Skript AT I
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Strafrecht I<br />
Vorbemerkung<br />
Das vorliegende <strong>Skript</strong> hat vor allem drei Funktionen:<br />
• Es soll die Nachbereitung der Unterrichtsstunden, vor allem aber auch<br />
spätere Wiederholungen des Stoffes erleichtern, in dem wesentliche<br />
Punkte noch einmal knapp zusammengefasst werden.<br />
• Es soll die Vorlesung von Mitschriften zumindest insoweit entlasten<br />
(und damit das Aufpassen und Mitarbeiten erleichtern!), als sich die<br />
von mir als wichtig erachteten Strukturen und etwaige in der Vorlesung<br />
verwendete systematische Folien bzw. Präsentationen hier wiederfinden<br />
– und zwar noch um wichtige Informationen angereichert. Wer gerne<br />
mitschreiben möchte (und wem das beim Lernen hilft – aus persönlicher<br />
Erfahrung empfehle ich allerdings, eher sparsam mitzuschreiben),<br />
soll das natürlich tun; es besteht aber kein Anlass, all zu hektisch jedes<br />
– vielleicht sogar an die Wand geworfene – Wort mitzuschreiben.<br />
• Es soll über den „nackten Stoff“ hinaus klausurtaktische Ratschläge<br />
oder Verständnistipps enthalten, die ich in dieser Form in vielen Lehrbüchern<br />
vermisse.<br />
Dagegen soll Vorbereitung und/oder Nacharbeit des Stoffes in einem Lehrbuch<br />
keinesfalls ersetzen (und ist deshalb auch zumeist bewusst so knapp<br />
gehalten, dass die Nachbereitungszeit davon nicht alleine in Anspruch genommen<br />
wird 1 ). Im Gegenteil: Zum einen halte ich meine eigenen Ansichten<br />
und meine Art, die Sachen darzustellen, nicht für so wichtig, dass Sie deshalb<br />
auf die Hilfestellung durch eines der zahlreichen gelungenen Lehrbücher,<br />
die teilweise schon seit Generationen bewährt sind, verzichten sollten.<br />
Zum anderen lege ich großen Wert darauf, dass Sie sich in der Vorlesung<br />
aktiv beteiligen und wir die jeweils behandelten Probleme miteinander dis-<br />
kutieren, denn davon und von einer ständigen Umsetzung des Stoffes anhand<br />
von Beispielen haben Sie den größten Lernerfolg; eine solche aktive Mitarbeit<br />
in der Vorlesung dürfte aber nach einer Lektüre allein des in späteren<br />
Passagen eher stichpunktartig gehaltenen <strong>Skript</strong>s nur schwer möglich sein.<br />
Anders formuliert: ich hoffe, dass Ihnen das <strong>Skript</strong> neben den oben erwähnten<br />
Klausurratschlägen und Verständnistipps auch zu einem raschen Wiederholen<br />
des eigentlichen Stoffes von Nutzen sein; um sich diesen aber<br />
erstmalig zu erarbeiten, wird es vielfach zu knapp sein.<br />
Für Verbesserungsvorschläge bin ich selbstverständlich jederzeit offen und<br />
dankbar!<br />
Viel Spaß und Erfolg im Strafrecht!<br />
Erlangen, im Oktober 2004<br />
Hans Kudlich<br />
1 Eine Ausnahme bilden die ersten Teile, weil eine Reihe an sich durchaus empfehlenswerter<br />
Kurzlehrbücher zu den einführenden Grundlagen nur (sehr) wenig enthalten und ich auch<br />
nicht ohne weiteres davon ausgehen möchte, dass alle Vorlesungsteilnehmer sich in den<br />
ersten Tagen des Semesters schon für ein Lehrbuch entschieden haben.
A. Einführung und Grundlagen<br />
I. Abgrenzung und Aufgabe des Strafrechts<br />
1. Abgrenzung des Strafrechts von anderen Rechtsgebieten<br />
a) Versucht man, das Strafrecht von den anderen Teilen der Rechtsordnung<br />
abzugrenzen, so kann man zum einen darauf abstellen, dass an die im Tatbestand<br />
beschriebenen Verhaltensweisen als Rechtsfolge die Strafe (oder in<br />
bestimmten Fällen Maßregeln der Besserung und Sicherung 2 ) treten.<br />
Bsp: Wird festgestellt, dass durch ein Medikament die Patienten zu Schaden kommen,<br />
so könnte diesem die Zulassung entzogen, könnte die vertreibende Firma zur<br />
Zahlung von Schadensersatz verurteilt und könnten die Verantwortlichen zu einer<br />
Geldstrafe verurteilt werden. Nur die letzte Frage gehört zum Bereich des Strafrechts.<br />
Durch die Bedrohung mit Strafe wird zugleich zum Ausdruck gebracht, dass<br />
dieses Verhalten verboten ist, d.h. das auf den ersten Blick scheinbar bloße<br />
„Konditionalprogramm“ von Tatbestand und Rechtsfolge enthält in Wahrheit<br />
auch einen „Sollenssatz“. Man sagt auch: In der strafrechtlichen „Sanktionsnorm“<br />
(also der Vorschrift, die eine Strafbarkeit anordnet) steckt<br />
zugleich auch eine „Verhaltensnorm“.<br />
Bsp.: § 212 StGB enthält die Aussage: „Wer einen Menschen tötet, wird ... bestraft.“,<br />
also das Konditionalprogramm „Wenn Du einen Menschen tötest, wirst Du<br />
bestraft.“ Darin steckt zugleich die Verhaltensnorm „Du sollst nicht töten!“.<br />
b) Zum anderen kann man von der Zielrichtung des Strafrechts her feststellen,<br />
dass es sich um ein repressives staatliches Verhalten handelt (wenngleich<br />
es im Ergebnis vor späteren ähnlichen Taten schützen möchte und<br />
damit zugleich präventive Funktion hat, vgl. dazu unten S. 7 f.). Die Unter-<br />
2 Lies § 61 StGB. Insoweit wäre es vielleicht genauer, von „Straf- und Maßregelrecht“ zu<br />
sprechen. Für Ausbildung und Prüfung spielen allerdings diese Maßregeln im Pflichtbereich<br />
praktisch keine Rolle.<br />
schiede zwischen den drei großen Rechtsgebieten skizziert die folgende<br />
Übersicht:<br />
Teilgebiet<br />
Zivilrecht<br />
Öffentliches Recht<br />
Strafrecht<br />
Hauptfunktion beim Rechtsgüterschutz<br />
retributiv, (insb. durch Schadensersatz)<br />
präventiv (z.B. durch eine Gewerbeuntersagung)<br />
repressiv (z.B. Freiheitsstrafe): „Prävention durch<br />
Repression“<br />
2. Teilgebiete des Strafrechts i.w.S.<br />
Das Strafrecht i.w.S. muss nicht nur Regelungen enthalten, welches Verhalten<br />
bei Strafe verboten ist, sondern darüber hinaus auch bestimmen, wie im<br />
Einzelfall geklärt wird, ob jemand die verbotene Tat überhaupt begonnen hat<br />
und wie – insbesondere im Falle einer Freiheitsstrafe 3 – der Vollzug einer<br />
gerichtlich ausgesprochenen Strafe im Einzelnen ablaufen soll. Entsprechende<br />
Regelungen sind in verschiedenen Untergebieten des Strafrechts<br />
enthalten, die teilweise im weiteren Verlauf Ihres Studiums als Pflicht- oder<br />
Wahlfächer eine Rolle spielen und deren Inhalt und Bedeutung die nachfolgende<br />
Übersicht zusammenfasst:<br />
Teilgebiet Regelungsinhalt gesetzliche<br />
Grundlagen<br />
materielles<br />
Strafrecht<br />
z.B. Gebots- und<br />
Verbotsnormen;<br />
Zurechnungsregeln;<br />
Rechtfertigungsgründe;<br />
Rechtsfolgen<br />
vor allem<br />
StGB; daneben<br />
aber<br />
auch zahlreiche<br />
strafrechtliche<br />
Nebenge-<br />
3 Zu den Arten der Strafe vgl. knapp den Überblick unter III..<br />
Bedeutung für Ausbildung<br />
und Prüfung<br />
Stoff der Vorlesungen<br />
zum Strafrecht <strong>AT</strong> und<br />
BT; Schwerpunkt der<br />
meisten Klausuren;<br />
allerdings aus dem BT<br />
nicht alle Delikte und<br />
aus dem <strong>AT</strong> insbesondere<br />
nicht die Rechts-<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 2
Strafverfahrensrecht<br />
Jugendstrafrecht<br />
Stoff der Wahlvorlesung<br />
Jugendstrafrecht;<br />
grundsätzlich keine<br />
Bedeutung im Pflichtfachbereich<br />
Strafvollzugsrecht<br />
z.B. Ablauf eines<br />
Strafverfahrens;<br />
Ermittlungsmaßnahmen;<br />
Rechtsmittel<br />
gegen Urteile<br />
eines Strafgerichts<br />
setze<br />
vor allem<br />
StPO und<br />
GVG; große<br />
Bedeutung<br />
des GG<br />
Sonderregelungen JGG; ergänzend<br />
zum materiellen<br />
allge-<br />
wie zum Prozessrecht<br />
meine Rege-<br />
für junge lungen<br />
Straftäter (StGB und<br />
StPO)<br />
Vollzug der Freiheitsstrafe<br />
und der<br />
freiheitsentziehenden<br />
Maßregeln<br />
vor allem<br />
StVollzG;<br />
große Bedeutung<br />
des<br />
GG<br />
folgen ( vgl. dazu<br />
die Wahlvorlesung<br />
Sanktionenrecht)<br />
Stoff der Vorlesung<br />
Strafprozessrecht;<br />
Zusatzfragen in Klausuren<br />
möglich; Wechselbeziehung<br />
zwischen<br />
mat. Strafrecht und<br />
Strafprozessrecht<br />
Stoff der Vorlesung<br />
Strafvollzug; grundsätzlich<br />
keine Bedeutung<br />
im Pflichtfachbereich<br />
3. Die Aufgabe des Strafrechts<br />
Hält man sich vor Augen, dass der Einsatz von Strafe, d.h. von bewusster<br />
und erheblicher staatlicher Übelszufügung, ein überaus scharfes Schwert ist,<br />
stellt sich die Frage, welches Ziel damit überhaupt verfolgt wird und wann<br />
der Einsatz von Strafe dazu zulässig sein soll. Anders gefragt: Warum und<br />
unter welchen Voraussetzungen soll der Staat zum Strafen legitimiert sein?<br />
Verkürzend kann man hierzu auf zwei Stichwörter verweisen (die im Übrigen<br />
auch in der Argumentation bei konkreten Auslegungsproblemen herangezogen<br />
werden können): Rechtsgüterschutzdogma und ultima-ratio-<br />
Charakter des Strafrechts.<br />
Klausurhinweis:<br />
Hinterfragt man beide Stichworte kritisch, wird schnell klar, dass<br />
sie mitunter wesentlich weniger argumentatives Gewicht haben,<br />
als ihre Verwendung vorgibt: So ist oftmals gerade nicht klar, was<br />
das geschützte Rechtsgut einer Vorschrift ist und insbesondere,<br />
wie weit dieser Schutz reichen soll. Und ob die Straflosigkeit in<br />
einem bestimmten Fall eine „nicht hinnehmbare Strafbarkeitslücke“<br />
oder aber „notwendige Konsequenz des bewusst fragmentarischen<br />
Charakters des Strafrechts ist“, erscheint vielfach recht beliebig<br />
und austauschbar.<br />
Trotzdem macht sich der Rückgriff auf solche Grundsatzwertungen<br />
nach meiner Erfahrung bei den Korrektoren oft gut (zumal,<br />
wenn er nicht nur schlagwortartig und begründungslos erfolgt,<br />
sondern durch Sachargumente „unterfüttert“ wird), so dass er klausurtaktisch<br />
sinnvoll sein mag. Hinzu kommt aber ein auch noch ein<br />
Weiteres: Da nicht in jeder Klausur das Strafrecht neu erfunden<br />
werden kann, muss auch nicht z.B. bei jeder Argumentation mit<br />
dem ultima-ratio-Gedanken neu darauf hingewiesen werden, dass<br />
dieses ambivalent ist – vielmehr „klingt“ dieser background gewissermaßen<br />
durch die Begriffsverwendung mehr oder weniger mit,<br />
und ein solcher Rückgriff auf den in bestimmten Begriffen „geronnenen“<br />
Diskussionsstand erscheint mir in einer fachwissenschaftlichen<br />
Diskussion auch lege artis und unumgänglich.<br />
a) Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts<br />
Nach verbreiteter Ansicht liegt die Aufgabe des Strafrechts vor allem im<br />
Rechtsgüterschutz. Dabei darf nicht verkannt werden, dass der Rechtsgutsbegriff<br />
immer noch nicht endgültig geklärt erscheint und dass im Einzelfalls<br />
durchaus schwierig zu bestimmen ist, welches anerkennenswerte Gut von<br />
einer Norm geschützt werden soll.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 3
Bsp.: § 145d StGB stellt das Vortäuschen der Begehung einer Straftat (auch ohne<br />
konkrete falsche Verdächtigung eines anderen) unter Strafe. Welches Rechtsgut soll<br />
dadurch geschützt werden?<br />
• Der Schutz der staatlichen Einrichtungen vor ihrer ungerechtfertigten Inanspruchnahme?<br />
Aber wäre das gerechtfertigt, obwohl die ungerechtfertigte Inanspruchnahme<br />
privater Leistungen oder auch die ungerechtfertigte Inanspruchnahme<br />
anderer staatlicher Leistungen nicht (ohne weiteres 4 ) unter Strafe<br />
steht?<br />
• Die angemessene „Ehrfurcht gegenüber Staat und Obrigkeit“, die nicht „angelogen“<br />
werden wollen? Aber wäre das wirklich ein so zentrales Rechtsgut,<br />
dass es den Einsatz von Strafrecht legitimiert?<br />
Die Systematisierung des Besonderen Teils des StGB spiegelt die im Kernstrafrecht<br />
geschützten Rechtsgüter deutlich wider. Auf Grund der besonderen<br />
Schärfe des Instruments Strafrecht soll dieses aber nur zum Schutz besonders<br />
wichtiger, elementarer Güter vor nicht unerheblichen Eingriffen<br />
angewandt werden.<br />
Daneben werden auch andere Funktionen wie die Stabilisierung von durch<br />
die Straftat verletzten Verhaltenserwartungen 5 oder die Unterbindung sozialschädlicher<br />
Verhaltensweisen 6 genannt. Allerdings dürfte diesen Ansätzen<br />
wohl nur ergänzende Bedeutung zukommen, 7 da ohne Rückgriff auf den<br />
Rechtsgüterschutz nur schwer erklärbar ist, warum entsprechende Verhaltenserwartungen<br />
überhaupt bestehen und schützenswert sind bzw. warum es<br />
wenig wünschenswert erscheint, dass bei jeder Tötung eines Menschen darüber<br />
diskutiert wird, ob dieser Tod für die Gemeinschaft tatsächlich schädlich<br />
ist.<br />
Für den dadurch zentralen Begriff des „Rechtsgutes“ soll auf zwei Punkte<br />
hingewiesen werden:<br />
4 Eine solche Inanspruchnahme kann im Einzelfall etwa als Betrug (§ 263 StGB) strafbar<br />
sein. Aber dafür müssen weitere Voraussetzungen (insbesondere Eintritt eines Vermögensschadens<br />
beim Opfer und Bereicherungsabsicht beim Täter) hinzukommen.<br />
5 Deutlich etwa bei Jakobs, <strong>AT</strong>, Abschn. 2, Rn. 4 ff.; ähnlich auch Lesch, Der Verbrechensbegriff<br />
(1999), S. 186 ff.<br />
6 Grundlegend Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972), insb.<br />
S. 330 ff.<br />
7 Das schließt natürlich nicht aus, dass diesen Ansätzen in Problemfällen ergänzendes argumentatives<br />
Potential zukommt.<br />
• Das Rechtsgut ist nicht mit dem konkreten Tatobjekt gleichzusetzen.<br />
Bsp.: Geschütztes Rechtsgut bei den Tötungsdelikten ist das Leben, Tatobjekt<br />
ist ein anderer Mensch. Geschütztes Rechtsgut beim Diebstahl (§ 242 StGB) ist<br />
unter anderem das Eigentum. Tatobjekt ist eine (konkrete) fremde bewegliche<br />
Sache. Geschütztes Rechtsgut bei der Urkundenfälschung (§ 267 StGB) ist die<br />
Sicherheit des Beweisverkehrs, Tatobjekt ist eine Urkunde.<br />
• Verbreitet wird zwischen Individualrechtsgütern (z.B. Leib und Leben)<br />
und überindividuellen Rechtsgütern (z.B. Sicherheit des Straßenverkehrs;<br />
Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege) unterschieden, wobei die<br />
Legitimationskraft zweiterer vielfach noch skeptisch betrachtet wird<br />
(bzw. versucht wird, diese von Individualrechtsgütern mittelbar herzuleiten).<br />
Klausurhinweis:<br />
Auch in der Klausursituation spielt der Rechtsgutsbegriff – wie<br />
oben schon angedeutet – eine Rolle. Dies ist besonders bei der<br />
Auslegung der Tatbestände (und dabei vor allem des Tatobjekts)<br />
und in der Einwilligungslehre (hier bei der Frage, ob der Verletzte<br />
über das geschützte Gut dispositionsbefugt ist und daher mit rechtfertigender<br />
Wirkung in seine Verletzung einwilligen kann) der<br />
Fall.<br />
b) Das ultima-ratio-Prinzip (der fragmentarische Charakter)<br />
Wie oben schon angedeutet wurde, ist das „scharfe Schwert des Strafrechts“<br />
auf mehr oder weniger schwerwiegende Verletzungen elementarer Rechtsgüter<br />
beschränkt. Es sollte eigentlich nur eingesetzt werden, wenn andere<br />
staatliche Eingriffsmechanismen (Zivilrecht, Verwaltungsrecht) versagen. Es<br />
werden daher nicht alle (und insbesondere nicht alle strengen) ethischmoralischen<br />
Wertmaßstäbe durch das Strafrecht geschützt, sondern dieses<br />
hat bewusst „fragmentarischen Charakter“.<br />
Bsp.: Das wird etwa deutlich beim Vergleich zwischen § 303 StGB und<br />
§ 823 I BGB: Während eine Schadensersatzpflicht auch für fahrlässige Eigentumsverletzungen<br />
besteht, sind diese grundsätzliche straflos (lies § 15 StGB).<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 4
Klausurhinweis:<br />
Dieser bewusst fragmentarische Charakter hinterlässt bei der Behauptung<br />
von angeblich zu schließenden Strafbarkeitslücken oftmals<br />
einen etwas „faden Beigeschmack“. Man sollte schon darlegen<br />
können, dass es sich um eine „Strafbarkeitslücke“ handelt, die<br />
nach der Systematik des Gesetzes nicht gewollt sein kann (und<br />
nicht nur um ein Verhalten, das man persönlich als besonders<br />
schlimm empfindet).<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 5
II. Grundlagen<br />
Das Gesamtphänomen Strafe und Strafrecht ist über die „klausurrelevanten“<br />
gesetzlichen Vorschriften hinaus mit einer Reihe Fragen verquickt. Ohne<br />
dass diese hier wirklich vertieft werden könnten, seien einige von ihnen<br />
wenigstens kurz angesprochen. Dabei wird vorliegend vor allem solchen<br />
Grundlagen Bedeutung zugemessen, die den engsten Bezug zum „klassischen<br />
Klausurstoff“ haben und daher zumindest bei einer ausführlicheren<br />
Argumentation an schwierigen Stellen in ihren Grundzügen überblickt sein<br />
wollen (d.h. konkret: den verfassungsrechtlichen 8 und strafrechtsdogmatischen<br />
9 Grundlagen):<br />
1. Kriminologische Grundlagen: Die Kriminalitätstheorien – o-<br />
der:<br />
Warum wird der Mensch kriminell?<br />
Zu den „gesamten Strafrechtswissenschaften“ gehört auch die Kriminologie,<br />
d.h. die Wissenschaft von Ursache und Phänomenologie kriminellen Verhaltens<br />
sowie der Wirkung von Strafe. 10 Anders als das Strafrecht ist die Kriminologie<br />
also keine normative, sondern eher eine empirische Disziplin.<br />
Entsprechende Kenntnisse sind zwar für Ausbildung und Prüfung in aller<br />
Regel nicht erforderlich, für rationale, praktische rechtspolitische Arbeit<br />
aber unverzichtbar. Als wichtiger Bestandteil dieser Wissenschaft gehen die<br />
sog. Kriminalitätstheorien gehen der Frage nach, warum Menschen kriminell<br />
werden (sog. Kriminalätiologie). Die wichtigsten Obergruppen unter<br />
diesen Ansätzen lassen sich wie folgt gegenüberstellen:<br />
8 Unten S. 11 ff.<br />
9 Unten S. 15 ff.<br />
10 Zu den verschiedenen Gegenständen der Kriminologie vgl. Schwind, Kriminologie, § 1<br />
Rn. 14 – wer ein bisschen „privates“ Interesse für diese spannenden Fragen entwickelt und<br />
einmal entspannt, aber zugleich fundiert etwas dazu „schmökern“ will, dem sei dieses Büchlein<br />
dringend ans Herz gelegt.<br />
Theorie<br />
Kernaussage<br />
biologische<br />
Theorien<br />
psychologische<br />
Theorien<br />
Freud,<br />
Sutherland,<br />
Eysenck<br />
soziologische<br />
Theorien<br />
Die Neigung<br />
−<br />
zur<br />
Kriminalität<br />
ist angeboren<br />
−<br />
Spielarten<br />
−<br />
−<br />
−<br />
−<br />
−<br />
−<br />
−<br />
−<br />
biologisch-anthropologische Ansätze<br />
(Verbrechen als Atavismus,<br />
d.h. als Rückfall auf frühere Entwicklungsstufe)<br />
erbbiologische Theorien (Zwillings-<br />
und Adoptionsforschung)<br />
Ethologie<br />
Psychoanalyse<br />
Lerntheoretische Ansätze<br />
Aggressionstheorien<br />
Kontrolltheorien<br />
Milieutheorien der französischen<br />
kriminalsoziologischen Schule<br />
Anomietheorien<br />
Subkulturtheorien (Theorie der<br />
„delinquency areas”, Theorie der<br />
delinquenten Subkultur)<br />
− Kulturkonflikttheorien<br />
− Etikettierungsansätze (labeling<br />
approach)<br />
Wichtige<br />
Vertreter<br />
Lombroso,<br />
Ferri,<br />
Crowe<br />
Kriminalität<br />
ist das<br />
Ergebnis<br />
bestimmter<br />
seelischer<br />
Entwicklungen<br />
Kriminalität<br />
ist das<br />
Ergebnis<br />
von gesellschaftlichen<br />
Entwicklungen,<br />
insb.<br />
von sozialstrukturell<br />
bedingten<br />
Missständen<br />
Lacassagne,<br />
Franz von<br />
Liszt,<br />
Durkheim,<br />
Merton<br />
Heute ist man sich im Wesentlichen einig, dass kein monokausaler Ansatz<br />
die Entstehung von Kriminalität angemessen erklären kann ( Tendenz zu<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 6
Mehrfaktorenansätzen). Das macht die Frage aber nicht hinfällig, da immerhin<br />
versucht werden kann, (etwa durch statistische Untersuchungen 11 ) wesentliche<br />
Faktoren und ihr Zusammenspiel herauszufinden (und das Augenmerk<br />
vor allem auf solche zu legen, bei denen man ansetzen kann).<br />
2. Rechtsphilosophische Grundlagen: Die Strafzwecktheorien –<br />
oder: Warum strafen wir?a) Problembeschreibung und Einordnung<br />
Eine bis in die Philosophie der Antike zurückzuverfolgende Diskussion<br />
dreht sich um die Frage, „wozu überhaupt strafen“, m.a.W.: welcher Zweck<br />
mit dem Strafen verfolgt wird. 12 Es ist ja nicht ohne Weiteres selbstverständlich,<br />
dass eine (repressive) Strafe verhängt wird, die den eingetretenen Schaden<br />
nicht wieder gut machen kann: „das Kind ist ja schon in den Brunnen<br />
gefallen“.<br />
Obwohl sich für diese Diskussion die Bezeichnung der „Strafzwecktheorie“<br />
eingebürgert hat, geht es dabei weniger um das Ziel des Strafrechts als Regelungsmaterie<br />
als vielmehr um die Wirkungsweise von Strafandrohung und<br />
Strafvollzug in Abhängigkeit von der dem Strafrecht zugewiesenen Aufgaben,<br />
oder anders ausgedrückt: um die Frage, wie Strafandrohung bzw. –<br />
vollzug dazu beitragen können, dass diese Aufgaben erfüllt werden. Im Einzelnen<br />
ist hier allerdings vieles umstritten. Während manche Autoren strikt<br />
zwischen Wirkungen der Strafe (bei denen dann die Strafzwecktheorien<br />
diskutiert werden) und Aufgabe des Strafrechts trennen, behandeln andere<br />
beides mehr oder weniger zusammen. Über zwei Punkte sollte aber eigentlich<br />
Einigkeit bestehen: Natürlich kann zwischen einer Diskussion über das<br />
„ob“ der Strafe und das „wie“ der Strafe unterschieden werden; ebenso<br />
selbstverständlich ist aber das „wie“ vom „ob“ abhängig bzw. wird dadurch<br />
begrenzt: nur wenn die konkrete Durchführung geeignet ist, ein solches Ziel,<br />
das hinsichtlich des „ob“ als legitim erachtet worden ist, zu fördern, ist sie<br />
auch ihrerseits legitimiert.<br />
Jedenfalls weitgehend unabhängig ist die Strafzwecklehre von der Auswahl der<br />
Rechtsgüter, deren Schutz dem Strafrecht in einem konkreten gesellschaftlichen<br />
System obliegt. Verfolgt man etwa den spezialpräventiven Zweck, dass eine einmal<br />
begangenen Rechtsverletzung auf Grund der verhängten Strafe und der Androhung<br />
einer erneuten Strafe nicht wiederholt wird (vgl. unten S. 8 f.), spielt es letztlich<br />
keine Rolle, ob diese Rechtsverletzung in der – weithin als grundsätzlich strafwürdig<br />
angesehenen – Tötung eines Menschen, in der – in der Geschichte vielfach als<br />
Straftat angesehenen, in modernen Strafrechtssystemen aber ganz selbstverständlich<br />
unberücksichtigten – Betätigung als Zauberer oder in der – bis in die zweite Hälfte<br />
des 20. Jahrhunderts zumindest nicht als strafrechtliches Problem gesehenes, gegenwärtig<br />
aber in vielen Rechtsordnungen dem Kernstrafrecht zugehörigen – Verschmutzung<br />
der Umwelt liegt. Insoweit trägt die Strafzwecklehre nichts zur materiellen<br />
Legitimation einer konkreten Strafnorm bei, sondern beschreibt vielmehr die<br />
Funktionalität der Strafe zur Erreichung der in einer Rechtsordnung jeweils mit dem<br />
Strafrecht verfolgten Aufgaben.<br />
Es stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze gegenüber, von denen insbesondere<br />
der zweite wieder eine Reihe von Unterdifferenzierungen enthält.<br />
Überblicksartig lässt sich die Diskussion wie folgt darstellen: 13<br />
11 Berühmt in Deutschland etwa Göppingers Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung<br />
(1983).<br />
12 Eine interessante Sammlung von Originalquellen (ggf. jeweils einschließlich deutscher<br />
Übersetzung) mit Stellungnahmen bedeutender Denker der Neuzeit zu dieser Frage findet<br />
sich bei Vorbaum, Strafrechtsdenker der Neuzeit.<br />
13 Instruktiv zu den Strafzwecken Lesch, JA 1994, 510 ff., 590 ff.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 7
:<br />
absolute Straftheorien<br />
Punitur quia peccatum<br />
est<br />
Ziel: Vergeltung der<br />
vergangenen Tat<br />
[historisch wichtige<br />
Vertreter: Kant; Hegel]<br />
Lehre von den<br />
Strafzwecken<br />
(Straftheorien)<br />
Relative Straftheorien<br />
Punitur ne peccetur<br />
Generalprävention:<br />
* negativ: Abschreckung<br />
[historisch wichtiger Vertreter:<br />
Feuerbach]<br />
* positiv: Festigung der allgemeinen<br />
Rechtstreue<br />
[heute wohl h.M.]<br />
Spezialprävention<br />
[historisch wichtiger Vertreter:<br />
v. Liszt]<br />
* negativ: Abschreckung<br />
und Sicherung<br />
* positiv: Erziehung / Resozialisierung<br />
[vgl. heute § 2 StVollzG]<br />
b) Die absoluten Straftheorien<br />
Die Vertreter der sog. „absoluten Straftheorien“ gingen davon aus, dass die<br />
Strafe allein der Vergeltung der begangenen Straftat dient und darüber hinaus<br />
keinen (diesseitigen) Zweck verfolgt (sie von solchen Zwecken also<br />
„losgelöst“, lat. absolutus, ist). Gegen eine „diesseitige Zweckbindung“<br />
kann eingewendet werden, dass die Erreichung dieser Zwecke entweder<br />
−<br />
−<br />
höchst ungewiss ist 14 oder aber die einzelne für gesellschaftliche Zwecke<br />
„instrumentalisiert“ wird. 15<br />
Um dabei aber den „Vergeltungsgedanken“ nicht als (nur) archaisches Rachedenken<br />
misszuverstehen, muss man sich darüber hinaus den philosophischen<br />
Ausgangspunkt (insbesondere in der Diskussion während des deutschen<br />
Idealismus bei Kant und Hegel) vor Augen führen: Der rechtmäßige /<br />
gerechte Zustand wurde als solcher als ein ideeller Wert betrachtet, der<br />
durch die Straftat verletzt wurde. Zu seiner ideellen Wiederherstellung wurde<br />
die Strafe als eine Sühneleistung (oder nach Hegel: als „Negation der<br />
Negation“) als erforderlich und zugleich auch als „Heilmittel“ für den Verbrecher<br />
– der damit wieder mit der Gesellschaft versöhnt wird – erachtet.<br />
Einem solchen ausgleichenden Denken entsprach auch die Vorstellung der<br />
Vergeltung des „Gleichen mit Gleichem“ (des sog. „ius talionis“), das bei<br />
Kant noch i.S. einer unmittelbaren Entsprechung von Straftat und Strafe, bei<br />
Hegel in einer wertungsmäßigen Entsprechung gesehen wurde.<br />
c) Die relativen Straftheorien<br />
Demgegenüber besteht unter den Vertretern der „relativen Straftheorien“<br />
Einigkeit darüber, dass mit der Strafe ein zukunftsgerichteter Zweck verfolgt<br />
wird (sie also zu einem solchen Zweck in Beziehung steht, lat. relatus). Dieser<br />
besteht in der Prävention gegen zukünftige Straftaten, wobei unterschiedliche<br />
Ansatzpunkte möglich sind: Auf der ersten Ebene lässt sich zwischen<br />
der Wirkung auf den bestraften Täter selbst und der Rechtsgemeinschaft<br />
unterscheiden; auf einer zweiten Ebene zwischen einer negativabschreckenden<br />
und einer positiv-bestärkenden Wirkung. Damit ergeben<br />
sich folgende Möglichkeiten:<br />
• Die negative Spezialprävention stellt darauf ab, dass der bestrafte Täter<br />
auf Grund der Wirkung der Strafe von der Begehung neuer Taten abgeschreckt<br />
– bzw. soweit dies nicht möglich erscheint – durch „Wegsperren“<br />
oder gar Eliminieren unschädlich gemacht wird.<br />
14 Wird jemand wirklich durch die Verbüßung einer Freiheitsstrafe ein besserer Mensch?<br />
15 Wird ein einzelner besonders hart bestraft, um andere Täter abzuschrecken, so ist das kein<br />
gerechter Ausgleich seiner Schuld, sondern er wird zum Hilfsmittel<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 8
• Bei der positiven Spezialprävention wird die Möglichkeit einer Besserung<br />
des Täters durch die Strafe (bzw. eine Behandlung während des<br />
Strafvollzuges) betont („Erziehung durch Strafe“).<br />
• Die negative Generalprävention baut darauf, dass bereits durch die<br />
Strafandrohung jeder Einzelne genau überlegen wird, ob sich die mit<br />
der Straftat möglicherweise verbundenen Konsequenzen „lohnen“.<br />
M.a.W.: der Mensch begeht Straftaten, weil er sich einen Vorteil daraus<br />
erhofft; wenn aber die zugleich drohenden Nachteile unverhältnismäßig<br />
hoch erscheinen, wird er sich von der Vorteilshoffnung nicht leiten lassen<br />
(Theorie des psychologischen Zwanges nach Feuerbach).<br />
• Die positive Generalprävention schließlich geht davon aus, dass die<br />
Rechtsgemeinschaft in ihrer Rechtstreue insgesamt bestärkt und bestätigt<br />
wird, wenn sie erkennt, dass Verbrecher bestraft werden. Insoweit<br />
ist eine Parallele zur Sicht der Aufgabe des Strafrechts in der kontrafaktischen<br />
Stabilisierung von durch die Straftat verletzten Verhaltenserwartungen<br />
deutlich sichtbar. 16<br />
d) Kritik und Vereinigungstheorien<br />
An allen Modellen kann – insbesondere in ihrer „Reinform“ – Kritik geübt<br />
werden: So erscheint bloße Vergeltung „archaisch“, die Hoffnung auf Besserung<br />
angesichts der Rückfallstatistiken teilweise utopisch und die Legitimation,<br />
die Bestrafung des einzelnen in den Dienst der Gesellschaft zu stellen,<br />
zumindest fraglich. Bei der präventiven Wirkung aus Angst vor einer angedrohten<br />
Strafe wird außerdem nicht ausreichend berücksichtigt, dass nach<br />
allen historischen und kriminologischen Erfahrungen, weniger die Existenz<br />
oder gar Höhe der zu erwartenden Strafe, sondern die Wahrscheinlichkeit<br />
„erwischt zu werden“, das Verhalten des Täters maßgeblich steuert.<br />
Aus diesem Grunde sind heute sog. Vereinigungstheorien herrschend, wobei<br />
einer rein „additiven“ Betrachtung (alle Strafzwecke nebeneinander) eine<br />
„dialektische“ vorzuziehen ist, die etwa für die Stufen Strafandrohung,<br />
Strafverhängung und Strafvollzug jeweils unterschiedliche Strafzwecke im<br />
Vordergrund sieht.<br />
16 Vgl. oben zu Fußn. 5.<br />
Im StGB selbst sind ebenfalls alle drei Strafzwecke zum Ausdruck gekommen:<br />
Nach der zentralen Vorschrift für die Strafzumessung in § 46 I 1 StGB<br />
ist die Schuld der Täters Grundlage der Strafe ( Vergeltung), wobei aber<br />
nach S. 2 auch die Auswirkungen auf das künftige Leben des Täters zu berücksichtigen<br />
sind ( Spezialprävention); im Einzelfall nach § 47 I StGB ist<br />
auch die „Verteidigung der Rechtsordnung” zu berücksichtigen ( Generalprävention).<br />
3. Historische Grundlagen<br />
Eine Beschäftigung mit den einschlägigen historischen Grundlagen unseres<br />
Strafrechts müsste hier so unvollständig und selektiv erfolgen, dass es mir<br />
„seriöser“ erscheint, völlig auf sie zu verzichten. 17 Es soll hier bei einigen<br />
mehr oder weniger willkürlich gesetzten Punkten bleiben, die man als<br />
Schlagwort schon einmal gehört haben sollte:<br />
• In der germanisch-fränkischen Zeit findet sich noch keine Trennung<br />
zwischen Strafprozess und Zivilprozess. Eine Straftat führt zu einer<br />
Privatklage des Verletzten oder seiner Sippe. Wichtigste Gesetzbuch ist<br />
die Lex Salica (um 500).<br />
• Im deutschen Hochmittelalter entsteht ein öffentliches Strafrecht in<br />
Deutschland. Charakteristisch ist die Idee der „spiegelnden Strafen“.<br />
Bedeutendstes strafrechtliches Gesetzbuch in dieser Zeit ist der Sachsenspiegel<br />
(um 1230).<br />
• In der frühen Neuzeit findet in Deutschland langsam die Rezeption der<br />
in Oberitalien schon seit dem 12. Jahrhundert erfolgenden Beschäftigung<br />
mit dem römischen Recht statt. Es beginnt die Zeit der Hexenprozesse;<br />
das Verfahren ist durch die Inquisition geprägt. Bedeutendstes<br />
Gesetzbuch dieser Zeit ist die „Constitutio Criminalis Carolina“, die<br />
peinliche Gerichtsordnung Karls V (um 1530).<br />
17 Interessierte seien zur Vertiefung etwa auf das Kurzlehrbuch von Rüping, Grundriß der<br />
Strafrechtsgeschichte, verwiesen. Einen interessanten Überblick über die Geschichte der<br />
Strafgerichtsbarkeit gibt Schild, Die Geschichte der Gerichtsbarkeit (1997); die klassischen<br />
frühen Strafrechtskodifikationen der Neuzeit im deutschsprachigen Raum finden sich zusammengestellt<br />
bei Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit (1998).<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 9
• Die Aufklärung ist durch naturrechtliche (an Stelle von religiösen) I-<br />
deen geprägt; der Kodifikationsgedanke (d.h. die Vorstellung, dass das<br />
Recht möglichst vollständig in geschriebener Form vorliegen soll) gewinnt<br />
enorm an Bedeutung. Beispiele sind in Österreich die sog. Theresiana<br />
(1768) und Josephina (1787) sowie in Preußen das Allgemeine<br />
Preußische Landrecht (ALR, 1794).<br />
• Aufbauend auf dem Preußischen StGB von 1851 wird nach der Reichgründung<br />
1871 das Reichsstrafgesetzbuch erlassen, aus dem später das<br />
StGB hervorgeht.<br />
• Die NS-Zeit führt zu (z.T. noch heute im StGB befindlichen) Änderungen<br />
des StGB, vor allem aber zu Sondergesetzen und zu einer veränderten<br />
Anwendung der Strafgesetze.<br />
• Zwischen 1969 und 1974 finden umfangreiche Reformen, insbesondere<br />
des Allgemeinen Teils statt, die von der Wissenschaft ausführlich begleitet<br />
werden. 1998 kommt es mit dem 6. StrRG zu zahlreichen Änderungen<br />
des Besonderen Teils.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 10
4. Verfassungsrechtliche und methodische Grundlagen, insbesondere<br />
der Grundsatz nulla poena sine lege<br />
Das Strafrecht als schärfster staatlicher Eingriff in die Rechte des einzelnen<br />
muss sich in besonderem Maße an den Vorgaben des Grundgesetzes (GG)<br />
messen lassen. Hierzu sind zahlreiche (geschriebene und ungeschriebene)<br />
„Sicherungen“ zu beachten, die sowohl materiell als auch formell wirken.<br />
−<br />
−<br />
−<br />
formell<br />
Art. 97 I GG<br />
Art. 103 II GG<br />
Art. 104 GG<br />
−<br />
−<br />
−<br />
materiell<br />
Schuldprinzip<br />
allgemeine GR-Bindung<br />
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />
a) Materiell-verfassungsrechtliche „Sicherungen“<br />
Es ist wenig sinnvoll, die im Schaubild genannten materiellverfassungsrechtlichen<br />
Garantien zu vertiefen, bevor diese in den einschlägigen<br />
Veranstaltungen zum Staatsrecht (Grundkurs Öffentliches Recht) behandelt<br />
worden sind. Einstweilen soll so viel genügen: Wenn nach<br />
Art. 1 III GG die öffentliche Gewalt insgesamt an die Grundrecht (also etwa<br />
an die Garantien der Meinungsfreiheit, der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />
etc.) gebunden ist, dann müssen sich natürlich erst Recht die Strafnormen als<br />
schärfstes staatliches Eingriffsinstrumentarium sowie ihre Auslegung im<br />
konkreten Einzelfall an den grundrechtlichen Vorgaben messen lassen. 18<br />
Besondere Bedeutung kommt dabei dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />
zu, nach dem Eingriffe in Grundrechte u.a. nur gerechtfertigt<br />
sind, wenn sie zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet,<br />
18 Vgl. zur grundrechtsorientierten Auslegung im materiellen Strafrecht vertiefend Kudlich,<br />
JZ 2003, 127 ff.<br />
erforderlich und angemessen sind („nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen“).<br />
Zumindest bei der Auslegung von zu weit geratenen Straftatbeständen<br />
ist dieser Grundsatz zu beachten, wenn die Verhängung der angedrohten<br />
Strafe für die außer Verhältnis stünde.<br />
b) Insbesondere die Garantie nulla poena sine lege<br />
Die größte Bedeutung unter den verfassungsrechtlichen Garantien (auch mit<br />
Blick auf die „gängige“ Rechtsanwendung in Klausuren) kommt dabei der<br />
Garantie des Art. 103 II GG zu, da dieser – in § 1 StGB nicht umsonst wortgleich<br />
wiederholte – sog. „nulla-poena-Grundsatz“ letztlich auch das Programm<br />
vorgibt, das bei der Auslegung umgesetzt werden muss.<br />
Art. 103 II GG ordnet dabei an:<br />
„Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich<br />
bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“<br />
Dem werden vier Garantien entnommen:<br />
Garantie Wirkungsweise Adressat Klausurbedeutung<br />
lex scripta Verbot von strafbegründendem<br />
Gewohnheitsrecht<br />
lex praevia Rückwirkungsverbot<br />
Richter<br />
Gesetzgeber<br />
(Richter hat<br />
§ 2 StGB zu beachten)<br />
lex stricta Analogieverbot Richter groß:<br />
gering; nur in engen<br />
Fallgruppen zu diskutieren<br />
(z.B. Zulässigkeit<br />
der a.l.i.c.)<br />
grds. gering; beliebtes<br />
Problem: Geltung für<br />
Rspr.-Änderung?<br />
• keine Analogie zu<br />
Lasten aussprechen<br />
• prüfen, ob vorgenommene<br />
Auslegung<br />
nicht Grenze zur A-<br />
nalogie überschreitet<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 11
lex certa<br />
Bestimmtheitsgebot<br />
grds. Gesetzgeber;<br />
aber auch<br />
eher gering<br />
Richter darf allgemeine<br />
Obersätze<br />
nicht so<br />
bilden, dass Ergebnisse<br />
unvorhersehbar<br />
werden<br />
Diese Garantien gelten für die „Strafe“, d.h.<br />
• jedenfalls für die gesetzlichen Tatbestände des Besonderen Teils (wo<br />
sie ihre Hauptbedeutung haben), aber<br />
• grundsätzlich auch für den Allgemeinen Teil (in dem aber nach der<br />
Natur der Sache Einschränkungen bei der Bestimmtheit unumgänglich<br />
sind, die auch auf das Analogieverbot durchschlagen).<br />
Gebote der lex certa und auch der lex stricta gestellt. Dies hat seinen<br />
Grund letztlich darin, dass eine „natürliche Sprache“ (wie es –<br />
man mag sich wundern ☺ – auch die Rechtssprache im Unterschied<br />
z.B. zu einer Computersprache ist) realistischerweise das<br />
Maß an Determination einer Entscheidung gar nicht leisten kann,<br />
dass traditionell voraussetzt wird. Aber: Das weiß jeder, der ein<br />
Gedicht interpretiert, und auch die Sprachwissenschaftler sind sich<br />
darüber einig; wir Juristen jedoch verschließen uns vor dieser Einsicht<br />
ganz gerne, weil wir denn die Last, einen Bedeutungskonflikt<br />
selbst zu entscheiden, vermeintlich auf die Sprache „abwälzen“<br />
können. Deswegen – und natürlich auch und vor allem, weil die<br />
Sprache durchaus erhebliches Argumentationsmaterial an die Hand<br />
gibt – sollte man in der Klausur nicht darauf verzichten, etwa auf<br />
Bilder wie die „Wortlautgrenze“ zurückzugreifen.<br />
Dagegen gilt Art. 103 II GG nach vorzugswürdiger Ansicht nicht für das<br />
Strafprozessrecht, in dem jedoch bei eingreifenden Maßnahmen der allgemeine<br />
Gesetzesvorbehalt zu beachten ist.<br />
Das Analogieverbot und das Verbot von Gewohnheitsrecht sollen dabei<br />
nicht zugunsten das Täters gelten (im einzelnen str.). Ferner ist trotz des<br />
Bestimmtheitsgrundsatzes das Bedürfnis des Gesetzgebers zu berücksichtigen,<br />
im Gesetz generelle Regelungen für eine unbestimmte Vielzahl von<br />
Fällen aufzustellen. Im Ergebnis verschiebt sich daher das Erfordernis der<br />
Bestimmtheit hin zur Forderung nach der Bestimmbarkeit lege artis (so<br />
nicht als h.M. anerkannt, aber auch von denjenigen, die es nicht so sagen, in<br />
der Sache praktiziert).<br />
Klausurhinweis:<br />
Obwohl die große Bedeutung von Art. 103 II GG – nicht nur hier!<br />
– theoretisch stets bekräftigt wird, werden an die praktische Handhabung<br />
scheinbar gelockerte Anforderungen an die Erfüllung der<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 12
Auslegungsmethode<br />
Kriterium/erschlossener<br />
Kontext<br />
Probleme<br />
c) Umsetzung des Programms des Art. 103 II GG: Die Auslegung von<br />
Strafgesetzen<br />
Wie aber soll dann ausgelegt werden, um Art. 103 II GG gerecht zu werden?<br />
Fest steht zumindest, dass auch Strafgesetze ausgelegt werden müssen (was<br />
in der Gesetzesbindungseuphorie früherer Jahrhunderte teilweise sogar offiziell<br />
verboten wurde!) Denn praktisch jede Anwendung des Gesetzes ist<br />
letztlich mit einem Akt der „Auslegung“ – sei dieser im Einzelfall komplexer<br />
oder auch einfacher – verbunden. Sieht man vom „Analogieverbot“ ab<br />
und bewegt sich im Bereich dessen, was traditionell als „Auslegung secundum<br />
legem“ bezeichnet wird, bestehen im Strafrecht zunächst einmal keine<br />
Besonderheiten; es kann daher auf die allgemeinen Kanones der Auslegung<br />
verwiesen werden, die auch in anderen Fächern gelten. Die folgende Übersicht<br />
zeigt noch einmal Kriterien und Probleme dieser Kanones im Überblick:<br />
grammatische Wortlaut der Norm Mehrdeutigkeit bzw.<br />
Offenheit sprachlicher<br />
Begriffe<br />
systematische Sinnzusammenhang oft ambivalent (Gegenoder<br />
Erst-Recht-<br />
Schluss?)<br />
historische und genetische<br />
Entstehungsgeschichte<br />
der Norm; Vorläufervorschriften<br />
teleologische Sinn und Zweck der<br />
Norm (im Strafrecht insbesondere<br />
auch Rechtsgut)<br />
oft unklar / unvollständig;<br />
wer ist der historische<br />
Gesetzgeber?<br />
Einfallstor für subjektive<br />
Vorwertungen<br />
Daneben wird oft die „verfassungskonforme“ (und zunehmend auch die europarechtskonforme)<br />
Auslegung genannt. Diese ist allerdings streng genommen<br />
weniger eigenes Auslegungskriterium als vielmehr „Kontrollmechanismus“,<br />
ob von mehreren möglichen Auslegungen eine nicht mit der<br />
Verfassung vereinbar ist. Daneben ist aber auch diesseits der Grenze harter<br />
Verfassungswidrigkeit einer verfassungsorientierte (quasi „grundgesetzlichsystematische“)<br />
Auslegung anzuerkennen. 19 Speziell im Strafrecht wird außerdem<br />
oft noch „strafrahmenorientiert“ ausgelegt (was häufig so aussieht,<br />
dass eine Norm um so enger ausgelegt wird, je höher der Strafrahmen ist);<br />
hierbei dürfte es sich aber zumeist um Unterfälle anderer Auslegungsarten<br />
handeln, bei denen dem Strafrahmen die Funktion zukommt, als „Auslegungskriterium<br />
zweiter Stufe“ zu zeigen, wie die Systematik des Gesetzes zu<br />
verstehen ist, was sich der Gesetzgeber wohl gedacht hat oder wie Sinn und<br />
Zweck einer Vorschrift liegen. 20<br />
Klausurhinweis:<br />
Üblicherweise wird gelehrt: Erster Ausgangspunkt und Grenze der<br />
Auslegung ist im Strafrecht der mögliche Wortsinn<br />
(Art. 103 II GG); im Übrigen entscheide zumeist die teleologische<br />
Auslegung (insbesondere vom geschützten Rechtsgut her) als<br />
„Krone der Auslegung“. 21<br />
Das ist eigentlich verwunderlich, wenn man berücksichtigt, dass<br />
einerseits der normtextnächsten, andererseits aber auch der normtextfernsten<br />
Methode eine entscheidende Funktion zukommen soll.<br />
Woran liegt das? Wohl daran, dass die Leistungsfähigkeit eines<br />
Auslegungsarguments immer sowohl nach der Normstruktur<br />
(normtextnah oder –fern?) als auch nach der Intensität (möglich,<br />
plausibel oder gar zwingend?) bewertet werden kann. Und auf<br />
dieser zweiten Stufe ist eben die teleologische Argumentation oft<br />
die stärkste. In der Klausur sollten Sie deshalb bei einer ausführlichen<br />
Auslegung die Formel vom „Wortlaut als Ausgangspunkt und<br />
19 Vgl. bereits oben Fn. 18.<br />
20 Vertiefend Kudlich, ZStW 115 (2003), 1 ff.<br />
21 So die Metapher bei Jescheck/Weigend, <strong>AT</strong>, § 17 IV 1b.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 13
Grenze“ ruhig verwenden, und oft bietet sich auch die Reihenfolge<br />
„Grammatik – Systematik – Historie – Telos“ beim Vorgehen an;<br />
aber das ist nicht zwingend, und natürlich spricht auch nichts dagegen,<br />
das Ergebnis auf ein überzeugendes systematisches Argument<br />
zu stützen, wenn man über Sinn und Zweck letztlich nur spekulieren<br />
kann.<br />
Allgemein gilt im Übrigen: Aufgabe von juristischer Methodik und<br />
Dogmatik ist nicht die Garantie einer „richtigen” Entscheidung<br />
(i.S. eines „so und nicht anders“), sondern ihre rational nachvollziehbare<br />
Begründung lege artis. Prüfungsleistung ist weniger das<br />
„richtige” Ergebnis i.S.d. obergerichtlichen Rechtsprechung oder<br />
die Wiedergabe fremder Meinungen (in sog. Theorienstreitigkeiten),<br />
sondern die saubere methodische Lösung auftretender Auslegungsprobleme.<br />
Bei Auslegungsproblemen sind daher – insbesondere<br />
in Fortgeschrittenenklausuren – oft Punkte zu holen.<br />
Tatbestand: § 242 I StGB: Wer eine fremde, bewegliche Sache einem anderen<br />
in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen,<br />
...<br />
Subsumtion:<br />
Wer? T<br />
einem anderen? dem O<br />
eine fremde bewegliche Sache? Geldbeutel<br />
...<br />
• die (wenngleich nicht übertriebene) Verwendung des Gutachtensstils,<br />
d.h. die Entwicklung eines Ergebnisses von einer Arbeitshypothese aus<br />
( typische Konjunktionen: „also“; „folglich“ 22 )<br />
d) Exkurs: Die Subsumtion und Gutachtenstil<br />
Auch eine gute Auslegung einer problematischen Vorschrift „wirkt“ im Übrigen<br />
nur, wenn sie auch im Übrigen in eine korrekt aufgebaute Fall-Lösung<br />
eingebaut ist. Dazu gehören neben dem speziellen Aufbau der jeweils fachspezifischen<br />
Tatbestandsprüfung (vgl. dazu für das Strafrecht später unten in<br />
Vorlesung und <strong>Skript</strong>):<br />
• die saubere Subsumtion, d.h. das Zur-Deckung-Bringen von Sachverhalt<br />
und Normtext nach folgendem idealtypischen Muster<br />
Für T(atbestand) gilt<br />
R(echtsfolge)<br />
S(achverhalt) = T(atbestand)<br />
Für S(achverhalt) gilt<br />
R(echtsfolge)<br />
Bsp.:<br />
Sachverhalt: T zieht O im Gedränge seine Brieftasche aus der Manteltasche<br />
und behält sie samt Inhalt.<br />
22 Im Gegensatz dazu ist der Urteilsstil durch das Voranstellen des Ergebnisses mit anschließender<br />
Begründung geprägt ( typische Konjunktionen: „weil“; „denn“).<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 14
5. Strafrechtsdogmatische und –systematische Grundlagen<br />
Eine vertiefte wissenschaftliche Beschäftigung, aber auch eine in Grenzen<br />
vorhersehbare Handhabung in der Praxis erfordert, dass die zahlreichen Fragen<br />
und Wertungen, die letztlich über die Strafbarkeit entscheiden, so gut<br />
wie möglich in ein System gebracht werden. Dies betrifft zum einen die<br />
verschiedenen Arten von Straftatbeständen (um diese so in Gruppen einzuordnen,<br />
dass Aussagen getroffen werden können, die immer für mehrere<br />
Delikte gelten), zum anderen aber auch für die Prüfung, ob ein konkretes<br />
Verhalten einem ganz bestimmten Tatbestand entspricht. Eine spezielle<br />
Ausprägung eines solchen systematisch-dogmatischen Denkens schließlich<br />
ist die Idee eines Allgemeinen Teils.<br />
a) Einteilungsmöglichkeiten der Delikte<br />
Die Delikte des Besonderen Teils lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten<br />
in Gruppen einteilen. Diese Einteilungen helfen, allgemeine Grundsätze<br />
aufzustellen, die dann jeweils für alle der jeweiligen Gruppe zugehörigen<br />
Delikte gelten. Möglich ist z.B. eine Einteilung nach<br />
• der Art des Verhaltens<br />
* Begehungsdelikte: Werden durch aktives Tun begangen (die meisten<br />
Delikte des BT im Falle eines Unterlassens nur als „unechte“<br />
Unterlassungsdelikte i.V.m. § 13 StGB möglich).<br />
* echte Unterlassungsdelikte (insb. §§ 138, 323c StGB): Werden<br />
durch Untätigkeit begangen.<br />
• der inneren Beziehung des Täters zu der Tat<br />
* Vorsatzdelikte (z.B. §§ 212, 223, 303 StGB): Nach § 15 StGB alle<br />
Delikte, bei denen eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nicht explizit<br />
angeordnet ist.<br />
* Fahrlässigkeitsdelikte (insbesondere §§ 222, 229 StGB)<br />
* Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen (z.B. § 315c I, III Nr.1<br />
StGB)<br />
• der Intensität der Rechtsgutsbeeinträchtigung<br />
* Verletzungsdelikte (z.B. §§ 223, 303 StGB)<br />
* (Konkrete oder abstrakte) Gefährdungsdelikte (z.B. §§ 315c, 316<br />
StGB)<br />
• der Beziehung zwischen Handlung und Erfolg<br />
* Erfolgsdelikte (z.B. §§ 223, 303 StGB): Erfordern im Tatbestand<br />
einen von der Handlung abgrenzbaren Erfolg<br />
* schlichte Tätigkeitsdelikte (z.B. §§ 153, 316 StGB)<br />
• den tauglichen Tätern<br />
* Allgemeindelikte: Können von jedermann begangen werden<br />
* Sonderdelikte (z.B. §§ 203, 331 ff. StGB): Können grundsätzlich<br />
(z.B. § 203 StGB) oder in einer qualifizierten Form (z.B. § 340<br />
StGB, sog. unechte Sonderdelikte) nur von bestimmten Tätern begangen<br />
werden.<br />
* Eigenhändige Delikte (z.B. §§ 173, 179 StGB): Der Tatbestand<br />
kann nur eigenhändig verwirklicht werden (jedoch ist Teilnahme<br />
möglich).<br />
• dem Zeitpunkt der Beendigung der Tat<br />
* Dauerdelikte (z.B. §§ 239, 123 StGB): Die Aufrechterhaltung des<br />
widerrechtlichen Zustandes hängt vom Willen des Täters ab, der<br />
die Tat fortdauern lassen will.<br />
* Zustandsdelikte (z.B. § 303 StGB): Der Tatunwert erschöpft sich<br />
in der erstmaligen Herbeiführung des widerrechtlichen Zustands.<br />
• der Verwirklichungsstufe der Tat<br />
* Vollendung: Sämtliche Tatbestandsmerkmale werden erfüllt<br />
* Versuch: Noch nicht sämtliche Tatbestandsmerkmale sind objektiv<br />
(aber subjektiv) erfüllt<br />
* Unternehmensdelikte (vgl. § §11 I Nr. 6 307, 309 StGB): Vollendung<br />
und Versuch sind gleichgestellt.<br />
• Schwere der Strafdrohung (vgl. § 12 StGB)<br />
* Verbrechen (z.B. §§ 211, 249 StGB): Mindeststrafe 1 Jahr Freiheitsstrafe<br />
* Vergehen (z.B. §§ 242, 263 StGB)<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 15
Klausurhinweis:<br />
Die meisten der bisher genannten Unterscheidungen sind durchaus<br />
nicht nur von wissenschaftlichem, sondern auch von ganz praktischem<br />
Interesse für die Klausur, weil gewisse Konsequenzen mit<br />
ihnen verbunden sind. So ist z.B. bei eigenhändigen Delikten keine<br />
mittelbare Täterschaft (§ 25 I Alt. 2 StGB) möglich; an Dauerdelikten<br />
ist länger eine Teilnahme möglich usw.<br />
Bei der Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen gilt<br />
dies in ganz besonderem Maße, weil das Gesetz selbst auf diese<br />
explizit Bezug nimmt, insbesondere bei der Frage nach der Strafbarkeit<br />
des Versuchs (vgl. § 23 I StGB), aber etwa auch in verschiedenen<br />
strafprozessualen Vorschriften. Auch wenn Ihnen die<br />
1-Jahresgrenze bald in Fleisch und Blut übergehen wird, ohne dass<br />
Sie darüber nachdenken müssen, sollten Sie in der Klausur nicht<br />
vergessen, § 12 StGB mitzuzitieren.<br />
• dem Spezifikationsgrad der gesetzlichen Beschreibung<br />
* Grundtatbestand (z.B. §§ 223, 242, 303 StGB): Beschreibt das als<br />
strafwürdig angesehenes Minimum des jeweiligen Deliktstyps<br />
* Qualifikation (z.B: §§ 224, 244, 305 StGB): Enthält als nichtsselbständige<br />
Abwandlung unrechts- bzw. schulderhöhenden Merkmale<br />
[ unterscheide davon: bloße Strafzumessungsregeln (z.B.<br />
§ 243 StGB); modifiziert nur den Strafrahmen beim gleichen Delikt]<br />
* Privilegierung (z.B.: § 216 StGB)<br />
b) Der strafrechtlicher Handlungsbegriff<br />
Die Diskussion über den strafrechtlichen Handlungsbegriff (die bis vor ca.<br />
25 Jahren wesentlich intensiver geführt wurde als heute) dreht sich um die<br />
Frage, ob menschliches Verhalten in einer Weise beschreiben lässt, dass sich<br />
darauf ein strafrechtliches System aufbauen lässt. Man sucht also nach einer<br />
Qualifizierung menschlichen Verhaltens, die Grundlage aller anerkannten<br />
Verbrechensformen sein kann, dabei aber zugleich strafloses Verhalten a<br />
priori ausscheidet. Dabei ist insbesondere umstritten, ob diese Handlung eine<br />
Kategorie des Seins (ontologischer Handlungsbegriff) oder des Rechts (juristischer<br />
Handlungsbegriff) ist.<br />
In historischer Reihenfolge lassen sich folgende Handlungsbegriffe skizzieren:<br />
Handlungsbegriff Handlungsdefinition Kritik<br />
Naturalistischer<br />
Handlungsbegriff<br />
Handlungs-<br />
Sozialer<br />
begriff<br />
neuere Ansätze<br />
Typik spezifisch<br />
menschlichen Verhaltens<br />
nicht erfasst; Spontanreaktionen<br />
sowie<br />
Affekttaten nur schwer<br />
erfassbar<br />
Handlungs-<br />
Finaler<br />
begriff<br />
Handlung = „gewillkürtes<br />
Körperverhalten“<br />
bzw. willkürliches Verhalten<br />
zur Außenwelt<br />
Handlung = Ausübung<br />
von Zwecktätigkeit<br />
durch zielgerichtetes<br />
(finales) Tätigwerden<br />
Handlung = willkürliches<br />
sozialerhebliches<br />
menschliches Verhalten<br />
Handlung = vermeidbare<br />
Erfolgsherbeiführung<br />
(Jakobs); Handlung =<br />
Persönlichkeitsäußerung<br />
(Roxin)<br />
Fahrlässigkeit<br />
Unterlassen)<br />
erfassbar<br />
(und<br />
schwer<br />
Begriff der Sozialerheblichkeit<br />
ist unbestimmt<br />
und enthält Wertung<br />
(die eigentlich in Tatbestandsprüfung<br />
gehören<br />
würde)<br />
z.T. Abgrenzungsprobleme;<br />
z.T. Überfrachtung<br />
des Handlungsbegriffs<br />
Ein möglicher (keinesfalls verbindlicher!) Vorschlag für eine Handlungsdefinition<br />
könnte etwa so aussehen: Eine strafrechtliche Handlung ist eine<br />
Persönlichkeitsäußerung in Gestalt eines menschlichen Verhaltens, das vom<br />
Willen beherrscht oder doch wenigstens beherrschbar ist. Diese Formel<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 16
kann vielleicht umschreiben, was in den Ergebnissen teils nahezu unstreitig,<br />
teils doch zumindest überwiegend anerkannt ist.<br />
In einer negativen Abgrenzung werden nicht als Handlung anerkannt<br />
• Akte von juristischen Personen (möglicherweise aber solche ihrer der<br />
Organe)<br />
• Verhaltensweisen von Tieren (möglicherweise aber solche – insbesondere<br />
in Gestalt von Unterlassungen – ihrer Halter)<br />
• Naturgewalten<br />
• Bloße GedankenVerhaltensweisen, die durch vis absoluta hervorgerufen<br />
werden (anders bei vis compulsiva)<br />
Bsp.: Zerstörung einer Sache, in die man gegen seinen Willen hineingeschubst<br />
worden ist.<br />
• Reflexbewegungen (unmittelbar vom Empfindungszentrum auf das<br />
Bewegungszentrum; anders bei eintrainierten Spontanreaktionen)Bspe:<br />
(1) Keine Handlungen wären danach ein Tritt, der dadurch erfolgt, dass der<br />
Patellasehnenreflex ausgelöst wird; ebenfalls reflexhaft ist wohl das Verhalten,<br />
wenn jemandem ein kleiner Gegenstand ins Auge fliegt (Schließen des Auges,<br />
Führen des Arms zum Auge)<br />
(2) Dagegen ist das scharfe Bremsen bei einem Hindernis auf der Straße kein<br />
Reflex, sondern eine eintrainierte Spontanreaktion.<br />
Dagegen sind Affekttaten i.d.R. Handlungen; streitig ist die Bewertung von<br />
Verhalten in Hypnose.<br />
Klausurhinweis:<br />
Dass die Abgrenzung eher negativ dahingehend vorgenommen<br />
wird, wann ausnahmsweise keine Handlung vorliegt, führt dazu,<br />
dass Sie in der Klausur zur Handlungsqualität eines Verhaltens<br />
kein Wort zu verlieren brauchen, wenn nicht ausnahmsweise ein<br />
entsprechender Problemfalls (Handeln in Hypnose; Reflex; Abgrenzung<br />
von Reflex und Spontanreaktion) vorliegt.<br />
Sollte – was die Ausnahme ist – ein solcher Fall vorliegen, dürfte<br />
die Handlungsfrage dogmatisch korrekt wohl an sich eine Vorfrage<br />
vor der Tatbestandsprüfung sein. Wenn Sie allerdings – was ich für<br />
möglich halte – ohnehin auf entsprechende Zwischenüberschriften<br />
verzichten, ist diese Einordnung nicht so wichtig, wenn die Prüfung<br />
jedenfalls gleich mit der Handlungsfrage begonnen wird.<br />
Sie sollten in der Klausur auch daran denken, dass auch bei einer<br />
scheinbar fehlenden Handlung u.U. eine (insbes. Fahrlässigkeits-)<br />
Strafbarkeit in Betracht kommt, wenn der Vorwurf an ein anderes<br />
(vorgelagertes) Verhalten angeknüpft werden kann.<br />
Bspe:<br />
(1) Einem Autofahrer springt sein Bernhardiner so von hinten in den<br />
Arm, dass unwillkürlich das Steuer verrissen wird. Zwar nimmt er hier<br />
keine strafrechtlich relevante Handlung vor. Eine solche kann aber im<br />
Transportieren des großen Tieres im Auto ohne ausreichende Sicherung<br />
liegen.<br />
(2) Eine Kerze wird im Schlaf umgestoßen. Zwar nimmt der Schlafende<br />
keine strafrechtlich relevante Handlung vor. Eine solche kann aber im<br />
Anzünden bzw. im Nichtauslöschen der Kerze vor dem Schlafen liegen.<br />
c) Zusammenspiel von Allgemeinem und Besonderem Teil<br />
Typisch für die meisten rechtliche Regelungen und insbesondere für das<br />
materielle Strafrecht ist das Zusammenspiel von Allgemeinen und Besonderen<br />
Teilen. Die „Idee des Allgemeinen Teils“ besteht dabei darin, solche<br />
Fragen, die immer wieder und von den Besonderheiten bestimmter Tatbestände<br />
unabhängig auftreten können, gewissermaßen „vor die Klammer zu<br />
ziehen“. Für die konkrete Fall-Lösung müssen dann beide Regelungsgebiete<br />
wieder zusammengeführt werden.<br />
Bsp.: Eine Körperverletzung kann in ähnlicher Weise wie ein Totschlag oder eine<br />
Sachbeschädigung durch Notwehr (lies § 32 StGB) gerechtfertigt sein; bei einem<br />
Mord, einem Diebstahl oder einer Urkundenfälschung kann in gleicher Weise neben<br />
dem Täter eine weitere Person beteiligt sein, die ihn unterstützt hat (lies § 27 StGB)<br />
usw. Es wäre wenig sinnvoll, wenn entsprechende Regelungen immer für jedes Delikt<br />
des Besonderen Teils einzeln getroffen würden.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 17
Klausurhinweis:<br />
Das System eines Allgemeinen und eines Besonderen Teils hat für<br />
die Klausur, aber auch schon für das Lernen u.a. zwei Konsequenzen:<br />
Zum einen sollte klar sein, dass Fragen des Allgemeinen Teils<br />
besonders wichtig sind, weil sie eben in Verbindung mit jedem<br />
„Lebensbereich“ und damit allen Delikten des Besonderen Teils<br />
gut abgeprüft werden können – Sie sollten daher hier besonders<br />
gründlich arbeiten. Zum anderen können Fallbeispiele nie ohne<br />
Delikte des Besonderen Teils gebildet werden, d.h. wir werden für<br />
unsere Fälle unvermeidlich schon auf den BT „vorgreifen“ müssen<br />
(auch wenn ich mich bemühen werden, anfangs zumeist recht einfach<br />
strukturierte Tatbestände heranzuziehen). Sehen Sie dies aber<br />
nicht als Ärgernis, sondern als Chance, auf dieses Weise schon<br />
Vorstellungen (und im Einzelfall sogar schon vertieftere Kenntnisse)<br />
von einer Reihe von Delikten zu bekommen.<br />
Das Zusammenspiel der Vorschriften sei an einem kurzen Beispielsfall demonstriert:<br />
A entdeckt beim Skifahren im Hochgebirge einen Frau, die in eine Gletscherspalte<br />
gerutscht ist und bewusstlos in dieser liegt. A hält auf die Entfernung für möglich,<br />
dass es sich um seine Frau handelt, die auf der gleichen Abfahrt unterwegs ist. Er<br />
möchte sofort Hilfe holen, wird aber von seinem Freund F, der A’s Frau nicht leiden<br />
kann, dazu überredet, „diese Chance, wieder frei und ungebunden zu werden,<br />
nicht verstreichen zu lassen.“ F hatte zu diesem Zeitpunkt auf Grund des übermäßigen<br />
Genusses von „Jagertee“ bereits eine BAK von 2,5‰. A und F kümmern sich<br />
nicht um die Frau, so dass diese erfriert. Die späteren Ermittlungen ergeben, dass<br />
es sich gar nicht um A’s Frau gehandelt hatte, dass die Fremde aber hätte gerettet<br />
werden können, wenn A die Bergwacht alarmiert hätte.<br />
Wo finden sich Bestimmungen, welche die Strafbarkeit des A und des F regeln?<br />
−<br />
−<br />
Welche Straftatbestände kommen in Betracht?<br />
aus dem BT: §§ 212, 211; 221; 323c StGB<br />
Spielt es eine Rolle, dass A nichts aktiv unternahm, sondern nur eine Rettung<br />
unterließ?<br />
aus dem <strong>AT</strong>: § 13 StGB; aus dem BT: § 323c StGB<br />
− Spielt es eine Rolle, dass A sich nur vorstellte, das Opfer sei seine Frau?<br />
aus dem <strong>AT</strong>: § 22 StGB („... wer nach seiner Vorstellung von der Tat ...“)<br />
− Wie wirkt es sich aus, dass F dem A zuredete, untätig zu bleiben?<br />
aus dem <strong>AT</strong>: § 26 StGB<br />
− Wie wirkt es sich aus, dass F hochgradig alkoholisiert war?<br />
aus dem <strong>AT</strong>: § 21 StGB<br />
III. Exkurs: Das strafrechtliche Sanktions- bzw. Rechtsfolgesystem<br />
1. Die Prüfungen im materiellen Strafrecht enden bis zum 1. Staatsexamen<br />
üblicherweise bei der Feststellung des Schuldspruchs. Ausführungen darüber,<br />
wie der Täter für eine bestimmte rechtswidrig und schuldhaft begangene<br />
Straftat zu bestrafen ist, werden im Gutachten regelmäßig nicht erwartet.<br />
23 Dennoch gehört es zu einem gewissen Minimum strafrechtlicher Allgemeinbildung<br />
zu wissen, welche ganz grundsätzlichen Rechtsfolgen sich an<br />
die Feststellung einer Straftat anschließen können.<br />
Im Bereich des Strafrechts wird üblicherweise von einem „zweispurigen“<br />
Rechtsfolgesystem gesprochen. Dies bedeutet, dass einer Straftat zum einen<br />
eine Strafe (als bewusste Übelzufügung, die an eine schuldhafte Rechtsverletzung<br />
anknüpft) oder zum anderen eine Maßregel der Besserung und Sicherung<br />
als staatliche Reaktion nachfolgen kann. Neben Strafen bzw. Maßregeln<br />
der Besserung und Sicherung können außerdem noch einige begrenzte<br />
Nebenfolgen sowie sonstige Folgen verhängt werden. 24<br />
2. Für einen ersten Überblick lassen sich damit folgende Komplexe unterscheiden:<br />
23 Entsprechende Fragen sind – einschließlich der konkreten Strafzumessung im Einzelfall –<br />
Stoff der Wahlvorlesung „Sanktionenrecht“, die in einem fortgeschrittenen Semester besucht<br />
werden kann.<br />
24 Das strafrechtliche Rechtsfolgesystem ist gegenwärtig Gegenstand einer lebhaften rechtspolitischen<br />
Diskussion; vgl. dazu aus neuerer Zeit etwa den Referentenentwurf zu einer Änderung<br />
des Sanktionssystems in BT-Drs. 14/9358.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 18
a) Strafen, die wiederum in Geld- und Freiheitsstrafen unterteilt werden<br />
können.<br />
Die früher in § 43a geregelte Vermögensstrafe wurde vom Bundesverfassungsgericht<br />
im Jahre 2002 für verfassungswidrig erklärt. 25<br />
Ebenfalls im Zusammenhang mit den Strafen zu sehen sind auch die Vorschriften<br />
über<br />
• das mögliche Absehen von Strafe (vgl. aus dem BT etwa § 157 II StGB;<br />
aus dem <strong>AT</strong> als allgemeine Vorschrift vor allem § 60 StGB [lesen!]),<br />
• die Straffreierklärung bei Beleidigungsdelikten nach § 199 StGB,<br />
• die Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB sowie<br />
• das Fahrverbot als Nebenstrafe nach § 44 StGB.<br />
b) Demgegenüber bilden die Maßregeln der Besserung und Sicherung<br />
neben den Strafen den zweiten Grundtypus der strafrechtlichen<br />
Rechtsfolgen.<br />
Anders als die Strafe knüpfen die Maßregeln allein an die Gefährlichkeit des<br />
Täters in der Zukunft an und sind nicht an das Vorliegen und das Maß der<br />
Schuld gebunden. Eine Aufzählung der Maßregeln der Besserung und Sicherung<br />
findet sich in § 61 StGB. Man sollte dabei jedenfalls die Unterscheidung<br />
zwischen freiheitsentziehenden (vgl. § 61 Nr. 1–3) und sonstigen Maßregeln<br />
schon einmal gehört haben.<br />
c) Nebenfolgen, die neben eine Verurteilung und Bestrafung treten können.<br />
Solche sind aus dem Allgemeinen Teil der Verlust der Amtsfähigkeit, der<br />
Wählbarkeit und des Stimmrechts nach § 45 StGB bei bestimmten gravierenden<br />
Verurteilungen sowie aus dem Besonderen Teil die §§ 165 und 200<br />
StGB (Bekanntgabe der Verurteilung bei falschen Verdächtigungen sowie<br />
bei bestimmten Begehungsweisen von Beleidigungsdelikten).<br />
25 Vgl. BVerfG NJW 2002, 1779; interessant in diesem Zusammenhang: Das BVerfG stützt<br />
dieses Urteil nicht auf einen Verstoß gegen das im Zusammenhang mit der Vermögensstrafe<br />
vorher in der Literatur häufig diskutierte Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 GG, sondern auf<br />
die mangelnde Bestimmtheit bei der Rechtsfolge und damit auf ein Verstoß gegen Art. 103 II<br />
GG.<br />
d) Sonstige mögliche Rechtsfolgen sind Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung<br />
von Tatgewinnen bzw. Tatmitteln nach §§ 73 ff. StGB.<br />
B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />
I. Verbrechensbegriff und Tatbestandsaufbau<br />
1. Bedeutung<br />
Die Frage, welche Wertungsstufen geprüft und durchlaufen werden müssen,<br />
bis feststeht, dass der Täter sich strafbar gemacht hat, hat eine doppelte Bedeutung:<br />
• Eher strafrechtstheoretisch ist der Blickwinkel, aus dem nach dem<br />
Verbrechensbegriff gefragt wird, also danach, welche Elemente vorliegen<br />
müssen, damit eine Handlung als Verbrechen bewertet werden<br />
kann. Vor allem auf dieser Ebene ist auch die historische Entwicklung<br />
des Verbrechensbegriffs (die mit der des strafrechtlichen Handlungsbegriffs<br />
eng zusammenhängt) von Interesse.<br />
• Eher formal-prüfungstechnisch – und damit für Ausbildung und Prüfung<br />
entscheidend – ist dagegen die Frage, wie die Strafbarkeitsprüfung<br />
„richtig“ aufgebaut wird. Hier haben historische Überlegungen keinen<br />
Raum, sondern die Prüfung wird kommentarlos nach dem System aufgebaut,<br />
das man insoweit zu Grunde legt (wobei es von allen Sachgesichtspunkten<br />
abgesehen „prüfungstaktisch“ in aller Regeln empfehlenswert<br />
sein wird, sich am herrschenden Verbrechensbegriff 26 zu orientieren).<br />
26 Dieser kann mit Wessels/Beulke, <strong>AT</strong>, Rn. 817 als teleologischer Verbrechensbegriff bezeichnet<br />
werden; dabei werden Ansätze zusammengefasst, die bei noch weiterer Ausdifferenzierung<br />
teils als gemischt neoklassisch-finalistisch, teils als funktional beschrieben werden<br />
könnten, vgl. etwa Roxin, <strong>AT</strong> I, § 7 Rn. 21 ff.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 19
2. Historische Entwicklung<br />
Die historische Entwicklung des Verbrechensbegriffs sei hier nur ganz kurz<br />
und notwendig pauschalierend skizziert. 27 Sie ist gekennzeichnet durch die<br />
Wegentwicklung von der Unterscheidung zwischen wertfreien äußeren einerseits<br />
und innerlich-psychologischen Fakten andererseits hin zu einer stärker<br />
funktional-wertungsgeleiteten Betrachtung. Die folgende Übersicht bezeichnet<br />
jeweils einige charakteristische Merkmale unterschiedlicher strafrechtlicher<br />
Lehrsysteme (und damit auch Verbrechensbegriffe):<br />
System<br />
Handlungsbegriff<br />
Unrechtselemente nur objektive<br />
Elemente<br />
Berücksichtigung<br />
subjektiver Elemente<br />
Wichtige Vertreter<br />
allein in<br />
der<br />
Schuld<br />
v Liszt,<br />
Beling<br />
27 Näher Roxin, <strong>AT</strong> I, § 7 Rn. 12 ff.<br />
klassisch<br />
neoklassisch<br />
naturalistisch<br />
naturalistisch<br />
v.a. objektive<br />
Elemente,<br />
daneben<br />
auch ein-<br />
einzelne im<br />
Tatbestand<br />
Mezger<br />
final<br />
final<br />
und<br />
Un-<br />
objektive<br />
subjektive<br />
rechtselemente,<br />
insbesondere<br />
auch Vorsatz<br />
zelne subjektive<br />
Elemente<br />
Vorsatz (allein)<br />
im Tatbestand<br />
Welzel, Hirsch,<br />
Stratenwerth<br />
teleologisch<br />
sozial/personal<br />
objektive und<br />
subjektive Unrechtselemente,<br />
insbesondere<br />
auch Vorsatz<br />
Doppelfunktion<br />
von Vorsatz und<br />
Fahrlässigkeit in<br />
Tatbestand und<br />
Schuld<br />
heute h.L. (mit<br />
vielfältigen Spielarten)<br />
3. Der Verbrechensaufbau nach der heute h.L.<br />
Prüfungsstufe<br />
Inhalt der getroffenen<br />
Wertung<br />
0. Handlung Liegt eine strafrechtlich<br />
relevante<br />
Handlung vor?<br />
1. Tatbestandsmäßigkeit<br />
obj. TB<br />
+<br />
subj. TB<br />
2. Rechtswidrigkeit<br />
Erfüllt die Handlung<br />
den objektiven<br />
und subjektiven<br />
Tatbestand?<br />
1. Wertungsstufe:<br />
Tatbestandsmäßige<br />
Handlungen<br />
typischerweise<br />
rechtswidrig<br />
sind<br />
Ist das typischerweise<br />
unrechtmäßige<br />
Verhalten im<br />
konkreten<br />
ausnahmsweise<br />
erlaubt?<br />
Fall<br />
2. Wertungsstufe:<br />
Endgültiges Unwerturteil<br />
über die<br />
Tat<br />
3. Schuld Ist das rechtswidrige<br />
Verhalten dem<br />
Täter individuell<br />
Gesetzliche<br />
Anknüpfungspunkte<br />
keine<br />
vor allem Tatbestände<br />
des<br />
Besonderen<br />
Teils; daneben<br />
aber auch ungeschriebene<br />
Grundsätze des<br />
Allgemeinen<br />
Teils (z.B. Zurechnungslehre)<br />
Rechtfertigungsgründe<br />
v.a. der §§ 32,<br />
34 StGB;<br />
daneben aber<br />
auch aus anderen<br />
Gesetzen<br />
(z.B. §§ 228,<br />
904 BGB)<br />
insbesondere<br />
§§ 19, 20, 33,<br />
35 StGB<br />
Klausurhinweise<br />
nur ausnahmsweise<br />
anzusprechen; bei<br />
Verneinung an mögliche<br />
Vorverlagerung<br />
denken<br />
saubere Subsumtion<br />
beachten; insbesondere<br />
im Besonderen<br />
Teil Kenntnis von<br />
erfor-<br />
Definitionen<br />
derlich<br />
nur kurz abhandeln,<br />
wenn keine Probleme<br />
ersichtlich sind;<br />
an Rechtfertigungsgründe<br />
aus anderen<br />
Gesetzen denken<br />
nur kurz abhandeln,<br />
wenn keine Probleme<br />
ersichtlich sind;<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 20
vorwerfbar?<br />
3. Wertungsstufe:<br />
Unwerturteil über<br />
den Täter<br />
Sonstige Voraussetzungen<br />
Objektive Bedingungen<br />
der Strafbarkeit<br />
Persönliche Strafausschließungs-,<br />
Strafaufhebungsoder<br />
Strafminderungsgründe<br />
Verfolgungsvor-<br />
aussetzungen/-<br />
hindernisse<br />
z.B. §§ 231,<br />
323a StGB<br />
z.B. §§ 24,<br />
258 VI StGB<br />
z.B. §§ 77,<br />
78 StGB<br />
an Folgeprobleme<br />
wie a.li.c., mittelbare<br />
Täterschaft etc.<br />
denken<br />
nur ansprechen,<br />
wenn Anhaltspunkte<br />
im Sachverhalt<br />
Klausurhinweise:<br />
Hinsichtlich der Stufen der Verbrechenslehre bzw. des Tatbestandsaufbaus<br />
sind für die Klausurtechnik mehrere Punkte zu beachten:<br />
• Die Struktur des Verbrechensbegriffs gibt die „korrekte“<br />
Prüfungsreihenfolge in der Klausur vor. 28<br />
• Allgemeine Feststellungen über das abstrakte Verhältnis der<br />
Wertungsstufen zueinander müssen (falls man sie überhaupt<br />
erwähnt, zumindest) nicht in jedem Tatbestand erneut getroffen<br />
werden.<br />
• Auch wenn die Strafbarkeit auf einer späteren Stufe des<br />
Verbrechensaufbaus entfällt, sollte im Gutachten grundsätzlich<br />
(wenngleich im Einzelfall nur kurz und summarisch)<br />
geprüft werden, ob die früheren Stufen erfüllt sind.<br />
4. Exkurs: Drei- oder zweistufiger Verbrechensaufbau<br />
Die drei hier beschriebenen Wertungsebenen führen zu einem (von der h.M.<br />
vertretenen) dreistufigen Verbrechensaufbau. Demgegenüber vertritt eine<br />
M.M. einen zweistufigen Verbrechensaufbau, bei dem die Rechtfertigungsgründe<br />
gleichsam zu „negativen Tatbestandsmerkmalen” eines Gesamtunrechtstatbestandes<br />
werden. Diese Unterschiede sind allerdings in letzter<br />
Konsequenz eher darstellerischer Natur, denn selbst bei der Behandlung von<br />
Irrtumsfragen (vgl. später in Vorlesung und <strong>Skript</strong>) ergeben sich daraus nicht<br />
zwingend Unterschiede in der Sache. In der Klausur muss daher auf diese<br />
Frage nicht eingegangen werden.<br />
Für den im Folgenden in Übereinstimmung mit der h.M. zu Grunde gelegten<br />
dreistufigen Verbrechensaufbau spricht, dass die Prüfung von Tatbestandsmäßigkeit<br />
und Rechtswidrigkeit auch zwei unterschiedliche Wertungsstufen<br />
zum Ausdruck bringt: Es ist eben ein Unterschied, ob ein in jeder Hinsicht<br />
sozialadäquates, kein anerkanntes Rechtsgut verletzendes Verhalten vorliegt,<br />
das keinen Tatbestand erfüllt (z.B. das Zerstören eines eigenen Sache, die<br />
weggeworfen werden soll, oder das Erschlagen einer Stubenfliege), oder<br />
aber ob ein grundsätzlich untersagtes, typischerweise missbilligtes Verhalten<br />
vorliegt, das nur auf Grund der Besonderheiten des konkreten Einzelfalles<br />
von der Rechtsordnung gebilligt wird (wie das Zerstören einer fremden Sache<br />
im rechtfertigenden Notstand oder das Erschlagen eines Menschen in<br />
Notwehr).<br />
28 Dabei ist der Begriff „korrekt“ zu stark: Die formale Prüfungsreihenfolge ist im Gesetz<br />
nicht zwingend festgelegt (wenngleich die unterschiedlichen Wertungsstufen durchaus vorausgesetzt<br />
werden). Man ist aber „auf der sicheren Seite“, wenn man sich an diesem herrschenden<br />
Aufbau orientiert. Lesenswert zur Bedeutung der Strafrechtssystematik Roxin, <strong>AT</strong> I,<br />
§ 7 Rn. 1 ff.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 21
5. Einführendes Beispiel der Prüfungsstruktur im strafrechtlichen<br />
Gutachten mit Formulierungsbeispielen<br />
Fall:<br />
Tapezierer T hat in seiner Stammkneipe wieder einmal „zu tief ins Glas geschaut“<br />
und sich bis zu einer BAK von 3,4 ‰ betrunken. In diesem Zustand kommt ihm beim<br />
Verlassen des Lokals die Idee, an der Garderobe die Jacke des Gastes X mit nach<br />
Hause zu nehmen. Er nimmt seine Arbeitstasche, aus der ein spitzes Tapeziermesser<br />
herausschaut, in die eine Hand, greift die Jacke mit der anderen und wankt hinaus.<br />
Allerdings gehört die Jacke nicht dem X, sondern dem Gastwirt O.<br />
Lösung:<br />
I. §§ 242 I, 244 I Nr. 1a°StGB 29<br />
1. [Tatbestand]<br />
A könnte sich durch das Verlassen des Lokals mit der Jacke des O wegen Diebstahls<br />
mit Waffen gem. §§ 242 I, 244 I Nr. 1a°StGB strafbar gemacht haben.<br />
a) [objektiver Tatbestand]<br />
Dazu müsste er zunächst eine fremde bewegliche Sache weggenommen haben: Die<br />
Jacke des O ist eine ...<br />
Unter Wegnahme versteht man den Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams,<br />
wobei Gewahrsam die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene<br />
Sachherrschaft ist, deren Reichweite von der Verkehrsanschauung bestimmt<br />
wird. Vorliegend ...<br />
Möglicherweise hat T das Qualifikationsmerkmal des § 244 I Nr. 1a StGB verwirklicht.<br />
Das Tapezierermesser ist zwar keine Waffe, da ... Es könnte aber ein anderes<br />
gefährliches Werkzeug sein. Die Auslegung dieses Begriffes i.R. des § 244 I<br />
Nr. 1 StGB ist problematisch, da ...<br />
b) [subjektiver Tatbestand]<br />
Ferner müsste T vorsätzlich gehandelt haben, vgl. § 15 StGB. Dies könnte hier problematisch<br />
sein, da T tatsächlich die Jacke des O mitnahm, dabei aber dachte, es sei<br />
die Jacke des X ...<br />
Des Weiteren müsste T auch in der Absicht gehandelt haben, sich die Jacke rechtswidrig<br />
zuzueignen ...<br />
2. [Rechtswidrigkeit]<br />
[Die in den Straftatbeständen enthaltene Verhaltensweisen enthalten vertyptes Unrecht.<br />
Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert deswegen die Rechtswidrigkeit.] Vorliegend<br />
sind keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich. T handelte [also] rechtswidrig.<br />
3. [Schuld]<br />
Fraglich ist jedoch, ob T schuldhaft handelte: Seine Schuldfähigkeit könnte nach<br />
§ 20 StGB ausgeschlossen sein, wenn er sich wegen seiner Alkoholisierung ...<br />
d) [Ergebnis]<br />
T hat sich damit nicht gem. §§ 242, 244 I Nr. 1a StGB strafbar gemacht.<br />
29 Die in eckige Klammern gesetzten Überschriften bei den Prüfungsstufen sind bei der Niederschrift<br />
in der Klausur m.E. nicht erforderlich (aber natürlich auch nicht verkehrt), sondern<br />
sollen nur verdeutlichen, wo welche Punkte angesprochen werden.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 22
II. Der objektive Tatbestand,<br />
insbesondere Kausalität und objektive Zurechnung<br />
1. Überblick<br />
<br />
<br />
<br />
Prüfung des objektiven Tatbestandes vor allem Materie des Besonderen<br />
Teils<br />
Aber auch hier allgemeine Materien (zumeist in Gestalt ungeschriebener<br />
allgemeiner Lehren), z.B.<br />
• tatbestandsausschließendes Einverständnis (vgl. dazu später bei der<br />
Einwilligung)<br />
• insbesondere bei sog. Erfolgsdelikten Fragen der Kausalität und der<br />
objektiven Zurechnung.<br />
Vielzahl denkbarer Schritte zwischen Handlung und späterem Erfolgseintritt<br />
• Beispiele:<br />
A schießt auf B. Als dieser getroffen auf die Straße wankt, wird er von einem<br />
Pkw angefahren. Auf Grund seiner schweren Verletzung muss er ins<br />
Krankenhaus gebracht werden.<br />
a) ... dort verstirbt er auf Grund eines (nicht zu eklatanten) Kunstfehlers,<br />
wie er gelegentlich passieren kann.<br />
b) ... dort verstirbt er auf Grund einer Rauchvergiftung, die er sich am<br />
Tag vor seiner Entlassung bei einem Klinikbrand zuzieht.<br />
c) ... dort kommt er jedoch gar nicht an, weil der Krankenwagen<br />
... auf Grund der angesichts von B’s Verletzungen angezeigten hohen Geschwindigkeit<br />
... auf Grund einer Kollision mit einer entgleisten Straßenbahn<br />
unterwegs einen Unfall hat, bei dem B ums Leben kommt.<br />
• Prüfungskategorien nach h.L. 30<br />
30 In der Rechtsprechung hat sich die Lehre von der objektiven Zurechnung noch nicht durchgesetzt;<br />
hier wird vielfach mit dem Bild der „wesentlichen Abweichung vom vorgestellten<br />
Kausalverlauf“ gearbeitet und die Frage damit in den subjektiven Tatbestand verschoben.<br />
∗<br />
∗<br />
Kausalität: „tatsächlicher“ (quasi naturwissenschaftlicher) Zusammenhang<br />
objektive Zurechnung: normatives (wertendes) Zurechnungskorrektiv<br />
2. Kausalität<br />
Literatur: Kühl: § 4 Rn. 6 ff.; W/B: Rn. 152 ff.; Kudlich, PdW <strong>AT</strong>, Fälle 35 – 45.<br />
a) Strafrechtliche Kausalitätslehren<br />
<br />
Herrschende strafrechtliche Kausalitätstheorie: Äquivalenztheorie, d.h. im<br />
Ausgangspunkt Behandlung jeder Teilursache als selbständige, gleichwertige (äquivalente)<br />
Ursache, ohne diese zu gewichten<br />
prominenteste Ausprägungen:<br />
• Conditio-sine-qua-non-Formel<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
in Rechtsprechung und Teilen der Literatur herangezogen<br />
Handlung ist kausal für Erfolg, wenn sie nicht hinweggedacht werden<br />
kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfällt (= hypothetisches<br />
Eliminierungsverfahren)<br />
Kritik: Modifizierungsbedarf bei bestimmten Problemfällen der<br />
Kausalität (vgl. u.)<br />
• Formel von der gesetzmäßigen Bedingungvon verbreiteter Lehre als (nicht<br />
unbedingt sachlich abweichend, aber) genauer bevorzugtHandlung<br />
ist kausal für Erfolg, wenn sich an Handlung zeitlich<br />
nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt anschließen, die mit der<br />
Handlung naturgesetzlich notwendig verbunden sind<br />
Klausurhinweis:<br />
Die Conditio-sine-qua-non-Formel wird zwar zu recht vorgeworfen,<br />
dass sie manche Problemfälle der Kausalität nur unter Modifikationen<br />
angemessen lösen kann. Auch setzt sie – insoweit aber<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 23
gerade nicht anders als die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung<br />
– schon Kenntnis vom Kausalverlauf voraus (um entscheiden<br />
zu können, ob die Handlung hinweggedacht werden kann). Allerdings<br />
ist sie gerade bei längeren Kausalketten m.E. anschaulich<br />
und – als erste grobe Annäherung vor dem Korrektiv der objektiven<br />
Zurechnung – zumeist tauglich. Es spricht deswegen nichts<br />
dagegen, sie in der Klausur zugrunde zu legen. „Auf Nummer sicher“<br />
geht man, wenn man beide Kausalitätsformeln heranzieht,<br />
zwischen denen sich bei richtiger Anwendung normalerweise kein<br />
Unterschied ergeben sollte.<br />
<br />
Abweichende Konzepte in Teilen der<br />
• Adäquanztheorie (Erhöhung der objektiven Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts<br />
nach allgemeiner Lebenserfahrung)<br />
Ausscheiden von atypischen Kausalverläufen<br />
• Relevanztheorie (Ergänzung um Erfordernis der tatbestandsadäquaten<br />
Bedingung um den Schutzbereich des Straftatbestandes)<br />
b) Problemfälle der Kausalität<br />
Hinweis: Im Folgenden wird zunächst einmal nach der Kausalität in den<br />
problematischen Fallgruppen gefragt; darüber hinaus wird aber<br />
auch darauf hingewiesen, wo eine weitere Einschränkung nach den<br />
Grundsätzen der objektiven Zurechnung erfolgen kann – wenn Sie<br />
sich mit dieser beschäftigt haben, lohnt ein Blick zurück auf die<br />
hier genannten Fallgruppen.<br />
<br />
Alternative Kausalität (Doppelkausalität, Mehrfachkausalität)<br />
Zwei Handlungen führen unabhängig voneinander zum Erfolg<br />
Bsp.: A und B schütten beide eine (schon für sich) tödliche Dosis Gift in den Tee ihrer Mutter<br />
M. M trinkt den Tee und verstirbt.<br />
<br />
<br />
Lösung: Nach der Grundform der conditio-sine-qua-non-Formel wäre keine<br />
der beiden Handlungen kausal, da jede hinweggedacht werden könnte, ohne<br />
dass der Erfolg entfiele.<br />
Nach h.M. ist die Formel aber dahingehend zu modifizieren, dass beide Handlungen<br />
kausal sind, wenn sie zwar jede für sich, nicht aber beide weggedacht<br />
werden könnten. Genauer erscheint mir allerdings eine konkrete Betrachtung 31<br />
mit Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel auf beide Handlungen einzeln<br />
(und ggf. mit Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“). Dabei<br />
kann aber beim Nachweis, dass beide Handlungen (hier also: beide Giftdosen)<br />
zusammen gewirkt haben, das Ergebnis auch mit der Grundformel begründet<br />
werden (Erfolg in seiner konkreten Gestalt).<br />
Kumulative Kausalität<br />
Zwei Handlungen führen erst durch ihr Zusammenwirken zum Erfolg<br />
Bsp.: A und B schütten unabhängig voneinander Gift in den Tee der O. Erst beide Dosen zusammen<br />
wirken tödlich.<br />
Lösung: Nach der Conditio-sine-qua-non-Formel sind beide Handlungen kausal,<br />
da beim Hinwegdenken einer Dosis die verbleibende nicht tödlich gewirkt<br />
hätte. Das gilt auch dann, wenn die zweite Kausalkette erst durch die erste<br />
Handlung in Gang gesetzt wurde.<br />
Das Ergebnis kann aber in der objektiven Zurechnung (im Tod der O realisiert<br />
sich nicht die von A bzw. B geschaffene Gefahr, vgl. u.) oder im subjektiven<br />
Tatbestand (wesentliche Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf) zu korrigieren<br />
sein.<br />
Hypothetische Ersatzursachen<br />
Eine Handlung führt zum Erfolg, der sonst in ähnlicher Weise durch<br />
eine andere Handlung herbeigeführt worden wäre<br />
Bsp.: A erschießt die O. Sekunden später explodiert O’s Schaukelstuhl wegen eines von B angebrachten<br />
Zeitzünders.<br />
Lösung: Zwar wäre der Erfolg auch bei Wegdenken von A’s Handlung eingetreten,<br />
jedoch nicht zum gleichen Zeitpunkt und nicht in seiner konkreten Gestalt.<br />
Daher ist A’s Handlung kausal. Für B kommt nur noch ein Versuch in Betracht.<br />
Aber: Ausnahme vom Verbot, hypothetische Kausalverläufe hinzuzudenken,<br />
bei der Unterbrechung rettender Kausalverläufe (Bsp.: T stößt A von der Brü-<br />
31 So wohl auch Roxin, <strong>AT</strong> I, § 11 Rn. 24 f.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 24
cke, der O gerade ein Seit zugeworfen hatte, um ihn vor dem Ertrinken zu retten)<br />
exakter: Unberücksichtigt bleiben hypothetische Ersatzursachen, die anstelle<br />
der wegzudenkenden Handlung erfolgswirksam geworden wären. Dagegen<br />
sind solche Umstände hinzuzudenken, die den Erfolg verhindert hätten, wenn<br />
die Handlung nicht stattgefunden hätte.<br />
Überholende Kausalität<br />
Eine Handlung würde zum Erfolg führen, wenn nicht eine andere<br />
Handlung diesen Erfolg unabhängig und schneller herbeiführen würde<br />
Bsp.: A schüttet Gift in O’s Tee. Bevor dieses tödlich wirken kann, kommt B und erschießt O,<br />
die sofort tot ist.<br />
Lösung: Ohne die Handlung des A wäre der Erfolg in gleicher Weise eingetreten.<br />
Sie ist daher nicht kausal. Dagegen wäre er ohne die Handlung des B später<br />
und in anderer Weise eingetreten; B’s Handlung ist daher kausal.<br />
(1) Kausalität muss „nur“ zur Überzeugung des Gerichts feststehen<br />
(vgl. § 261 StPO), das allerdings bei seiner Überzeugungsbildung<br />
nicht gegen anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse oder<br />
die Denkgesetze verstoßen darf.<br />
(2) Ausreichend, dass Kausalzusammenhang als solcher bekannt<br />
ist; genaue Kenntnis seiner Einzelheiten (also etwa bei einem Gift:<br />
Pathomechanismen auf molekularer Ebene o.ä.) ist nicht erforderlich.<br />
Exkurs: In manchen Fällen sind hypothetische Ersatzursache und überholende<br />
Kausalität korrespondieren Phänomene des gleichen Falles:<br />
Auf Grund der überholenden Kausalität der zweiten Handlung<br />
bleibt die erste nur noch als hypothetische Reserveursache übrig.<br />
<br />
Atypischer Kausalverlauf<br />
Die Handlung führt zwar zum Erfolg, allerdings auf ganz ungewöhnlichen<br />
Wegen<br />
Bsp.: T schießt O mit Tötungsvorsatz an. Während dieser – schwer, aber nicht lebensgefährlich<br />
verletzt – auf den Krankenwagen wartet, wird er von einem entlaufenen Löwen totgebissen, dem<br />
er unverletzt entkommen wäre.<br />
Lösung: Nach der Conditio-sine-qua-non-Formel ist die Handlung kausal. Das<br />
Ergebnis kann aber in der objektiven Zurechnung (im Tod des O realisiert sich<br />
nicht die von T geschaffene Gefahr) oder im subjektiven Tatbestand (wesentliche<br />
Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf) zu korrigieren sein.<br />
Merke: Kein Problem des Kausalitätsbegriffs (und daher mit diesen auch<br />
nicht lösbar!) sind Ungewissheiten über den Kausalzusammenhang.<br />
Für die Praxis ist dabei aber zweierlei zu berücksichtigen:<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 25
3. Objektive Zurechnung<br />
Literatur: Kühl: § 4 Rn. 36 ff.; W/B: Rn. 176 ff.; Kudlich, PdW <strong>AT</strong>, Fälle 35 –<br />
45, 174 – 177.<br />
<br />
<br />
Ausgangspunkt: „uferlose Weite der Äquivalenztheorie“<br />
Bsp.: Auch die Eltern eines späteren Mörders haben mit der Zeugung einen kausalen Beitrag<br />
zum späteren Tod geliefert.<br />
Erfordernis von zusätzlichen Einschränkungen:<br />
• Rechtsprechung: oft Lösung im subjektiven Tatbestand als „wesentliche<br />
Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf”<br />
• h.L.: Lehre von der objektiven Zurechnung (als „normatives Zurechnungskorrektiv)<br />
a) Grundformel<br />
Ein Erfolg ist nur dann objektiv zurechenbar, wenn durch die kausale Handlung<br />
(1) eine rechtlich missbilligte Gefahr (bzw. ein Risiko) geschaffen wurde,<br />
(2) sich diese Gefahr im konkreten Erfolgseintritt realisierte und<br />
(3) die Verwirklichung derartiger Gefahren vom Schutzzweck des jeweiligen<br />
Straftatbestandes erfasst wird. 32<br />
b) Wichtige Fallgruppen<br />
<br />
Fehlen einer rechtlich missbilligten Gefahrschaffung<br />
• Risikoverringerung<br />
Bsp.: A lenkt den Schlag des B so ab, dass dieser nicht den Kopf, sondern<br />
den Arm des Opfrs trifft.<br />
32 Vgl. etwa Roxin, <strong>AT</strong> I, § 11 Rn. 42 f.; ähnlich auch bei anderen Autoren.<br />
Klausurhinweis<br />
Der Lösungsweg über objektive Zurechnung bei Risikoverringerung<br />
ist nur gangbar, soweit es um die Rechtsgüter des selben Opfers<br />
geht. Wird zur Rettung in die Rechte Dritter eingegriffen,<br />
kann aber zumeist über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB)<br />
geholfen werden.<br />
<br />
<br />
• Ausübung eines (sozial normalen) erlaubten Risikos (im Einzelnen<br />
str.)<br />
Bsp.: ordnungsgemäße Teilnahme am Straßenverkehr; gefährliches, aber<br />
regelkonformes Verhalten im Sport (u.U. auch über eine Einwilligung<br />
lösbar)<br />
• fehlende Beherrschbarkeit des Geschehens<br />
Bsp.: der Erbonkel stürzt – wie von seinem Neffen erhofft – mit der Linienmaschine<br />
auf dem Weg in den Urlaub ab, zu dem der Neffe ihn überredet<br />
hat.<br />
Fehlende Realisierung der Gefahrschaffung<br />
• völlig atypische Kausalverläufe<br />
Bsp.: Opfer eines Schusses stirbt im Krankenhaus an einer Rauchvergiftung<br />
• das Fehlen einer Risikoerhöhung gegenüber rechtmäßigen Alternativverhalten<br />
(str.; anders die sog. Risikoerhöhungslehre)<br />
Bsp.: Der von einem Pkw angefahrene Radfahrer wäre auch bei ordnungsgemäßem<br />
Abstand erfasst worden, weil er auf Grund seiner Alkoholisierung<br />
erhebliche Schlangenlinien fuhr.<br />
• Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs durch freiverantwortlichen<br />
Dritten (im Einzelnen sehr str.!)<br />
Fehlenden Einschlägigkeit des Schutzzwecks<br />
• Erfolgseintritt außerhalb des Schutzzwecks der verletzten Norm<br />
Bsp.: A fährt bei rot über eine Ampel. Als er die Kreuzung bereits 20 Meter<br />
überquert hat, erfasst der die L, die gedankenlos und für A völlig unvorhersehbar<br />
über die Straße rennt.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 26
• Mitwirkung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung<br />
Bsp.: A und B veranstalten ein waghalsiges Motorradrennen über einen<br />
Acker, bei dem sich B schwer verletzt.<br />
• Zurechnung zu einem fremden Verantwortungsbereich<br />
Bsp.: Retter-Fälle: O sieht, dass es im Haus des A brennt. Er möchte retten,<br />
was zu retten ist und wird von einem herunterfallenden Dachbalken<br />
erschlagen. A hatte das Haus selbst angezündet, um die Versicherungssumme<br />
zu kassieren. (Anregung zum Nachdenken: Spielt es eine Rolle, ob<br />
O ein völlig Unbeteiligter, der Bruder von A’s Frau [die er im Haus vermutet]<br />
oder ein Feuerwehrmann ist?)<br />
Klausurhinweis:<br />
Die Lehre von der objektiven Zurechnung sowie die vorgenannten<br />
Fallgruppen und Untergruppen sind in ihren Details teilweise heftig<br />
umstritten. In praktischen Fällen sind auch oft mehrere der vorgenannten<br />
Lösungspunkte anwendbar (so z.B. bei den „Retter-<br />
Fällen“ der Gedanke der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung).<br />
In der Klausur sollte deswegen in derartigen Fällen mit möglichst<br />
vielen einschlägigen Gesichtspunkten argumentiert werden.<br />
Vertiefende Hinweise:<br />
a) Lesenswerte Entscheidungen<br />
− BGHSt 11, 1 (Latswagenfall)<br />
− BGHSt 49, 1 = NJW 2004, 237 m. Anm. Roxin StV 2004, 485 ff. sowie<br />
Puppe, NStZ 2004, 554 ff.<br />
b) Aufsätze<br />
− Erb, Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht, JuS 1994, 449 ff.<br />
− Puppe, Die Lehre von der objektiven Zurechnung dargestellt an Beispielsfällen<br />
aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Jura 1997,<br />
408 ff., 513 ff.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 27
1. Überblick<br />
III. Der subjektive Tatbestand<br />
H.M.: subjektive Elemente nicht mehr (nur) der Schuld, sondern auch<br />
dem Unrechtstatbestand zugerechnet<br />
Bspe.:<br />
(1) Bei den meisten Delikten ist fahrlässiges Verhalten nicht strafbar, vgl.<br />
§ 15 StGB. Dies ist nicht nur eine Schuldfrage, sondern betrifft bereits das Unrecht:<br />
Eine fahrlässige Sachbeschädigung verkörpert eben kein so großes (Handlungs-)<br />
Unrecht, dass das scharfe Schwert des Strafrechts gerechtfertigt wäre.<br />
(2) Die bloße Gebrauchsanmaßung, d.h. etwa die Entwendung einer Sache, um<br />
diese kurze Zeit später unversehrt wieder zurückzugeben, ist grds. kein (strafrechtliches<br />
33 ) Unrecht. 34 Erst das subjektive Merkmal der Zueignungsabsicht führt dazu,<br />
dass das Verhalten als strafrechtlich typisiertes Unrecht betrachtet wird.<br />
(3) Gegenüber einer „normalen“ Tötung eines Menschen, die nach § 212 StGB als<br />
Totschlag strafbar ist, stellt die aus mit Habgier ausgeführte Tötung einen Mord<br />
nach § 211 StGB dar.<br />
<br />
Bestandteile des subjektiven Tatbestands beim Vorsatzdelikt:<br />
• Vorsatz hinsichtlich der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes<br />
vgl. §§ 15, 16 StGB: Frage des Allgemeinen Teils (daher im<br />
Folgenden näher ausgeführt)<br />
• ggf. sonstige subjektive Merkmale<br />
vgl. etwa §§ 242, 263, 267 StGB: Frage des Besonderen Teils<br />
(daher im Folgenden nicht näher erläutert, sondern im Zusammenhang<br />
mit den jeweiligen Delikten des Besonderen Teils behandelt)<br />
33 Dies kann zivilrechtlich anders sein: die Gebrauchsbeeinträchtigung durch vorübergehende<br />
Sachentziehung kann u.U. zum Schadensersatz nach § 823 I BGB verpflichten. Aber das steht<br />
der Einordnung der Zueignungsabsicht als Tatbestandsmerkmal nicht entgegen, da eben nicht<br />
jedes Unrecht auch Kriminalunrecht ist (fragmentarischer Charakter des Strafrechts!).<br />
34 Lies als wichtige – wie die Zählung deutlich zeigt, aber auch erst später ins StGB eingeführte<br />
– Ausnahme § 248b StGB.<br />
Klausurhinweis:<br />
Merke bereits an dieser Stelle: Die beiden selben Merkmale sind<br />
im Prinzip bei der Versuchsprüfung i.R.d. Tatentschlusses zu prüfen.<br />
Es gibt zwar gewisse Abweichungen zwischen „Entschluss“<br />
und „Vorsatz“, die daraus resultieren, dass beim Versuch der objektive<br />
Tatbestand als Bezugs- und damit auch Vergleichsobjekt<br />
für den Vorsatz fehlt (dazu näher bei der Behandlung des Versuchs).<br />
Allerdings sind dies nur Detailprobleme, die nicht dagegen<br />
sprechen, sich als Grundsatz zu merken: In den Tatentschluss des<br />
Versuches gehören die Prüfungspunkte, die beim vollendeten Delikt<br />
im subjektiven Tatbestand zu behandeln sind.<br />
2. Gesetzliche Grundlagen des Vorsatzes<br />
Keine exakte Vorsatzdefinition im StGB (trotz, aber nicht entgegen 35<br />
Art. 103 II GG Erfordernis der Entwicklung einer Definition durch<br />
Wissenschaft und Rechtsprechung)<br />
Aber Anhaltspunkte für die Bestimmung des Vorsatzbegriffs aus:<br />
• § 15 StGB (grundsätzliches nur Strafbarkeit vorsätzlichen Handelns)<br />
• § 16 StGB (Aussage über erforderliches Wissenselement des Vorsatzes<br />
sowie mit Formel „bei Begehung der Tat“ über Zeitpunkt,<br />
zu dem der Vorsatz vorliegen muss)<br />
35 „Nicht entgegen“ soll hier so verstanden werden, dass Vorschriften, soweit sie bestehen,<br />
natürlich beachtet werden müssen: Wenn also § 15 StGB anordnet, dass nur vorsätzliches<br />
Handeln strafbar ist, dürfte nicht entschieden werden, dass in bestimmten Fällen ohne gesetzliche<br />
Grundlage auch fahrlässiges Handeln nach einem Vorsatzdelikt bestraft wird. Vorstellbar<br />
ist dagegen in gewissen Grenzen eine extensive (= ausweitende) Auslegung des Vorsatzbegriffs,<br />
der dann auch einige Verhaltensweisen umfassen würde, die nach einem restriktiveren<br />
(= engeren) Verständnis nicht umfasst wären.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 28
• § 17 StGB (Klarstellung, dass Unrechtsbewusstsein kein Bestandteil<br />
des Vorsatzes, sondern erst der Schuld ist)<br />
3. Bezugspunkt und Zeitpunkt des Vorsatzes<br />
<br />
<br />
Notwendige Bezugspunkt des Vorsatzes sind alle Merkmale des objektiven<br />
Tatbestandes, z.B.<br />
• Handlungsobjekt<br />
• Tathandlung<br />
• Kausalverlauf (in seinen groben Zügen)<br />
objektives Geschehen und Vorstellung des Täters müssen übereinstimmen;<br />
„wesentliche“ Abweichungen schließen Vorsatz aus<br />
Keine Bezugspunkte des Vorsatzes sind dagegen das allgemeine<br />
Merkmal der Rechtswidrigkeit sowie sog. objektive Bedingungen der<br />
Strafbarkeit 36 , insbesondere<br />
• Eintritt einer schweren Verletzung oder des Todes in § 231 StGB<br />
(lesen!)<br />
• Begehung der Rauschtat in § 323a StGB (lesen!)<br />
Klausurhinweis:<br />
Von dem „allgemeinen Verbrechensmerkmal“ der Rechtswidrigkeit<br />
(d.h. der Verbrechensstufe im Schema TB-RW-SCH) sind<br />
Fälle zu unterscheiden, in denen die Rechtswidrigkeit eines bestimmten<br />
Verhaltens tatsächlich Tatbestandsmerkmal ist. 37 Dies ist<br />
etwa bei der Rechtswidrigkeit der (beabsichtigten) Zueignung in<br />
§§ 242, 246 StGB der Fall. Hier muss die (beabsichtigten) Einver-<br />
36 Hierbei handelt es sich Merkmale, die nur objektiv eintreten müssen, ohne dass sich Vorsatz,<br />
Rechtswidrigkeit oder Schuld darauf beziehen müssten, also um eine Art von (dem<br />
Strafrecht an sich fremder) reiner Erfolgshaftung.<br />
37 Wann dies der Fall ist, ist allerdings im Einzelnen wieder str. und lässt sich leider kaum<br />
allgemein beschreiben.<br />
leibung in das eigene Vermögen der „gesollten Rechtslage“ widersprechen<br />
(was etwa nicht der Fall ist, wenn der Täter einen fälligen<br />
und einredefreien Anspruch auf Übereignung genau der Sache<br />
hat). Auf diese Rechtswidrigkeit, oder genauer: auf die Tatsachen,<br />
die darüber entscheiden, ob die Zueignung rechtswidrig wären<br />
oder nicht, muss sich der Vorsatz beziehen.<br />
subjektiver Tatbestand<br />
Vorsatz Vorsatz (grobe Züge) Vorsatz sonstige subjektive<br />
Merkmale<br />
Handlung<br />
<br />
Kausalität und objektive<br />
Zurechnung<br />
objektiver Tatbestand<br />
Erfolg<br />
objektive Bedingung<br />
der<br />
Strafbarkeit<br />
Maßgeblicher Vorsatzzeitpunkt: „bei Begehung der Tat“ (vgl.<br />
§ 16 I StGB), d.h. nach § 8 StGB bei Begehung der Tathandlung, (sog.<br />
„Simultaneitätsprinzip“oder „Koinzidenzprinzip“)<br />
Konsequenzen:<br />
• allgemeine Pläne des Täters, die auf keine konkrete Handlung sind,<br />
reichen nicht aus<br />
Bsp.: A plant schon lange, gelegentlich seine Schwiegermutter S umzubringen.<br />
Auf der Straße erfasst er mit dem Auto unbeabsichtigt eine Passantin,<br />
die sofort tot ist. Nach dem Aussteigen stellt er fest, dass es sich<br />
um S handelte.<br />
Hier hatte A keinen Tötungsvorsatz, da der allgemeine, noch nicht näher<br />
konkretisierte Plan nicht ausreicht.<br />
• ein Vorsatz vor der Tathandlung ist unschädlich ist, wenn er z.Z.<br />
der Tat nicht mehr vorliegt (dolus antecedens non nocet)<br />
• eine spätere Billigung einer vorsatzlos begangenen Tat ist unschädlich<br />
(dolus subsequens non nocet)<br />
Bsp.: Im Beispiel oben wäre es daher unschädlich, wenn A nach dem Erkennen<br />
der S denkt: „Ach wie schön, dann war der Unfall ja doch für etwas<br />
gut“.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 29
• spätere „Reue“ und damit Aufgabe des Verwirklichungswillens –<br />
auch zwischen Handlung und Erfolgseintritt! – entlastet den Täter<br />
nicht<br />
Bsp.: Terrorist A hat eine Bombe unter eine Eisenbahnbrücke angebracht.<br />
Auf dem Nachhauseweg packen ihn Gewissensbisse. Er hofft sehr,<br />
dass der Zünder, der auf die Erschütterung durch einen über die Brücke<br />
fahrenden Zug ausgelöst werden soll, versagen wird. A hatte aber gut gearbeitet,<br />
und noch während er hoffte und betete, wurde die Brücke unter<br />
einem Zug gesprengt und 100 Fahrgäste fanden den Tod.<br />
unbeachtlich beachtlich unbeachtlich<br />
<br />
Insbesondere Anforderungen an die (kognitive) Wissenskomponente:<br />
• deskriptive (d.h. beschreibende) Merkmale: Täter muss „natürlichen“<br />
Sinngehalt erfassen, nicht etwa Fachdefinitionen kennen o-<br />
der sogar richtig subsumieren.<br />
Bsp.: Für den Vorsatz hinsichtlich einer Sachbeschädigung, § 303 StGB,<br />
ist nicht erforderlich, dass der Täter Definitionen wie die „körperliche<br />
Einwirkung mit Minderung der Brauchbarkeit“ o.ä. kennt – es genügt,<br />
wenn der Täter versteht, dass die Sache „kaputt“ oder „unbrauchbar“<br />
ist.<br />
• normative (d.h. wertungsausfüllungsbedürftige) Tatbestandsmerkmale<br />
(„fremd“ i.S.d. §§ 242 I, 303 StGB): Täter muss (nur) rechtlich-sozialen<br />
Bedeutungsgehalt erfassen, also richtige „Parallelwertung<br />
in der Laiensphäre” treffen<br />
Bsp.: Der Täter eines Diebstahls muss die zivilrechtliche Lage nicht<br />
schulmäßig prüfen können, um zu wissen, dass die Sache „fremd“ ist; es<br />
genügt, wenn er versteht, dass sie „(auch) jemand anders gehört“.<br />
4. Vorsatzelemente und Vorsatzarten<br />
a) Vorsatzelemente<br />
Handlung Erfolg<br />
Exkurs: Die Abgrenzung zwischen deskriptiven und normativen Merkmalen<br />
ist vielfach nicht ganz einfach, da bei den meisten (scheinbar)<br />
deskriptiven Begriffen zumindest an den „Randbereichen“ auch<br />
Wertungen erforderlich sind (z.B.: ab wann ist ein Kind während<br />
des Geburtsvorgangs eines „Mensch“ i.S.d. Tötungsdelikte?).<br />
<br />
Grundlagen:<br />
• Erfordernis von kognitiven (unstr.) und voluntativen (h.M.) Vorsatzelementen:<br />
Kurzformel: Vorsatz ist Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung<br />
• Präziser: Vorsätzlich ist Handeln mit dem Willen zur Verwirklichung<br />
des Straftatbestandes in Kenntnis all seiner objektiven Tatumstände<br />
• Bei konkreter Fallanwendung und Subsumtion kann eines der beiden<br />
Elemente in den Hintergrund treten<br />
• grundsätzlich aktuelle Kenntnis erforderlich; bei selbstverständlichen<br />
Umständen aber Mitbewusstsein oder im Hintergrund bestehendes<br />
“Begleitwissen” ausreichend<br />
c) Vorsatzarten<br />
<br />
Überblick<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 30
Absicht (dolus directus<br />
I. Grades)<br />
Direkter Vorsatz (dolus<br />
directus<br />
II. Grades)<br />
Bedingter Vorsatz<br />
(dolus eventualis)<br />
Wissenselement<br />
weniger stark erforderlich:<br />
„Für-möglich-Halten“ genügt<br />
überwiegt: sichere Kenntnis /<br />
Voraussicht als sicher<br />
Wollenselement<br />
überwiegt:<br />
Handeln<br />
zielgerichtetes<br />
weniger stark erforderlich:<br />
„In-Kauf-Nehmen“ genügt<br />
(und kann aus Kenntnis<br />
geschlossen werden)<br />
keine Seite überwiegt, Voraussetzungen str.; nach Rspr. und<br />
damit wohl h.M. aber ausreichend, wenn:<br />
ernsthaft für möglich halten „Billigendes In-Kauf-<br />
Nehmen“ im Rechtssinne<br />
Klausurhinweis:<br />
Dolus directus I. Grades i.S. eines zielgerichteten Willens wird bei<br />
besonderen subjektiven Merkmalen in vielen Tatbeständen durch<br />
Formulierungen wie „um zu“ oder „in der Absicht“ zum Ausdruck<br />
gebracht (z.B. Zueignungsabsicht bei § 242 I StGB; Bereicherungsabsicht<br />
bei § 263 I StGB [lesen!]). Allerdings gibt es auch<br />
Fälle, in denen die h.M. trotz dieser Formulierung dolus directus<br />
II. Grades genügen lässt, so etwa bei § 274 I StGB (lesen!). Eine<br />
verbindliche Regel gibt es hier leider nicht (gelegentlich müssen<br />
also auch im Jurastudium Dinge schlicht „gelernt“ und „gewusst“<br />
werden); eine gewisse Faustregel geht aber dahin, dass bei entsprechenden<br />
Formulierungen auch dolus directus I. Grades gemeint<br />
ist, wenn sie sich auf einen Vorteil des Täters beziehen (Zueignungsabsicht,<br />
Bereicherungsabsicht); dagegen genügt dolus<br />
directus II. Grades, wenn es um die Schädigung des Opfers geht<br />
(Nachteilzufügungsabsicht). Grund: Man geht davon aus, dass die<br />
meisten Täter vor allem handeln, um sich einen Vorteil zu verschaffen,<br />
und nicht in erster Linie, um andere Personen zu schädigen.<br />
Wollte man auf dieses Motiv abstellen, würde (auch i.V.m.<br />
dem Grundsatz in dubio pro reo) der Anwendungsbereich der Vorschriften<br />
zu weit eingeengt.<br />
<br />
Insbesondere die Abgrenzung zwischen dolus eventualis und bewusster<br />
Fahrlässigkeit<br />
A. Theorien, die auf ein voluntatives Element<br />
verzichten:<br />
1. Möglichkeitstheorie):<br />
Der Täter muss die konkrete Möglichkeit<br />
des Rechtsverstoßes erkennen und<br />
dennoch handeln.<br />
2. Gefährdungstheorie:<br />
Der Täter lässt sich von seinem Vorhaben<br />
nicht abhalten, obwohl er die<br />
konkrete Gefahr der Tatbestandsverwirklichung<br />
erkennt.<br />
3. Wahrscheinlichkeitstheorie:<br />
Der Täter muss die Rechtsgutsverletzung<br />
für wahrscheinlich gehalten haben.<br />
4. Gleichgültigkeitstheorie:<br />
Der Täter hat sich mit der Tatbestandsverwirklichung<br />
aus Gleichgültigkeit<br />
abgefunden bzw. die Tatbestandsverwirklichung<br />
aus Gleichgültigkeit in<br />
Kauf genommen.<br />
• Merksätze (zur schlagwortartigen Abgrenzung, nicht unbedingt<br />
klausurgeeignet):<br />
∗<br />
∗<br />
Der Täter, der bewusst bedingt vorsätzlich handelt, denkt sich:<br />
„Na wenn schon.“<br />
Der Täter, der bewusst fahrlässig handelt, denkt sich: „Es<br />
wird schon gut gehen.“<br />
• Abgrenzung auf der Grundlage der h.M. im konkreten Fall in der<br />
Klausursituation:<br />
∗<br />
B. Theorien, die neben dem intellektuellen<br />
auch ein voluntatives Element heranziehen:<br />
1. Ernstnahmetheorie:<br />
Der Täter hat das Risiko der Tatbestandsverwirklichung<br />
ernstgenommen,<br />
also damit gerechnet und sich damit abgefunden.<br />
2. Einwilligungs- bzw. Billigungstheorie<br />
(Rspr., und wohl h.L.):<br />
Der Täter hat den als möglich angenommenen<br />
Erfolgseintritt zustimmend<br />
bzw. billigend in Kauf genommen.<br />
3. Vereinigungstheorie:<br />
Der Täter hält die Tatbestandsverwirklichung<br />
für möglich, billigt sie, hält sie<br />
für wahrscheinlich oder steht ihr völlig<br />
gleichgültig gegenüber.<br />
Sachverhalt teilt mit, der Täter habe den Erfolg „als möglich<br />
vorhergesehen, aber billigend in Kauf genommen“ o.ä.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 31
kurze Feststellung, dass diese Voraussetzungen und damit<br />
nach h.M. dolus eventualis vorliegen. genügt<br />
Klausurhinweis:<br />
Ob Täter den Erfolg tatsächlich in Kauf genommen hat, darf dagegen<br />
in diesen Fällen nicht mehr in Frage gestellt werden! Der<br />
Sachverhalt ist als gegeben hinzunehmen.<br />
∗<br />
Sachverhalt enthält keine so klare Hinweise<br />
• Grundsatz: Handelnde Personen wissen mangels anderer<br />
Hinweise, was sie tun.<br />
• Wird geschildert, dass Erfolg nur für möglich gehalten<br />
wird, und zugleich nichts über „voluntatives Element“<br />
mitgeteilt, so muss dieses – letztlich wie in der Praxis –<br />
an Hand von anderen, auch äußeren Kriterien „erschlossen“<br />
werden:<br />
– Stärke des kognitiven Elements (je sicherer das Wissen,<br />
desto näher liegt Inkaufnahme der Folge eines<br />
Handelns)<br />
– objektive Gefährlichkeit der Handlung<br />
– Wahrnehmungszeit<br />
– Vermeidungs- bzw. Gefahrverminderungsverhalten<br />
– emotionale Nähe zwischen Täter und Opfer<br />
– Nachtatverhalten (allerdings Zurückhaltung geboten,<br />
da es auf den Vorsatz z.Z. der Tat ankommt!)<br />
– bei Tötungsdelikten: grundsätzlich hohe Hemmschwelle<br />
vor der Tötung eines Menschen<br />
Klausurhinweis:<br />
Mit manchen dieser Kriterien nimmt man zugleich Elemente auf,<br />
die von anderen Abgrenzungstheorien in den Mittelpunkt gestellt<br />
werden, z.B. mit dem Schluss von kognitiven aufs voluntative<br />
Element Ansätze der kognitiven Wahrscheinlichkeitstheorie oder<br />
mit dem Abstellen auf ein Gefahrverminderungsverhalten die Theorie<br />
von der unabgeschirmten Gefahr. 38 Das verdeutlicht, dass<br />
letztlich verschiedene Kriterien eine Rolle spielen, und dass der<br />
Vorteil der h.M. darin liegt, diese alle fruchtbar machen und miteinander<br />
kombinieren zu können (zugegebenermaßen freilich zu<br />
dem Preis, kein monistisches Prinzip anbieten zu können).<br />
<br />
Sonderproblem: 39 „dolus alternativus“, also Fälle, in denen dem Täter<br />
der Eintritt eines von zwei möglichen Erfolgen in ähnlicher Weise<br />
„recht“ ist.<br />
Standardbeispiel: Wilderer W schießt auf der Flucht vor dem Förster F seine<br />
letzte Kugel hinter sich. Er hofft dabei, entweder F oder wenigstens dessen<br />
Dackel zu treffen.<br />
• Sehr str., unter welchen Voraussetzungen neben evtl. Erfolg auch<br />
noch wegen Versuchs am anderen Objekt zu bestrafen ist. 40<br />
• M.E. vorzugswürdig: Vorsatz auf Objekt beziehen, das mit höchster<br />
Strafandrohung geschützt ist (hier also Förster, nicht Dackel)<br />
und damit anderes Objekt – selbst wenn es tatsächlich getroffen<br />
ist – hinsichtlich Vorsatzes als mit „abgegolten“ zu betrachten<br />
38 Vgl. dazu etwa Herzberg, JuS 1986, 249 ff.; ders., JZ 1988, 573 ff. und 635 ff.; Schlehofer,<br />
NJW 1989, 2017 ff. Diese Theorie verschiebt das Problem im Grunde teilweise bereits in den<br />
objektiven Tatbestand.<br />
39 Das Problem wird hier erörtert, da es eng mit den unterschiedlichen Vorsatzstufen und<br />
insbesondere der Möglichkeit des bedingten Vorsatzes zusammen hängt.<br />
40 Vgl. näher Wessels/Beulke, Rn. 231 ff.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 32
5. Der Tatbestandsirrtum<br />
<br />
Überblick zum Regelungsgehalt des § 16 StGB<br />
§ 16 I 1 StGB Irrtum über Umstände, die den gesetzlichen Tatbestand<br />
erfüllen, schließen den Vorsatz aus (keine Vorsatzstrafe<br />
bei Tatbestandsirrtum)<br />
§ 16 I 2 StGB Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bleibt unberührt<br />
§ 16 II StGB Irrtum über privilegierende Umstände ( nur Vorsatzstrafe<br />
aus dem privilegierenden Delikt)<br />
<br />
<br />
Anwendungsbereich des § 16 I 1 StGB: Täter hat<br />
• keine Vorstellung von dem Tatumstand (Unkenntnis)<br />
Bsp.: Sprengmeister S sprengt ein altes Gebäude. Er hat keine Ahnung,<br />
dass eine Reihe junger politischer Aktivisten zum Protest gegen die<br />
Sprengung in das Gebäude „gezogen“ ist<br />
kein Vorsatz hinsichtlich § 212 StGB<br />
• oder falsche Vorstellung (Fehlvorstellung)<br />
Bsp.: Förster F möchte ein Wildschwein erlegen. Erst als er das vermeintlich<br />
tote Tier abtransportieren möchte, stellt er fest, dass es sich in<br />
Wahrheit um Pilzsammler P gehandelt hatte.<br />
kein Vorsatz hinsichtlich § 212 StGB<br />
Rechtsfolge des § 16 I 1 StGB:<br />
• Ausschluss der Vorsatzstrafbarkeit<br />
• Irrtum über das Tatobjekt (error in persona vel obiecto), d.h. Fälle<br />
der Identitätsverwechslung<br />
unbeachtlich bei „tatbestandlicher Gleichwertigkeit“, beachtlich<br />
bei ungleichwertigen Objekten.<br />
Bsp.: Schießt A auf einem Feld auf den O, obwohl er in der Dunkelheit<br />
gedacht hatte, es sei der P, ist sein Vorsatz nicht ausgeschlossen. (Da<br />
sich sein Vorsatz auf das getroffene Objekt konkretisiert hat, besteht<br />
daneben keine Versuchsstrafbarkeit hinsichtlich des vorgestellten Objekts.)<br />
Hatte er dagegen gedacht, es handle sich um eine Vogelscheuche, handelt<br />
A nicht vorsätzlich hinsichtlich § 212 StGB, da ihm die Kenntnis vom<br />
Umstand „Mensch“ fehlte. Bei Beachtlichkeit des Irrtums kommt ein<br />
Fahrlässigkeitsdelikt hinsichtlich des getroffenen Objekts sowie ein (untauglicher)<br />
Versuch hinsichtlich des getroffenen Objekts in Betracht.<br />
• Fehlgehen des Angriffs (aberratio ictus) in Fällen, in denen Vorsatz<br />
auf ein schon fest anvisiertes Objekt gerichtet ist, aber ein anderes<br />
Objekt getroffen wird.<br />
nach h.M. kein Vorsatz hinsichtlich des getroffenen Objekts (aber<br />
evt. Versuchsstrafbarkeit hinsichtlich des anvisierten und Fahrlässigkeitsstrafbarkeit<br />
hinsichtlich des getroffenen Objekts); nach<br />
M.M. bei Gleichwertigkeit auch hier Unbeachtlichkeit.<br />
• Irrtum über den Kausalverlauf: Vom Täter anvisierter Erfolg tritt<br />
ein, aber auf anderem Wege als von ihm geplant.<br />
nach h.M. Irrtum unerheblich, wenn sich Abweichungen „noch<br />
innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren<br />
halten und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen”<br />
<br />
• aber Möglichkeit einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach<br />
§ 16 I 2 StGB<br />
Unterscheide folgende Fallgruppen im thematischen Zusammenhang<br />
des § 16 I 1 StGB:<br />
• Unkenntnis eines Tatumstands (vgl. o.)<br />
Klausurhinweis:<br />
Irrtümer über den Kausalverlauf können – wenn man dieser Lehre<br />
folgt – oft auch bereits unter dem Stichwort der objektiven Zurechnung<br />
zu diskutieren sein. Wie dort schon erwähnt, wird die<br />
Wertung, ob ein Kausalverlauf unzurechenbar atypisch bzw. ein<br />
Irrtum über den Kausalverlauf wesentlich ist, zumeist parallel laufen.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 33
• Sonderproblem des Irrtums über den Kausalverlauf: „dolus generalis“-<br />
Fälle, in denen Erfolg nicht wie beabsichtigt durch die Erst-<br />
, sondern erst unbeabsichtigt durch eine nachfolgende Zweithandlung<br />
herbeigeführt wird.<br />
Bsp.: 41 A hatte O mit bedingtem Tötungsvorsatz gewürgt und ihr Sand in<br />
den Mund gestopft. Als O regungslos liegen blieb, war A von ihrem Tod<br />
überzeugt und versenkte die vermeintliche Leiche in einer Jauchegrube.<br />
Tatsächlich erstickte die nur bewusstlose O erst in der Jauchegrube.<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
kein Vorsatz mehr bei unmittelbarer Tötungshandlung, aber<br />
kein unmittelbarer Taterfolg durch vom Vorsatz getragene<br />
Handlung<br />
früher z.T. Annahme eines fortwirkenden „dolus generalis“;<br />
letztlich aber bloße Fiktion<br />
a.A.: Versuch hinsichtlich ersten Aktes, allenfalls Fahrlässigkeit<br />
hinsichtlich zweiten Aktes<br />
wohl h.M.: Prüfung im Einzelfall, ob wesentliche Abweichung<br />
vom vorgestellten Kausalverlauf vorliegt, was insbesondere<br />
bei dolus directus I. Grades zu verneinen sein kann<br />
Vertiefende Hinweise:<br />
a) Lesenswerte Entscheidungen<br />
− BGHSt 14, 193 (Jauchegrubenfall – dolus generalis)<br />
− BGHSt 36, 1 (dolus eventualis bei Infektion mit HI-Virus)<br />
b) Aufsätze<br />
− Hermanns/Hülsmann, Die Feststellung des Vorsatzes bei Tötungsdelikten,<br />
JA 2002, 140 ff.<br />
− Lesch, Dolus directus, indirectus und evenutalis, JA 1997, 802 ff.<br />
− Otto, Der Vorsatz, Jura 1996, 468 ff.<br />
− Toepel, Grundlagen zu error in persona vel objecto und aberratio ictus,<br />
JA 1997, 556 ff.<br />
c) Übungsfälle<br />
− Schramm, Die Reise nach Bangkok, JuS 1994, 405 ff.<br />
<br />
Sonderfall des § 16 II StGB (seltene Konstellation!):<br />
• irrtümliche Vorstellung des Vorliegens (tatsächlicher) privilegierender<br />
Umstände<br />
Bsp.: Vorstellung eines ernsthaften Tötungsverlangens i.S.d. § 216 StGB,<br />
das aber tatsächlich nie ausgesprochen wurde<br />
• Bestrafung nicht wegen vorsätzlicher vollendeter Begehung des<br />
objektiv verwirklichten (nicht privilegierten) Delikts, sondern nur<br />
wegen privilegierten Delikts (sowie ggf. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit<br />
wegen des schwereren Delikts).<br />
41 Nach BGHSt 14, 193.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 34
IV.<br />
Die RechtswidrigkeitLiteratur: Kühl: §§ 6 - 9; W/B:<br />
Rn. 268 ff.; Kudlich, PdW <strong>AT</strong>, Fälle 68 – 125.<br />
1. Einführung und allgemeine Lehren<br />
<br />
<br />
Bedeutung der Rechtswidrigkeitsprüfung<br />
• h.M.: Feststellung des endgültigen Unwerturteils über die Tat<br />
ist tatbestandsmäßiges (und damit „typischerweise rechtswidriges“)<br />
Verhalten in konkreter Situation ausnahmsweise von Rechtsordnung<br />
gebilligt?<br />
• a.A.: „Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen“<br />
gesamte Rechtswidrigkeitsprüfung als eine Wertungsstufe<br />
Herkunft der Rechtfertigungsgründe: nicht nur StGB, sondern auch<br />
viele andere Gesetze („Einheit der Rechtsordnung“), also<br />
• materielles Strafrecht (z.B. §§ 32, 34 StGB, vgl. näher unten)<br />
• Strafprozessrecht (z.B. § 127 StPO, vgl. näher unten, aber auch<br />
§§ 81a, 102 StPO)<br />
• Zivilrecht (z.B. §§ 228, 904 BGB, vgl. näher unten)<br />
• Öffentliches Recht (z.B. Polizeigesetze der Länder)<br />
• Gewohnheitsrecht (z.B. die Einwilligung; elterliches Züchtigungsrecht<br />
[str., wohl in dieser Konstruktion nach Gesetzesänderungen<br />
der letzten Jahre nur schwer vertretbar, vgl. näher unten)<br />
Exkurs: Unterscheide noch einmal: Auf Grund des fragmentarischen Charakters<br />
des Strafrechts können Verhaltensweisen straflos sein, die<br />
in anderen Gesetzen „Sanktionen“ nach sich ziehen (lies z.B. zur<br />
fahrlässigen Sachbeschädigung noch einmal §§ 303, 15 StGB einer-,<br />
§ 823 I BGB andererseits). Das heißt aber natürlich nicht,<br />
dass solche Verhaltensweisen im Strafrecht gebilligt würden – insoweit<br />
besteht kein Widerspruch zum Grundsatz der Einheit der<br />
Rechtsordnung. In den o.g. Beispielsfällen strafprozessualer Eingriffsbefugnisse<br />
dagegen ist es so, dass das Verhalten in der StPO<br />
explizit erlaubt wird.<br />
Gedanken zur Vertiefung:<br />
(1) Eine – in ihren Argumenten m.E. beachtliche – M.M. geht demgegenüber<br />
von der Figur einer eigenständigen „Strafrechtswidrigkeit“<br />
aus. Allerdings hat auch dies zumeist nicht zur Folge, dass<br />
ein nach anderen Gesetzen erlaubtes Verhalten strafrechtswidrig<br />
wäre (sondern eher umgekehrt).<br />
(2) Es ist auch denkbar, dass im Einzelfall mit Blick auf die Einheit<br />
der Rechtsordnung insbesondere bei näher ausfüllungsbedürftigen<br />
Begriffen die Wertungen anderer „inhaltsreicherer“ Regelungen<br />
bereits für die Auslegung herangezogen werden und daher den<br />
Tatbestand (und nicht erst die Rechtswidrigkeit) ausschließen. So<br />
ist bei der Frage, wann eine Strafvereitelung nach § 258 StGB (und<br />
nicht nur ein zulässiges Verteidigerhandeln) vorliegt, nach überzeugender<br />
h.M. u.a. darauf abzustellen, welche Rechte die StPO<br />
einem Verteidiger zubilligt. Solange man sich innerhalb dieser bewegt,<br />
begeht man bereits keine tatbestandliche Vereitelungshandlung<br />
(und ist nicht „erst“ gerechtfertigt).<br />
<br />
Begründung und Systematisierung der Rechtfertigungsgründe:<br />
• einheitliche Begründung schwierig und str.; m.E. aber stets Folge<br />
einer Interessenabwägung, nach der ausnahmsweise Interesse an<br />
Durchführung der Handlung gegenüber ihrem Unterlassen überwiegt,<br />
obwohl es an sich ein unerlaubtes wäre 42<br />
• Übersicht über die Interessenabwägung bei verschiedenen Rechtfertigungsgründen<br />
42 Natürlich beruht auch die Tatbestandsbildung durch den Gesetzgeber zumeist auf Interessenabwägungen.<br />
Dennoch lässt die Unterscheidung zwischen „genereller Interessenlage“ und<br />
„besonderer Interessenabwägung“ im Einzelfall eine (zumindest theoretisch) halbwegs klare<br />
Abgrenzung zu, ob ein bestimmter Sachgesichtspunkt bereits tatbestandsausschließend oder<br />
erst rechtfertigend wirkt.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 35
Vorrangverhältnis<br />
und Begründung<br />
Beispiele<br />
§ 228 BGB mutmaßliche Einwilligung<br />
maßgebliches<br />
Subjekt<br />
der<br />
Abwägung<br />
Genereller Vorrang des<br />
angegriffenen Interesses vor<br />
dem Interesse des Angreifers<br />
(Verteidigung der<br />
Rechtsordnung; „Zuständigkeit<br />
des Angreifers für<br />
den Konflikt“)<br />
§ 32 StGB<br />
§ 227 BGB<br />
“Abwägung durch Gesetzgeber”<br />
Abwägung<br />
im Einzelfall,<br />
wenn von<br />
keiner Seite<br />
ein “Angriff”<br />
vorliegt<br />
§ 34 StGB<br />
§ 904 BGB<br />
Generelles Zurückstehen<br />
des Rechtsguts,<br />
das sein Inhaber<br />
aufgegeben<br />
hat (volenti non fit<br />
iniuria)<br />
Einwilligung<br />
“Abwägung<br />
durch Richter”<br />
“Abwägung durch<br />
Opfer”<br />
Erfordernis eines subjektiven RechtfertigungselementesBsp. zur Veranschaulichung<br />
des Problems: T trifft auf der Straße seinen Feind O und schlägt ihn nieder. Hat<br />
sich T strafbar gemacht, wenn O – von T unerkannt – gerade ein Messer ziehen wollte, um auf<br />
T einzustechen?<br />
• nach h.M. grds. Erfordernis eines auch subjektiven Rechtfertigungselements;<br />
arg.:<br />
∗<br />
∗<br />
explizite Voraussetzung in einzelnen gesetzlichen Rechtfertigungsgründen<br />
(vgl. § 32 StGB: „um ... abzuwehren“;<br />
§ 34 StGB: „um die Gefahr ... abzuwenden“)<br />
Kompensation nicht nur des tatbestandlichen Erfolgsunrechts,<br />
sondern auch des Handlungsunrechts (das sich aus dem vorsätzlichen,<br />
auf eine Rechtsgutsverletzung gerichteten Handeln<br />
ergibt) erforderlich<br />
Klausurhinweis:<br />
Bei (zumindest unbewussten) Fahrlässigkeitsdelikten dürfte das<br />
anders sein: Wer nicht weiß, dass er einen anderen verletzt, kann<br />
kaum wissen, dass er dabei gerechtfertigt ist. Das erscheint mir<br />
auch stringent (wobei auf die Frage vielfach nicht explizit eingegangen<br />
wird, so dass es schwer ist, von einer h.M. zu sprechen):<br />
Da das Unrecht (zwar auch durch ein Handlungsunrecht, aber e-<br />
ben) nicht durch ein subjektives Element geprägt ist, braucht man<br />
auch zur „Unrechtsaufhebung“ ein solches nicht.<br />
In der Klausur könnte man dies auch schon vor der Rechtswidrigkeitsebene<br />
bei der Prüfung der Sorgfaltspflichtverletzung ansprechen<br />
und feststellen, dass etwas, was objektiv gerechtfertigt ist,<br />
nicht pflichtwidrig sein kann.<br />
• Strafbarkeit bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements<br />
∗<br />
∗<br />
e.A.: Strafbarkeit wegen des tatsächlich begangenen (auch<br />
vollendeten) Delikts annimmt<br />
a.A.: jedenfalls nur Strafbarkeit wegen Versuchs der Tat;<br />
arg.:<br />
Täter, bei dem zwar Erfolgsunrecht kompensiert ist, aber<br />
Handlungsunrecht (unkompensiert) bestehen bleibt, ist<br />
dem Versuchstäter vergleichbar, bei dem ebenfalls nur<br />
Handlungs-, nicht aber Erfolgsunrecht vorliegt. 43<br />
Vollendetes Delikt<br />
Versuchtes<br />
Delikt<br />
Täter ohne subjektives<br />
Rechtfertigungselement<br />
Erfolgsunrecht (+) (-) (-), da kompensiert<br />
Handlungsunrecht (+) (+) (+), da nicht kompensiert<br />
43 Vertreter eines zweistufigen Verbrechensaufbaus kommen ohnehin zwanglos zur Versuchsstrafbarkeit,<br />
da sich mangels subjektiven Rechtfertigungselements der Tatentschluss<br />
nach dieser Konzeption auf ein Merkmal des (Gesamtunrechts-) Tatbestands bezieht.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 36
2. Die Notwehr gem. § 32 StGB<br />
a) Die Begründung des Notwehrrechts<br />
<br />
„Schneidiges“ Recht, das nach h.M. auf zwei Säulen ruht (dualistische<br />
Notwehrbegründung der h.M.):<br />
• Selbstschutzgedanke,<br />
d.h. Vorstellung, dass „Urrecht” auf Selbstverteidigung trotz staatlichen<br />
Gewaltmonopols in speziellen Fallgestaltungen erhalten<br />
bleibt<br />
• Rechtsbewährungsprinzip,<br />
d.h. Grundsatz, dass Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht<br />
Klausurhinweis:<br />
Man kann gegen das dualistische Notwehrmodell sicher kritisch<br />
einwenden, dass es letztlich nicht aus bestimmten Prämissen abgeleitet<br />
wird, sondern mal die eine, mal die andere Grundlage mehr<br />
oder weniger dann heranzieht, wenn diese gerade gebraucht wird.<br />
Das Verhältnis zwischen beiden Ansätzen bleibt zumeist im Dunkeln.<br />
Das ändert aber nichts daran, dass man das Schlagwort von<br />
der dualistischen Notwehrbegründung kennen sollte und in einer<br />
Klausur (in der das Strafrecht nicht jedes Mal neu erfunden, sondern<br />
auf der Grundlage konsentierter Vorstellungen angewandt<br />
werden soll!) ruhig selektiv auf jeweils auf einen der beiden Gedanken<br />
zurückgreifen kann, wenn er in die Argumentation passt.<br />
b) Die Voraussetzungen der Notwehr<br />
<br />
<br />
Überblick:<br />
• Notwehrlage: gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff<br />
• Notwehrhandlung: erforderliche, gebotene Abwehrhandlung<br />
Notwehrlage:<br />
• Angriff:<br />
∗<br />
∗<br />
Definition: jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung<br />
rechtlich geschützter Interessen<br />
Angriff muss nach h.M. tatsächlich vorliegen, d.h. Beurteilung<br />
erfolgt objektiv<br />
∗ nur menschliche Angriffe erfasst, nicht solche durch Tiere 44<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
nur willkürliches Handeln (d.h. grob: eine Handlung im strafrechtlichen<br />
Sinne)<br />
Gegenbeispiel.: Fällt jemand von einem Baugerüst und droht<br />
einen Passanten zu „erschlagen“, so ist ein den Fallenden<br />
verletzendes Aufhalten oder Ablenken des Sturzes nur nach<br />
den Grundsätzen des § 34 StGB, nicht nach dem ohne jede<br />
Abwägung erfolgenden Notwehrrecht zulässig.<br />
kein Angriff bei sozialüblichem oder ganz bagatellhaftem<br />
Verhalten (z.B. Vordrängeln am Skilift)<br />
Möglicher Gegenstand eines notwehrfähigen Angriffs: alle<br />
Individualrechtsgüter des Angegriffenen oder eines Dritten<br />
<br />
Alternative Begründung (m.E. kein echter Gegensatz): Verantwortung<br />
bzw. „Zuständigkeit“ des Angreifers für den „Konflikt“ führt dazu,<br />
dass dieser auch Einbußen an seinen Rechtsgütern hinnehmen muss.<br />
44 Bei Angriffen von Tieren kommt nur ein rechtfertigender Notstand nach § 228 BGB in<br />
Betracht. Allerdings kann auch Notwehr nach § 32 StGB geübt werden, wenn entweder das<br />
Tier als „Angriffsmittel“ genutzt wird oder zumindest ein vorwerfbares Unterlassen des Tierhalters<br />
vorliegt. Allerdings richtet sich dann genau formuliert die Notwehr nicht „gegen das<br />
Tier“, sondern gegen den menschlichen Angreifer und erfolgt eben dadurch, dass eine ihm<br />
gehörende Sache beschädigt wird.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 37
(sog. Nothilfe); dagegen Verteidigung von Allgemeininteressen<br />
grundsätzlich Aufgabe der staatlichen Organe<br />
• Gegenwärtigkeit<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
unmittelbar bevorstehend (ohne weitere Zwischenschritte);<br />
auch antizipierte Selbstschutzmaßnahmen (z.B. Selbstschussanlagen)<br />
im Rahmen der Erforderlichkeit möglich<br />
gerade ablaufend<br />
noch Fortdauern (besonders bei Dauerdelikten wichtig)<br />
• Rechtswidrigkeit<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
läuft Bewertungsnormen des Rechts zuwiderläuft<br />
kein Verstoß gegen Strafgesetze erforderlich<br />
nicht rechtswidrig, wenn seinerseits durch Rechtfertigungsgründe<br />
gedeckt<br />
str., ob Handlungs- oder Erfolgsunrecht entscheidend<br />
nach h.M. muss Angriff nicht schuldhaft sein<br />
Klausurhinweis:<br />
Fehlt es an den Voraussetzungen einer Notwehrlage (insbesondere<br />
bereits an einem Angriff), ist als Folgeproblem an den sog. Erlaubnistatbestandsirrtum<br />
zu denken (dazu näher später in Vorlesung<br />
und <strong>Skript</strong>), wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der<br />
Täter irrtümlich die tatsächlichen Voraussetzungen einer solchen<br />
Lage angenommen hat.<br />
<br />
Notwehrhandlung<br />
• muss Abwehr eines Angriffs dienen<br />
∗<br />
Schutz- und Trutzwehr zulässig<br />
∗<br />
nur gegen den Angreifer bzw. seine Rechtsgüter zulässig (aber<br />
z.T. Ausnahme angenommen, wenn sich Angreifer fremder<br />
Sachen bedient<br />
• Erforderlichkeit<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
zur Abwehr geeignet (allerdings eine weite „Einschätzungsprärogative“,<br />
auch etwa bei Verteidigung gegen Übermacht)<br />
mildestes Mittel zur sofortiger und sicherer Abwendung des<br />
Angriffs<br />
beachte aber: keine „Güterproportionalität” vorausgesetzt<br />
Beurteilung der Erforderlichkeit nach objektivem Urteil ex<br />
ante<br />
erforderliche Abwehrhandlungen decken auch ungewollte<br />
Auswirkungen (Gedanke der erlaubten Risikoschaffung).<br />
Klausurhinweis:<br />
Werden die Grenzen der Erforderlichkeit überschritten, ist zu prüfen,<br />
ob ein entschuldigender Notwehrexzess nach § 33 StGB in<br />
Betracht kommt.<br />
• Gebotenheit<br />
∗<br />
∗<br />
grds. ist erforderliche Abwehr auch geboten ( kein generelles<br />
Abwägungsgebot)<br />
„Gebotenheit“ nach h.M. als Anknüpfungspunkt „sozialethischer<br />
Einschränkungen des Notwehrrechts“ bei<br />
völlig geringfügigen Eingriffen an der Grenze zum Angriff<br />
extremem Missverhältnis von angegriffenem und verletztem<br />
Gut („Kirschendiebfälle“)<br />
Angriffen von Kindern oder anderen schuldlos Handelnden<br />
Angriffe von nahestehenden Personen<br />
Provokationsfällen<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 38
– Absichtsprovokation schließt Notwehrrecht aus<br />
(h.M.)<br />
– bei sonstiger schuldhafter Provokation dagegen nur<br />
(wie bei anderen Einschränkungsfällen) Einschränkung<br />
i.S. einer „Drei-Stufen-Theorie“ (erst ausweichen,<br />
dann Schutzwehr, zuletzt Trutzwehr<br />
Exkurs: Die sozialethischen Einschränkungen erscheinen zwar teilweise<br />
mehr oder weniger evident „billig“, werfen aber in ihrer Begründung<br />
Probleme auf:<br />
(1) Formell sind sie mit Blick auf Art. 103 II GG zumindest nicht<br />
unproblematisch, da die Anknüpfung an das Merkmal der Gebotenheit<br />
an sich sehr vage ist.<br />
(2) Materiell wäre zu legitimieren, warum man das in seiner<br />
grundsätzlichen Geltung nie in Frage gestellte Notwehrrecht überhaupt<br />
einschränken möchte, wozu etwa auf eine Abschwächung<br />
der Notwehrbegründungen des Rechtsbewährungsprinzips, des<br />
Schutzprinzips sowie des Verantwortlichkeits- bzw. Zuständigkeitsprinzip<br />
hingewiesen werden kann.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 39
3. Rechtfertigender Notstand gem. § 34 StGB<br />
a) Einordnung der Regelung<br />
<br />
<br />
zweiter wichtiger Rechtfertigungsgrund im StGB; Ergänzung durch<br />
zivilrechtliche Notstände der §§ 228, 904 BGB; vergleichbare Regelung<br />
in § 16 OWiG<br />
Legitimation der Regelung schwieriger als bei Notwehr, da nicht gegen<br />
Angreifer gerichtet:<br />
• Prinzip der Güteroptimierung<br />
• Auferlegung einer Solidaritätspflicht als Sonderopfer (im StGB<br />
sonst nur selten, vgl. etwa auch § 323c StGB)<br />
b) Voraussetzungen des § 34 StGB<br />
<br />
Überblick<br />
Notstandslage<br />
– Notstandsfähiges Rechtsgut<br />
– Gefahr für das Rechtsgut<br />
– Gegenwärtigkeit der Gefahr<br />
Notstandshandlung<br />
– Erforderlichkeit der Rettungshandlung<br />
(fehlende andere Abwendbarkeit)<br />
– Wesentliches Überwiegen des<br />
geretteten Rechtsguts<br />
– Angemessenheit<br />
– subjektiv: Handeln mit Rettungswillen<br />
Klausurhinweis:<br />
Rechtsphilosophisch ist das Notstandsrecht daher wesentlich<br />
schwieriger zu begründen als das Notwehrrecht. Da es aber in<br />
§ 34 StGB eine positive Festschreibung im StGB gefunden hat,<br />
muss es in der Klausur auch angewendet werden, ohne theoretisch<br />
in Frage gestellt zu werden. Freilich kann man solche Zweifel „im<br />
Hinterkopf behalten“, wenn es um die Frage geht, ob es in einem<br />
Grenzfall eher extensiv oder eher restriktiv anzuwenden ist.<br />
<br />
Abgrenzung zum entschuldigenden Notstand nach § 35 StGB (trotz des<br />
Fehlens eines wesentlichen Überwiegens der Interessen kann Täter<br />
rechtswidriges Handeln nicht persönlich vorgeworfen werden)<br />
Klassisches Beispiel für die Anwendung des § 35 StGB ist das „Brett des Karneades“:<br />
Wenn sich zwei Schiffsbrüchige auf eine Planke retten, die nur einen<br />
Menschen tragen kann und einer den anderen hinunterstößt, so überwiegt das<br />
damit gerettete Leben nicht wesentlich das geopferte. Dennoch kann man dem<br />
Täter in dieser Extremsituation sein Handeln nicht persönlich vorwerfen.<br />
<br />
Notstandslage: (gegenwärtigen nicht anders abwendbare 45 ) Gefahr für<br />
ein notstandsfähiges Rechtsgut:<br />
• Notstandsfähiges Rechtsgut:<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
jedes von der Rechtsordnung anerkannte (auch strafrechtlich<br />
ungeschützte) Rechtsgut<br />
Aufzählung in § 34 StGB nicht abschließend<br />
nach h.M. – anders als bei § 32 StGB – auch staatliche<br />
Rechtsgüter grds. notstandsfähig; fraglich aber, ob dadurch<br />
auch Handeln von Staatsorganen gedeckt<br />
auch Rechtsgüter Dritter möglich (Notstandshilfe)<br />
45 Die „Nicht-anders-Abwendbarkeit“ wird zumeist als „Erforderlichkeit“ als Bestandteil der<br />
Notstandshandlung geprüft; mir erscheint dies nicht zwingend, aber in der Sache durchaus<br />
vernünftig, auch wenn damit scheinbar etwas von der verunglückten Gesetzesformulierung<br />
abgewichen wird. Vgl. etwa Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 34 Rn. 18; ganz explizit<br />
auch Kindhäuser, LPK/StGB, § 34 Rn. 29.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 40
• Gefahr:<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
Zustand, in dem nicht ganz entfernte Wahrscheinlichkeit des<br />
Eintritts eines Schadens für Rechtsgut besteht<br />
nicht notwendig „menschliches Verhalten“ gefordert, sondern<br />
z.B. auch Gefahren durch Tiere oder Naturereignisse<br />
Bspe.:<br />
(1) Der wild gewordene Stier S ist von der Weide ausgebrochen und<br />
droht einen Spaziergänger aufzuspießen.<br />
(2) Bei einem plötzlichen Wetterumsturz im Gebirge droht ein Bergsteiger<br />
zu erfrieren.<br />
nach h.M. nach objektivem ex-ante-Urteil zu beurteilen (im<br />
Detail str.).<br />
• Gegenwärtigkeit<br />
∗<br />
∗<br />
bevorstehend, akut oder noch nicht abgeschlossen<br />
für „Bevorstehen“ großzügigerer Maßstab als bei § 32 StGB<br />
auch Dauergefahren, bei denen Schaden jederzeit eintreten<br />
kann<br />
auch ausreichend, wenn Schadenseintritt erst in Zukunft zu<br />
erwarten ist, aber nur durch sofortiges Handeln abgewendet<br />
werden kann (str.)<br />
Klausurhinweise:<br />
Zumindest sollte man bei Dauergefahren und vor allem bei zukünftigen<br />
Gefahren besonders genau prüfen, ob sie nicht anders abwendbar<br />
sind als durch die Notstandshandlung (also etwa durch<br />
Einschalten der Behörden o.ä.).<br />
Wie bei der Notwehr gilt auch hier: Fehlt es an den Voraussetzungen<br />
einer Notstandslage ist als Folgeproblem an den sog. Erlaubnistatbestandsirrtum<br />
zu denken.<br />
<br />
Notstandshandlung:<br />
• Abwendung der Gefahr, wozu beliebig in fremde Güter eingegriffen<br />
werden darf<br />
In dem o.g. Stierbeispiel wäre also – zunächst einmal nur § 34 StGB betrachtet<br />
– sowohl die Verletzung des Stieres als auch das Aufbrechen der<br />
Tür des Hauses eines Dritten (um sich darin zu verstecken) gerechtfertigt.<br />
Beachte in diesem Zusammenhang aber auch §§ 228, 904 BGB (dazu unten),<br />
die für die Situation des Eingriffs in das bedrohliche, aber auch in<br />
ein anderes Gut noch speziellere Wertungen enthalten (und daher vorrangig<br />
zu prüfen sind).<br />
• Erforderlichkeit<br />
∗<br />
∗<br />
zur Rettung des Rechtsguts geeignet<br />
mildestes Mittel, wobei – anders als bei § 32 StGB – auch<br />
Möglichkeiten wie Ausweichen oder Flucht zu berücksichtigen<br />
sind<br />
Klausurhinweis:<br />
Da hier mehr alternative Rettungsmöglichkeiten in Betracht kommen<br />
als bei der Notwehr, muss beim Notstand um so genauer am<br />
Sachverhalt gearbeitet werden, um solche ausfindig zu machen<br />
(oder sie zumindest zu diskutieren, selbst wenn man sie mangels<br />
ausreichender Effizienz dann am Ende doch ablehnt).<br />
• wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses gegenüber<br />
dem beeinträchtigten<br />
∗<br />
wohl h.M.: „wesentlich“ nur „zweifelsfrei“, nicht „erheblicher<br />
Wertunterschied“ (str.)<br />
Klausurhinweis:<br />
In der Klausur muss man m.E. auf diesen Streit nicht unbedingt<br />
eingehen. Zumeist wird man, wenn man ein Überwiegen annimmt,<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 41
auch begründen können, dass dieses „wesentlich“ oder zumindest<br />
„wesentlich genug“ ist.<br />
∗<br />
nicht bloße Güterabwägung, sondern umfassende Interessenabwägung<br />
abstrakter Wert der betroffenen Rechtgüter (vgl. etwa Strafrahmen<br />
des BT) als Ausgangspunkt; weitere Aspekte a-<br />
ber z.B. 46<br />
Grad der drohenden Gefahr<br />
Ausmaß des drohenden Schadens<br />
Verantwortlichkeit eines Beteiligten für die Entstehung der<br />
Gefahr<br />
spezielle Gefahrtragungspflichten<br />
Entstehen der Gefahr als einkalkulierte Folge einer gesetzlichen<br />
Regelung<br />
Bestehen spezieller rechtlicher Verfahren<br />
Klausurhinweis:<br />
Zumindest als „interne Plausibilitätskontrolle“, m.E. aber durchaus<br />
auch als (zusätzliches, nicht alleiniges!) Kriterium kann auch auf<br />
die sog. „Notwehrprobe“ abgestellt werden. Dies ist die Frage, ob<br />
es angemessen erscheint, wenn derjenige, in dessen Interessen<br />
durch die Notstandshandlung eingegriffen wird, dagegen Notwehr<br />
üben kann (dann nicht § 34 StGB, da dies die Notwehr ausschließen<br />
würde) oder nicht (dann § 34 StGB zu bejahen, weil damit die<br />
Notwehr mangels rechtswidrigen Angriffs des im Notstand Handelnden<br />
ausgeschlossen wird).<br />
• keine „Unangemessenheit“<br />
∗<br />
∗<br />
geringe Bedeutung neben umfassender Interessenabwägung<br />
mögliche Anwendungsfälle<br />
Verstoß gegen gesetzlich geregelte Verfahren<br />
Bsp.: A sprengt das offensichtlich bauordnungswidrig errichtete<br />
Haus seines Nachbarn N in die Luft, das dem A jegliche Luft<br />
und Sonne nimmt.<br />
Achtung der Menschenwürde<br />
Bsp.: A besucht im Krankenhaus seinen Freund F. Als das Unfallopfer<br />
O eingeliefert wird, das eine sehr seltene Blutgruppe<br />
hat, soll bei A, der ebenfalls diese Gruppe hat, zwangsweise<br />
Blut für die lebensrettende Blutspende abgenommen werden.<br />
Zwar überwiegt das Leben des O sicher die körperliche Unversehrtheit<br />
des A; allerdings ist niemandem zuzumuten, als „lebende<br />
Blutbank missbraucht“ zu werden (nicht unumstritten).<br />
Handeln auf der Seite des Unrechts<br />
Bsp.: A wird von T bedroht, dass er sofort erschossen werde,<br />
wenn er nicht die Schaufensterscheibe des O einwirft. A tut,<br />
wie ihm geheißen.<br />
Zwar überwiegt das Leben des A sicher das Sacheigentum des<br />
O, allerdings macht sich A (wenngleich unfreiwillig) zu einem<br />
Diener der schlechten Sache. Ihm ist ausreichend geholfen,<br />
wenn er nach § 35 StGB entschuldigt wird; andererseits erscheint<br />
es durchaus angemessen, dem O, der an seinem Laden<br />
vorbeikommt, ein Notwehrrecht zuzugestehen (Notwehrprobe;<br />
nicht unumstritten; Problem des sog. Nötigungsnotstandes).<br />
• Handeln mit Rettungswillen (subjektives Rechtfertigungselement)<br />
4. Die zivilrechtlichen Notstände<br />
<br />
Einordnung<br />
• wegen „Einheit der Rechtsordnung” auch im Strafrecht zu beachten<br />
46 Umfassende Darstellung von abwägungsrelevanten Gesichtspunkten etwa bei Schönke/Schröder-Lenckner/Perron,<br />
§ 34 Rn. 23 ff.; Roxin, <strong>AT</strong> I, § 16 Rn. 22 ff.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 42
• spezielle Regelungen des Notstandes in §§ 228 und 904 BGB, je<br />
nachdem, ob Gefahr von im Notstand beeinträchtigter Sache ausging<br />
(Defensivnotstand) oder nicht (Aggressivnotstand).<br />
Bsp: In dem o.g. Stierfall würde eine Handlung gegenüber dem Stier im<br />
Defensiv-, gegenüber der Tür eines Unbeteiligten im Aggressivnotstand<br />
erfolgen.<br />
Defensivnotstand, § 228 BGB<br />
§ 228 BGB<br />
Wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um eine durch sie drohende Gefahr<br />
von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht widerrechtlich, wenn die<br />
Beschädigung oder die Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und<br />
der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht. Hat der Handelnde die Gefahr<br />
verschuldet, so ist er zum Schadensersatz verpflichtet.<br />
<br />
• Spezialregelung für Handlungen gegenüber Sachen, von denen Gefahr<br />
ausgeht<br />
• wichtigstes Beispiel: Tierangriffe<br />
• da „Sache für Konflikt zuständig“ ist, ist Eingriff grundsätzlich gerechtfertigt,<br />
wenn nicht Wert der verletzten Sache zu Gefahr außer<br />
Verhältnis steht<br />
Aggressivnotstand, § 904 BGB<br />
§ 904 BGB<br />
Der Eigentümer einer Sache ist nicht berechtigt, die Einwirkung eines anderen auf<br />
die Sache zu verbieten, wenn die Einwirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen<br />
Gefahr notwendig und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung<br />
dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist. Der Eigentümer<br />
kann Ersatz des ihm entstehenden Schadens verlangen.<br />
<br />
• nur gerechtfertigt, wenn gerettetes Rechtsgut beeinträchtigtes wesentlich<br />
überwiegt<br />
Allgemeine Fragen<br />
• Bestimmung der „Wertigkeit“ nach<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
Sachwert<br />
ideellen Interessen (Tiere mehr als leblose Sachen)<br />
str. reine Affektionsinteressen<br />
• Verhältnis zu § 34 StGB<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
§§ 228, 904 BGB unstreitig vor § 34 StGB zu prüfen<br />
str. aber, ob abschließende leges speziales; selbst bei Anwendung<br />
aber meist auf Grund der auch bei § 34 StGB durchschlagenden<br />
Regelungen meistens kein anderes Ergebnis<br />
von § 34 StGB her bekannte Einschränkungen der Rechtfertigung<br />
(etwa „nicht auf die Seite des Unrechts schlagen“ o.ä.)<br />
auch bei §§ 228, 904 BGB zu berücksichtigen<br />
• nicht „angreifende” Sache (d.h. Sache, von der Gefahr nicht unmittelbar<br />
droht) wird beschädigt<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 43
5. Weitere zivilrechtliche Rechtfertigungsgründe<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Selbsthilferecht nach §§ 229, 230 BGB:<br />
Wegnahme einer Sache, „wenn obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu<br />
erlangen ist und ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr besteht“, dass<br />
Durchsetzung eines Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert wird<br />
Gast G möchte das Lokal des L verlassen, ohne zu bezahlen. L, der O nicht<br />
kennt, nimmt G dessen Mantel weg, um ihn „als Pfand zu behalten“.<br />
Besitzkehr nach § 859 BGB:<br />
sofortige Wegnahme einer Sache vom unrechtmäßigen Besitzer, wenn<br />
dieser sie an sich gebracht hat; zeitlich begrenzter Spezialfall des zivilrechtlichen<br />
Selbsthilferechts für Besitzer beweglicher Sachen<br />
Selbsthilferecht des Vermieters nach § 562b BGB:<br />
gestattet Vermieter, „die Entfernung der seinem Pfandrecht unterliegenden<br />
Sachen, soweit er ihr zu widersprechen berechtigt ist, auch ohne<br />
Anrufen des Gerichts verhindern und, wenn der Mieter auszieht, die<br />
Sachen in seinen Besitz nehmen“; Schutz vor Entwertung des gesetzlichen<br />
Vermieterpfandrechts<br />
§ 910 BGB:<br />
erlaubt „Eigentümer eines Grundstücks (...) Wurzeln eines Baumes o-<br />
der eines Strauches, die von einem Nachbargrundstück eingedrungen<br />
sind, ab(zu)schneiden und (zu)behalten.“<br />
§ 241a BGB:<br />
• vergleichsweise jung ins BGH eingefügte Vorschrift, nach der<br />
Verbraucher keine Verpflichtungen für unbestellt zugesandte Waren<br />
trifft<br />
• strafrechtliche Konsequenzen noch nicht endgültig geklärt; aber<br />
wohl möglicher Rechtfertigungsgrund für Delikte an diesen unbestellten<br />
Gegenständen<br />
6. Einwilligung und Einverständnis<br />
<br />
Ungeschriebenes, aber in grundsätzlicher Existenz unbestrittenes Institut,<br />
das<br />
• nach h.M. rechtfertigend wirkt (näher unten)<br />
• von mutmaßlicher Einwilligung und von tatbestandsausschließendem<br />
Einverständnis zu unterscheiden ist<br />
a) (Tatsächliche) Einwilligung<br />
<br />
<br />
Einordnung<br />
• gewohnheitsrechtlich anerkannt<br />
• Grundlage: Prinzip des „volenti non fit iniuria“ bzw. verfassungsrechtliches<br />
Selbstbestimmungsrecht nach Art. 2 I GG<br />
Wirkung:<br />
• (noch) h.M.: (bloße) rechtfertigende Wirkung an<br />
arg.:<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
trotz Einwilligung bleibt Rechtsgut verletzt (also z.B. zerstörte<br />
Sache kaputt, verletzter Mensch verwundet, etc.)<br />
Einwilligung betrifft erst zweite Wertungsstufe<br />
Wortlaut des § 228 StGB (“nur dann rechtswidrig, wenn die<br />
Tat trotz der Einwilligung ... “)<br />
• a.A.: grundsätzlich tatbestandsausschließende Wirkung jeder Einwilligung<br />
an;<br />
arg:<br />
∗<br />
Verletzung mit Einwilligung ist kein Eingriff in Rechtsgut,<br />
sondern eine Unterstützung des Rechtsgutsinhabers bei Verwirklichung<br />
seiner Handlungsfähigkeit sei<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 44
∗<br />
Objekte nicht „um ihrer selbst Willen “ geschützt, sondern nur<br />
als Objekt der Dispositionsbefugnis des Berechtigten<br />
Klausurhinweis:<br />
Unterschiedliche Ergebnisse resultieren „am Ende“ aus dem Meinungsstreit<br />
nicht. Der Täter wird so oder so nicht bestraft. Auch<br />
ein Irrtum wird über die Figur des „Erlaubnistatbestandsirrtums“<br />
nach h.M. in beiden Fällen nach § 16 I 1 StGB behandelt.<br />
M.E. muss man in der Klausur deshalb auch nicht breit auf den<br />
Streit eingehen, sondern kann – evt. unter Nennung eines Arguments<br />
– der h.M. folgen, die auch hier im Folgenden zu Grunde<br />
gelegt wird (obwohl sich für die Gegenauffassung durchaus gute<br />
Gründe benennen lassen).<br />
Zuletzt kann auch bei solchen Tatbeständen nicht eingewilligt werden, bei<br />
denen der Gesetzgeber gerade vom Schutzbedürfnis des mitwirkenden<br />
Opfers ausgeht, so z.B. bei §§ 174 – 176a, 291 StGB.<br />
∗<br />
Einwilligender als Inhaber des Rechtsguts<br />
• Einwilligungssachverhalt (Einwilligung i.e.S.)<br />
∗<br />
h.M.: Erklärungstheorie, d.h. Kundgabe der Einwilligung<br />
nach außen (aber nicht notwendig als Willenserklärung gegenüber<br />
Täter)<br />
ausdrücklich oder auch konkludent<br />
vor der Tat erklärt werden, d.h. eine spätere Genehmigung ist<br />
unbeachtlich<br />
jederzeit widerruflich<br />
<br />
Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung:<br />
• Dispositionsbefugnis des Einwilligenden<br />
∗ grds. Disponibilität des geschützten Rechtsgutes [i.d.R. bei<br />
Individualrechtsgütern (+)]<br />
Bspe.: Das Sacheigentum ist Individualrechtsgut, daher kann in die Zerstörung<br />
einer Sache grundsätzlich durch den Eigentümer eingewilligt<br />
werden.<br />
Dagegen kann in eine Verletzung der Verkehrssicherheit nicht eingewilligt<br />
werden, d.h. es ist für eine Strafbarkeit nach § 316 StGB (lesen!)<br />
gleichgültig, ob der Mitfahrer damit einverstanden ist, dass der Fahrer<br />
alkoholisiert ist. Werden aber neben der Verkehrssicherheit auch Individualinteressen<br />
geschützt, wie etwa bei § 315c I Nr. 1a StGB (lesen! konkrete<br />
Gefährdung einer fremden Sache oder einer anderen Person) ist<br />
wiederum streitig, ob nicht doch eingewilligt werden kann, weil zumindest<br />
das Unrecht dieses „Teils“ entfällt, so dass dann „nur“ noch<br />
§ 316 StGB „übrig bleiben würde“.<br />
Dass selbst bei klaren Individualrechtsgüter nicht uneingeschränkt in die<br />
Verletzung eingewilligt werden kann, zeigen §§ 216 (Strafbarkeit der Tötung<br />
auf Verlangen) und 228 StGB (Strafbarkeit, wenn Tat trotz Einwilligung<br />
gegen gute Sitten verstößt).<br />
Klausurhinweis:<br />
Im Zusammenhang mit der Erklärung der Einwilligung lassen sich<br />
– insbesondere auch wegen der Rücknehmbarkeit sowie wegen der<br />
nach h.M. nicht gegenüber dem Täter erforderlichen Erklärung –<br />
diverse „Irrtumsprobleme“ bilden: Das Fehlen eines subjektiven<br />
Rechtfertigungselements (vgl. dazu allgemein oben) ebenso wie<br />
ein Erlaubnistatbestandsirrtum (vgl. dazu später im <strong>Skript</strong> bei der<br />
Schuld).<br />
∗<br />
• Wirksamkeit:<br />
∗<br />
a.A.: Willensrichtungstheorie<br />
Einwilligungsfähigkeit des Einwilligenden<br />
keine Geschäftsfähigkeit im zivilrechtlichen Sinne erforderlich,<br />
sondern es konkrete Einsichts- und Urteilsfähigkeit<br />
(umgekehrt mehr als allgemeine Willensbildungsfähigkeit)<br />
für Vermögensdelikte von M.M. auch zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit<br />
gefordert<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 45
∗<br />
∗<br />
∗<br />
Freiheit von wesentlichen Willensmängeln<br />
bei Drohung unwirksam, str. ist allein erforderlicher Grad (bereits<br />
bei Erfüllung des § 240 StGB [h.M.] oder erst bei<br />
mit §§ 34, 35 StGB vergleichbarer Druckausübung?)<br />
bei Täuschung<br />
– heute wohl h.M.: nicht jede Täuschung erheblich,<br />
sondern nur bei rechtsgutsbezogenem Irrtum<br />
– a.A. (früher h.M.): bei jeder Täuschung Unwirksamkeit<br />
Bsp.: Wird bei einem Blutspendenaufruf darüber getäuscht,<br />
dass es anschließend „Schlachtplatte“ gibt, da<br />
tatsächlich nur ein paar sparsam belegte Brote gereicht<br />
werden, ist dies nicht rechtsgutsbezogen, d.h. die Täuschung<br />
nach heute wohl h.M. führt nicht dazu, dass die<br />
Blutentnahme nach § 223 StGB rechtswidrig würde.<br />
Täuscht dagegen der aufklärende Operateur bewusst ü-<br />
ber naheliegende und erhebliche Risiken eines Eingriffs<br />
hinweg, wird die Einwilligung unwirksam sein, so dass<br />
die spätere Operation eine rechtswidrige Körperverletzung<br />
wird.<br />
sonstige (nicht vom Täter bewirkte) Irrtümer<br />
– e.A.: unbeachtlich<br />
– m.E. vorzugswürdig: wie bei Täuschung (aber u.U.<br />
keine Kenntnis des Täters von Unwirksamkeit)<br />
Verfügungsberechtigung (grds. Rechtsgutsinhaber)<br />
kein Verbot der Einwilligung, insbesondere kein Verstoß gegen<br />
die guten Sitten §§ 228, 216<br />
• Handeln in Kenntnis der Einwilligung<br />
b) Mutmaßliche Einwilligung<br />
<br />
Zwei Konstellationen, in denen auch ohne Äußerung der Einwilligung<br />
für Regelfall davon ausgegangen werden kann, dass Rechtsgutsträger<br />
mit formal rechtsgutsberührender Handlung einverstanden ist:<br />
Handeln im fremden Interesse<br />
z.B.: Lebensrettende Operation bei<br />
einem Bewusstlosen<br />
Vorauss.: Handlung entspricht dem<br />
mutmaßlichen Willen, wobei (bekannter)<br />
entgegenstehender Wille<br />
nicht durch objektive Vernünftigkeit<br />
ersetzt werden kann. Wenn aber keine<br />
anderen Anhaltspunkte für mutmaßlichen<br />
Willen vorliegen, kann<br />
dieser aus dem objektiven Interesse<br />
abgeleitet werden.<br />
Handeln bei mangelndem Interesse<br />
z.B.: „Geldwechseln“ aus der offenen<br />
Kasse eines guten Freundes<br />
Vorauss.: Nur geringfügige oder<br />
ganz kurzzeitige Beeinträchtigungen<br />
geschützter Güter, so dass davon<br />
auszugehen ist, dass Berechtigter<br />
keine Einwände gegen die Handlung<br />
hätte.<br />
Aber: Auch zu erwartende “unvernünftige”<br />
Einwände sind beachtlich.<br />
Sonstige Grenzen wie bei der tatsächlichen Einwilligung: Dispositionsbefugnis,<br />
Einwilligungsfähigkeit, Grenze der §§216, 228 StGB.<br />
Für beide Fälle gilt: Die mutmaßliche Einwilligung ist subsidiär, d.h.<br />
– nicht erforderlich, wo tatsächlich eingewilligt wurde<br />
– unanwendbar, wenn entgegenstehender Wille bekannt ist<br />
– unwendbar, wo Einwilligung eingeholt werden könnte (zw. für<br />
Fälle mangelnden Interesses)<br />
Rechtsfolge: Rechtfertigung (wobei Fälle des mangelnden Interesse u.U.<br />
auch schon durch restriktive Auslegung des Tatbestandes ausgeschieden<br />
werden können)<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 46
c) Tatbestandsausschließendes Einverständnis<br />
<br />
<br />
Von rechtfertigender Einwilligung nach h.M. zu unterscheiden<br />
tatbestandsausschließende Wirkung bei Delikten, bei denen Tatbestand<br />
bereits begrifflich zwingend voraussetzt, dass gegen oder ohne<br />
Willen des Berechtigten gehandelt wird<br />
Bsp.: Auch eine Sachbeschädigung wird regelmäßig gegen den Willen des Betroffenen<br />
erfolgen – wenn er aber ausnahmsweise einmal damit „einverstanden“<br />
ist, ändert dies nichts daran, dass die Sache „kaputt“ und damit der objektive<br />
Tatbestand erfüllt ist.<br />
Dagegen setzen Tathandlungen wie das „Eindringen“ (beim Hausfriedensbruch,<br />
§ 123 StGB), das „Nötigen“ (vgl. § 240 StGB) oder die Wegnehmen<br />
(das als Gewahrsamsbruch definiert wird, vgl. § 242 StGB) begrifflich voraus,<br />
dass der Rechtsgutsträger nicht einverstanden ist.<br />
Von Einwilligung abweichende Voraussetzungen:<br />
• nach h.M. keine Erklärung des Einverständnisses erforderlich, sondern<br />
tatsächliches Vorliegen ausreichend<br />
• natürliche Willensfähigkeit ausreichend (keine Einsichtsfähigkeit/Verstandesreife<br />
erforderlich)<br />
Bsp.: D.h. es liegt auch keine Wegnahme i.S.d. § 242 StGB vor, wenn ein<br />
6-jähriges Kind gebeten wird, ob es dem Täter seinen Ball gibt, und dies<br />
gerne tut.<br />
• Willensmängel grundsätzlich unbeachtlich<br />
Bsp.: Auch wenn der Täter nur auf Grund der Täuschung, der Kaminkehrer<br />
zu sein, in die Wohnung gebeten wird, begeht er keinen Hausfriedensbruch.<br />
Beachte aber als Gegenbeispiel: Wenn (auch in Fällen der Täuschung)<br />
das Opfer nicht irrtumsbedingt „einverstanden“ ist, sondern sich nur<br />
„der sonst drohenden Gewalt widerwillig beugt“, liegt kein Einverständnis<br />
vor. So etwa, wenn der Täter unter Vortäuschung, als Polizist eine<br />
Haudurchsuchung durchzuführen, in die Wohnung drängt und das Opfer<br />
ihn nur gewähren lässt, ohne deswegen mit dem Vorgehen „einverstanden“<br />
zu sein.<br />
Klausurhinweise:<br />
Aufbaumäßig sollte das Problem des Einverständnisses immer bei<br />
dem Tatbestandsmerkmal geprüft werden, das ein Handeln gegen<br />
den Willen des Opfers voraussetzt.<br />
Nimmt der Täter irrig ein Einverständnis an, so führt dies zu einem<br />
vorsatzausschließenden Tatumstandsirrtum nach § 16 I 1 StGB<br />
(und nicht „nur“ zu einem sog. Erlaubnistatbestandsirrtum, vgl.<br />
dazu näher später).<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 47
7. Festnahmerecht nach § 127 I StPO<br />
§ 127 I StPO: 47 Vorläufige Festnahme<br />
(1) Wird jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der<br />
Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden<br />
kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterliche Anordnung vorläufig<br />
festzunehmen.<br />
<br />
<br />
Betroffenwerden auf frischer Tat<br />
• e.A.: dringender Tatverdacht genügt;<br />
arg.:<br />
∗<br />
∗<br />
auch sonst im Prozessrecht oft ausreichend<br />
Schutz des „Helfers“ vor Strafbarkeitsrisiko<br />
• a.A.: Tat muss tatsächlich begangen worden sein<br />
arg.:<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
Wortlaut<br />
keine unzumutbare Freiheitsbeeinträchtigung für „Nicht-<br />
Täter“<br />
„Risikoverteilung“ für Festhaltenden noch zumutbar, da Fehlvorstellung,<br />
eine Tat liege vor, über Irrtumsregeln (vgl. dazu<br />
später im <strong>Skript</strong>) angemessen berücksichtigt werden kann<br />
Rechtsfolge des § 127 I StPO: Festnahmerecht<br />
• Recht zum Festhalten ( Nötigung oder Freiheitsberaubung gerechtfertigt)<br />
• grds. kein Recht zu weitergehenden körperlichen Eingriffen<br />
• aber weitergehende Eingriffe u.U. nach § 32 StGB gerechtfertigt,<br />
wenn Festgehaltener sich wehrt und dabei (wegen § 127 StPO sei-<br />
nerseits nicht Notwehr üben kann und daher) rechtswidrig handelt<br />
[ Erfordernis einer „Schachtelprüfung“ der Rechtfertigungsgründe]<br />
8. Das Züchtigungsrecht<br />
<br />
<br />
Nach früher verbreiteter Ansicht auf Grundlage von Art. 6 II GG,<br />
§§ 1626 I, 1626a I, 1631 BGB a.F. elterliches Erziehungs- und Züchtigungsrecht<br />
angenommen, wenn<br />
• objektiv hinreichender Züchtigungsanlass vorliegt,<br />
• Züchtigung maßvoll ist,<br />
• angemessenes Verhältnis von Art und Maß der Züchtigung zu Verfehlung<br />
und Lebensalter des Kindes besteht, und<br />
• Handlung subjektiv von Erziehungswillen getragen ist.<br />
Zwei wichtige Gesetzesänderungen:<br />
• 1998: Änderung des § 1631 II BGB dahingehend, dass jede körperliche<br />
Misshandlung verboten wurde<br />
was zivilrechtlich ausdrücklich verboten ist, kann kaum gerechtfertigt<br />
sein; allerdings z.T. ähnliches Ergebnis über einschränkende<br />
Auslegung des Merkmals der „Misshandlung“ in §§ 223 I StGB,<br />
1631 II BGB<br />
• Ende 2000: Verbot jeder „körperlichen Bestrafung“:<br />
§ 1631 II BGB i.d.F. vom 2. November 2000<br />
Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung,<br />
seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.<br />
∗<br />
Konsequenzen noch nicht wirklich absehbar<br />
47 § 127 II StPO enthält dagegen eine Befugnisnorm für die Polizei.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 48
∗<br />
∗<br />
möglicherweise trotz § 1631 II BGB einschränkende Auslegung<br />
des § 223 StGB unter Gesichtspunkten der sozialen Adäquanz<br />
und der Geringfügigkeit<br />
außerdem natürlich „nicht-körperliche“ Strafen (Einsperren<br />
im Kinderzimmer [§ 239 StGB?] davon unberührt<br />
Züchtigungsrecht des Lehrers von heute h.M. abgelehnt.<br />
− Zacharias, Jura 1994, 207 ff.<br />
Vertiefende Hinweise:<br />
a) Lesenswerte Entscheidungen<br />
− BGH NJW 1979, 2053 (Dauergefahr als gegenwärtige Gefahr)<br />
− BGHSt 42, 97 (sozialethische Einschränkungen des Notwehrrechts)<br />
b) Aufsätze und Entscheidungsbesprechungen<br />
− Alwart, Zum Begriff der Notwehr, JuS 1996, 953 ff.<br />
− Duttge, Der Streit um die Gänsebrust – Selbsthilfe im Strafrecht, Jura<br />
1993, 416 ff.<br />
− Kühl, Notwehr und Nothilfe, JuS 1993, 177 ff.<br />
− Kühl, Sozialethische Einschränkungen der Notwehr, Jura 1990, 244 ff.;<br />
1991, 57 ff.; 157 ff.<br />
− Mitsch, Festnahme mit Todesfolge JuS 2000, 848 ff. (zu § 127 StPO)<br />
− Pawlik, Der Defensivnotstand, Jura 2002, 26 ff.<br />
− Rönnau, Die Einwilligung als Instrument der Freiheitsbetätigung -Zum<br />
Grundgedanken und Wirkung der Einwilligung im Strafrecht, Jura 2002,<br />
595 ff.<br />
− ders., Voraussetzungen und Grenzen der Einwilligung im Strafrecht,<br />
Jura 2002, 665 ff.<br />
c) Übungsfälle<br />
− Britz/Brück, JuS 1996, 229 ff.<br />
− Britz, JuS 2002, 465 ff.<br />
− Kudlich, JuS 1999, L 85 ff.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 49
1. Einführung und Überblick<br />
<br />
<br />
V. Die Schuld<br />
Schuld nach Verbrechensaufbau der h.M. als dritte Wertungsstufe nach<br />
Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit<br />
Unwerturteil über den Täter, d.h. rechtswidrige Tat wird ihm auch persönlich<br />
vorgeworfen.<br />
Inhalt des Schuldbegriffs Gegenstand erheblicher Wandlungen war der<br />
Geschichte<br />
19. Jahrhundert: Schuld als psychologischer Begriff bezeichnet subjektive<br />
Elemente (d.h. beim Vorsatzdelikt insbesondere den Vorsatz),<br />
während Unrecht rein objektiv bestimmt wird<br />
Beginn des 20. Jahrhunderts: Entwicklung des komplexen Schuldbegriffs<br />
(Vorsatz und Vorwerfbarkeit)<br />
Wegbereiter zum heute herrschenden normativen Schuldbegriff: (Frage<br />
nach „persönlicher Vorwerfbarkeit“)<br />
Moderne Ansätze: noch stärkere Anlehnung an präventive Funktion des<br />
Strafrechts<br />
schuldausschließend wirkt, was präventive Bestrafungsnotwendigkeit<br />
entfallen lässt<br />
• Bsp.: Der Entschuldigungsgrund des § 35 StGB (vgl. näher unten)<br />
greift ein, wenn der Täter einen anderen Menschen tötet, um sein Leben<br />
zu retten, auch ohne dass dieser den Täter angegriffen hat. Beispiel wäre<br />
der bekannte Fall des „Brett des Karneades“. Hier könnte man nun mit<br />
dem herrschenden, normativen Schuldbegriff darauf abstellen, dass in<br />
dieser extremen Situation das rechtswidrige Handeln dem Täter nicht<br />
persönlich zum Vorwurf gemacht werden soll. Ein auf den Präventionszweck<br />
abstellender Schuldbegriff würde argumentieren, dass zum einen<br />
ein Täter in einer solchen Extremposition durch strafrechtliche Verbote<br />
ohnehin kaum „ansprechbar“ ist;, zum anderen brauche er aber auch für<br />
die Zukunft gar nicht angesprochen werden, da aus der Bereitschaft zum<br />
rechtswidrigen Handeln in dieser Extremposition noch nicht der Schluss<br />
gezogen werden kann, dass dieser Täter auch in anderen Situationen so<br />
handeln würde.<br />
Vielzahl von (mehr oder weniger heterogenen) Gründen, aus denen die<br />
Schuld ausgeschlossen sein kann; grob unterteilbar in Fälle 48<br />
fehlender Schuldfähigkeit (vgl. §§ 19, 20 StGB; 3 StGB)<br />
v.a. alter- oder krankheitsbedingt: Täter ist nicht in der Lage sein<br />
Verhalten so zu steuern, dass es ihm persönlich vorgeworfen werden<br />
könnte<br />
fehlenden Unrechtsbewusstseins (vgl. insb. § 17 StGB)<br />
Irrtum, der dazu führt, dass Täter das Unrecht seines Handelns nicht<br />
erkennt<br />
der Entschuldigungsgründe (vgl. insb. §§ 33, 35 StGB)<br />
Fälle, in denen wegen Unrechtsminderung und außergewöhnlichen<br />
Motivationsdrucks dem Täter rechtswidriges Handeln nicht vorgeworfen<br />
werden kann<br />
•<br />
• Klausurhinweis:<br />
• Machen Sie sich insbesondere zu den Entschuldigungsgründen<br />
zwei weitere Konsequenzen bewusst, die davon abhängen,<br />
ob der Täter in einer bestimmten Situation (erst) entschuldigt oder<br />
(schon) gerechtfertigt ist:<br />
Gegen den gerechtfertigt handelnden Täter ist keine Notwehr<br />
möglich, weil er keinen rechtswidrigen Angriff verübt; gegen<br />
den nur entschuldigten Täter ist nach h.M. zumindest grds.<br />
Notwehr zulässig (wenngleich evt. nur abgestuft).<br />
An der nur entschuldigten Tat ist eine Teilnahme nach §§ 26,<br />
27 StGB möglich (lesen!), da diese nur eine vorsätzliche<br />
rechtswidrige, nicht aber eine schuldhafte Tat verlangen (vgl.<br />
auch § 29 StGB, sog. „limitierte Akzessorietät der Teilnahme“).<br />
Die Beteiligung an einer gerechtfertigten Tat ist straflos,<br />
wenn nicht eine mittelbare Täterschaft begründet werden kann.<br />
48 Dabei werden die beiden ersten Gruppen (fehlende Schuldfähigkeit und fehlendes Unrechtsbewusstsein)<br />
im Unterschied zu den Entschuldigungsgründen auch als Schuldausschließungsgründe<br />
bezeichnet.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 50
•<br />
<br />
Ohne Vorliegen von Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründen<br />
grds. „schuldhaftes Handeln“ unterstellt<br />
Rechtssystem arbeitet mit (der Lebenserfahrung entsprechender und<br />
für das Funktionieren des Rechts unabdingbarer) Prämisse des zumindest<br />
partiellen Indeterminismus<br />
2. Die Schuldfähigkeit<br />
a) Schuldunfähigkeit auf Grund mangelnder Reife<br />
„Unterstellung“ der Schuldfähigkeit (vgl. o.) erst ab einem Alter von 18<br />
Jahren<br />
drei verschiedene Altersstufen: 49<br />
Kinder, § 19 StGB: schuldunfähig, wer „bei Begehung der Tat noch nicht<br />
vierzehn Jahre alt ist.“<br />
Jugendliche, § 3 S.1 Jugendgerichtsgesetz (JGG): Jugendliche (d.h. nach<br />
§ 1 II JGG Personen zwischen 14 und 18 Jahren) nur strafrechtlich<br />
verantwortlich, wenn Täter „zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen<br />
und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen<br />
und nach dieser Einsicht zu handeln.“<br />
Schuldfähigkeit also nicht grds. unterstellt, sondern in jedem Fall<br />
positiv festzustellen<br />
Heranwachsende (vgl. § 1 II JGG 50 ) und Erwachsene: Schuldfähigkeit unterstellt,<br />
wenn kein Schuldausschließungsgrund nach § 20 StGB vorliegt<br />
b) Psychische Störungen (§§ 20, 21 StGB)<br />
<br />
Ausschluss der Schuldfähigkeit auf Grund von psychischen Störungen,<br />
§ 20 StGB<br />
verschiedene exogene und endogene (d.h. von außen herrührende – z.B.<br />
Folgen eines Unfalles mit Schädel-Hrin-Trauma – oder von innen<br />
herrührende) Ursachen genannt<br />
Fallgruppen: krankhafte seelische Störungen, tiefgreifende Bewusstseinsstörungen,<br />
Schwachsinn und schwere seelische Abartigkeiten<br />
Abgrenzung im Einzelnen praktisch schwierig<br />
Schuldausschluss setzt voraus, dass Täter entweder das Unrecht seiner<br />
Tat nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann (Unterscheidung<br />
zwischen mangelnder Einsichts- und mangelnder Steuerungsfähigkeit;<br />
gemischt biologisch-psychologische Methode)<br />
Detailkenntnisse für Ausbildung und Prüfung nicht erforderlich (und in<br />
Praxis regelmäßig von Sachverständigen beurteilt<br />
Rechtsfolge:<br />
wird in § 20 StGB gefordertes Maß erreicht, Schuldunfähigkeit des Täters<br />
keine Strafbarkeit (allerdings u.U. Maßregeln der Sicherung)<br />
bei Verminderung der Schuld unterhalb dieser Schwelle, Strafbarkeit, a-<br />
ber Strafmilderung nach § 21 StGB i.V.m. § 49 StGB möglich<br />
•<br />
49 Für sehr alte Menschen fehlt eine dem JGG vergleichbare Sonderregelung, obwohl auch<br />
hier altersbedingte Beeinträchtigungen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit öfters auftreten<br />
dürften als bei Erwachsenen mittleren Alters. Allerdings ist dies ein rein praktisches bzw.<br />
rechtspolitisches Problem: In der Klausur wird man es kaum einmal mit einem Fall zu tun<br />
bekommen, in dem man über die Schuldfähigkeit eines alten Menschen ohne ganz klare<br />
Anhaltspunkte spekulieren müsste.<br />
50 Selbst soweit auf Heranwachsende nach § 105 JGG Jugendstrafrecht angewandt wird, wird<br />
nicht § 3 JGG herangezogen, der in § 105 JGG gerade nicht erwähnt ist. M.a.W.: bei einem<br />
Heranwachsenden ist die Reife nie nach § 3 JGG positiv festzustellen, sondern er wird insoweit<br />
stets einem Erwachsenen gleichgestellt.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 51
Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 46<br />
B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />
Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit<br />
bei psychischen Störungen<br />
Krankhafte<br />
seelische<br />
Störungen<br />
Tiefgreifende<br />
Bewusstseinsstörungen<br />
führt zu<br />
Schwachsinn<br />
o Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen<br />
oder<br />
o Unfähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln<br />
Schwere<br />
seelische<br />
Abartigkeit<br />
<br />
Dankbare Folgeprobleme in der Klausur<br />
Strafbarkeit i.V.m. den Grundsätzen über die actio libera in causa (a.l.i.c.,<br />
vgl. dazu sogleich c)<br />
• Bsp.: A möchte O erschießen, verspürt aber gewissen Hemmungen.<br />
Um diese zu überwinden, „trinkt er sich Mut an“, um dann im<br />
schuldunfähigen Zustand zur Tat zu schreiten<br />
Strafbarkeit nach § 323a StGB,<br />
d.h. für das Betrinken als solches, wenn als objektive Bedingung der<br />
Strafbarkeit hinzukommt, dass der Täter im schuldunfähigen Zustand<br />
eine Straftat begeht, deretwegen er nur auf Grund der mangelnden<br />
Schuldfähigkeit nicht bestraft werden kann<br />
Strafbarkeit eines Hintermannes wegen Begehung der Tat in mittelbarer<br />
Täterschaft (schuldunfähiges „Werkzeug“ als sog. Tatmittler)<br />
•<br />
Gemischt biologisch-psychologische Methode<br />
Faustregel: Steuerungsverminderungen müssen<br />
„Krankheitswert“ haben<br />
•<br />
Sonderproblem: Schuldunfähigkeit infolge Alkoholgenusses / anderer Drogen<br />
<br />
Rauschzustände (durch Alkohol oder andere Rauschmittel) als tiefgreifende<br />
Bewusstseinsstörungen bzw. krankhafte seelische Störungen i.S.v.<br />
§§ 20, 21 StGB möglich<br />
„Grenzwerte“ (nicht schematisch anzuwenden, sondern nur Anhaltspunkt<br />
für den Regelfall!):<br />
§ 20 StGB: ca. ab 3 ‰ (bei schweren Straftaten eher höher)<br />
§ 21 StGB: ca. ab 2,0 ‰ (bei schweren Straftaten 2,2 ‰)<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 52
c) Die sogenannte actio libera in causa<br />
• aa) Ausgangspunkt und Überblick<br />
<br />
<br />
Straflosigkeit des Schuldunfähigen zumindest dann als „unbefriedigend“<br />
empfunden, wenn Täter sich bewusst in schuldunfähigen Zustand versetzt<br />
hat, um in diesem eine Straftat zu begehen<br />
Vgl. nochmals das Beispiel oben, in dem A sich „Mut antrinkt“, um dann im schuldunfähigen<br />
Zustand O zu erschießen.<br />
Entwicklung der Figur der „actio libera in causa“ (a.l.i.c. = Handlung, die<br />
in ihrem eigentlichen Grund [d.h. hier dem vorangehenden Sichberauschen]<br />
frei [d.h. nicht durch die Schuldunfähigkeit beeinflusst] ist) entwickelt<br />
Voraussetzungen:<br />
Vorsatz sowohl hinsichtlich des Sichberauschens als auch hinsichtlich der<br />
späteren Tat vorsätzliche a.l.i.c., Strafbarkeit wegen Vorsatzdelikts<br />
Zumindest Fahrlässigkeit hinsichtlich des Sichberauschens und der späteren<br />
Tat (aber eben nicht hinsichtlich beider vorsätzlich) fahrlässige<br />
a.l.i.c., Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeitsdelikts<br />
• •<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 48<br />
B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />
Die actio libera in causa<br />
- Überblick -<br />
Ausgangspunkt: Mehraktiges Geschehen, bei dem der schuldfähige Täter in<br />
der ersten Phase eine Ursache (z.B. sich Betrinken) für die eigentliche<br />
Tathandlung setzt, die er dann in der zweiten Phase im Zustand der<br />
Schuldunfähigkeit ausführt.<br />
1. HA<br />
2. HA<br />
Unterscheide<br />
•Vorsätzliche a.l.i.c.: Vorsatz hinsichtlich Berauschen und<br />
Rauschtat<br />
•Fahrlässige a.l.i.c.: Hinsichtlich Betrinken und/oder Rauschtat<br />
liegt nur Fahrlässigkeit vor<br />
•<br />
• bb) Modelle zur Begründung der vorsätzlichen a.l.i.c.<br />
Unbestritten gewisser „Gerechtigkeitsgehalt“ der Grundsätze zur a.l.i.c.,<br />
aber in Begründung problematisch, da unmittelbare Tatbestandsverwirklichung<br />
und Schuldfähigkeit auseinander fallen<br />
Durchbrechung des Koinzidenzprinzips<br />
•<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 53
Koinzidenzgrundsatz und Begründung der Ausnahme bei der a.l.i.c.<br />
•<br />
• Modell der grundsätzlich Problemsituation bei<br />
• erforderlichen Koinzidenz: der a.l.i.c.<br />
• Schuldfähigkeit<br />
•<br />
•<br />
•<br />
• Tatbegehung<br />
•<br />
•<br />
•<br />
Ausnahmemodell: a.l.i.c. als ungeschriebene, gewohnheitsrechtlich anerkannte<br />
Ausnahme zu § 20 StGB<br />
Kritik: mit Art. 103 II GG kaum vereinbar<br />
•<br />
• Schuldfähigkeit<br />
•<br />
•<br />
•<br />
• Tatbegehung<br />
•<br />
Schuldfähigkeit<br />
Schuldfähigkeit<br />
Betrinken Tatbegehung<br />
Vorverlegungstheorie (= Ausdehnungsmodell): auch Vorbereitungshandlungen<br />
bereits als Teil der „Tatbegehung“ i.S. des § 20 StGB und damit<br />
auch Versetzen in den Rausch erfasst<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 54
Kritik: warum sollte „Begehung der Tat“ in § 20 StGB abweichend<br />
von §§ 8, 16, 17 StGB zu verstehen sein?<br />
• Schuldfähigkeit<br />
•<br />
•<br />
• Vorbereitungshandlung als Teil<br />
der Tatbegehung<br />
• Klausurhinweis:<br />
• Würde man trotz dieser Bedenken einem der beiden erstgenannten<br />
Modelle folgen, müsste man die a.l.i.c. im Aufbau jeweils<br />
als „Annex“ zur Schuld prüfen und begründen, weswegen<br />
man eine Ausnahme von § 20 StGB bzw. eine dort abweichende<br />
Auslegung des Terminus „bei Begehung der Tat“ für angemessen<br />
hält. Auch wenn man die a.l.i.c. (generell oder nach einem dieser<br />
beiden Modelle) ablehnt, ist der Annex zur Schuld der Ort, an dem<br />
die a.l.i.c. das erste Mal in der Klausur anzusprechen ist.<br />
•<br />
•<br />
a.l.i.c. als Sonderfall der mittelbaren Täterschaft. Sichberauschen als Einwirkung<br />
auf sich selbst als später schuldlos handelndes Tatwerkzeug.<br />
Kritik: Bedenken mit Blick auf Art. 103 II GG, da Wortlaut des<br />
§ 25 I Alt. 2 StGB („durch einen anderen“) Nichtidentität von Tatmittler<br />
und Werkzeug voraussetzt; konsequenterweise keine tragfähige<br />
Begründung für a.l.i.c. bei eigenhändigen Delikten<br />
• Schuldfähigkeit<br />
•<br />
•<br />
•<br />
• Sichberauschen =<br />
Tatbegehung<br />
• Einsatz eines Werkzeugs<br />
durch Werkzeug<br />
•<br />
•<br />
Tatbestandlösung: Sich-Berauschen als Ingangsetzen der Kausalkette, an<br />
deren Ende Erfolg steht, und damit als erster Teil der Tathandlung<br />
Kritik: zwar mit Gesetzeswortlaut vereinbar, aber gewisse Friktionen<br />
mit sonst geltenden Grundsätzen der Tatbestandslehre, wonach<br />
Tathandlung sonst i.d.R. unmittelbare Verletzungshandlung ist; ferner<br />
konsequenterweise auf schlichte Tätigkeitsdelikte nicht anwendbar<br />
Beachte: Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten Tatbestandslösung möglich,<br />
aber auch über allgemeine Grundsätze der Fahrlässigkeitsdogmatik<br />
begründbar, wonach dort jedes kausale und pflichtwidrige Handeln<br />
als Tathandlung genügt<br />
• Schuldfähigkeit<br />
•<br />
•<br />
•<br />
• Sichberauschen =<br />
„unmittelbare“<br />
• erster Akt einer Kausalkette<br />
Tatbegehung<br />
•<br />
• Klausurhinweis:<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 55
• Folgt man einem der beiden letztgenannten Modelle,<br />
müsste die Prüfung unter einer neuen Überschrift mit einem neuen<br />
Bezugspunkt (= das Sichbetrinken) nochmals neu begonnen werden<br />
(wobei man natürlich hinsichtlich all der Punkte, die oben<br />
dann schon behandelt wurden, vielfach verweisen kann).<br />
•<br />
•<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 52<br />
B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />
• Eine wirklich saubere Diskussion des a.l.i.c.-Problems<br />
würde also grob beschrieben so aussehen (wobei als Bsp.<br />
§ 212 StGB gewählt und davon ausgegangen wird, dass – allenfalls<br />
– die Tatbestandslösung tragfähig ist):<br />
• 1. § 212 StGB durch den Schuss<br />
TB (+)<br />
RW (+)<br />
Schuld: § 20 an sich (-), aber evt. unbeachtlich, wenn über<br />
Figur der a.l.i.c.<br />
•<br />
•<br />
Ausdehnungsmodell<br />
straflose<br />
Vorbereitung<br />
- Zusammenfassung -<br />
Für die Schuldfähigkeit “ bei Begehung der Tat” gem.<br />
§ 20 StGB ist als Bezugspunkt ausreichend<br />
Tatbestandsmodell und<br />
Modell der mittelbaren.<br />
Täterschaft<br />
Versuch<br />
Vollendung<br />
Ausnahmemodell<br />
Beendigung<br />
Mit Blick auf Art. 103 II GG erscheint allein die Tatbestandslösung mit<br />
§ 20 StGB vereinbar. Auch Sie ist zwar nicht frei von Bedenken, kann<br />
aber bei vorsätzlichen Erfolgsdelikten in der Klausur durchaus<br />
herangezogen werden<br />
Bei schlichten Tätigkeitsdelikten ist eine a.l.i.c. nicht begründbar<br />
Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten ist eine a.l.i.c. nicht erforderlich<br />
• * Ausnahme von § 20 StGB: (-), Art. 103 II GG<br />
• * Schuldfähigkeit z.Z. der Vorbereitung genügt: (-),<br />
einheitliche Auslegung in §§ 16, 17, 20 StGB<br />
•<br />
• 2. § 212 (i.V.m. § 25 I Alt. 2 StGB) durch das Sichbetrinken<br />
TB: Sichbetrinken als Tathandlung<br />
• * als Einwirken auf mittelbaren Täter: (-), § 25 I<br />
Alt. 2 StGB verlangt „anderen“<br />
• * als erster Akt in Kausalkette: möglich, wenn übrige<br />
Voraussetzungen vorliegen<br />
• Gerade weil als Tathandlung dann ein so weit „vorne“<br />
liegender Akt untersucht wird, sind im Folgenden die Punkte „objektive<br />
Zurechnung“ zu diesem 1. Akt und „Irrtum über den Kausalverlauf“<br />
besonders streng zu prüfen, wenn es zu Abweichungen<br />
vom vorgestellten Kausalverlauf kommt.<br />
•<br />
• Klausurhinweis:<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 56
• Vertiefende Hinweise:<br />
• a) Lesenswerte Entscheidungen<br />
− BGHSt 42, 235 (Leitentscheidung zur neueren Rechtsprechung zur<br />
a.l.i.c.)<br />
• b) Aufsätze<br />
− Jerouscheck, Die Rechtsfigur der actio libera in causa: Allgemeines Zurechnungsprinzip<br />
oder verfassungswidrige Strafbarkeitskonstruktion?<br />
JuS 1997, 385 ff. (Stand noch vor BGHSt 42, 235!)<br />
− Kudlich/Spielbauer, Alkohol, a.l.i.c. und andere kleine Sünden,<br />
L&L 1998, 52 ff.<br />
− Otto, BGHSt 42, 235 und die actio libera in causa, Jura 1999, 217 ff.<br />
− Rönnau, Grundstruktur und Erscheinungsformen der actio libera in causa,<br />
JA 1997, 599 ff.<br />
− ders.: Dogmatisch-konstruktive Lösungsmodelle zur actio libera in causa,<br />
JA 1997, 707 ff.<br />
• c) Fälle mit Schwerpunkten bei der a.l.i.c.<br />
− Bohnert, Jura 1996, 38 ff. (Stand noch vor BGHSt 42, 235!)<br />
Spezifische Probleme des Unrechtsbewusstseins, wenn Täter (zwar alle<br />
tatsächlichen Umstände erkennt, aber) auf Grund einer falschen rechtlichen Bewertung<br />
nicht weiß, dass er Unrecht tut<br />
fehlendes Unrechtsbewusstsein und Abgrenzungsfragen eng mit Irrtumslehre<br />
verbunden: vgl. Darstellung später / weiter unten in Vorlesung<br />
/<strong>Skript</strong><br />
•<br />
3. Das Unrechtsbewusstsein<br />
<br />
<br />
Möglicher Schuldausschließungsgrund bei fehlendem Unrechtsbewusstsein<br />
( Unrechtsbewusstsein nicht als notwendige Voraussetzung des<br />
[Tatbestands-] Vorsatzes<br />
Beachte: Natürlich fehlt die Schuld letztlich „auch“, wenn der Täter schon tatsächlich nicht vollständig<br />
erfasst, was er tut, und daher vorsatzlos handelt. Man denke an den Beispielsfall, in<br />
dem jemand Schießübungen auf eine Regentonne macht, ohne zu wissen, dass sich ein Kind darin<br />
versteckt. Natürlich hat er in diesem Moment – weil er nicht damit rechnet, jemanden zu verletzen<br />
– auch kein Unrechtsbewusstsein; aber in der Prüfung anhand des Schemas kommt man<br />
zu dieser Frage nicht, weil der Täter schon i.S.d. § 16 I 1 StGB Umstände nicht kennt, die<br />
zum Tatbestand gehören („Töten eines Menschen“) und somit nicht mit Tötungsvorsatz handelt.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 57
4. Der entschuldigende Notstand<br />
<br />
Anders als bei Schuldunfähigkeit oder fehlendem Unrechtsbewusstsein<br />
Grund für Schuldausschluss weniger in Person bzw. inneren Einstellung<br />
des Täters, sondern (ähnlich wie bei Rechtfertigungsgründen) in äußeren<br />
Umständen wurzelnd<br />
a) Einordnung und Abgrenzung<br />
<br />
„Sachgründe“ für Ausschluss der Schuld:<br />
Unrecht der Tat (zwar nicht ausgeschlossen, aber) gemindert, da hochrangiges<br />
Erhaltungsgut gerettet wird<br />
Schuld gemindert, weil Täter angesichts existentieller Bedrohung in besonderen<br />
Konfliktlage ist 51<br />
b) Notstandslage<br />
<br />
Notstandsfähige Rechtsgüter nach § 35 StGB:<br />
nur abschließend aufgezählte hochstehende Rechtsgüter<br />
Leben<br />
Leib (d.h. die körperliche Unversehrtheit, wobei gewisse Erheblichkeitsschwelle<br />
erreicht sein muss)<br />
Freiheit (nach h.M. nur körperliche Fortbewegungsfreiheit)<br />
nur Rechtsgüter des Täters selbst oder der in § 35 StGB genannten Sympathiepersonen<br />
(Angehörige [legaldefiniert in § 11 I Nr. 1a StGB – lesen!]<br />
und andere dem Täter nahestehende Personen)<br />
anders als bei § 34 StGB keine uneingeschränkte Notstandshilfe!<br />
• Bsp. für sonstige nahestehende Personen sind etwa der nichteheliche<br />
Lebenspartner52 oder ein sonstiger in häuslicher Gemeinschaft le-<br />
51 Auch für den Täter in der Situation des § 35 StGB fehlt es außerdem – wie einleitend zur<br />
Schuld bereits erläutert – an der „präventiven Bestrafungsnotwendigkeit“ (was entscheidend<br />
ist, wenn man mit modernen Ansätzen den Schuldbegriff in funktionaler Weise für die präventiven<br />
Strafzwecke versteht): Wer in einer unter § 35 StGB subsumierbaren Situation<br />
Unrecht tut, muss dies nicht zwangsläufig auch unter normalen Umständen tun. Seine Bestrafung<br />
zu Präventionszwecken ist daher nicht unverzichtbar.<br />
<br />
bender53 enger Bekannter; nicht ohne Weiteres alle “guten Freunde“;<br />
regelmäßig nicht einfache Arbeitskollegen.<br />
Gegenwärtige Gefahr<br />
Begriff ähnlich wie in § 34 StGB, d.h. objektives ex-ante-Urteil<br />
ebenso wie bei § 34 StGB auch Dauergefahr ausreichend<br />
c) Notstandshandlung<br />
<br />
<br />
Erforderlichkeit der Rettungshandlung („nicht anders abwendbar”)<br />
geeignetes und relativ mildestes Mittels<br />
gewisse Risiken beim Einsatz zumutbar, da immerhin in nicht notwendig<br />
„überwogene“ Güter eines nicht für die Gefahr Verantwortlichen<br />
eingegriffen werden darf<br />
das Fehlen von Gefahrtragungspflichten nach § 35 I 2 StGB, insbesondere aus<br />
Verursachung der Gefahr durch den Täter 54 (ohne zureichenden Grund)<br />
• Im „Brett des Karneades“-Fall hat der Schiffsbrüchige, der den<br />
anderen von der Planke stoßen möchte, das Kentern des Schiffes durch<br />
ein unnötiges und riskantes Manöver selbst herbeigeführt.<br />
(institutionelle) Gefahrtragungspflicht des Täters, z.B.<br />
beruflich (Polizisten, Feuerwehrleuten)<br />
gesetzliche Duldungspflichten (z.B. gegenüber staatlichen Zwangsmaßnahmen<br />
nach der StPO, auch wenn man nicht tatsächlich<br />
schuldig, sondern nur verdächtig ist)<br />
Vorliegen einer Obhutsgarantenstellung (z.B. der eines Kindermädchens<br />
gegenüber dem betreuten Kind)<br />
52 Beachte: der eingetragene Lebenspartner einer homosexuellen Beziehung ist seit 2001<br />
bereits von der Legaldefinition des § 11 I Nr. 1a StGB erfasst.<br />
53 Darauf etwa abstellend Lackner/Kühl, § 35 Rn. 4.<br />
54 In den Fällen zulässiger Notstandshilfe ist umstritten, ob es auf die Gefahrschaffung durch<br />
den Täter oder durch den Nothilfebegünstigten ankommt. M.E. müssten beide Fälle zur Anwendung<br />
von § 35 I 2 StGB führen, wenn man voraussetzt, dass die Entschuldigung nur<br />
durch die Kombination aus Schutz des hochrangigen Gutes und der besonderen Motivationslage<br />
des Täters legitimiert wird. Denn im einen Fall ist das Gut des Nothilfebegünstigten, der<br />
die Gefahr verursacht hat, weniger schutzwürdig; im anderen Fall die Motivation des Notstandshelfers,<br />
der sie verursacht hat, weniger beachtlich.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 58
krasser Disproportionalität („Unangemessenheit“, v.a. vorstellbar, wenn<br />
„nur“ Freiheit oder körperliche Unversehrtheit in nicht zu schwerwiegendem<br />
Maße betroffen sind)<br />
„subjektives Entschuldigungselement“: Kenntnis von entschuldigenden Umständen<br />
(sowie – str. –Handeln zumindest auch in Rettungsabsicht, welches<br />
freilich bei dieser Kenntnis praktisch immer vorliegen wird)<br />
Zusammenfassender Überblick: Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei<br />
rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand<br />
•<br />
•<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 55<br />
B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />
Notstandslage:<br />
Notstandshandlung:<br />
5. Der Notwehrexzess, § 33 StGB<br />
Voraussetzungen von § 34 StGB und § 35 StGB<br />
§34 §35<br />
Beliebiges Rechtsgut Abschließend aufgezählte<br />
hochrangige Rechtsgüter<br />
des Täters oder des Täters oder einer<br />
eines Dritten<br />
Sympathieperson<br />
Gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr<br />
Erforderlichkeit der Handlung (“nicht anders abwendbar”)<br />
wesentliches Überwiegen<br />
des geretteten Gutes<br />
Angemessenheit<br />
keine Unverhältnismäßigkeit,<br />
§35 I 2 StGB<br />
keine zumutbare Hinnahme der<br />
Gefahr<br />
Zur Abwehr der Gefahr (und mit Rettungswillen)<br />
<br />
<br />
Vorliegen einer Notwehrlage<br />
Unstreitig: bei Vorliegen einer wirklichen (vollständigen) Notwehrlage,<br />
in der nur Grenzen der Erforderlichkeit überschritten werden (sog. intensiver<br />
Notwehrexzess)<br />
str.: extensiver Notwehrexzess, d.h. Situation, in der „ein Angriff nicht,<br />
noch nicht oder nicht mehr vorliegt“ 55<br />
e.A.: generelle Anwendung des § 33 StGB auf auf evtensive Notwehrexzesse<br />
a.A. (wohl h.M.): grds. nur Anwendbarkeit bei intensiven Exzessen<br />
arg.: gerade keine Notwehr, deren Grenzen überschritten werden<br />
könnten; angemessene Lösung dieser Fälle über Regelungen<br />
des Erlaubnistatbestandsirrtums (vgl. u.)<br />
vermittelnde Ansicht: außer bei intensivem auch bei „nachzeitigextensiven<br />
Notwehrexzess“ anwendbar, also in Situation, in der<br />
vorher bestandene Notwehrlage beendet ist, Angegriffener dies<br />
aber aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken nicht zutreffend<br />
wahrnimmt;<br />
arg.: ähnliche Motivationslage; immerhin ursprünglich Notwehr<br />
vorhanden, die überschritten werden konnte<br />
• Bsp.: A wird von X mit einem Messer angegriffen und es gelingt ihm, X zu Boden<br />
zu stoßen; um X endgültig kampfunfähig zu machen, schlägt er ihm noch auf<br />
dem Boden einen Holzknüppel auf den Kopf, obwohl der an sich körperlich unterlegene<br />
X in dieser Lage den ohnehin nicht mehr hätte angreifen können, was A a-<br />
ber in seiner Panik nicht wahrnahm. Ob man hier ein Fortdauern eines abgeschwächten<br />
Angriffs und daher ein Überschreiten der Grenzen der Erforderlichkeit<br />
oder bereits die endgültige Abwehr des Angriffs und daher einen nachzeitigextensiven<br />
Notwehrexzess annehmen sollte, ist kaum trennscharf zu begründen. Jedenfalls<br />
aber liegen beide Situationen so eng beisammen, dass eine unterschiedliche<br />
Behandlung nur schwer zu rechtfertigen ist.<br />
•<br />
Überschreiten der Grenzen der Notwehr (im eben skizzierten Sinne) aus<br />
Verwirrung,<br />
Furcht oder<br />
<br />
Zweite wichtiger im StGB geregelter Entschuldigungsgrund<br />
55 Vgl. Lackner/Kühl, § 33 Rn. 2.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 59
Schrecken (sog. asthenische Affekte)<br />
Einschränkung des § 33 StGB in neuerer Rechtsprechung<br />
jedenfalls keine Anwendung, wenn Täter die Notwehrlage mit verursacht<br />
hat, weil er sich planmäßig und unter Umgehung möglicher polizeilicher<br />
Hilfe auf Auseinandersetzung eingelassen hat<br />
arg.: „eigentliche“ Ursache für Überschreitung liegt nicht in „asthenischen<br />
Affekten“ des § 33 StGB, sondern in „sthenischen Affekten“<br />
wie Wut und Kampfeslust 56<br />
Kritik: § 33 StGB kennt – anders als etwa ausdrückliche Regelung in<br />
§ 35 I 2 StGB – keinen Vorbehalt für verschuldete Notlagen kennt <br />
Begrenzungen mit Blick auf Art. 103 II GG nicht unbedenklich 57<br />
6. Der übergesetzliche Notstand<br />
<br />
<br />
Nach h.L. über §§ 33, 35 StGB hinaus übergesetzlicher entschuldigender<br />
Notstand möglich<br />
Voraussetzung: erhebliche, nicht anders behebbare Notlage sein ( insoweit<br />
wie §§ 34, 35 StGB), in der aber<br />
weder Täter oder Sympathieperson gerettet werden ( daher nicht<br />
§ 35 StGB)<br />
noch Überwiegen des geretteten Interesses angenommen werden kann<br />
( daher § 34 StGB, vgl. insbesondere generelles Verbot der Abwägung<br />
„Leben gegen Leben“)<br />
• Bspe.:<br />
• (1) Ein Taxi wird entführt und der Fahrer überwältigt. Der Entführer fährt<br />
mit 2 Fahrgästen im Auto auf eine Menschenmenge zu, die auf den Auftritt eines<br />
bekannten Politikers wartet. Bei einem Zusammenstoß drohen viele Menschen getötet<br />
und verletzt zu werden. Die einzige Möglichkeit einer Rettung kurz vor dem Zusammenstoß<br />
besteht für die Sicherheitskräfte darin, das Taxi wenige Meter vor der<br />
Menschenmenge mit einem gepanzerten Einsatzfahrzeug gegen eine Betonmauer zu<br />
56 Vgl. BGHSt 39, 133, 139.<br />
57 Krit. auch die überwiegende Ansicht in der Literatur, vgl. nur Lackner/Kühl, § 33 Rn. 4<br />
m.w.N.<br />
drängen. Dies wird gemacht, wodurch der Entführer und die zwei Fahrgäste zu<br />
Tode kommen, aber viele Personen in der Menschenmenge gerettet werden.<br />
• Da § 34 StGB weder die Abwägung „viele gegen wenige Leben“ zulässt<br />
noch entscheidend berücksichtigt, dass die geretteten Leben noch mit Sicherheit<br />
länger dauern werden, während die geopferten auch bei anderweitigem Verlauf in<br />
erheblicher Gefahr gewesen wären, scheidet eine Rechtfertigung aus. Wenn der<br />
Fahrer des Einsatzfahrzeuges in der Menschenmenge keine Angehörigen zu retten<br />
hat, kann er sich auch nicht auf § 35 StGB berufen. Dennoch kann ihm die Lebensverkürzung<br />
der Fahrgäste nicht vorgeworfen werden, wenn er sich in dieser Konfliktlage<br />
zu einer Rettung der Vielzahl anderer Personen entscheidet.<br />
•<br />
• Exkurs: Noch spektakulärere und vor allem hinsichtlich der<br />
Bedrohungslage realistischere Beispiele ließen sich mit entführten<br />
Flugzeugen bilden. Mit dem am 24.09.2004 beschlossenen Luftsicherheitsgesetz<br />
wird hierzu aber in § 14 III festgestellt, dass die „ unmittelbare<br />
Einwirkung mit Waffengewalt (…) zulässig“ ist, „wenn nach<br />
den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das<br />
Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel<br />
zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist.“ Für den Spezialfall des<br />
Luftverkehrs wurde also ein – in die gängige Dogmatik nur schwer zu<br />
integrierender – Rechtfertigungsgrund geschaffen. 58<br />
•<br />
• (2) Wie Bsp. (1), nur dass das Taxi auf einen Bürgersteig abgedrängt werden<br />
kann, so dass zwar die Insassen schwer verletzt überleben, aber zwei alte Fußgänger<br />
überfahren werden.<br />
• Die Lösung sieht auf den ersten Blick ähnlich aus wie in Bsp. (1). Allerdings<br />
ist sie nicht ganz so eindeutig (m.E. aber im Ergebnis dennoch ebenso vertretbar),<br />
da immerhin die Gefahr auf bisher völlig unbeteiligte und auch nicht gefährdete<br />
Personen „umgeleitet“ wird.<br />
• (3) Bei einem Krankenhausbrand können von der Intensivstation entweder<br />
nur noch ein 82-jähriger, im Sterben liegender Patient oder zwei 8-jähige Zwillinge<br />
vom Personal gerettet werden, die nach aller Wahrscheinlichkeit nach einer Opera-<br />
58 Vgl. dazu Pawlik, JZ 2004, 1045 ff.; Sinn, NStZ 2004, 585 ff.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 60
tion in wenigen Wochen völlig gesund sein werden und ein langes und glückliches<br />
Leben vor sich haben. Das Personal entscheidet sich für die Kinder.<br />
• Auch hier greift zwar § 34 StGB nicht ein (keine Abwägung zwei gegen<br />
eines / altes gegen krankes / junges gegen altes Leben). Dennoch muss man hier<br />
nicht auf den übergesetzlichen Notstand zurückgreifen, da den Tätern „nur“ ein<br />
Unterlassen (nämlich die Nichtrettung des alten Patienten) vorgeworfen werden<br />
kann. Hierbei anerkennt die h.M. eine rechtfertigende Pflichtenkollision, wenn der<br />
Unterlassungstäter physisch-real nur eine von zwei Rettungspflichten erfüllen kann<br />
(vgl. dazu näher später bei den Unterlassungsdelikten).<br />
7. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens<br />
<br />
<br />
Als allgemeines Prinzip – mit Blick auf den hinter § 35 StGB und dem<br />
übergesetzlichen entschuldigenden Notstand stehenden Gedanken – diskutiert,<br />
wenn Täter rechtstreues Verhalten nicht zumutbar ist und deswegen<br />
auch nicht vorgeworfen werden kann<br />
Von h.M. aber zu Recht als zu vage für das vorsätzliche Begehungsdelikt<br />
grds. abgelehnt<br />
•<br />
• Vertiefende Hinweise:<br />
• a) Lesenswerte Entscheidungen<br />
− BGHSt 39, 133 (zu § 33 StGB)<br />
• b) Aufsätze<br />
− Koriath, Zum entschuldigenden Notstand, JA 1998, 250 ff.<br />
− Müller-Christmann, Überschreiten der Notwehr, JuS 1994, 649 ff.<br />
− Timpe, Grundfälle zum entschuldigenden Notstand (§ 35 I StGB) und<br />
zum Notwehrexzeß (§ 33 StGB), JuS 1985, 117 ff.<br />
8. Die Irrtumslehre<br />
a) Begriff und Einordnung<br />
<br />
Begriff des „Irrtums“: Fehlvorstellung des Täters, d.h. Abweichen seiner<br />
Einschätzung von „der Realität“ (i.w.S.)<br />
Unterscheidung möglicher „Fehlvorstellungen“ nach verschiedenen Kriterien:<br />
„Wirk-Richtung“ des Irrtums<br />
„zu Gunsten“ des Täters (d.h. Vorstellung strafrechtlich günstiger als<br />
Realität)<br />
Irrtumslehre, vgl. im Folgenden<br />
„zu Ungunsten“ des Täters (d.h. Vorstellung strafrechtlich ungünstiger<br />
als Realität)<br />
u.U. Bedeutung für Versuchsstrafbarkeit, vgl. später in Vorlesung<br />
/ unten im <strong>Skript</strong><br />
Gegenstand der Fehlvorstellung<br />
„tatsächlicher Bereich“ (Täter nimmt bestimmten Sachverhalt abweichend<br />
von Realität wahr)<br />
meist vorsatzrelevant, vgl. im Einzelnen unten<br />
„rechtlicher Bereich“ / falsche rechtliche Wertung (Täter beurteilt Situation<br />
strafrechtlich anders, als sie nach der Rechtsordnung ist)<br />
meist nicht vorsatzrelevant<br />
Ansiedlung der vom Irrtum betroffenen Stufe im Deliktsaufbau (tatbestands-,<br />
rechtswidrigkeits- oder schuldrelevante Irrtümer)<br />
•<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 61
Dr. Hans Kudlich Präsentationen Strafrecht I (Vorlesung und Kleingruppe) p. 6<br />
B. Das vorsätzliche vollendete Begehungsdelikt<br />
strafloser „Gebrauchsdiebstahl“ sei, da das Erfordernis der Zueignungsabsicht<br />
in solchen Fällen nicht erfüllt sei.<br />
Tatbestand<br />
Rechtswidrigkeit<br />
- Überblick zu den Irrtumsarten -<br />
Irrtümer über Tatsachen<br />
1 Tatumstandsirrtum 2<br />
(Tatbestandsirrtum)<br />
4<br />
Erlaubnissachverhaltsirrtum<br />
(Erlaubnistatbestandsirrtum)<br />
3<br />
I rrtüm er über N orm en<br />
Direkter<br />
Verbotsirrtum<br />
Erlaubnisirrtum<br />
(Erlaubnisgrund- und<br />
Erlaubnisnormirrtum<br />
oder indirekter<br />
Verbotsirrtum)<br />
<br />
Anforderungen an ausreichendes Unrechtsbewusstsein: Täter muss<br />
wissen, dass es sich um rechtliches Verbot handelt (und nicht nur um Moralwidrigkeit<br />
oder wie im Bsp. oben „ökologische Sünde“)<br />
nicht wissen, dass es sich um strafrechtliches Verbot handelt<br />
• Im Bsp. des Flussverschmutzers würde also kein Verbotsirrtum<br />
vorliegen, wenn der Täter irrtümlich denkt, sein Handeln sei „nur“ eine<br />
Ordnungswidrigkeit.<br />
•<br />
Schuld<br />
5<br />
Entschuldigungsnormirrtum<br />
Entschuldigungssachverhaltsirrtum<br />
6<br />
<br />
Rechtsfolge des Verbotsirrtums:<br />
bei Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums (strenge Anforderungen, im<br />
Bereich des Kernstrafrechts selten): Handeln ohne Schuld,<br />
§ 17 S. 1 StGB<br />
bei Vermeidbarkeit: Möglichkeit der Strafmilderung nach § 17 S. 2 StGB<br />
•<br />
<br />
Irrtum im tatsächlichen Bereich auf Ebene des Tatbestandes (Variante [1]): es<br />
ist dies der Tatbestands- oder Tatumstandsirrtum nach § 16 I 1 StGB, vgl.<br />
näher bereits oben<br />
b) Der (direkte) Verbotsirrtum, § 17 StGB [2]<br />
<br />
Irrtum im rechtlichen Bereich auf Ebene des Tatbestandes: Täter fehlt Einsicht,<br />
Unrecht zu tun, weil er rechtliches Verbot<br />
nicht kennt<br />
• Bsp.: Der Täter kann sich nicht vorstellen, dass die Verschmutzung<br />
eines Flusses (vgl. § 324 StGB) tatsächlich nicht nur ökologisch bedenklich,<br />
sondern rechtlich verboten ist.<br />
fälschlich für unwirksam hält<br />
in seinen Grenzen verkennt<br />
• Bsp.: Der Täter geht davon aus, dass das Entwenden eines Sparbuchs,<br />
um dieses nach dem „Abräumen“ wieder zurückzugeben, nur ein<br />
c) Der „indirekte Verbotsirrtum“ oder Erlaubnisirrtum [3]<br />
<br />
Irrtum im rechtlichen Bereich auf Ebene der Rechtswidrigkeit: Täter fehlt<br />
Einsicht, Unrecht zu tun, weil er (in Kenntnis des grundsätzlichen rechtlichen<br />
Verbots der tatbestandsmäßigen Handlung)<br />
irrig Existenz eines von der Rechtsordnung nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes<br />
annimmt<br />
• Bsp.: Hausmeister H ist der Ansicht, die Kinder würden zu laut<br />
spielen. Er geht fest davon aus, dass er – ähnlich wie Eltern und Lehrer 59<br />
- ein „hausmeisterliches Züchtigungsrecht“ habe und den Kindern ungestraft<br />
ein paar saftige Ohrfeigen verpassen dürfe.<br />
der rechtlichen Grenzen eines an sich anerkannten Rechtfertigungsgrundes<br />
zu seinen Gunsten überdehnt<br />
• Bsp.: Rentner R geht davon aus, dass das Notwehrrecht in jeder<br />
Hinsicht unbeschränkte Eingriffe in die Rechtsgüter des Angreifers zulasse<br />
und schießt mit seiner Schrotflinte zwei 8-jährige Jungen aus seinem<br />
59 Dazu, dass zweiteres heute überwiegend abgelehnt wird und auch ersteres inzwischen<br />
problematisch ist, vgl. nochmals oben im <strong>Skript</strong> bei den Rechtfertigungsgründen.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 62
Kirschbaum, obwohl es völlig genügt hätte, wenn er zu dem Baum gegangen<br />
und einige erste Worte gesprochen hätte.<br />
Rechtsfolge des Erlaubnisirrtums: wie beim Verbotsirrtum abhängig von<br />
Vermeidbarkeit (unmittelbare Anwendung des nach seinem Wortlaut auch<br />
den Erlaubnisirrtum erfassenden § 17 StGB)<br />
d) Der Erlaubnistatbestandsirrtum [4]<br />
<br />
<br />
<br />
Wohl meist diskutierter und heftigst umstrittener (mittlerweile im Ergebnis<br />
aber dennoch weitgehend einheitlich behandelter) Irrtumsfall<br />
Irrtum im tatsächlichen Bereich auf Ebene der Rechtswidrigkeit: Täter fehlt<br />
Einsicht, Unrecht zu tun, weil er sich irrtümlich (tatsächliche) Umstände<br />
vorstellt, bei deren Vorliegen er gerechtfertigt wäre<br />
Bspe.:<br />
(1) A geht durch den Wald und sieht dort, wie die F von dem kräftigen M brutal hinter sich<br />
her gezerrt wird. A denkt, durch beherztes Eingreifen in Form einer Nothilfe eine Entführung<br />
oder Schlimmeres verhindern zu können und schlägt M mit einem Knüppel nieder – dies sehr<br />
zum Unwillen von Regisseur R und dem gesamten Filmteam, das mit den Schauspielern M und<br />
F gerade einen Krimi dreht.<br />
(2) A und N stehen schon lange im Gespräch, ob ein auf N’s Grundstück stehender Baum gefällt<br />
werden darf, der A das Licht nimmt. Als N im Urlaub ist, kommt N’s Sohn S, der seinem<br />
„spießigen Vater und dem dämlichen Nachbarn eins auswischen will“, zu A und berichtet<br />
wahrheitswidrig, N habe es sich überlegt und A dürfe den Baum fällen. Er solle nur allen<br />
Schmutz beseitigt haben, bis N aus dem Urlaub zurück komme. A glaubt an eine Einwilligung<br />
des N und fällt den Baum.<br />
Lösungsgesichtspunkte und (historische) Extrempositionen zur Behandlung<br />
einerseits § 16 I 1 StGB, der sich auf den Tatbestand bezieht, nicht unmittelbar<br />
einschlägig, weil Rechtfertigungsebene betroffen;<br />
anders aber die alte Vorsatztheorie, die im Unrechtsbewusstsein Bestandteil<br />
des Vorsatzes sah (konsequent wohl auch für Anhänger eines<br />
zweistufigen Deliktsaufbaus mit „Gesamtunrechtstatbestand“)<br />
<br />
andererseits auch § 17 StGB nicht wirklich passend, da dieser falsche rechtliche<br />
Bewertungen, nicht Irrtümer im tatsächlichen Bereich vor Augen hat; 60<br />
anders aber die strenge Schuldtheorie, die fehlende Unrechtseinsicht generell<br />
dem Bereich der Schuld zuordnet<br />
Konsequenz und Lösung nach h.M.<br />
Täter im Erlaubnistatbestandsirrtum steht – genau wie der im Tatumstandsirrtum<br />
und anders der im (direkten oder indirekten) Verbotsirrtum<br />
– mit rechtlichen Bewertungen in Übereinstimmung mit und ist<br />
daher „an sich rechtstreu“<br />
[Oder plastischer (aber nicht zitierfähig in der Klausur!): Der Täter im<br />
Erlaubnistatbestandsirrtum ist kein „Schwein“, sondern nur ein „Schussel“ (dagegen<br />
der Täter im Erlaubnisirrtum kein „Schussel“, sondern ein „Schwein“).]<br />
nach heute h.M.– mit Unterschieden im Detail und in der Begründung,<br />
aber im Ergebnis weitgehend übereinstimmend – daher Strafbarkeit<br />
unter Rückgriff auf § 16 I 1 StGB abzulehnen (Spielarten der eingeschränkten<br />
Schuldtheorie) 61<br />
z.T.: analog § 16 I 1 StGB Entfallen des Vorsatzes<br />
z.T. analog § 16 I 1 StGB Entfallen der „Vorsatzschuld“<br />
zumindest wenn keine Teilnahmeprobleme bestehen, 62 m.E. möglich,<br />
nur festzustellen, dass „in entsprechender Anwendung von<br />
§ 16 I 1 StGB Vorsatz oder jedenfalls Vorsatzschuld“ entfallen 63<br />
60 Das legt zugegebenermaßen der Wortlaut nicht zwingend fest: Die dort genannte Einsicht,<br />
Unrecht zu tun, fehlt gerade auch dem Täter im Erlaubnistatbestandsirrtum. Das System der<br />
§§ 16, 17 StGB legt aber die Deutung nahe, dass sich § 16StGB auf tatsächliche Umstände,<br />
§ 17 StGB auf rechtliche Bewertungen bezieht.<br />
61 Vgl. zur Vertiefung etwa die Darstellung bei Roxin, <strong>AT</strong> I, § 14 Rn. 62 ff., 72, 75, der –<br />
selbst der eingeschränkten Schuldtheorie folgend und in analoger Anwendung von<br />
§ 16 I 1 StGB den Tatbestands verneinend – darlegt, dass nicht einmal in der Teilnahmefrage<br />
zwingend ein Unterschied bestehen muss: Zwar setzen §§ 26, 27 StGB eine rechtswidrige Tat<br />
voraus, so dass diejenigen, die nur die Vorsatzschuld entfallen lassen, „ungezwungener“<br />
begründen können, dass ein bösgläubiger Teilnehmer an einer solchen Tat strafbar ist. Allerdings<br />
könnte man, wenn die entstehenden Strafbarkeitslücken wirklich unerträglich erschienen,<br />
den „Vorsatz“-Begriff in der Teilnahmelehre dahingehend auslegen, dass nur der Vorsatz<br />
hinsichtlich der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale (und nicht des gesamten Unrechtstatbestandes)<br />
erforderlich ist.<br />
62 Vgl. nochmals Fn. 61.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 63
Prüfungsort 64<br />
verbreitete Empfehlung: im Schema auf Ebene der Schuld (da Problem<br />
erst verständlich ist, nachdem Rechtfertigungsstufe geprüft wurde)<br />
Alternativvorschlag: „Nachklapp“ zur Rechtswidrigkeitsstufe 65 – was zugegebenermaßen<br />
im Interesse einer „eleganten“ Darstellung dazu<br />
verleiten könnte, auch die Lösung dogmatisch an dieser Stelle zu suchen.<br />
•<br />
• Klausurhinweis:<br />
• Das heißt von der Anknüpfung her ganz konkret:<br />
Entweder man prüft die Rechtswidrigkeit; und nachdem man<br />
diese mangels Vorliegen einer objektiv rechtfertigenden Situation<br />
bejaht hat, fährt man etwa fort: „Fraglich ist jedoch, wie es<br />
sich auswirkt, dass A bei der Tat dachte, die F sei von M angegriffen<br />
worden ...“<br />
Oder man beendet die Rechtswidrigkeit und schreibt in der<br />
Schuld: „Fraglich ist jedoch, ob A mit Unrechtsbewusstsein<br />
gehandelt hat. Dieses könnte ausgeschlossen sein, da er bei der<br />
Tat dachte, die F sei von M angegriffen worden ...“<br />
• Nachdem man so oder so ähnlich eingeleitet hat, kann man<br />
– egal an welcher Stelle – kurz darlegen, dass überhaupt ein Er-<br />
63 Ob man dafür – wie gelegentlich empfohlen – bei der Prüfung des Tatbestandsvorsatzes<br />
einen Vorbehalt wie „Damit ist der Tatbestandsvorsatz jedenfalls hinsichtlich der in § xy<br />
genannten Tatbestandsmerkmale gegeben“ aufnehmen muss, erscheint mir fraglich. Er kann<br />
beim Korrektor auch die Frage „Und welchen Tatbestandsvorsatz gibt es noch?“ provozieren.<br />
Die schwierige, in ihrem Meinungsstand das gesamte Aufbauschema durchziehende Frage<br />
des Erlaubnistatbestandsirrtums lässt sich eben nicht unproblematisch an einer Stelle diskutieren;<br />
das ist aber nicht die Schuld des jeweiligen Klausurverfassers, deshalb muss man sich<br />
dafür auch nicht „entschuldigen“ bzw. „absichern“.<br />
64 Dass vorliegend die Darstellung des Problems im Rahmen der „Schuld“ erfolgt, soll kein<br />
Hinweis darauf sein, dass diese rechtsfolgenverweisende Variante zwingend die überzeugendste<br />
Lösung ist. Vielmehr wird hier auch um des Gesamtzusammenhanges mit der Irrtumslehre<br />
und der besseren Gegenüberstellung zu § 17 StGB wegen dieser Ort gewählt.<br />
65 Vgl. etwa Kühl, <strong>AT</strong>, § 13 Rn. 77.<br />
laubnistatbestandsirrtum vorliegt (d.h. dass der Täter gerechtfertigt<br />
wäre, wenn seine tatsächlichen Vorstellungen richtig wären) und<br />
dann das Problem entwickeln.<br />
Sonderproblem (im thematischen Umfeld des Erlaubnistatbestandes):<br />
„Doppelirrtum“ im Bereich der Erlaubnissätze<br />
(zumindest scheinbare) Kombination aus Erlaubnis- und Erlaubnistatbestandsirrtum<br />
Täter stellt sich Umstände vor, die tatsächlich nicht vorliegen, die<br />
aber selbst bei ihrem Vorliegen zu keiner Rechtfertigung führen würden.<br />
• Bsp.: Im o.g. Fall des „hausmeisterlichen Züchtigungsrechts“<br />
ohrfeigt H zu allem Überfluss auch noch ein Kind, das ganz still in der<br />
Ecke gesessen war. Also: Irrtum im tatsächlichen Bereich (Züchtigung<br />
richtet sich gegen Kind, das keinen Züchtigungsanlass geliefert hat) und<br />
in der rechtlichen Bewertung (denn selbst wenn es laut gewesen wäre,<br />
hätte H es nicht schlagen dürfen).<br />
Behandlung im Ergebnis unstreitig allein nach § 17 StGB (d.h. Täter<br />
handelt vorsätzlich und allenfalls Schuld kann bei Unvermeidbarkeit<br />
entfallen);<br />
arg.:<br />
gar kein „wirklicher“ Erlaubnistatbestandsirrtum, da auch auf Grundlage<br />
der Tätervorstellung keine Rechtfertigung<br />
zusätzlicher Irrtum über Sachverhalt kann im Erlaubnisirrtum handelnden<br />
Täter nicht entlasten / besser stellen, bei dem sogar<br />
dann allenfalls Schuld entfallen würde, wenn vorgestellte Situation<br />
vorgelegen hätte<br />
•<br />
• Klausurhinweis:<br />
• Auf der tatbestandlichen Ebene wird sich ein solcher Doppelirrtum<br />
kaum einmal stellen: Wer gar nicht die Umstände kennt,<br />
aus denen sich die Straftat ergibt (wer also z.B. Schießübungen auf<br />
eine Regentonne macht ohne zu wissen, dass ein Kind darin ist),<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 64
hat auch keinen Anlass, sich über die Verbotenheit dieses Handelns<br />
Gedanken zu machen.<br />
•<br />
e) Irrtümer im Bereich der Schuld<br />
Entschuldigungssachverhaltsirrtum [5]<br />
Täter stellt sich Umstände vor, bei deren tatsächlichem Vorliegen Entschuldigungsgrund<br />
66 vorliegen würde<br />
Rechtsfolge: nach § 35 II 1 StGB direkt oder analog Ausschluss der<br />
Schuld, wenn der (tatsächliche 67 ) Irrtum unvermeidbar war<br />
Entschuldigungsnormirrtum [6]<br />
Täter stellt sich rechtlich nicht existierenden Entschuldigungsgrund vor<br />
Rechtsfolge: nach h.M. unbeachtlich, da es allein Sache des Gesetzgebers<br />
sei, schwierige und enge Grenzen dessen zu definieren, was noch<br />
persönlich vorwerfbar ist; bei derart diffizilen Wertungen darf sich<br />
Täter, den Normappell grds. erreicht hat, nicht „allein auf sein<br />
Rechtsgefühl“ verlassen;<br />
[ Denkanstoß: Soll es für rechtliche Bewertung damit wirklich relevant<br />
sein, ob Täter bei (unterstellt) unvermeidbarem Irrtum behauptet,<br />
er habe sich für gerechtfertigt oder nur für entschuldigt gehalten?<br />
Welcher Täter macht sich über diese – für rechtliche Laien kaum verständliche<br />
und in ausländischen Rechtsordnungen teilweise nicht<br />
einmal bekannte – Unterscheidung Gedanken?]<br />
•<br />
•<br />
• Vertiefende Hinweise:<br />
• Aufsätze<br />
− Herzberg, Erlaubnistatbestandsirrtum und Deliktsaufbau (Teil 1 und 2),<br />
JA 1984, 243 ff.; 294 ff.<br />
− Herzberg/Hardtung, Grundfälle zur Abgrenzung von Tatumstandsirrtum<br />
und Verbotsirrtum, JuS 1999, 1073 ff.<br />
− Herzberg/Scheinfeld, Der Erlaubnistatbestandirrtum – dargestellt in Form<br />
eines Seminarvortrags, JuS 2002, 649 ff.<br />
− Neumann, Der Verbotsirrtum (§ 17 StGB), JuS 1993, 793 ff.<br />
− Plaschke, Ein Nagetier schreibt Rechtsgeschichte – Der Doppelirrtum im<br />
Strafrecht, Jura 2001, 235 ff.<br />
− Rath, Arbeitsschritte zur Behandlung strafrechtlicher Irrtumsfälle, Jura<br />
1998, 539 ff.<br />
− Schmelz, Der Erlaubnistatbestandsirrtum im Gutachten -Eine klausurorientierte<br />
„Regieanweisung“, Jura 2002, 391 ff.<br />
•<br />
66 Keine Relevanz hat dagegen, wenn der Täter sich vorstellt, z.B. schuldunfähig zu sein, weil<br />
er doch schon so viel getrunken habe. Hier kann es nur auf seine tatsächliche Verfassung<br />
ankommen.<br />
67 Obwohl die gesetzliche Formulierung die gleiche ist, handelt es sich also um einen anderen<br />
Prüfungsmaßstab als oben bei § 17 StGB, die nicht die Vermeidbarkeit eines rechtlichen,<br />
sondern eines tatsächlichen Irrtums in Frage steht!<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 65
C. Besondere Verbrechensformen<br />
<br />
teilweise auch Kombinierbarkeit dieser drei Sonderformen untereinander<br />
<br />
Einordnung und Abgrenzung:<br />
• vorsätzliches, vollendetes Begehungsdelikt als „Grundfall“<br />
• jeweils korrespondierende „besondere Verbrechensformen“<br />
∗<br />
∗<br />
Fahrlässigkeitsdelikt ( Vorsatz)<br />
Unterlassen ( Begehungsdelikt)<br />
∗ Versuch ( vollendetes Delikt) 68<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 68<br />
C. Besondere Verbrechensformen<br />
C. Besondere Verbrechensformen<br />
Der Grundfall und seine Abweichungen<br />
Vorsätzliches vollendetes Begehungsdelikt<br />
Besondere<br />
Verbrechensformen<br />
I. Das Fahrlässigkeitsdelikt<br />
Literatur: Kühl: § 17; W/B: Rn. 655 ff.; Kudlich, PdW <strong>AT</strong>, Fälle 161 – 178.<br />
1. Einordnung und Prüfungsschema<br />
a) Verhältnis zum Vorsatzdelikt<br />
<br />
<br />
Ausgangspunkt: § 15 StGB:<br />
• grds. nur Strafbarkeit vorsätzlichen Handelns, wenn nicht Fahrlässigkeitexplizit<br />
angeordnet ist<br />
• wichtige Beispiele: §§ 222, 229 StGB, aber etwa auch § 163 StGB sowie<br />
verschiedene Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen<br />
Dogmatische Einordnung:<br />
• nach früher h.M. Vorsatz und Fahrlässigkeit nur als zwei mögliche<br />
Schuldformen<br />
auch äußerlich in jeder Hinsicht korrektes Verhalten könnte Tatbestand<br />
eines Fahrlässigkeitsdelikts erfüllen<br />
Bsp.: A verabredet sich mit seiner Freundin F um 16.00 Uhr zu einem Rendezvous am<br />
Waldrand. F ist bereits um 15.57 Uhr da und wird um 15.59 Uhr von einem Meteoriten<br />
erschlagen.<br />
Fahrlässigkeitsdelikt<br />
Versuch des Delikts<br />
(Unechtes)<br />
Unterlassungsdelikt<br />
• heute h.M.: Fahrlässigkeitsdelikt als zweite, eigenständige Verbrechensform<br />
weitere Prüfungselemente über Erfolgsverursachung hinaus<br />
68 Das versuchte Delikt wird – ebenso wie die als Gegenstück zur bislang untersuchten Strafbarkeit<br />
des Alleintäters beschreibbare Strafbarkeit bei mehreren Beteiligten – im Rahmen der Veranstaltung<br />
<strong>AT</strong> II im Sommersemester behandelt.<br />
• gleichwohl Annahme eines Stufen- oder Auffangverhältnisses zwischen<br />
Vorsatz und Fahrlässigkeit<br />
Anwendung von in dubio pro reo und damit Verurteilung „jedenfalls“<br />
wegen Fahrlässigkeitsdeliktsmöglich<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 66
Drei verschiedene Stufen der Fahrlässigkeit (hinsichtlich ihrer Intensität.<br />
wobei für Tatbestand meist 69 unbeachtlich ist, welche Form vorliegt):<br />
• leichte Fahrlässigkeit<br />
• „normale Fahrlässigkeit“<br />
• Leichtfertigkeit (entspricht ungefähr „grober Fahrlässigkeit“ des Zivilrechts)<br />
Exkurs: Im Zusammenhang mit dem Fahrlässigkeitsdelikt bietet es sich an,<br />
das Stichwort des „erfolgsqualifizierten Delikts“ schon einmal zu erwähnen:<br />
Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass eine Strafschärfung<br />
eintritt, wenn als Folge eines als solchen schon strafbaren Verhaltens (des<br />
sog. Grunddelikts) ein besonderer Erfolg verursacht wird (regelmäßig<br />
der Tod eines Menschen 70 oder eine schwere Gesundheitsschädigung<br />
71 ). § 18 StGB bestimmt für diese Delikte, dass die schwerere<br />
Strafe den Täter oder Teilnehmer nur trifft, „wenn ihm hinsichtlich<br />
dieser Folge wenigstens Fahrlässigkeit zur Last fällt“. Die erfolgsqualifizierten<br />
Delikte stellen mithin eine Kombination aus dem vorsätzlich<br />
begangenen Grunddelikt und dem mindestens fahrlässig verursachten<br />
qualifizierenden Erfolg dar. Dabei ergibt sich schon aus dem<br />
Wortlaut des § 18 StGB, dass die Fahrlässigkeit nur die „Untergrenze“<br />
ist, dass also das erfolgsqualifizierte Delikt auch erfüllt ist, wenn<br />
dem Täter ein „Mehr“ zur Last fällt, er also (bedingt) vorsätzlich<br />
handelt.<br />
Um die erhöhte Strafdrohung der erfolgsqualifizierten Delikte gegenüber<br />
der Idealkonkurrenz zwischen dem vorsätzlichen Grunddelikt<br />
und der fahrlässig verursachten Folge zu rechtfertigen, 72 wird als ungeschriebenes<br />
Merkmal der erfolgsqualifizierten Delikte – mit unterschiedlichen<br />
Formulierungen und auch sachlichen Abweichungen im<br />
Einzelnen – gefordert, dass zwischen dem Grunddelikt und dem Eintritt<br />
des qualifizierenden Erfolges über die Kausalität hinaus ein zusätzlicher<br />
Zusammenhang besteht: 73 Dabei ist dem insbesondere in<br />
der Rechtsprechung teilweise verwandten Begriff der „Unmittelbarkeit“,<br />
der auf eine „engere Kausalbeziehung“ hindeutet, derjenige des<br />
„tatbestandsspezifischen Gefahrzusammenhangs“ vorzuziehen. Es<br />
geht nämlich weniger um eine enge oder weite bzw. vielgliedrige<br />
Kausalkette, sondern um den Schutzzweck der Norm unter Berücksichtigung<br />
der konkreten Verhaltensweise bei der Tatbestandsbegehung.<br />
74 Deshalb kann dieses Erfordernis auch als Unter- oder als Spezialfall<br />
der objektiven Zurechnung verstanden werden. 75 In der Sache<br />
wird also dem Umstand Rechnung getragen, dass ein dem erhöhten<br />
Strafmaß entsprechender erhöhter Unrechts- und Schuldgehalt nur<br />
besteht, wenn sich im Eintritt der schweren Folge gerade die Gefahr<br />
des Grunddelikts in seiner konkreten Durchführung realisiert.<br />
69 Etwas anderes gilt nur, wenn das Gesetz Leichtfertigkeit fordert, was insbesondere bei einer<br />
Reihe von erfolgsqualifizierten Delikten der Fall ist (vgl. z.B. § 251 StGB).<br />
70 So etwa in den §§ 176b, 178, 239a III, 251, 306c ua (wenigstens leichtfertige Verursachung des<br />
Todes) bzw. 221 III, 227, 235 V, 239 IV (fahrlässige Todesverursachung).<br />
71 So in § 226 StGB (wo einzelne schwere Körperverletzungen abschließend aufgezählt sind)<br />
bzw. §§ 221 II Nr. 2, 239 III Nr. 2, 306b I, 308 II, 315b III Nr. 2 StGB ua (wo der Begriff der<br />
schweren Gesundheitsschädigung verwendet wird, der durch das 6. StrRG in vielen Fällen der<br />
Erfolgsqualifikation eingefügt wurde und welcher neben den in § 226 StGB aufgezählten Verletzungen<br />
solche Folgen erfasst, die ihrer Intensität nach vergleichbar, dort aber nicht explizit<br />
genannt sind).<br />
72 Vgl etwa das Strafmaß des § 227 (Freiheitsstrafe von 3 bis 15 Jahren, vgl § 38 II) mit dem der<br />
§§ 223, 222, 52 (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren).<br />
73 Vgl nur Schönke/Schröder-Cramer, § 18 Rn 4; Tröndle/Fischer , § 227 Rn 2; ausführlicher zum<br />
erforderlichen Zusammenhang Sowada Jura 1994, 643 ff<br />
74 Deutlich Roxin <strong>AT</strong> I, § 10 Rn 114, 117<br />
75 Vgl Roxin <strong>AT</strong> I, § 10 Rn 114 ff.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 67
Für das erfolgsqualifizierte Delikt ist daher für den Einzeltäter folgendes Prüfungsschema<br />
denkbar:<br />
1. Tatbestand<br />
2. Rechtswidrigkeit<br />
3. Schuld<br />
4. Erfolgsqualifikation<br />
a) Eintritt der schweren Folge<br />
b) Tatbestandsspezfischer Gefahrzusammenhang<br />
c) Mindestens Fahrlässigkeit, § 18 StGB<br />
b) Das Prüfungsschema des Fahrlässigkeitsdelikts<br />
<br />
<br />
Vorbemerkung:<br />
• stärkere Unterscheidung der in unterschiedlichen Lehrbüchern genannten<br />
Schemata als beim Vorsatzdelikt<br />
• Unterschiede aber teilweise stärker terminologischer als wirklich inhaltlicher<br />
Natur<br />
Vorschlag eines Prüfungsschemas<br />
Tatbestand o Erfolgseintritt<br />
o Handlung und Kausalität<br />
o objektive Sorgfaltspflichtverletzung<br />
o Voraussicht oder objektive Vorhersehbarkeit<br />
des Erfolges<br />
o Objektive Zurechnung<br />
Rechtswidrigkeit<br />
Schuld<br />
• Allg. Voraussetzungen (insb. Schuldfähigkeit)<br />
• Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung<br />
• Subjektive Vorhersehbarkeit<br />
• Keine Unzumutbarkeit<br />
• Evtl. besondere Schuldmerkmale<br />
2. Insbesondere: Objektive Sorgfaltspflichtverletzung und objektive<br />
Zurechnung<br />
a) Sorgfaltspflichtverletzung<br />
<br />
<br />
Einordnung:<br />
• äußerst knappe gesetzliche Vorgaben, die nur verlangen, dass Täter<br />
„fahrlässig“ einen bestimmten Erfolg herbei- (fahrlässige Tötung oder<br />
Körperverletzung) bzw. eine bestimmte Handlung durchführt (fahrlässig<br />
betrunken fahren oder falsch schwören)<br />
• Begründung des Fahrlässigkeitsvorwurfs nach h.M. bei Vorliegen einer<br />
Sorgfaltspflichtverletzung<br />
Sorgfaltspflichtverletzung als zentrales Element des Fahrlässigkeitsdelikts<br />
Begründung von (potentiell verletzten) Sorgfaltspflichten:<br />
• jedenfalls nicht aus Fahrlässigkeitstatbeständen selbst<br />
Klausurhinweis:<br />
Falsch wäre in der Klausur insbesondere die Argumentation, aus<br />
einem bestimmten Fahrlässigkeitsdelikt ergebe sich die Sorgfaltspflicht,<br />
das darin genannte Rechtsgut nicht zu verletzten (also z.B. aus<br />
§ 222 StGB die Sorgfaltspflicht niemanden zu töten, so dass die Todesverursachung<br />
zeige, dass diese Pflicht verletzt worden sei). Denn dann wäre das verantwortungsbegrenzende<br />
und gerade das Fahrlässigkeitsdelikt kennzeichnende<br />
Merkmal der Sorgfaltspflichtverletzung immer dann erfüllt,<br />
wenn es zu einem Taterfolg i.S.d. Rechtsgutsverletzung kommt,<br />
und würde damit im Ergebnis leer laufen. M.a.W.: Der Täter handelt<br />
nicht fahrlässig, weil er einen Menschen getötet hat, sondern nur wenn er bei<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 68
dieser Todesverursachung gegen eine nicht unmittelbar aus § 222 StGB<br />
zu entnehmenden Sorgfaltspflicht verstoßen hat!<br />
gesetzlichen Sorgfaltsnorm gerade auch die eingetretenen Schäden<br />
verhindern soll.<br />
• einfachster Fall (nach h.M.): Bestimmung von Sorgfaltspflichten aus<br />
entsprechenden Vorgaben, die sich unmittel- oder mittelbar aus Gesetz<br />
ergeben<br />
Bspe.:<br />
(1) Wer etwa die gesetzlich in der StVO oder durch ein Verkehrsschild<br />
angeordneten Höchstgeschwindigkeiten im Straßenverkehr überschreitet,<br />
handelt sorgfaltswidrig. Ebenso, wer entgegen den gesetzlichen Regelungen<br />
die Vorfahrt missachtet.<br />
(2) Das Gleiche gilt für denjenigen, der bei der Produktion von Nahrungsmitteln<br />
die gesetzlich zulässigen Höchstwerte für bestimmte gesundheitlich<br />
bedenkliche Inhaltsstoffe oder beim Betrieb einer Anlage die<br />
durch die Genehmigung zugelassenen Emissionsgrenzen überschreitet.<br />
Klausurhinweis:<br />
Beachten Sie dreierlei:<br />
(1) Wenn in den genannten Fällen die gesetzlichen Vorgaben eingehalten<br />
werden, so spricht zwar viel, aber nicht immer alles für ein<br />
sorgfaltsgemäßes Verhalten.<br />
Bsp.: Wer in der Stadt mit 50 km/h fährt, kann u.U. sorgfaltswidrig handeln,<br />
wenn für ihn deutlich sichtbar eine Gruppe von Kindern auf dem Gehsteig Ball<br />
spielt.<br />
(2) Umgekehrt wird oft betont, dass die Verletzung entsprechender<br />
Sondernormen nur ein (wenngleich wichtiges) Indiz für das Vorliegen<br />
einer Sorgfaltspflichtverletzung sind. Wie intensiv man das betonen<br />
(und in welchem Maße man einen möglicherweise davon abweichenden<br />
Sorgfaltsmaßstab diskutieren muss), hängt davon ab, wie<br />
gravierend der Verstoß war (Bsp.: Ist der Täter in der Tempo-30-<br />
Zone gerade mal 31 km/h oder ab 65 km/h gefahren?).<br />
(3) Bei der Prüfung der objektiven Zurechnung (vgl. u.) kann im<br />
Einzelfall problematisch sein, ob der Schutzzweck der verletzten<br />
• Gepflogenheiten bestimmter Verkehrskreise, die zwar nicht zu Gesetzen<br />
geworden sind, innerhalb bestimmter Lebensbereiche das<br />
Verhalten aber auch mehr oder weniger klar steuern sollen<br />
Bspe. hierfür wären etwa die von der FIS aufgestellten Regeln für das<br />
Verhalten auf Skipisten, die unter Jägern bekannten Grundsätze waidmännischen<br />
Verhaltens, die leges artis bzw. professionis eines bestimmten<br />
Berufsstandes (z.B. die Standards der ärztlichen Kunst im medizinischen<br />
Bereich) o.ä.<br />
Klausurhinweis:<br />
Sollte es erforderlich werden, mit solchen Standards zu argumentieren,<br />
müssten sie regelmäßig in der Klausur mitgeteilt werden – denn<br />
man kann nicht davon ausgehen, dass Sie all dieses Gepflogenheiten<br />
kennen. Und anders als die gesetzlichen Sorgfaltspflichten können<br />
Sie sie auch nicht im Gesetz finden.<br />
• „Auffangformel“: Verhalten eines sorgfältigen (d.h. nicht nachlässigen,<br />
aber auch nicht „krankhaft übervorsichtigen“), besonnenen<br />
Durchschnittsbürgers in konkreter Situation des Täters ( weniger<br />
empirische, als normative Bewertung!)<br />
Maßstab aus Interessenabwägung zwischen Maß und Wahrscheinlichkeit<br />
einer Gefahr einerseits und drohender Beeinträchtigung des<br />
sozialen Verkehrs andererseits<br />
Bspe.:<br />
(1) Zur Bedeutung von Gefahrwahrscheinlichkeit und Gefahrengröße:<br />
(a) Wie sorgfältig Materialien, die auf einem Baugerüst liegen, um eingebaut<br />
zu werden, gesichert werden müssen, hängt davon ab, ob es sich um<br />
eine „einsame“ Baustelle handelt, auf der sich normalerweise niemand<br />
unter dem Gerüst aufhält, oder ob es die Sanierung eines Geschäftshauses<br />
in der Innenstadt ist, wo auf dem Gehweg unter dem Gerüst ständig<br />
große Menschenmassen unterwegs sind.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 69
(b) Auch auf einem Baugerüst auf der zweitgenannten Baustelle, unter<br />
dem zahlreiche Passanten durchlaufen, wird es einen Unterschied machen,<br />
ob gerade mit kleinen zurechtgeschnittenen Schaumstoffstücken für<br />
Dämmzwecke hantiert wird, die –selbst wenn sie herunterfallen würden –<br />
niemanden verletzen würden, oder aber mit schweren Metallplatten für<br />
die Außenverkleidung, die einen getroffenen Passanten auf der Straße mit<br />
großer Wahrscheinlichkeit sofort töten würden.<br />
(2) Zur Abwägung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit: Wenn ein<br />
Mann im Bäckerladen beiläufig erzählt, dass er seine Frau loswerden<br />
möchte und auch vor einem Mord nicht zurückschrecken würde, wird<br />
(zumindest) eine Sorgfaltspflichtverletzung nahe liegen, wenn dieser<br />
Mann den Bäcker am nächsten Tag – ohne nochmals seine Frau zu erwähnen<br />
– bittet, in die (dem Bäcker bekannte) Lieblingstorte seiner Frau<br />
doch das mitgebrachte Rattengift einzubacken. Dagegen ist es sicher<br />
nicht sorgfaltspflichtwidrig, wenn der Bäcker dem Mann nur ein paar<br />
Brötchen verkauft, obwohl der Mann diese natürlich auch selbst mit einem<br />
Gift versehen und dann seiner Frau servieren könnte. Sollte man a-<br />
ber jede Möglichkeit der deliktischen Verwendung seiner beruflichen<br />
Leistung mit berücksichtigen, würde der soziale Verkehr zum Erliegen<br />
kommen.<br />
Maß der anzuwendenden Sorgfalt:<br />
• Berücksichtigung von Sonderfertigkeiten:<br />
∗<br />
unterdurchschnittliche Fähigkeiten oder Kenntnisse für objektiven<br />
Sorgfaltsanforderungen unbeachtlich<br />
• arg.: objektivierte Beurteilung des Verhaltens durch die<br />
Rechtsordnung, noch nicht persönliche Vorwerfbarkeit;<br />
nicht individuell-herabgestufter Maßstab dient Rechtsgüterschutz,<br />
ohne soziales Leben wesentlich zu beeinträchtigen<br />
• möglicherweise aber Strafbarkeit auf Prüfungsstufe der<br />
Schuld (individuelle Sorgfaltspflichtverletzung) ausgeschlossen;<br />
dabei dann aber „Übernahmeverschulden“ zu berücksichtigen<br />
Bsp.: Ist eine Standardoperation durchzuführen, kann sich der diensthabende<br />
Facharzt für Chirurgie nicht darauf berufen, dass er ein besonders schlechter Operateur<br />
ist, kein Blut sehen kann und deswegen der Operation nicht gewachsen ist.<br />
Wäre der Chirurg aber besonders unerfahren, könnte er insoweit schuldlos handeln,<br />
∗<br />
∗<br />
wenn ihm die Einhaltung der objektiven Sorgfalt eines Operateur subjektiv nicht<br />
möglich war (keine subjektive Sorgfaltspflichtverletzung). Allerdings kann ihm<br />
u.U. vorgeworfen werden, dann überhaupt die Operation durchgeführt zu haben; also:<br />
Hat er sie allein übernommen, weil er „mal sehen wollte, wie es so ist, wenn<br />
man operiert“, ist dieses Verhalten objektiv und subjektiv pflichtwidrig; musste er<br />
dagegen auf freiem Feld eine Notoperation durchführen, damit überhaupt noch eine<br />
Rettungschance für das schwerverletzte Opfer besteht, wird man keinen objektiven<br />
Sorgfaltspflichtverstoß darin sehen, alles zu versuchen, was der Rettung dienen<br />
kann.<br />
überdurchschnittliche Kenntnisse in der konkreten Situation nach<br />
h.M. stets zu berücksichtigen; nach M.M. dagegen nur solche<br />
Kenntnisse, die zu erlangen der Täter verpflichtet gewesen wäre<br />
Bsp.: 76 Ein Biologiestudent arbeitet als Aushilfskellner und entdeckt in einem exotischen<br />
Salat eine seltene giftige Frucht, die ihm nur auf Grund seiner im Studium<br />
erworbenen besonderen Kenntnisse bekannt ist. Wenn er nun den Salat dennoch<br />
serviert, kommt eine Strafbarkeit nur in Betracht, wenn ihn auch in seiner Rolle<br />
als Kellner das davon völlig unabhängige (und hier sogar nur Experten zugängliche)<br />
Wissen aus seiner Rolle als Biologiestudent „belastet“. Denn man wird von einem<br />
Kellner, zumal von einem Aushilfskellner, nicht verlangen können, dass er ü-<br />
ber vertiefte Kenntnisse in der Botanik exotischer Pflanzen verfügt.<br />
überdurchschnittliche Fertigkeiten: nach h.M. im Interesse des<br />
Rechtsgüterschutzes ebenfalls zu berücksichtigen; nach M.M.<br />
soll dagegen besonders „tüchtiger“ Täter nicht „benachteiligt“<br />
werden<br />
Bsp.: Bei einer dringenden Notoperation in einem kleinen Krankenhaus kommt ein<br />
Opfer auf den Operationstisch, das an sich nur von drei Spezialisten an Universitätskliniken<br />
in Deutschland gerettet werden könnte, da die Operation so schwierig<br />
und die Lage so kritisch ist. Zufällig ist an dem Krankenhaus der junge, aber außergewöhnlich<br />
talentierte Oberarzt A, der sich noch dazu gerade für solche Fälle<br />
besonders interessiert und sich privat noch weitergebildet hat. Er hätte die Fähigkeiten,<br />
das Opfer zu retten, macht aber einen Fehler. Dieser war für ihn vermeidbar,<br />
wäre aber außer ihm und den drei o.g. Spezialisten jedem Klinikchef in Deutschland<br />
mit großer Sicherheit auch unterlaufen. Soll A nun dafür bestraft werden, dass<br />
er Außergewöhnliches leisten könnte? Und: wäre es vielleicht ein Unterschied, wenn<br />
76 Nach Jakobs, Kaufmann-GS, S. 271, 273.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 70
∗<br />
ein Patient in einem ebenso schweren, aber weniger dringenden Fall gerade einen der<br />
drei o.g. Spezialisten aufsucht, weil man ihm sagte, dass dieser ihn retten könnte? 77<br />
Zusammengefasst: „Es ist (…) nach ‚unten’ zu generalisieren,<br />
nach ‚oben’ zu individualisieren.“ 78<br />
Alternativ: formal sowohl „nach oben als auch nach unten“ zu<br />
generalisieren, allerdings mit differenzierender Maßstabsfigur<br />
(nicht „irgendein Autofahrer“, sondern „geübte Autofahrer“;<br />
nicht „irgendein Arzt“, sondern „ein guter Chirurg“ usw.)<br />
• Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
Aspekt zur Begrenzung und Konturierung von Sorgfaltspflichten<br />
Inhalt: wer sich selbst grundsätzlich sorgfaltsgemäß verhält, darf<br />
darauf vertrauen darf, dass auch andere dies tun<br />
historische Wurzel: Straßenverkehr<br />
Bsp.: Wer mit vorschriftsgemäßer Geschwindigkeit eine Ortsstraße entlang fährt,<br />
darf darauf vertrauen, dass grundsätzlich kein Fußgänger ohne zu schauen auf die<br />
Straße stürmt – einem solchen (vorstellbaren, aber eben nicht einzubeziehenden)<br />
Verhalten muss man seinen Fahrstil grundsätzlich nicht anpassen.<br />
weitere Anwendungsbereich: Arbeitsteilung (z.B.: Chirurg darf sich<br />
grds. darauf verlassen, dass Anästhesist ordnungsgemäß narkotisiert) und<br />
nach Teilen der Lit. noch darüber hinaus immer, wenn „sich im<br />
sozialen Leben die Verhaltensweisen mehrerer Personen berühren“<br />
79<br />
Anwendungsfall des (bzw. vielleicht besser: Sachgrund für das)<br />
erlaubte(n) Risiko(s)<br />
Grenze: „triftiger Anlass zum Nichtvertrauen“ ( „Reaktivierung<br />
der höheren Sorgfaltspflichten)<br />
77 In dieser letzten Abwandlung könnte man davon sprechen, dass für bestimmte Spezialisten<br />
„besondere Maßfiguren“ gelten müssen, vgl. Roxin, <strong>AT</strong> I, § 24 Rn. 49.<br />
78 Vgl. Roxin, <strong>AT</strong> I, § 24 Rn. 50; ähnlich etwa Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15<br />
Rn. 139 ff.<br />
79 Vgl. Stratenwerth, <strong>AT</strong>, § 15 Rn. 66 a.E.<br />
<br />
Bsp.: Wenn in dem o.g. Autofahrerfall Kinder mit einem Ball nahe der Straße<br />
spielen oder wenn an einer roten Fußgängerampel ein Junge kurz vor Schulbeginn<br />
hastig rennend und ohne aufzublicken auf die Fahrbahn zuläuft, besteht Anlass,<br />
sich darauf vorzubereiten, dass die Kinder bzw. der Junge entgegen den Verkehrsregeln<br />
die Straße unversehens und plötzlich betreten könnten.<br />
Kritik an Konzept / Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung in Teilen der<br />
Lit.:<br />
Klausurhinweis:<br />
Es geht im Folgenden weniger darum, diese Frage in einer Klausurlösung<br />
zu thematisieren: Sie können dort – und sogar in einer Hausarbeit<br />
– m.E. ohne vertiefte Diskussion auf das Merkmal der Sorgfaltspflichtverletzung<br />
zurückgreifen. Die folgenden Ausführungen sollen<br />
Ihnen zum einen etwas Hintergrundinformation liefern, helfen zum<br />
anderen aber vielleicht auch das Problem der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit<br />
auf dem Boden der h.M. besser zu verstehen. Denn m.E. geht es<br />
vielfach eher um terminologische Unterschiede; außerdem werden<br />
bestimmte, durchaus auch für die h.M. wichtige Aspekte von abweichenden<br />
Ansätzen besonders klar herausgestellt.<br />
• Ansatzpunkte der Kritik (z.B. Jakobs / Roxin)<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
Prüfungspunkt der Sorgfaltspflichtverletzung nicht erforderlich<br />
Maßstab zu unscharf<br />
Bezeichnung „Sorgfaltspflichtverletzung“ normlogisch unrichtig,<br />
da „es bei der Fahrlässigkeit – wie beim Vorsatz – keine andere<br />
Pflicht als die sich aus der Norm ergebende Pflicht“ gebe<br />
„und nur gegen diese Pflicht (...) verstoßen“ werde 80<br />
• alternative Konzepte / Begrifflichkeiten (die allerdings m.E. keinen<br />
großen Fortschritt bringen):<br />
80 Vgl. Jakobs, <strong>AT</strong>, Abschn. 9 Rn. 6 (gemeint ist mit „der Norm“ wohl das jeweilige Fahrlässigkeitsdelikt).<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 71
∗<br />
∗<br />
∗<br />
Überschreitung des erlaubten Risikos (Jakobs)<br />
Gleichsetzung mit objektive Zurechnung (Roxin)<br />
bloßes Abstellen auf Erkennbarkeit (Schroeder) oder „Anlass zur<br />
Vorsicht / zum Misstrauen“ (Duttge)<br />
b) Die objektive Zurechnung beim Fahrlässigkeitsdelikt<br />
<br />
<br />
Zusätzliches Korrektiv über Kausalzusammenhang zwischen Handlung<br />
und Erfolg hinaus<br />
Bedeutung sogar größer als beim Vorsatzdelikt, da Vorsatz als zusätzliches<br />
Korrektiv (Stichwort: Irrtum über den Kausalverlauf) nicht zur Verfügung<br />
steht<br />
Eine ganze Reihe von Beispielen, die üblicherweise bei der objektiven Zurechnung genannt werden,<br />
spielen eigentlich bei Fahrlässigkeitsdelikten eine größere Rolle. So wird es etwa in den als<br />
„Retterfälle“ bezeichneten Konstellationen, in denen jemand ein Gebäude anzündet und ein Retter<br />
durch den Brand ums Leben kommt, zumeist um die Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts<br />
(§ 222 oder § 306c StGB) gehen.<br />
Wichtige Fallgruppen beim Fahrlässigkeitsdelikt<br />
• fehlender Pflichtwidrigkeitszusammenhang<br />
∗<br />
∗<br />
Ausschluss der objektiven Zurechnung, wenn Erfolg auch bei<br />
hypothetischem rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten<br />
wäre<br />
Bsp.: 81 Der Leiter einer Pinselfabrik gibt seinen Arbeitern chinesische Ziegenhaare<br />
zur Verarbeitung aus, ohne diese vorher vorschriftsgemäß desinfizieren zu lassen.<br />
Ein Arbeiter verstirbt im Anschluss an Milzbrand, der durch Bazillen auf den<br />
Ziegenhaaren hervorgerufen wurde. Stellt sich hier heraus, dass die vorgeschriebenen<br />
Desinfektionen den tödlichen Bazillus mit Sicherheit nicht abgetötet hätten, da es<br />
sich um eine in Europa noch unbekannte Sorte handelte, wäre der Erfolg auch bei<br />
rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten.<br />
str., wenn nicht sicher feststeht, ob Erfolg bei pflichtgemäßem<br />
Verhalten eingetreten wäre<br />
81 Nach RGSt 63, 211 (abgewandelt)<br />
nach in Lit. vertretener Risikoerhöhungslehre 82 gleichwohl<br />
Strafbarkeit;<br />
arg. der h.M.: drohende Aushöhlung des Grundsatzes in dubio<br />
pro reo; Verfremdung des Charakters als Verletzungsdelikt<br />
Bsp.: 83 Lkw-Fahrer T überholte den Radfahrer O, ohne den nach der StVO vorgeschriebenen<br />
Seitenabstand von 1 – 1,50 m einzuhalten. Während des Überholvorganges<br />
geriet der stark alkoholisierte O unter die Hinterreifen des Anhängers,<br />
weil er in Folge einer alkoholbedingten Kurzschlussreaktion des Fahrrad nach<br />
links zog. Es wurde festgestellt, dass wegen der Alkoholisierung des O der Unfall<br />
mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem gleichen Ausgang auch eingetreten wäre,<br />
wenn T den Abstand eingehalten hätte. Nach Ansicht des BGH scheidet<br />
§ 222 StGB aus, da nicht feststellbar sein (in dubio pro reo!), dass nicht der gleiche<br />
Erfolg eingetreten wäre, wenn sich der Täter rechtlich einwandfrei verhalten hätte.<br />
Die Vertreter der Risikoerhöhungslehre würden dagegen zu einer Strafbarkeit<br />
kommen<br />
Klausurhinweis:<br />
Machen Sie sich zweierlei klar: Zum einen, dass der Streit um die<br />
Risikoerhöhungslehre dann von vorneherein keine Rolle spielt, wenn<br />
sich aus dem Sachverhalt ergibt, dass der Erfolg auf jeden Fall auch bei<br />
ordnungsgemäßem Verhalten eingetreten wäre – in diesen Fällen<br />
müssen Sie das Problem also nicht vertiefen; zum anderen dass auf<br />
Grund der vorgebrachten Argumente und des Meinungsstandes in<br />
der Literatur in der Klausur beide Ansichten ohne Weiteres vertretbar<br />
sind – es kommt also darauf an, was Sie mehr überzeugt und was<br />
Sie meinen, besser begründen zu können.<br />
• fehlender Schutzzweckzusammenhang<br />
Bsp.: T fuhr mit seinem Wagen mit 120 km/h über eine Landstraße, auf<br />
der eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h galt. In der nächsten Stadt<br />
bremste er auf die vorgeschriebenen 50 km/h ab; plötzlich lief die kleine<br />
O so rasch auf die Fahrbahn, dass T nicht mehr bremsen konnte. O ver-<br />
82 Grundlegend Roxin, ZStW 74 (1962), 411 ff.; zahlreiche Vertreter sind aufgezählt bei Roxin,<br />
<strong>AT</strong> I, § 11 Rn. 78, dort Fußn. 144.<br />
83 Nach BGHSt 11, 1.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 72
starb. Staatsanwalt S meinte, wenn T auf der Landstraße langsamer gefahren<br />
wäre, hätte O die Straße schon längst überquert gehabt, bis T an<br />
die Unfallstelle gekommen wäre. Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang<br />
kann zwar tatsächlich bejaht werden; allerdings soll ein Tempolimit außerorts<br />
nicht die spätere Ankunftszeit an irgendeiner Stelle beeinflussen,<br />
sondern die Bremsmöglichkeit des Fahrers (und Ausweichmöglichkeiten<br />
der anderen Verkehrsteilnehmer bei Eintritt einer „kritischen Situation“)<br />
sicherstellen.<br />
3. Insbesondere: Rechtswidrigkeit und Schuld beim Fahrlässigkeitsdelikt<br />
<br />
Grundsatz: Geltung der allgemeinen Regeln zu Rechtswidrigkeit und<br />
Schuld; aber einige zusätzliche Besonderheiten<br />
a) Rechtswidrigkeit<br />
<br />
<br />
Als Rechtfertigungs- (also z.B. Notwehr- oder Notstands-) Handlungen<br />
insbesondere solche Erfolge gerechtfertigt, die<br />
• auch vorsätzlich hätten herbeigeführt werden dürfen<br />
T wird von O, der ihn töten möchte, mit einem Messer angegriffen. Als er<br />
das Messer schon in seinen Hals eindringen fühlt, kann T kann gerade<br />
noch einen Stein greifen. Er möchte ihn O auf die Schulter schlagen, trifft<br />
ihn aber versehentlich am Kopf. O ist tot.<br />
• sich als Realisierung einer Gefahr darstellen, die vom Rechtfertigungsgrund<br />
gedeckt war.<br />
Bsp.: T wird vom körperlich unterlegenen O angegriffen. Um ihn nicht<br />
schwerer verletzen zu müssen, stößt er ihn heftig von sich. O stürzt mit<br />
dem Kopf unglücklich auf einen Stein und ist tot.<br />
Alternative Konstruktion: „was gerechtfertigt ist, kann schon nicht objektiv<br />
pflichtwidrig sein“<br />
bei Fahrlässigkeitsdelikten ist Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselementes<br />
unschädlich<br />
b) Schuld<br />
<br />
<br />
Modifikationen gegenüber den allgemeinen Grundsätzen:<br />
• allgemeine Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens als Entschuldigungsgrund<br />
ernsthaft diskutiert<br />
• insbesondere bei nur unbewusster Fahrlässigkeit potentielles Unrechtsbewusstsein<br />
ausreichend<br />
Zusätzliche Prüfungspunkte: subjektive Vorhersehbarkeit des Erfolges<br />
und subjektive Pflichtwidrigkeit<br />
Klausurhinweis:<br />
Denken Sie aber beim Ausschluss der Schuld wegen des Fehlens<br />
einer subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung an den oben 84 bereits<br />
erwähnten Aspekt des „Übernahmeverschuldens“. Ein solches kann<br />
vorliegen, wenn der Täter sich erst gar nicht in eine Situation hätte<br />
begeben dürfen, der er auf Grund seiner unterdurchschnittlichen<br />
Fähigkeiten nicht gewachsen ist.<br />
84 Vgl. o. zur Frage nach Objektivierung oder Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 73
II. Das Unterlassungsdelikt<br />
Literatur: Kühl: § 18; W/B: Rn. 694 ff.; Kudlich, PdW <strong>AT</strong>: Fälle 179 – 201.<br />
1. Abgrenzung und Einordnung<br />
a) Echte und unechte Unterlassungsdelikt<br />
<br />
<br />
Unechte Unterlassungsdelikte<br />
• Keine eigenen Tatbestände<br />
• Stattdessen kann Unterlassen das im Tatbestand eigentlich erforderliche<br />
aktive Tun unter bestimmten Umständen ersetzen<br />
„Spiegelbild“ der Norm wegen „Begehungsgleichheit“<br />
Echte Unterlassungsdelikte<br />
• Explizit normiert (wichtig: §§ 323c StGB und 138 StGB)<br />
• Selten, da grds. Handlungsverbote, aber manchmal wegen erforderlicher<br />
Solidarität der Bürger untereinander auch Handlungsgebote<br />
Bsp.: T fährt unachtsam den Passanten P an, der verletzt liegen bleibt. T<br />
schaut sich P kurz an, hat aber keine Lust, sich um ihn zu kümmern, und<br />
fährt weiter. Auch Spaziergänger S hat etwas Besseres zu tun und lässt P<br />
ebenfalls auf der kalten Straße liegen, obwohl sonst niemand in der Nähe<br />
ist. P verstirbt, hätte aber gerettet werden können, wenn T oder S einen<br />
Notarzt alarmiert hätten.<br />
Während T ein vorsätzliches Tötungsdelikt durch Unterlassen (§§ 212,<br />
evt. 211, 13 StGB) begangen hat, ist S nur wegen unterlassener Hilfsleistung<br />
(§ 323c StGB) strafbar: T hatte nach h.M. i.S.d. § 13 I StGB „rechtlich<br />
dafür einzustehen (...), dass der Erfolg nicht eintritt“, da er den P ü-<br />
berhaupt erst in die gefährliche Situation brachte (sog. Garantenstellung<br />
aus Ingerenz; dazu näher unten). Deswegen kann ihm ein Vorwurf gemacht<br />
werden, der mit dem des Begehungsdelikts weitgehend vergleichbar<br />
ist. Demgegenüber hat S „nur“ eine allgemeine zwischenmenschliche<br />
Solidaritätspflicht verletzt, die nur ausnahmsweise – wie hier in<br />
§ 323c StGB – strafrechtlich abgesichert ist. Der damit verbundene Vorwurf<br />
wiegt auch bedeutend geringer. Da § 323c StGB im Gesetz genuin<br />
als ein solches Unterlassen beschrieben ist, handelt es sich um ein echtes<br />
Unterlassungsdelikt.<br />
b) Abgrenzung von Tun und Unterlassen<br />
Aktives Tun: In Gang bringen eines Geschehens durch Einsatz von E-<br />
nergie, das bis dahin ungefährdetes Rechtsgut beeinträchtigt.<br />
Bspe.: T greift ins Regal eines Plattenladens und steckt eine CD in seine Manteltasche. T tötet<br />
mit einem gezielten Schuss den Passanten P, der harmlos des Weges kommt. T vernichtet eine<br />
Urkunde, aus der sich gegen ihn bestehende Ansprüche ergeben usw.<br />
<br />
Unstreitige Fälle des Unterlassens: „schlicht gar nichts tun“, d.h. passiv<br />
bleiben und nur einem unabhängig von eigenem Handeln ablaufenden<br />
Geschehen seinen Lauf lässt.<br />
Bspe.: 85 Krankenschwester K sitzt im Dienstzimmer, als aus einem Zimmer über die Rufanlage<br />
der Hilfsruf eines röchelnden Patienten kommt; sie sitzt in stoischer Ruhe auf ihrem Stuhl und<br />
wartet, bis die Rufe in einem leisten Gurgeln verstummen und gespenstische Ruhe einkehrt. H<br />
ist zuständig für die Sicherheitskontrollen im Atomkraftwerk von S; als ein Störfall gemeldet<br />
wird, beobachtet er fasziniert die vielen blinkenden Lichter, ohne etwas zu tun.<br />
Klausurhinweis:<br />
Einem aktiven Tun folgt oft ein Unterlassen nach: Immer, wenn der<br />
Mörder sein Opfer nicht sofort getötet hat, sondern dieses noch<br />
kurze Zeit mit dem Leben ringt, könnte man für diese Zeit ein Unterlassen<br />
von Rettungsmaßnahmen annehmen usw. Dieses nachfolgende<br />
Unterlassen ist grundsätzlich unbeachtlich und muss in der Klausur<br />
auch nicht angesprochen werden, wenn der Sachverhalt nicht<br />
ersichtlich darauf angelegt ist (z.B. indem dieser Zeitraum lange und<br />
85 In beiden Beispielen liegt nahe, dass K bzw. H als Garanten (K als sog. Beschützergarantin, die<br />
für das Rechtsgut „Leben der ihr anvertrauten Patienten“ zuständig ist; H als sog. Überwachergarant,<br />
der über die von einer von ihm überwachten Gefahrenquelle ausgehenden Gefahren zu<br />
wachen hat) dennoch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können; das ändert aber<br />
nichts daran, dass es klare Fälle eines Unterlassens sind. Stellt man sich vor, dass es sich um<br />
„Nicht-Garanten“ handelt, wird die Einordnung als Unterlassen besonders deutlich, weil dann<br />
keine Strafbarkeit wegen eines unechten (begehungsgleichen) Unterlassens besteht: Würde also<br />
im Beispiel oben nicht Krankenschwester K, sondern Besucherin B die Hilferufe geflissentlich<br />
überhören, könnte sie allenfalls nach § 323c StGB bestraft werden.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 74
ausführlich geschildert wird). Wenn vorangegangenes Tun und nachfolgendes<br />
Unterlassen im Übrigen gleichwertig sind, tritt das Unterlassen<br />
als schwächere Form des Rechtsgutsangriffs regelmäßig subsidiär<br />
zurück, 86 was aber – wie eben erwähnt – zumeist nicht einmal<br />
festgestellt werden muss. Insbesondere unterbricht auch ein pflichtwidriges<br />
Unterlassen nicht den Kausal- und Zurechnungszusammenhang,<br />
der vom aktiven Tun zum Erfolg führt. Eine eigenständige<br />
Bedeutung könnte man nur annehmen, wenn das nachfolgende Unterlassen<br />
aus irgendwelchen Gründen schwerer wiegt, insbesondere<br />
wenn das aktive Tun nur fahrlässig, das Unterlassen dagegen vorsätzlich<br />
erfolgte.<br />
<br />
Problemfälle: Verhaltensweisen sind mehrdeutig („Koinzidenz“ von Tun<br />
und Unterlassen)<br />
Abgrenzung erforderlich<br />
Entscheidung, nach der Relevanz der Verhaltensform.<br />
Klassische Beispiele:<br />
(1) Der behandelnde Arzt Dr. A stellt nach mehrtägigem verzweifeltem Kampf um das Leben<br />
des O die Herz-Lungenmaschine ab: Hier liegt im Abstellen („Hebel-Umlegen“) einerseits ein<br />
Element des Tuns, im „Nicht-mehr-weiter-Behandeln“ zugleich eines des Unterlassens.<br />
(2) T wirft dem ertrinkenden O von seinem Boot aus ein Seil zu. Als O das Seil fast erreicht<br />
hat, erkennt A in ihm den Mann, der ihm auf dem Parkplatz vor dem Badesee brutal eine<br />
Parklücke „vor der Nase weggeschnappt“ hat, und er zieht schnell das Seil zurück. Hier liegt<br />
im Zurückziehen einerseits ein Element des Tuns, im „Nicht-mehr-weiter-Retten“ zugleich eines<br />
des Unterlassens.<br />
(3) T hebt eine Grube für Kabelarbeiten am nächsten Tag aus. Als er nach Hause geht, verzichtet<br />
er darauf, ein Schild oder eine Absperrung aufzustellen. In der Dunkelheit fällt Spaziergänger<br />
O in die Grube und verletzt sich. Hier liegt im Ausheben der Grube und Fortgehen einerseits<br />
ein Element des Tuns, im Nichtabsichern zugleich eines des Unterlassens.<br />
86 Nach a.A. kann es schon am Tatbestand fehlen, da von demjenigen, der in einer bestimmten<br />
Verletzungsangriff ein Rechtsgut aktiv angegriffen hat, nicht erwartet werden könne, anschließend<br />
zu seiner Rettung tätig zu werden, so dass ein Garantenstellung aus sog. Ingerenz (vgl. u.<br />
S. 79) ausscheide. Mich überzeugt das weniger: entscheidend ist nicht, was man „tatsächlich<br />
erwartet“, sondern was man normativ „erwarten kann“; und da einer drohenden Doppelbestrafung<br />
leicht auf Konkurrenzebene begegnet werden kann, spricht insgesamt mehr dafür, in Fällen<br />
dieser Art tatbestandlich erst einmal eine Garantenstellung zu bejahen.<br />
Zwei wesentliche Meinungen zur Abgrenzung<br />
Kernaussage<br />
Die Abgrenzung muss<br />
wertend getroffen werden<br />
Abgrenzungskriterium<br />
Kritik<br />
Naturalistisch-ontologische<br />
Abgrenzung (wichtige Stimmen<br />
in Lit.)<br />
Die Abgrenzung lässt sich empirisch<br />
lösen<br />
Kausalität; Energieeinsatz; Kombination<br />
beider Kriterien<br />
Energieeinsatz an sich kann u.U.<br />
sozialadäquat sein und daher möglicherweise<br />
kein tauglicher Anknüpfungspunkt<br />
für strafrechtlichen<br />
Vorwurf;<br />
nicht jeder Energieeinsatz / jede<br />
Kausalität begründet Zuständigkeit<br />
für Rechtsgutsverletzung<br />
Normative Abgrenzung<br />
(Rspr. und Teile der Lit.)<br />
Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit<br />
bei wertender<br />
Betrachtung<br />
Begründung eines Ergebnisses,<br />
das vorher nur<br />
intuitiv getroffen wurde;<br />
daher Gefahr von willkürlichen<br />
Entscheidungen<br />
und tautologischen<br />
Begründungen<br />
• Vorwurf an normative Abgrenzung: Vorwegnahme des Ergebnisses<br />
bedenklich, da oft Entscheidung über Strafbarkeit.<br />
• Vorwurf an naturalistisch-ontologische Abgrenzung: willkürliche<br />
Entscheidungen mit Energieeinsatz oder Kausalität, wertungsmäßig<br />
vertretbare Ergebnisse nur mit normativer Abgrenzung<br />
Bsp.: Das zeigt etwa die Behandlung von klassischen „Problemfällen“<br />
bei Otto 87 der selbst die Schwerpunktformel ablehnt. So löst er den Fall<br />
des „Abschaltens eines Beatmungsgerätes“ (bei dem man nur über den<br />
„Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ zu einem Unterlassen kommen kann)<br />
ohne Entscheidung in der Sache mit der Möglichkeit einer Straflosigkeit<br />
bei Realisierung „des grundgesetzlich garantierten Rechts auf Behandlungsfreiheit<br />
des Kranken“. Dieser Gesichtspunkt ist sicher wichtig, umgeht<br />
aber das Problem.<br />
87 <strong>AT</strong>, § 9 Rn. 4 ff., hier nur exemplarisch für viele herausgegriffen.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 75
Noch deutlicher zeigt dies die Behandlung des sonstigen „Abbruchs von<br />
Rettungsmaßnahmen“: Durch die Beschränkung der Annahme eines Tuns<br />
auf Fälle, in denen „eine bereits existent gewordene – objektivierte – Rettungschance“<br />
besteht, darf mangels gegenteiliger Ausführungen unterstellt<br />
werden, dass im Ergebnis die Rücknahme von noch nicht konkretisierten<br />
Rettungshandlungen mit der h.M. als Unterlassen gedeutet werden<br />
soll. Aber auch das ist im Einzelfall (so beim Zurückziehen eines Rettungsringes,<br />
bevor das Opfer in dessen Nähe ist, den es aber sonst erreicht<br />
hätte) mit Kriterien wie dem Energieeinsatz und der Kausalität<br />
nicht ohne Weiteres zu begründen, wenn nicht auf Wertungsebene ein Zurechnungszusammenhang<br />
verneint wird.<br />
Lösung der o.g. „klassischen Problemfälle“ nach der „Schwerpunktformel“<br />
• Fall (3): An sich wünschenswertem Verhalten (Baumaßnahmen), nur<br />
Sicherungspflicht nicht nachgekommen. Dieses „Unterlassen“ ist nur<br />
notwendige Verhaltensmodalität des Fahrlässigkeitsvorwurfs („Außerachtlassen<br />
der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt“)<br />
Schwerpunkt auf dem unsorgfältigen (aktiven) Tun 88<br />
• Fall (2): nach h.M zu differenzieren<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
Abbrechen der Rettungsmaßnahme, die Opfer schon erreicht<br />
und realisierbare Rettungsmöglichkeit eröffnet hat<br />
Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit auf aktivem Tun (z.B. Zurückziehen<br />
das Seiles) Begehung<br />
Abbrechen der Rettungsmaßnahme, die Opfer noch nicht erreicht<br />
hat<br />
Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit auf Unterlassen des Fortfahrens<br />
mit der Rettung Unterlassen<br />
Eingriff in fremde Rettungshandlungen (also z.B.: T reißt X, der O<br />
retten will, das Seil aus der Hand): regelmäßig aktives Tun<br />
88 Ähnlich würde es liegen, wenn bei Dunkelheit ein ohne Licht fahrender Fahrradfahrer einen<br />
Fußgänger anfährt, der an den Folgen des Unfalls stirbt. Hier liegt der Schwerpunkt der vorwerfbaren<br />
Verhaltens wieder im aktiven Tun, während das Nichtanschalten des Lichts eine notwendige<br />
Verhaltensmodalität für den Fahrlässigkeitsvorwurf ist.<br />
• Fall (1) (Abstellen von lebenserhaltenden Geräten): Übertragung der<br />
Grundsätze, d.h.<br />
∗<br />
∗<br />
Ausschalten durch „Dritten“ (in Klausuren z.B. oft: der missgünstige<br />
Geliebte der Ehefrau oder der ungeduldige Erbe) ist<br />
Eingreifen in den Rettungsvorgang von außen aktives Tun<br />
Abschalten durch den behandelnden Arzt: Schwerpunkt der<br />
Vorwerfbarkeit nicht auf geringfügigem Energieeinsatzes eines<br />
Hebelumlegens, sondern auf „Nicht-mehr-weiter-Behandeln“<br />
Unterlassen<br />
aber: grds. hat Arzt Garantenpflicht (vgl. näher unten), so dass er<br />
auch wegen Unterlassens strafbar sein kann 89<br />
89 Die Reichweite dieser Garantenpflicht kann wiederum durch vertragliche Regelungen oder<br />
Zumutbarkeitsgesichtspunkt begrenzt sein, so dass ein Arzt, der lebensverlängernde Maßnahme<br />
bei einem schwerstkranken und sterbewilligen Patienten auf dessen Anordnung unterlässt, nicht<br />
automatisch in eine Strafbarkeit „gedrängt“ wird. Insoweit hat die Einordnung als Unterlassen<br />
auch vom Ergebnis her betrachtet den Vorteil, dass die Ablehnung einer Strafbarkeit in „Konfliktsituationen“<br />
leichter begründet werden kann als bei Annahme eines aktiven Tuns, bei dem<br />
man auf mehr oder weniger unscharfe Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungslösungen angewiesen<br />
wäre.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 76
c) Prüfungsschema des vollendeten, vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikts<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich<br />
B. Das Unterlassungsdelikt<br />
Präsentationen Strafrecht I (Vorlesung und Kleingruppe)<br />
Prüfungsschema des unechten Unterlassungsdelikts<br />
(vorsätzliches vollendetes Delikt)<br />
<br />
Im Einzelfall problematischere Punkte:<br />
• Quasikausalität beim Unterlassungsdelikt (sogleich a)<br />
• Objektive Zurechnung beim Unterlassungsdelikt (im Anschluss b)<br />
• Garantenstellung (im Anschluss c)<br />
Obj. Tatbestand<br />
Subj. Tatbestand<br />
Rechtswidrigkeit<br />
Schuld<br />
•Abgrenzung Tun / Unterlassen<br />
(auch als „Vorprüfung“ möglich)<br />
•Erfolgseintritt<br />
•Nichtvornahme der gebotenen Handlung trotz<br />
physisch-realer Handlungsmöglichkeit<br />
•Quasi-Kausalität<br />
•Objektive Zurechnung<br />
•Garantenstellung<br />
•Gleichwertigkeit des Unterlassens<br />
Insb. Vorsatz hinsichtlich der Garantenstellung<br />
Insb. rechtfertigende Pflichtenkollision<br />
Insb. Probleme der Zumutbarkeit normgemäßen<br />
Verhaltens<br />
• Gleichwertigkeitsklausel (zuletzt d)<br />
a) Die Quasikausalität beim unechten UnterlassungsdeliktKausalität eines Unterlassens<br />
i.e.S. nicht vorstellbar<br />
Modifikation der Äquivalenztheorie (h.M.): Unterlassen ist im Rechtssinne<br />
kausal, wenn die gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden<br />
kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt mit an Sicherheit<br />
grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele.<br />
<br />
A.A.: Risikoerhöhungslehre (vgl. bereits die Diskussion beim Fahrlässigkeitsdelikt)<br />
Unterlassen schon dann kausal, wenn dadurch das Risiko des Erfolgseintritts<br />
erhöht wurde<br />
2. Besonderheiten bei der Prüfung des UnterlassungstatbestandesOft<br />
unproblematische Punkte:<br />
• Unterlassen (und nicht Tun); zu Problemfällen vgl. auch oben<br />
• Physisch-reale Möglichkeit der gebotenen Rettungshandlung<br />
Bsp.: Diese Rettungsmöglichkeit fehlt etwa, wenn der Täter selbst ohnmächtig,<br />
gefesselt oder gelähmt ist. Ebenso bei mangelnder räumlicher<br />
Nähe zur Gefahrensituation (also etwa: der Täter ist in München, das<br />
Opfer in Hamburg) sowie bei individueller Unfähigkeit (also etwa beim<br />
Nichtschwimmer, der einen Ertrinkenden nicht aus dem Wasser holen<br />
kann). In diesen Fällen wird man teils gar keine Prüfung beginnen, teils<br />
aber auch überlegen, ob der Täter nicht wenigstens irgendetwas Sinnvolles<br />
tun konnte: Auch wer selbst nicht schwimmen kann, kann u.U. Hilfe<br />
herbeiholen.<br />
b) Die objektive Zurechnung beim unechten UnterlassungsdeliktAuch beim Unterlassungsdelikt<br />
über Kausalzusammenhang hinaus allgemeine Grundsätze<br />
der objektiven Zurechnung wie für das Begehungsdelikt<br />
Bsp.: Verhindert die garantenpflichtige Ärztin nicht die Verwechslung eines Medikaments mit<br />
einem Gift durch den Pflegepraktikanten, wirkt aber dieses Gift erst zusammen mit einer unabhängig<br />
davon und ohne Wissen des Praktikanten und der Ärztin von X verabreichten Gift<br />
tödlich (kumulative Kausalität), so ist die objektive Zurechnung zu verneinen, da sich nicht das<br />
typische Risiko der ersten Giftdosis realisiert, sondern ein völlig atypischer Kausalverlauf dazu<br />
kommt.<br />
<br />
Zusätzliche Forderung: „gebotene“ Handlung müsste nicht nur zur Abwendung<br />
des konkreten Erfolges, sondern zur Erhaltung oder wesentlich<br />
geringeren Verletzung des Rechtsguts überhaupt geführt haben<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 77
Prof. Dr. Hans Kudlich<br />
B. Das Unterlassungsdelikt<br />
Präsentationen Strafrecht I (Vorlesung und Kleingruppe)<br />
Ausgangspunkt: Gleiche Grundsätze wie beim Begehungsdelikt<br />
Zusätzlich: Gebotene Handlung dürfte nicht nur zur Abänderung<br />
des konkreten Erfolges (Ersatz einer Ursache durch eine andere)<br />
geführt, sondern müsste (sicher oder mit größerer Wahrscheinlichkeit,<br />
str.) Rettung des Rechtsguts bewirkt haben.<br />
ohne gebotene<br />
Handlung:<br />
mit gebotener<br />
Handlung:<br />
fehlende<br />
Zurechnung:<br />
b) Die objektive Zurechnung<br />
beim unechten Unterlassungsdelikt<br />
Kausalverlauf<br />
Kausalverlauf unterbrochen<br />
Rechtsgutsverletzung auf<br />
etwas anderem Weg<br />
Erfolg<br />
Bsp.: 90 T war mit seinen zweijährigen Zwillingen X und Y in einem brennenden Hochhaus eingesperrt.<br />
Ein Entkommen durch das Treppenhaus war unmöglich. Die einzige Rettungschance<br />
für X und Y bestand darin, dass T sie aus dem 15 m hoch gelegenen Fenster geworfen hätte.<br />
Da allerdings die Feuerwehr nicht anwesend war, hätte nur die 75-jährige O unten versuchen<br />
können, X und Y zu fangen. Der verzweifelte T konnte sich nicht dazu durchringen, seine Kinder<br />
aus dem Fenster zu werfen und rettete sich selbst im letzten Moment mit einem Sprung aus<br />
dem Fenster, wobei er gerade noch Äste eines nahe am Haus stehenden Baumes erreichte, die<br />
zwar sofort abbrachen, aber den Sturz soweit abfedern konnte, dass T schwer verletzt überlebte.<br />
Seine Kinder verbrannten.<br />
Hier hätte T zwar ohne Zweifel der Erfolg in seiner konkreten Gestalt (Verbrennen)<br />
von X und Y abwenden können. Angesichts der verschwindend geringen<br />
Rettungschance im konkreten Fall kann T aber nicht vorgeworfen werden, dass er<br />
den Feuertod nicht durch den tödlichen Sturz abwandte. Man kann insoweit auch<br />
vom Erfordernis eines speziellen Pflichtwidrigkeitszusammenhangs zwischen Un-<br />
terlassen und Erfolg sprechen; 91 insoweit ist wenig verwunderlich, dass auch hier<br />
Vertreter der Risikoerhöhungslehre einen zurechenbaren Erfolg dann annehmen,<br />
wenn die unterlassene Handlung die Rettungschancen signifikant erhöht hätten,<br />
während die Gegenansicht auch hier in dubio pro reo anwendet und die Zurechnung<br />
schon verneint, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Erfolg auch bei<br />
Vornahme der Handlung eingetreten wäre.<br />
c) Die Garantenstellung<br />
<br />
Ausgangspunkt: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens setzt in<br />
§ 13 StGB besondere Position des Täters voraus“ „rechtlich dafür einzustehen<br />
hat, dass der Erfolg nicht eintritt, ...“<br />
sog. Garantenpflicht<br />
Klausurhinweis:<br />
Auch wenn es im Eifer des Gefechts gerne durcheinander geworfen<br />
wird: Bemühen Sie sich um die korrekte terminologische Unterscheidung<br />
zwischen Garantenstellung und Garantenpflicht: Die Garantenstellung<br />
kennzeichnet die Umstände, die zu einer Garantenpflicht führen<br />
können. In vielen Fällen ist es zwar möglich, beide Begriffe zu<br />
verwenden, so wenn z.B. gefragt wird, „woraus sich denn eine Garantenstellung<br />
/ eine Garantenpflicht [m.E. genauer] ergeben könne“.<br />
In anderen Fällen (etwa bei Irrtumsfragen, vgl. dazu unten) ist aber<br />
das Verständnis von dieser Unterscheidung unverzichtbar und die<br />
korrekte Terminologie eine Möglichkeit, kurz und prägnant bestimmte<br />
Zusammenhänge unmissverständlich zu benennen.<br />
<br />
Begründung von Garantenpflichten:<br />
• ältere „Rechtsquellenlehre“ unterscheidet Quellen für Garantenpflichten:<br />
∗<br />
Gesetz (z.B. § 1626 BGB – Personensorge der Eltern für ihre<br />
Kinder; § 1353 BGB unter Ehegatte; § 2 I LPartG unter eingetragenen<br />
Lebenspartnern)<br />
90 Nach BGH JZ 1973, 173 (hinsichtlich der Rettungschancen abgewandelt!).<br />
91 So Wessels/Beulke, Rn. 731.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 78
∗<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
Vertrag (z.B. die Zusage des Bankkunden, Fehlbuchungen zu offenbaren;<br />
ärztlicher Behandlungsvertrag)<br />
tatsächliche (auch freiwillige) Übernahme von Schutzpflichten (insbesondere<br />
auch bei einem unwirksamen Vertrag; wesentlich vor allem,<br />
dass Schutzbedürftiger im Vertrauen auf Übernahme andere<br />
Schutzmaßnahmen unterlassen hat)<br />
enges Gemeinschaftsverhältnis (auch über die gesetzlichen Vorschriften<br />
des Familienrechts hinaus; nicht dagegen bei bloßen Zufallsgemeinschaften<br />
wie „Zechkumpanen“ oder den zufälligen Opfern<br />
einer Schiffskatastrophe)<br />
Ingerenz (d.h. gefahrschaffendes Vorverhalten)<br />
• nach h.M. grundsätzlich nur pflichtwidriges Vorverhalten<br />
ausreichend<br />
• z.B. (-) für durch Notwehr Gerechtfertigten gegenüber dem<br />
verletzten Angreifer 92 oder für verkehrsgerecht fahrendem<br />
Autofahrer gegenüber Unfallsopfer (letzteres str., da z.T.<br />
angenommen wird, dass erlaubtes Risiko Ingerenz nach<br />
Eintritt einer konkreten Gefahr nicht notwendig ausschließt<br />
[„Fortbestehen von Rechtsgutsverletzungsvermeidepflichten“])<br />
Sachherrschaft über eine Gefahrenquelle<br />
• z.B. der Halter eines gefährlichen Hundes; Aufsichtsführer<br />
in einem Atomkraftwerk<br />
• u.U. auch Aufsichtspflichtiger über gefährliche Personen<br />
(Wärter eines gewaltbereiten Geisteskranken), nicht aber<br />
automatisch Verantwortung eines Ehegatten zur Verhinderung<br />
von Straftaten des anderen Gatten<br />
• nicht ohne Weiteres der Inhaber einer „an sich“ ungefährlichen,<br />
aber „missbrauchbaren“ Sache<br />
• „Funktionenlehre“ unterscheidet zwei Arten von Garantenpflichten:<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
sog. Beschützer- oder Obhutsgaranten: verantwortlich für ein<br />
Rechtsgut gegenüber allen möglichen Gefahren<br />
Beispiel wäre das Verhältnis von Eltern oder anderen Aufsichtspersonen (Kindermädchen)<br />
zu kleinen Kindern<br />
sog. Überwacher- oder Sicherungsgaranten: verantwortlich für<br />
die Überwachung einer Gefahrenquelle gegenüber allen möglichen<br />
Rechtsgütern<br />
Beispiele wären die Halter gefährlicher Tiere, Aufseher in einem Atomkraftwerk<br />
u.ä.<br />
Kritik: zwar anschauliche und leicht einprägsame Systematisierung;<br />
aber keine Erklärung, woher Garantenpflichten letztlich<br />
kommen<br />
92 Grundlegend BGHSt 23, 327 ff. Diese Einschränkung erscheint mir überzeugend: Denn zum<br />
einen würde das Notwehrrecht, das der Gesetzgeber bewusst als ein „schneidiges“ gestaltet hat,<br />
beeinträchtigt, wenn der Notwehr Übende damit rechnen müsste, dass ihm aus seinem Notwehrhandeln<br />
eine strafbewehrte Garantenstellung erwächst. Zum anderen ist nicht ersichtlich,<br />
weshalb der rechtswidrig Angreifende ausgerechnet von seinem (Notwehr übenden) Opfer ein<br />
Mehr an Hilfe erwarten können sollte als von jedermann sonst.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 79
Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 87<br />
C. Besondere Verbrechensformen<br />
Rechtsquellenlehre: Garantenstellung aus<br />
•Gesetz (z.B. § 1626 BGB)<br />
•Vertrag<br />
•Ingerenz (pflichtwidriges gefahrschaffendes Vorverhalten)<br />
•enges Gemeinschafts-/Vertrauensverhältnis<br />
•freiwillige Übernahme<br />
Funktionenlehre: Unterteilung der Garantenstellung in<br />
•Beschützergarant (= Obhutsgarant): Zuständigkeit für ein<br />
Rechtsgut gegen alle Arten von Gefahren<br />
Gefahr<br />
Rechtsgut<br />
Gefahr<br />
•Überwachergarant (= Sicherungsgarant): Zuständigkeit für eine<br />
Gefahrquelle hinsichtlich aller davon bedrohten Rechtsgüter<br />
Gefahr<br />
Rechtsgut<br />
• Soziologisch fundierte Garantenlehren: Ableitung von Handlungspflichten<br />
aus jeweiliger Rolle des Individuums innerhalb der Gesellschaft;<br />
Garantenpflichten als „gebündelte objektive Verhaltensanordnungen“<br />
innerhalb einer sozialen Rolle<br />
Bsp.: Gegenüber Eltern gibt es innerhalb unserer Gesellschaft die Erwartungshaltung,<br />
dass diese sich um ihre Kinder kümmern. Gerade auf<br />
Grund dieser Erwartung werden u.U. andere sich nicht um die Kinder<br />
kümmern, auch weil sie sich nicht „einmischen“ wollen. Weil die Gesellschaft<br />
also davon ausgeht, dass Eltern ihre Kinder versorgen, müssen<br />
diese das auch tun, weil die Gesellschaft grundsätzlich gar nicht darauf<br />
eingerichtet ist, dass Kinder generell unversorgt wären.<br />
• Zusammenfassung und Stellungnahme<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
Unterschiedliche Garantenlehren schließen sich nicht aus, sondern<br />
ergänzen einander<br />
Begründung eher über Rechtsquellenlehre, materielle Erwägungen<br />
und soziologische Theorien<br />
Beschreibung und Systematisierung eher über Funktionenlehre<br />
• Zurückführung von Garantenpflichten auf ein oder auf mehrere<br />
Grundelemente (für sich genommen jeweils M.M., als zusätzlich begründendes<br />
Element oft plausibel), z.B.:<br />
∗<br />
∗<br />
∗<br />
Gefahrschaffung<br />
Vertrauensprinzip<br />
Unterscheidung von Garantenpflichten<br />
• kraft Organisation (d.h. kraft Zuständigkeit für Gefahrenquellen<br />
aus dem eigenen Organisationskreis)<br />
• kraft Institution (d.h. kraft besonderer Verantwortlichkeit für<br />
bestimmte Güter). 93<br />
93 Vgl. etwa Kindhäuser, LPK/StGB § 13 Rn. 34 ff.<br />
Klausurhinweis:<br />
In Klausuren erscheint es mir ratsam, grundsätzlich von der Rechtsquellenlehre<br />
auszugehen, die entsprechenden Obergruppen aber<br />
nicht von Anfang an zu eng zu fassen. Liegt ein Grenzfall vor, kann<br />
mit Erwägungen wie der Zuständigkeit, der gesellschaftlichen Erwartung,<br />
dem Vertrauensprinzip etc. weiter argumentiert werden. Die<br />
Einteilung nach der Funktionenlehre ist nur sinnvoll, um sich selbst<br />
zu verdeutlichen, um welche Art von Garantenstellung es geht, trägt<br />
aber zur Frage, ob eine solche vorliegt, wenig bei. (Bsp.: Wird festgestellt,<br />
dass Eltern eine Garantenstellung für ihre Kinder haben, dann<br />
ist das regelmäßig eine Beschützergarantenstellung; d.h. sie müssen<br />
Gefahren von den Kindern abwehren. Damit ist noch nicht gesagt, dass<br />
sie auch Überwachergaranten für das Verhalten ihrer Kinder in dem<br />
Sinne sind, dass sie von ihren Kindern ausgehende Gefahren überwachen<br />
müssten.).<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 80
Irrtum über Garantenstellung und Garantenpflicht<br />
• Vorsatz muss sich auf objektive Bestehen einer Garantenstellung beziehen<br />
(§ 15 StGB)<br />
• Bei diesbezüglichen Irrtümern zwei Fälle zu unterscheiden:<br />
∗<br />
Irrtum über die Garantenstellung: Täter kennt die tatsächlichen Umstände<br />
nicht, die seine Garantenstellung begründen<br />
nach § 16 I 1 StGB kein Vorsatz<br />
Bspe.:<br />
Die Mutter, die ihr 1-jähriges Kind auf der Straße liegen lässt, wo es nach einer<br />
Minute von einem Auto überfahren wird, hat nicht erkannt, dass es ihr Kind ist.<br />
Sie glaubt dieses zuhause bei der Oma des Kindes.<br />
Der Hundehalter, der nicht einschreitet, als sein Hund auf der Straße einen Menschen<br />
zerfleischt, erkennt nicht, dass es sich um seinen Hund handelt. Er glaubt<br />
diesen zuhause im Zwinger.<br />
Der Autofahrer, der einen Passanten auf der Straße liegen sieht, hat nicht gemerkt,<br />
dass gerade er ihn angefahren hat. Er kennt also nicht die seine Ingerenz begründenden<br />
Umstände.<br />
Klausurhinweis:<br />
In allen drei genannten Beispielen liegt die Annahme nahe, dass der<br />
jeweilige Garant seine Garantenstellung aber hätte erkennen können<br />
und das er bei dem Nichterkennen sorgfaltspflichtwidrig gehandelt<br />
hat (wofür freilich im Sachverhalt noch nähere Angaben stehen<br />
müssten). Insoweit käme – soweit strafbar, vgl. § 15 StGB – ein fahrlässiges<br />
Unterlassungsdelikt in Betracht.<br />
∗<br />
Irrtum über die Garantenpflicht: Täter erkennt die tatsächlichen Umstände,<br />
leitet aber aus diesen in Folge einer falschen rechtlichen<br />
Bewertung keine Garantenpflicht ab<br />
kein Irrtum nach § 16 I 1 StGB, sondern nur Verbotsirrtum<br />
nach § 17 StGB<br />
Bspe.:<br />
Die Mutter erkennt, dass ihr Kind auf der Straße liegt, denkt aber, das gehe sie<br />
nichts an, wenn gerade ihre Schwiegermutter „mit Aufpassen dran“ sei.<br />
Der Autofahrer hat gemerkt, dass er den Fußgänger angefahren hat, denkt aber, er<br />
müsse sich nicht um ihn kümmern, weil „doch dazu der ADAC da“ sei.<br />
d) Die Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen<br />
<br />
<br />
§ 13 I StGB: „das Unterlassen (muss) der Verwirklichung des gesetzlichen<br />
Tatbestandes durch ein Tun“ entsprechen<br />
Bedeutung der Gleichstellungsklausel<br />
• Bei reinen Erfolgsdelikten (z.B. §§ 212, 303 StGB) nach h.M. ohne<br />
Bedeutung<br />
• Bei verhaltensgebundenen Delikten (z.B.: § 263 StGB, Betrug: nicht nur<br />
Verursachung eines Vermögensschadens, sondern gerade Handeln<br />
durch Täuschung; § 211 II 2. Gruppe StGB: nicht nur Verursachung<br />
des Todes, sondern auf heimtückische, grausame oder gemeingefährliche<br />
Weise) durch Auslegung zu ermitteln sein, wann beim Unterlassen<br />
vergleichbarer Unrechtsgehalt vorliegt. 94 Aber auch hier zumeist<br />
keine zu hohen Anforderungen.<br />
3. Rechtswidrigkeit und Schuld beim unechten Unterlassungsdelikt<br />
<br />
<br />
Ausgangspunkt: Geltung der allgemeinen Grundsätze über Rechtswidrigkeit<br />
und Schuld; allerdings jeweils eine Besonderheit<br />
Rechtswidrigkeitsebene: nach h.M. Rechtfertigungsgrund der sog. Pflichtenkollision,<br />
wenn bei mehreren, nicht gleichzeitig erfüllbaren Handlungspflichten<br />
keine höherrangige Pflicht verletzt wird, d.h.<br />
• von unterschiedlichen wichtigen Pflichten muss die höherrangige erfüllt<br />
werden<br />
94 Vgl. Kindhäuser, LPK/StGB, § 13 Rn. 5.<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 81
• von zwei gleichrangigen Pflichten muss wenigstens eine erfüllt werden<br />
Bspe.:<br />
(1) A hat durch Unaufmerksamkeit sein Haus in Flammen gelegt. Er steht<br />
vor seinem brennenden Wohnhaus und kann nur noch entweder seinen<br />
Sohn S oder seine Tochter T retten. Wenn A eines der Kinder rettet, kann<br />
ihm das Unterlassen der Rettung des anderen nicht vorgeworfen werden<br />
(gleichrangige Pflichten).<br />
(2) A rettet weder S noch T und schon gar nicht seine Frau F, sondern<br />
seine heimliche Geliebte G, die sich wegen der unerwarteten Ankunft von<br />
F, S und T im Kleiderschrank versteckt hatte. Mit G möchte T ein neues<br />
Leben beginnen. Hier ist die Pflicht zur Rettung der Familienangehörigen<br />
jedenfalls höherrangig als die zur Rettung seiner Geliebten.<br />
Schuldebene: nach verbreiteter Auffassung Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens<br />
als zusätzlicher Entschuldigungsgrund (a.A.: wie bei § 323c StGB<br />
sogar Tatbestandsausschließungsgrund)<br />
Bsp.: A sieht, wie sein Sohn S im Eis eingebrochen ist und zu ertrinken droht.<br />
(1) Ist A Nichtschwimmer und hat außerdem ein eingegipstes Bein, kann ihm die Rettung des S<br />
physisch-real bereits unmöglich sein (wenn im konkreten Fall keine Möglichkeit besteht, den S<br />
irgendwie von einem Boot aus mit einer Stange o.ä. zu retten).<br />
(2) Ist A dagegen an sich ein guter Schwimmer, aber auf Grund einer angeborenen Immunschwäche<br />
äußerst krankheitsanfällig und gerade dabei, eine Lungenentzündung auszuheilen, wäre<br />
ihm die Rettung des S physisch-real wohl noch möglich. Allerdings kann es ihm unzumutbar<br />
sein, in das eiskalte Wasser zu springen, wenn er ernsthaft damit rechnen muss, dabei so krank<br />
zu werden, dass er diese Erkrankung auf Grund seiner schwachen Konstitution wahrscheinlich<br />
nicht überlebt.<br />
<br />
nicht, dass ein Mensch, für den er garantenpflichtig ist, in Lebensgefahr<br />
geraten ist.<br />
Prüfungsschema:<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht <strong>AT</strong> I p. 91<br />
C. Besondere Verbrechensformen<br />
Tatbestand<br />
Schuld<br />
Pr üfungsschema des fahr lässigen Unterlassungsdelikts<br />
•Erfolgseintritt<br />
•Unterlassen (= kein<br />
Tun)<br />
• Nichtvornahme der<br />
gebotenen, tatsächlich<br />
möglichen Handlung<br />
•Quasi-Kausalität<br />
•Garantenstellung<br />
Unechte Unterlassungsdelikte auch bei Fahrlässigkeitsstraftaten vorstellbar<br />
Rechtswidrigkeit<br />
•Sorgfaltspflichtverletzung<br />
•Objektive Zurechnung<br />
•Gleichwertigkeitsklausel<br />
Insb. Probleme der Pflichtenkollision<br />
Insb. Probleme der Zumutbarkeit<br />
normgemäßen Verhaltens<br />
4. Das fahrlässige Unterlassungsdelikt<br />
<br />
<br />
Insbesondere einschlägig, wenn der Täter vorwerfbar<br />
• das Erfordernis einzugreifen oder<br />
• seine Garantenstellung übersieht<br />
Bsp.: Der Garant erkennt fahrlässig nicht, dass eine Gefahrenquelle, für<br />
die er verantwortlich ist, einen Menschen tötet. Oder: er kennt fahrlässig<br />
Prof. Dr. Hans Kudlich Vorlesung Strafrecht I (<strong>AT</strong> I), WS 2004/2005 S. 82