Gender und Gerechtigkeit in Gesellschaften - Hochschule Darmstadt

Gender und Gerechtigkeit in Gesellschaften - Hochschule Darmstadt Gender und Gerechtigkeit in Gesellschaften - Hochschule Darmstadt

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14 Menschenrechte und soziale Realität Der erste Pfeiler einer gesellschaftlichen Konstruktion von Ungleichheit besteht in einer Differenzierung von Bevölkerungsgruppen in soziale Kategorien. Dadurch wird die vorhandene Heterogenität durch Segmentierung in vermeintlich homogene Teilmengen unterteilt. Der erste Verstoß von Gesellschaften gegen die Gleichheits-Norm besteht dabei in der Konstruktion sozialer Kategorien auf der Basis biologischer Konstituanten, die „beliebig“ gewählt sind. (Männer und Frauen, Weiße und Nicht-Weiße, Gesunde und Behinderte.) Dahinter verbergen sich aber soziale Differenzierungen, die aufgrund unterschiedlicher Machtbasen zustande kommen. Der zweite Verstoß der Gesellschaften gegen diese Norm liegt in einer Zwangshomogenisierung und Zwangszuweisung durch stereotype Zuschreibung von Eigenschaften, Fähigkeiten, Rechten, Erwartungen, Sanktionen etc. zu den Individuen, die den sozialen s Kategorien angehören - nicht nur weil man dadurch der Realität der Individuen dieser Kategorien infolge ihrer vorhandenen Heterogenität nicht gerecht wird, sondern weil durch diese Stereotypen Realität (Bewusstsein, Motivation, Emotion, Selbsteinschätzung, Fähigkeiten, Handlungsvermögen) geschaffen wird, aufgrund derer z. B eine diskriminierende Arbeitsteilung oder diskriminierende Zuschreibungen von Gewalt- und Herrschaftsrechten erklärt und legitimiert wird. Gesellschaften prägen die ihnen angehörenden Individuen. Der Sündenfall liegt also auch in einer zielorientierten Prägung von Individuen bestimmter sozialer Kategorien mit der Intention, Ungleichheit und Diskriminierung bis hin zur Rechtlosigkeit zu legitimieren, indem sie als quasi-natürlich dargestellt wird. Die „Prägung“ der Individuen durch stereotype Zuschreibungen ist jedoch nicht durchgängig so stark, dass das Bewusstsein nicht rational „Unrichtigkeiten“ der stereotypen Zuschreibung feststellen könnte. Individuen sind also nicht hundertprozentig gesellschaftlich programmiert. Z.B. kann alle Zuschreibung von Sanftmut und Nicht- Aggressivität zur Kategorie weiblicher Menschen die Erkenntnis oder die Beobachtung nicht auslöschen, dass es enorm aggressive Frauen gibt. Die kognitive Reaktion auf eine solche „Abweichung“ kann darin bestehen, die Ursache des Verhaltens in ungewöhnlichen Umständen zu sehen (Injektion von Testosteron bei Sportlerinnen), oder die Person als eigentlich nicht der Kategorie „Frauen“ zugehörig zu bezeichnen (keine „richtige“ Frau). Der dritte Verstoß gegen die Gleichheitsnorm besteht in einer willkürlichen vertikalen Differenzierung der Position sozialer Kategorien, die Zuweisung höheren und niederen Status und damit der Zuweisung unterschiedlicher Rechte und Lebens- und Entwicklungschancen durch unterschiedliche Bewertung der Personen der sozialen Kategorien. Februar 2007

15 Der zweite Pfeiler der Absicherung gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen besteht in der strukturellen organisatorischen Absicherung bestehender Ungleichheiten und Diskriminierungen. Allokation von Ressourcen, Besetzung von Entscheidungspositionen (Instanzen), Betonung und Kommunikation von „Normalität“ ungleicher Verteilung sozialer Kategorien auf Machtpositionen in den Gesellschaften führen zu einer noch stärkeren Verfestigung der durch die stereotype geprägten Bewusstseins- und damit Verhaltenstendenz der sozialen Kategorien untereinander. Fremd- und Selbststereotype auf der einen Seite und gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse und –strukturen auf der anderen Seite ergänzen sich im Sinne einer Aufrechterhaltung und eines Beharrungsstrebens bezüglich vorhandener Ungleichheiten. Und diese Verfestigung wird nicht nur durch privilegierte soziale Kategorien betrieben, sondern durch die übermittelten Überzeugungen auch durch Individuen, die der unterlegenen sozialen Kategorie angehören. 8 Wie können in einer Gesellschaft Ungleichheiten bekämpft werden? Vorab muss hier die Frage gestellt werden, ob es für eine Gesellschaft überhaupt sinnvoll ist, die allenthalben durch Kategorisierung ihrer Bevölkerung entstandene Ungleichheit zu beseitigen. Hat diese Ungleichheit nicht einen Nutzen für das Überleben der Gesellschaft, für ihre Prosperität, für das definierte „Gemeinwohl“ einer Gesellschaft? Wenn ja: sollte man dann nicht ethische Normen zurückstellen und das Konstrukt des „Wohls der größten Zahl“ akzeptieren? 8 Interessant ist hier ein kleiner Rückblick auf die Theorie von Louis Althusser aus den siebziger Jahren, die von Autorinnen wie Kaja Silverman (Prof. für Rhetorik in Berkeley), Teresa de Lauretis und Judith Butler in feministischer Theorie-Rezeption aufgenommen wurde. Althusser entwickelte eine Theorie der Machtverhältnisse in Gesellschaften als komplexes Netz dezentral wirkender Kräfte, in dem die Ökonomie eine wichtige, aber nicht die dominierende Rolle spiele. Gesellschaft stellt sich dar als dezentriertes System, das von unterschiedlichen Herrschaftsachsen durchzogen ist. Isolde Charim (Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologie-Theorie. Wien: Passagen-Verlag, 2002) stellt heraus, wie bei Althusser durch die Einführung von Ideologien als materielle gesellschaftliche Instanz Bewußtsein und Identität geschaffen wird, die Subjekte hervorbringt, die zu einer „freiwillligen Unterwerfung“ bereit sind. Gesellschaften als Orte der Konstruktion und Konstitution von Subjekten, von Bewußtsein und Existenzweisen binden die Individuen in die ökonomischen Produktionsverhältnisse und den Staat ein. Herrschaft erfolgt in modernen Gesellschaften nicht nur über direkten oder strukturellen Zwang und Disziplinierung, sondern auch durch Zustimmung, durch freiwillige Unterwerfung. Das Subjekt glaubt, Herr über sich selbst zu sein, seine Handlungen zu kontrollieren und über Freiheitsspielräume zu verfügen. Die vermeintlich freiwilligen Handlungstendenzen werden aber hergestellt durch materielle Praxis und Rituale im Verlauf der Sozialisation und Enkulturation. Freiwilligkeit und Selbstbestimmung werden von Charim als Ideologiekonstrukte moderner Gesellschaften gesehen und als Formen der Unterwerfung. Aus feministischer Sicht stellt sich dieser Vorgang so dar, dass Frauen die erworbene Subjektivität als „Mängelwesen“ kombinieren mit Erfahrungen der Abwesenheit in Machtpositionen des Staates und der Ökonomie, was wiederum im Zirkelschluss einer freiwilligen Einfügung in das Unabänderliche führt. Februar 2007

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Der zweite Pfeiler der Absicherung gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen<br />

besteht <strong>in</strong> der strukturellen organisatorischen Absicherung bestehender<br />

Ungleichheiten <strong>und</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierungen. Allokation von Ressourcen, Besetzung von<br />

Entscheidungspositionen (Instanzen), Betonung <strong>und</strong> Kommunikation von<br />

„Normalität“ ungleicher Verteilung sozialer Kategorien auf Machtpositionen <strong>in</strong> den<br />

<strong>Gesellschaften</strong> führen zu e<strong>in</strong>er noch stärkeren Verfestigung der durch die<br />

stereotype geprägten Bewusstse<strong>in</strong>s- <strong>und</strong> damit Verhaltenstendenz der sozialen<br />

Kategorien untere<strong>in</strong>ander.<br />

Fremd- <strong>und</strong> Selbststereotype auf der e<strong>in</strong>en Seite <strong>und</strong> gesellschaftliche Macht- <strong>und</strong><br />

Herrschaftsverhältnisse <strong>und</strong> –strukturen auf der anderen Seite ergänzen sich im<br />

S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Aufrechterhaltung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>es Beharrungsstrebens bezüglich<br />

vorhandener Ungleichheiten. Und diese Verfestigung wird nicht nur durch<br />

privilegierte soziale Kategorien betrieben, sondern durch die übermittelten<br />

Überzeugungen auch durch Individuen, die der unterlegenen sozialen Kategorie<br />

angehören. 8<br />

Wie können <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft Ungleichheiten bekämpft werden?<br />

Vorab muss hier die Frage gestellt werden, ob es für e<strong>in</strong>e Gesellschaft überhaupt<br />

s<strong>in</strong>nvoll ist, die allenthalben durch Kategorisierung ihrer Bevölkerung entstandene<br />

Ungleichheit zu beseitigen. Hat diese Ungleichheit nicht e<strong>in</strong>en Nutzen für das<br />

Überleben der Gesellschaft, für ihre Prosperität, für das def<strong>in</strong>ierte „Geme<strong>in</strong>wohl“<br />

e<strong>in</strong>er Gesellschaft? Wenn ja: sollte man dann nicht ethische Normen zurückstellen<br />

<strong>und</strong> das Konstrukt des „Wohls der größten Zahl“ akzeptieren?<br />

8 Interessant ist hier e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Rückblick auf die Theorie von Louis Althusser aus den siebziger<br />

Jahren, die von Autor<strong>in</strong>nen wie Kaja Silverman (Prof. für Rhetorik <strong>in</strong> Berkeley), Teresa de Lauretis <strong>und</strong><br />

Judith Butler <strong>in</strong> fem<strong>in</strong>istischer Theorie-Rezeption aufgenommen wurde. Althusser entwickelte e<strong>in</strong>e<br />

Theorie der Machtverhältnisse <strong>in</strong> <strong>Gesellschaften</strong> als komplexes Netz dezentral wirkender Kräfte, <strong>in</strong><br />

dem die Ökonomie e<strong>in</strong>e wichtige, aber nicht die dom<strong>in</strong>ierende Rolle spiele. Gesellschaft stellt sich dar<br />

als dezentriertes System, das von unterschiedlichen Herrschaftsachsen durchzogen ist. Isolde Charim<br />

(Der Althusser-Effekt. Entwurf e<strong>in</strong>er Ideologie-Theorie. Wien: Passagen-Verlag, 2002) stellt heraus,<br />

wie bei Althusser durch die E<strong>in</strong>führung von Ideologien als materielle gesellschaftliche Instanz<br />

Bewußtse<strong>in</strong> <strong>und</strong> Identität geschaffen wird, die Subjekte hervorbr<strong>in</strong>gt, die zu e<strong>in</strong>er „freiwillligen<br />

Unterwerfung“ bereit s<strong>in</strong>d. <strong>Gesellschaften</strong> als Orte der Konstruktion <strong>und</strong> Konstitution von Subjekten,<br />

von Bewußtse<strong>in</strong> <strong>und</strong> Existenzweisen b<strong>in</strong>den die Individuen <strong>in</strong> die ökonomischen<br />

Produktionsverhältnisse <strong>und</strong> den Staat e<strong>in</strong>. Herrschaft erfolgt <strong>in</strong> modernen <strong>Gesellschaften</strong> nicht nur<br />

über direkten oder strukturellen Zwang <strong>und</strong> Diszipl<strong>in</strong>ierung, sondern auch durch Zustimmung, durch<br />

freiwillige Unterwerfung. Das Subjekt glaubt, Herr über sich selbst zu se<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e Handlungen zu<br />

kontrollieren <strong>und</strong> über Freiheitsspielräume zu verfügen. Die verme<strong>in</strong>tlich freiwilligen<br />

Handlungstendenzen werden aber hergestellt durch materielle Praxis <strong>und</strong> Rituale im Verlauf der<br />

Sozialisation <strong>und</strong> Enkulturation. Freiwilligkeit <strong>und</strong> Selbstbestimmung werden von Charim als<br />

Ideologiekonstrukte moderner <strong>Gesellschaften</strong> gesehen <strong>und</strong> als Formen der Unterwerfung. Aus<br />

fem<strong>in</strong>istischer Sicht stellt sich dieser Vorgang so dar, dass Frauen die erworbene Subjektivität als<br />

„Mängelwesen“ komb<strong>in</strong>ieren mit Erfahrungen der Abwesenheit <strong>in</strong> Machtpositionen des Staates <strong>und</strong><br />

der Ökonomie, was wiederum im Zirkelschluss e<strong>in</strong>er freiwilligen E<strong>in</strong>fügung <strong>in</strong> das Unabänderliche<br />

führt.<br />

Februar 2007

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