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Islamismus als chiliastisch geprägter Nativismus

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Demokratisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie sich durch diese<br />

Verlängerung und Verdichtung der Interdependenzketten der Menschen im Prozess der<br />

zunehmenden Globalisierung ihrer gegenseitigen funktionalen Angewiesenheiten und<br />

Abhängigkeiten ergibt.<br />

Kriege sind aber kollektive Angriffs- und Verteidigungshandlungen der Menschen, die sich<br />

u.a. durch die Reichweite ihrer Identifikation mit Menschen zivilisatorisch von einander<br />

unterscheiden. Im Falle der Islamisten erstreckt sich die Reichweite ihrer Identifikation auf<br />

ihre Glaubensbrüder, auf die idealisierten Muslime <strong>als</strong> eine Gemeinschaft, an die sie sich <strong>als</strong><br />

eine Hegemonialmacht erinnern.<br />

Für die Wiederherstellung dieser erinnerten hegemonialen Machtposition der Muslime sind<br />

sie zu jedem Opfer bereit, weil das gruppencharismatische Wir-Ideal, das an einem<br />

idealisierten Bild ihrer selbst in der Zeit ihrer Größe ausgerichtet ist, für sie <strong>als</strong><br />

verpflichtendes Modell weiterlebt. Ihr <strong>als</strong> heilig erklärter Krieg, den sie mit dem Einsatz ihres<br />

eigenen Lebens führen, ist daher die radik<strong>als</strong>te Form der Erfüllung dieser Verpflichtung. Es<br />

ist diese Pflichterfüllung, die sich <strong>als</strong> Umschlag des quietistischen Chiliasmus eines islamisch<br />

geprägten <strong>Nativismus</strong> in ihren Aktivismus manifestiert. Dieser Umschlag ihrer kollektiven<br />

Trauer in einen Hegemonialrausch wurde zwar ermöglicht durch die Erfahrung der<br />

funktionalen Demokratisierung im Sinne der Transformation der inner- und<br />

zwischenstaatlichen Machtbalance zu ihren Gunsten. Doch es ist die zwingende Macht dieses<br />

verpflichtenden Modells, die <strong>als</strong> kollektive Aufbruchsbereitschaft virulent bleibt und zum<br />

Aktivismus treibt. Die handlungssteuernde Macht dieses verpflichtenden Modells ist nur dann<br />

nachvollziehbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Wir-Bild und Wir-Ideal eines<br />

Menschen ebenso ein Bestandteil seines Selbstbildes ist, wie das Bild und Ideal seiner selbst<br />

<strong>als</strong> der einzigen Person, zu der er „Ich“ sagt. Hinzu kommt, dass in solchen weniger<br />

individualisierten Gesellschaften das Verhältnis des Gefühlsgewichts von Wir- und Ich-<br />

Identität durch die enorme emotionale Bedeutung der Wir-Identität dominiert wird. 21<br />

Zur Entstehung dieses verpflichtenden Modells und der gegenwärtigen Gefühlslage der<br />

Islamisten trägt vor allem ihre Erinnerung an zwar ungewöhnliche, aber doch idealisierte<br />

Errungenschaften der Muslime während der ersten sechs Jahrhunderte der islamischen<br />

Herrschaft bei: Die islamisierten Gesellschaften waren in dieser Periode die relativ<br />

entwickeltsten. Sie lieferten die höchstentwickelten wissenschaftlichen und technischen<br />

Errungenschaften und schufen ungewöhnlich siegreiche Armeen. Die islamisch geprägten<br />

Menschen erinnern sich gern an das Erfolgsmuster der Muslime, das ihnen selbstverständlich<br />

erscheint, verließ doch der Prophet Muhammad Mekka im Jahre 622 <strong>als</strong> Flüchtling, um acht<br />

Jahre später <strong>als</strong> Herrscher zurückzukehren. Man erinnert sich daran, dass schon 715 die<br />

muslimischen Eroberer ein Imperium errichteten, das von Spanien im Westen bis Indien im<br />

Osten reichte. Aus diesem Grunde schien ihr Glaube für eine lange Zeit ein<br />

Distinktionsmittel, <strong>als</strong>o Unterscheidungsmerkmal ihres höheren sozialen Ranges gegenüber<br />

anderen Gruppen zu sein. So bedeutete ein Moslem zu sein, zugleich Angehöriger einer<br />

siegreichen und dominanten Gemeinschaft von Menschen zu sein, die sich durch ihr<br />

Zivilisationsmuster von anderen abhob. Es ist <strong>als</strong>o kein Wunder, dass heutzutage manche<br />

Muslime nachträglich eine Korrelation zwischen ihrem Glauben und ihrem sozialen Aufstieg<br />

<strong>als</strong> Hegemonialmacht herstellen und sich daher <strong>als</strong> charismatische Gruppe im Sinne einer von<br />

Gott bevorzugten Gemeinschaft begreifen.<br />

Ihre Jahrhunderte lange kollektive Trauer ist Folge der Erfahrung des sozialen Abstiegs der<br />

islamischen Welt seit dem 13. Jh., ohne dass Muslime sich dessen bis zum 18. Jh. bewusst<br />

wurden. Während man sich nämlich im Westen auf neue Entdeckungen begab, versank die<br />

21 Vergl. Norbert Elias: Wandlungen der Ich-Wir-Balance; in: derselbe: Die Gesellschaft der Individuen, Ffm.<br />

1988, S. 207ff<br />

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