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Aktuelle Ausgabe komplett als PDF - Studi38

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Wissenschaft<br />

seine unbegrenzten Möglichkeiten nicht<br />

nutzt, gilt <strong>als</strong> Versager. Hier deutet sich<br />

schon die Wurzel des Problems unserer<br />

Generation an: Es sind unbegrenzte,<br />

unendliche Möglichkeiten! Es gibt kein<br />

Ende und kein Ziel, alles geht immer höher,<br />

schneller, weiter. Niemand kann je<br />

ankommen in der angesagtesten Stadt<br />

mit den tollsten Freunden, dem interessantesten<br />

Hobby, makellosesten Körper<br />

und erfüllendsten Beruf. Permanent<br />

schwebt die Verheißung des vermeintlich<br />

besseren Anderen, das Könnte-Sein<br />

über dem Ist. In einer Zeit, in der ein<br />

gelungenes Leben definiert wird über<br />

Intensität, Genuss und Selbstverwirklichung<br />

– <strong>als</strong>o durch Kriterien, die kein<br />

Maß kennen – wie kann man da jem<strong>als</strong><br />

zufrieden sein mit dem, was ist? Im Vergleich<br />

mit der Unendlichkeit dessen, was<br />

sein könnte, erscheint ein einzelnes Leben<br />

zwangsläufig <strong>als</strong> unzureichend.<br />

Schlimmer noch: Da jeder Mensch frei<br />

von äußerem Zwang für sein Leben<br />

selbst verantwortlich scheint, trägt er<br />

auch die alleinige Schuld für sein unweigerliches<br />

Scheitern. Es liegt an mir,<br />

ich habe mich nicht genug bemüht. Und<br />

schon ist der Ursprung gelegt für chronische<br />

Selbstoptimierung und Selbsthass.<br />

Nirgends wird dieses unablässige Streben<br />

nach dem Besseren so deutlich wie<br />

bei der Partnerwahl. Den besonderen<br />

Menschen suchen wir uns heute selbst<br />

aus, hier haben wir die alleinige Entscheidungsmacht,<br />

hier sind wir absolut<br />

selbst verantwortlich. Klingt doch ganz<br />

gut? Sven Hillenkamp vertritt in seinem<br />

Buch „Das Ende der Liebe“ eine andere<br />

Meinung: „Zwei Feinde kennt die Liebe.<br />

Den Zwang und die Freiheit.“ Freiheit<br />

ist nicht zwanglos, Freiheit verlagert<br />

den Zwang von außen nach innen, von<br />

der Gesellschaft ins Selbst – unbewusst<br />

natürlich. Die Freiheit Sex vor der Ehe<br />

zu haben wird zum Zwang Sex vor der<br />

Ehe zu haben. Die Freiheit sich bei Unzufriedenheit<br />

scheiden zu lassen wird<br />

zum Zwang sich scheiden zu lassen.<br />

Die Freiheit sich einen Partner aus unendlich<br />

vielen auszusuchen wird zum<br />

Zwang, sich den Besten auszusuchen.<br />

Welcher der Beste ist, findet man nur<br />

heraus durch Versuch und Irrtum. Doch<br />

selbst wenn man in einer glücklichen<br />

Beziehung lebt, bleibt angesichts der<br />

scheinbar grenzenlosen Vielzahl potentieller<br />

Partner immer die Ahnung, dass<br />

es noch einen Besseren geben muss.<br />

Laut statistischem Bundesamt ist zwar<br />

die Anzahl der Scheidungen seit 1960<br />

nicht übermäßig angestiegen (von 1,9<br />

Scheidungen pro 1000 Einwohner auf<br />

2,3 in 2011), dafür hat sich jedoch im<br />

selben Zeitraum die Zahl der Eheschließungen<br />

mehr <strong>als</strong> halbiert (von 10,8 auf<br />

4,6 pro 1000 Einwohner). Immer weniger<br />

Menschen sind <strong>als</strong>o bereit, eine le- →<br />

Abnabelungsprozess und Partnerbindung<br />

(Median Jahrgang 1981-83 im Vergleich zu 1971-73)<br />

Auszug aus dem Elternhaus Frauen Männer<br />

Ostdeutschland ▲ ▲<br />

Westdeutschland ● ▲<br />

Erste Paarbeziehung Frauen Männer<br />

Ostdeutschland ● ▼<br />

Westdeutschland ● ▼<br />

Erste Lebensgemeinschaft Frauen Männer<br />

Ostdeutschland ▲ ▲<br />

Westdeutschland ● ●<br />

▲ mehr <strong>als</strong> 6 Monate älter ▼ mehr <strong>als</strong> 6 Monate jünger ● keine Veränderung<br />

Pairfam 2008/2009, DemoDiff 2009/2010<br />

André Tatjes ist wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Institut für<br />

Sozialwissenschaften der TU<br />

Braunschweig. Zusammen mit Prof. Dr.<br />

Dirk Konietzka untersuchte er kürzlich<br />

den Lebenslauf junger Erwachsener in<br />

Bezug auf ihre erste Paarbeziehung, den<br />

Auszug aus dem Elternhaus und der<br />

ersten Lebensgemeinschaft. Verglichen<br />

wurden hierbei zwei Generationen: Die<br />

Jahrgänge 1971-73 und 1981-83 in Ost- und<br />

Westdeutschland.<br />

Leiden jüngere Generationen zunehmend an<br />

Bindungsangst?<br />

Nein, die Bindungsbereitschaft junger Erwachsener<br />

ist nach wie vor hoch. Unsere empirischen<br />

Untersuchungen zeigen sogar, dass die erste<br />

Paarbeziehung tendenziell in jüngeren Jahren,<br />

d. h. früher eingegangen wird. Zudem findet der<br />

erste Zusammenzug mit einem Partner, nachdem<br />

man von Zuhause ausgezogen ist, nach kürzerer<br />

Zeit statt. Untersucht wurde jedoch nicht, wie<br />

lange diese Beziehungen Bestand haben. Zudem<br />

ist noch unklar, ob es sich dabei um einen stabilen<br />

Trend handelt.<br />

Suchen die Menschen <strong>als</strong>o unverändert nach<br />

der Sicherheit der Familie?<br />

Tatsächlich hat sich der Zeitpunkt der Familiengründung<br />

hinausgezögert. Man beginnt zwar früher<br />

mit seiner Beziehungsbiographie, eine Heirat<br />

findet wiederum erst später statt. Das Bildungsniveau<br />

hat hier einen entscheidenden Einfluss:<br />

Mit zunehmenden Bildungsgrad steigt auch die<br />

Neigung, später zu heiraten und eine Familie zu<br />

gründen.<br />

Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte hat sich<br />

laut statistischem Bundesamt in den letzten<br />

50 Jahren mehr <strong>als</strong> verdoppelt. Wie passt das<br />

ins Bild?<br />

Nur weil ich alleine wohne, muss ich nicht alleine<br />

sein. Wir erleben eine Pluralisierung der Lebensformen<br />

und eine Haushaltsgröße sagt nichts<br />

mehr darüber aus, ob der Bewohner Single ist. So<br />

genannte ‚Living-Apart-Together-Beziehungen’,<br />

in denen man mit seinem festen Partner nicht zusammen<br />

wohnt, bilden in der Regel den Beginn<br />

der individuellen Beziehungsbiographie.<br />

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