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1945 Brief Käthe Förster an Anni Siebert

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Frau<br />

<strong>Anni</strong> <strong>Siebert</strong><br />

15 Benshausen Thür.<br />

Hauptstr. 57 bei<br />

<strong>Käthe</strong> <strong>Förster</strong><br />

bei Wwe Rogkensack<br />

Achterhörn ü/Wilster Schlewig-Holstein


Achterhörn 29.12.45<br />

Meine Lieben.<br />

Will Dir schnell im alten Jahr<br />

noch ein paar liebe Zeilen zukommen<br />

lassen. Ach liebe <strong>Anni</strong>, wir sind leider<br />

nicht in Köln <strong>an</strong>gel<strong>an</strong>det m<strong>an</strong> hat uns<br />

belogen & betrogen. Genau 8 Tage waren<br />

wir unterwegs. 3 Nächte im kalten Zug<br />

ohne eine Fensterscheibe geschlafen<br />

& drei Nächte in 2 Lager. Lb. <strong>Anni</strong>,<br />

diese Tage werde ich im Leben nie<br />

vergessen. Aber Mittwoch mittags<br />

fuhren wir mit einem Kinderwagen voll<br />

beladen & 1 kl. H<strong>an</strong>dwagen ebenfalls schwer<br />

beladen, vier H<strong>an</strong>dtaschen &<br />

3 schwere Rucksäcke von Rudolstadt<br />

los. Na, ich schrieb Dir bevor wir abfuhren<br />

noch ein paar Zeilen mit den restlichen<br />

Marken. Hoffe doch, das Du vor<br />

Weihnachten noch eine Zuteilung darauf


ekommen hast. Aber wir sind bis<br />

Arenshausen hinter Heiligenstadt<br />

gefahren, nun ging der Treck los. Tausende<br />

von Flüchtlingen mit Gepäck &<br />

Wagen zogen über die L<strong>an</strong>dstraße in<br />

der Hoffnung in die Heimat zu kommen.<br />

Es war ein unendlich l<strong>an</strong>ger Weg.<br />

Die Kinder haben viel geleistet. Einen<br />

Durst hatten wir, denn im Zug bekamen<br />

wir kein Essen & zu trinken. Als wir über<br />

die Grenze gingen & den ersten Engländer<br />

sah, musste ich vor Freude weinen.<br />

Nun bekam ich neuen Mut, im Glauben<br />

in einen Zug gesetzt zu werden,<br />

der in die Heimat fuhr. Nein, wir<br />

mussten noch l<strong>an</strong>ge laufen, ob wir<br />

wollten oder nicht, in ein Lager. Dort<br />

wurden wir entlaust & untersucht.<br />

Nun bekamen wir den Bescheid, dass wir<br />

Heimatlos sind & Köln für uns gesperrt<br />

ist. Liebe <strong>Anni</strong>, ich dachte es hätte<br />

mir jem<strong>an</strong>d ins Gesicht gehauen.


Ich hätte vor Wut heulen können.<br />

Den <strong>an</strong>deren Tag ging es weiter bis<br />

Bad Segeberg in ein 2tes Lager.<br />

Dort wurden wir wieder entlaust &<br />

untersucht, ich kam mir vor wie<br />

ein fahrendes Volk. Na was wir<br />

armen Obdachlosen alles mitmachen<br />

müssen. Auf Strohsäcken Männlein<br />

& Weiblein durchein<strong>an</strong>der gelegen & ein<br />

Streit unter den Leuten. Dort mußten<br />

wir 2 Tage bleiben, bis der Zug uns<br />

nach Wilster brachte. Dort <strong>an</strong>gekommen<br />

st<strong>an</strong>den wir alle am<br />

Bahnhof & die Bauern nahmen uns<br />

auf ihren Wagen mit. Wir hatten<br />

das Pech, dass wir 9 km von der<br />

Stadt sind. Aber sehr gut haben wir<br />

es <strong>an</strong>getroffen. Eine Wwe. so alt wie<br />

ich & ein Mädel so alt wie Arthur, &<br />

der Junge von 18 Jahren ist noch<br />

nicht hier. Die Frau ist immer kr<strong>an</strong>k<br />

& muss viel im Bett liegen. 5 mal ist


sie am Leib operiert & darum immer<br />

so kr<strong>an</strong>k; nun ist sie so froh,<br />

dass wir bei ihr sind. Angelika melkt<br />

jeden Abend drei Kühe & gibt Futter &<br />

macht den Stall sauber. Auch ein<br />

Kalb von ¾ Jahr ist noch im Stall. Nun<br />

k<strong>an</strong>nst Du Dir denken, dass wir genug Milch<br />

bekommen. Kochen tut die Frau<br />

für uns mit. An Lebensmittel fehlt es<br />

uns hier nicht, Brot übergenug. Nur<br />

Kartoffel bekomme ich keine, dafür bekomme<br />

ich 9 Pfund w. Mehl & 12 Pfund<br />

Weißbrot den Monat. Also,<br />

<strong>an</strong> Brot kein M<strong>an</strong>gel. Wären unsere<br />

Marken dort bei Dir gültig, ich würde<br />

Dir gerne welche schicken. Es gibt für<br />

uns 3 den Monat <strong>an</strong> Butter 1.475 gr. &<br />

225 gr. Marg. Nährm. 13 1/2Pfund, Fleisch,<br />

1.800 gr., Brot 42 Pfund, Weißbrot 22 Pfund.<br />

Das Mehl ist so weiß, dass wir uns die<br />

Sonnenbrille <strong>an</strong>ziehen müssen. Lb.<br />

<strong>Anni</strong>, ich fühle mich wieder Sauwohl,<br />

nur die Heimat fehlt mir.


Habe der Mia geschrieben, sie<br />

möchte mir 1 Zimmer suchen. Mit<br />

dem Bürgermeister, der ebenfalls 9 km<br />

von hier weg wohnt, habe ich schon<br />

gesprochen, er gibt mir d<strong>an</strong>n die<br />

Ausreise-Genehmigung. Hoffentlich<br />

ist Georg schon in Köln, d<strong>an</strong>n kommt<br />

er uns holen. Die Frau will uns aber<br />

nicht weglassen, na was sollen wir<br />

tun. Also, der nächste <strong>Brief</strong>kasten<br />

ist 2 km von hier weg, die Häuser<br />

sind 200 – 300 mtr. ausein<strong>an</strong>der. Wenn<br />

m<strong>an</strong> einkaufen will, muß m<strong>an</strong><br />

9 km laufen. Hier ist es so einsam,<br />

da k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> wohl sagen: Hurra<br />

wir verblöden. Nicht weit von<br />

hier ist der Kaiser-Wilhelm-K<strong>an</strong>al.<br />

Wir haben soeben zu Abend gegessen.<br />

Sol<strong>an</strong>ge ich hier bin, haben wir<br />

kein Magenknurren mehr. Habe<br />

ein großes Zimmer mit 3 Fenster &


und 2 Betten, aber wir halten uns den<br />

Tag über bei der Frau auf. Wie habt<br />

Ihr Beiden das Weihn. Fest gefeiert?<br />

Den ersten Tag waren wir g<strong>an</strong>z allein,<br />

denn die Frau mit Kind waren den<br />

g<strong>an</strong>zen Tag fort. Hier bekamen die<br />

Kinder zu W. je 50 gr.Schok. 1Fruchtriegel,<br />

1/4Pf. Rosinen & 1 Backpulver. Ich<br />

be-kam 1/4Pf. „ & 1 Backp. Wir hatten<br />

schöne Kuchen gebacken. Was machst<br />

Du Silvester? Ihr Lieben, kommt<br />

gut ins neue Jahr, hoffe doch, das<br />

wir im kommenden Jahr zusammen<br />

sind. Von hier bis Köln sind<br />

noch 600 km. 3 Stunden Bahnfahrt<br />

sind wir in Hamburg. Lb. <strong>Anni</strong>,<br />

schreibe mir bitte bald einen l<strong>an</strong>gen<br />

<strong>Brief</strong>, es ist für die Einsamkeit<br />

eine Medizin. Meine Lieben, seid<br />

für heute recht herzlich gegrüßt<br />

von Eurer Katja und Kinder.


Wenn auch ‚nur‘ knapp 8 km war es mit Leiterwägelchen und unserer gesamten Habe ein fast<br />

spaßig wie auf dem obigen Bild zu sehen. Es waren englische Soldaten, die diese Prozedur au<br />

‚Nissenhütten‘ zwei oder drei Nächte, bevor uns 2 Tage Bahnfahrt in einem Zug ohne Verglas<br />

einem Kuhstall l<strong>an</strong>deten wir d<strong>an</strong>n glücklich bei Frau Roggendorf in Achterhörn, wo wir d<strong>an</strong>n bis<br />

Tage unterwegs waren.


nicht endender Weg. Von Arenshausen in das Lager Friedl<strong>an</strong>d. Die Entlausung war nicht so<br />

f dem Kopf und in die Hosen durchführten. Dicht gedrängt verbrachten wir d<strong>an</strong>n in den<br />

ung weiter in das nächste Lager nach Itzehoe brachte. Nach einer weiteren halben Nacht in<br />

zum März blieben um d<strong>an</strong>n (illegal) mit Ziel Hennef in einem offenen Güterzug fast 2 kalte

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