sie können aber<br />

die Stücke auch wie einen Roman lesen.<br />

Mich fasziniert er als literarisches Phänomen,<br />

da ist Shakespeare jemand, der nie<br />

altert. Er bleibt archetypisch. Er hat im<br />

16. Jahrhundert die ganze Psychopathologie<br />

der Mächtigen, aber auch die Psychopathologie<br />

des Privaten vorweggenommen,<br />

alles, was nach ihm kam, von<br />

Goethe bis Ibsen. Im Unterschied zu diesem<br />

aber hatte er einen großen Sinn für<br />

Dichtung. Shakespeare ist in Blankverse<br />

geschmiedeter Geist.<br />

Auf Blankverse wartet man in Ihren Inszenierungen<br />

vergebens. Ihr „Sommernachtstraum“<br />

von 2006 sah sich der<br />

Kritik ausgesetzt, Shakespeare sei bloß<br />

Vorwand für zappeliges Körpertheater.<br />

Ostermeier: Der „Sommernachtstraum“<br />

für das Theaterfestival Athen war<br />

ein spezielles Projekt in Zusammenarbeit<br />

mit der in Berlin lebenden argentinischen<br />

Choreografin Constanza Macras.<br />

Meine gewissermaßen seriöse Beschäftigung<br />

mit Shakespeare beginnt danach,<br />

und da spielt die Sprache eine unwahrscheinlich<br />

große Rolle. Wenn Marius von<br />

Mayenburg, Autor und Dramaturg an der<br />

Schaubühne, eine Übersetzung erstellt,<br />

versucht er immer, die Form aus dem<br />

Stoff heraus zu entwickeln, nicht umgekehrt.<br />

Ich habe eine viel zu große Demut<br />

vor und viel zu viel Bewunderung<br />

für Shakespeare, als dass ich mich einem<br />

sprachlichen Einerlei überließe. Vieles<br />

„ Mir bereitet<br />

es ein großes<br />

Vergnügen, den<br />

bildungsbürgerlichen<br />

Kanon<br />

in gegenwärtigen<br />

Welten<br />

zu inszenieren “<br />

Thomas Ostermeier<br />

bleibt unübersetzbar. Wenn Hamlet sagt,<br />

„I’m too much in the sun“, schwingt mehr<br />

mit, als wir im Deutschen ausdrücken<br />

können: der Sohn, die Sonne an sich, die<br />

Sonne als Herrschersymbol, das von der<br />

Hitze ausgetrocknete Gehirn. Wir wollen<br />

Shakespeares geistige Welt für die Ohren<br />

heutiger Zuschauer nicht vereinfachen,<br />

aber verständlich machen.<br />

Muss es deshalb Prosa sein?<br />

Ostermeier: Durch die Prosaübersetzungen<br />

sind wir näher am inhaltlichen<br />

Gehalt, als wenn wir uns an deutschen<br />

Blankversen versuchten. Die Worte<br />

in der englischen Sprache haben wesentlich<br />

weniger Silben als in der deutschen.<br />

Wenn man versucht, die gleiche<br />

Silbenanzahl im deutschen Blankvers zu<br />

bedienen, kommt es unweigerlich zu verkürzten<br />

oder sinnentstellenden Sätzen.<br />

Noch schlimmer wird es, wenn man noch<br />

den Reim am Versende einhalten will.<br />

Dies ist auch einer der Gründe, warum<br />

die klassischen Übersetzungen Shakespeares<br />

so unverständlich sind. Und wenn<br />

man im Theater nichts versteht, schaltet<br />

man nach kürzester Zeit ab.<br />

In Ihrem „Hamlet“, Herr Ostermeier,<br />

sagt Ophelia, der Prinz habe ihr „seine<br />

Zuneigung signalisiert“. <strong>Das</strong> ist flapsig.<br />

Lange: Es ist eben falsch, Shakespeare<br />

in Prosa zu übersetzen. Die Unerlöstheit<br />

seiner Figuren ist eingebunden in<br />

Sprengkapseln des Poetischen. Die Form<br />

gehört zur Substanz. Wenn Hamlet den<br />

„Sein oder Nichtsein“-Monolog in Prosa<br />

hielte, wäre er schon in einer Psychoanalyse<br />

gewesen, wo man ihm gesagt hätte:<br />

Versuchen Sie doch, vom Blankvers wegzukommen,<br />

dann geht es Ihnen besser.<br />

Nein. In den Wänden des Blankverses<br />

muss Hamlet mit sich zurechtkommen.<br />

Deshalb ist Shakespeare letztlich nicht<br />

zu übersetzen. Man muss ihn nachdichten,<br />

wie es die großen Romantiker getan<br />

haben. Dann wird er „unser Shakespare“.<br />

Darum konnte Ferdinand Freiligrath<br />

im Vormärz dichten: „Deutschland ist<br />

Hamlet.“ Jede Nacht nämlich gehe „die<br />

begrabne Freiheit um“. Haben wir Deutschen<br />

einen besonderen Bezug zu diesem<br />

gedankenvollen, tatenarmen Helden?<br />

Immerhin hat ihn ein Studium in<br />

Wittenberg zum Zauderer gemacht.<br />

Ostermeier: Marcel Reich-Ranicki<br />

sagte einmal, jede Zeit müsse ihren<br />

„Hamlet“ entdecken. Insofern ist „Hamlet“<br />

an die jeweilige Zeit und den jeweiligen<br />

Ort gebunden und nicht spezifisch<br />

deutsch. <strong>Das</strong> Zaudern möchte ich aber<br />

ein wenig in Schutz nehmen: Es ist eine<br />

entscheidende Kulturleistung, dass Hamlet<br />

immer wieder vor dem Mord zurückschreckt.<br />

Im protestantischen Wittenberg<br />

ist ihm der katholische Glaube, der<br />

in dieser Zeit auch einen großen Anteil<br />

Aberglaube hatte, ausgetrieben worden.<br />

Nun aber redet auf einmal ein Geist zu<br />

ihm und drängt zur rächenden Tat. Wie<br />

soll er sich da verhalten? Aus Hamlet<br />

spricht eine metaphysische Unsicherheit.<br />

Ihm kam das Weltbild abhanden.<br />

112<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Lange: Die Ursache des unglücklichen<br />

Bewusstseins von Hamlet – dass das<br />

Denken Feiglinge aus uns allen macht –<br />

begründet erst die Zivilisation des Menschen.<br />

Für Bertolt Brecht hingegen, der<br />

in seinen Dramen das Archetypische<br />

durch Ideologie ersetzt, war dieses Zurückschrecken<br />

vor der Tat eine logische<br />

Schwäche. Hamlet erschien ihm als Zauderer,<br />

den man in einer Parteiversammlung<br />

zur Ordnung rufen müsste.<br />

Zu den überzeitlichen Erkenntnissen<br />

gehört, was Sie so benannten: An den<br />

Dramen Shakespeares könne man studieren,<br />

„wie die Triebhaftigkeit des<br />

Menschen ( … ) ausschließlich durch das<br />

Denken pervertiert wird“. Ermuntert<br />

uns Shakespeare, weniger zu denken?<br />

Lange: Nein, es gibt da keinen Ausweg.<br />

Menschliches Existieren bleibt eine<br />

große Unvereinbarkeit. Diese Unvereinbarkeit<br />

müssen wir in eine menschenfreundliche<br />

Haltung sublimieren. Wenn<br />

wir stattdessen eine gerechtere gesellschaftspolitische<br />

Ordnung schaffen wollen,<br />

landen wir in China oder Nordkorea.<br />

Da wäre die politische Dimension perdu.<br />

Ostermeier: Shakespeare ist immer<br />

politisch. Der Soziologe Ulrich Beck<br />

prägte 2006 den Begriff der „Generation<br />

Hamlet“ und meinte die damals 30- bis<br />

40-Jährigen, die eine Welt gestalten sollen,<br />

„die auf entmutigende Weise kompliziert<br />

geworden ist“. Wie Hamlet haben<br />

sie das diffuse Gefühl, etwas sei faul,<br />

wissen aber nicht, wo der Feind steht. Sie<br />

spüren nur diesen Zwang zur Handlung<br />

in einer überkomplexen Welt.<br />

Lange: Es kommt aber nicht darauf<br />

an zu handeln, sondern ethisch, menschenfreundlich<br />

zu handeln.<br />

Ostermeier: <strong>Das</strong> Unwohlsein in Europa<br />

speist sich momentan vor allem daraus,<br />

dass die von Ihnen genannte gerechte<br />

Ordnung weit entfernt scheint.<br />

Lange: Da muss ich entgegnen: Der<br />

Mensch, der sozial befreit ist, fängt an,<br />

existenziell zu leiden.<br />

Ostermeier: Hamlet leidet, weil, wie<br />

er sagt, „the time is out of joint“. Die<br />

Übersetzung, die Welt sei aus den Fugen,<br />

trifft es nicht. Bei uns heißt es, „die Zeit<br />

ist ganz verrenkt“. Eine Zeit, ein Zeitalter<br />

kann man vielleicht – anders als die<br />

Welt – wieder einrenken.<br />

Lange: Eine solche Nachdichtung ist<br />

legitim. Grundsätzlich aber darf der Regisseur<br />

nicht im Innovationswahn versinken.<br />

Er muss wissen, dass der große<br />

schöpferische Tigersprung von Shakespeare<br />

kommt. Darum gefiel es mir nicht,<br />

Herr Ostermeier, dass in Ihrer Inszenierung<br />

von „Hedda Gabler“ die Menschen<br />

so absolut gegenwärtig waren, auch in<br />

den Kostümen. Bei Ibsen muss ich das<br />

Zeitalter von Edvard Munch vor mir sehen,<br />

muss der Tigersprung in die Frühzeit<br />

der Psychoanalyse gerichtet sein.<br />

Ostermeier: Mir bereitet es ein großes<br />

Vergnügen, den bildungsbürgerlichen<br />

Kanon in gegenwärtigen Welten zu inszenieren.<br />

Ich würde nie sagen, so muss<br />

man es machen.<br />

„ Der Wahn,<br />

innovativ sein<br />

zu müssen, ist<br />

das schlimmste<br />

Gift im Kulturbetrieb.<br />

Bitte rutschen<br />

Sie nicht in<br />

diese Fallgrube! “<br />

Hartmut Lange<br />

Als Sie „Maß für Maß“ inszenierten, die<br />

bittere Komödie über die Korruption der<br />

Macht, wurde mehr über die Schweinehälfte<br />

debattiert, die von der Bühnendecke<br />

hing, als über Shakespeare. Können<br />

kräftige Bilder den Text verdunkeln?<br />

Ostermeier: Es ist ein großes Missverständnis,<br />

wenn Sie in mir einen Exponenten<br />

des Körper- oder Bildertheaters<br />

sehen. <strong>Das</strong> bin ich nicht. „Maß für<br />

Maß“ wurde „altmeisterlich“ genannt.<br />

Der wunderbare, leider verstorbene Gert<br />

Voss gab den Herzog Vincentio und sagte<br />

danach, er habe das Stück nun erst richtig<br />

verstanden, obwohl er bereits in den<br />

achtziger Jahren in einer „Maß für Maß“-<br />

Inszenierung den Angelo gespielt hatte.<br />

Ich versuche wirklich, mich in diesen<br />

„Tigersprung“ hineinzubohren, in dieses<br />

pervertierende Denken, von dem<br />

Herr Lange sprach. „Maß für Maß“ ist<br />

mein Lieblingsstück, exemplarisch für<br />

viele Stoffe von Shakespeare: Da tritt<br />

jemand – Angelo – mit einem fast stalinistischen<br />

Veränderungswillen auf, will<br />

alles besser machen in diesem verrotteten<br />

Kleinstaat, dessen Herzog sich zurückgezogen<br />

hat. Und entdeckt plötzlich<br />

den Abgrund in sich. <strong>Das</strong> 20. Jahrhundert<br />

war voll von solchen Diktatoren der<br />

Reinheit. Um diese Perversionen zu begreifen,<br />

fängt man an zu denken, und das<br />

Denken bringt einen irgendwann um den<br />

Verstand.<br />

Lange: Wodurch Shakespeare den<br />

Nihilismus vorwegnahm. Nietzsches<br />

Diktum vom Menschen als dem „nicht<br />

festgestellten Tier“, das den Zugang zum<br />

Instinkt verloren habe und dessen Intellekt<br />

nicht in der Lage sei, die Sache zu<br />

korrigieren, findet sich bei Shakespeare<br />

vorab bestätigt.<br />

Also keine Utopie nirgends?<br />

Ostermeier: Seine Utopie war der<br />

weise Herrscher. „Maß für Maß“ hatte<br />

er zum Amtsantritt von König Jakob I.<br />

geschrieben, und in seinem letzten<br />

Stück, „Der Sturm“, hat der der Macht<br />

entsagende Zauberer Prospero, ehemals<br />

Herzog von Mailand, das letzte Wort,<br />

zerbricht den Zauberstab. Eine andere<br />

Antwort hatte er nicht.<br />

Lange: Dennoch enden die meisten<br />

Stücke nicht negativ. Es wird geschlachtet,<br />

wird gemordet, aber der Kreuzigungsgedanke<br />

und dessen Ernst fehlen.<br />

113<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


SALON<br />

Gespräch<br />

Als Theaterpraktiker wusste er, dass<br />

die Zuschauer nach Hause gehen wollen<br />

mit dem Trost, dass alles Schlimme<br />

vielleicht anders werden könnte. Der<br />

Zwang zur Utopie ist eine menschliche<br />

Notwendigkeit.<br />

<strong>Das</strong> elisabethanische Theater, schreibt<br />

Shakespeare-Biograf Hans-Dieter Gelfert,<br />

war auch „ein kommerziell betriebenes<br />

Unterhaltungsmedium wie<br />

im 20. Jahrhundert das Kino“.<br />

Ostermeier: Ich finde den Gedanken<br />

reizvoll, Shakespeare stamme aus einer<br />

katholischen Familie, in der das Katholische<br />

weiterhin gepflegt wurde oder zumindest<br />

als Sehnsucht vorhanden war. Er<br />

wäre dann in einer Zeit, in der es katholische<br />

Umsturzversuche gab und in der<br />

Katholiken in England von den regierenden<br />

Anglikanern verfolgt und ermordet<br />

wurden, gezwungen gewesen, seine Identität<br />

zu verbergen. Er hätte sich verstellen<br />

müssen – so wie sein ganzes Arsenal<br />

an Figuren, die ihre eigentliche Identität<br />

verheimlichen müssen, um überleben<br />

zu können.<br />

Lange: Sobald Sie als Dichter Gott<br />

auf die Zunge nehmen, können Sie entweder<br />

in die Kirche gehen oder nach<br />

Hause.<br />

Thomas Ostermeier<br />

Der aus Soltau stammende<br />

45-jährige Regisseur ist seit<br />

2009 alleiniger künstlerischer<br />

Leiter der Berliner „Schaubühne“.<br />

Bereits fünf Mal wurden seine<br />

Inszenierungen zum Theatertreffen<br />

eingeladen. Zuletzt führte<br />

er Regie bei Lillian Hellmans<br />

„Die kleinen Füchse“<br />

starke Zeiten für Kunst gibt. Nationalsozialismus<br />

und Stalinismus waren kunstunfähig,<br />

das Biedermeier war nicht so<br />

kunstfähig wie das Barock. Hätte Shakespeare<br />

zu Schuberts und nicht zu elisabethanischer<br />

Zeit gelebt, hätte er dieses gigantische<br />

Werk nicht vollbringen können.<br />

Ostermeier: Wie wichtig Ambivalenzen<br />

in den Figuren sind, weiß heute<br />

theoretisch jeder Drehbuchautor. Praktisch<br />

gelingt es niemandem so gut, wie<br />

es Shakespeare gelang.<br />

Zu den Ambivalenzen rechnet auch das<br />

Nebeneinander von Brutalität und Komik.<br />

Die Gewalt gebiert Monster, und<br />

die Monster treiben mit dem Entsetzen<br />

Scherz.<br />

Lange: <strong>Das</strong> ist der psychopathologisch<br />

freie Fall, an dem sich bis heute<br />

nichts geändert hat. Er setzt die eigentliche<br />

<strong>Das</strong>einsenergie frei und ist zugleich<br />

unser Verhängnis. Deswegen ist<br />

das Erschrecken Blaise Pascals für mich<br />

so wichtig: Darüber, sagt er, ob es Gott<br />

gibt, muss man nicht reden. Aber es verrät<br />

äußerste Geistesschwäche, wenn der<br />

Mensch nicht erkennt, wie groß sein<br />

Elend ohne Gott ist. Der Satz lässt sich<br />

auch atheistisch deuten, ich kann ihn<br />

unterschreiben.<br />

Es heißt bei Shakespeare auch „Die<br />

ganze Welt ist eine Bühne“.<br />

Ostermeier: Ja, „all the world’s a<br />

stage“ in „Wie es euch gefällt“. Allerdings<br />

stand als Motto über Shakespeares<br />

Globe Theater „Totus mundus agit histrionem“.<br />

<strong>Das</strong> heißt, die ganze Welt „spielt“<br />

den Schauspieler, sie zwingt zum Spiel,<br />

zu Verheimlichung und Maskerade – ein<br />

Konzept von Leben als Spiel, das in unserer<br />

puritanischen Gegenwart auf dem<br />

Altar des Authentizitätswahns geopfert<br />

wurde.<br />

John Keats zufolge liegt die Größe<br />

Shakespeares darin, dass er in allen wesentlichen<br />

Punkten Ja und Nein zur selben<br />

Zeit sagt. Macht die Ambivalenz ihn<br />

unsterblich?<br />

Lange: <strong>Das</strong> Phänomen Shakespeare<br />

ist einzigartig in seiner Totalität und seinem<br />

archetypischen Vermögen, bis heute.<br />

<strong>Das</strong> ist für mich ein Geheimnis, das kann<br />

ich nicht erklären. In Rechnung stellen<br />

müssen wir jedoch, dass es schwache und<br />

Hartmut Lange<br />

Der 1937 in Berlin geborene<br />

Schriftsteller arbeitete in der<br />

DDR als Dramaturg und<br />

schrieb Stücke, ehe er sich<br />

1965 in den Westen absetzte.<br />

Für seine tiefgründigen und<br />

lakonischen Novellen, zuletzt<br />

in dem Band „<strong>Das</strong> Haus in<br />

der Dorotheenstraße“, wurde<br />

er vielfach ausgezeichnet<br />

Können im Zeitalter der Pornokratie,<br />

des Splatter-Movies und der allgegenwärtigen<br />

Comedy überhaupt Gewalt<br />

und Komik im Sinne Shakespeares dargestellt<br />

werden?<br />

Ostermeier: <strong>Das</strong> ist das Schwierigste<br />

überhaupt. Ich habe im „Sommernachtstraum“<br />

die komischen Handwerker-<br />

und Rüpelszenen gestrichen, ebenso<br />

die Volksszenen in „Maß für Maß“. Nach<br />

400 Jahren sind viele Pointen nicht mehr<br />

zu verstehen. Die traditionelle Unfähigkeit<br />

des deutschen Theaters zum Tempo<br />

und zur Pointe tut ihr Übriges. Ungekürzt<br />

dauerten die meisten Stücke<br />

fünfeinhalb Stunden und mehr.<br />

Ebenfalls schwierig ist die Überfülle an<br />

geflügelten Worten. Der „Hamlet“ erscheint<br />

als Massenabwurfstelle von Zitaten,<br />

„es ist was faul im Staate Dänemark“,<br />

„Schwachheit, dein Name ist<br />

Weib“, „der Wahnsinn hat Methode“.<br />

Ostermeier: „Mehr Inhalt, weniger<br />

Rhetorik!“ Für den Theatermacher ist<br />

Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong> (Seiten 110 bis 114)<br />

114<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


das ein riesiges Problem. Im „Hamlet“<br />

habe ich deshalb „Sein oder Nichtsein“<br />

an den Anfang gesetzt und bringe den<br />

Monolog zwei weitere Male. In der Hoffnung,<br />

man hört beim dritten Mal wirklich<br />

zu und wartet nicht nur auf die berühmte<br />

Stelle.<br />

Lange: Wenn es funktioniert, ist es<br />

in Ordnung. <strong>Das</strong> Prinzip der Wiederholung<br />

ist uns aus dem Leben vertraut, wo<br />

fast alles Wiederholung ist, allerdings<br />

um den Preis der Langeweile. <strong>Das</strong> gehört<br />

zum Prinzip der Unvereinbarkeit. Dagegen<br />

hat Shakespeare aufbegehrt durch<br />

poetische Verdichtung.<br />

In der <strong>neue</strong>n Spielzeit, Herr Ostermeier,<br />

inszenieren Sie also an der „Schaubühne“<br />

den Oberschurken Richard III., den,<br />

wie Alfred Kerr ihn nannte, „heuchlerischen<br />

Metzger“, der am Ende ruft:<br />

„Ein Pferd! Ein Pferd! Mein Königreich<br />

für ein Pferd!“ Lars Eidinger, Ihr Hamlet<br />

und Angelo, wird ihn darstellen. Was<br />

erwartet uns?<br />

Ostermeier: Wir wollen uns am<br />

Globe Theater orientieren und es an der<br />

Schaubühne nachempfinden – gemäß<br />

der schönen Theorie, wonach sich Literatur<br />

erschließt über die Architektur jener<br />

Räume, für die sie geschrieben wurde.<br />

Wir werden einen Raum bauen mit drei<br />

Galerien, für 300 Zuschauer, die das<br />

Gefühl haben sollen, mit dem Arm die<br />

Schauspieler berühren zu können. Und<br />

diese werden die Anwesenheit ihres Dialogpartners,<br />

des Publikums, ständig spüren.<br />

Selbst „Sein oder Nichtsein“ war ja<br />

ein solcher Dialog mit den Zuschauern.<br />

Lange: Eine gute Idee. Sie müssen<br />

aber auch konsequent sein.<br />

Ostermeier: Inwiefern?<br />

Lange: Sie müssen es als Verfremdung<br />

ersichtlich machen. Sie müssen wissen,<br />

dass das alles gar nicht geht, und es<br />

trotzdem tun.<br />

Ostermeier: Oh ja.<br />

Lange: Es darf nicht den Hauch von<br />

Innovation geben. Der Wahn, innovativ<br />

sein zu müssen, ist das schlimmste Gift<br />

im Literatur- und Kulturbetrieb. Bitte<br />

rutschen Sie nicht in die Fallgrube des<br />

Innovativen!<br />

Ostermeier: Aber Herr Lange, ich<br />

habe selber schon genug Zweifel an meiner<br />

Arbeit. Machen Sie es mir nicht noch<br />

schwerer …! (Beide lachen. Abgang.)<br />

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SALON<br />

Man sieht nur, was man sucht<br />

VERLIEBTEN und VERRÜCKTEN<br />

aber kocht das Hirn Von BEAT WYSS<br />

Keine Eselei: Heinrich Füssli warf mithilfe von<br />

Shakespeares „Sommernachtstraum“ einen bösen<br />

Blick auf eigene Eheangelegenheiten<br />

116<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Fotos: © Tate London 2014, Gaetan Bally/Keystone Schweiz/Laif (Autor)<br />

Was für ein erotisch<br />

harmonisches Durcheinander!<br />

Oberon hat<br />

es angezettelt. Nach<br />

einem Streit mit seiner<br />

Titania träufelte der Elfenkönig Nektar<br />

vom wilden Stiefmütterchen auf die<br />

Augen der schlummernden Gattin. In<br />

den Erstbesten, den sie beim Aufwachen<br />

zu Gesicht bekäme, soll sich Titania<br />

nun verlieben. Zu ihrem Opfer wird<br />

der brave Weber Zettel, nächtlicherweile<br />

mit Laienschauspielern auf Theaterprobe<br />

im Athener Wald unterwegs.<br />

Ihm hat Puck, der Spezi des Elfenkönigs,<br />

einen Eselskopf auf den Hals gezaubert.<br />

<strong>Das</strong>s Liebe blind macht, soll Titania<br />

lernen. Wir stehen vor Shakespeares<br />

„Sommernachtstraum“, III. Akt, erste<br />

Szene. Die nackte Schöne umschmeichelt<br />

den braven Handwerker: „Und sieh’, ich<br />

liebe dich! Drum folge mir; / Ich gebe Elfen<br />

zur Bedienung dir.“<br />

Aus allen Ecken schießt das Gefolge<br />

herbei, um ihrem Befehl zu folgen. Bohnenblüte,<br />

Spinnweb, Motte und Senfsamen<br />

sind aufgerufen, es dem Angebeteten<br />

an keiner leiblichen Gunst fehlen<br />

zu lassen. Senfsamen, der winzig kleine<br />

Elf, hat sich auf Zettels Hand gesetzt und<br />

hebt die Arme, um die Schärfe seines<br />

Gewürzes den Nüstern des Eselsköpfigen<br />

zuzufächeln. „Ihre Freundschaft hat<br />

mir schon oft die Augen übergehen machen“,<br />

erwidert Zettel des Elfen Gruß.<br />

Dem Langohr regt sich weniger Liebeslust<br />

denn Appetit auf Rinderbraten.<br />

Über dem tonigen Gemälde liegt,<br />

typisch für Heinrich Füssli, ein silbergrauer<br />

Schleier. Der Schweizer Maler<br />

erweist damit der Druckgrafik seine<br />

Reverenz und gibt einen Wink an den<br />

Füssli malte „Titania und der<br />

eselsköpfige Zettel“ 1789 für<br />

Londons Shakespeare Gallery<br />

Kunstliebhaber, seine teuren Originale<br />

seien auch als Kunstdrucke erhältlich.<br />

Der Auftraggeber von Füsslis „Midsummer<br />

Night’s Dream“, John Boydell, war<br />

denn auch ein Verleger, der mit Druckgrafik<br />

ein Vermögen gemacht hatte. Sein<br />

ehrgeizigstes Unternehmen wurde der<br />

Bau einer Bildergalerie zu Themen aus<br />

Shakespeares Dramen, für die neben<br />

Joshua Reynolds, dem Präsidenten der<br />

Royal Academy, auch Benjamin West<br />

aus Philadelphia und Füssli als prominenteste<br />

Künstler verpflichtet werden<br />

konnten.<br />

Die Gemälde dienten als Vorlagen<br />

für eine illustrierte Prachtausgabe des<br />

Gesamtwerks vom Dramatiker aus Stratford,<br />

der zu jener Zeit europaweit wiederentdeckt<br />

wurde. Die festliche Eröffnung<br />

der Shakespeare Gallery an der Pall<br />

Mall in Westminster fand am 4. Mai 1789<br />

statt. Im Sinne zufälliger Notwendigkeit<br />

fällt auf dieses Datum der feierlich begangene<br />

Vorabend von der Eröffnung der<br />

Generalstände in Versailles, mit deren<br />

Sitzung die Schockwellen der Französischen<br />

Revolution begannen.<br />

Durch das Londoner Kulturereignis<br />

sollte die Historienmalerei in England<br />

gefördert werden, die im puritanischen<br />

Land bisher kaum entwickelt war. Von<br />

der Londoner middle class begrüßt, von<br />

Hochfinanz und Gelehrten der Akademie<br />

unterstützt, war das Durchschnittspublikum<br />

schockiert von der bizarren Teufelsmalerei<br />

des „wilden Schweizers“. Auch<br />

der Adel gab sich reserviert.<br />

In Füsslis Meisterwerk treten nicht<br />

nur Figuren auf, die aus Shakespeares<br />

Feder stammen. Vom Privatleben des<br />

Künstlers souffliert ist die leichtseidig bekleidete<br />

Schöne rechts außen. Sie führt<br />

vor, wie es weiterginge, würde der Traum<br />

ewig währen. In manierlicher Pose hält<br />

Titanias weibliches Pendant einen kümmerlich<br />

greisen Affenzwerg mit langem<br />

Bart an kurzer Leine. Der 47-jährige Lebemann<br />

hatte in einer Anwandlung von<br />

midlife crisis Sophia Rawlins geheiratet.<br />

Beat Wyss<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt Kunstwissenschaft<br />

und Medienphilosophie an der<br />

Staatlichen Hochschule für<br />

Gestaltung in Karlsruhe und<br />

schreibt jeden Monat in<br />

<strong>Cicero</strong> über ein Kunstwerk<br />

und dessen Geschichte.<br />

Kürzlich erschien bei Philo<br />

Fine Arts sein Essay „Renaissance<br />

als Kulturtechnik“<br />

Die junge Frau aus der Grafschaft Somerset<br />

hatte wenig am Hut mit intellektuellen<br />

Spinnereien. Der Ehestand des<br />

Künstlers war nützlicher Schutzschild,<br />

als Füssli kurz nach der Hochzeit Mary<br />

Wollstonecraft kennenlernte, die sich in<br />

den sprühenden Exzentriker mit der früh<br />

ergrauten Löwenmähne verliebte.<br />

Der Verehrte begnügte sich, mit der<br />

Philosophin der Frauenrechte im Salon<br />

über die Revolution zu schwärmen,<br />

derweil die Gemahlin den Tee reichte.<br />

Unfair bleibt die hinterrücks gefallene<br />

Bemerkung, überliefert von Füsslis Biografen:<br />

Die Wollstonecraft sei eine „philosophische<br />

Schlampe“.<br />

Hinter dem Frühromantiker steckte<br />

eben die Avantgarde des Biedermeier.<br />

117<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


SALON<br />

Reportage<br />

DER LETZTE<br />

VORHANG<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

<strong>Das</strong> Stadttheater ist so etwas wie das<br />

Rückgrat der Kulturnation Deutschland.<br />

Aber nicht nur Geldmangel und<br />

Bevölkerungswandel bedrohen seine Existenz.<br />

Der Niedergang hat System<br />

Illustrationen MARTIN HAAKE<br />

<strong>Das</strong> Dessauer Theater ist eine überragende<br />

Einrichtung – zumindest<br />

architektonisch. Mit einer Höhe<br />

von 36 Metern zählt es zu den größten<br />

Bühnenhäusern Europas und prägt schon<br />

von weitem das Bild der Stadt; nach den<br />

Worten des Oberbürgermeisters handelt<br />

es sich denn auch um den „kulturellen<br />

Leuchtturm Anhalts“. Demnächst<br />

beginnt die 220. Spielzeit, die Tradition<br />

des Theaters ist beinahe so ehrfurchtgebietend<br />

wie seine 1938 im Zuge eines<br />

Neubaus fertiggestellte Fassade mit<br />

ihren zwölf imposanten Pilastern. Hitler<br />

und Goebbels waren damals zur Eröffnung<br />

dabei, gegeben wurde Webers<br />

„Freischütz“. 1893 war Richard Wagners<br />

„Ring“ erstmals in Dessau zu sehen gewesen,<br />

ein Jahr später kam dessen Witwe<br />

Cosima höchstpersönlich angereist, um<br />

„Hänsel und Gretel“ zu inszenieren. Die<br />

Stadt galt von da an als „Bayreuth des<br />

Nordens“.<br />

Zu DDR-Tagen gab es für Vorstellungen<br />

in dem Haus, wo anfangs noch<br />

Hilde Benjamins Schauprozesse abgehalten<br />

wurden, kaum Karten zu bekommen<br />

– trotz der knapp 1100 Plätze. Besucher<br />

aus dem ganzen Land sorgten für<br />

ausverkaufte Reihen und jubelten Stars<br />

wie Eva-Maria Hagen in „My Fair Lady“<br />

zu. So spiegelt sich in der Geschichte<br />

des Dessauer Theaters das Selbstverständnis<br />

Deutschlands als „Kulturnation“<br />

geradezu exemplarisch wider: von<br />

den Anfängen als herzogliches Hoftheater<br />

über die Zeiten kultureller Volkserbauung<br />

mit allen Höhen und Tiefen bis<br />

in die Endphase des Subventionstheaters<br />

in der ausblutenden Provinz. Denn<br />

in letzter Zeit machen die Dessauer Bühnen<br />

trotz künstlerischer Erfolge fast nur<br />

noch wegen ihrer finanziellen Misere<br />

von sich reden. Der Deutsche Kulturrat<br />

führt sie seit dem vergangenen Jahr<br />

auf seiner „roten Liste“ der bedrohten<br />

118<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


119<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


SALON<br />

Reportage<br />

Kultureinrichtungen – wie etliche andere<br />

Stadttheater auch.<br />

André Bücker war mit großen Erwartungen<br />

nach Dessau gekommen. Vor fünf<br />

Jahren wurde er aus Halberstadt als Intendant<br />

ans Anhaltische Theater berufen,<br />

für ihn ein Aufstieg von der Regional- in<br />

die Bundesliga. „Mir war schon klar, dass<br />

es auch hier nicht einfach würde. Aber<br />

dass es sich so auswächst – und vor allem,<br />

dass es von der Landesregierung ausgeht,<br />

hätte ich nicht für möglich gehalten.“ Der<br />

Mittvierziger sitzt im Sweatshirt an seinem<br />

überfüllten Schreibtisch, hinter ihm<br />

ein Plakat der „Götterdämmerung“. Die<br />

Wagner-Oper hat er 2012 selbst inszeniert,<br />

die Kritiken – auch in der überregionalen<br />

Presse – waren teilweise hymnisch.<br />

Aber jetzt geht es nicht um die<br />

Kunst, sondern ums Geld: Knapp drei<br />

Millionen Euro weniger im Jahr stellt das<br />

Land Sachsen-Anhalt der renommierten<br />

Dessauer Spielstätte künftig zur Verfügung,<br />

und noch vor ein paar Monaten sah<br />

es deswegen so aus, als seien die Tage des<br />

Anhaltischen Theaters als Vier-Sparten-<br />

Haus mit Oper, Schauspiel, Ballett und<br />

Puppenbühne endgültig gezählt.<br />

DENN EINBUSSEN IN DIESER HÖHE sind<br />

eigentlich nicht zu verkraften. <strong>Das</strong> ahnte<br />

wohl auch Sachsen-Anhalts Kultusminister<br />

Stephan Dorgerloh (SPD), der Urheber<br />

des Sparbeschlusses. Sein Vorschlag:<br />

Dessau solle sich in Zukunft auf<br />

das Musiktheater beschränken und auf<br />

Schauspiel und Ballett verzichten. <strong>Das</strong><br />

brachte dem Politiker viel Kritik ein –<br />

nicht nur wegen der reichlich kühnen<br />

Vorstellung, ein Haus mit 1072 Plätzen<br />

in einer 84 000-Einwohner-Stadt praktisch<br />

nur noch mit Opern bespielen zu<br />

können. Denn auch finanziell hätte<br />

sich das kaum gerechnet: „Unser Budget<br />

liegt jetzt bei 18 Millionen Euro im<br />

Jahr. Aber wenn wir zwei Sparten abwickeln<br />

und 100 Leute entlassen, kosten<br />

wir eben immer noch 17 Millionen“,<br />

sagt Bücker. Er ist nicht der Einzige, der<br />

sich über die kulturpolitische Konzeptionslosigkeit<br />

der schwarz-roten Landesregierung<br />

ärgert. Auch viele Dessauer Bürger<br />

fühlten sich vor den Kopf gestoßen:<br />

„Schluss mit dem Sparwahn – das Theater<br />

bleibt“, hieß es auf Plakaten, die zu<br />

Hunderten an Laternenmasten in der Innenstadt<br />

hingen.<br />

Jetzt bleibt das Theater tatsächlich<br />

erhalten, zumindest bis auf Weiteres.<br />

<strong>Das</strong>s alle vier Sparten gerettet werden<br />

konnten, grenzt für deren Intendanten<br />

an ein Wunder. Bücker, dessen Vertrag<br />

im nächsten Jahr ausläuft, nennt es<br />

„eine sensationelle und nahezu unglaubliche<br />

Entscheidung des Dessauer Stadtrats“,<br />

die gekürzten Landesmittel innerhalb<br />

der nächsten vier Jahre durch<br />

knapp zehn Millionen Euro aus der eigenen<br />

Kasse zu ersetzen; tatsächlich<br />

wollten die Kommunalpolitiker, die ihre<br />

Bühnen schon bisher mit acht Millionen<br />

Euro jährlich unterstützen, auf Tanz und<br />

Schauspiel nicht verzichten.<br />

Für eine strukturschwache und von<br />

Abwanderung gebeutelte Stadt wie Dessau<br />

ist das ein finanzieller Kraftakt sondergleichen.<br />

Aber auch das Theater muss<br />

Opfer bringen: Bis 2018 fallen 50 von<br />

340 Arbeitsplätzen weg, außerdem haben<br />

sich alle Mitarbeiter auf eine Teilzeitregelung<br />

mit 10 Prozent Gehaltseinbuße<br />

eingelassen. Schauspielern, die<br />

ohnehin nur zwischen 1650 und maximal<br />

2600 Euro monatlich verdienen, verlangt<br />

solch ein Schritt einiges ab. Und<br />

die Zuschauer müssen ebenfalls Verzicht<br />

üben. „Wir bleiben zwar weiterhin<br />

ein produzierendes Ensemble in allen<br />

vier Sparten. Aber natürlich müssen<br />

wir unser Angebot einschränken“, sagt<br />

Bücker. <strong>Das</strong> heißt: weniger Aufführungen,<br />

weniger <strong>neue</strong> Inszenierungen, kleinere<br />

Produktionsbudgets.<br />

„Wir werden uns die Theaterlandschaft<br />

nicht mehr leisten können“, lautet<br />

das Credo von Sachsen-Anhalts Kultusminister<br />

Stephan Dorgerloh – entsprechend<br />

wurden auch dem Theater in Halle<br />

die Landesmittel um jährlich drei Millionen<br />

Euro gekürzt. Die Stadt an der Saale<br />

hat seit der Wende ebenfalls einen Einwohnerschwund<br />

zu verkraften, wenn<br />

auch nicht in dem Ausmaß wie Dessau.<br />

Wobei sich natürlich die Frage stellt, ob<br />

diese Abwanderung nicht eher noch verstärkt<br />

wird, wenn das kulturelle Angebot<br />

ausgedünnt wird. André Bücker hält das<br />

demografische Argument ohnehin für<br />

eine Floskel: „Seit der Wende hat Dessau<br />

40 000 Einwohner verloren, aber unsere<br />

Zuschauerzahlen sind trotzdem konstant.“<br />

Zumindest in Sachsen-Anhalt gehe<br />

es den Verantwortlichen vielmehr um einen<br />

grundlegenden Strukturwandel in<br />

der Kulturpolitik: „Man ist zunehmend<br />

daran interessiert, Dinge zu pflegen,<br />

die auch touristisch verwertbar sind“,<br />

glaubt Bücker. Also Museen, Denkmäler,<br />

Kirchen. Oder Events wie das „Lutherjahr<br />

2017“, das dem evangelischen<br />

Theologen Dorgerloh viel Zeit, Mühen<br />

und Geld wert ist.<br />

Eine Theater- und Orchesterlandschaft<br />

so wie in Deutschland gibt es<br />

auf der Welt kein zweites Mal: rund<br />

140 Stadttheater, Staatstheater und<br />

Landesbühnen; 131 klassische Orchester,<br />

dazu rund 220 Privattheater und<br />

rund 150 Theater- und Spielstätten ohne<br />

festes Ensemble. Berlin leistet sich drei<br />

Opernhäuser, aber selbst in einem Provinzstädtchen<br />

wie Anklam im östlichen<br />

Mecklenburg-Vorpommern mit seinen<br />

knapp 13 000 Einwohnern hebt sich der<br />

Vorhang einer Landesbühne. <strong>Das</strong> alles<br />

kostet viel Geld, und besonders die kommunal<br />

finanzierten Stadttheater bekommen<br />

den Spardruck zu spüren. Denn die<br />

Kultur zählt zu den sogenannten freiwilligen<br />

Aufgaben, das heißt: Auf diesem<br />

Gebiet entscheiden die Städte selbst, wie<br />

viel ihnen das Angebot für ihre Bürger<br />

wert ist. Und das hängt eben vor allem<br />

davon ab, wie viel in den Kassen noch<br />

übrig ist, nachdem die Pflichtaufgaben<br />

etwa für Hartz IV oder Kindertagesstätten<br />

erfüllt sind.<br />

WUPPERTAL ZUM BEISPIEL leistet sich<br />

unter anderem ein Opernhaus nebst<br />

88-köpfigem Sinfonieorchester. Und<br />

weil Orchestermusiker im Vergleich zu<br />

den Kollegen vom Schauspiel ziemlich<br />

gut bezahlt werden und arbeitsrechtlich<br />

hervorragend abgesichert sind, schlägt<br />

so ein Orchester ordentlich zu Buche:<br />

In Wuppertal sind es rund 6,5 Millionen<br />

Euro pro Jahr, das entspricht einem<br />

Drittel des Gesamtbudgets der kommunalen<br />

Stadttheaterbetriebe, zu denen<br />

noch Schauspiel und Musiktheater gehören.<br />

Wer in solchen Strukturen, die stark<br />

von Verwaltung, Politik und dem ewigen<br />

Spardruck geprägt sind, künstlerisch erfolgreich<br />

sein will, muss sich etwas einfallen<br />

lassen.<br />

Der jüngste Einfall an den Wuppertaler<br />

Bühnen heißt Stagione-Prinzip, was<br />

faktisch auf eine Auflösung des Opernensembles<br />

hinausläuft: Toshiyuki Kamioka,<br />

Chefdirigent der Wuppertaler Sinfoniker,<br />

120<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


„ Unser Budget liegt bei<br />

18 Millionen Euro im Jahr.<br />

Aber wenn wir 100 Leute entlassen,<br />

kosten wir eben immer<br />

noch 17 Millionen “<br />

André Bücker, Intendant am Theater Dessau<br />

will künftig für jede Opernproduktion<br />

die nötigen Sänger je nach Bedarf nur<br />

noch saisonweise anheuern. Zwar waren<br />

die meisten Opernsängerinnen und -sänger<br />

bisher auch nur über Jahresverträge<br />

an das Haus gebunden, aber es gab immerhin<br />

einen Kreis von etwa zwölf dem<br />

Haus dauerhaft verbundenen Stimmen.<br />

Damit ist jetzt Schluss, und viele wittern<br />

deshalb den kulturellen Ausverkauf.<br />

In der Zeitung Die Welt etwa hieß<br />

es: „In Wuppertal geht es also nicht um<br />

ein Stadttheater <strong>neue</strong>n, schlankeren Typs.<br />

Hier wird vielmehr eine Struktur ausgehöhlt,<br />

ohne eine <strong>neue</strong> zu schaffen.“ <strong>Das</strong><br />

Stagione-Prinzip laufe darauf hinaus,<br />

dass „auch alle paar Wochen eine billige<br />

osteuropäische Tourneebühne vorbeikommen“<br />

könne.<br />

Enno Schaarwächter, kaufmännischer<br />

Geschäftsführer der Wuppertaler<br />

Bühnen, nimmt solche Kritik durchaus<br />

ernst. Der Mann ist Anfang 60 und<br />

hat schon vieles miterlebt am Theater, so<br />

leicht bringt ihn da nichts aus der Fassung.<br />

Er sieht es pragmatisch: Wenn<br />

man in Wuppertal auch in Zukunft noch<br />

sechs Opernproduktionen im Jahr auf die<br />

Bühne bringen wolle, müsse man eben<br />

flexibel sein. Früher seien auch ältere<br />

Sänger, deren Stimmen nicht mehr so<br />

gut waren, im Ensemble gehalten worden.<br />

„Aber wenn der Chefdirigent dem<br />

breiten Opernrepertoire seines Orchesters<br />

gerecht werden will, kann er bei<br />

unserer schlechten Finanzlage eigentlich<br />

nur so vorgehen, wie Herr Kamioka<br />

es tut.“ Hire and fire an der Oper? Erwarten<br />

nicht auch die Zuschauer eine gewisse<br />

Beständigkeit beim künstlerischen<br />

Personal? „Wenn man der Auffassung ist,<br />

dass die Identifikation des Publikums mit<br />

dem Ensemble ein wichtiger Faktor ist,<br />

mag dieses Argument zutreffen. Andererseits<br />

können wir die Struktur, so wie<br />

sie ist, nicht unendlich halten.“<br />

HAGEN LIEGT von Wuppertal nur eine<br />

halbe Stunde Zugfahrt entfernt. Wer dort<br />

am Hauptbahnhof aussteigt, wird von einer<br />

Stadt empfangen, der die vergangenen<br />

20, 30 Jahre ersichtlich nicht gutgetan<br />

haben. Wo früher Fachgeschäfte<br />

waren, sind heute Ein-Euro-Shops untergebracht;<br />

der Weg ins Zentrum wird gesäumt<br />

von Back-Stores, türkischen Brautmode-Läden<br />

und Billigklamotten-Outlets.<br />

121<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


SALON<br />

Reportage<br />

Dann steht man plötzlich vor dem Hagener<br />

Stadttheater, das inmitten der Tristesse<br />

fast wie ein Tempel in der Wüste<br />

wirkt. 1911 wurde die von engagierten<br />

Bürgern gegründete Spielstätte eröffnet,<br />

das stolze Selbstverständnis als „Bürgertheater“<br />

lebt bis heute fort.<br />

An diesem frühsommerlichen Abend<br />

wird Jules Massenets „Don Quichotte“<br />

gegeben, eine auf dem gleichnamigen<br />

Romanklassiker beruhende Oper aus<br />

dem frühen 20. Jahrhundert – in französischer<br />

Sprache mit deutschen Übertiteln.<br />

Wem die deutsche Kulturlandschaft nicht<br />

vertraut ist, würde kaum glauben, dass so<br />

etwas in einer Stadt wie Hagen möglich<br />

sein kann, noch dazu an einem ganz normalen<br />

Wochentag: Orchester und Sänger<br />

leisten erstklassige Arbeit, die Inszenierung<br />

ist moderat modern, das Bühnenbild<br />

liebevoll bis ins Detail. Trotzdem<br />

sind die Zuschauerreihen allenfalls zu<br />

zwei Dritteln besetzt. Dem Bürgertheater<br />

gehen die Bürger aus.<br />

Norbert Hilchenbach ist seit sieben<br />

Jahren Intendant am Hagener Theater,<br />

einem 280-Mitarbeiter-Betrieb inklusive<br />

Opernensemble, Orchester und Ballett.<br />

In dieser Zeit ist die Stadt um knapp<br />

10 000 Einwohner geschrumpft, Tendenz<br />

weiter fallend. Anfang der achtziger<br />

Jahre lebten noch knapp 220 000 Menschen<br />

in Hagen, heute sind es nur noch<br />

186 000. Der Ausländeranteil ist hoch,<br />

jeder zweite Jugendliche hat einen Migrationshintergrund.<br />

Außerdem sind<br />

die kommunalen Finanzen ein Desaster,<br />

die Stadt ist mit 1,2 Milliarden Euro<br />

verschuldet – als sogenannte Nothaushaltskommune<br />

bekommt sie zwar Hilfen<br />

vom Land Nordrhein-Westfalen, wird<br />

dafür aber bei ihren Ausgaben streng<br />

kontrolliert.<br />

Was das für die schönen Künste bedeutet,<br />

kann man sich denken. Von 2018<br />

an wird das städtische Kulturbudget um<br />

weitere 10 Prozent gekürzt; derzeit liegt<br />

es bei rund 25 Millionen Euro im Jahr, wovon<br />

allein 14,5 Millionen Euro ans Theater<br />

fließen. 10 Prozent weniger für die<br />

städtischen Bühnen, das entspräche einer<br />

jährlichen Einbuße von rund 1,5 Millionen<br />

Euro. „Illusorisch“ nennt Intendant<br />

Hilchenbach die Vorstellung, sein Haus<br />

könne solch einen finanziellen Einschnitt<br />

verkraften. Denn inzwischen seien sämtliche<br />

Einsparpotenziale ausgeschöpft, „und<br />

die Selbstausbeutung ist enorm“. <strong>Das</strong><br />

Durchschnittseinkommen der Mitarbeiter<br />

am Hagener Theater liegt bei monatlich<br />

knapp 2500 Euro brutto.<br />

Aber braucht Hagen überhaupt ein<br />

eigenes Theater? Immerhin liegen Städte<br />

wie Bochum, Essen, Dortmund und eben<br />

Wuppertal in unmittelbarer Reichweite –<br />

und alle verfügen über große Opern- oder<br />

Schauspielbühnen. Norbert Hilchenbach<br />

findet diese Frage „etwas unverschämt“.<br />

Denn „das würde ja bedeuten, dass man<br />

eine bestimmte Zahl von Kilometern<br />

zwischen zwei Städten haben müsste,<br />

um selbst Kunst zu machen“. Außerdem:<br />

„Wenn hier erst mal die Bude zu wäre,<br />

würde die Attraktivität Hagens entscheidend<br />

nachlassen, und das würde auch<br />

die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtern.“<br />

So dreht sich die Rechtfertigungsspirale<br />

ständig weiter.<br />

Denn es ist ja eben nicht so, dass das<br />

Publikum dem Hagener Theater die Türen<br />

einrennt. Die Auslastung liegt angeblich<br />

bei 76 Prozent, das ist ein guter<br />

Wert. Aber es wird immer schwieriger,<br />

das Haus zu füllen. Noch in den achtziger<br />

Jahren gab es kaum eine Chance, in Hagen<br />

überhaupt ein Theater-Abo zu ergattern,<br />

in der darauffolgenden Dekade war<br />

das schon nicht mehr so. „Und der Intendant<br />

vor mir hat dann eklatante Schwierigkeiten<br />

bekommen, weil die Abozahlen<br />

runtergingen, aber gleichzeitig eigentlich<br />

kein Publikum für den freien Kartenverkauf<br />

da war“, sagt Hilchenbach. Er selbst<br />

tut alles, um auch jüngere Zuschauer anzulocken,<br />

es gibt Familienkonzerte zur<br />

Fußball-WM, Kinderoper oder moderne<br />

Musiktheaterproduktionen wie „Lola<br />

rennt“. Außerdem spendiert der örtliche<br />

Theaterförderverein Tausenden Schülern<br />

kostenlose Eintrittskarten. Trotzdem<br />

sind nur 35 Prozent der Besucher jünger<br />

als 50 Jahre. Und Migranten fürs Theater<br />

zu gewinnen, das sei ohnehin „ganz,<br />

ganz schwierig“, wie Hilchenbach unumwunden<br />

zugibt.<br />

HAT DAS DEUTSCHE STADTTHEATER unter<br />

solchen Voraussetzungen überhaupt<br />

noch eine Zukunft? Hilchenbach gibt sich<br />

vorsichtig optimistisch: „Ich glaube, dass<br />

wir weiter um unsere Existenz kämpfen<br />

müssen, aber letztlich bestehen bleiben.“<br />

Sein Kollege Enno Schaarwächter<br />

von den Wuppertaler Bühnen ist da<br />

„ Ich glaube,<br />

das System<br />

Stadttheater<br />

krankt in sich,<br />

und das liegt<br />

nicht nur am<br />

mangelnden Geld “<br />

Karl M. Sibelius,<br />

Intendant am „Theater an der Rott“<br />

in Eggenfelden<br />

122<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


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Foto: Andrej Dallmann<br />

schon weniger zuversichtlich: „Die Oper<br />

mit großen Produktionen wird es mit Sicherheit<br />

auch weiterhin geben. Aber was<br />

das Schauspiel angeht, mache ich mir die<br />

größten Sorgen.“<br />

„ICH GLAUBE, das System Stadttheater<br />

krankt in sich, und das liegt nicht nur<br />

am mangelnden Geld.“ Der Mann, der<br />

so spricht, ist Mitte 40, von zierlicher<br />

Gestalt, lacht viel und trägt an diesem<br />

Vormittag eine grüne Pluderhose. Karl<br />

M. Sibelius provoziert gern, und als bekennender<br />

Schwuler mit Ehemann und<br />

zwei adoptierten Kindern sind seine Familienverhältnisse<br />

schon Provokation genug.<br />

Zumindest in der niederbayerischen<br />

Provinz. Dort leitet Sibelius das „Theater<br />

an der Rott“ in Eggenfelden, Deutschlands<br />

einziges landkreiseigenes Theater.<br />

Eine unter seiner Intendanz entstandene<br />

Inszenierung von Werner Schwabs<br />

„Die Präsidentinnen“ ist beim Publikum<br />

hoch umstritten gewesen, solche Stoffe<br />

waren die Eggenfeldener bis dahin nicht<br />

gewohnt. Aber in weniger als zwei Jahren<br />

hat Sibelius, gebürtiger Österreicher<br />

und ehemaliger Musicaldarsteller, die<br />

Zuschauerschaft mit seinem Programm<br />

deutlich verjüngt; der Altersdurchschnitt<br />

liegt jetzt nicht mehr bei über 60, sondern<br />

bei knapp über 40. „Was hier aufgebaut<br />

wurde, macht Kunst mit wenig Geld<br />

möglich“, sagt Sibelius. Wo andere klagen,<br />

ist er stolz auf sein kleines Budget.<br />

Und darauf, dass sein Haus in der Fachzeitschrift<br />

Die deutsche Bühne trotzdem<br />

zu einem der innovativsten Theater abseits<br />

der Zentren gekürt wurde.<br />

Eggenfelden hat knapp 13 000 Einwohner,<br />

das „Theater an der Rott“ existiert<br />

seit 1963 und ist in einer ambitioniert<br />

umgebauten, ehemaligen<br />

Mehrzweckhalle mit 400 Plätzen untergebracht.<br />

„Wir kommen mit zwei Millionen<br />

Euro im Jahr hin. Für andere Häuser,<br />

die nicht viel größer sind, reicht oft<br />

das Zehnfache dieser Summe nicht aus.“<br />

Trotzdem zeigt Sibelius zu 90 Prozent<br />

Eigenproduktionen und kommt auf sage<br />

und schreibe 18 Premieren im Jahr. Sogar<br />

Branchenstars wie der Opernregisseur<br />

Peter Konwitschny oder Róbert<br />

Alföldi, ehemaliger Chef des Budapester<br />

Nationaltheaters, haben unter Sibelius’<br />

Intendanz in Eggenfelden inszeniert.<br />

Was läuft hier anders?<br />

Karl M. Sibelius macht das, womit<br />

jetzt auch die Oper in Wuppertal ihr<br />

Glück versucht – nur noch viel konsequenter.<br />

Denn im „Theater an der Rott“<br />

gibt es außer zehn ständigen Mitarbeitern<br />

überhaupt kein festes Ensemble.<br />

Sämtliche Künstler werden für das jeweilige<br />

Stück als Gäste geholt, Proben<br />

und Produktionsarbeit geschehen vor<br />

Ort. Dann wird das Ergebnis in kurzen<br />

Abständen sechs bis neun Mal hintereinander<br />

aufgeführt; danach gehen Schauspieler,<br />

Sänger und Musiker wieder ihrer<br />

Wege. Stagione-Prinzip in Reinkultur.<br />

„Ich merke bei Leuten, die sonst nur an<br />

großen Theatern arbeiten, wie froh sie<br />

sind, wenn sie mal nicht in diesen Strukturen<br />

arbeiten müssen – denn hier bei<br />

uns gibt es keine Bürokratie und auch<br />

keine Grabenkämpfe zwischen den einzelnen<br />

Sparten“, sagt Sibelius.<br />

Wenn es nach ihm ginge, müsste die<br />

gesamte deutsche Stadttheater-Landschaft<br />

einer Entschlackungskur unterzogen<br />

werden. „<strong>Das</strong> Hauptproblem an den<br />

meisten Häusern sind die großen Kollektive,<br />

nämlich Orchester und Chor. Die<br />

fressen allein schon ein Drittel des Gesamtbudgets<br />

auf. Und dann verlangen<br />

die Musiker auch noch für jeden Furz<br />

eine Sonderzahlung.“ Von der Bürokratie<br />

ganz zu schweigen, denn die meisten<br />

Stadttheater sind immer noch voll in<br />

die kommunalen Verwaltungsstrukturen<br />

eingebunden – „und an vielen Häusern<br />

ist der Gemeinschaftssinn verloren gegangen,<br />

weil die Leute von den Verkrustungen<br />

frustriert sind“.<br />

IM NÄCHSTEN JAHR geht Karl M. Sibelius<br />

als Intendant ans Stadttheater Trier – dort<br />

erwarten ihn 230 feste Mitarbeiter, Orchester,<br />

Ballett, Schauspiel- und Opernensemble.<br />

Und eine seit Jahren schwelende<br />

Debatte über die finanzielle Zukunft.<br />

„Die Theater in Deutschland müssen dringend<br />

simplifiziert werden“, glaubt Sibelius.<br />

„Man muss ihnen ihre Würde zurückgeben,<br />

anstatt sie in Kostendiskussionen permanent<br />

schlechtzureden.“ In Trier wird sich<br />

zeigen, ob das möglich ist.<br />

ALEXANDER MARGUIER ist<br />

stellvertretender Chefredakteur<br />

von <strong>Cicero</strong>. Im Theater Hagen<br />

war er schon als Kind mit seinen<br />

Großeltern zu Gast<br />

Literarisches Trio<br />

Christoph Peters<br />

Sechs Bücher und ein Gast<br />

Literaturen-Redakteurin Frauke<br />

Meyer-Gosau und Literaturkritiker<br />

Jörg Magenau diskutieren mit dem<br />

Schriftsteller Christoph Peters über<br />

literarische Neuerscheinungen<br />

dieses Jahres:<br />

Über den Roman „Der Circle“ von<br />

Dave Eggers, über Teresa Präauers<br />

„Johnny und Jean“ und über den<br />

Roman „Orfeo“ von Richard Powers.<br />

Zum Schluss geben die Teilnehmer<br />

des Trios noch drei aktuelle Literatur-<br />

Tipps ab.<br />

Dienstag, 23. September 2014, 20 Uhr,<br />

Literaturforum im Brecht-Haus,<br />

Chausseestraße 125, 10115 Berlin<br />

Eintritt 5 € / 3 € an der Abendkasse,<br />

kein Kartenvorverkauf<br />

In Kooperation mit:<br />

Literaturforum<br />

im Brecht-Haus<br />

diensTag,<br />

23. sepTember,<br />

20 Uhr<br />

Tickets unter:<br />

030 28 408 155<br />

© Peter von Felbert<br />

cicero.de<br />

123<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


SALON<br />

Literaturen<br />

Neue Bücher, Texte, Themen<br />

Zeitroman<br />

Ändere die Welt, sie braucht es!<br />

Dave Eggers’ Roman „Der Circle“ ist extrem spannend: Er erzählt,<br />

worauf wir mit unserer schönen <strong>neue</strong>n Google-Welt zusteuern<br />

Wem würde das nicht gefallen:<br />

aus einer mittelmäßigen Position<br />

bei einer Provinzfirma<br />

ohne Entwicklungspotenzial in einen<br />

Großkonzern mit lockerer Campus-Kultur<br />

einzusteigen, der sich gerade daranmacht,<br />

die Weichen für das gesellschaftliche<br />

Zusammenleben der Zukunft neu<br />

zu stellen? Mae Holland, Anfang 20, College-Absolventin<br />

in Psychologie, täte<br />

nichts lieber, als für das prosperierende<br />

Unternehmen mit dem Namen „Der Circle“<br />

zu arbeiten. Es hält das Monopol<br />

auf dem Suchmaschinen-, E-Mail- und<br />

Hip, transparent und intim, als<br />

wär’s eine Erfindung von Dave<br />

Eggers: Besprechungsecke in der<br />

Google-Zentrale in Zürich<br />

SMS-Markt und lässt darüber hinaus im<br />

Wochenrhythmus eine zukunftsweisende<br />

Erfindung auf die andere folgen – Information<br />

ist sein Geschäft.<br />

Und Mae hat Glück. Annie, ihre beste<br />

Freundin aus College-Zeiten, gehört im<br />

„Circle“ zur sogenannten „Vierzigerbande“,<br />

der erweiterten Leitungsgruppe<br />

des Konzerns, über der nur noch das Triumvirat<br />

der Gründer schwebt, „Die drei<br />

Weisen“ genannt. Annie setzt sich ein,<br />

und Mae bekommt tatsächlich einen Arbeitsplatz<br />

im Unternehmen. Mit ihrem<br />

ersten Tag dort beginnt der Roman.<br />

Er führt uns in einen Konzern, in<br />

dem demonstrative Lockerheit mit engmaschiger<br />

Kontrolle und, im Falle defizitären<br />

Verhaltens, auch harter persönlicher<br />

Konfrontation eine unlösbare<br />

Verbindung eingeht. Doch wie herrlich ist<br />

allein der Campus, auf dem man hier residiert!<br />

Nicht nur ein saftiger Rasen, auch<br />

Foto: Google Zürich<br />

124<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Sportanlagen und Auftritte der angesagtesten<br />

Künstler laden zur Entspannung<br />

ein. In den Cafeterias kochen Spitzenköche,<br />

es gibt abendliche Unterhaltungsprogramme<br />

für jeden Geschmack, Eintritt<br />

und Verköstigung selbstredend frei.<br />

Hat ein Mitarbeiter Gäste, kann er sie im<br />

„Circle“-eigenen Hotel unterbringen, wer<br />

es abends nicht mehr nach Hause schafft,<br />

bezieht im Wohnheim ein luxuriös ausgestattetes<br />

Zimmer. Selbst die Hunde<br />

der Angestellten werden fürsorglich betreut,<br />

die Kinder gehen auf dem Campus<br />

zur Schule, eingekauft wird ebenfalls in<br />

„Circle“-Geschäften, auf höchstem Niveau<br />

natürlich – eigentlich gibt es für die<br />

Mitarbeiter keinen vernünftigen Grund,<br />

das Gelände überhaupt noch zu verlassen.<br />

„Alles, was das Leben unserer Circler<br />

besser macht, wird auf Anhieb möglich“,<br />

heißt die Parole, und das schließt<br />

auch die Fürsorge für Familienmitglieder<br />

mit ein. Ohne Weiteres wird Maes schwer<br />

kranker Vater mitsamt der Mutter in die<br />

Krankenversicherung aufgenommen, sodass<br />

Mae ihre ungeteilte Aufmerksamkeit<br />

wieder der Arbeit zukommen lassen<br />

kann. <strong>Das</strong> allerdings ist auch nötig. Denn<br />

was der „Circle“ nach außen erreichen<br />

will – alle Welt kommuniziert mit aller<br />

Welt, jeder teilt jedem jederzeit mit, was<br />

er erlebt, denkt und fühlt –, das muss natürlich<br />

erst recht im Inneren gelten. Wer,<br />

wie Mae, gern allein in einer einsamen<br />

Bucht mit dem Kajak unterwegs ist, ist<br />

da schon auf einem schlechten Weg. Und<br />

weil es mittlerweile – natürlich eine Erfindung<br />

des „Circle“ und im Nu weltweit<br />

verbreitet – lolligroße Kameras gibt, die<br />

noch an den entlegensten Plätzen installiert<br />

sind, fliegt ihre private Heimlichkeit<br />

bald auf. Ihr Vorgesetzter in der<br />

Kundenbetreuungsabteilung bittet sie<br />

zum Gespräch, das eher einem Verhör<br />

gleicht. Und Mae sieht alles ein. „Teilen<br />

ist Heilen“, „Alles Private ist Diebstahl“,<br />

„Geheimnisse sind Lügen“ bekennt sie<br />

anschließend, unter dem Jubel ihrer Kollegen,<br />

im Gespräch mit einem der obersten<br />

Chefs auf offener Bühne.<br />

Denn Mae ist ein inbrünstig der umfassenden<br />

Verbesserung der Gegenwart<br />

zugewandter Mensch. Und ist es nicht<br />

am besten, wenn alle Menschen in größtmöglicher<br />

Offenheit miteinander leben?<br />

Am Ende wird sie das öffentliche Aushängeschild<br />

des „Circle“ sein, das die<br />

So lauten die<br />

Leitsätze für<br />

ein Leben nach<br />

den Regeln<br />

des „Circle“:<br />

„Teilen ist Heilen“ –<br />

„Alles Private<br />

ist Diebstahl“ –<br />

„Geheimnisse<br />

sind Lügen“<br />

nach Millionen zählenden Follower per<br />

Livestream über alle Ereignisse auf dem<br />

Campus auf dem Laufenden hält.<br />

Es ist eine der großen Leistungen<br />

dieses Romans, dass er nachvollziehbar<br />

macht, wie Menschen, die nur das Allerbeste<br />

für alle wollen, zu freudigen Gehilfen<br />

bei der Ausbreitung allumfassender<br />

Kontrolle über das Leben jedes Einzelnen<br />

werden. Und eigentlich ist es doch<br />

auch wirklich besser, eine Kamera in jedem<br />

Zimmer zu haben, damit die hinfällige<br />

Mutter sich nicht unbemerkt etwas<br />

tut. Und großartig ist es auch, Opfer von<br />

Entführungen in Sekundenschnelle aufspüren<br />

zu können, weil schon den Kindern<br />

ein Chip eingepflanzt wurde, über<br />

den sie jederzeit lokalisierbar sind. Ganz<br />

und gar fabelhaft überdies, wenn Politikern<br />

Hinterzimmerkunkeleien unmöglich<br />

werden, weil sie Tag und Nacht eine<br />

Kamera um den Hals tragen, die jeden ihrer<br />

Schritte und jedes Gespräch öffentlich<br />

macht. Wäre es da nicht der Weg zur vollendeten<br />

Demokratie, wenn jeder Bürger<br />

verpflichtet wäre, ein „TruYou“-Konto<br />

einzurichten, über das nicht nur – mit<br />

Klarnamen, nicht länger anonym – alle<br />

Internetaktivitäten abgewickelt würden,<br />

sondern das auch den Eintrag ins Wählerverzeichnis<br />

vollzieht? Alle Menschen<br />

gingen plötzlich zur Wahl!<br />

Wie die Parolen zur Abschaffung der<br />

Privatheit stammt auch dieser Vorschlag<br />

von der kreativen Mae. Die „Weisen“<br />

freuen sich unbändig darüber, denn natürlich<br />

ist es sehr viel angenehmer, wenn<br />

der Vorschlag für totalitäre Zugriffe aus<br />

der Masse selbst kommt. Mae, die als<br />

Erste im „Circle“ begonnen hat, mit der<br />

Kamera um den Hals ein „transparentes“<br />

Leben zu führen, ist dabei mit ihrem Bedürfnis,<br />

beachtet, gelobt und geliebt zu<br />

werden, das ideale Sektenmitglied – der<br />

Leser nämlich denkt bei alledem nicht<br />

nur an Google oder Facebook, er wird<br />

auch den Gedanken an „Scientology“<br />

nicht los. Und sieht in Eggers’ Roman,<br />

wie eine auf die totale Herrschaft über<br />

Seele, Geist und Körper angelegte, dabei<br />

Geldmittel in großem Stil an sich bringende<br />

Vereinigung eben nicht an die Lust<br />

am Bösen, sondern gerade an die besten<br />

Absichten aller anknüpft: Alle Maßnahmen<br />

des „Circle“ haben neben ihrer<br />

machtexpansiven immer auch eine unmittelbar<br />

positive Seite.<br />

Auf die grundlegende Ambivalenz<br />

der Menschen wie der Erfindungen, mit<br />

denen der „Circle“ seine Verfügungsgewalt<br />

ausbaut, ist Eggers’ Roman gegründet.<br />

Widerstand findet sich demgegenüber<br />

kaum: Maes Eltern haben<br />

von der Totalüberwachung schließlich<br />

genug, Maes früherer Freund Mercer<br />

flieht in die Wälder (und nimmt, von einem<br />

Mob und „Circle“-Drohnen verfolgt,<br />

ein trauriges Ende). Doch liegt<br />

das Ungleichgewicht zwischen Ablehnung<br />

und Bejahung ganz in der Logik<br />

des Buches: Weshalb ein intelligenter<br />

Mensch sich engagiert zum Werkzeug eines<br />

nach Weltherrschaft strebenden Privatunternehmens<br />

macht, darum geht es,<br />

und höchst spannend werden die Konsequenzen<br />

dieser Bereitschaft ausgebreitet.<br />

<strong>Das</strong>s dies keine grundstürzende Literatur<br />

ist, ist da völlig egal. Wann zuletzt<br />

hätte uns ein Roman die Welt, in der wir<br />

gerade zu leben beginnen, so bis ins Detail<br />

einsichtig gemacht? Und wie ambivalent<br />

erscheint danach plötzlich selbst die<br />

gute alte Forderung „Ändere die Welt,<br />

sie braucht es!“ Frauke Meyer-Gosau<br />

Dave Eggers<br />

„Der Circle“<br />

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und<br />

Klaus Timmermann<br />

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 560 S.,<br />

22,99 €<br />

125<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


CICERO: PLAT T<br />

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Oh, diese kleinen<br />

Niederlagen<br />

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Bitte sprechen Sie uns an. E-Mail: hotelservice@cicero.de<br />

Wenn ein emeritierter Professor<br />

für Öffentliches Recht ein<br />

Buch schreibt, das Roman<br />

heißt, und wenn in diesem Buch ein<br />

Rechtsanwalt die Hauptfigur ist, dem<br />

„die Vorstellung gefallen hatte, als Richter<br />

oben zu sitzen“, und wenn dieser verhinderte<br />

Richter „einer jüngeren Frau<br />

was bieten“ konnte und sich nun „einen<br />

Reim machen“ will auf die Geschichte eines<br />

Gemäldes, das verschwand und nach<br />

40 Jahren wieder auftaucht und auf dem<br />

seine ehemalige Geliebte Irene zu sehen<br />

ist, weshalb er dem Gemälde nach Australien<br />

hinterherreist, seine Ehe, die er<br />

„erfolgreich durchgezogen“ hatte, zurücklässt<br />

und lernt, „was wirklich geschehen<br />

ist, ist doch etwas anderes, als<br />

was Menschen sich ausdenken“, aber<br />

beharrt, „dass es mit Irene anders hätte<br />

laufen können, als es gelaufen war“, und<br />

wenn dieser Anwalt in Australien auf die<br />

schwer kranke Irene trifft und deren Ex-<br />

Mann und den Maler des Bildes und erfährt,<br />

dass Irene, die „sich eine Menge“<br />

herausnahm, in der DDR untergetaucht<br />

war, und wenn der Jurist schließlich sein<br />

„altes Leben nicht mehr“ will und das<br />

Denken „nicht abstellen“ kann, obwohl<br />

er dabei „nichts zustande brachte“, und<br />

sich also fragt, ob es „gerade die kleinen<br />

Niederlagen“ sind, „über die wir nicht<br />

hinwegkommen“ – können wir dann dieses<br />

Buch, das selbst als Paulo-Coelho-Parodie<br />

kaum funktioniert, einen Roman<br />

nennen und den emeritierten Professor<br />

Schlink einen Schriftsteller? Nein, können<br />

wir nicht. Können wir beim besten<br />

Willen leider nicht. Alexander Kissler<br />

Bernhard Schlink<br />

„Die Frau auf der Treppe“<br />

Diogenes, Zürich 2014. 256 S., 21,90 €<br />

<strong>Cicero</strong>-Hotel


SALON<br />

Literaturen<br />

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Biografie<br />

<strong>Das</strong> Böse ist<br />

immer nur ein Teil<br />

Volker Reinhardt porträtiert<br />

den Marquis de Sade als<br />

Widerständler und Libertin<br />

Wüstling, Ketzer, diabolische<br />

Ausgeburt: Mit dem Marquis<br />

de Sade schien der Antichrist<br />

auf Erden geboren. Solche Attribute<br />

durchziehen die Rezeptionsgeschichte<br />

seiner vor Perversitäten und Ferkeleien<br />

nur so strotzenden Schriften. Mit Romanen<br />

wie „Juliette oder die Vorteile des<br />

Lasters“ verbinden sich die Feier des Verbrechens<br />

und orgiastische Exzesse. Doch<br />

wirkt in den erschütternden Dokumenten<br />

mehr als die bloße Anarchie eines Geisteskranken?<br />

Wie viel philosophisches<br />

Kalkül steckt dahinter?<br />

Glaubt man Volker Reinhardts imposanter<br />

Biografie über den „Unterwanderer<br />

aller Werte“, wie er ihn mit<br />

Seitenblick auf den späteren Nietzsche<br />

nennt, so trieben im Kopf des am 2. Juni<br />

1740 geborenen Sohnes eines provenzalischen<br />

Landadelsgeschlechts ganz andere<br />

Kräfte ihr Unwesen, nämlich überraschenderweise<br />

jene der Aufklärung.<br />

Um diesen interpretatorischen Kunstgriff<br />

plausibel zu machen, stellt der Freiburger<br />

Historiker – bislang vor allem durch<br />

seine Studien zur Renaissance bekannt –<br />

Leben und ausführliche Werkexegese gegenüber.<br />

Und siehe da, hinter der Fratze<br />

des Grauens tritt ein Januskopf hervor.<br />

Zwar ist unbestritten, dass sich der<br />

gräfliche Dandy allzu gern widerwärtigen<br />

sexuellen Experimenten hingab und<br />

dafür mehrfach inhaftiert wurde. Doch<br />

Reinhardt zeigt auch den Kontrast: Während<br />

der Misanthrop de Sade in seinen<br />

Texten die Schwachen buchstäblich abschlachtete,<br />

war er tatsächlich auch ein<br />

generöser Freigeist, der gleich mehrere<br />

Familien in Not mit Almosen versorgt haben<br />

soll. Zudem war er aufgrund staatlicher<br />

wie kirchlicher Repression ein<br />

couragierter Aktivist während der Französischen<br />

Revolution. Also ein leuchtendes<br />

Bild mit dunklen Abgründen?<br />

Nicht allein sein bürgerschaftliches<br />

Engagement lässt einen grazilen Herrn<br />

des aufgeklärten Humanismus erkennen,<br />

sondern gleichfalls seine Prosa. Selbst<br />

wenn sich der Leser manchmal nicht des<br />

Eindrucks erwehren kann, dass Reinhardt,<br />

obwohl er es von sich weist, uns<br />

einen Wolf als Schaf verkaufen möchte,<br />

offenbart sein Zugang ein vielschichtiges<br />

Prisma. Wer etwa „Aline und Valcour“<br />

(1793) zur Hand nimmt, sieht in<br />

den Missbrauchsszenen auf einem versteckten<br />

Schloss die ganze Bestialität der<br />

menschlichen Seele, empfindet aber keinen<br />

Genuss daran.<br />

Im Gegenteil: Der Autor übt sich als<br />

Seelenanalytiker, dessen Schilderungen<br />

auf eine, so Reinhardt, „Ethik des Widerstandes“<br />

hinausliefen. Von seinem Gefängnis<br />

aus sah der Romancier täglich<br />

die Guillotine und den Blutdurst der Mitmenschen.<br />

Indem er seiner Literatur das<br />

Übel der menschlichen Seele einschreibt,<br />

will er den Leser provozieren, ihn zur<br />

Rebellion gegen das Verkommene und<br />

für die Freiheit anstiften. <strong>Das</strong> Böse ist<br />

keine Zeremonie, sondern ein Motiv zum<br />

Aufbegehren. <strong>Das</strong>s der Graf auch konkret<br />

eine bessere Welt vor Augen hatte,<br />

wird en passant in einem Inselparadies<br />

anschaulich, das er den düsteren Orgien<br />

in „Aline und Valcour“ gegenüberstellt.<br />

Frühsozialismus trifft auf Liberalismus.<br />

Widersprüche bleiben und lassen<br />

Diskussionsstoff für Jahrhunderte: Freud<br />

schrieb ausgehend von der Persona non<br />

grata seine Gedanken zum „Sadismus“<br />

nieder, der Surrealist André Breton sah<br />

im Marquis den Vorboten des freien Denkens<br />

– und die Gegenwart? Die schaut das<br />

Dschungelcamp und bunte Sado-Maso-<br />

Reportagen zum Amüsement. „Der Marquis<br />

hätte sich vor Grauen und Lachen<br />

geschüttelt.“ Die Dekadenz scheint gängige<br />

Praxis geworden, „die Anstößigkeit<br />

ist heute von allen Seiten bedroht. Sie<br />

wiederherzustellen war ein Ziel dieser<br />

Biografie.“ Dem kann man nur zustimmen:<br />

Ein ambitionierter Auftakt für eine<br />

Debatte über die Wurzeln des Bösen und<br />

seines Gegenteils. Björn Hayer<br />

Volker Reinhardt<br />

„De Sade oder Die Vermessung<br />

des Bösen“<br />

C. H. Beck, München 2014. 464 S., 26,95 €<br />

Zwei Brüder.<br />

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127<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


SALON<br />

Literaturen<br />

Erzählungen<br />

Vor dem Tod noch ein Banana-Split<br />

Auf Geschichten wie diejenigen von Karen Köhler haben wir lange<br />

gewartet: Sie sind unsentimental, witzig, dabei grundernst<br />

Nichts an meinem Elternhaus ist<br />

einladend. Der Zaun hat Zacken.<br />

Die Bäume Nadeln. Die Hecken<br />

Dornen. Die Jalousien sind heruntergelassen,<br />

die Türen verschlossen, die<br />

Schlösser mit Schlössern gesichert. Die<br />

Hälfte vom Rasen vorne ist weg, dafür<br />

gibt es eine asphaltierte Einfahrt, auf der<br />

ein Auto parkt, das schon länger nicht bewegt<br />

wurde. Mutter hat keinen Führerschein<br />

und Vater kann das Auto seit dem<br />

Schlaganfall nicht mehr fahren. Er kann<br />

nur noch seinem Tod entgegenliegen.“<br />

Diese Autorin hält sich mit Gefühlsduseleien<br />

nicht lange auf. <strong>Das</strong> Elternhaus<br />

ist schrecklich, die Eltern sind schrecklich,<br />

die Besuche bei ihnen sind schrecklich.<br />

Die Nachbarn sind auch schrecklich:<br />

„Frau Wichert (…) kommt mir mit Schirm<br />

und schlechter Laune entgegen. Sie führt<br />

eine Wurst mit Beinen aus. Ich glaube,<br />

die Sorte nennt man Beagle.“<br />

Ich muss lachen. Karen Köhler<br />

schreibt schlecht gelaunt, hat dabei trotzdem<br />

jede Menge Witz und erfindet unerhörte<br />

Bilder. In ihren Erzählungen<br />

geht es um das Scheitern der Liebe, ums<br />

Kranksein und Altwerden, um den Tod,<br />

um Verlust und Enttäuschung, und immer<br />

„4. Du riechst<br />

nach meinem<br />

Vater. 5. Du hast<br />

keine Ziele.<br />

6. Deine Socken<br />

haben Löcher“<br />

ist das irgendwie auch komisch. In einer<br />

der Storys ist das Hobby der Ich-Erzählerin<br />

das traditionelle Brokatweben auf<br />

alten Webstühlen. Und was webt sie? <strong>Das</strong><br />

Konterfei von Verbrechern. Verbrecher<br />

in Brokat. Originell finde ich auch die<br />

Top-Ten-Liste „Warum-ich-nicht-mit-dirzusammen-sein-kann“:<br />

„1. Du besitzt nur<br />

ein einziges Buch. 2. <strong>Das</strong> Buch trägt den<br />

Titel ‚Excel for Dummies‘. 3. Du trinkst<br />

immer. 4. Du riechst nach meinem Vater.<br />

5. Du hast keine Ziele. 6. Alle deine Socken<br />

haben Löcher. 7. Immer lässt du Verschlüsse<br />

offen. 8. Du gehst nicht wählen.<br />

9. Deine Küsse schmecken nach Asche.<br />

10. Du wirst mich verlassen.“<br />

DIESE LISTE SAGT MEHR über die Frau<br />

aus, die sie geschrieben hat, als über den<br />

Mann, an den sie gerichtet ist. Die Frau<br />

hat ein Problem mit ihrem Vater, sie liest<br />

viel, sie ist ordentlich, sie geht wählen,<br />

sie hat Verlassensängste. <strong>Das</strong> heißt, unsere<br />

coole Erzählerin ist ein Mensch mit<br />

Verantwortungsgefühl und großer Sensibilität<br />

hinter einer eher patzigen Fassade.<br />

Und von Geschichte zu Geschichte<br />

gewinnen wir sie lieber und machen uns<br />

Sorgen wegen ihres anstrengenden Lebens,<br />

bewundern ihre Tapferkeit in<br />

schlimmen Krankheiten, möchten ihr begegnen<br />

und ihr ein Glas Wein spendieren.<br />

Karen Köhler schreibt sich mit ihrer<br />

lässigen und doch hochkonzentrierten<br />

Prosa direkt in mein Herz. Auf<br />

diese Sichtweise habe ich schon lange<br />

gewartet: weg vom Betroffenheitston<br />

im hundertsten „Ich-habe-Krebs-undmeine-Eltern-sind-dement-und-was-istwohl-der-Tod“-Roman.<br />

Hier ist der Tod<br />

überall, mitten im Leben, ganz normal,<br />

und es wird kein großes Gewese darum<br />

gemacht, Krankheit ist ein Teil des Lebens,<br />

gegen den Auflehnung sinnlos<br />

ist, Augen zu und durch. Umso grotesker,<br />

dass ausgerechnet Karen Köhler die<br />

Windpocken bekam, als sie dieses Jahr<br />

in Klagenfurt lesen sollte. Schade, denn<br />

dieser Klartext hätte im intellektuellen<br />

Spinnengewebe des Wettbewerbs ordentlich<br />

Durchzug gemacht. Die Geschichte,<br />

die gelesen werden sollte, heißt „Il Comandante“:<br />

eine krebskranke junge Frau<br />

und ein rollstuhlfahrender Altfreak begegnen<br />

sich in der Klinik und machen<br />

es sich ein bisschen nett. Ich muss wahrscheinlich<br />

sterben, sagt sie. Klar musst<br />

du das, lacht er, müssen wir doch alle,<br />

aber vorher kann man wohl noch mal<br />

ein Banana-Split-Eis essen. Sie essen eins,<br />

und er stirbt, und sie verzweifelt daran<br />

fast mehr als an ihrem Krebs.<br />

Köhlers Figuren sind Außenseiter,<br />

Kranke, Einsame, aber sie sind auch Comandante,<br />

Indianer und Raketenangler.<br />

Ein Mädchen mit Kälte im Herzen und<br />

Zukunftsangst reist durch Italien und<br />

schickt Postkarten, Polar nennt sie sich.<br />

Rom, Ischia, Neapel, Pompeji, es wird<br />

wärmer, auf der 14. Postkarte erscheint<br />

das Wort „Liebe“ und auf der 17. ein<br />

„Ja“: knapp, schön, einfach. In „Name Tier<br />

Beruf“ kommt ein Björn nach 15 Jahren<br />

mit einer Flasche Champagner zurück,<br />

als wäre nichts passiert, als wäre seine<br />

Freundin nicht tot, und als hätte er ihre<br />

Schwester damals nicht geschwängert –<br />

immer atemloser wird die Geschichte,<br />

aber am Ende ist Frieden. Immer schafft<br />

es Karen Köhler, in das Lebensdurcheinander<br />

Ruhe und eine Art Frieden zu bringen,<br />

selbst wenn es der Frieden des Todes<br />

ist. Sie schreibt lakonisch, knapp, und sie<br />

endet sanft: So ist es eben. Karen Köhler<br />

wollte Kosmonautin werden, nun ist sie<br />

eine: eine <strong>neue</strong> Stimme im Kosmos der<br />

Literatur. <br />

Elke Heidenreich<br />

Karen Köhler<br />

„Wir haben Raketen geangelt“<br />

Hanser, München 2014. 240 S., 19,90 €<br />

128<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


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SALON<br />

Bibliotheksporträt<br />

DIESER FLUSS<br />

BIST IMMER NUR DU<br />

Die lettische Organistin Iveta Apkalna verdankt Harald Schmidt<br />

ihr Deutsch, Hermann Hesse einen Zuspruch in schwerer<br />

Stunde und Imants Ziedonis Ratschläge fürs ganze Leben<br />

Von CLAUDIA RAMMIN<br />

Der Olymp hat es ihr angetan. Jener Ort, in dem sich diejenigen tummeln,<br />

die Großartiges geleistet haben. Wie jene, denen der lettische Autor<br />

Peteris Apinis in seinem Buch „Hundred great Latvians“ ein Denkmal<br />

setzt. Den schweren Band auf den Knien, sucht Iveta Apkalna unter den<br />

alphabetisch aufgeführten Namen solche, die westeuropäischen Ohren geläufig<br />

sein dürften: Mark Rothko, Gidon Kremer, Sergei Eisenstein, Heinz<br />

Erhardt. „Eine erstaunliche Leistung für ein Zwei-Millionen-Volk, aber für<br />

die lettische Musikerin gibt es in dieser Galerie offenbar keinen Platz mehr“,<br />

scherzt sie und bekennt, dass sie offenbar nicht ganz so weit sei.<br />

Iveta Apkalnas Instrument ist die Orgel, ein majestätisches Monstrum,<br />

das zu bespielen Schwerstarbeit bedeutet. Wer die 36-jährige Mutter zweier<br />

kleiner Kinder sieht, traut ihr das kaum zu: Feenhaft schwebt sie auf High<br />

Heels durch ihre Berliner Altbauwohnung. Dort stehen hinter der Eingangstür<br />

Bücherregale mit Biografien berühmter Komponisten und Pianisten,<br />

Werken gängiger amerikanischer Autoren wie Bill Bryson, Oliver Sacks und<br />

fast alles von Henning Mankell. Ihr Vater war Kriminalinspektor, als kleines<br />

Mädchen wollte sie das auch werden. Aber offenbar habe sie jemand<br />

mit Fernbedienung in die richtige Richtung geschickt, meint Iveta Apkalna<br />

und richtet den Blick kurz gen Himmel.<br />

Üben nicht meistens Männer den Beruf des Organisten aus? In Lettland<br />

sind es hauptsächlich Frauen, denn „Frauen in postsowjetischen Ländern<br />

sind sehr stark, wir halten viel aus“. Sie habe zur Orgel eine intensive Beziehung<br />

– wie zu einem Partner, dessen Stärken und Marotten man kennen<br />

sollte. Stur, eigensinnig und geradezu „maximalistisch“ sei sie ihren Weg<br />

gegangen – als Einzelkind, sich mehr oder weniger selbst überlassen. Weil<br />

die Mutter als Pianistin viel arbeitete, „musste ich eine Menge selbst schaffen“.<br />

Mit 15 Jahren beschloss Iveta Apkalna, an der Musikschule ihrer Heimatstadt<br />

Rezekne, südöstlich von Riga, neben Klavier Orgel zu studieren.<br />

Es war die allererste Orgelklasse in Lettland nach der politischen Wende.<br />

Schnell merkte sie, dass das Instrument „jeden Millimeter in meinem Körper<br />

bewegt, auch psychisch, als ob ich gespielt würde“.<br />

130<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Ihre Mutter besaß eine riesige Kollektion Schallplatten, überwiegend<br />

Klavier- und Orgelmusik, oft geistlicher Art. Die hörte sie als Kind mit Begeisterung<br />

– obwohl unter der sowjetischen Besatzung alles verboten war,<br />

was mit Religion und Kirche zu tun hatte. Mit 16 spielte sie Orgel beim Besuch<br />

von Papst Johannes Paul II. in Lettland. Defizite habe es während der<br />

sowjetischen Zeit in Lettland in allen Bereichen gegeben. Bücher waren rar.<br />

Viele der Originalwerke lettischer Klassiker stehen nun neben lettischen Ausgaben<br />

deutscher Literaten im Regal in Riga, dem Zweitwohnsitz. Manches<br />

Werk wandert hin und her. Etwa Janis Rainis, „unser größter, wichtigster<br />

Autor“, der Goethes „Faust“ ins Lettische übersetzte. „Feuer und Nacht“<br />

zähle zu den Meilensteinen der lettischen Befreiungsliteratur, sagt Apkalna.<br />

Lettisch, Englisch, Deutsch: Die Musikerin zappt mit hohem Tempo<br />

durch die Sprachen. Ihr perfektes Deutsch hat sie während der Studienzeit<br />

an der Musikhochschule Stuttgart durch Harald Schmidt und dessen Show<br />

gelernt. Jeden Abend saß sie vor dem Fernseher, verstand zwar kein Wort,<br />

aber ihr Wunsch, die deutsche Sprache zu lernen, war geweckt. Sie holte<br />

sich das Rüstzeug dann während eines Sprachkurses in Riga. Damals wusste<br />

sie nicht, dass der Entertainer selbst Organist ist – später gab sie mit ihm<br />

gemeinsam in der Kölner Philharmonie ein Konzert für Kinder.<br />

Als ihr gegen Ende des Studiums nicht klar war, was aus ihr werden<br />

sollte, stieß Iveta Apkalna auf Hesses „Siddharta“ und war fasziniert von<br />

der Suche des jungen Helden nach seinem Weg. Gleichzeitig beschäftigte<br />

sie sich mit der Musik von Philip Glass und entdeckte Parallelen. Die Minimal<br />

Music, deren Rhythmen sich litaneihaft wiederholen, sei wie ein steter<br />

Fluss, der sich nicht ändert. „Doch während ich an diesem Fluss sitze, verändere<br />

ich mich.“ <strong>Das</strong> war auch bei anderen Werken von Hesse wie dem<br />

„Glasperlenspiel“ zu spüren und habe ihr bei der Selbstfindung geholfen.<br />

Welches Buch würde sie heute zur Hand nehmen, wenn sie nicht mehr<br />

weiterwüsste? Die „Epifanijas“ von Imants Ziedonis. Sie greift nach dem<br />

schmalen Bändchen und zitiert: „Es gibt viele Wahrheiten in dieser Welt.<br />

Man droht verrückt zu werden, wenn man nicht seine eigene hat.“ <strong>Das</strong> Buch<br />

begleitet sie fast immer, sie lese die Weisheiten jedes Mal neu. So wie sie<br />

seit 15 Jahren dieselben Werke von Bach spielt, dem Komponisten, der für<br />

sie Alpha und Omega ist.<br />

Sie liest Bücher in lettischer, zuweilen auch russischer Sprache. Den Kindern<br />

erzählt sie deutsche Geschichten auf Lettisch. Ihr Mann, ein Deutscher,<br />

von Beruf Tonmeister und Produzent, lernt Lettisch, „natürlich“. Jüngst haben<br />

sie während ihres Urlaubs parallel auf Deutsch und Lettisch „Homo<br />

Novus“ von Anslavs Eglitis gelesen und sich sehr amüsiert über die liebevoll-spöttische<br />

Betrachtung der Kunstszene im Riga der zwanziger Jahre.<br />

Den lettischen Pass will Iveta Apkalna behalten. Augenzwinkernd fügt<br />

sie hinzu: „Never say never.“ In Apinis’ Buch über die berühmten Letten<br />

blättert sie oft. „Seit ich in Deutschland lebe, bin ich patriotischer geworden.“<br />

Foto: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong><br />

CLAUDIA RAMMIN würde die Werke von Bach gerne so gut spielen wie Apkalna<br />

133<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


SALON<br />

Hopes Welt<br />

TWEET! KLATSCH! POST IT, AMADEUS!<br />

Wie ich einmal in Bristol dem Kommunikationswahn erlag und<br />

so die Musik von übermorgen erlebte<br />

Von DANIEL HOPE<br />

Die gegenwärtige Debatte über die Zukunft<br />

der klassischen Musik verfolge ich<br />

mit großem Interesse. Auf der einen Seite<br />

stehen die eingefleischten Klassikliebhaber, die<br />

ihre Musik genauso genießen wollen wie eh und<br />

je. Auf der anderen Seite will eine ganze Bewegung<br />

klassische Musik „anders“ präsentieren,<br />

vom Ort bis zur Dramaturgie des Abends. Dazwischen<br />

stehen wir Interpreten, die sich entscheiden<br />

müssen, zu welcher Gruppe wir gehören. Sehr<br />

oft erwähnt die <strong>neue</strong> Bewegung jene Lockerheit,<br />

die im 18. Jahrhundert im Konzertsaal herrschte.<br />

Wenn man aber bedenkt, dass sich damals die<br />

Leute lautstark unterhielten, rauchten, tranken<br />

und Karten spielten, oder dass die Herren gerne<br />

mit dem Rücken zum Podium saßen, damit sie<br />

den Damen besser in die Augen schauen konnten,<br />

gelangt man zu der Erkenntnis, dass nicht jeder<br />

Fortschritt unbedingt negativ ist.<br />

Jedoch sorgt das Abo-Publikum auch heute<br />

für genügend Störfaktoren. Die Palette reicht<br />

von endlosen Hustenanfällen über herunterfallende<br />

Schlüsselbunde bis zum vehementen Türenknallen<br />

von Besuchern, die vorzeitig nach<br />

Hause gehen. Hochsensible Musiker lassen sich<br />

durch derartige Geräuschentwicklungen aus<br />

der Fassung bringen. Von dem Pianisten Alfred<br />

Brendel war bekannt, dass er allergisch auf intensives<br />

Husten reagierte, vernichtende Blicke<br />

ins Auditorium warf und manchmal rief: „Ich<br />

weiß nicht, ob Sie mich hören, ich höre Sie gut!“<br />

Neulich spielte ich bei der Bristol Proms, einem<br />

<strong>neue</strong>n Festival, gegründet vom britischen<br />

Theaterregisseur Tom Morris und Universal Music.<br />

Die Konzerte finden im wunderschönen,<br />

1766 erbauten Old Vic Theatre statt. Morris’ Anliegen<br />

ist es, klassische Musik auf höchstem Niveau<br />

unprätentiös darzubieten. Im letzten Jahr<br />

wurde mein Konzert mit einer Computeranimation<br />

ergänzt, Kameras folgten meinen Bewegungen<br />

und produzierten spontan etwas dazu. Ein<br />

Teil des Publikums steht direkt vor der Bühne, so<br />

wie es bei der Londoner Proms Tradition ist.<br />

Vor jedem Konzert wendet sich Morris an<br />

das Publikum: Klatschen ist stets erlaubt, jeder<br />

darf fotografieren, sofern das Bild gleich gepostet<br />

oder getweetet wird. Der letzte Punkt ist heikel.<br />

Unlängst ist der legendäre Pianist Krystian<br />

Zimerman bei einem Rezital explodiert, als er einen<br />

Besucher entdeckte, der ihn mit dem Handy<br />

filmte. Zimerman habe viele Plattenprojekte verloren,<br />

weil man ihm sagte, das Repertoire sei<br />

bereits auf Youtube, erklärte er wenige Minuten<br />

später. In Bristol entschloss ich mich, dem<br />

Kommunikationswahn, der unsere heutige Gesellschaft<br />

hemmungslos infiltriert, einen Schritt<br />

näherzutreten. Für die zweite Hälfte meines<br />

Konzerts setzte ich eine Google-Brille auf und<br />

filmte die anderen Musiker und das Publikum.<br />

Interessant war die Reaktion eines Mannes,<br />

der die ganze erste Hälfte mit seinem Handy gefilmt<br />

hatte und sich jetzt lauthals über die Verletzung<br />

seiner Rechte beschwerte. Als er sich jedoch<br />

am nächsten Tag auf meiner Facebook-Seite<br />

verewigt sah, schrieb er begeisterte Kommentare<br />

dazu. So also klingt die Zukunftsmusik.<br />

DANIEL HOPE ist Violinist von Weltrang und schreibt<br />

jeden Monat in <strong>Cicero</strong>. Sein Memoirenband „Familienstücke“<br />

war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch<br />

„Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“<br />

( Rowohlt ) und die CD „Spheres“. Er lebt in Wien<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

134<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


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www.geo.de<br />

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SALON<br />

136<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


Foto: Ali Ghandtschi/Photoselection<br />

T.C.<br />

Die letzten 24 Stunden<br />

Schreiben, weiter<br />

schreiben,<br />

bis der Wald um<br />

mich schweigt<br />

BOYLE<br />

Tom Coraghessan Boyle<br />

Der aus New York stammende, in<br />

Kalifornien lebende Schriftsteller<br />

schrieb zahlreiche Kurzgeschichten<br />

und Romane, zuletzt „San Miguel“.<br />

Als später Beatnik schürft er in der<br />

Seele der amerikanischen Nation<br />

Eigentlich sind 24 Stunden eine<br />

Zeit, in der man so ziemlich alles<br />

und nichts erledigen kann.<br />

Vielleicht ist es somit keine<br />

schlechte Idee, einfach im Bett<br />

liegen zu bleiben und sich noch ein wenig<br />

auszuruhen, bevor das ewige Ende<br />

naht. Denn wozu noch sich anstrengen,<br />

wozu noch Blumen gießen, Versicherungen<br />

abschließen und das Zeitungsabonnement<br />

kündigen, wenn sowieso bald alles<br />

vorbei sein wird? Ebenso wenig bin<br />

ich der geeignete Typ für letzte Worte<br />

an Freunde und Familie. Wahrscheinlich<br />

werde ich mich deshalb einfach aus dem<br />

Staub machen und ganz allein in die Wälder<br />

fahren.<br />

Auf dem Weg dahin mache ich noch<br />

kurz auf dem Friedhof von Santa Barbara<br />

Halt. Es ist kein trostloser, sondern<br />

ein schöner Ort, nur eine Meile von unserem<br />

Haus entfernt. Bislang habe ich in<br />

diesem Ort kaum mehr als ein störendes<br />

Hindernis auf dem Weg zum Strand gesehen,<br />

weshalb es gewiss nicht schaden<br />

könnte, mich dort schon einmal persönlich<br />

vorzustellen und mich als Bewohner<br />

in spe mit den örtlichen Gepflogenheiten<br />

vertraut zu machen.<br />

Danach fahre ich weiter in die Bergregionen<br />

Kaliforniens. Im Radio laufen<br />

die Beach Boys oder, besser noch, die<br />

Ramones. Erst als ich nach ein paar Stunden<br />

jene Waldhütte erreiche, in die ich<br />

mich sonst gelegentlich für mehrere Wochen<br />

zum Schreiben zurückziehe, wird<br />

mir klar, dass ich nun plötzlich wirklich<br />

allein bin. Es gibt dann nichts mehr, was<br />

mich auf den letzten Metern noch verletzen<br />

oder enttäuschen könnte, denn das<br />

können ja nur Menschen. Und so ist es ein<br />

beruhigendes Gefühl, schließlich nichts<br />

als Tiere um sich herum zu haben, die mir<br />

bei unserer Unterhaltung kurz vor dem<br />

Tod nur noch jene Antworten geben, die<br />

ich hören will.<br />

Natürlich hätte ich auch meine<br />

Schreibmaschine dabei. Früher hatte ich<br />

mir immer fest vorgenommen, 95 Jahre<br />

alt zu werden und nur bis 94 zu schreiben,<br />

um das letzte Jahr dann mit Golfspielen<br />

verbringen zu können. Mittlerweile<br />

würde ich es vorziehen, bis zum<br />

Schluss in die Tasten zu hauen, zu schreiben,<br />

bis ich vom Stuhl kippe. Ich glaube,<br />

dass sich aus dem nahenden Ende die<br />

größtmögliche Inspiration schöpfen lässt.<br />

Dabei sehe ich es bis heute eigentlich gar<br />

nicht ein, warum eines Tages überhaupt<br />

mit alledem Schluss sein soll.<br />

<strong>Das</strong>s bislang offenbar jeder Mensch,<br />

der einmal gelebt hat, auch gestorben ist,<br />

bedeutet doch keineswegs, dass es mir<br />

deshalb genauso ergehen muss. In der katholischen<br />

Mythologie ist die Jungfrau<br />

Maria auch nicht gestorben, sondern hat<br />

ohne Zwischenstopp den direkten Weg<br />

in den Himmel genommen. Nun bin ich<br />

zwar keine Jungfrau mehr, aber ich kann<br />

es zumindest mal versuchen.<br />

Und falls ich doch ganz irdisch und<br />

gewöhnlich in meiner Waldhütte abtreten<br />

sollte, wäre es ganz wunderbar zu<br />

wissen, dass die Person, die mich dort eines<br />

Tages halb verwest finden wird, sich<br />

die Mühe machen würde, meine Aufzeichnungen<br />

bei irgendeinem Verlag einzuwerfen.<br />

Vielleicht würde es nicht schaden,<br />

diese noch zu veröffentlichen, weil<br />

man ja in der Regel vor seinem Tod mehr<br />

zu Papier bringt als danach und es somit<br />

die allerletzten Zeilen sein könnten.<br />

Wirklich große Künstler jedoch machen<br />

auch nach ihrem Ableben weiter:<br />

Jimi Hendrix und Michael Jackson zum<br />

Beispiel produzieren noch immer mindestens<br />

ein Album pro Jahr.<br />

Aufgezeichnet von CLAAS RELOTIUS<br />

137<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


POSTSCRIPTUM<br />

N°-9<br />

PAZIFISTEN<br />

Nein, es sind nicht Leute wie Margot<br />

Käßmann, die den Pazifismus in<br />

Verruf bringen. Die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende<br />

hat zwar in einem Interview<br />

den viel zitierten Satz gesagt, sie fände es<br />

gut, wenn die Bundesrepublik nach dem<br />

Vorbild Costa Ricas auf eine Armee<br />

verzichten könnte. Um dann aber gleich<br />

einen weniger oft zitierten Satz hinterherzuschieben:<br />

„Natürlich weiß ich, dass das<br />

eine Utopie ist, allein wegen der Einbindung<br />

Deutschlands in die Nato.“ Käßmann,<br />

die ja manchen als der Inbegriff<br />

friedensbewegter Naivität gilt, ist so naiv<br />

eben doch nicht. Außerdem wird man<br />

einer Theologin kaum zum Vorwurf<br />

machen können, dass sie an ihrer Überzeugung<br />

festhält, mit immer mehr Rüstung<br />

lasse sich kein Frieden schaffen. Nur weil<br />

das ein bisschen nach Poesiealbum klingt,<br />

muss es ja nicht falsch sein.<br />

Aber man kann die Sache auch anders<br />

sehen, sogar als evangelischer Theologe.<br />

So wie Joachim Gauck, der den Vorwurf<br />

von 67 ostdeutschen Geistlichen, er folge<br />

nicht mehr den pazifistischen Grundsätzen,<br />

wie sie von den Kirchen in der DDR<br />

verfochten worden seien, so beantwortete:<br />

Der Bundespräsident könne nicht erkennen,<br />

dass der vom Evangelium gewiesene<br />

Weg ausschließlich der Pazifismus sei.<br />

Denn schuldig werden könne man sowohl<br />

mit einem Ja als auch mit einem Nein zu<br />

militärischer Gewalt. Die Terrorherrschaft<br />

des „Islamischen Staates“ und ein drohender<br />

Völkermord an den Jesiden lassen sich<br />

jedenfalls durch eine radikalpazifistische<br />

Verweigerungshaltung nicht aus der Welt<br />

schaffen. Wenn Gauck also darauf beharrt,<br />

im Kampf für Menschenrechte sei es<br />

„manchmal erforderlich, auch zu den<br />

Waffen zu greifen“, dann wird er damit<br />

nicht nur seiner Verantwortung als Staatsoberhaupt<br />

gerecht. Sondern auch der<br />

Schutzverantwortung der Vereinten<br />

Nationen.<br />

Man muss Gaucks Meinung nicht teilen.<br />

Ihn deswegen aber als „Dschihadisten“ zu<br />

beschimpfen, der „wie ein Irrer alle paar<br />

Monate dafür wirbt, dass sich Deutschland<br />

endlich wieder an Kriegen beteiligt“, ist<br />

eine infame Grenzüberschreitung. <strong>Das</strong>s sie<br />

ausgerechnet von einem CDU-Mitglied<br />

begangen wurde, nämlich dem Bestsellerautor<br />

und gern gesehenen Talkshowgast<br />

Jürgen Todenhöfer, scheint in der Union<br />

bisher kaum jemanden sonderlich zu<br />

stören. Für einen Parteiausschluss ist der<br />

selbst ernannte Friedensapostel Todenhöfer<br />

beim Volk wohl einfach zu populär.<br />

Seinen Vulgärpazifismus macht das aber<br />

keinen Deut besser.<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

ist stellvertretender Chefredakteur<br />

von <strong>Cicero</strong><br />

DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 25. SEPTEMBER<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

138<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014


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Mit praktischer Wochenansicht auf einer Doppelseite<br />

und herausnehmbarem Adressbuch. Begleitet von<br />

Karikaturen, bietet der Kalender viel Platz für Ihre<br />

Termine und Notizen. Im handlichen DIN-A5-Format,<br />

mit stabiler Fadenheftung und wahlweise in rotem<br />

Surbalin- oder schwarzem Ledereinband erhältlich.<br />

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