Gender und Gerechtigkeit in Gesellschaften - Hochschule Darmstadt

Gender und Gerechtigkeit in Gesellschaften - Hochschule Darmstadt Gender und Gerechtigkeit in Gesellschaften - Hochschule Darmstadt

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8 Das heißt nicht unbedingt, dass „Gleichheit“ aller Mitglieder einer Gesellschaft hergestellt werden muss. Gerecht kann – wie John Rawls das ausführlich demonstriert - in bestimmten Zusammenhängen auch Ungleichheit sein; z. B. dann, wenn Ungleichheit zum Gemeinwohl beiträgt. Was in sozialen Einheiten gerecht ist, wird von unterschiedlichen Denkansätzen her auch unterschiedlich gefasst. Friedrich August von Hayek sieht Gerechtigkeit dann gewahrt, wenn jede/r die Freiheit hat, seine Chancen wahrzunehmen. John Rawls entwickelt ein Kriterienraster, mit dessen Hilfe entschieden werden soll, wann sich eine Gesellschaft ihren Mitgliedern gegenüber gerecht verhält. Rawls fordert von der Gesellschaft institutionelle Vorkehrungen für die Gleichverteilung des Zugangs zu zentralen Gütern. Kommunitaristen wie Michael Walzer oder Ökonomen wie der Nobelpreisträger Amartya Sen sehen die Aufgabe der politischen Führung vor allem in der Sicherung von Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben, in dem der/die Einzelne seine Chancen auf ein befriedigtes Leben in Eigeninitiative und Selbstachtung selbst verfolgen kann. Durch die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten kann jede/r Lebenschancen wahrnehmen. Diese Forderung geht über die liberale Forderung des Nachtwächterstaates hinaus: Der Staat hat nicht nur dadurch Freiheitsrechte zu garantieren, dass er sich aus dem Leben seiner Bürger so weit wie möglich heraushält (negative Freiheitsrechte), sondern auch dadurch, dass er positive Freiheitsrechte aktiv herstellt. Die Chance zur Entfaltung der eigenen Fähigkeiten gibt dem Individuum Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten. Die vielseitig entwickelte Persönlichkeit, die mit der Freiheit auch Verantwortung übernimmt, hat auch höhere Chancen auf eine flexible Anpassung an sich wandelnde Bedingungen und damit auch bessere Überlebenschancen. Vor allem Bildung und Ausbildung, aber auch Chancen auf kulturelle Betätigung sind hier die ersten Voraussetzungen. Hinzu kommt gesellschaftliche Anerkennung, die Ermöglichung individueller Lebensplanung und die Abwesenheit von Unterwerfung und Ausbeutung. Die Gesellschaft stellt Rahmenbedingungen und Ressourcen zur Verfügung, damit sich ihre Mitglieder frei entwickeln können. Die Gegenleistung des Individuums besteht darin, seine Fähigkeiten zum Nutzen der Allgemeinheit anzuwenden und zwar so anzuwenden, dass es für die (Weiter-)Existenz der Gesellschaft und ihrer Handlungsmöglichkeiten aktiv Verantwortung übernimmt. Eine gerechte Gesellschaft und ein gerechter Staat fördern damit die Eigeninitiative und das soziale Handeln ihrer Mitglieder. Das ist eine der Grundlagen für den aktiven Sozialstaat. Nur da, wo die bereit gestellten Möglichkeiten für ein Individuum nicht ausreichen, selbst verantwortlich sein Leben in die Hand zu nehmen, hat der Staat Eingreifpflichten. Paternalistische Fürsorge ist demnach ein Ausnahmetatbestand, der sich beschränkt auf solche, die die Chancen nicht wahrnehmen können, die ihnen die Gemeinschaft zur Verfügung stellt. Februar 2007

9 Was bedeutet diese Betrachtung von Gerechtigkeit und Fairness als gesellschaftliche Norm für die Gender-Kategorien? Angewandt auf die Frage der gerechten Behandlung von Gender-Kategorien in einer Gesellschaft ist der Gerechtigkeitsgrundsatz Nr. zwei von Rawls (Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen) so interpretierbar, dass eine Arbeitsteilung, Güterverteilung, Machtverteilung zwischen den Kategorien nicht gleich, sondern pareto-optimal sein muss (Pareto-optimal ist eine Verteilung dann, wenn eine keine Umverteilung gibt, bei der nicht mindestens ein Beteiligter besser und keiner schlechter dasteht als zuvor). Rawls formuliert, dass nach seinem Modell „...unverdiente Ungleichheiten ausgeglichen werden sollten. Da nun Ungleichheiten der Geburt und der natürlichen Gaben unverdient sind, müssen sie irgendwie ausgeglichen werden. (S. 121)“ „Das Unterschiedsprinzip bedeutet faktisch, dass man die Verteilung der natürlichen Gaben in gewisser Hinsicht als Gemeinschaftssache betrachtet und in jedem Falle die größeren sozialen und wirtschaftlichen Vorteile aufteilt, die durch die Komplementaritäten dieser Verteilung ermöglicht werden. Die Unterschiede zwischen den Menschen sollen den weniger begünstigten zugute kommen. ... es ist auch nicht ungerecht, dass die Menschen in eine bestimmte Position der Gesellschaft hineingeboren werden. Das sind einfach natürliche Tatsachen. Gerecht oder ungerecht ist die Art, wie sich die Institutionen angesichts dieser Tatsachen verhalten.“ (S. 123) Rawls verkennt dabei aber nicht, dass die „Verteilung der natürlichen Gaben“ keine reine Naturtatsache sei, sondern er formuliert. „doch in gewissem Maße wird sie vom Gesellschaftssystem beeinflusst. (S. 129) Soziale Gerechtigkeit entsteht also dann, wenn Individuen nicht auf wirklich oder scheinbar natürliche Unterschiede in den Startchancen festgenagelt werden, sondern aktiv durch Umverteilung von Ressourcen daran gearbeitet wird, solche „Defizite“ zu kompensieren. Geht man wie wir davon aus, dass Unterschiede zwischen den Gender-Kategorien sozial hergestellt werden, liegt das Hauptgewicht von Rawls Forderungen in unserem Kontext darin, dass a) für Frauen und Männer das Prinzip der Freiheit gilt, b) für Frauen und Männer Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Grundachten gleichmäßig zu verteilen sind, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht (S. 83). c) Frauen und Männer gleichen Zugang zu Positionen und Ämtern, und damit zu Entscheidungsbefugnissen in einer Gesellschaft haben müssen. Rawls Modell weist demnach darauf hin, dass die Ressourcenverteilung ein zentraler Faktor bei der Herstellung von Gerechtigkeit ist, der die Basis für die freie und gleiche Chance zur Verfolgung zentraler menschlicher Interessen darstellt. Februar 2007

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Das heißt nicht unbed<strong>in</strong>gt, dass „Gleichheit“ aller Mitglieder e<strong>in</strong>er Gesellschaft<br />

hergestellt werden muss. Gerecht kann – wie John Rawls das ausführlich<br />

demonstriert - <strong>in</strong> bestimmten Zusammenhängen auch Ungleichheit se<strong>in</strong>; z. B.<br />

dann, wenn Ungleichheit zum Geme<strong>in</strong>wohl beiträgt.<br />

Was <strong>in</strong> sozialen E<strong>in</strong>heiten gerecht ist, wird von unterschiedlichen Denkansätzen her<br />

auch unterschiedlich gefasst. Friedrich August von Hayek sieht <strong>Gerechtigkeit</strong> dann<br />

gewahrt, wenn jede/r die Freiheit hat, se<strong>in</strong>e Chancen wahrzunehmen. John Rawls<br />

entwickelt e<strong>in</strong> Kriterienraster, mit dessen Hilfe entschieden werden soll, wann sich<br />

e<strong>in</strong>e Gesellschaft ihren Mitgliedern gegenüber gerecht verhält. Rawls fordert von<br />

der Gesellschaft <strong>in</strong>stitutionelle Vorkehrungen für die Gleichverteilung des Zugangs<br />

zu zentralen Gütern. Kommunitaristen wie Michael Walzer oder Ökonomen wie der<br />

Nobelpreisträger Amartya Sen sehen die Aufgabe der politischen Führung vor allem<br />

<strong>in</strong> der Sicherung von Chancen auf e<strong>in</strong> selbstbestimmtes Leben, <strong>in</strong> dem der/die<br />

E<strong>in</strong>zelne se<strong>in</strong>e Chancen auf e<strong>in</strong> befriedigtes Leben <strong>in</strong> Eigen<strong>in</strong>itiative <strong>und</strong><br />

Selbstachtung selbst verfolgen kann. Durch die Entfaltung der <strong>in</strong>dividuellen<br />

Fähigkeiten kann jede/r Lebenschancen wahrnehmen.<br />

Diese Forderung geht über die liberale Forderung des Nachtwächterstaates h<strong>in</strong>aus:<br />

Der Staat hat nicht nur dadurch Freiheitsrechte zu garantieren, dass er sich aus<br />

dem Leben se<strong>in</strong>er Bürger so weit wie möglich heraushält (negative Freiheitsrechte),<br />

sondern auch dadurch, dass er positive Freiheitsrechte aktiv herstellt. Die Chance<br />

zur Entfaltung der eigenen Fähigkeiten gibt dem Individuum Lebens- <strong>und</strong><br />

Entfaltungsmöglichkeiten. Die vielseitig entwickelte Persönlichkeit, die mit der<br />

Freiheit auch Verantwortung übernimmt, hat auch höhere Chancen auf e<strong>in</strong>e flexible<br />

Anpassung an sich wandelnde Bed<strong>in</strong>gungen <strong>und</strong> damit auch bessere<br />

Überlebenschancen. Vor allem Bildung <strong>und</strong> Ausbildung, aber auch Chancen auf<br />

kulturelle Betätigung s<strong>in</strong>d hier die ersten Voraussetzungen. H<strong>in</strong>zu kommt<br />

gesellschaftliche Anerkennung, die Ermöglichung <strong>in</strong>dividueller Lebensplanung <strong>und</strong><br />

die Abwesenheit von Unterwerfung <strong>und</strong> Ausbeutung. Die Gesellschaft stellt<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>und</strong> Ressourcen zur Verfügung, damit sich ihre Mitglieder frei<br />

entwickeln können. Die Gegenleistung des Individuums besteht dar<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e<br />

Fähigkeiten zum Nutzen der Allgeme<strong>in</strong>heit anzuwenden <strong>und</strong> zwar so anzuwenden,<br />

dass es für die (Weiter-)Existenz der Gesellschaft <strong>und</strong> ihrer<br />

Handlungsmöglichkeiten aktiv Verantwortung übernimmt.<br />

E<strong>in</strong>e gerechte Gesellschaft <strong>und</strong> e<strong>in</strong> gerechter Staat fördern damit die Eigen<strong>in</strong>itiative<br />

<strong>und</strong> das soziale Handeln ihrer Mitglieder. Das ist e<strong>in</strong>e der Gr<strong>und</strong>lagen für den<br />

aktiven Sozialstaat. Nur da, wo die bereit gestellten Möglichkeiten für e<strong>in</strong><br />

Individuum nicht ausreichen, selbst verantwortlich se<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> die Hand zu<br />

nehmen, hat der Staat E<strong>in</strong>greifpflichten. Paternalistische Fürsorge ist demnach e<strong>in</strong><br />

Ausnahmetatbestand, der sich beschränkt auf solche, die die Chancen nicht<br />

wahrnehmen können, die ihnen die Geme<strong>in</strong>schaft zur Verfügung stellt.<br />

Februar 2007

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