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Fräulein Gaby Hoffmann (Vorschau)

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<strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong><br />

Unser <strong>Fräulein</strong> <strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong> ist<br />

witzig, schlau und dabei wahnsinnig<br />

ehrlich. Auch darum legt die amerikanische<br />

Schauspielerin und Tochter von<br />

Andy Warhols Superstar Viva großen<br />

Wert auf die Privatsphäre. Die Bilder<br />

auf diesen ersten, persönlichen Seiten<br />

sind vor allem Snapshots von ihrer<br />

Kunstsammlung.<br />

Nr.13<br />

1<br />

Nr.13


MAXMARA.COM


Nr.13<br />

9<br />

Nr.13


EDITORIAL<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

von allen Wetterumschwüngen ist der anbrechende Frühling<br />

der unmittelbarste und intensivste. Wenn die ersten<br />

wärmenden Sonnenstrahlen die Menschen auf die Straße<br />

locken, die Pollen die Sinne benebeln, einem überall küssende<br />

Paare im Weg herumstehen und ganz verliebt tun,<br />

dann regt sich etwas in uns. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit<br />

und Euphorie kommt auf.<br />

Das beeinflusst sicher die „Temperatur“ und Stimmung<br />

in unserer Redaktion, die auch im neuen Jahr wieder Zuwachs<br />

bekommmen hat durch junge, hungrige Kollegen.<br />

Ihre Ideen und Fragen haben uns bewegt und Spuren in<br />

der <strong>Fräulein</strong> hinterlassen. Vielleicht ist das neue Heft ein<br />

wenig ernster als die vorherigen geworden, so beginnt das<br />

Interview mit unserem Titelfräulein <strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong>, einer<br />

der spannensten Independent Schauspielerinnen der USA<br />

und Tochter von Andy Warhols Superstar Viva, mit ihrer<br />

Wut auf die politische Kultur in den USA. Der Autor Etgar<br />

Keret sorgt sich um seinen kleinen Sohn, der mitten<br />

im Nahostkonflikt aufwächst und die Anti-Atomkraft-Aktivistin<br />

Helen Caldicott gibt sich frustriert über die Lage<br />

in Fukushima.<br />

Der anbrechende Jahreszeit hat eben zwei Gesichter. Im<br />

Frühlingserwachen lauert immer etwas negatives, zerstörerisches.<br />

Wettgemacht wird dies nur von der rauschhaften<br />

Wiedergeburt der Natur, die uns selbst ein kurzes<br />

Gefühl der Unsterblichkeit schenkt.<br />

Also keine Sorge, <strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong> entflieht zum Ende unseres<br />

Gesprächs in die Wälder „upstate“ New York, um<br />

dort mit „verdammt gut aussehenden Waschbären“ zu Oris<br />

Redding zu tanzen und Helen Caldicott ruft alle Leserinnen<br />

auf zur Revolte!<br />

Wieder in der <strong>Fräulein</strong> zu finden sind außerdem das<br />

Schnittmuster, diesmal von Tory Burch, Modestrecken<br />

und Must-Haves, eine Tagesreise in die kommende<br />

Kunst-Hauptstadt Detroit und ein tiefer Blick in die Sterne,<br />

der diesmal Formidables verspricht.<br />

Am wichtigsten ist mir hier zu sagen, dass die <strong>Fräulein</strong><br />

einmal mehr mit Leidenschaft und Liebe geschrieben, fotografiert<br />

und gelayoutet worden ist. Uns geht es um die<br />

persönlichen Geschichten abseits der allzeitigen Aufregungsökonomien,<br />

wir wollen jene Stimmen zu Wort kommen<br />

lassen, die vielleicht nicht die lautesten sind, unserer<br />

Meinung nach aber relevantes zu erzählen haben.<br />

Genießen sie nun den Frühling, nehmen Sie die <strong>Fräulein</strong><br />

mit nach draußen in den Park oder die Natur und erzählen<br />

sie von uns, ob den Freunden, der Familie oder den Kollegen,<br />

denn nur mit Ihnen, den Leserinnen und Lesern, hat<br />

unabhängiger Magazinjournalismus eine Zukunft.<br />

Ihr Götz Offergeld<br />

P.S. Neben den Lesern möchte ich nicht vergessen, mich<br />

bei all den hervorragenden Fotografen, Illustratoren und<br />

Schreibern herzlich zu bedanken, ohne die das <strong>Fräulein</strong><br />

Magazin nicht wäre was es ist. Insbesondere aber möchte<br />

ich mich bei einem Menschen bedanken, der mich in letzer<br />

Zeit sehr inspiriert hat, nicht nur durch sein Talent, sondern<br />

vor allen Dingen durch seine menschliche Größe und<br />

seinen unwiderstehlichen Charme. Vielen Dank André für<br />

den neuen <strong>Fräulein</strong> Schriftzug.<br />

Nr.13<br />

11


MAISON KITSUNÈ<br />

PARIS • NEW YORK • TOKYO<br />

www.kitsune.fr


Illustration: Elena Xausa — www.ex-designer.it<br />

GABY HOFFMANN<br />

...ist echter New Yorker „Downtown Adel“ und eine der<br />

aufregensten Schauspielerinnen ihrer Generation.<br />

S.66<br />

HELEN CALDICOTT<br />

Aktivistin gegen den Atomaren Holocaust.<br />

PHARMAKON<br />

<strong>Fräulein</strong>s höllisches Talent macht keine Gefangenen.<br />

S.18<br />

POSTMIGRANTISCHE<br />

REVOLTE<br />

Shermin Langhoff bricht am Gorki-Theater mit der Tradition.<br />

S.98<br />

SCHNITTMUSTER<br />

Tory Burch schickte uns das Schnittmuster für ein<br />

elegantes und frühlingshaftes Leinen-Kleid.<br />

S.60<br />

90‘S RIOT<br />

Jutha Köther und Kim Gordon über ein Leben nach der<br />

Digitalen Revolution.<br />

S.46<br />

DARKTECH<br />

Fuck Pop, hier kommt die echte Subkultur.<br />

S.100<br />

S.110<br />

FRAUEN IN DER MAFIA<br />

<strong>Fräulein</strong>s Netzwerkkarte portraitiert die harten Bräute der Cosa Nostra.<br />

S.26<br />

NARZISS 3.0<br />

Der Hype ums Selfie nervt. Selbstbespiegelungen gibt es<br />

seit Anbeginn der Kultur. Hier geht es um das Selbstportrait<br />

heute und so Mythen wie „Narziss „und „Spieglein<br />

Spieglein an der Wand“.<br />

S.22<br />

Nr.13<br />

14 15<br />

Nr.13


CONTRIBUTORS<br />

JOHI VON BRUISES<br />

Schweiß, Sex und schwarze Tränen:<br />

die Bilder der Darktech-Szene von Johi<br />

von Bruises dampfen vor lauter Street<br />

Credibility.<br />

KATRIN FUNCKE<br />

Die Illustration von Katrin für das<br />

Antifräulein oszilliert wie immer großartig<br />

zwischen DaDa und Pop.<br />

ROMINA ROSA<br />

So realistisch wie verspielt, sind Rosas Zeichnungen<br />

für unsere Rubrik „Sachen gibt’s“ ein<br />

toller Anschluss zur <strong>Fräulein</strong>.<br />

MIRJAM WÄHLEN<br />

Shermin Langhoff war ganz begeistert, als sie erfuhr,<br />

dass Mirjam sie für unsere Rubrik „Der Körper“<br />

fotografieren würde. Zurecht!<br />

CHRISTIAN FAHRENBACH<br />

Die Damen waren hart drauf, aber Christian<br />

stellte Kim Gordon und Jutta Koether in<br />

New York die richtigen Fragen.<br />

HANNO HAUENSTEIN<br />

In Tel Aviv traf Hanno den Autoren Etgar<br />

Keret für ein so nachdenkliches wie<br />

lustiges Gespräch über das Fremdgehen<br />

und „beschissene Literatur“.<br />

SABINE VOLZ<br />

Ihr Foto zum Rezept definiert den selbstgemachten,<br />

persönlichen <strong>Fräulein</strong>-Ton.<br />

JAKOB KRAKEL<br />

So einen pedantischen Grübler wie<br />

Jakob Krakel zur Einhaltung der<br />

Deadline zu zwingen, ist schwer. Sein<br />

Interview mit Helen Caldicott kam<br />

kurz vor Zwölf.<br />

WÄIS KIANI<br />

Antifräulein ist immer ein echter<br />

Aufreger im <strong>Fräulein</strong>kosmos. Diesmal<br />

geht es Cara Delevigne an den Kragen.<br />

FABIAN BLASCHKE<br />

In der Staatsoper traf Fabian die Sängerin<br />

Anna Prohaska und portraitierte sie<br />

für unseren „Durchbruch“.<br />

LENIA HAUSER<br />

hat die schöne und persönliche<br />

Illustration zu unserem Rezept<br />

gezeichnet.<br />

PARASKEWI PALASKA<br />

Paraskewis Illustration für das Horoskop<br />

gibt dem Spährenklang der Sterne<br />

die notwendige „edginess“.<br />

MAXIMILIAN MÄRZINGER<br />

Großen Dank für sein Styling der Candy<br />

Boy und Shadowplay Modestrecke,<br />

sieht gut aus!<br />

JAN PHILIPP LESSNER<br />

hat keine Mühen gescheut um sein Model,<br />

eine süße aber etwas moppelige Biene, in<br />

Szene zu setzen.<br />

NORA LUTHER<br />

ist <strong>Fräulein</strong>s gestalterische<br />

Allzweckwaffe.<br />

IRINA GAVRICH<br />

So cool und kontrolliert Irinas Fotografien<br />

auch sein mögen, sie haben<br />

den Soul in sich.<br />

Nr.13<br />

16<br />

STEFAN ARMBRUSTER<br />

Ohne eine Modestrecke von Stefan<br />

Armbruster läuft in der <strong>Fräulein</strong> wenig.<br />

Sein Candy-Boy ist Zucker für<br />

euch Ladys da draußen!<br />

ELENA XAUSAS<br />

italienisches Herz lodert im <strong>Fräulein</strong>-Inhaltsverzeichnis<br />

hell auf.<br />

CRISTINA KEUTER<br />

Ihre Illustrationen für <strong>Fräulein</strong> sind<br />

so rätselhaft wie super chic.


TALENT<br />

Text: Sina Braetz<br />

rebecca<br />

minkoff<br />

IHRE MUTTER KAUFTE IHR<br />

EINE NÄHMASCHINE UND<br />

MOTIVIERTE SIE, IHREN<br />

TRAUM ZU LEBEN. BIS<br />

REBECCA MINKOFF IHREN<br />

PLATZ FAND, DAUERTE ES<br />

ALLERDINGS.<br />

Rebecca Minkoff ist eine toughe,<br />

zielstrebige Businessfrau und gleichzeitig<br />

eine liebevolle, junge Mutter. In<br />

New York wird sie schon seit Längerem<br />

gehypt, nicht nur wegen ihrer<br />

Mode, sondern besonders, weil die<br />

junge Designerin die Geschichte eines<br />

beeindruckenden Familienzusammenhalts<br />

erzählt. Was klein angefangen<br />

hat, ist heute ein florierendes Unternehmen:<br />

Das Haus Minkoff zählt<br />

900 Verkaufsstellen weltweit, designt<br />

eine Jeans- und Ready-to-wear-Linie,<br />

seit Kurzem auch für Männer, Accessoires<br />

und Schuhe.<br />

Minkoff war 18 Jahre alt, als sie allein<br />

nach New York zog und versuchte,<br />

ihre eigene Firma auf die Beine zu<br />

stellen. Dann, als die gebürtige Kalifornierin<br />

kurz davor war aufzugeben,<br />

stieg ihr Bruder ein ins Business und<br />

wurde CEO. Heute ist Minkoff eine<br />

der vier größten Handtaschendesignerinnen<br />

in den USA. Es sind starke<br />

Frauen, die Minkoff inspirieren, wie<br />

beispielsweise Soldad Gompf von<br />

der Non-Profit Organisation „Foundation<br />

for International Community<br />

Assistance“ (FINCA), die finanziell<br />

schwache Unternehmen unterstützt<br />

und in der auch Minkoff aktiv ist. Die<br />

„American Apparel & Footwear Association“<br />

zeichnete das junge Talent<br />

vor zwei Jahren als Designerin des<br />

Jahres aus, der „Accessoires Council“<br />

verlieh ihr den „Breakthrough Design<br />

Award“.<br />

Info: Rebecca Minkoff ist ein Accessoireund<br />

Ready-to-wear Label mit Sitz in<br />

New York. Eine eigene Interpretation der<br />

„I love New York“-T-Shirts brachten ihr<br />

2001 den Durchbruch.<br />

Nr.13<br />

18


TALENT<br />

Text: Maja Hoock<br />

Foto: Jane Chardiet<br />

pharmakon<br />

PHARMAKON MACHT<br />

NOISE-MUSIK, DIE VON<br />

GANZ WEIT UNTEN<br />

ZU KOMMEN SCHEINT,<br />

UND DENJENIGEN, DER<br />

SICH IHR HINGIBT, WIE<br />

NEUGEBOREN UND<br />

GEREINIGT ZURÜCK-<br />

LÄSST.<br />

Alleine ihr Name deutet auf etwas<br />

hin, das wehtut – Pharmakon bedeutet<br />

Medizin, aber auch Gift und so klingt<br />

auch die Musik der 22-jährigen New<br />

Yorkerin Margaret Chardiet: Sie schreit,<br />

bearbeitet Metall und schlägt mit einem<br />

Holzbrett auf den Boden. Es entsteht ein<br />

musikalischer Schock, Noise-Musik, die<br />

von irgendwo ganz weit unten herrührt.<br />

Diese wird, wenn man sich überwindet<br />

und hingibt, zur Reinigung, da man alles<br />

Dunkle und Brutale durchlebt und von<br />

Gänsehaut geschüttelt wird, um wie neu<br />

geboren aus ihrem Konzert zu kommen.<br />

Dass diese Musik von einer zarten, blonden<br />

Frau kommt, bildet dabei einen wunderbaren<br />

Kontrast, denn für gewöhnlich<br />

dominieren Männer die Szene. Nach ihrem<br />

ersten Album „Abandon“ (Hingabe)<br />

tourte Pharmakon durch die Welt und<br />

löste auch abseits der Noise-Welt Begeisterung<br />

aus.<br />

Am 25. Mai spielt Pharmakon<br />

im „Vera“ in Groningen, NL.<br />

Nr.13<br />

20 21<br />

Nr.13


THEMA<br />

Text: Robert Grunenberg<br />

selfie<br />

Interview: Jakob Krakel<br />

Foto: Elfie Semotan<br />

ELFIE<br />

DAS SELFIE IST IN<br />

ALLER MUNDE. DABEI<br />

IST DER DRANG,<br />

SICH ÜBER BILDER<br />

ZU DEFINIEREN<br />

UND MIT ANDEREN<br />

ZU VERGLEICHEN,<br />

KEIN PHÄNOMEN<br />

DER DIGITALEN<br />

MODERNE ALLEIN.<br />

AM ANFANG DIESER<br />

KULTURGESCHICHTE<br />

STEHT NARZISS.<br />

Immer wieder werden über die medialen<br />

Kanäle überspitzte Behauptungen<br />

zur vermeintlichen Volkskrankheit<br />

Narzissmus in die Welt entlassen: Wir<br />

würden in einer Ellenbogen-Gesellschaft<br />

voller Egoisten leben, soziale Interaktion<br />

– das berühmte Socializen –<br />

diene nur den eigenen Vorteilen, dann<br />

heißt es, unsere Zeitkultur begünstige<br />

sogar die Ausbildung narzisstischer<br />

Verhaltensformen und letztlich narzisstischer<br />

Neurosen. Es klingt, als sei<br />

Narzissmus die Epidemie einer ganzen<br />

Generation. Doch so ganz haut das<br />

nicht hin. Denn die Ausbildung einer<br />

narzisstischen Störung im klinischen<br />

Sinne ist weit komplexer und betrifft<br />

tatsächlich nur einen kleinen Prozentsatz<br />

der Bevölkerung. Was sich im<br />

Alltag als narzisstisch darstellt, ist vielmehr<br />

ein übersteigertes Streben nach<br />

Anerkennung: ein Wille zur totalen<br />

Selbstoptimierung. Doch der Wunsch<br />

perfekt zu sein, fördert keine Individualität,<br />

sondern führt im Gegenteil<br />

dazu, dass die Menschen sich immer<br />

ähnlicher werden. Der Frankfurter Sozialpsychologe<br />

Erich Fromm schrieb<br />

in seinem Buch „Authentisch leben“,<br />

dass mit dem Beginn der westlichen<br />

Wohlstandsgesellschaft ein Drang<br />

nach Konformität und permanenter<br />

Selbstverbesserung entstand. Gefühle<br />

wie Zweifel, Leere oder Unsicherheit<br />

würden einfach wegoptimiert oder<br />

durch kulturelle Opiate zerstreut. Das<br />

war zu Zeiten Erich Fromms bereits<br />

so, gilt in der heutigen paradoxen Konsumkultur<br />

aber umso mehr. Auf der<br />

einen Seite gibt es ausgeklügelte Serviceangebote<br />

wie „Quantified Self Apps“,<br />

die jeden Lebensreich datenmäßig<br />

erfassen, um ihn zu optimieren. Auf<br />

der anderen Seite gibt es Opiate fürs<br />

Volk, die unsere inneren Widersprüche<br />

vermeintlich ausschalten: Alkohol,<br />

Drogen, Zucker, Porno, Fernsehen und<br />

natürlich Angebote im Internet. Das<br />

führt zu Entfremdung, zu einem Loch<br />

im Selbstgefühl. Das Ergebnis und<br />

vermeintlicher Ausweg zugleich ist<br />

eine verzerrte Selbstbespiegelung. Das<br />

Bild, das entsteht, kommt nicht von<br />

innen heraus, sondern ist ein um die<br />

Ecke gedachtes Außenbild. Selbstwert<br />

wird über Selbstvermarktung erzeugt<br />

und Vermarktung denkt immer den<br />

Wunsch der anderen mit. So wird das<br />

Dasein zu einer Art Ware, das Umfeld<br />

und deren Nachfrage wird zum Wertemesser.<br />

Die Selbstbespiegelung in<br />

und durch die Massenmedien ist die<br />

logische Konsequenz. Die Schaffung<br />

sozialer Avatare auf Plattformen wie<br />

Instagram und Facebook dient schließlich<br />

der Aufmerksamkeit anderer Menschen,<br />

womit Selbstwertgefühle von<br />

außen befriedigt werden. Doch mehr<br />

als das: Mit unseren Profilen in sozialen<br />

Netzwerken setzen wir uns selbst<br />

ein Denkmal, ein idealer Abguss, ein<br />

Götzenbild, von dem, was wir eigentlich<br />

nur teilweise sind. Widersprüche,<br />

Zweifel, Schwäche und Zufall – keine<br />

Chance. Unsere Avatare aus Selfies,<br />

kuratierten Profilinformationen und<br />

obligatorischen Humblebrags sind bis<br />

ins letzte Detail kalkuliert und damit<br />

weit davon entfernt echt zu sein. Die<br />

Kreativität und Energie, die dafür aufgebracht<br />

werden, sind enorm. Allein 70<br />

Millionen Selfies werden jeden Monat<br />

bei Instagram geposted. Viel Energie<br />

für viel Ablenkung, mit der es sich erübrigt,<br />

sich seiner selbst bewusst zu<br />

werden. Man lebt seine eigene Illusion.<br />

Transzendiert seine Komplexität in<br />

eine eindimensionale und völlig beschönigte<br />

Selbstbespiegelung. Diese<br />

Überhöhung des Ichs findet sich über<br />

alle Zeiten und ist nicht nur ein Phänomen<br />

unserer Gegenwart. Zu einem<br />

gewissen Grad ist sie sogar natürlich:<br />

Denn um sich selbst zu erkennen, muss<br />

der Mensch sich ein Bild von sich selbst<br />

machen. Kulturelle Ausdrucksformen<br />

dieser Selbstbilder, die jedoch über das<br />

Ziel hinaus schossen, gab es schon immer:<br />

Sei es die Selbstvergewisserung<br />

der eigenen Schönheit, wie sie die Königin<br />

in „Schneewittchen“ mit ihrem<br />

„Spieglein, Spieglein“ befragt oder der<br />

bildhübsche Dorian Gray, der für seine<br />

jugendhafte Makellosigkeit sein Altern<br />

in einem Selbstbildnis auslagert. Am<br />

Anfang dieser Kulturgeschichte steht<br />

Narziss selbst, eine mythologische Figur<br />

Ovids, der sich in einem Tümpel in<br />

sein eigenes Spiegelbild verliebt und<br />

davor verschmachtet bis zum Tod. Im<br />

Selfie der digitalen Bildwelten stecken<br />

viele dieser Mechanismen. Wir verleihen<br />

unseren Abbildern eine Aura,<br />

warten darauf, dass diese geschönten<br />

Selbstbilder viele Likes und Kommentare<br />

kassieren, schließlich will man<br />

nicht untergehen in den vierstelligen<br />

Freundeslisten bei Facebook und abertausenden<br />

Followern auf Instagram.<br />

Die Frage, die sich immer wieder stellt:<br />

Begünstigten unsere Zeit, die Smartphones<br />

und sozialen Netzwerke dieser<br />

Welt wirklich eine kollektive Neurose,<br />

eine narzisstische Akzentuierung unserer<br />

Persönlichkeit? Schwierig. Wahrscheinlich<br />

ist ein verzerrtes Selbstbild<br />

nichts Neuartiges, auch nicht in seiner<br />

gegenwärtigen Dimension. Wir sind<br />

also nicht alle Narzissten, vielleicht<br />

einfach nur ein bisschen am Staunen<br />

über die Möglichkeiten der DIY-Selbstinszenierungen.<br />

Wirklich neu hingegen<br />

ist die Zugänglichkeit zu diesen<br />

Selbstbildern. Denn die sozialen<br />

Medien bieten zum ersten Mal eine<br />

demokratische, systemisch verankerte<br />

Plattform, um diese inszenierten Bilder<br />

unserer selbst zu visualisieren und zu<br />

verbreiten.<br />

ELFIE SEMOTAN ARBEITET SCHON<br />

SEIT JAHRZEHNTEN ERFOLGREICH ALS<br />

MODE- UND MAGAZINFOTOGRAFIN.<br />

NEBEN KOOPERATIONEN MIT<br />

MARTIN KIPPENBERGER UND HELMUT<br />

LANG VERÖFFENTLICHTE SIE IN DER<br />

„VOGUE“,DER „ELLE“ UND DEM „NEW<br />

YORKER“. ZUM THEMA SELFIE<br />

SCHICKTE SIE UNS EIN STILLLELEBEN<br />

MIT CHRYSANTHEMEN.<br />

<strong>Fräulein</strong>: Frau Semotan, als wir<br />

Sie um einen Beitrag zum Thema<br />

Selfie gebeten haben, schickten sie<br />

uns ein Stillleben. Was ist darauf<br />

zu sehen?<br />

Elfie Semotan: Das Bild habe ich erst<br />

vor Kurzem aufgenommen. Sie sehen<br />

darauf nichts Besonderes. Es sind zwei<br />

Chrysanthemen und ein Schaffell. Ich<br />

mag die Lichtstimmung und die ungewöhnliche<br />

Kombination der Elemente.<br />

Was sagt dieses Bild über Sie persönlich<br />

und als Fotografin aus?<br />

So genau möchte ich das gar nicht erklären.<br />

Da würde mir wohl jeder erfahrene<br />

Psychiater sofort widersprechen<br />

(lacht).<br />

Es gibt mittlerweile einen wahnsinnigen<br />

Überschuss an Bildern,<br />

insbesondere an Selbstportraits.<br />

Ja.<br />

Ist Ihr stilles (Selbst-)Bild hierzu<br />

als Antithese zu verstehen?<br />

Auch. Einerseits gibt es in diesem ganzen<br />

Irrsinn der sich ununterbrochen<br />

selbst fotografierenden Menschen immer<br />

wieder mal ein paar bemerkenswerte<br />

Fotos. Andererseits kommt es in<br />

der Fotografie wie in jeder sinnvollen<br />

Arbeit auf Kontinuität an, auf eine klare<br />

Vorstellung davon, was man denn<br />

eigentlich ausdrücken möchte.<br />

Was macht ein gelungenes Selbstportrait<br />

aus?<br />

Da gibt es natürlich unheimlich viele<br />

Zugänge. Aber es muss eine Wichtigkeit<br />

und Bedeutung für einen selbst in<br />

der Arbeit, im Fotografieren, im Bild<br />

liegen. Das zu bewerten ist aber sehr<br />

schwer. Ich saß einmal in der Jury eines<br />

Fotowettbewerbs, in der immer<br />

nur die sichere Nummer ausgewählt<br />

wurde. Doch es gab auch diese Bilder<br />

von einem jungen Mädchen, das<br />

sich selbst mit wenig Licht in einem<br />

kleinen Raum fotografiert hatte. Diese<br />

Bilder waren ... ungewöhnlich. Man<br />

hat mitbekommen, dass es für dieses<br />

Mädchen wichtig war, diese Bilder in<br />

diesem Moment zu machen. Es muss<br />

nicht immer alles neu sein, aber ein<br />

Funken Unbekanntes, der muss schon<br />

mitschwingen.<br />

Können Sie verstehen, dass sich<br />

grade junge Menschen ständig<br />

selbst fotografieren, weil sie Angst<br />

haben, in der digitalen Moderne<br />

ansonsten einfach unterzugehen?<br />

Man kann das sicher so sehen. Man<br />

will sich bestätigen, das Erlebte und<br />

Gesehene kommentieren, anderen<br />

zeigen, dass man überhaupt noch existiert.<br />

Darin liegt aber auch ein gewisser<br />

Narzissmus. So bleibt nur das Äußere,<br />

das Shopping und die Kleider.<br />

Sie haben vor diesem Gespräch<br />

gesagt, dass Sie die Diskussion um<br />

das Phänomen Selfie eigentlich<br />

langweilt, haben aber selbst in Ihrer<br />

langen Karriere immer wieder<br />

Selbstportraits fotografiert. Was<br />

wollten Sie damit herausfinden?<br />

Das ist ein unheimliches Gemisch von<br />

Dingen. Anfänglich ging es um die<br />

Selbstverortung, auch als Frau, in meiner<br />

künstlerischen wie sozialen Umgebung.<br />

Aber es geht wohl grundsätzlich<br />

um das Einnehmen, Festlegen und Sichtbarmachen<br />

einer Position.<br />

Nr.13<br />

22<br />

23<br />

Nr.13


DURCHBRUCH<br />

Text: Willy Katz<br />

Foto: Fabian Blaschke<br />

SIRÈNE<br />

ANNA PROHASKA IST EINE AUFREGENDE, JUNGE OPERN-SÄNGERIN UND EIN LIEBLING DER SZENE. GRUND GENUG<br />

FÜR FRÄULEIN NACHZUFRAGEN, WAS MOZART MIT RAMMSTEIN UND DEM ERSTEN WELTKRIEG ZU TUN HAT UND<br />

WARUM DAS HIRN MEISTENS SCHNELLER SCHALTET ALS DIE STIMME.<br />

Morgens um zehn ist noch nicht viel<br />

los in Sarah Wieners schönem weitläufigen<br />

Café im Hamburger Bahnhof. Eine<br />

Etage höher im gegenüberliegenden<br />

Flügel des Museums für moderne Kunst<br />

liegt Joseph Beuys, außen erstrecken sich<br />

die Reste des Berliner Niemandslandes.<br />

Anna Prohaska ist schon da. Erster Eindruck<br />

nach der Begrüßung und ein paar<br />

Kennenlernfloskeln, da scheint mehr<br />

Grunge als gedacht in der immer leicht<br />

nervösen Hochkultur zu schlummern.<br />

Einen Café, dann geht’s los.<br />

- „Du hast dieses Label weg, junger, schöner<br />

Klassikstar, der auch noch Rammstein<br />

hört. Das nervt doch bestimmt.“<br />

- „Gar nicht! Ich rede gerne über Rammstein.<br />

Das kommt doch eigentlich aus der<br />

linken, ostdeutschen Punkecke. Rammstein<br />

ist total skurril, fast schon Varieté.<br />

Die Tragödie braucht immer auch Humor<br />

...“<br />

... sagt Anna Prohaska lässig, die schon<br />

mit 23 Jahren an die Staatsoper kam<br />

und mit eigentlich allen Wichtigen, mit<br />

Claudio Abbado, Daniel Barenboim, Pierre<br />

Boulez, Simon Rattle UND Christoph<br />

Schlingensief gearbeitet, die 2012 den<br />

Echo als beste Nachwuchskünstlerin<br />

für ihr Soloalbum „Sirène“ bekommen<br />

hat. Die schwarzen Haare sind zurückgebunden,<br />

die Gesichtsfarbe geht im Januarlicht<br />

über ins elfenbeinerne. Derweil<br />

kurze Verschwisterung: Ihre Mutter ist<br />

nordenglisch, so wie die der Pressedame,<br />

die daneben sitzt, so wie die Mutter des<br />

Autors. Und die Beatles? Das waren doch<br />

die „Schuberts der Popmusik“. Guter<br />

Vergleich, weil es stimmt!<br />

- „Als Kind und Jugendliche, hast du da<br />

gegen dein Umfeld, deine singenden und<br />

Musik unterrichtenden Eltern rebelliert?“<br />

- „Ich war schon Außenseiter, aber eher<br />

in der Schule, habe Alte Musik und<br />

Oper gehört, mich erst später in die<br />

Heavy-Metal-Ecke geflüchtet. Das war<br />

episch, emotional, dramatisch, nicht Pop,<br />

aber so bombastisch wie Wagner.“<br />

Was hasst sie? Das Label „bildungsbürgerlich“.<br />

Ist sie natürlich trotzdem. Aber<br />

man verzeiht das. Wer so emphatisch unprätentiös<br />

über klassische Musik spricht,<br />

wer sagt „ich bin ein wenig crazy“ und<br />

über so was Blödes selbst lachen muss,<br />

wer die eigenen Ängste zugibt, aber letztendlich<br />

immer cool bleibt, wer glaubhaft<br />

sagen kann: „Ich bin mit U-3000 auf<br />

MTV aufgewachsen“ und erzählt, dass<br />

Schlingensief auf Proben zwar ab und an<br />

rumgeschrien habe, es aber immer nur<br />

als „die Verarschung eines Regisseurs,<br />

der das so machen würde“ gemeint war,<br />

dem ist man natürlich wohlgesonnen.<br />

Schlingensief hat Anna Prohaska einmal<br />

spontan bei einer Liveperformance<br />

gesagt: „Geh raus und sing die Mathäus-Passion“.<br />

Und dann wäre auf einmal<br />

die Angst weggewesen: „Du hast durch<br />

Christoph den Respekt verloren vor der<br />

Bühnensituation. Sonst sitzt da das Publikum<br />

und du bist das Opferlamm, was in<br />

der Arena geschlachtet wird. Er gab dir<br />

Mut.“<br />

Letztes Jahr hat sie den Abend „Behind<br />

the Lines“ mit Liedern über Soldaten<br />

„METAL IST SO<br />

EMOTIONAL UND<br />

BOMBASTISCH<br />

WIE WAGNER“<br />

gesungen. Der Erste Weltkrieg, das sei<br />

die erste moderne Materialschlacht gewesen.<br />

Stichwörter: Panzer, Flugzeuge,<br />

Schützengräben, Menschen als Kanonenfutter.<br />

Wie Menschenleben verbraucht<br />

und weggeschmissen wurden.<br />

Um das zu verstehen, sang sie Georg Trakls<br />

Gedicht „Der Untergang“. Trakl, der<br />

kurz nachdem er diese Zeilen geschrieben<br />

hat, halb wahnsinnig verendet ist in<br />

einem Lazarett in Galizien. Dann Brecht /<br />

Eisler-Lieder aus dem 30-jährigen Krieg.<br />

So wird Singen zum Erforschen nicht<br />

nur von Klang-, auch von Zeiträumen.<br />

Für Anna Prohaska geht es um Intensitäten,<br />

um historische Konstellationen:<br />

Wagner, Weltkrieg 1, Rammstein, da<br />

führt die Spur entlang.<br />

Und sie mag Kino, erzählt von Jim Jarmuschs<br />

Vampirfilm „Only Lovers Left<br />

Alive“, von Nickcaveartigem, Renaissance-Motiven,<br />

Schubert, Byron, alten<br />

sowjetischen Röhrenfernsehern. So wie<br />

bei Jarmusch, so abseitig fühle sie sich<br />

manchmal. Und dass der alles in den<br />

Beschleuniger schmeißt und klar wird,<br />

Schubert, Beatles, Motown, Black-Metal,<br />

irgendwie alles aus derselben dionysischen<br />

Quelle. Und alles hier und jetzt.<br />

Weil: Jede mögliche Melodiekombination<br />

hat der Pop schon produziert und für den<br />

Rest gab es Frank Zappa und Musik ist<br />

trotzdem toll. Aber auch die Klassik, das<br />

war Pop, die ist nicht tot, die riecht auch<br />

nicht komisch, früher hat man Mozart<br />

auf der Straße gepfiffen. D’accord zu all<br />

dem. Sie bekommt jetzt ihren zweiten<br />

Earl Grey serviert, noch immer ist es<br />

früh, noch immer sitzen wenige Gäste<br />

im Café. Wir sprechen über Rituale am<br />

Morgen, das notwendige Schonen der<br />

Stimme, über großen Diven, von deren<br />

Allüren hält sie wenig.<br />

Manchmal führt Prohaska stattdessen<br />

schizophrene Zwiesprachen mit der eigenen<br />

Stimme, lobt bald ihr Gehirn, das<br />

oft schneller ist als die Gesangsmuskeln,<br />

freut sich über Adrenalinschübe, mit denen<br />

man die c-Moll-Messe von Mozart in<br />

Salzburg überlebt, auch wenn man sich<br />

in die Hose macht vor Ehrfurcht, findet,<br />

dass auch hässliche Stimmen schön<br />

sein können und der Gesang von Anna<br />

Netrebko nach Schokolade und Rotwein<br />

schmeckt.<br />

Auf der Bühne der Staatsoper ist sie<br />

grade in „Le vin herbé“ zu sehen, zwölf<br />

Sänger, sieben Streicher, ein Klavier, „armes<br />

Theater“, sagt sie. Theater aber mit<br />

Wucht, ohne Schnörkel, mit einfachen<br />

Mitteln. Die Geschichte, das sei eigentlich<br />

„Tristan und Isolde“, „aber aus französischer<br />

Sicht und ein wenig anti-deutsch“.<br />

Man kann auch sagen: Punk.<br />

Für den klassisch ungebildeten Autor, der<br />

sich immer doch bereitwillig vom Schönen,<br />

von ein wenig Erhabenheit ohne<br />

Feierlichkeit verführen lässt, für den ist<br />

ein solches Theater auch ein Geschenk.<br />

Und das postmoderne Pop-Prekariat<br />

der <strong>Fräulein</strong>-Leserschaft jetzt mal die<br />

Ohren gespitzt: Schaut euch die Anna<br />

Prohaska an, wie sie da auf der Bühne<br />

der Staatsoper spät-modernistisch leidet<br />

und durchsichtig schaut und so schön<br />

singt. Es ist ein Fest.<br />

Nr.13<br />

24 25<br />

Nr.13


NETZWERK<br />

Text: Robert Grunenberg<br />

Illustration: Patricia Keller<br />

Rosetta Cutolo (*1937)<br />

Camorra<br />

Spitzname: Eisauge<br />

Info: Sie ist die Schwester des notorischen<br />

Camorra-Bosses Raffaele Cutolo, Anführer<br />

der Nuova Camorra Organizzata. Bekannt<br />

dafür, dass sie aus dem Off operierte, entgingen<br />

der Polizei ihre tatsächlichen Aktivitäten.<br />

So half sie zum Beispiel ihrem Bruder bei der<br />

Flucht aus einem Gefängniskrankenhaus.<br />

Sie selbst war bis 1993 auf der Flucht, dann<br />

bis 1999 im Gefängnis. Rosetta statuierte<br />

mit ihrer eiskalten Professionalität ein erstes<br />

Beispiel für eine neue Frauenrolle in der<br />

Mafia.<br />

Erminia Giuliano (*1955)<br />

Camorra, Giuliano-Clan<br />

Spitzname: „Celeste“, die Himmlische, wegen<br />

ihrer blauen Augen.<br />

Info: Leitete bis zur ihrer Verhaftung im Jahr<br />

2000 den Guiliano-Clan. Sie gilt als extrem<br />

aggressiv; erdolchte eine andere Mafiafrau<br />

und fuhr aus Wut einen Wagen in den<br />

Einkaufsladen eines gegnerischen Clans.<br />

Als Erminia nach zehn Monaten Flucht in<br />

einem Geheimzimmer im Haus ihrer Tochter<br />

entdeckt und verhaftet wurde, bestand sie<br />

auf einen Besuch von ihrem Friseur; zog sich<br />

High Heels, einen falschen Leoparden-Mantel<br />

und schwarze Handschuhe an und ließ<br />

sich so in Handschellen abführen.<br />

Giusy Vitale (*1972)<br />

Cosa Nostra<br />

Spitzname: Boss im Rock<br />

Info: Als Schwester der drei Mafiabosse<br />

Leonardo, Michele und Vito Vitale wurde<br />

sie nach deren Verhaftung Clan-Anführerin.<br />

Schon mit 13 Jahren arbeitete sie als Übermittlerin<br />

von vertraulichen Informationen,<br />

die sie bei Gefängnisbesuchen ihrer Kollegen<br />

nach außen kommunizierte. Nach erfolgreicher<br />

Karriere in der Cosa Nostra wurde<br />

sie später zur „Penita“, zur Verräterin, weil<br />

sie die Schweigepflicht brach, als sie nach<br />

ihrer sechsjährigen Gefängniszeit gegen ihre<br />

eigene Familie aussagte.<br />

Nr.13<br />

Maria Licciardi (*1951)<br />

Camorra, Licciardi-Clan<br />

Spitzname: Die Patin<br />

Info: Maria ist wahrscheinlich die bislang<br />

einflussreichste Frau in der italienischen<br />

Mafia. Nachdem ihr Bruder, der Clan-Boss<br />

Gennaro in der Camorra, verhaftet wurde,<br />

füllte sie als erste Frau an der Spitze das<br />

Machtvakuum. Von 1993 – 2001 saß Maria<br />

als Chefin mit anderen Clan-Bossen an einem<br />

Tisch und traf Entscheidungen über Leben<br />

und Tod. Ab 1999 auf der Flucht, gehörte<br />

sie zu den 30 meistgesuchten Verbrechern<br />

Italiens. Seit 2001 im Gefängnis, ist sie eine<br />

der wenigen weiblichen Kriminellen, die in<br />

Italiens härtestem Strafvollzug verwahrt<br />

werden und deren Kontakt zur Außenwelt<br />

streng beschränkt ist.<br />

Pupetta (Assunta) Maresca (*1935)<br />

Camorra<br />

Spitzname: Madame Camorra<br />

Info: Ehemalige Beautyqueen. Sie machte<br />

internationale Schlagzeilen, weil sie Mitte<br />

der 1950er den Mörder ihres Ehemanns<br />

am helllichten Tag tötete. Während der<br />

Gerichtsverhandlung sagte Pupetta: „Ich<br />

würde es immer wieder tun“, woraufhin die<br />

Anwesenden Beifall klatschen. Sie saß bis<br />

1964 im Gefängnis, wurde später die Ehefrau<br />

des Drogenbarons Umberto Ammaturo und<br />

trat als verhandlungsstarke Partnerin an<br />

seiner Seite auf.<br />

Maria Serraino (*1931)<br />

Ndrangheta<br />

Spitzname: Mamma Heroin<br />

Info: Maria ist eines der raren Beispiele<br />

für eine weibliche Führungsperson im<br />

Ndrangheta-Clan. Gemeinsam mit ihren zwei<br />

Söhnen und ihrer Tochter etablierte sie in den<br />

1980ern eines der größten Drogengeschäfte<br />

im Mittelmeerraum. Drogenlieferanten<br />

verhandelten ausschließlich mit Maria. Das<br />

Kartell wurde zwischen 1993 – 95 aufgedeckt,<br />

wobei über 180 Mitglieder verhaftet wurden,<br />

darunter Maria und ihre Tochter Rita. Schon<br />

mit zwölf Jahren wurde sie aus der Schule<br />

genommen, um beim Umpacken von Kokain<br />

in Shampoo-Flaschen zu helfen. 1997 wurde<br />

Maria wegen ihrer Drogendelikte und wegen<br />

Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.<br />

26 27<br />

FRAUEN<br />

IN DER<br />

MAFIA<br />

Es gab entgegen der landläufigen<br />

Meinung immer Frauen, die eine zentrale<br />

Rolle in der italienischen Mafia<br />

gespielt haben. Und es gibt sie noch. Es<br />

sind selbstbewusste Frauen, oftmals<br />

charismatische, risikofreudige Persönlichkeiten<br />

mit einer ordentlichen Portion<br />

Aggressivität und Gewaltbereitschaft.<br />

Zum einen schaffen es Frauen genau wegen<br />

dieser Persönlichkeitsstruktur in die<br />

obersten Positionen der Mafia. Zum anderen<br />

gibt es immer wieder Personalnot<br />

bei den Mafiamännern, die den Aufstieg<br />

der Frauen erst möglich macht. So halten<br />

oft Witwen von Gangsterbossen oder<br />

Ehefrauen, deren Männer im Gefängnis<br />

sitzen oder auf der Flucht sind, die Zügel<br />

in der Hand. Sitzt ein Boss im Kittchen,<br />

geben Mütter, Töchter, Schwestern und<br />

Schwägerinnen die Befehle des Clanbosses<br />

weiter oder steigen sogar selbst<br />

zum Leittier auf. Die italienische Mafia ist<br />

heute eine merkwürdige Mischung aus<br />

Tradition und Moderne, aus verkrusteten<br />

alten Strukturen, archaisch und primitiv<br />

vollzogenen Operationen und modernem<br />

wirtschaftsgetriebenen Handeln.<br />

Trotz oder grade wegen dieser Struktur<br />

widersteht die Mafia allen Bestrebungen,<br />

sie endgültig zu besiegen. Währenddessen<br />

bedeutet für die Frauen in der Mafia<br />

die Anpassung an Emanzipation, Öffentlichkeit<br />

oder Kapitalismus unterm Strich<br />

mehr Einfluss. Zwar erfüllen sie oftmals<br />

nach wie vor eher traditionelle Rollen,<br />

schneiden und verpacken beispielsweise<br />

Kokain und Heroin in ihrer Küche. In<br />

der Camorra hingegen erpressen Frauen<br />

Schutzgelder von Händlern, beteiligen<br />

sich an millionenschwerem Drogenhandel<br />

oder sind in Morde verwickelt.<br />

Die Netzwerkkarte stellt sechs der bekanntesten<br />

Verbrecherinnen vor.<br />

Das Thema Frauen in der Mafia ist noch<br />

wenig erforscht. Einen guten Überblick bietet<br />

der Sammelband „Women and the Mafia.<br />

Female Roles in Organized Crime Structures“<br />

herausgegeben von Giovanni Fiandaca. Seit<br />

2007 erhältlich bei Springer science.<br />

Nr.13


KUNST<br />

Text: Robert Grunenberg<br />

Fotos: Circle Culture Gallery & Corita Art Center<br />

sister<br />

corita<br />

KUNST, NÄCHSTENLIEBE UND FREIGEISTIGKEIT – DIE<br />

AMERIKANISCHE NONNE UND KÜNSTLERIN SISTER CORITA<br />

LEBTE ZWISCHEN DEN EXTREMEN GLAUBE, FREIER KUNST<br />

UND POLITISCHER AKTIVISMUS. FÜR IHRE ÜBERZEUGUNG<br />

BRACHTE SIE HARTE OPFER. EINE ANDERE GESCHICHTE<br />

DER AMERIKANISCHEN POP-ART.<br />

Sister Coritas Lebensgeschichte ist<br />

Stoff für einen großen Spielfilm. Ein Leben<br />

voller Wendungen und Grenzüberschreitungen<br />

– das ganze kondensiert<br />

zwischen großen Eckpunkten amerikanischen<br />

Zeitgeschehens. Ihre Geschichte<br />

ist auch die Geschichte der Emanzipation<br />

der Frau, der Counterculture- Bewegung,<br />

der Rolle der katholischen Kirche,<br />

der Entwicklung der modernen Kunst<br />

und des Aufkommens der Pop- und<br />

Konsumkultur. Betrachtet man die Welt<br />

durch Sister Coritas Augen, dann zeigt<br />

sich ein neuer, lebhafter und vielseitiger<br />

Blickpunkt auf die großen Veränderungen<br />

Amerikas zwischen 1940 und 1980.<br />

Als Sister Corita 1936 dem Schwesternorden<br />

Immaculate Heart of Mary in Los<br />

Angeles im Alter von 18 Jahren beitrat,<br />

lag Amerika nach dem Schock der Weltwirtschaftskrise<br />

im Dornröschen Schlaf.<br />

Die großen Veränderungen, die es zur<br />

politischen und kulturellen Supermacht<br />

werden ließ, sollten noch kommen und<br />

Sister Corita sollte dieses neue Amerika<br />

mit gestalten. Im humanistisch und<br />

künstlerisch ausgerichteten Orden der<br />

katholischen Kirche experimentierte sie<br />

in allen kreativen Bereichen, fand ihr<br />

Ausdrucksmedium im Siebdruck und<br />

entschloss sich schließlich für eine Laufbahn<br />

als Kunstlehrerin. 1941 erlangte sie<br />

einen Bachelor of the Arts, lehrte zwischenzeitlich<br />

in Kanada und kehrte 1951<br />

zum Orden nach Los Angeles zurück,<br />

dessen Leitung sie später übernahm.<br />

Bevor Sister Corita die amerikanische<br />

Pop Art Szene mit ihren Siebdruck-Arbeiten<br />

aufmischte, beschäftigte sich<br />

intensiv mit Fragen der Kunstlehre. Prägend<br />

war die Begegnung mit dem Designer<br />

Charles Eams, der später ein enger<br />

Freund wurde. Mit ihm sprach sie darüber,<br />

was es bedeutet, ein guter Lehrer zu<br />

sein. Beide stimmten darüber ein, dass<br />

man Schülern nicht<br />

Nr. 13<br />

28 29<br />

Nr. 13


KUNST<br />

Vorherige Seite:<br />

Bild oben:<br />

Corita Kent, circa 1976<br />

Courtesy of the Corita Art Center,<br />

Immaculate Heart Community, Los Angeles<br />

Bild links:<br />

Corita lehrt im Immaculate Heart College,<br />

circa 1967, courtesy of Circle Culture Gallery and<br />

Corita Art Center, unbekannter Fotograf<br />

Bild oben:<br />

Yes #3, 1979, Siebdruck auf Papier,<br />

Foto: Joshua White<br />

Rechte Seite:<br />

Bild oben:<br />

Sister Corita: Give The Gang Our Best, 1966,<br />

serigraph on pellon, courtesy of Circle Culture Gallery<br />

and Corita Art Center, Foto: Joshua White<br />

Bild rechts:<br />

Maria-Himmelfahrt-Prozession am<br />

Immaculate Heart College, 1964<br />

beibringen sollte originell zu sein, das<br />

führe dazu, dass man imitiert. Hingegen<br />

solle man rational sein. So lehrte Sister<br />

Corita mit harter Hand, wie Kunst dabei<br />

helfen kann die eigenen Sinne und Kreativität<br />

zu sensibilisieren. Dabei gab sie ihren<br />

Schülern teilweise unmögliche komplexe<br />

Aufgaben, forderte erschöpfende<br />

Wiederholungen der gleichen Übungen,<br />

wie das hundertfache Zeichnen von serifen<br />

und serifenlosen Alphabeten. Sie<br />

erklärte, dass in der Wiederholung und<br />

der Konzentration die Freiheit und Kreativität<br />

liegen, mit denen man Klischees<br />

und vorhersehbare Ausdrucksformen<br />

überwinden kann. Doch neben der eisernen<br />

Arbeit am Schreibtisch und im<br />

Atelier ging sie mit ihren Schülern in<br />

die Natur, saß abends am Strand, veranstaltete<br />

Happenings im Park und auf<br />

der Straße, organisierte Proteste und<br />

Charity-Events. Dabei ging es um politische<br />

Themen, Bürgerrechte, Vietnamkrieg,<br />

sowie um eine Haltung zu einem<br />

authentischen und erfüllten Leben. Was<br />

immer mitschwang war ein Credo für<br />

das Hier und Jetzt: „You shouldn’t blink,<br />

you should not close your eyes or turn<br />

your head away“ – you will miss part of<br />

life, you will skip the full picture.“ Sister<br />

Corita und ihr Kunstdepartment waren<br />

am Puls der Zeit. Ihr ästhetischer Formalismus,<br />

die Konzentration auf die Art und<br />

Weise wie die Dinge gemacht sind, passt<br />

zu den Bildern der Abstrakten Expressionisten,<br />

die in den 1950er und 60er-Jahren<br />

populär wurden. Denn hier wurde<br />

visualisiert, was sie selbst wichtig fand.<br />

Die Arbeiten von Künstlern der New<br />

York School – Jackson Pollock, Barnett<br />

Newman und Mark Rothko – zeigten<br />

dass Bilder im Grunde aus schwarzen,<br />

weißen und bunten Formen bestehen.<br />

Die Abstraktion des Dargestellten visualisiert<br />

wie es aussieht, wie es gemacht ist<br />

und nicht was es repräsentiert, symbolisiert<br />

oder erzählt. Diese Konzentration<br />

auf Formen wandte sie auch auf Sprache<br />

an. Ihr Interesse für Poesie und Texte<br />

galt den Buchstaben, der Typographie<br />

und der formalen Ästhetik, weniger den<br />

Bedeutungen. Diese Idee bezog sie auf<br />

den Pop-Zeitgeist, der seit den 1950ern<br />

immer größere Wellen schlug. Sister<br />

Corita sah die Konsumwelt und Massenmedien<br />

mit ähnlicher Begeisterung<br />

wie Andy Warhol, wobei es ihr weniger<br />

um die Warenästhetik von Produktverpackungen<br />

und Werbung ging. Sie<br />

staunte über die Poesie in der Werbesprache,<br />

sie sah etwas Positives in der<br />

materiellen Popkultur, eine Huldigung<br />

auf das, was der Marktplatz verspricht,<br />

aber nicht einhält. In ihren knallbunten<br />

Siebdrucken vermengte sie Markennamen,<br />

Werbeslogans, Popsongtexte und<br />

Zeitungsüberschriften, kombinierte sie<br />

mit Gedichten von Rainer Maria Rilke,<br />

Texten von E.E. Cummings und Albert<br />

Camus. Sie zerschnitt Wörter, drehte<br />

sie um und verfremdete sie. So löste sie<br />

die Sprache von ihren Produkten und<br />

nutzte sie für ihre künstlerischen und<br />

sozialphilosophischen Überzeugungen.<br />

Ihr Statement lautete: „In a way all the<br />

words we need are in the ads, they can<br />

be endlessly re-sorted and reassambled,<br />

it is a huge game, a way of confronting<br />

mystery.“ Sie kondensierte aus dem<br />

Sprachmaterial der Konsumkultur, aus<br />

dem Alphabet des Pop, eine Philosophie<br />

des Lebensglücks. Die Beschäftigung<br />

mit Pop-Art machte sie zu einer der bekanntesten<br />

und einflussreichsten Grafikkünstlerinnen<br />

der USA dieser Zeit;<br />

sie entwarf populäre Briefmarken mit<br />

Schlagwörtern wie „love“ und ragte 1967<br />

vom Cover der amerikanischen Newsweek.<br />

Doch anders als Andy Warhol<br />

oder James Rosenquist überschritten<br />

ihre Textspielereien die Ideen der frühen<br />

Pop-Art. Sister Corita zählt zu den Pionieren<br />

der zweiten Generation Pop-Art,<br />

die sich kritisch zur scheinbar perfekten<br />

Wohlstandsgesellschaft der USA äußerten<br />

und ihre Verwundbarkeit aufzeigten.<br />

So entfachten einige ihrer Plakate zum<br />

Vietnamkrieg und zu sozialer Diskriminierung<br />

politische Kontroversen. Sie<br />

provozierte und sprach Themen an, die<br />

man von einer Frau und Nonne nicht<br />

erwartete. Plötzlich stand Sister Corita<br />

in der Öffentlichkeit, hatte großen Erfolg,<br />

medialen Druck und Widersacher. Damit<br />

hatte sie zu kämpfen. Auch die katholische<br />

Kirche beäugte die ungewöhnlichen,<br />

progressiven Aktivitäten von ihr<br />

kritisch. Vor allem ihre mehrdeutige Verwendung<br />

von Sprache rief Irritation und<br />

Argwohn bei der katholischen Kirche<br />

hervor. Ihr Siebdruck „the juiciest tomata<br />

of all“ (1964), in der Corita spielerisch<br />

auf die Jungfrau Maria verwies, führte<br />

zu Empörung, zu Vorwürfen der Gotteslästerung<br />

und schließlich zu Zensuren.<br />

Eine Umdeutung einer geistlichen Ikone<br />

wie Maria in einem poppigen, vielleicht<br />

sogar lasziven Kontext – ein Skandal,<br />

das ging der Kirche zu weit. Sister Corita<br />

zeigte sich nach außen unbeeindruckt,<br />

doch innerlich löste es eine emotionale<br />

Krise aus, die im Sommer 1968 zu ihrem<br />

Austritt aus dem Schwesternbund<br />

führte. Ihre Glaubenskrise erklärte sie<br />

damit, dass die christliche Lehre Ideen<br />

befördern sollte, statt diese zu definieren<br />

oder zu beschneiden. Sie fühlte sich<br />

eingeengt, ging nach Boston und kam bis<br />

zur ihrer schweren Krankheit nicht mehr<br />

zurück. Sie hielt Kontakt zu Schülern<br />

und Kollegen, doch ihr soziales Umfeld<br />

änderte sich in Boston, sie traf Künstler,<br />

Kunsthändler und hatte Freunde an der<br />

Harvard Universität – eine Partnerschaft<br />

ging sie nicht ein und sie blieb bis zu<br />

ihrem Tod im Herbst 1986 unverheiratet.<br />

Ihre Arbeiten aus der Bostoner Zeit<br />

waren weiterhin politisch. Sie promotete<br />

einen tiefgründigen Aktivismus, der sich<br />

aus Gefühlen und Bedenken ableitet.<br />

Sie propagierte Bürgerrechte, prangerte<br />

Rassismus und Diskriminierung an<br />

und engagierte sich im sozialen Bereich.<br />

In den letzten Jahren vor ihrer Krebserkrankung<br />

zog sie sich zunehmend<br />

zurück. Ihre Arbeiten wurden introvertierter,<br />

kontemplativer und stilistisch<br />

konventioneller. Wurden die meisten<br />

männlichen Künstler der Pop-Art-Generation<br />

zu Ikonen der zeitgenössischen<br />

Kunstgeschichte, so verstummte die Aufmerksamkeit<br />

um Sister Corita. Vielleicht<br />

lag es daran, dass sie sich nicht vereinnahmen<br />

lies und immer nach vorne<br />

arbeitete. Der Kunstmarkt interessierte<br />

sie nicht, sie wollte keinerlei Erwartung<br />

erfüllen, genauso wenig wollte sie eingegrenzt<br />

werden. Lange Zeit galt sie als<br />

Nonne, die poppige Arbeiten machte und<br />

politisch Aktiv war. Erst in den letzten<br />

Jahren bekommt sie Aufmerksamkeit als<br />

eigenständige künstlerische Position der<br />

amerikanischen Pop-Art. So erlebt Sister<br />

Corita und Ihr Werk zurzeit ein Comeback.<br />

Alleine drei große Museumsausstellungen<br />

werden mit ihren Arbeiten bis<br />

2015 in den USA gezeigt. Sister Coritas<br />

technische Fähigkeiten, ihre komplexen<br />

Arbeiten aus Text und Bild, ihr pädagogisches<br />

Talent, ihr Humanismus und<br />

soziales Engagement – diese Vielseitigkeit<br />

ermöglicht aus unserer heutigen<br />

Perspektive einen ganz neuen Zugang<br />

zur Kunst- und Zeitgeschichte Amerikas.<br />

Nicht zuletzt begegnet man einer unabhängigen<br />

Frau, bereit, Widersprüche,<br />

Entbehrungen für ihre Überzeugungen<br />

zu leben.<br />

Sister Corita, 1918 als Frances Elizabeth Kent<br />

in Iowa geboren. Ihren künstlerischen Nachlass<br />

betreut heute das Corita Art Institut in<br />

Kalifornien. Ihre Arbeiten befinden sich u.a.<br />

in der Sammlung des Whitney Museums in<br />

New York, des Museum of Fine Art in Boston<br />

und dem Metropolitan Museum of Art in<br />

New York. In Deutschland sind ihre Arbeiten<br />

bis zum 10. Mai in einer Retrospektive in der<br />

Circle Culture Gallery in Berlin zu sehen.<br />

Nr. 13<br />

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Nr. 13


BIENEN<br />

Text: Adrian Fekete<br />

Foto: Jan Lessner<br />

Ohne Bienen geht es nicht, das<br />

weiß jedes Kind. Sie bestäuben Pflanzen,<br />

produzieren Honig und Wachs. Neben<br />

Rindern und Schweinen sind sie das<br />

wichtigste Nutztier überhaupt. Doch je<br />

mehr der Mensch in Natur und Umwelt<br />

eingreift, desto schlechter scheint es den<br />

kleinen Brummern zu gehen. Seit einiger<br />

Zeit macht die Angst vor dem „großen<br />

Bienensterben“ die Runde und wird Jahr<br />

für Jahr von den Medien aufgegriffen.<br />

Gegen diese Aufmerksamkeit ist erst<br />

einmal nichts zu sagen, zeugt sie doch<br />

von einem ausgeprägten Umweltbewusstsein.<br />

Und es stimmt, dass die Biene<br />

empfindlich ist. Schon bei kleinsten<br />

Veränderungen in ihrer natürlichen Umgebung<br />

reagiert sie drastisch: Sie stirbt.<br />

Für Imker ist eine tote Biene jedoch<br />

nichts Dramatisches. „An kalten Wintern<br />

stellen wir uns immer darauf ein, dass<br />

circa 30 Prozent unserer Bienen sterben<br />

werden“, sagt Marc-Wilhelm Kohfink,<br />

der Vorsitzende des Imkerverbandes<br />

Berlin. „Das wird Imkern seit Generationen<br />

so beigebracht und ist kein neues<br />

Phänomen.“ Die Statistik, die die Anzahl<br />

an Honigbienen in Deutschland festhält,<br />

weist zwar auf eine drastische Abnahme<br />

von Bienenvölkern seit der Wiedervereinigung<br />

hin, doch das ist nur die eine<br />

Seite der Medaille, denn die DDR hat in<br />

ihrem Subventionierungsprogramm für<br />

Landwirte besonderen Wert auf Imker<br />

gelegt. Nach der Wende gab es deutlich<br />

weniger Unterstützung für diesen Zweig<br />

der Agrarwirtschaft, deshalb auch weniger<br />

Bienen. Also keine Angst, in nächster<br />

Zukunft werden wir nicht auf den süßen<br />

Nektar verzichten müssen.<br />

Wer Imker werden, einen Bienenschaden melden<br />

oder mit seinem Bienenvolk nach Berlin<br />

einwandern will, der wende sich an:<br />

post@imkerverband-berlin.de.<br />

Nr. 13<br />

32<br />

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BUCH<br />

DER BLICK<br />

Foto: © Ascot Elite Filmverleih<br />

DOGGYSTYLE<br />

ZUM CLOWN<br />

AUFGEDONNERTE PUDEL<br />

UND FLIPPIGE BICHONS MIT<br />

LEOPARDENMUSTER – DER<br />

BILDBAND „GROOMED“<br />

VERSAMMELT WILDE UND<br />

KRASSE ARBEITEN VON<br />

HUNDESTYLISTEN.<br />

Groomed, das heißt soviel wie gestriegelt<br />

und zurechtgemacht, aber beschreibt<br />

schlecht, was Stylisten mit Hunden anstellen:<br />

Sie rasieren und färben ihnen<br />

Schildkröten, Papageien und Löwenmähnen<br />

ins Fell oder föhnen Ihnen Puschelpalmen<br />

auf dem Kopf zurecht. Auf<br />

den Fotografien von Paul Nathan findet<br />

man ein zwischen Groteske und Witz<br />

changierendes Kleintier-Bestiarium,<br />

welches „Schönheit der Schönheit willen“<br />

portraitieren möchte, dabei Hunde<br />

am Abgrund des guten Geschmacks<br />

zeigt. Es ist schlimm ... aber wir stehen<br />

drauf.<br />

Groomed von Paul Nathan, PelluceoPublishing<br />

(2014), www.paulnathanstudio.com<br />

mia wasikowska<br />

Mia Wasikowskas braune Augen<br />

laden ein, etwas in sie hineinzulesen.<br />

Erst scheinen sie freundlich und aufgeschlossen,<br />

um dann in einen gewissen<br />

Rühr-mich-nicht-an-Trotz umzuschlagen.<br />

Sie kann mit ihrem Blick Opfer, Eigensinnige<br />

und Verlassene spielen. So<br />

bändigt sie in ihrem neuen Film „Spuren“<br />

diverse australische Outback-Rüpel<br />

und vier Kamele. Ein Mädchen im<br />

Kampf mit der feindlichen Umgebung.<br />

„Spuren“ ist ein schöner Film nach<br />

einer wahren Geschichte: Die Hippiefrau<br />

Robyn Davidson durchquerte<br />

1977 die australische Wüste mit ihren<br />

Kamelen und einem Hund. Regisseur<br />

John Curran zeigt diese Reise im spektakulären<br />

National-Geographic-Look<br />

in im Sekunden-Rhythmus aneinander<br />

geschnittener Szenen, schreckt<br />

aber leider davor zurück, die Ödnis<br />

und Langeweile einer solchen Reise<br />

zu zelebrieren. Dabei würden wir der<br />

zierlichen 163 cm großen Mia gerne in<br />

langen Einstellungen dabei zuschauen,<br />

wie sie ganz allein durch weite, weite<br />

Wildnis läuft. Nur ein Ziel vor Augen:<br />

Das Meer.<br />

Info: „Spuren“ mit Mia Wasikowska<br />

läuft seit 10. April im Kino.<br />

Nr.13<br />

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Nr.13


ESSAY<br />

Text: Maja Hoock<br />

Inseln waren schon immer ein<br />

utopischer Rückzugsort, an dem<br />

man die Last der Zivilisation<br />

einfach abstreifen konnte. Für<br />

eine Robinsonade muss man<br />

aber nicht in die Ferne schweifen,<br />

sie beginnt bei uns zu Hause.<br />

Ich habe mir gestern Nacht eine Insel<br />

gekauft. Bei PrivateIslands.com, für<br />

fünf Millionen Euro, in der REM-Phase.<br />

Sie lag bei Sizilien und als ich aufwachte,<br />

war sie nicht mehr da. Es gab<br />

dort keine Politik, keinen Kapitalismus,<br />

keine Media-Markt-Werbung und keine<br />

Chips-Schmatzer. Allen Menschen,<br />

die Uli Hoeneß für einen Helden halten<br />

oder die Tagesschau für gute Nachrichten,<br />

wird der Fuß von einem Schwarm<br />

Piranhas abgekaut, bevor sie ihn an<br />

Land setzen können. Und weil an solchen<br />

Traumgebilden alles perfekt ist,<br />

ragen sie so selbstbewusst aus dem<br />

Wasser wie Elfenbeinbusen vom Leib<br />

schöner Frauen. Sie sind stolz, weil sie<br />

etwas Besseres sind als das Festland<br />

mit seinem hässlichen Alltag. Menschen<br />

gehen sich auf die Nerven. Da<br />

scheinen Inseln als isolierte Monolithen<br />

wie sandgewordene Intimität.<br />

Und Ursprung. So kommt der latent<br />

rückwärts-gewandte Inseltraum auch<br />

vom Konflikt zwischen Hochkultur<br />

und dem Affen in uns. Robinson wurde<br />

nicht zufällig zu Zeiten der Aufklärung<br />

schiffbrüchig.<br />

Er landete auf einer Insel, die noch<br />

nicht mit Vernunft in Berührung gekommen<br />

ist und sein einziger Freund<br />

Freitag war das wilde Spiegelbild des<br />

Angespülten. Mit dem Stranden, das<br />

als Motiv in Literatur und Kino von<br />

Crusoe über Gilligan’s Island und Lost<br />

reicht, erlangen wir Zugang zur Natur<br />

– und zur Freiheit: Auf Inseln dürfen<br />

Gemeinschaften nach eigenen Regeln<br />

leben, rosa Pferde anbeten und anarchistisch<br />

gefärbten Marxismus mit<br />

polyamourösen Zügen erproben. Thomas<br />

Morus schrieb vor 500 Jahren von<br />

dem abgeschnittenen Ort „Utopia“, wo<br />

es weder Armut noch Neid gibt. Im 18.<br />

Jahrhundert sprach man viel von der<br />

sagenhaften Liebesinsel der Aphrodite<br />

namens Kythera, wo es nur Schönes<br />

und Gutes gebe. Und heute treibt im<br />

Houellebecq-Roman die „Möglichkeit<br />

einer Insel“ seine Figuren an, weiterzuleben<br />

– die Aussicht auf ein besseres<br />

Leben als Daseinsgrund. Manchmal<br />

wird die abstrakte Idee der perfekten<br />

Lebensweise auch real.<br />

Lamu ist so ein manifestierter Inseltraum.<br />

Auf der zehn mal sechs Kilometer<br />

kleinen Insel vor Kenia leben<br />

seit Generationen Schriftsteller weit<br />

weg von Beton und Grau. Prinzessin<br />

Soraya von Persien suchte dort Ruhe<br />

und Hippies die Freiheit. Sie wussten:<br />

Durch die Isolation kann man sich auf<br />

das Wesentliche konzentrieren, auf<br />

den Geschmack einer am Lagerfeuer<br />

gebratenen Dorade. Regisseurin Frauke<br />

Finsterwalder ist dort hingezogen,<br />

weil es keine Autos gibt, und Christian<br />

Kracht, weil er auf Eseln reiten kann.<br />

Sicher dachte er beim Schreiben seines<br />

Kolonialisten-Romans „Imperium“ an<br />

das blaue Wasser mit den Hummern<br />

und die Mango-Palmen. „Lamu darf<br />

nicht verschwendet werden“, schrieb<br />

Hemingway, denn er wusste, dass man<br />

Inseln verteidigen muss. Sonst entwickeln<br />

sie einen Ballermann.<br />

Man muss sich ja nicht gleich eine eigene<br />

Insel kaufen. Es reicht, sich ab und<br />

zu eine in der Stadt zu schaffen. Auch<br />

die eigene Wohnung kann einen retten,<br />

wenn man den Tag in der Stadt getrieben<br />

ist. Und dann gibt es Menschen, die<br />

Inseln sind, wenn sie aus der Masse,<br />

die einen nicht kümmert, herausragen<br />

wie unser ganz persönliches, psychologisch<br />

warmes Lamu. Natürlich wissen<br />

wir, dass man sich nicht zu tief in die<br />

Idee des perfekten Ortes flüchten darf,<br />

denn Atlantis ist bekanntlich untergegangen.<br />

Doch auf die Möglichkeit einer<br />

Insel will ich nicht verzichten. Sie ist<br />

das Rettungsboot, auf dem ich aufrecht<br />

treibend der Welt den Stinkefinger zeigen<br />

kann.<br />

Nr.13<br />

36 37<br />

Nr.13


STIL<br />

REBELL:<br />

PATCHWORK<br />

JEANS<br />

Die Geburtsstunde der<br />

Patchwork-Jeans liegt<br />

mittlerweile über 40<br />

Jahre zurück. Entstanden<br />

ist sie nämlich in<br />

der Hippie-Bewegung<br />

der 1970er Jahre, in der<br />

Zeit, in der der Jeansstoff die Welt der<br />

friedlichen Rebellen eroberte. Die Jeans<br />

wurde symbolisch getragen um sich mit<br />

der Arbeiterschicht zu solidarisieren.<br />

Man bemalte, bestickte und verzierte sie.<br />

Modern interpretierte sie diese Saison<br />

u.a. DKNY in Blazer- und Parka-Kombination.<br />

1<br />

2<br />

3<br />

5<br />

4<br />

How to „sweater“! In den 80ern erlebte<br />

er seine goldenen Jahre und zwar<br />

als treuer Begleiter der Leggings, bis er<br />

sich kurze Zeit später in der Rolle des<br />

Nerds wiederfand, als Markenzeichen<br />

der „Popper“. Die trugen ihn nämlich<br />

am liebsten ganz klassisch, schlicht,<br />

um nicht zu sagen extrem spießig. Der<br />

„Sweater“ hat seinen Kultstatus längst<br />

wieder erobert, je auffälliger die Farbe,<br />

der Print oder das Logo, desto besser.<br />

Ob Céline, Kenzo, Carven, Givenchy<br />

oder Kitsuné: Sie alle sind Schöpfer<br />

des „It-Sweaters“ und diese lieben wir<br />

in dieser Saison besonders in Kombination<br />

mit edlen Röcken, ob in kurzer<br />

oder langer Version.<br />

6<br />

Schön dazu: schlichte High Heels<br />

oder ganz sporty mit Chucks oder<br />

Sneakern.<br />

1. Sweater von Maison Kitsuné,<br />

ca. 180 Euro<br />

2. Lippenstift von Tom Ford,<br />

ca. 45 Euro<br />

3. Sweater von Carven<br />

über farfetch.com, ca. 229 Euro<br />

4. Seidentuch von Louis Vuitton &<br />

André Saraiva, ca. 635 Euro<br />

5. Twin Bag von Prada, ca. 2100 Euro<br />

6. Kamera Clutch von Charlotte Olympia,<br />

ca. 1685 Euro<br />

7. Chucks Converse & Nate Lowman<br />

für justoneeye.com, Preis auf Anfrage<br />

7<br />

MEISTERWERK VON<br />

STEFANO PILATI<br />

Mit der neuen „CARA Bag“ hat die italienische Luxus-Marke Agnona<br />

unter der neuen Führung von Stefano Pilati eine Tasche für die Ewigkeit<br />

geschaffen. Wir lieben sie besonders für ihr klassisches, perfekt<br />

verarbeitetes Design und ihr weiches Kalbsleder mit natürlicher Narbung.<br />

Von Agnona, ab Mai/Juni 2014 erhältlich, Preis auf Anfrage<br />

Nr.13<br />

38


2<br />

STIL<br />

1<br />

3<br />

DAS WUNDERKIND<br />

SERGE LUTENS<br />

Create your own happiness! Es ist das<br />

Credo, dass den französischen Fotografen,<br />

Filmemacher, Haar-Stylisten, Modedesigner<br />

und Parfümeur Serge Lutens<br />

seit seiner Kindheit begleitet. Berühmt<br />

sein wollte er - bis heute - nie. Vielmehr<br />

genießt es die weltbekannte Nase seiner<br />

Leidenschaft nachzugehen, stets mit einer<br />

Tendenz zur Antikonformität. Denn<br />

was er kreieren will, ist nichts als Kunst,<br />

so maximal es irgend geht, ohne erst<br />

einmal einen Gedanken dem Kommerz<br />

zu schenken. Seit der Nachkriegszeit,<br />

so meint das Allround-Talent, ist unsere<br />

sinnliche Wahrnehmung nämlich viel<br />

zu stark zensiert worden. Was Lutens<br />

zudem abschreckt, ist unsere überparfümierte<br />

Welt. Eigentlich rieche in dieser<br />

Welt alles, aber nichts dufte mehr. Nun ja,<br />

sagen wir doch lieber „wenig“, denn ein<br />

perfektes Gegen-Beispiel ist dieser sommerlich-blumige<br />

Orangenblüten-Duft.<br />

Chic Running Shape! Er ist nicht neu,<br />

der Suit‘n‘Sneaker-Trend, aber zeigt sich<br />

auf den Straßen immer wieder in neuer<br />

Variante. Was in Skandinavien anfing mit<br />

dem Trend, Sneaker zu Seidenkleidern<br />

zu tragen, zeigt sich jetzt sogar als kleine<br />

Revolution bei Chanel, denn selbst Karl<br />

Lagerfeld ist dem Sneakerhype verfallen.<br />

In Paris haben wir uns verliebt, in die<br />

Variante mit puristischen Anzügen und<br />

Laufschuhen, am liebsten in Farbe.<br />

1. Ring von Aurélie Bidermann<br />

(über netaporter.com), ca. 410 Euro<br />

2. Ring von Valentino, ca. 220 Euro<br />

3. Kette von Maison Martin Margiela<br />

über netaporter.com, ca. 175 Euro<br />

4. Uhr von Emporio Armani,<br />

ca. 950 Euro<br />

5. Tasche von Dior, ca. 2700 Euro<br />

6. Rouge Creme „Multi-Blush Candy“<br />

von Clarins, ca. 24 Euro<br />

7. Limited Edition,<br />

Nike x Liberty Air Max, ca. 120 Euro<br />

8. & 9. Nike Roshe Run, ca. 95 Euro<br />

8<br />

9<br />

PERLENFIEBER<br />

Wiederentdeckt: die Perle! Salonfähig machte sie Coco<br />

Chanel, die damals ihre Abneigung offenbarte gegenüber<br />

Frauen, die mit üppigen Brillanten behangen waren.<br />

Pearis Treasure von Chanel, 2170 Euro.<br />

Serge Lutens, „Fleurs d´Oranger“<br />

50 ml, ca. 82 Euro<br />

4<br />

7<br />

Nr.13<br />

5<br />

40 41<br />

6<br />

Nr.13


STIL<br />

Fotos: Jan Lessner<br />

shop at santonishos.com<br />

AIR FORCE<br />

LOW<br />

Entstanden ist der ursprüngliche Basketballschuh bereits im<br />

Jahr 1982. In den letzten 25 Jahren wurden über 1700 Modelle<br />

von ihm auf den Markt gebracht. Wir lieben das Modell für seinen<br />

perfekten Mix aus Sport- und Streetstyle-Chic.<br />

Nike Air Force, ca. 110 Euro<br />

LIMITED EDITION<br />

Frischer Kult aus Italien: Das 2000 gegründete Label hat mit<br />

diesen Sneakern eine moderne Version von puristischer<br />

Zeitlosigkeit entworfen. Clean, simple und feminin in seinem<br />

Design sichert er sich seinen Platz unter unseren Top 3.<br />

Golden Goose White Out Leather Limited Edition, ca. 300 Euro<br />

CLASSIC<br />

LEATHER<br />

„Let‘s put on our classics and have a little dance!“ Es waren die<br />

ersten Reebok-Laufschuhe im Casual-Look, die die UK-Marke<br />

1987 auf den Markt brachte. Seither kann ihm, wie wir finden,<br />

keine andere Version das Wasser reichen: klassisch, schlicht<br />

und komfortabel.<br />

Reebok Classic, ca. 85 Euro<br />

Nr.13<br />

42


HANDTASCHE<br />

Text: Maja Hoock<br />

Foto: Revan Baysal<br />

BASCHA MIKA<br />

1<br />

2<br />

3<br />

5<br />

9<br />

Ob Pfefferspray, Philosophie-Buch oder<br />

Gleitgel - Was <strong>Fräulein</strong>s in ihrer Handtasche<br />

spazierentragen, sagt oft mehr über<br />

sie aus, als ein komplettes Interview.<br />

Darum zeigen wir an dieser Stelle ab<br />

sofort private Einblicke in die Clutches,<br />

Shopping- und Hobo-Bags spannender<br />

Persönlichkeiten. Unser erstes Opfer war<br />

Bascha Mika, eine der bekanntesten Feministinen<br />

des Landes und Erfolgsfrau<br />

par excellence. Sie war Chefredakteurin<br />

der taz, leitet nun die Frankfurter<br />

Rundschau, hat eine eigene Talkshow,<br />

veröffentlichte soeben ein neues Buch<br />

und wurde dafür bekannt, sich öffentlich<br />

mit Alice Schwarzer anzulegen.<br />

Ihre Lieblingstasche im Animal-Print<br />

beweist: Auch Feministinnen schminken<br />

sich; Bascha Mika sogar schon, seit sie<br />

15 war. Weiblichkeit und Eigenständigkeit<br />

schließen sich also nicht aus. Also<br />

Schwestern, ran an die guten Jobs, und<br />

vergesst dabei den Chanel-Lippenstift<br />

nicht!<br />

1. Ihr neues Buch „Mutprobe“, 2. Chanel Lippenstift „Rouche Coco Shine“ No. 62, 3.<br />

Lippen Balsam, 4. iPad 2 – ihr kompakter Computer für unterwegs, 5. Weleda Handcreme<br />

Granatapfel, 6. Montblanc Schreibset - ein Geschenk von Freunden, 7. Moleskine<br />

Notizheft - für die wichtigsten Einfälle, 8. Lippenstift von M.A.C. Relentlessly Red, 9.<br />

Antikes Puderdöschen, 10. Kleiner persönlicher Duft, 11. Lid-Schatten von Artdeco in<br />

den Farben 203 & 314, 12. Kindle Notepad, 13. Einladung zum Dinner mit Freunden, 14.<br />

Gabs-Tasche aus dem Italein-Urlaub, 15. Pochette, mit allem drin, was man für Notfälle<br />

braucht.<br />

4<br />

8<br />

14<br />

6<br />

10<br />

13<br />

7<br />

11<br />

12<br />

15<br />

Nr.13<br />

44 45<br />

Nr.13


ANGEKOMMEN<br />

Interview: Christian Fahrenbach<br />

Mitarbeit: Robert Grunenberg<br />

Fotos: © Moderna Museet, Stockholm<br />

KLICKS,<br />

LIKES,<br />

FOLLOWER<br />

UND DAS<br />

ERBE DER<br />

90ER<br />

SEIT DEN 90ER-JAHREN LÖSEN JUTTA KOETHER UND KIM GORDON DIE GRENZEN VON<br />

MUSIK, PERFORMANCE UND BILDENDER KUNST AUF UND DENKEN SIE NEU. VOR EINER<br />

GEMEINSAMEN PERFORMANCE ZUM ENDE DER MIKE-KELLEY-RETROSPEKTIVE IM NEW<br />

YORKER MOMA PS1 SPRACHEN WIR MIT BEIDEN ÜBER EINE ZEIT VOR DEM INTERNET,<br />

DEN AMERIKANISCHEN TRAUM UND DIE BERÜCHTIGTEN 15 MINUTEN RUHM.<br />

<strong>Fräulein</strong>: Frau Koether und Frau<br />

Gordon, zuletzt gab es einen auffälligen<br />

90er-Jahre-Hype, der sich<br />

in unzähligen Retrospektiven mit<br />

Künstlern wie Jeff Koons, Paul Mc-<br />

Carthy, John Baldessari und eben<br />

Mike Kelley zeigt. Woran liegt das?<br />

Kim Gordon: Ich denke, der Hype<br />

speist sich vor allem aus einem Interesse<br />

an einer Vor-Internet-Zeit, an die<br />

wir uns kollektiv nur noch vage erinnern<br />

können.<br />

Warum gibt es so eine Nostalgie<br />

nach dieser Zeit?<br />

Jutta Koether: Ich glaube nicht, dass es<br />

nur Nostalgie ist. Viele Retrospektiven<br />

und auch Trends in der Main stream-<br />

Kultur versuchen zu analysieren, wie<br />

es uns mit der digitalen Revolution<br />

ergangen ist, wie neue kulturelle Ausdrucksformen<br />

funktionieren. Man<br />

denkt zurück an ein Zeitalter, in dem<br />

die Medien noch nicht derart präsent<br />

in unserem Alltag waren. Damals wurden<br />

Inhalte und Gefühle anders ausgedrückt.<br />

Inzwischen wird man sich<br />

darüber bewusst, dass seit dem etwas<br />

verloren gegangen und unwiderrufbar<br />

geworden ist. Doch diese vermeintliche<br />

Unschuld einer vor-mediatisierten<br />

Sphäre ist selbst eine problematische<br />

Empfindung. Denn auch die 90er-Jahre<br />

waren natürlich durch Kanäle wie das<br />

Fernsehen stark mediatisiert. Allein<br />

der technologische Aspekt der Digitalität<br />

spielt heute eine größere Rolle.<br />

Kurz, es gibt einen Realisierungsprozess,<br />

dass ein Wandel eingetreten ist.<br />

So etwas dauert 20 bis 30 Jahre, deshalb<br />

fällt er genau in unsere Zeit.<br />

Das Internet hat zahlreiche solcher<br />

Verschiebungen bewirkt,<br />

Stars werden immer zugänglicher,<br />

es hat sich eine DIY-Starkultur herausgebildet<br />

...<br />

KG: Sicher. Jeder beruft sich heute<br />

auf Warhols „15 minutes of fame“, auf<br />

seine Prognose, dass jeder Mensch in<br />

der Zukunft kurz berühmt sein wird.<br />

Ruhm oder das, was wir darunter heute<br />

verstehen, ist für jeden zugänglich.<br />

Die Selbstvermarktungsmöglichkeiten<br />

im Internet haben unsere Vorstellung<br />

von Stars und Starkultur verändert.<br />

JK: Ich denke, dass Stars vor allem ein<br />

Markt sind. Das ist ein Konsum-Konzept.<br />

Das Begehren richtet sich nicht<br />

auf Objekte und Dinge, sondern auf<br />

Status. Dieser zirkuliert als eine Art<br />

Währung, mit dem eine Form des<br />

Seins gehandelt, gekauft und verkauft<br />

werden kann.<br />

KG: Insgesamt ist das eine amerikanische<br />

Entwicklung; es ist ein wesentlicher<br />

Bestandteil des amerikanischen<br />

Traums.<br />

Wie hat sich der amerikanische<br />

Traum seit den 90er-Jahren verändert?<br />

Ist das amerikanische Versprechen<br />

vom Tellerwäscher zum<br />

Millionär noch gültig?<br />

JK: Ich gebe die Frage lieber zurück.<br />

Unter welchen Bedingungen arbeiten<br />

wir heute? Offensichtlich gibt es eine<br />

Veränderung, eine technologische Erreichbarkeit<br />

und eine Beschleunigung,<br />

die jeden beeinflusst: Arbeiter, Kulturschaffende,<br />

wen auch immer. Wir<br />

sind heute nicht weiser als noch in den<br />

90er-Jahren. Wir haben auch keine besonderen<br />

Werkzeuge.<br />

Nr.13<br />

46 47<br />

Nr.13


ANGEKOMMEN<br />

Es ist vielmehr eine Art der Intuition.<br />

Man geht zurück zu dem, was man<br />

gelernt hat; Techniken, die man sich<br />

innerhalb seiner eigenen Geschichte<br />

angeeignet hat. Was wir hier heute bei<br />

der Performance platzieren oder herausarbeiten<br />

wollen, das sind Partikel<br />

einer geteilten Geschichte zwischen<br />

Kim, Mike Kelley und mir, einer Zeit<br />

und einem Ort.<br />

Stichwort: geteilte Geschichte. Wie<br />

wurden Sie beide Freunde?<br />

JK: Wir trafen uns während der Arbeit.<br />

KG: Das war 1987. Jutta interviewte<br />

mich und Sonic Youth für das „Spex<br />

„SOCIAL-MEDIA-STATUS<br />

IST HEUTE EINE WÄHRUNG<br />

DES SEINS“<br />

Magazin“. Das erste gemeinsame Projekt<br />

machten wir dann 1994. Jutta hatte<br />

eine Show bei Pat Hearn in New York<br />

1999 und fragte, ob sie ein paar Arbeiten<br />

installieren könnte. Unsere erste<br />

gemeinsame Installation „The Club in<br />

the Shadow“ machten wird dann 2003<br />

bei Kenny Schachter ConTEMPorary<br />

in New York.<br />

JK: Uns verbindet ein geteiltes Interesse,<br />

ein geteilter Austausch, der gleichermaßen<br />

Kunst und Musik berührt.<br />

Gibt es andere jüngere Künstlerinnen,<br />

die in Ihrer Tradition arbeiten,<br />

die in den Fokus gehören?<br />

JK: Mich interessieren künstlerische<br />

Positionen, die etwas verändern, die<br />

wirklich neue Ideen und Behauptungen<br />

aufstellen und nicht die Modelle<br />

aus den 90ern oder sonst irgendeiner<br />

Zeit wiederholen. Neue Rollenmodelle<br />

sollten aus ihrer eigenen Zeit kommen.<br />

Es ist doch viel interessanter etwas<br />

wachsen zu sehen, das anders ist und<br />

eine Verbindung zu den Fragen der Gegenwart<br />

herstellt.<br />

Was hat heute zeitgenössische Relevanz?<br />

JK: Die Frage ist eher, wie wird zeitgenössische<br />

Relevanz konstituiert. Wir<br />

sind in einem System der Klicks, Likes<br />

und Follower gefangen. Ich glaube, das<br />

ist nicht der einzige Weg zu denken. Es<br />

wird eine neue Generation geben, die<br />

das nicht mehr mitmacht, die wirklich<br />

versuchen wird, andere Möglichkeiten<br />

und Wertesysteme herauszuarbeiten.<br />

Wer oder was das ist, kann man zurzeit<br />

noch nicht sagen, wir stecken mitten<br />

im Prozess. Das braucht Zeit.<br />

Vielleicht hat sich der Glaube gefestigt,<br />

dass eine mediale Popularität<br />

kulturellen Einfluss verleiht ...<br />

KG: Es gibt diese Vorstellung und den<br />

Wunsch in der Kunstwelt, über die<br />

Maße populär und einflussreich zu<br />

sein. Das sind ähnliche Mechanismen<br />

wie in der Politik. Zudem begünstigen<br />

die sozialen Medien eine Auflösung der<br />

Grenzen zwischen Kunst und Mainstream.<br />

Jay-Zs Song, seine Performance<br />

mit Marina Abramovic in der Pace<br />

Gallery 2013, steht sinnbildlich dafür,<br />

wie Mode, Pop und Kunst verschmelzen.<br />

Es zeigt, dass einiges falsch läuft<br />

in der Kunstwelt.<br />

Was lässt hoffen?<br />

JK: Es gibt Bereiche, etwa in den Kunsthochschulen<br />

oder nerdigen Gruppierungen,<br />

in denen neue Philosophien oder<br />

kulturelle Praktiken ausprobiert werden.<br />

Leute, die wirklich Dinge in neuen Formen<br />

durchdenken. Ich kann nicht sagen,<br />

dies oder das ist oder wird das heißeste<br />

oder beste Zeug. Interessant ist es, danach<br />

zu schauen, wo kommen kleine<br />

Gruppen zusammen, die diskutieren<br />

und darüber nachdenken, unter welchen<br />

Bedingungen sie selbst arbeiten<br />

und leben, wie es dazu kam und was<br />

man tun kann, um das alles zu verändern<br />

oder zu beeinflussen.<br />

Jutta Koether (*1958) ist eine deutsche<br />

Malerin, Performancekünstlerin und<br />

Theoretikerin. Seit 2010 ist sie Professorin<br />

für Malerei an der Hochschule für bildende<br />

Künste in Hamburg.<br />

Kim Gordon (*1953) ist eine US-amerikanische<br />

Musikerin, Kuratorin und Künstlerin.<br />

Bis zur Auflösung 2011 war sie Sängerin<br />

und Bassistin der Band Sonic Youth.<br />

Nr.13<br />

48 49<br />

Nr.13


AGENDA<br />

ILMENAU STATT LA:<br />

EIN FILM-FESTIVAL IN<br />

DER WALACHEI<br />

Dass Goethe in Ilmenau sein letztes<br />

Gedicht „Über allen Wipfeln ist ruh“<br />

geschrieben hat, trägt nicht gerade<br />

zum Ruf des Städtchens als Film-Metropole<br />

bei. Trotzdem gibt es dort seit<br />

einem Jahr ein Kurzfilmfestival, das<br />

genau deshalb so gut ist, weil es nicht<br />

in Berlin oder München stattfindet.<br />

Der Eintritt ist frei, die hochwertige<br />

Filmauswahl und die Location am<br />

Thüringer Wald sprechen für sich.<br />

Am Berg Kickelhahn, auf Seebühnen,<br />

bewachsenen Häuserbaracken oder<br />

Freilichtbühnen im Stadtpark gibt es<br />

Filme aller Genres. Am Abend kann<br />

man noch zu Goethes Wald-Häuschen<br />

wandern.<br />

Ilmenau, 22. bis 25. Mai<br />

EUROPE 14|14<br />

Vom 7. bis 11. Mai treffen auf dem<br />

History Campus in Berlin bis zu 500<br />

junge Menschen aus ganz Europa im<br />

Maxim Gorki Theater aufeinander.<br />

Gemeinsam wollen sie die Bedeutung<br />

des Ersten Weltkrieg für sich<br />

persönlich, die jeweilige nationale<br />

Identität und für das heutige Europa<br />

als gemeinsames Friedensprojekt erkunden.<br />

Weitere Infos unter www.bpb.de<br />

LIEBE ALS KUNST<br />

Gegenwartskunst und Liebe? Bei zeitgenössischen<br />

Arbeiten denkt man eher<br />

an Provokationen aus Politik, Konsum<br />

und Sex oder an völlig abstrakte Konzeptkunst.<br />

Doch was ist mit Gefühlen<br />

oder sogar Romantik – nicht cool genug?<br />

Dabei spielt die Liebe doch genauso<br />

wie die Kunst mit unserer Fantasie,<br />

befeuert unsere Vorstellungskraft,<br />

kann wie die Kunst als unordentliche<br />

Emotion Grenzen überschreiten. Das<br />

Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen<br />

will diskutieren, wie, warum<br />

und was Liebe in der Gegenwartskunst<br />

bedeutet und zeigt dabei Arbeiten von<br />

Marina Abramovic, Sophie Calle, Tracey<br />

Emin und Tino Sehgal.<br />

„Liebe“, Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen,<br />

bis 29. Juni<br />

AUF DEN BESEN,<br />

SCHWESTERN! ES IST<br />

WALPURGISNACHT<br />

In der Nacht vom 30. April zum ersten<br />

Mai werden Feuer angezündet<br />

und es wird wild getanzt. Überall in<br />

Deutschland finden große Feste statt,<br />

besonders in Berlin. Traditionell gilt die<br />

Nacht vom 30. April auf den 1. Mai als<br />

die Nacht, in der die Hexen insbesondere<br />

auf dem Blocksberg (Brocken),<br />

aber auch an anderen erhöhten Orten<br />

ein großes Fest abhalten.<br />

In der Nacht vom 30. April auf 01. Mai<br />

FANATIKER DES<br />

AUGENBLICKS<br />

Düsseldorf ist eine Kunst-Stadt par<br />

excellence. Die Quadriennale, die dort<br />

alle vier Jahre stattfindet, gleicht einem<br />

kreativen Vulkanausbruch, an dem alle<br />

führenden Düsseldorfer Kunstmuseen,<br />

Ausstellungshäuser und die Kunstakademie<br />

beteiligt sind. Alles dreht sich<br />

um ein zentrales Leitthema, auf das<br />

sich alle teilnehmenden Institutionen<br />

entsprechend ihrer programmatischen<br />

Ausrichtung mit Werkschauen, Ausstellungen<br />

und einem umfangreichen<br />

Begleitprogramm beziehen. Thema<br />

dieses Mal: der Augenblick und die<br />

Zukunft.<br />

Kunst-Quadriennale Düsseldorf,<br />

5. April bis 10. August<br />

Foto: Frank Hurley, 1917<br />

FILM ALS DOKUMENT<br />

Vier Tage lang werden auf dem 3. Berlin<br />

Documentary Forum verschiedenste<br />

Modi des Dokumentierens, Erinnerns<br />

und Abbildens in Life-Präsentationen,<br />

Screenings und Ausstellungen reflektiert.<br />

Thema des zum 3. Mal von Hila<br />

Peleg kuratierten Forums soll die Auseinandersetzung<br />

mit der Tradition des<br />

Narrativen Realismus sein, der sich<br />

Künstler wie Harun Farocki, Elfriede<br />

Jelinek und Uriel Orlow stellen.<br />

Berlin Documentary Forum 3:<br />

29. Mai bis 1. Juni<br />

FEUERBACHS MUSEN – LAGERFELDS MODELS<br />

Musen und Models sind das beflügelnde<br />

Opiat der Kunst und Mode. Ohne sie<br />

wäre es sehr langweilig, weil weniger<br />

schön und rauschhaft. Die Hamburger<br />

Kunsthalle zeigt nun eine Doppelschau,<br />

in der Gemälde von Anselm Feuerbach<br />

mit noch nie gezeigten Fotografien von<br />

Karl Lagerfeld zusammengeführt werden.<br />

Von Feuerbach sind über vierzig<br />

Arbeiten aus den Jahren 1860 bis 1870<br />

zu sehen. Karl Lagerfeld schuf speziell<br />

für die Ausstellung eine Serie von rund<br />

sechzig Schwarz-Weiß-Aufnahmen.<br />

Hamburger Kunsthalle, bis 15. Juni<br />

Parallel zur Ausstellung ist bei STEIDL<br />

der Band „Karl Lagerfeld – Moderne<br />

Mythologie“ erschienen.<br />

Foto: “Veracruz/Virginia,” performance Maria Thereza Alves and Jimmie Durham, 1992, Monterrey,<br />

Mexico, courtesy Museo de Monterrey<br />

Nr.13<br />

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Nr.13


AGENDA<br />

BALLKLEIDER<br />

FÜR ALLE!<br />

Charles James war im zwanzigsten<br />

Jahrhundert einer der wichtigsten Modeschöpfer<br />

der Vereinigten Staaten. In<br />

der Schau im Metropolitan Museum wird<br />

seine Karriere nachgezeichnet – unter<br />

Anderem seine Arbeit an mathematisch<br />

und wissenschaftlich angelegten Entwürfen<br />

für revolutionäre Abendkleider.<br />

Zu sehen sind etwa 80 der markantesten<br />

Entwürfe, Ballkleider aus den 40er- und<br />

50er-Jahren, die zum Schönsten zählen,<br />

was die Mode jener Zeit hervorgebracht<br />

hat: weibliche Silhouetten, mehrlagige<br />

halb transparente Stoffe, extrem betonte<br />

Taillen und extrava gante Details.<br />

Charles James Beyond Fashion, New<br />

York, Metropolitan Museum of Art, 8.<br />

Mai bis 10. August<br />

BIRDS<br />

OF<br />

PARADISE<br />

So luxuriös wie fragil, haben Federn<br />

immer schon die Phantasie von Modedesignern<br />

und Künstlern angeregt. Nun<br />

erzählt die Ausstellung „Birds of Paradise“<br />

von der Arbeit der Plumassier,<br />

der Federarbeiter, Federn in der Kunstgeschichte<br />

und ihrer Bedeutung für<br />

so schillernde Stilikonen wie Marlene<br />

Dietrich und Yves Saint Laurent.<br />

„Birds of Paradise - Federn und<br />

Daunen in der Mode“, bis 24. August im<br />

MMAntwerpen<br />

EUROPEAN MEDIA<br />

ART FESTIVAL<br />

Wir sind der Feind: Dass wir überwacht<br />

werden, ist insofern ein hausgemachtes<br />

Problem, weil es keinen<br />

Widerstand, sondern vorauseilenden<br />

Gehorsam gibt. Damit beschäftigt<br />

sich das European Media Art Festival.<br />

Seit über 25 Jahren ist Osnabrück<br />

der Treffpunkt für den künstlerischen<br />

Nachwuchs im Medienbereich. Dieses<br />

Jahr steht es unter dem Motto „We, the<br />

enemy“. Was George Orwell in seinem<br />

Roman „1984“ noch wie eine tumbe<br />

Überwachungsdiktatur gestaltet hat,<br />

hat sich viel subtiler in unseren Alltag<br />

eingeschlichen: Die Gesellschaft der<br />

Selbstkontrolle zielt auf eine optimierte<br />

Bewirtschaftung der Menschen und<br />

beutet sich selbst aus. In der Ausstellung,<br />

in Performances, Filmprogrammen<br />

und Gesprächen wird reflektiert,<br />

wie wir zu allseitig überwachten<br />

„Feinden“ wurden und wie die aktuelle<br />

internationale Kunstszene darauf<br />

antwortet.<br />

Osnabrück, 23. bis 27. April, Ausstellung<br />

bis 25. Mai<br />

Alice und Matt, seit 2 Jahren ein Paar<br />

Nr.13<br />

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Nr.13


DAS BILD<br />

Interview: Robert Grunenberg<br />

Zeichnung: Brode Dalle<br />

DIE PUNKROCK-SÄNGERIN BRODY DALLE LIEBT KRAWALL UND KONTEMPLATION. SCHON MIT 15 JAHREN HATTE SIE<br />

EINEN PLATTENVERTRAG UND SPIELTE SPÄTER ALS FRONTFRAU UND GITARRISTIN DER BANDS THE DISTILLERS UND<br />

SPINNERETTE AUF ALLEN GROSSEN FESTIVALS. EIN GESPRÄCH ÜBER IHRE TEENAGER-ZEIT, ZWEI SCHWANGERSCHAFTEN<br />

UND ANDERE METAMORPHOSEN DES ALLTAGS. DAZU MALTE SIE UNS EIN EINÄUGIGES SELBSTPORTRAIT.<br />

„I WANT TO<br />

KICK ASS“<br />

<strong>Fräulein</strong>: Wie oft sind Sie in<br />

Ihrem Leben durch eine Metamorphose<br />

gegangen?<br />

Brody Dalle: Wahrscheinlich ist mein<br />

ganzes Leben eine einzige Metamorphose.<br />

Man entwickelt sich die ganz<br />

Zeit. Mein Vater sagte mir, das Einzige,<br />

was im Leben konstant ist, sei Veränderung.<br />

Das ist wahr. Wenn du eine<br />

miese Zeit durchlebst, ist es das Beste,<br />

wenn man das in irgendeiner Form<br />

ausdrücken kann. Insbesondere, wenn<br />

man den Wunsch hat, voranzukommen,<br />

eine glückliche Person zu sein.<br />

Wenn nicht, kannst du dich in deinem<br />

Unglück suhlen!<br />

Inwiefern reflektieren Sie diese<br />

Transformationen in Ihrer Musik?<br />

Ein Song, ein Album ist immer eine<br />

Momentaufnahme der eigenen Lebensphase.<br />

Die Aufnahmen speisen<br />

sich aus allem, was einen umgibt.<br />

Ein Song hat deshalb oft mehrere<br />

Geschichten, die alle miteinander zusammenhängen.<br />

Mit meinem ersten<br />

Solo-Album „Diploid Love“ begann ich<br />

kurz vor der Schwangerschaft 2011.<br />

Im Song „Dont Need Your Love“<br />

hört man Kinderstimmen im Hintergrund<br />

quietschen. Sind das Ihre<br />

Kinder?<br />

Ja, das sind die Stimmen meines Sohnes<br />

und meiner Tochter. Ich nahm sie<br />

auf, während sie in der Badewanne<br />

spielten. Der Song ist ursprünglich<br />

für eine Person, enthält aber zwei Geschichten.<br />

Es geht um mich und meinen<br />

Sohn.<br />

Was hat sich nach der Geburt Ihres<br />

Sohnes verändert?<br />

Während der Schwangerschaft und<br />

nach der Geburt fühlte ich mich wirklich<br />

gut. Ich fühlte mich selbstsicher<br />

und glücklich. Als meine Tochter 2006<br />

geboren wurde, hatte ich so was wie<br />

eine persönliche Krise. Ich wusste<br />

nicht, wer ich bin, wo ich bin und was<br />

ich mache. Da kam ich nicht richtig<br />

raus. Erst nachdem mein Sohn geboren<br />

wurde, fühlte ich mich wirklich<br />

als Mutter. Ich gewöhnte mich an mein<br />

neues Leben, an das Erziehen meiner<br />

kleinen Tochter und daran, mit meinen<br />

eigenen Problemen umzugehen, ohne<br />

es auf sie abzuwälzen.<br />

Persönliche Krisen führen oft zu<br />

einem Gefühl der Entfremdung.<br />

Kennen Sie das Gefühl, eine Außerirdische<br />

zu sein?<br />

Ich fühle mich bereits mein ganzes Leben<br />

wie ein Außerirdischer. Als Kind<br />

war ich ein Außenseiterin. Ich war<br />

schüchtern, fühlte mich seltsam und<br />

passte nicht so richtig dazu. Doch je<br />

älter ich wurde, desto mehr entdeckte<br />

ich, dass es unzählige Leute gibt, die<br />

genauso fühlen, dass es ein ziemlich<br />

menschlicher Zustand ist.<br />

Sie texten und singen darüber, wie<br />

man überlebt, seine Probleme in<br />

den Griff bekommt. Was gibt Ihnen<br />

Kraft und Energie?<br />

Ich habe von Natur aus viel Energie.<br />

Um mein Gehirn auszuschalten, gehe<br />

ich lange joggen. Joggen ist großartig,<br />

denn man findet einen eigenen Rhythmus.<br />

Man kann es überall machen,<br />

man ist frei. Es ist wie Meditation.<br />

Mein Ehemann versucht mich schon<br />

seit Längerem von Transzendentaler<br />

Meditation (TM) zu überzeugen.<br />

Was passiert da?<br />

Man denkt an überhaupt nichts. Es<br />

ist eine unglaublich kraftvolle Erfahrung.<br />

Angeblich soll es sogar Körperzellen<br />

regenerieren. Es gibt eine kleine<br />

Stadt in den USA, die total von einer<br />

TM-Welle ergriffen wurde. Dinge liefen<br />

in dem Dorf nicht gut, die Leute waren<br />

depressiv, dann gab es eine Stadtversammlung,<br />

eine Frau überzeugte alle<br />

Bewohner, Transzendentale Meditation<br />

auszuprobieren. Plötzlich fingen die<br />

Leute an gut zu arbeiten, ihr Leben erfüllter<br />

und glücklicher zu gestalten. Ich<br />

schätze, ich sollte es ausprobieren.<br />

Mit Meditation kann man verschiedene<br />

Charaktereigenschaften ins<br />

Gleichgewicht bringen. Was sind die<br />

Extreme Ihrer Persönlichkeit?<br />

Ich bin von Natur aus sehr aggressiv.<br />

Wenn ich auf die Bühne gehe, dann<br />

transformiere ich zu diesem wilden<br />

Tier. Es gibt ein Element in mir, das<br />

überleben, den Leuten in den Arsch treten<br />

will. Ich habe keine Lust mir Scheiße<br />

anzuhören. Als Kind habe ich so viel<br />

Mist erlebt, dass ich manches jetzt komplett<br />

ablehne. Meine Mutter war auch<br />

eine energische Person. Sie ist eine politische<br />

Aktivistin. Somit bin ich von Kind<br />

an mit einem aggressiven weiblichen<br />

Archetyp aufgewachsen, die zu Protesten<br />

ging und Prügeleien mit Polizisten<br />

führte. Solche Erlebnisse prägen.<br />

Wie fühlten Sie sich damals?<br />

Als Kind war das sehr peinlich und<br />

auch beängstigend. Heute kann ich<br />

diese Energie und kritische Haltung in<br />

meiner Musik ausdrücken.<br />

Im Video zu Ihrem Song „Meet the<br />

Foetus“ empören Sie sich über viele<br />

gegenwärtige Ereignisse ...<br />

Es gibt viele Dinge, die mir nicht gefallen.<br />

Ich haue keine Statements raus,<br />

sondern stelle lieber Fragen. Denn es<br />

gibt einige Fragen zu stellen: Schau<br />

nach Syrien, nach Fukushima oder auf<br />

die Missbrauchsfälle in der katholischen<br />

Kirche. All dieser Scheiß macht<br />

mich sehr wütend. Im Video zu „Meet<br />

the Foetus“ sind Traumsequenzen zu<br />

sehen, die meine Angst zeigen, Kinder<br />

in diese Welt zu bringen.<br />

Was bedeutet es für Sie jetzt, eine<br />

Familie zu haben?<br />

Meine Kids und mein Ehemann sind<br />

meine Heimat. Wir leben in Kalifornien,<br />

teilen dort unser Leben, spielen<br />

und singen viel zu zusammen. Das vereint.<br />

Mein Sohn spricht schon sehr gut,<br />

singt unentwegt und erfindet seine eigenen<br />

Texte. Mein absoluter Favorit ist,<br />

wenn er in der Küche steht und schreit:<br />

„I don’t like you, don’t like you, don’t tell<br />

me what to do!“<br />

Auf ihrem ersten Solo-Album „Diploid Love“<br />

entlässt Brody Dalle wieder bebende Sounds<br />

und nachdenkliche Texte in die Welt. Dalle<br />

singt über das Leben: wie man es erschafft,<br />

darin lebt und überlebt. Musikalisch mischt<br />

sie dabei Punkrock mit einem Schimmer Pop.<br />

EV: Ende April 2014<br />

Nr.13<br />

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Nr. 13


EIN TAG<br />

Text: Maja Hoock<br />

Fotos: Miles Michael<br />

„Detroit ist nicht tot, Detroit wird leben“,<br />

sagt Tilda Swinton im Vampir-Film<br />

„Only Lovers Left Alive“. „Spätestens,<br />

wenn die Städte im Süden brennen.“<br />

Miami brennt zwar nicht, aber seine<br />

Künstler suchen sich trotzdem günstigere<br />

Alternativen. Auch New York ist so<br />

teuer, eng und seit dem 11. September polizeikontrolliert,<br />

dass es fast anti-kreativ<br />

geworden ist. Künstler brauchen Platz<br />

für Ateliers, haben oft wenig Geld und<br />

wollen sich austoben. Darum erobern sie<br />

sich jetzt Detroit.<br />

Die Stimmung dort ist von einem Vampir-Film<br />

tatsächlich nicht weit entfernt.<br />

Als die Autoindustrie die Stadt verließ,<br />

haben auch die Bürger ihre Wohnungen<br />

teils komplett eingerichtet zurückgelassen.<br />

In den 1950er-Jahren lebten in Detroit<br />

fast zwei Millionen Menschen, heute<br />

sind es nur noch 700.000. Viele Straßen<br />

sind verwaist, Steine brechen von den<br />

Bordsteinen und aus den Kanalisationen<br />

dampft es.<br />

Obwohl die Warnung ausgesprochen<br />

wurde, besser nicht alleine durch die<br />

Stadt zu fahren, führt Miles Michael Besucher<br />

bereitwillig abseits der toten Innenstadt<br />

herum. Er arbeitet eigentlich im<br />

neun Stunden entfernten New York als<br />

Künstler und Bühnenbildner, doch gerade<br />

hat er sich ein Haus in Detroit gekauft.<br />

Nicht zuletzt die New Yorker Vernissagen,<br />

die eher Marketing-Events ähneln,<br />

haben ihn wie viele seiner Kollegen aus<br />

der Stadt getrieben.<br />

Er will als Künstler leben, nicht als Abziehbild<br />

seines Berufes, sich nicht weiter<br />

von Sekt auf Ausstellungseröffnungen<br />

nähren. In Detroit kann er durchdrehen:<br />

Gerade hat er ein Auto in die Luft<br />

gesprengt, denn es gehörte niemandem<br />

und die Polizei hat andere Sorgen. Die<br />

Stadt in Michigan ist einer der kriminellsten<br />

Orte der USA. Die berüchtigte<br />

„Eight Mile Road“ trennt die innere<br />

Stadt, in der zu 80 Prozent Schwarze<br />

leben, von den Vororten der Weißen. Statistisch<br />

passiert dort jeden Tag ein Mord<br />

und es gibt einen eigenen Gewaltfeiertag,<br />

die „Detroit Devil’s Night“, in der Brände<br />

gelegt werden. Das ist gefährlich, führt<br />

aber auch dazu, dass man sich frei und<br />

lebendig fühlt, so als wäre alles erlaubt.<br />

Miles’ neues Haus liegt direkt am belebten<br />

Eastern Market, hat nur 15.000<br />

Dollar gekostet und noch weiß er gar<br />

nicht wohin mit dem ganzen Platz. Im<br />

Keller hat er sein 60 Quadratmeter großes<br />

Atelier, oben ein riesiges Büro. „New<br />

York klingt für mich vor allem nach Geld<br />

und Polizei“, sagt er. „Hier kann ich machen,<br />

was ich will.“ Neben ihm hat sein<br />

Nachbar aus New York ein Haus gekauft<br />

und die original Zwanzigerjahre-Bar im<br />

Erdgeschoss renoviert. Daneben haben<br />

Freunde ein eigenes Café mit Konzertraum;<br />

eine befreundete Fotografin aus<br />

Los Angeles errichtet sich gerade ein eigenes<br />

Museum mit Buch-Verlag in einer<br />

ehemaligen Bank samt verschlossenem<br />

Safe für 500 Dollar. Wieder eine andere<br />

lebt in einer Art Schloss und Bekannte<br />

haben sich das „Treasure Nest“ eingerichtet,<br />

eine verdrogte Villa Kunterbunt<br />

für Erwachsene. Nirgends ist es so einfach,<br />

selbst etwas auf die Beine zu stellen<br />

wie hier. Mit 2.000 Dollar im Monat<br />

kann man sich schon ein Loft leisten, im<br />

Prinzip kann man aber auch einfach in<br />

eines der 78.000 leer stehenden Häuser<br />

ziehen. Die Aufbruchstimmung erinnert<br />

an Berlin in den Achtzigern: Alles ist<br />

möglich, die Ästhetik ist roh und selbstgemacht.<br />

Detroits Künstler sind anti-akademisch,<br />

sozial engagiert und machen<br />

Outsider-Art wie im „Italian American<br />

Pizza Museum“, im „Heidelberg Projekt“,<br />

einem riesigen Outdoor-Kunst-Ort, oder<br />

im „African Beat Museum“, das einfach<br />

seine Umgebung übernommen hat und<br />

im ganzen Viertel Kunst verbreitet natürlich<br />

ohne Erlaubnis der Stadt. Brachliegende<br />

Flächen werden zu riesigen<br />

Gärten, in denen Gemüse und Obst angebaut<br />

werden, und im Sommer baut man<br />

etwas aus dem Schrott, der überall herumliegt,<br />

oder badet im Erie-See. Miles<br />

hat seinen Strand „Miles Beach“ getauft.<br />

Die Stadt ist ein Abenteuerspielplatz aus<br />

leeren Wolkenkratzern, Museen, Banken<br />

und Theatern.<br />

Detroit muss in den 50er-Jahren aufregend<br />

gewesen sein, als die Art-déco-Hochhäuser<br />

noch belebt waren, man<br />

ohne Grenzkontrollen über den Fluss<br />

nach Kanada fahren konnte, um Alkohol<br />

zu kaufen, und an jeder Straßenecke<br />

Bands spielten, die hofften, vom Motown-Label<br />

entdeckt zu werden. Heute<br />

ist es ein Modell, wie sich eine amerikanische<br />

Stadt nach dem Kapitalismus entwickeln<br />

kann: kreativ und alternativ. Eine<br />

Oase. Dass es nicht ganz einfach ist, hier<br />

zu leben, bewahrt es sie davor, zu einem<br />

zweiten Brooklyn zu werden.<br />

Nr.13<br />

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Nr.13


LEGENDE<br />

Text: Lorenz Schröter<br />

Fotos: The Ayn Rand® Institute<br />

SIE WAR MIT EINEM GUT AUSSEHENDEN SCHAUSPIELER<br />

VERHEIRATET, AMPHETAMINABHÄNGIG UND SCHRIEB<br />

MEHRERE BESTSELLER. SILICON-VALLEY-MILLIARDÄRE,<br />

BOLLYWOODSTARS UND MODEDESIGNER WIE RALPH<br />

LAUREN LASSEN SICH VON IHREM WERK LEITEN. AYN<br />

RANDS ULTRA-KAPITALISTISCHE WELTSICHT MUSS<br />

MAN SICHER NICHT TEILEN. OHNE SIE LÄSST SICH DIE<br />

AMERIKANISCHE GESELLSCHAFT ABER NICHT VERSTEHEN.<br />

„The right to agree is not a problem in<br />

any society. It is the right to disagree<br />

that is crucial. It is the institution of<br />

private property that protects and implements<br />

right to disagree.“<br />

Alissa Rosenbaum, wie Ayn Rand ursprünglich<br />

hieß, war die Tochter eines<br />

wohlhabenden Apothekers in Sankt<br />

Petersburg, der außerhalb des Judenviertels<br />

leben durfte. Mit der russischen<br />

Revolution verlor die Familie<br />

ihr Geschäft und floh auf die Krim. Anschließend<br />

studierte Rand Geschichte<br />

in Sankt Petersburg, führte Proletarier<br />

durch Museen und emigrierte mit<br />

zwanzig in die USA. Sie arbeitete als<br />

Kellnerin, Garderobiere und Drehbuch-Mitarbeiterin<br />

in Hollywood. Im<br />

Film „King of Kings“ ist die Atheistin<br />

ein Teil der Jesus zujubelnden Menge.<br />

Während der Dreharbeiten lernte sie<br />

Frank O’Conner kennen und heiratete<br />

ihn. Nebenbei schrieb sie. Buch um<br />

Buch, Theaterstücke, Drehbücher. Sie<br />

nahm Benzedrin (Speed), das war damals<br />

nicht verschreibungspflichtig, in<br />

den James-Bond-Büchern ist oft von<br />

„Bennies“ die Rede. Mit 38 schrieb Ayn<br />

Rand, so ihr angenommener Name,<br />

ihren ersten Bestseller: „The Fountainhead“,<br />

der ewige Quell, 1943 mit Gary<br />

Cooper verfilmt. Es handelt von einer<br />

Frau zwischen zwei Architekten, der<br />

eine ein willensstarker Modernisierer,<br />

der Wolkenkratzer baut, der andere ein<br />

erfolgreicher Opportunist.<br />

Es ist die Art von Büchern, die einen<br />

jungen idealistischen Geist entflammen<br />

können. Yaron Brook, heute Präsident<br />

der Ayn Rand Society, war in<br />

seiner Jugend ein guter Sozialist gewesen:<br />

„Das war jeder in Israel. Dann las<br />

ich mit 16 Jahren Ayn Rand und war<br />

komplett geschockt. Am Ende war ich<br />

überzeugt, ich hatte Unrecht und sie<br />

Recht.“<br />

Rands Ansichten sind stets dafür<br />

gut, um Gemeinschaftskundelehrer,<br />

Gewerkschaftler und Sozialisten zu<br />

ärgern. Warum Hungersnöte fast ausschließlich<br />

in sozialistischen Staaten<br />

vorkommen? Es im Sozialismus keine<br />

Meinungsfreiheit gibt? Für Rand eine<br />

klare Angelegenheit:<br />

„The basic issue is only: is man free?<br />

In mankind’s history, capitalism is the<br />

only system that answers yes.“<br />

In ihrem nächsten Buch „Atlas Shrugged“,<br />

Atlas wirft die Welt ab, verschwinden<br />

die Erfinder und Unternehmer. Sie<br />

wollen weg von einem Staat, der sie<br />

mit Vorschriften drangsaliert und sie<br />

durch Steuern enteignet. Sie gründen<br />

eine kapitalistische Utopie, über dem<br />

Eingang erhebt sich ein gewaltiges<br />

Dollarzeichen aus purem Gold. In einer<br />

berühmten Szene in „Atlas Shrugged“<br />

heißt es: „If you saw Atlas, the giant<br />

who holds the world on his shoulders,<br />

if you saw that he stood, blood running<br />

down his chest, his knees buckling,<br />

his arms trembling but still trying to<br />

hold the world aloft with the last of his<br />

strength, and the greater his effort the<br />

heavier the world bore down upon his<br />

shoulders - What would you tell him?“<br />

„I don‘t know. What could he do? What<br />

would you tell him?“<br />

„To shrug.“<br />

Dagny Taggert, die Hauptperson von<br />

„Atlas Shrugged“, gilt vielen als erste<br />

richtige Heldin der Literaturgeschichte.<br />

Sie entscheidet selbstbewusst und<br />

unabhängig, dient dabei aber auch<br />

gern Männern. Die Liebesszenen<br />

schwanken irgendwo zwischen Vergewaltigung<br />

und stummem SM. Feministinnen<br />

verachten und verehren sie,<br />

sowohl Dagny als auch ihre Schöpferin,<br />

die energische Kettenraucherin mit<br />

herrischer Stimme und dem goldenen<br />

Dollarzeichen als Brosche, die ihren<br />

Mann jeden Dienstag und Samstag aus<br />

dem gemeinsamen Apartment in der<br />

120 East 34th St schickt, um ihren halb<br />

so alten Liebhaber Nathaniel zu empfangen.<br />

Dessen Frau Barbara schrieb<br />

dann eine liebevolle Biografie über Ayn<br />

Rand. Als sich dann Nathaniel eine<br />

wesentlich jüngere Geliebte aussuchte,<br />

waren sowohl Barbara als auch Ayn<br />

sehr böse.<br />

„Tell me what a person finds sexually<br />

attractive and I will tell you their entire<br />

philosophy of life.“<br />

Ayn Rand war in den 50er-Jahren ein<br />

Superstar in Amerika. Ihre Vorträge<br />

waren extrem populär, sie hatte eine<br />

eigene Radio-Show, trat im Fernsehen<br />

auf; die Gesamtauflage ihrer Bücher<br />

beträgt 25 Millionen allein in den USA.<br />

Alan Greenspan, der fast zwanzig Jahre<br />

die amerikanische Notenbank leitete,<br />

war ihr eifriger Schüler. Auch wegen<br />

solcher Lehren:<br />

„It is morally obscene to regard wealth<br />

as an anonymous tribal product and to<br />

talk about redistributing it. The view<br />

that wealth is the result of some undifferentiated<br />

collective process, that we<br />

all did something and it is impossible to<br />

tell who did what, therefore some sorted<br />

equalitarian distribution is necessary<br />

might have been appropriate in<br />

the primary jungle with a savage horde<br />

moving boulders by brute physical labor.<br />

To hold that view in an industrial<br />

society where individual achievements<br />

are a matter of public record is so crass<br />

an evocation that even to give the benefit<br />

of the doubt is an obscenity.“<br />

Es sind demnach die Erfinder, die die<br />

„THE BASIC<br />

ISSUE IS ONLY:<br />

IS MAN FREE?”<br />

Welt am Laufen halten, es sind die<br />

Unternehmer, die Werte schaffen, und<br />

nicht der Staat, der nichts anderes tut,<br />

als fremdes Eigentum zu verteilen.<br />

Laut Ayn Rand sollte der Leviathan,<br />

wie Hobbes den Staat nennt, nur für<br />

die Sicherheit seiner Bürger sorgen, als<br />

sogenannter Nachtwächterstaat. Kultur,<br />

Bildung, Transport- und Gesundheitswesen<br />

sollten sich frei am Markt<br />

entfalten, Steuern seien unmoralisch.<br />

Monopole gäbe es nur, wo der Staat<br />

eingreift, Zölle erhebt, Vorschriften<br />

erlässt. Sie beruft sich dabei auf die<br />

Ökonomen der österreichischen Schule<br />

Hayek und Mises, die darauf hinwiesen,<br />

dass in einer staatlich geleiteten<br />

Wirtschaft Misswirtschaft entstehen<br />

muss, da es in der Planwirtschaft keine<br />

Nachfrage-Information gibt. In einem<br />

freien Markt signalisieren steigende<br />

Preise einen Mangel, der in Folge unternehmerische<br />

Kräfte anzieht und den<br />

Mangel behebt.<br />

„The difference between a welfare state<br />

and a totalitarian state is a matter of<br />

time.“<br />

Die Gründungsväter der USA und danach<br />

die Einwanderer aus Europa waren<br />

vor absolutistischen Herrschern<br />

und anderen Diktaturen geflohen. So<br />

wurde Freiheit für die Ausgestoßenen<br />

aus den herrschenden Systemen,<br />

der Wohlfahrtsstaat für die in Europa<br />

verbliebenen Nutznießer der Regimes<br />

zum Ideal.<br />

„The question isn‘t who is going to let<br />

me; it‘s who is going to stop me.“<br />

Die kleine Frau mit dem Pagenschnitt<br />

und der silberblauen Zigarettenspitze,<br />

geflohen vor den Sowjets, Selfmade-Millionärin,<br />

ist die Stimme dieses<br />

amerikanischen Ideals. Die Rechten<br />

von der Tea Party übernehmen zwar<br />

gern ihre Wirtschaftsideologie, ihr<br />

kämpferischer Atheismus stößt ihnen<br />

hingegen sauer auf.<br />

Ayn Rands Sprüche zieren heute<br />

T-Shirts, Universitäten tragen ihren<br />

Namen, die Internet-Unternehmer<br />

preisen sie, zurzeit wird die dritte<br />

Kino-Folge von „Atlas Shrugged“ gedreht.<br />

Die ersten beiden Teile floppten<br />

allerdings.<br />

1982, mit 77, starb sie an Lungenkrebs.<br />

Ihr Mann war ein paar Jahre vorher<br />

gestorben, ihre Schwester, enttäuscht<br />

vom Kapitalismus, war längst zurück<br />

in die Sowjetunion gezogen. Ayn Rand<br />

hinterließ keine Kinder. Bis zuletzt bestritt<br />

sie, dass ihre geliebten Zigaretten<br />

Marke Tareytons mit dem Krebs<br />

etwas zu tun haben könnten. Ihr sollt<br />

alle rauchen, hatte sie verkündet, wer<br />

raucht, ist ein Prometheus.<br />

Laut Gore Vidal ist die Philosophie von<br />

Ayn Rand (1905 – 1982) nahezu perfekt in<br />

ihrer Immoralität. Paul Ryan, Vizepräsidentschaftskandidat<br />

der Republikaner, und<br />

Amber Heard, die bisexuelle Freundin von<br />

Johnny Depp, sind Fans. Anne Hathaway liebt<br />

ihre Romane. Die meisten Google-Anfragen zu<br />

ihr kommen aus den USA und Indien.<br />

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SCHNITTMUSTER<br />

Interview: Sina Braetz<br />

TORY<br />

BURCH<br />

EINST EIN TOMBOY AUF EINER FARM IN PENNSYLVANIA, HEUTE EINE DER WELTWEIT REICHSTEN FRAUEN MIT<br />

EINEM GLOBALEN MODEIMPERIUM: TORY BURCH HAT EINE MÄRCHENHAFTE METAMORPHOSE DURCHGEMACHT. DIE<br />

AMERIKANISCHE DESIGNERIN GESTALTET IN IHREM HELLEN, WEISSEN NEW YORKER ATELIER NICHT NUR FEMININE<br />

FRAUENMODE MIT KLASSISCHER SILHOUETTE, SONDERN AUCH BRILLEN, ACCESSOIRES, SCHUHE – DARUNTER IHRE<br />

BERÜHMTEN REVA BALLERINAS – UND EIN BREITES SORTIMENT AN BEAUTY-PRODUKTEN. UHREN FOLGEN IN DIESEM<br />

HERBST, EINE SPORTKOLLEKTION KOMMT NÄCHSTES JAHR NOCH DAZU. FRÄULEIN STELLTE DIE SELFMADE-MILLIARDÄRIN<br />

EIN SCHNITTMUSTER EINES KLEIDES AUS IHRER AKTUELLEN SOMMERKOLLEKTION ZUR VERFÜGUNG.<br />

<strong>Fräulein</strong>: Sie haben Ihr Label 2004<br />

gegründet. Hat sich Ihrer Meinung<br />

nach die Mode seither verändert?<br />

Tory Burch: Mode entwickelt sich stetig<br />

weiter – Designer wechseln ihre Häuser,<br />

Firmen schließen, neue Talente entwickeln<br />

sich. Die kontinuierliche Veränderung<br />

ist Teil von dem, was diese Industrie<br />

so spannend macht.<br />

Ihre Inspiration schöpfen Sie hauptsächlich<br />

aus den 60er- und 70er-Jahren,<br />

was fasziniert Sie so an der Zeit?<br />

Mit den 60er- und 70er-Jahren verbinde<br />

ich so viele, fantastische Stilikonen wie<br />

Faye Dunaway, Julie Christie, Marisa Berenson,<br />

Charlotte Rampling. Sie verbindet<br />

ein ungezwungen-einzigartiger Stil.<br />

Diese Ära erinnert mich zudem an meine<br />

Eltern, die oft nach Italien, Marokko und<br />

Griechenland gereist sind. Ich liebe es,<br />

Fotos von ihren faszinierenden Reisen<br />

anzuschauen.<br />

Ihre Eltern sind also eine Inspirationsquelle<br />

für Sie?<br />

Absolut! Nicht nur ihre Reisen, auch ihr<br />

Stil. Die Vintage Militärjacke meiner Mutter<br />

beispielsweise war einmal der Startpunkt<br />

einer ganzen Kollektion.<br />

Was macht eine Frau schön und sexy?<br />

Selbstvertrauen und ein Sinn für Humor.<br />

Ich denke, sexy zu sein hängt sehr stark<br />

mit Selbstbewusstsein zusammen, viel<br />

mehr mit einem Seelenzustand als mit<br />

einem persönlichen „Style“. Das hat auch<br />

die wahren Stilikonen ausgemacht und<br />

abgehoben von der Masse.<br />

Sie sind Mutter von drei Jungs sowie<br />

CEO, als auch Designer Ihres Labels.<br />

Das hört sich nach verdammt viel Arbeit<br />

an. Wie schaffen Sie das alles?<br />

Arbeit und Familie unter einen Hut zu<br />

bringen ist eine meiner größten Herausforderungen,<br />

aber ich habe einen guten<br />

Weg gefunden, alles zu managen, indem<br />

ich klare Prioritäten setze. So etwas muss<br />

man lernen. Ich fokussiere mich heute<br />

stark auf Zeitmanagement und muss<br />

manchmal einfach Grenzen setzen.<br />

Was sind das teilweise für Grenzen,<br />

die Sie setzen müssen?<br />

Zeit zu managen bedeutet sich klarzumachen,<br />

was man an einem Tag schaffen<br />

kann. Jeder Tag in meinem Leben ist<br />

anders und mein Terminkalender ändert<br />

sich ständig. Dennoch bringe ich meine<br />

Söhne jeden Tag zur Schule und schaffe es<br />

meistens, abends zum Essen zu Hause zu<br />

sein, selbst, wenn das bedeutet, auf dem<br />

Heimweg ein Meeting im Auto zu haben.<br />

Meine Söhne kommen immer an erster<br />

Stelle. Wenn ich keine gute Mutter wäre,<br />

wäre ich auch kein guter CEO.<br />

Sie selber sind auf einer Farm in Philadelphia<br />

aufgewachsen. Vermissen<br />

Sie manchmal diese Zeit im Vergleich<br />

zu dem rasanten, stressigen Leben in<br />

New York?<br />

Ich liebe es, in New York zu leben – die<br />

Stadt besitzt eine großartige Energie und<br />

tolle Persönlichkeiten. Ich empfand New<br />

York von Beginn an inspirierend, bis heute.<br />

Aber ich liebe auch das Landleben. Meine<br />

Jungs und ich gehen so oft wie möglich<br />

nach Long Island am Wochenende und<br />

verbringen so viel Zeit wie möglich.<br />

Sie waren früher eher ein Tomboy,<br />

stimmt das?<br />

Ja, ich wuchs mit drei Brüdern auf und<br />

war ziemlich bubenhaft. Ich habe fast<br />

meine ganze Zeit draußen verbracht, bin<br />

überall herumgerannt, habe Tennis gespielt<br />

und bin geritten. Ich habe bis zur<br />

High School fast nie Kleider getragen.<br />

Heute kleiden Sie sich sehr weiblich,<br />

auch der Stil Ihrer Marke ist sehr<br />

feminin…<br />

Das stimmt, aber eigentlich ist er feminin<br />

und „tomboyish“ zugleich. Ich mag den<br />

unerwarteten Mix und spiele gerne mit<br />

Kontrasten.<br />

2009 haben Sie Ihre Tory Burch<br />

Foundation gegründet, um Frauen<br />

wirtschaftlich zu unterstützen und<br />

zu stärken. Was hat Sie zu dieser<br />

Gründung motiviert?<br />

Als ich meine eigene Firma gegründet<br />

habe, sah ich zum ersten Mal die Herausforderungen,<br />

mit denen Frauen konfrontiert<br />

sind. Ich wollte anderen Frauen<br />

helfen und ihnen Kraft geben, ein eigenes<br />

Business zu gründen. Unsere Programme<br />

bieten mittlerweile Zugang zu Darlehen,<br />

Ausbildungsangeboten und Mentorenprogrammen.<br />

Wie arbeiten Sie im Design Department<br />

von Tory Burch? Wie gehen Sie<br />

an eine Kollektion heran?<br />

Das Konzept für eine Kollektion kommt<br />

meist zuerst - eine Idee, zu der wir dann<br />

Bilder und Stoffe sammeln. Dann folgen<br />

Skizzen und die Schnittmuster. Manchmal<br />

inspiriert ein Teil auch ein anderes.<br />

Warum haben Sie sich für das<br />

Schnittmuster dieses Kleides entschieden?<br />

Es ist simpel, aber sehr ausdrucksstark.<br />

Ich liebe die leichte A-Silhouette des<br />

Rocks. Das Kleid ist die perfekte Leinwand<br />

für großartige Verzierungen.<br />

Auch wenn Sie es oft gefragt werden<br />

als einer der reichsten Frauen weltweit:<br />

Was bedeutet Luxus für Sie<br />

wirklich?<br />

Für mich äußert sich Luxus in der Art und<br />

Weise, wie man sein Leben lebt, angefangen<br />

von der Zeit, die man mit seiner Familie<br />

und seinen Freunden verbringt, bis hin<br />

zu wie man anderen Menschen begegnet,<br />

wie man sie behandelt. Darauf lege ich<br />

großen Wert.<br />

Sie investieren viel in Social Media<br />

und E-Commerce. Wie gehen Sie mit<br />

sozialen Medien um als Individuum<br />

auf der einen Seite und als Business-Frau<br />

auf der anderen Seite?<br />

Das ist schwierig zu trennen. Ich kümmere<br />

mich in der Firma um Twitter und Instagram,<br />

mein Team dafür um Facebook,<br />

Pinterest, YouTube, Google+ und Co. Ich<br />

mag es, eine mehr oder weniger direkte<br />

Konversation zu führen mit den Kunden<br />

und von ihnen Feedback zu bekommen<br />

– dafür sind solche Kanäle ideal. Wir glauben,<br />

dass soziale Medien der Schlüssel<br />

zum Erfolg sind, um ein Business aufzubauen.<br />

Was wird Ihr nächstes Projekt sein?<br />

Uhren! Die werden in diesem Herbst gelauncht,<br />

sowie eine Sport-Kollektion im<br />

nächsten Jahr.<br />

Tory Burch gründete ihr namensgleiches<br />

Modelabel 2004 in New York und ist heute<br />

mit 100 eigenen Stores weltweit vertreten. Die<br />

Marke ist bekannt für ihren typischen „preppy-bohemian“<br />

Stil und umfasst mittlerweile<br />

ein Sortiment an Ready-to-wear, Accessoires<br />

und Beauty-Produkten.<br />

Nr.13<br />

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Nr.13


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TORY BURCH<br />

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HEAVY BURLAP LONG DRESS<br />

1. FA1 HEAVY BURLAP (2X)<br />

LÄNGE: 4.4 YARDS<br />

BREITE: 55“<br />

2. FA2 ORGANZA (3X)<br />

LÄNGE: 1.05 YARDS<br />

BREITE: 51“<br />

3. FUSIBILE MBB40 (2X)<br />

LÄNGE: 1.1 YARDS<br />

BREITE: 57/58“<br />

4. LINING COTTON VOILE (2X)<br />

LÄNGE: 3.74 YARDS<br />

BREITE: 55“<br />

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4<br />

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PIN-UP<br />

Text: Sina Braetz<br />

Foto: Adam Fedderly<br />

ANDRÉ SARAIVA<br />

ANDRÉ SARAIVA SIEHT SELBST DANN NOCH SEXY AUS, WENN ER ALS HUND VERKLEIDET NACH WÜRSTCHEN<br />

LECHZT. SCHON AUF DEN GESCHMACK GEKOMMEN? FÜR UNS IST DER GRAFFITIKÜNSTLER, CLUBBESITZER<br />

UND CHEFREDAKTEUR DER L‘OFFICIEL HOMMES FRANKREICH NÄMLICH EINFACH UNWIDERSTEHLICH!<br />

Monsieur André? Das ist ein Mann, der vor Leidenschaft<br />

sprüht und einen riesigen Durst hat<br />

nach Leben, Spaß, Frauen und natürlich: Sex!<br />

André Saraiva verdreht Frauenköpfe mit einer<br />

Taktik, die er wahrscheinlich gar nicht mal beabsichtigt.<br />

Mit seinem Charme macht er einem<br />

erst Appetit, bis man dann einen richtigen Heißhunger<br />

bekommt. Auf mehr. Mehr von ihm, seiner<br />

Lässigkeit und von Fotos, auf denen er seine<br />

Klamotten fallen lässt – damit hat er nämlich<br />

kein Problem, erst recht nicht, wenn es sein bestes<br />

Stück zu sehen gibt. André ist ein Kumpeltyp<br />

und erfüllt davon – ganz hypothetisch natürlich<br />

-, ein perfekter Lover zu sein: keine Divaallüren,<br />

keine nervige Eitelkeit, kein Rumgezicke. Ein<br />

richtiger Mann eben. Spätestens seit man den<br />

nackten, sexy definierten Oberkörper des 40-Jährigen,<br />

fotografiert von Terry Richardson, auf<br />

dem Cover des „Purple Magazins“ gesehen hat,<br />

war klar: He´s got it! Ich erinnere mich an den<br />

Abend, an dem ich ihn das erste Mal in persona<br />

gesehen habe. Geschäftig lief er durch das Restaurant<br />

seines Pariser Hotels „Amour“. Es war<br />

Fashion Week, Full House. An fast jedem Tisch<br />

blieb der Halbschwede/Halbportuguiese stehen<br />

und begrüßte seine Leute. Die lieben ihn, egal ob<br />

Mann, Frau oder Kind. Es ist eben Master André.<br />

Seine Lederjacke und seine Jeans wirkten extrem<br />

heiß an ihm. Das eng sitzende Shirt ließ seinen<br />

muskulösen Körperbau erkennen. Selbst seine<br />

gegelte Mini-Rockabilly-Locke, die fast jeden<br />

anderen Kerl zu einem unattraktiven Macho machen<br />

würde, stand ihm genau wie sein Englisch<br />

mit französischem Akzent. Que beau grosse! In<br />

seinem Hotel, das ihm mit Thierry Costes gehört,<br />

spürt man den puren Sex gemischt mit einer<br />

Liebe zur Ästhetik. In den dunklen Fluren, die<br />

fast ein bisschen anrüchig wirken (aber stets mit<br />

Stil), sieht man den Mon sieur an einigen Wänden<br />

hängen, ziemlich gut getroffen und natürlich mit<br />

den schönsten Frauen. André lebt puren Sex und<br />

Spaß, lebt das Leben eines Jetsetter-Rockstars.<br />

Er ist Chefredakteur eines der besten Männermagazine,<br />

Hotel- und Clubbesitzer, Hero of the<br />

Night, kurz gesagt „Mr Allrounder“. Hinzu ist er<br />

der Mann hinter „Le Baron“, einem der angesagtesten<br />

Clubs in Paris. Affige VIP-Bereiche gibt es<br />

hier nicht – das wäre auch einfach nicht „André“,<br />

denn er ist bodenständig und hasst es, wenn<br />

Leute nach Geld und Ansehen urteilen. Mit dem<br />

Graffiti fing André an, als er als Kind von Schweden<br />

nach Paris zog. Anstelle von Liebesbriefen<br />

– denn mit denen hatte er es nicht so – schrieb<br />

er die Namen seiner Liebsten an die Wände –<br />

einfach zuckersüß, das Enfant Terrible! So wild<br />

der Künstler auch sein mag, in ihm schlummern<br />

romantische Vorstellungen von der einen, wahren<br />

Liebe. Für seinen Humor steht sein Mr A, mit<br />

dem er bekannt wurde, sein zwinkerndes, rosa<br />

Strichmännchen mit breitem Grinsen und coolem<br />

Zylinder. Das alles macht ihn nicht nur sexy, sondern<br />

auch noch extrem sympathisch!<br />

André Saraiva ( *1971, Uppsala, Schweden, aufgewachsen<br />

in Paris) wurde in den späten 90er-Jahren mit<br />

seinem Graffiti-Charakter „Mr. A“ bekannt. Saraiva ist<br />

Chefredakteur der französischen „L‘Officiel Hommes“<br />

und der Mastermind hinter dem Club „Le Baron“.<br />

65<br />

Nr. 13<br />

Nr.13<br />

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Nr.13


COVER<br />

Mantel Vintage Russel Bennett<br />

ALL<br />

AMERICAN<br />

INDIE<br />

GABY HOFFMANN HAT GENUG VOM PRÜDEN AMERIKA, EINEM MEGALOMANEN<br />

HOLLYWOOD UND DEN TOURISTEN, DIE IHRE HEIMATSTADT NEW YORK ÜBERRENNEN.<br />

AUFGEWACHSEN IM BERÜHMTEN „CHELSEA HOTEL“, IHRE MUTTER WAR ANDY WARHOLS<br />

SUPERSTAR VIVA, SIE SELBST EINER DER KINDERSTARS DER 90ER-JAHRE, WIRD SIE HEUTE<br />

ALS HOFFNUNG DES INDEPENDENT-FILMS GEFEIERT UND GEHT FÜR MEHR BÜRGERRECHTE<br />

PROTESTIEREN. EIN ECHTES FRÄULEIN EBEN.<br />

Interview Ruben Donsbach<br />

Fotos Tony Cox<br />

Styling Bernat Buscato<br />

Styling-Assistenz Anais Codina<br />

Cover: Jumpsuit Agnès B.<br />

Nr.13<br />

66<br />

Nr.13


COVER<br />

<strong>Fräulein</strong>: Hallo Miss <strong>Hoffmann</strong>,<br />

wie geht es Ihnen?<br />

<strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong>: Ehrlich gesagt bin ich<br />

gerade ziemlich krank. Ich habe mir einen<br />

schrecklichen Schnupfen während<br />

einer Demonstration durch den Bundesstaat<br />

New Hampshire zugezogen.<br />

Worum ging es da?<br />

In New Hampshire werden 2016 die<br />

ersten parteiinternen Vorwahlen abgehalten.<br />

Wir wollten Aufmerksamkeit<br />

für die Reform der Wahlkampf-Finanzierung<br />

schaffen. Nur 150.000<br />

Amerikaner, also 0,5 Prozent der Bevölkerung,<br />

finanzieren die Politik in<br />

unserem Land. Nur ihre Interessen<br />

spielen in Washington eine Rolle.<br />

Engagieren Sie sich regelmäßig politisch?<br />

Das kann man so nicht sagen. 1999<br />

begann ich mit dem College. Ein Jahr<br />

später wurde George W. Bush gewählt.<br />

Dann kamen die Anschläge auf das<br />

World Trade Center und der Krieg. All<br />

dieser Mist. Damals habe ich mich<br />

obsessiv mit dem politischen Leben<br />

beschäftigt. Seit zehn Jahren war das<br />

etwas eingeschlafen. Bis jetzt.<br />

Was hat 9/11 bei Ihnen ausgelöst?<br />

Es schien mir damals so, als zerbräche<br />

die Welt in tausend Teile. Das hat<br />

mir verdammt noch mal Angst eingejagt.<br />

9/11 war schon an sich tragisch<br />

und traumatisch. Dann wurde dieses<br />

Trauma von der Bush-Administration<br />

instrumentalisiert um den Krieg gegen<br />

Afghanistan, später den Irak zu rechtfertigen.<br />

Das öffnete mir die Augen für<br />

die Welt, ihre Konflikte und Spielregeln<br />

und die Rolle der Amerikaner darin.<br />

Sie sind in den 80er-Jahren in New<br />

York aufgewachsen. Wie hat sich<br />

Amerika, wie hat sich die Stadt seit<br />

Ihrer Kindheit verändert?<br />

Viele Ecken in Manhattan sind nicht<br />

wiederzuerkennen. Wir wohnten im<br />

„Chelsea Hotel“. Ich wuchs in West-Village<br />

und in der Lower East Side auf.<br />

Und was einst der Gay-Pornshop an<br />

der Ecke war, ist nun ein schicker<br />

Klamottenladen mit einem X-Millionen-Dollar-Apartment<br />

darüber. Ich<br />

will die Vergangenheit nicht romantisieren,<br />

das Verbrechen, die Probleme<br />

der 80er-Jahre, und ich liebe New York<br />

noch immer, aber es ist zu einer Stadt<br />

für Shopper und Immobilien-Mogule<br />

geworden.<br />

Wie war es im „Chelsea Hotel“ aufzuwachsen?<br />

Als Kind wollte ich eine Zeit lang lieber<br />

in den Vororten leben, in einem Haus<br />

mit weißen Gartenzäunen, weil ich<br />

dachte, das würde uns zu einer normalen<br />

Familie machen. Als wenn das<br />

den Charakter meiner Mutter geändert<br />

hätte! Es war in Wahrheit ein großes<br />

Glück, im „Chelsea Hotel“ aufzuwachsen.<br />

Ich rann barfuß durch die zehn<br />

Stockwerke, verschwand für Stunden<br />

in Apartments von Freunden, ob es<br />

nun ein Kind meines Alters war, das<br />

mir beibrachte Dope zu rauchen, oder<br />

eine 45-jährige Sängerin, die an ihrem<br />

neuen Album arbeitete.<br />

Sie haben dann als sehr junges<br />

Mädchen begonnen Filme wie<br />

„Schlaflos in Seattle“ mit Tom<br />

Hanks zu drehen.<br />

Das stimmt. Ich liebte es, am Set zu<br />

sein. Aber ich liebte es wegen der<br />

Menschen, liebte es, mit Erwachsenen<br />

zusammen zu sein und für jeweils drei<br />

Monate in einer transformierten Welt<br />

zu leben. Mehr war das nicht.<br />

In Ihrem aktuellen Film „Crystal<br />

Fairy“ spielen Sie eine sich in Chile<br />

herumtreibende Amerikanerin, die<br />

auf der Flucht vor ihrem eigenen<br />

Leben ist. Wie bereiten Sie sich auf<br />

so eine Rolle vor?<br />

Ich denke vorher viel über die Psychologie<br />

einer Figur nach, so wie ich selbst<br />

viel über meine eigene Psychologie und<br />

Psyche nachdenke. Spielen tue ich aber<br />

aus dem Instinkt heraus. Wenn jemand<br />

am Ende einer Szene „Cut“ sagt und ich<br />

das Gefühl habe, ich erwache aus einem<br />

Blackout, dann war das meistens gut.<br />

Der Film scheint eine Antithese<br />

zum digitalen Lebensstil zu sein,<br />

wie ihn zumindest die kalifornische<br />

Tech-Elite zelebriert.<br />

Da ist was dran. Ich versuche selbst so<br />

„disconnected“ wie möglich zu leben.<br />

Es gibt eine Verbindung von zwischenmenschlichen<br />

Kontakten, Empathie,<br />

Zuneigung und Technologie, die ziemlich<br />

kompliziert ist. Offensichtlich haben<br />

das Internet und unsere technischen<br />

Fortschritte viel Gutes bewirkt. Auf der<br />

anderen Seite gibt es dadurch aber immer<br />

mehr Trennendes, Desintegrierendes,<br />

darüber mache ich mir Sorgen. Ich<br />

versuche mich aus dieser ganzen Social-Media-Geschichte<br />

rauszuhalten und<br />

die Dinge so einfach und old school wie<br />

möglich zu halten. Menschliche Interaktion,<br />

in all ihrer Komplexität und Merkwürdigkeit,<br />

Nuanciertheit und Problematik<br />

ist schwer zu finden in einer SMS.<br />

Sie sind im Film mehrfach nackt zu<br />

sehen und dabei im Intimbereich<br />

nicht rasiert. Das hat in den USA zu<br />

einer kuriosen Debatte geführt.<br />

Das ist eines dieser amerikanischen<br />

Themen, über die man sprechen muss,<br />

weil es die Leute umtreibt. Ich wünschte<br />

„ICH VERSUCHE<br />

SELBST SO<br />

,DISCONNECTED‘<br />

WIE MÖGLICH ZU<br />

LEBEN“<br />

mir einfach, es wäre nicht so ein fucking<br />

Deal. Ich bin damit aufgewachsen, weder<br />

meine Achseln zu rasieren noch<br />

meine Pussy zu waxen. In Chile sagte<br />

der Regisseur Sebastián Silver zu mir:<br />

„Wie wäre es, wenn du high bist und alle<br />

Sachen ausziehst?“ Ich sagte: „Klingt super.“<br />

Wir wollten damit kein politisches<br />

Statement abgeben! Ich war grade in<br />

ein paar Folgen von dieser HBO-Serie<br />

„Girls“ nackt von der Hüfte abwärts zu<br />

sehen und jetzt geht die Debatte in die<br />

nächste Runde. Das alles unterstreicht<br />

Amerikas puritanisches Verhältnis<br />

zum eigenen Körper und zum Sex. Das<br />

interessiert mich aber nicht. Was als<br />

schön und ästhetisch empfunden wird,<br />

scheint sich eh alle zehn Jahre zu ändern.<br />

Irgendwann werde ich mit meinem<br />

Busch also wieder angesagt sein.<br />

Wie geht es Ihnen wirklich damit?<br />

Das stößt mich alles richtig ab und<br />

ist die totale Entstellung vermeintlich<br />

christlicher Werte. Wir sagen: Krieg,<br />

ja! Sex, nein! Gewalt, na klar! Nacktheit,<br />

eine Sünde! Das ist alles fucking<br />

durcheinander! Ich hoffe so sehr, dass<br />

wir wieder anfangen, die Schönheit<br />

und Bedeutung des Natürlichen, des<br />

Schönen und des Sex zu zelebrieren.<br />

In „Cristal Fairy“ hat Ihr Charakter<br />

den Hintergrund, eine Domina<br />

gewesen zu sein. Interessiert Sie<br />

diese Form der Sexualität?<br />

Nein, S&M, schwarzes Leder, Ketten,<br />

das alles hat mich nie sonderlich interessiert.<br />

Also ein wenig Aggression, na<br />

klar. Aber ansonsten ... vielleicht verpasse<br />

ich da ja was?<br />

Vor Kurzem haben Sie in einem Interview<br />

gesagt, dass Sie froh sind,<br />

dass das Hollywood-System zu einem<br />

Ende kommt und es einfacher<br />

wird, Filme zu drehen. Klingt nach<br />

„do it yourself“ und einer neuen<br />

Form der Selbstermächtigung.<br />

Es gibt immer mehr erfolgreiche<br />

DIY-Filmemacher. Das geht sicher mit<br />

einer Demokratisierung des Filmemachens<br />

einher ... Entschuldigung, ich bin<br />

auf so viel Erkältungsmedizin, dass ich<br />

kaum grade denken kann ... also, es ist<br />

zwar einfacher geworden, einen Film<br />

zu drehen, nicht aber als Filmemacher<br />

ein Auskommen zu finden. Währenddessen<br />

hat Hollywood völlig den<br />

Verstand verloren, was Inhalte und<br />

die Größe der Produktionen angeht.<br />

Während die gesellschaftliche und<br />

ökonomische Mittelschicht in Amerika<br />

wegbricht, gibt es auch im Film keinen<br />

wirklichen Mittelbau mehr. Das war in<br />

den 90er-Jahren noch gänzlich anders<br />

und ist ein Riesenproblem. Die Welt<br />

wird offener, aber dabei extremer. Ich<br />

setzte auf das Comeback der Mittelschicht.<br />

Als das New Hollywood dem Studiosystem<br />

den Rest gab, stand dies<br />

in Verbindung mit großen gesellschaftlichen<br />

Umbrüchen. Könnte<br />

das heute wieder so sein?<br />

Keine Ahnung. Vielleicht bin ich grade<br />

auch viel zu high auf diesen Medikamenten,<br />

aber manchmal habe ich einfach<br />

die Hoffnung, dass dieses ganze<br />

Chaos, alles, was wir versaut haben in<br />

Amerika, dass das irgendwann besser<br />

werden wird.<br />

Outfit Costume National<br />

Nr.13<br />

Nr.13


COVER<br />

Outfit Costume National<br />

Nr.13<br />

Nr.13


COVER<br />

Outfit Costume National<br />

Outfit Costume National<br />

Nr.13<br />

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Nr.13


Mantel Vintage Russel Bennett<br />

Nr.13<br />

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Nr.13


COVER<br />

Top Vintage Helmut Lang<br />

Es gibt derzeit nichts, was Ihnen<br />

an Amerika gefällt?<br />

Doch ... als ich nach New Hampshire<br />

fuhr um diesen Marsch durch den<br />

Bundesstaat mitzumachen um das<br />

Land wieder für uns Bürger zurückzufordern,<br />

da hörte ich ein Interview<br />

mit der russischen Journalistin Masha<br />

Gessen, die grade ein Buch über Pussy<br />

Riot geschrieben hat.<br />

Das Interview auf dem liberalen<br />

Sender NPR?<br />

Ja, genau. Sie sprach über die politische<br />

Situation in Russland. Da wurde mir<br />

noch mal klar, wie ambivalent mein<br />

Verhältnis zu meinem Land ist. Nur<br />

knapp 50 Jahre nach der Bürgerrechtsbewegung<br />

haben wir einen schwarzen,<br />

wiedergewählten Präsidenten. Auch<br />

wenn sie immer wieder verwässert<br />

und vergessen wird, die Vision, auf der<br />

Amerika gegründet worden ist, die Vision,<br />

dass jeder Mensch gleich sei und<br />

sagen könne, was er wolle, sie ist trotz<br />

allem noch immer greifbar. Dafür bin<br />

ich dankbar.<br />

Masha Gessen erzählt in dem Interview<br />

auf NPR davon, dass man<br />

ihr als lesbischer Frau und kritischer<br />

Journalistin in Russland<br />

gedroht hat zumindest eines ihrer<br />

Kinder wegzunehmen.<br />

Ja, das ist wirklich gruselig.<br />

Es mag abwegig sein, aber wurde<br />

Ihrer Mutter wegen ihrer unkonventionellen<br />

Lebensweise jemals<br />

Ähnliches in den USA angedroht?<br />

Oh, nein! Was denken Sie. Klar war bei<br />

uns alles etwas anders und wir gingen<br />

sonntags nicht in die Kirche. Aber natürlich<br />

besuchte ich die Schule, wurde<br />

vernünftig ernährt und betreut.<br />

Verstehen Sie mich nicht falsch, es<br />

geht mir eher um den gesellschaftlichen<br />

Konsens: In den 80er-Jahren<br />

war es zumindest in Deutschland<br />

völlig normal, dass Kinder<br />

auch noch spät mit ihren Eltern<br />

zu irgendwelchen Veranstaltungen<br />

gingen und dann einfach unter<br />

dem Tisch einschliefen. Heute<br />

wäre das undenkbar und würde<br />

sanktioniert. Da gab es einen Paradigmenwechsel.<br />

Okay, das stimmt allerdings und darüber<br />

spreche ich oft mit meinen Freunden.<br />

Es ist ja schön, dass Eltern heute<br />

so obsessiv mit ihren Kindern beschäftigt<br />

sind, aber das wird zunehmend<br />

extrem. In meinem Umfeld kommen<br />

Kinder mit zur Galerieeröffnung und<br />

sind trotzdem rechtzeitig im Bett. Wir<br />

sollten alle etwas relaxen. Auch wenn<br />

es in Anbetracht all dieses ökonomischen<br />

Stresses immer schwerer wird,<br />

Kindern ein gutes Zuhause zu bereiten,<br />

bin bin meiner Mutter einfach für ihre<br />

anti-autoritäre Erziehung dankbar.<br />

Gibt es auch etwas, auf das Sie sich<br />

dieses Jahr freuen?<br />

Ich und mein Freund haben ein kleines<br />

Bauprojekt am laufen. Wir haben einen<br />

alten Anhänger nördlich von New<br />

York in den Wäldern und bauen davor<br />

seit einiger Zeit eine Art Wintergarten.<br />

Dieses Frühjahr wollen wir damit fertig<br />

werden. Darauf freue ich mich sehr. Es<br />

gibt dann diesen völlig transparenten<br />

Raum in den Wäldern, in dem wir viele<br />

Freunde und Familienmitglieder willkommen<br />

heißen und selbst eine Familie<br />

gründen wollen.<br />

In den Wäldern geschehen manchmal<br />

merkwürdige Dinge. Was war<br />

Ihr skurrilstes Erlebnis?<br />

Ich habe mich sehr an das Heulen der<br />

Kojoten gewöhnt, an die Coydogs ...<br />

Aber eine Nacht tanzten mein Freund<br />

und ich im Wohnzimmer dieses kleinen<br />

Trailers. Es war Vollmond und<br />

es lief Otis Redding. Wir tanzten sehr<br />

eng umschlungen und alles war sehr<br />

romantisch, was uns selten unterläuft<br />

(lacht). Nein, das stimmt nicht ... Also<br />

wir tanzten, die Lichter waren aus und<br />

plötzlich zeigt mein Freund nach draußen<br />

auf die Veranda ... und das klingt<br />

jetzt nach einem Scherz, aber es ist<br />

wahr ... da standen zwei Waschbären<br />

auf den Hinterbeinen, sie tanzten ebenso<br />

eng umschlungen wie wir. Ich liebe<br />

Waschbären. Sie hinterlassen zwar<br />

eine Riesensauerei, aber sie sehen dabei<br />

verdammt gut aus!<br />

<strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong> war durch Filme wie<br />

„Feld der Träume“ mit Kevin Costner und<br />

„Schlaflos in Seattle“ neben Macaulay<br />

Culkin einer der großen Kinderstars der<br />

frühen 90er-Jahre. Ihr letzter Kinofilm<br />

„Cristal Fairy“ wurde auf dem Sundance<br />

Festival gefeiert. Aktuell ist sie in Transparent,<br />

einer Amazon Original Series online<br />

zu sehen.<br />

Outfit Costume National<br />

Nr.13<br />

77<br />

Nr.13


Fotos Stefan Armbruster<br />

Haare & Make-up Patrick Glatthaar<br />

Styling Götz Offergeld & Maximilian Märzinger<br />

Model Ares / wienermodels.com<br />

Top Vintage<br />

Jeans Diesel<br />

Schuhe Dr. Martens<br />

Hemd PRPS Good & Co.<br />

Shorts Diesel<br />

Nr.13<br />

Nr.13


Jeans Cinque<br />

Top Vintage<br />

Jeans Diesel<br />

Schuhe Converse<br />

Nr.13<br />

Nr.13


Hemd Fred Perry<br />

Shorts Levi‘s Made & Crafted<br />

Schuhe Gucci<br />

Jeansweste G-Star<br />

Nr.13<br />

83<br />

Nr.13


SHADOW<br />

PLAY<br />

Anzug Lanvin<br />

Top Pirmin Blum<br />

Schuhe Musette<br />

Ohrringe Stine Goya<br />

Fotos Irina Gavrich<br />

Assistenz Patrick Melech<br />

Styling Maximilian Märzinger<br />

Haare & Make-up Patrick Glatthaar using Chanel und bumble&bumble<br />

Model Helena Severin / wienermodels.com<br />

Special thanks to Pirmin Blum Artspace<br />

Nr.13<br />

Nr.13


Blazer M Missoni<br />

Ohrringe Anton Heunis<br />

Anzug Petar Petrov<br />

Ohrringe Gemma Redux<br />

Schuhe Madeleine<br />

Nr.13<br />

86<br />

Nr.13


Anzug Petar Petrov<br />

Schuhe Madeleine


Anzug Wendy & Jim<br />

Sandalen Marni<br />

Sonnenbrille Robert La Roche Vintage<br />

Blazer Theory<br />

Ohrringe Cadenzza by Gemma Redux<br />

Nr.13<br />

91<br />

Nr.13


Top Bottega Veneta<br />

Hose Prada<br />

Gürtel Prada<br />

Schuhe Versace<br />

Fotos Stacey Mark<br />

Assistenz Colin Michael Simmons<br />

Styling Bernat Buscato<br />

Styling-Assistenz Anais Codina & Antwyone Ingram<br />

Haare Thanos Samaras / L‘Atelier<br />

Make-up Robert Greene / See Management<br />

Model Britany Nola / APM<br />

Nr.13<br />

92 92 93 93 Nr.13


Bluse Bottega Veneta<br />

Rock Tory Burch<br />

Schuhe Bottega Veneta<br />

BH Chantelle<br />

Mantel Burberry Prorsum<br />

Höschen Donna Karan<br />

Strumpfhose Wolford<br />

BH La Perla<br />

Schuhe Bottega Veneta<br />

Nr.13<br />

94<br />

Nr.13


Outfit Prada<br />

BH Chantelle<br />

Outfit Miu Miu<br />

Nr.13<br />

97<br />

Nr.13


DER KÖRPER<br />

Interview: Ruben Donsbach<br />

Foto: Mirjam Wählen<br />

trotz schiller,<br />

trotz heine,<br />

trotz humboldt<br />

SHERMIN LANGHOFF IST EINE DER MEISTDISKUTIERTEN THEATERMACHERINNEN<br />

DER REPUBLIK. IN DEM VON IHR CO-GELEITETEN GORKI-THEATER BRINGT SIE DIE<br />

LEBENSWIRKLICHKEITEN DER EINWANDERUNGSGESELLSCHAFT AUF DIE BÜHNE. EIN<br />

GESPRÄCH ÜBER MODERNES THEATER UND DEN KÖRPER ALS WAFFE.<br />

<strong>Fräulein</strong>: Frau Langhoff, bei den<br />

antiken Griechen wurde Fremdheit<br />

als zunehmende Distanz zum<br />

Zentrum Athen verstanden. Je<br />

fremder, desto fantastischer und<br />

monströser stellte man sich die<br />

Körper vor. Ist das heute in gewisser<br />

Weise noch immer so?<br />

Shermin Langhoff: Das ist jetzt eine<br />

hochphilosophische und dabei mehrschichtige<br />

Frage. Aber natürlich gibt es<br />

im zeitgenössischen Rassismus einen<br />

sehr archaischen Umgang mit Körper<br />

und Physiognomie. Der „Andere“ wird<br />

ausgehend von Haar-, Augen- und<br />

Hautfarbe markiert. Da mag jemand<br />

seit fünf Generationen als schwarzer<br />

Deutscher leben und ...<br />

... Bayerisch sprechen ...<br />

... und Bayrisch sprechen, ja! Es gibt<br />

eine Szene in unserer Produktion<br />

„Übergangsgesellschaft“. Der wunderbare<br />

Schauspieler Falilou Seck kommt<br />

nach vorne an den Bühnenrand und<br />

sagt: „Deutsch? Du willst wissen, was<br />

Deutsch ist? Ich zeig dir, was Deutsch<br />

ist!“ Er zieht sich das Hemd vom Leib,<br />

zeigt auf seinen Körper, seinen schwarzen,<br />

und sagt: „Das ist Deutsch!“<br />

Warum haben wir hierzulande<br />

noch immer so einen eingeschränkten<br />

Identitätsbegriff ?<br />

Erst mal ist die Identifizierung des eigenen<br />

Ich eine geringe intellektuelle<br />

Herausforderung: Ich werde ein „Ich“<br />

und behaupte es. So weit so gut. Nun<br />

aber gibt es parallel Millionen von<br />

Ich-Perspektiven, die sich auf ein und<br />

dieselbe Welt beziehen. Mit diesem<br />

„Schmerz“, dass eben nicht alle so sind<br />

wie ich, muss ich umgehen lernen.<br />

Denn wir sind alle Individuen und weder<br />

körperlich, politisch, philosophisch<br />

noch moralisch gleich. Aber jedes kluge<br />

Individuum weiß, dass man nur mit<br />

anderen etwas verändern kann.<br />

Was kann das Theater hier für einen<br />

Beitrag leisten?<br />

Als Künstlerin und Intellektuelle muss<br />

man, um mit Ai Weiwei zu sprechen,<br />

nicht auf den Tiananmen Platz gehen,<br />

um politisch zu sein. Zunächst hat man<br />

die soziale Verantwortung, die eigene<br />

Position, den eigenen Ausdruck zu entwickeln.<br />

Das ist nicht selbstverständlich.<br />

Gerade im Kulturbetrieb leben<br />

wir relativ bequem, gesponsert und in<br />

Anführungszeichen gekauft. Statt in alten<br />

Mustern zu verharren, müssen wir<br />

anerkennen, dass wir geprägt sind von<br />

Gleichzeitigkeiten und Komplexitäten.<br />

Diese Komplexität der Lebenswirklichkeiten<br />

wird zunehmend<br />

als Überlastung wahrgenommen.<br />

Sicher. Aber nicht immer zu Recht. Ich<br />

nehme jetzt mal Ihr Bild vom Anfang<br />

auf: Je weiter wir von Athen wegkommen,<br />

desto eher wird uns ein Bild<br />

vermittelt, dass alles so fürchterlich<br />

komplex wäre, dass da eh keiner mehr<br />

durchblicken kann – „da“ bei den Arabern<br />

oder Jugoslawen. Das ist natürlich<br />

Quatsch. In allen Konflikten mag es<br />

individual-psychologische Vorurteile<br />

und „Ängste vor dem Fremden“ geben.<br />

Doch die eigentliche Frage ist ja, was<br />

dem zugrunde liegt. Denn oft liegen<br />

diesen Konflikten knallharte ökonomische<br />

Interessen zugrunde, die aber<br />

verschleiert werden. In unserer Gesellschaft<br />

gilt die Prämisse des Kapitals:<br />

Wer ist nützlich? Wir definieren uns<br />

weniger über Werte als über Verwertungsmöglichkeiten.<br />

Ist der Körper in diesem Sinne nur<br />

noch eine Form von Rohstoff oder<br />

Kapital?<br />

Vielleicht. Aber Körper und Sprache<br />

können tatsächlich auch Waffen sein.<br />

Am Gorki-Theater versuchen wir Erwartungen,<br />

die an den Körper gestellt<br />

werden, zu unterlaufen. Auch kulturell.<br />

In „Verrücktes Blut“ stehen am Anfang<br />

zehn junge Männer und zwei Frauen<br />

auf der Bühne und produzieren, was<br />

man so von „dem“ Migrantenkind<br />

erwartet. Am Ende aber entwickelt<br />

sich ihre Lehrerin, mit der Fahne der<br />

Aufklärung und Schiller in der Hand,<br />

körperlich wie sprachlich zur Leitkulturchauvinistin.<br />

Sie selbst wird zur<br />

größten Gegnerin der Aufklärung, weil<br />

sie mit der Waffe in der Hand Schönheit<br />

erzwingen will. Und zwar Schönheit<br />

im Sinne der von ihr selbst aufgestellten<br />

Kategorien. Das Wahre und<br />

das Schöne und das Gute liegt aber in<br />

der Komplexität begraben und wird<br />

oftmals nur als Assimilationsstrategie<br />

missbraucht. Aber diese Kategorien<br />

ändern sich. Und für die Änderbaren<br />

machen wir Theater.<br />

Auf dem Majdan und auf dem Taksim<br />

haben Menschen ihren Körper<br />

eingesetzt, um sich politisch und<br />

auch künstlerisch zu äußern. Wie<br />

nahe, wie fern ist ein solcher Protest<br />

noch von der Bühne, dem politischen<br />

Theater?<br />

Erst mal befinden Sie sich auf der Bühne<br />

in einem geschützten Raum. Es gibt<br />

nicht dieses Risiko, welches die Versehrung<br />

des Leibes einschließt.<br />

Gibt es auch Parallelen?<br />

Die gibt es, denn in beiden Fällen gibt<br />

es eine öffentliche Äußerung. Manche<br />

unserer Performances würden auf<br />

dem Tahrir, dem Majdan oder Taksim<br />

vollzogen zu politischen Akten und<br />

gegebenenfalls verfolgt werden. Es ist<br />

aber ein Unterschied, ob Pussy Riot in<br />

einer Kirche einen Protest zelebriert,<br />

mit Musik und mit dem Körper als<br />

Waffe, oder ob sie auf einem Event von<br />

Amnesty International in London open<br />

air auftreten, vor bezahlenden, spendenden<br />

Menschen.<br />

Inwiefern kann und soll Kultur<br />

überhaupt aufklären?<br />

Hierzulande gibt es dafür ja ein prägendes<br />

Beispiel. Nach der monokulturellen<br />

Zuspitzung in Deutschland ...<br />

... während des Dritten Reichs ...<br />

... ist die Freiheit der Kunst und des<br />

Ausdrucks und damit fest verbunden<br />

die Förderung der Kunst zum konstituierenden<br />

Prinzip unserer Demokratie<br />

geworden. Man begriff, dass man<br />

besser auf die Künstler und die Kritik<br />

hören sollte. Im Kern hat das Heinrich<br />

Heine schon 1822 gewusst und geschrieben:<br />

„Wo man Bücher verbrennt,<br />

verbrennt man auch bald Menschen.“<br />

Und zwar trotz Heine, trotz Schiller,<br />

trotz Goethe, trotz Herder, trotz Lessing,<br />

trotz Humboldt.<br />

In der Vorbereitung auf dieses Interview<br />

ist mir aufgefallen, dass die<br />

Kultur, mit der ich mich persönlich<br />

umgebe, trotz vieler Freunde mit<br />

Migrationshintergrund, trotz Neugier<br />

und vermeintlicher Offenheit,<br />

„IM WESTEN<br />

LEBEN WIR<br />

OFTMALS BEQUEM,<br />

GESPONSERT UND<br />

GEKAUFT”<br />

recht gradlinig, westlich und weiß<br />

geprägt ist.<br />

Genau Ihre Wahrnehmung teile ich<br />

auch, dass man auf der einen Seite grade<br />

in seinen Alltagsrealitäten in einer<br />

großen Diversität lebt, dann aber die<br />

Szenen, in denen man sich bewegt,<br />

oft homogener sind, als man sich das<br />

zugestehen will. Ich glaube tatsächlich,<br />

dass diesen Heterogenität der Gesellschaft<br />

in den Medien noch zu wenig<br />

auftaucht, zu wenig selbstverständlich<br />

ist. Am Gorki versuchen wir für die im<br />

Werden befindliche Stadtgesellschaft<br />

heutige Bilder und Geschichten zu erzählen<br />

und die Stadtbewohner dazu<br />

einzuladen. Das hilft übrigens, aus<br />

diesem banalen Integrationsdiskursen<br />

herauszukommen und den Blick auf<br />

Deutschland, auf Berlin, zu schärfen.<br />

Wir wollen ein wirkliches Stadttheater<br />

sein.<br />

Am Ende aber sollen die vermeintlichen<br />

Unterschiede hinter einer<br />

neuen Stadtkultur verschwinden?<br />

Selbstverständlich nicht, aber es geht<br />

eben auch um die Gemeinsamkeit.<br />

Hier ist der Weg das Ziel. Jeden Tag<br />

verändern sich Möglichkeiten, Normen,<br />

Ökonomien, und die Verhandlung<br />

dessen muss ja irgendwo stattfinden.<br />

Wir haben nicht mehr die eine Agora,<br />

um noch mal bei den Griechen zu landen.<br />

Aber das Theater kann EIN Ort<br />

der öffentlichen Debatte sein. Diesen<br />

Anspruch haben wir, unseren Raum zu<br />

öffnen als Performanz-, aber auch als<br />

Denk- und Diskussionsraum. Und hier<br />

kann man die individuelle Verantwortung,<br />

die Ai Weiwei beschreibt, teilen.<br />

Damit stehen Sie am Gorki in einer<br />

langen Tradition.<br />

Als sich das Haus als Sing-Akademie<br />

im 19. Jahrhundert konstituierte, befand<br />

man sich am Übergang von einer<br />

rein feudalen hin zu einer bürgerlichen<br />

Kunst und Gesellschaft. Als dann in der<br />

DDR das Gorki von einer Singakademie<br />

zum Sprechtheater umgewidmet<br />

worden ist, da spielte der Gedanke der<br />

Übergangsgesellschaft hin zur Utopie,<br />

vom Sozialismus zum Kommunismus,<br />

eine wichtige Rolle. Der neue Mensch,<br />

der Arbeiter oder Proletarier, er sollte<br />

hier durch Autoren wie Heiner Müller<br />

und Volker Braun neue Geschichten,<br />

seine Geschichte erzählt bekommen.<br />

Das Ganze stellt sich natürlich viel<br />

komplexer dar. Aber an diesem Haus<br />

und in der Tradition solcher Ideen zu<br />

arbeiten, das ist mir immer eine große<br />

Ehre gewesen.<br />

Shermin Langhoff (1969* Bursa, Türkei) ist<br />

mit neun Jahren nach Deutschland gekommen.<br />

Sie war Kuratorin am Hebbel am Ufer<br />

Theater Berlin und bearbeitete dort das<br />

Projekt „X-Wohnungen“. Von 2008-2013 war<br />

Langhoff Künstlerische Leiterin des Ballhaus<br />

Naunynstraße, seit der Spielzeit 2013/14 teilt<br />

sie sich mit Jens Hillje die Intendanz des<br />

Gorki Theaters in Berlin.<br />

Nr.13<br />

98 99<br />

Nr.13


REPORTAGE<br />

Text: Maja Hoock<br />

Fotos: Johi von Bruises<br />

DARKTECH IST DER<br />

BÖSE BRUDER DES<br />

TECHNO. JENSEITS DES<br />

BALLERMANN-FLAIRS DER<br />

GROSSRAUMDISCOS,<br />

OHNE FESTE<br />

ROLLENZUSCHREIBUNG UND<br />

DEFINIERTE SEXUALITÄT,<br />

ERINNERT DIE SZENE AN<br />

DIE ANFÄNGE DES RAVE. SO<br />

WANDERT DER CLUB VON<br />

DER KIRCHE RUNTER IN DIE<br />

KRYPTA UND WIRD ZUM<br />

KRAFTWERK DER GEFÜHLE<br />

DER GENERATION Y.<br />

Es gibt eine Szene, die riecht nach<br />

Schweiß, schmeckt nach Club-Mate<br />

mit MDMA. und fühlt sich nach Muskelkater<br />

vom Tanzen an. Entsprechend<br />

athletisch sehen die Körper aus. Es ist<br />

eine Nachtclub-Kultur, in der es egal ist,<br />

ob man eine Frau, ein Mann oder etwas<br />

dazwischen ist. Jeder kann lieben, wen<br />

er will, und sein, wer er will. Es ist dort<br />

ohnehin so dunkel und verraucht, dass<br />

es keine Rolle mehr spielt und nach drei<br />

Tagen im Club sieht jedes Make-up aus<br />

wie das einer Drag-Queen. Das erinnert<br />

an die 1990er-Jahre, als die ersten<br />

Raves in Londoner Abrisshäusern eine<br />

Szene mit eigenen Stars wie Leigh Bowery<br />

hervorbrachten. Der präsentierte<br />

im Club „Taboo“ seine Outfits, die Ganzkörper-Kunstwerke<br />

waren, und zeigte<br />

damit, dass die Club-Kultur mehr als nur<br />

Party bedeutete: die Party des Lebens.<br />

Damals kam die Utopie der „Raving<br />

Society“ auf, einer Gesellschaft, in der<br />

freie Liebe und das Recht auf Verrücktheit<br />

massenkompatibel sind. Daraus<br />

ist offensichtlich nichts geworden und<br />

Mainstream-Techno erinnert heute eher<br />

an Ballermann auf Speed. Darum ist<br />

die Darktech-Szene als Techno-Underground,<br />

trotz ihrer teils populären Clubs<br />

wie dem „Berghain“, wieder als Subkultur<br />

zu verstehen. Sie fühlt sich eher von<br />

der „Fuck Parade“ als von der „Love Parade“<br />

angezogen, und das sagt viel: Erstere<br />

ist die anti-kommerzielle, von der Musik<br />

her wesentlich härtere und hedonistisch<br />

geprägte Gegenveranstaltung zum Massenphänomen.<br />

Dieses Prinzip lässt sich<br />

auf alle Clubs übertragen, in denen sich<br />

diese Leute treffen, ob nun „Berghain“,<br />

„Gegen Berlin“ / „KitKat“, „Loophole“,<br />

ihre teils namenlosen Äquivalente in<br />

Nr.13<br />

100 101<br />

Nr.13


REPORTAGE<br />

„ICH SPARE<br />

15.000 EURO<br />

FÜR MEINE<br />

BEERDIGUNG UND<br />

LEGE SCHON DIE<br />

PLAYLIST FEST“<br />

London und New York, sowie auf ihre<br />

illegalen Abrisshäuser-Partys. Natürlich<br />

geht es dort in erster Linie um das Feiern.<br />

Aber eben nicht nur. Darktech hat mehr<br />

mit den ausschweifenden Orgien der<br />

20er-Jahre-Bohème als mit Techno-Kids<br />

in Massendiscos gemein. Es geht um alternative<br />

Lebensstile. Doch im Gegensatz<br />

zu den 20ern ist das ausschweifende Leben<br />

in den Großstädten kein wirkliches<br />

Tabu mehr und muss ständig extremer<br />

werden, um eine Steigerung zu erfahren:<br />

Feiern dauern drei Tage am Stück, Sex<br />

gibt es auf der Tanzfläche und die Musik<br />

schaltet in ihrer Massivität den Verstand<br />

völlig aus. Der Soundtrack kommt<br />

von amGod, Tri-State, Empty Set, Voilet<br />

Shaped oder IVVVO und klingt wie ein<br />

rhythmischer mütterlicher Herzschlag,<br />

den man aus dem Bauch heraus wahrnimmt,<br />

also laut und all-einnehmend.<br />

Dabei hat die Musik etwas Zerstörerisches<br />

an sich: Stör-Töne und Bässe wie<br />

dreckige Tsunamis, die einen überrollen<br />

und die Kleidung am Körper vibrieren<br />

lassen. Mit dieser Musik sind Leute erwachsen<br />

geworden, die als Teenager<br />

Punk und Gothic mochten, denn sie<br />

klingt ähnlich hart und düster, ist aber<br />

nicht auf bestimmte Einstellungen festgelegt.<br />

Das ist die Disco der Generation Y, also<br />

ein „Taboo“-Publikum 2.0. Auch im Londoner<br />

„Taboo“ traf sich die Queer-Szene.<br />

Und auch heute hat die Szene ihre Stars;<br />

vielleicht nicht so expressiv wie einst<br />

Leigh Bowery, doch zumindest haben sie<br />

sich durch ihr regelmäßiges Auftreten<br />

einen Namen gemacht. Dazu zählt Johi<br />

von Bruises, die mit 18 Jahren aus der<br />

Punk-Welt zum Darktech gekommen ist,<br />

seitdem „permanent Party“ macht und<br />

ihr Club-Leben mit einer analogen Kamera<br />

festhält. Die Bilder der 22-Jährigen<br />

erinnern an Nan Goldin, doch statt New<br />

York um 1980 zeigen sie das Berlin der<br />

Jetzt-Zeit. Johi ist halb Britin und reist<br />

viel, doch sie weiß, dass das Zentrum des<br />

Darktechs momentan dort liegt: „Ich bin<br />

so froh, dass ich in Berlin wohne, weil<br />

hier gerade alles Wichtige passiert.“ An<br />

anderen Orten wird ihr langweilig, denn<br />

sie braucht die Aufmerksamkeit als Szene-Ikone.<br />

„Ein absolutes Main stream-<br />

Leben zu führen, wäre für mich Selbstmord“,<br />

sagt sie. Für das nötige Aufsehen<br />

sorgt sie durch ihre Stylings. Sie führt<br />

entweder ihr pompös gekleidetes Alter<br />

Ego „Stacey AB“ oder die trashigere „Johi<br />

von Bruises“ aus. „Wenn ich feiern gehe,<br />

dann exzessiv mit Full-Body-Outfit und<br />

immer anderen Persönlichkeiten: vom<br />

stillen Charakter bis zum Plappermaul,<br />

das alle beleidigt.“ Ihren Stil bezeichnet<br />

sie als „weibliche Transe“. Das bedeutet<br />

viel Schwarz, Leopardenmuster, Gold<br />

und High Heels. Außerdem liebt sie Tätowierungen<br />

und sticht sie sich teilweise<br />

selbst. Auf dem Oberschenkel trägt sie<br />

ein Portrait des Sängers Klaus Nomi; ein<br />

Zeichen ihrer Vorliebe für Extravaganz<br />

und das Spiel mit Geschlechterrollen.<br />

Der ästhetische Code der Darktech-Szene<br />

erinnert an eine New-Age Version<br />

des Goth-Punk und ist untrennbar mit<br />

der 90er-Jahre-liebenden Hipster-Kultur<br />

verbunden: Kleider und Röcke in<br />

Schwarz oder Weiß, bauchfreie<br />

Nr.13<br />

102 103<br />

Nr.13


REPORTAGE<br />

„EIN ABSOLUTES<br />

MAINTSTREAM-<br />

LEBEN WÄRE<br />

SELBSTMORD“<br />

Nr.13<br />

104 105<br />

Nr.13


REPORTAGE<br />

„IN DER DESTRUKTIVEN DARKTECH-<br />

ÄSTHETIK LIEGT IMMER AUCH<br />

EIN MOMENT DES KREIERENS.<br />

DIESES ZERSTÖRERISCHE MOMENT<br />

HAT EINE GROSSE KRAFT: MAN<br />

SCHALTET SICH AUF NULL UND<br />

DRÖHNT SICH SO MIT DROGEN<br />

ZU, DASS AUS DIESER LEERE<br />

NEUE LEBENSENERGIE GESCHÖPFT<br />

WIRD.“<br />

Tops und hüfthohe Shorts. Mit fließenden<br />

Stoffen und durchsichtigen Elementen<br />

geben sich die Frauen weibliche<br />

Silhouetten und kontrastieren sie mit<br />

hartem Leder oder Lack. Ketten, Bänder<br />

und Harnesse sind der Fetischszene<br />

entliehen, dazu kommen Statement-Schmuck,<br />

Perücken oder gefärbte<br />

Haare, strenge Pony-Frisuren und ein<br />

aussagekräftiger Lidstrich. Wer diesen<br />

Look trägt, will auch Teil der Szene sein.<br />

So auch Danai Moshona. Die 21-jährige<br />

Produktdesignerin ist als Tochter von<br />

Diplomaten um die Welt gereist und in<br />

Berlin gelandet. Durch ständige Umzüge<br />

musste sie sich immer wieder von<br />

Dingen trennen, die ihr wichtig waren.<br />

So erklärt sie sich ihren Hang dazu,<br />

durch das Aussehen in Erinnerung zu<br />

bleiben: „Schon in der Schulzeit bin ich<br />

mit Kopftuch und Hut darüber rumgelaufen.<br />

Irgendwann hatten wir einen Danai-Mottotag.<br />

Ich musste helle Jeans mit<br />

Blümchenhemd anziehen. Ich habe mich<br />

noch nie so unwohl gefühlt - als würde<br />

ich nackt über die Straße laufen und jeder<br />

kann in mich hineinblicken.“ Wenn<br />

sie heute ausgeht, bereitet sie sich mehrere<br />

Stunden darauf vor und kombiniert<br />

Elemente aus dem Punk mit klassischen<br />

Accessoires, also etwa eine Vintage-Lederjacke<br />

mit Kleid, Hut, Sonnenbrille und<br />

Ketten. Ihre schwarz-gefärbten Haare hat<br />

sie sich im Afro-Shop flechten lassen, die<br />

Haut ist weiß und die Lippen sind dunkelrot.<br />

So wurde sie zu einer zentralen<br />

Figur des Berliner Darktechs und macht<br />

in ihrer Freizeit seit drei Jahren über das<br />

Wochenende nichts anderes, als zu tanzen.<br />

Im Club findet sie Konstanten, da sie<br />

jeder kennt. „Hier kann ich mich spüren.<br />

Ich gehe elf bis zwölf Stunden ins Berghain<br />

und nur raus, um etwas zu essen.<br />

Alle Sorgen sind weg und ich komme in<br />

eine Trance.“<br />

Auch die 25-jährige Japanologie-Studentin<br />

Maike Schmidt bezeichnet die<br />

Szene als Ort, an dem die Leute ähnliche<br />

Dinge erwarten. Es verbindet sie eine<br />

Einstellung, die sie als „für den Moment<br />

sorgenfrei“ beschreibt. „Es geht vor allem<br />

um die Freiheit“, sagt sie. „Neulich<br />

hatte ich eine sehr schöne Erfahrung. Ich<br />

war vorher am Boden zerstört, dann bin<br />

ich alleine Tanzen gegangen und konnte<br />

nicht mehr aufhören. Morgens um elf<br />

Uhr bin ich aus dem Club gekommen<br />

und habe mich gut gefühlt. Das hatte eine<br />

reinigende Wirkung, eine Katharsis - als<br />

wäre alles gut.“ Die zierliche Frau mit den<br />

langen blonden Haaren zieht das Düstere<br />

und Tabuisierte an, das in der Szene offen<br />

ausgelebt wird. Die triebgesteuerte Seite<br />

der Psyche bekommt, was sie fordert:<br />

Rausch, kurzen Ruhm, Sex, Drogen und<br />

Musik, die den Kopf ausschaltet. „Das war<br />

am Anfang sogar ein bisschen Ehrfurcht<br />

einflößend. Nach und nach kann man<br />

diese Abgründe erkunden und etwas für<br />

sich selbst mitnehmen. Ich bin dann froh,<br />

dass ich genau zu dieser Zeit und an diesem<br />

Ort lebe.“ Auch die neunzehnjährige<br />

Lara Wehrs ist eine Art Szene-Institution<br />

und experimentiert mit dem Verbotenen:<br />

„Ich finde es interessant, dass in der destruktiven<br />

Ästhetik immer auch ein Moment<br />

des Kreierens liegt; dass also dieser<br />

zerstörerische Moment eine Kraft hat,<br />

die in der Szene gefeiert wird. Man schaltet<br />

auf null und versucht sich auch mit<br />

Drogen so zuzudröhnen, dass aus dieser<br />

Leere wieder Lebensenergie geschöpft<br />

wird.“ Ketamin hat teilweise das Ecstasy<br />

der Raver abgelöst, aber auch MDMA<br />

oder Speed werden verwendet: „Es ist<br />

fast wie ein telepathischer Moment in<br />

der Masse, wenn alle im gleichen Lichtspiel<br />

etwas Besonderes sehen und im<br />

Beat mitschwimmen.“ Das Portrait- und<br />

Aktmodel wirkt, während sie das sagt,<br />

lasziv wie eine französische Lolita. Ihre<br />

hellrot gefärbten Haare trägt sie sorglos<br />

hochgesteckt. Die erotische Energie<br />

und der überaus wache Geist springen<br />

einen an. Junge Frauen wie Johi, Maike,<br />

Danai und Lara suchen und finden in der<br />

Darktech-Szene einen Ort, an dem sie<br />

sich abseits der Mainstream-Partys ausprobieren<br />

können. „Die Szene ist mein<br />

Mind-Set“, sagt Lara dazu. „Ein Ort, um<br />

Fragen zu stellen, aber keine Antworten<br />

zu finden. Dort sind die Mittel gegeben,<br />

um etwas zu beginnen. Das kann man<br />

auf andere Bereiche übertragen – und<br />

dann seine Freiheit aus anderen Quellen<br />

schöpfen.“<br />

Wie immer in einer Szene, die besonders<br />

individuell sein will, ist niemand mehr<br />

wirklich anders. Und einer Feier-Kultur<br />

einen intellektuellen Überbau zu zimmern<br />

wäre sicher übertrieben. Dennoch<br />

bekommt die Generation Y mit dem<br />

Darktech ihren Underground zurück,<br />

nachdem Indie, Punk, Wave und Rave im<br />

Mainstream angekommen sind und sich<br />

damit irrelevant gemacht haben. Jede<br />

Generation braucht ihr zeitgemäßes „Taboo“;<br />

einen „verbotenen“ Ort, an dem sie<br />

wie einst Leigh Bowery Extreme erprobt,<br />

komplett ausklinkt und jenseits der<br />

Norm durchdrehen kann. Darum bedeutet<br />

die Darktech-Szene für einige mehr,<br />

als nur ein paar Nächte im Club. Johi von<br />

Bruises sieht sie als Möglichkeit, ein Leben<br />

zu gestalten. Ihre letzte Party plant<br />

sie darum bereits: „Ich spare 15.000 Euro<br />

für meine Beerdigung und lege schon<br />

die Playlist fest, darunter ‚Haus Arafna‘<br />

und ‚Grauzone‘. Es soll für die Gäste die<br />

beste Party ihres Lebens werden.“ Bis<br />

dahin feiert sie jedes Wochenende die<br />

beste Party ihres Lebens. Zumindest, bis<br />

sich irgendwann ein neues Ventil und ein<br />

neuer Sinn ergeben.<br />

Nr.13<br />

106 107<br />

Nr.13


SO STELL‘ ICH MIR DIE LIEBE VOR<br />

Protokoll: Lorenz Schröter<br />

Foto: Joegh Bullock<br />

„AUCH<br />

PORNOSTARS<br />

WERDEN ÄLTER“<br />

ANNIE SPRINKLE HAT 18 JAHRE LANG ALS PROSTITUIERTE GEARBEITET UND<br />

ANGEBLICH MIT 3452 MÄNNERN, 371 FRAUEN UND 83 ½ TRANSLEUTEN<br />

GESCHLAFEN. SPÄTER ENTDECKTE SIE DIE EROTIK DER NATUR UND VERANSTALTETE<br />

ZUSAMMEN MIT IHRER PARTNERIN SEX-PERFORMANCES IN DER SHOW „ECOSEX<br />

BOOTCAMP“. EIN ETWAS EXZENTRISCHER BLICK AUF DIE LIEBE.<br />

„Vor sechs Jahren habe ich die Erde<br />

geheiratet und betreibe seitdem Öko-<br />

Sex. Die Erde ist mein Liebhaber und<br />

ich liebe es, mit der Natur erotisch<br />

eins zu werden. Es ist eine eigene<br />

Weltanschauung, dazu habe ich ein<br />

Öko-Sex-Manifest auf meiner Website<br />

sexecology.org veröffentlicht. Die Erde<br />

ist nicht nur Mutter, sondern auch Geliebte.<br />

Ja, wir haben die Erde geheiratet,<br />

das war transgender, die Erde ist<br />

allgender. Wir hatten eine große Hochzeit,<br />

zusammen mit meiner Ehefrau<br />

Beth Stephens, sie ist auch Künstlerin.<br />

Wir heiraten öfter, in Frankreich, Kroatien,<br />

überall in Europa und Amerika.<br />

Mit der Erde war es meine 17. große<br />

Hochzeitsfeier.<br />

Natürlich haben wir die Erde vorher<br />

gefragt und wir denken, sie hat Ja gesagt.<br />

Wir haben gefragt! Zustimmung<br />

ist sehr wichtig. Wir umarmen auch<br />

nur Bäume, wenn wir sie vorher um<br />

Erlaubnis gebeten haben. Wenn so ein<br />

Baum es nicht mag, stirbt er. Öko-Sex<br />

ist eine Erweiterung der Sexualität,<br />

„WENN MAN NACKT IST,<br />

SIND ALLE MENSCHEN SCHÖN”<br />

man erotisiert alles, auch den Sternenhimmel.<br />

Das machen viele unbewusst,<br />

wenn sie nackt sind oder in der Badewanne,<br />

dann haben sie Sex mit dem<br />

Wasser oder wenn man nackt unter<br />

der heißen Sonne liegt. Die Menschen<br />

haben dauernd erotische Gefühle mit<br />

der Natur, nur geben sie das nicht zu.<br />

Auch der Anblick von schönen Blumen<br />

gehört dazu. Wenn man auf einem Motorrad<br />

den Fahrtwind spürt, kann man<br />

den Wind als Wind spüren oder ihn als<br />

erotisch annehmen und zulassen, dass<br />

er mit dir Liebe macht.<br />

Ich habe 20 Jahre als Prostituierte gearbeitet,<br />

damals war ich 18, und war<br />

sehr promiskuitiv. Ich mochte meine<br />

Arbeit als Prostituierte, ich mag Menschen,<br />

ich habe mit mehr als 3000<br />

von ihnen geschlafen und ich bin sehr<br />

stolz darauf. Ich hatte eine schöne Zeit,<br />

manchmal war es nicht nett, aber ich<br />

wurde nie vergewaltigt. Manchmal war<br />

es wirklich hart, aber das gehört zu<br />

meinen Erfahrungen. Das gehört zum<br />

Leben.<br />

Ich war in Pornomagazinen und habe<br />

Burlesque gemacht. Danach war ich<br />

15 Jahre monogam. Und dann wurde<br />

ich öko-sexuell und habe jeden Tag<br />

erotische Erfahrungen. Ich bin ja fast<br />

sechzig und es ist nicht langweilig.<br />

Auch wenn ich nackt durch die Natur<br />

laufe und die Redwoods umarme. Alles<br />

ist Liebe, Sex ist ein Teil der Liebe. Mit<br />

meiner Partnerin mache ich seit 17 Jahren<br />

Liebes-Projekte, denn die meisten<br />

Menschen haben so eine langweilige<br />

Vorstellung von Liebe wie diese Hallmark-Grußkarten<br />

mit den Liebessprüchen<br />

drauf.<br />

Ich gehe so oft ich kann ins Gym und<br />

wir gehen mit dem Hund spazieren.<br />

Ich versuche meinen Körper so zu lieben,<br />

wie er ist, und gebe auf ihn acht<br />

so gut ich kann. Wenn ich in den Spiegel<br />

schaue, kann ich mich sehr hart<br />

kritisieren oder meinen Körper schön<br />

finden, meist mache ich beides. Man<br />

sollte sich selbst lieben, das ist sehr<br />

wichtig. Auch wir Pornostars werden<br />

älter und sich mit früher zu vergleichen<br />

ergibt keinen Sinn, das macht einen<br />

nur unglücklich. Ich mache immer<br />

noch Performances und zieh mich auf<br />

der Bühne nackt aus und habe in unserer<br />

Show „Ecosex Bootcamp“ zusammen<br />

mit meiner Freundin in großen<br />

Schlammhaufen öffentlichen Sex. Ich<br />

liebe Menschen und das mochte ich an<br />

meiner Arbeit als Prostituierte: Wenn<br />

man nackt ist, sind alle schön.“<br />

Annie Sprinkle, 59, zeigte als Sex-Performance-Künstlerin<br />

dem Publikum gern ihren<br />

Gebärmutterhals. Ist sehr stolz, als erste<br />

Pornodarstellerin einen Doktortitel erworben<br />

zu haben. Thema: Arbeitsbedingungen von<br />

Sexarbeitern. Auf ihrer Website:<br />

www.anniesprinkle.org(asm).<br />

AUS DEM VORGESPRÄCH<br />

<strong>Fräulein</strong>: Sie haben mit 3452<br />

Männern, 371 Frauen und 83 ½<br />

Trans-Leuten geschlafen. Was hat<br />

es mit dem ½ auf sich?<br />

Annie Sprinkler: Oh, der/die war vermutlich<br />

im Übergang.<br />

Kann man queer sein, wenn man<br />

heterosexuell ist?<br />

AS: Absolut! Queer ist eine Geisteshaltung,<br />

man ist anders. Sie sehen für<br />

mich ziemlich queer aus.<br />

Ist das ein Kompliment?<br />

AS: Natürlich ist das als Kompliment<br />

gemeint. Wenn man als Mann für<br />

eine Frauenzeitschrift arbeitet, kann<br />

das schon ein wenig queer sein. Und<br />

du, bist du in eine Frau verliebt, einen<br />

Mann, Transgender oder einem Baum?<br />

Da muss ich mal nachschauen.<br />

AS: Ich nenne das radikal, radikal traditionell.<br />

Straight zu sein ist auch ziemlich<br />

queer.<br />

Manchmal denke ich, es ist abenteuerlicher<br />

straight zu sein.<br />

AS: Queers haben mitunter ein hartes<br />

Schicksal. Wenn man Frauenkleidung<br />

trägt, ist das schon queer. Viele von ihnen<br />

haben Probleme und passen nicht<br />

in die Gesellschaft. Mein Hund ist auch<br />

queer.<br />

Umarmt er auch Bäume?<br />

AS: Nein, er pisst sie an.<br />

Und dann umarmen Sie den Baum<br />

und entschuldigen sich für den<br />

Hund?<br />

AS: Den Bäumen scheint es nichts auszumachen.<br />

Da bin ich anderer Meinung.<br />

AS: Da könnten Sie recht haben. Aber<br />

es sind sehr große Bäume, Redwoods,<br />

die werden über 100 Meter hoch und<br />

können älter als 600 Jahre werden.<br />

Nr.13<br />

108 109<br />

Nr.13


EINE STIMME<br />

Protokoll: Jakob Krakel<br />

HELEN CALDICOTT<br />

HELEN CALDICOTT WAR LANGE ZEIT EINE DER PROFILIERTESTEN ANTI-ATOMKRAFT-<br />

AKTIVISTINNEN DER WELT. IHRE PERSÖNLICHE HINGABE FÜR DIE ZIVILGESELLSCHAFT IST<br />

BEISPIELHAFT. EIN GESPRÄCH ÜBER DIE LANGZEITFOLGEN ATOMARER VERSTRAHLUNG,<br />

WESTLICHE SCHURKENSTAATEN UND DIE TICKENDE ZEITBOMBE FUKUSHIMA.<br />

Als ich Ende der 50er-Jahre mit<br />

etwa 17 Jahren das Buch „On the Beach“<br />

von Nevil Shute las, war ich noch<br />

eine sehr unschuldige junge Frau. Ich<br />

wollte Menschen helfen, einer meiner<br />

großen Helden war Robin Hood. In „On<br />

the beach“ bricht durch ein Missverständnis<br />

ein nuklearer Krieg aus, der<br />

in kurzer Zeit große Teile der Weltbevölkerung<br />

auslöscht. Als sich die<br />

radioaktive Wolke Melbourne nähert,<br />

verteilt die Regierung Gift, sodass die<br />

Menschen ihre Babys töten können,<br />

bevor sie jämmerlich zugrunde gehen.<br />

Damals war das alles noch eine<br />

Dystopie, doch kurze Zeit später gab<br />

es genug atomare Waffen auf der Erde,<br />

um dieses Szenario plausibel werden<br />

zu lassen. Das hat meine Perspektive<br />

grundlegend verändert. Ich fühlte mich<br />

seitdem nie wieder sicher.<br />

Ich bin eine auf interne Medizin spezialisierte<br />

Kinderärztin. Ich verstehe sehr<br />

gut, was atomare Waffen und Strahlung<br />

Menschen antun können. Ich habe an<br />

der Harvard Medical School über zystische<br />

Fibrose geforscht und hätte Professorin<br />

werden können. Es war sehr<br />

schwierig für mich, meine Karriere für<br />

meinen Aktivismus aufzugeben. Ich<br />

liebe die Medizin. Doch mir blieb einfach<br />

keine Wahl. Als ich nach meiner<br />

Kündigung hinaus auf die Straße trat,<br />

fühlte ich mich nackt. Ich war kein cleverer<br />

Doktor der Harvard Universität<br />

mehr. Wer war ich? Also co-gründete<br />

ich „Physicians for Social Responsibility<br />

(PSR)“, eine Organisation, die bald<br />

von 23.000 Ärzten unterstützt wurde.<br />

Ein Agent in Hollywood arbeitete umsonst<br />

für mich und vermittelte mich in<br />

die Sendung „60 Minutes“, auch war<br />

ich in den Magazinen „Vogue“, „Time“<br />

und „Life“ vertreten.<br />

1985 bekam unsere Dachorganisation<br />

„Internationale Ärzte für die Verhütung<br />

des Atomkrieges (IPPNW)“ für<br />

ihr Engagement den Friedensnobelpreis<br />

überreicht. Nach dem Ende des<br />

Kalten Krieges hätten die USA und<br />

Russland dann einen weitreichenden<br />

Vertrag zum Abbau von Atomwaffen<br />

unterzeichnen müssen. Es kam anders.<br />

Beide besitzen noch heute 94 Prozent<br />

der Wasserstoffbomben. Sie sind<br />

die waren Schurkenstaaten und gefährden<br />

nachhaltig das Leben auf der<br />

Erde. Das ist extrem frustrierend. Firmen<br />

wie Lockheed Martin und Boeing<br />

beherrschen Politik und Wirtschaft.<br />

Zudem gibt es zu viele Unternehmen<br />

und Staaten, die von Soziopathen geleitet<br />

werden, die vielleicht brillant und<br />

charmant sind, aber kein moralisches<br />

Gewissen besitzen.<br />

Der Zwischenfall von Fukushima 2011<br />

und seine Folgen bedeuten trotz allem<br />

eine neue Stufe der Eskalation. Die Reaktoren<br />

dort stehen mittlerweile auf<br />

einer Art weichgespültem Dreck, weil<br />

ständig Wasser aus den Bergen die<br />

Fundamente unterspült. Im Gebäude<br />

4 gibt es einen frischen Kern, der kurz<br />

vor dem Tsunami aus dem eigentlichen<br />

Reaktorbecken gehoben wurde. Sollte<br />

es ein neues Erdbeben mit der Stärke<br />

7 oder höher geben, dann könnte das<br />

Gebäude einstürzen und eine Explosion<br />

auslösen. Zehnmal mehr Cäsium<br />

als während des Unglücks von Tschernobyl<br />

oder das Äquivalent von 14.000<br />

Hiroshima-Bomben würden dann in<br />

die Atmosphäre gelangen. Das würde<br />

je nach Windrichtung die komplette<br />

nördliche Hemisphäre mit Radioaktivität<br />

verseuchen und zu einem gewaltigen<br />

Anstieg der Krebsfälle und zu<br />

genetischen Deformationen führen.<br />

In Fukushima gab es zudem drei Kernschmelzen<br />

in den Einheiten 1-3. Sollte<br />

auch nur eines dieser Gebäude kollabieren,<br />

würde auch hier eine Unmenge<br />

an Radioaktivität freigesetzt werden.<br />

Jeder der Kerne enthält etwa 100 Tonnen<br />

Uran. Wir haben keine Ahnung,<br />

wo sie sich genau befinden. Ob sie auf<br />

dem Grund der Gebäude liegen oder<br />

sich bereits in den Untergrund eingeschmolzen<br />

haben. So oder so nimmt<br />

das Wasser, das aus den Bergen das<br />

Kraftwerk unterspült, die radioaktiven<br />

“IN DER GESCHICHTE DER<br />

MENSCHHEIT GAB ES NOCH NIE EINE<br />

SOLCHE GEFAHR WIE FUKUSHIMA”<br />

Isotope der Kerne auf und trägt sie bis<br />

ins Meer. Diese geschmolzenen Kerne<br />

können mit größter Wahrscheinlichkeit<br />

niemals geborgen werden. Selbst<br />

Roboter würden von diesen stark<br />

strahlenden Kernen zerstört werden.<br />

Pro Tag werden 300 Tonnen des verseuchten<br />

Wassers aus den Reaktoren<br />

in Container abgepumpt, von denen es<br />

mittlerweile ca. 1100 Stück auf dem Gelände<br />

über dem Kraftwerk gibt. Diese<br />

Tanks wurden von unqualifizierten Arbeitern<br />

errichtet, manche der Dichtungen<br />

sind aus Gummi, die Schrauben<br />

korrodieren. Bei einem starken Erdbeben<br />

würden diese Tanks kollabieren<br />

und all das gespeicherte Wasser in den<br />

Pazifik fließen.<br />

In der Geschichte der Menschheit<br />

gab es noch nie eine solche Situation.<br />

Es gibt für Fukushima keine Lösung.<br />

Und wenn einmal Radioaktivität in die<br />

Nahrungskette, darüber in den Körper,<br />

die Leber oder das Gehirn eingedrungen<br />

ist, wird man das nicht mehr los.<br />

Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit<br />

Krebs zu bekommen. Die Inkubationszeit<br />

dafür liegt zwischen 2-80 Jahren.<br />

Wir sprechen also über einen langfristigen,<br />

stummen, kryptogenetischen<br />

Prozess, den die meisten Menschen<br />

nicht überschauen können.<br />

Aber es geht nicht nur um Fukushima,<br />

sondern um die 400 Reaktoren in der<br />

Welt, die ein latentes Sicherheitsrisiko<br />

darstellen. Alleine 23 der Reaktoren<br />

in Amerika sind vom selben Typ wie<br />

Fukushima. Dazu kommt der ganze radioaktive<br />

Müll, 77.000 Tonnen in Amerika<br />

alleine, und keiner weiß wohin damit.<br />

Kein Container hält länger als 100<br />

Jahre, doch dieser Müll muss von der<br />

Ökosphäre für Millionen von Jahren<br />

isoliert bleiben. Das ist unmöglich.<br />

Schon während des Manhattan-Projektes<br />

wusste man von den Gefahren<br />

der Strahlung. Man wusste, dass Marie<br />

Curie und ihre Tochter am Radium<br />

zugrunde gegangen sind. Es gibt aber<br />

diesen Mythos, dass Atomkraft sauber<br />

und billig sei. Das ist eine Lüge. Selbst<br />

Wallstreet investiert nicht in sie. Die<br />

Kosten der Uranminen, der Anreicherungsprozess,<br />

der Bau der Reaktoren,<br />

die Kosten der Zwischen- und Endlagerung<br />

und nicht zuletzt die Kosten<br />

für die Gesundheit großer Teile der<br />

Bevölkerung, all dies wird nicht mit<br />

einkalkuliert. 53 Prozent der Weltbevölkerung<br />

sind Frauen, aber wir sind<br />

ziemliche Angsthasen. Es ist an der<br />

Zeit, sich zu erheben. Ich habe drei<br />

großartige Kinder und sieben Enkel.<br />

Ich mache mir wahnsinnige Sorgen um<br />

deren Zukunft. Ich werde trotz aller<br />

Zweifel nicht aufhören, auf Missstände<br />

hinzuweisen. „On the beach“ darf niemals<br />

Realität werden.<br />

Von Helen Caldicott (*1938 in Melbourne) ist<br />

auf Deutsch das Buch „Atomgefahr USA. Die<br />

nukleare Aufrüstung der Supermacht“ im<br />

Diederichs Verlag, München erschienen.<br />

Europa<br />

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Nr.13<br />

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111<br />

Nr.13


ANTIFRÄULEIN<br />

Text: Wäis Kiani<br />

Illustration: Katrin Funcke<br />

DAS 22-JÄHRIGE „UBER-MODEL“ CARA DELEVINGNE HATTE LANGE ZEIT<br />

NARRENFREIHEIT. MITTLERWEILE GEHEN UNS IHRE SAUF-ESKAPADEN EINFACH NUR<br />

NOCH AUF DIE NERVEN. EIN ABGESANG.<br />

Unser Anti-<strong>Fräulein</strong> ist nicht nur<br />

Topmodel, „Super-It-Girl“, und A-Celebrity,<br />

und sie wird nicht nur als das<br />

Gesicht des Jahres bezeichnet, sondern<br />

der DEKADE, wenn man der britischen<br />

Zeitung „Guardian“ glauben darf.<br />

Yes, UBER-Model Cara Delevingne ist<br />

ein 22-jähriger Mega-Weltstar, deren<br />

Ruhm sogar Kate Moss von ihrem<br />

Thron gestoßen hat. Aber wie kommt<br />

es, dass ein Engelsgesicht mit La-Perla-Wäsche-Body,<br />

stinkreichen Eltern,<br />

aristokratischem Background (ihre<br />

Grossmutter war Prinzessin Margrets<br />

Hofdame), Patenkind von Denver-Biest<br />

Joan Collins, best Buddy von Leuten<br />

wie Rihanna, Giorgia May Jagger, Rita<br />

Ora und Lieblingsmodel von Chanel-Karli<br />

ausgerechnet hier als Anti-<strong>Fräulein</strong><br />

endet? Nun, Miss Delevingnes<br />

Auftritte ausserhalb der Catwalks<br />

haben das, was man einen „süssen<br />

rebellischen Fratz“ nennen kann, leider<br />

lange verlassen. Die Tatsache dass<br />

Klein-Cara schon als Baby ein Tomboy<br />

war, am Schlagzeug genauso gut<br />

performen kann wie auf einem Fussballfeld,<br />

ihr Markenzeichen eine umgedrehte<br />

Baseballkappe ist, so wie sie<br />

Bart Simpson tragen würde, und Röcke<br />

hasst, war ein erfrischender Bruch zu<br />

der perfekten Oberfläche, die sie Werbenden,<br />

Designern und luxusliebenden<br />

Tusneldas in aller Welt bot. Aber Cara<br />

scheint der Erfolg tatsächlich nicht in<br />

den Kopf gestiegen zu sein, sondern<br />

woandershin. Die ewigen Schielaugen,<br />

verzogenen Gesichter, herausgestreckten<br />

Zungen und andere Fratzen<br />

kann man auch noch verstehen. Wer<br />

hat schon Lust, immer nur schön zu<br />

sein? Das machen doch nur die, die es<br />

nur mithilfe von Schönheits-OPs und<br />

Transen-Make-up und Instagram-Filtern<br />

sind, sowie die Kardashians, Paris<br />

Hilton und ihre Anhängerinnen. Cara<br />

ist natural blonde, natural beauty und<br />

natural fresh, sie darf in ausgeleierten<br />

Shirts und dreckigen Turnschuhen<br />

die Fotografen anschielen, soviel sie<br />

will, wir sind keine Spießer, wirklich<br />

nicht. Auch dass sie sich weniger für<br />

die Jungs, mit denen die Presse sie<br />

lange vergeblich versucht hat zu verlinken,<br />

wie zum Beispiel dem Brit-Star<br />

Harry Styles, mit dem sie nach einer<br />

Burberry-Show knutschend erwischt<br />

wurde, sondern für Frauen interessiert,<br />

finden wir und die Welt vollkommen in<br />

Ordnung. Das Foto von Rihannas Hand<br />

auf Caras nacktem Hintern bekam auf<br />

Instagram mehr als 150.000 Likes, das<br />

war letzten Sommer auf der Yacht, die<br />

der Popstar gemietet hatte, um vor der<br />

Küste Südfrankreichs in aller Ruhe mit<br />

ihren Freunden Orgien zu feiern. Aber<br />

was nicht mehr lustig ist, sind die bierdosenbreiten<br />

Bilder einer Proletin, die<br />

sich mit ihrer lesbischen Freundin Michelle<br />

Rodriguez bei einem Baseballspiel<br />

dermaßen volllaufen lässt, dass<br />

die beiden sich danach mit Paparazzi<br />

prügeln und auf dem Boden wälzen<br />

müssen. Genau wie das Bild einer komatösen<br />

Cara, die huckepack aus dem<br />

Londoner Club „Chinawhite“ herausgetragen<br />

wird, weil sie sich einfach nach<br />

dem Beyoncé-Konzert zu sehr amüsiert<br />

hat. Kate Moss hat es immerhin bis<br />

heute geschafft, von ihrem Begleiter gestützt<br />

auf ihren zwei Beinen nach dem<br />

Feiern herauszutorkeln. Auch wenn es<br />

schön ist, dass sich die britische Presse<br />

nicht zu schade ist, das versiffte Sweatshirt<br />

der Cara-Leiche als It-Piece und<br />

Kaufanregung zu hypen, haben wir bei<br />

den Fotos einer auf Vamp gestylten Cara<br />

ab jetzt das Gefühl, einer fatalen Lüge<br />

aufzusitzen.<br />

Nr.13<br />

112 113<br />

Nr.13


INTERVIEW<br />

Interview: Sina Braetz<br />

Fotos: Hadley Hudson<br />

PATRICIA BLACK<br />

PATRICIA BLACK WEISS<br />

GENAU, WIE DAS<br />

MODEBUSINESS TICKT,<br />

NUR SO KONNTE SIE ZU<br />

EINER DER TOP-STYLISTEN<br />

NEW YORKS WERDEN. SEIT<br />

2003 ARBEITET SIE ALS<br />

KREATIVDIREKTORIN DES<br />

SHOWROOMS ALBRIGHT<br />

FASHION LIBRARY, DER<br />

STYLISTEN, BLOGGERN,<br />

STARS UND DESIGNERN ALS<br />

BEGEHRTER STILBERATER<br />

GILT.<br />

„Sie ist süß, ich weiß nicht. Alle sind<br />

sie süß.“ Patricia Black grinst verschmitzt,<br />

zwinkert mit dem Auge und<br />

lässt sich lässig auf einen Stuhl fallen.<br />

Ihre kobaltblaue Mütze, ihr schwarzer<br />

Swea ter und ihre Wedges lassen sie<br />

noch größer und tougher erscheinen,<br />

als sie eigentlich schon ist. Dann schaut<br />

sie wieder zu dem jungen, hübschen<br />

Mädchen, das gerade in ein neues<br />

Outfit schlüpft. „Sie ist eine Bloggerin,<br />

eine von vielen, die wir beim Styling<br />

beraten. Frage mich nicht, warum sie<br />

hier ist.“ Black schnappt ein neues Outfit<br />

von einer der endlos scheinenden<br />

Kleiderstangen, die den hellen, 7000<br />

Quadratmeter großen Showroom des<br />

Mode-Verleihs „Albright Fashion Library“<br />

in New Yorks East Village zu<br />

einem wahren Paradies machen. Aus<br />

einem Riesenrepertoire an Kleidern –<br />

über 15.000 an der Zahl – Anzügen, Röcken,<br />

Blusen, Schuhen, Accessoires und<br />

Schmuck von Alexander Wang bis hin<br />

zu Valentino stellt Black mit Albright<br />

Outfits für unterschiedlichste Kunden<br />

zusammen.<br />

<strong>Fräulein</strong>: Mrs. Black, Sie haben es<br />

bis an die Spitze der New Yorker<br />

Fashion-Szene geschafft. Wichtige<br />

Trendsetter trauen Ihrem Rat. Wie<br />

haben Sie das gemacht?<br />

Patricia Black: Erst einmal glaube ich,<br />

dass es wichtig ist, sich für alles außer<br />

Mode zu interessieren, so komisch das<br />

klingt. Denn es ist das Leben, Kunst,<br />

Literatur, die Theatergeschichte, alles,<br />

was uns umgibt, das Trendsetter und<br />

Tastemaker inspiriert oder zumindest<br />

inspirieren sollte und was letztendlich<br />

unsere Mode formt.<br />

Sie arbeiteten lange als Stylistin<br />

in Atlanta. Was hat Sie nach New<br />

York verschlagen?<br />

Ich ließ mich damals grade in Atlanta<br />

scheiden und bekam dann über Umwege<br />

einen Job in New York, den ich<br />

nach 9/11 gleich wieder verlor. Ich arbeitete<br />

dann für einen Setdesigner, bis<br />

ich hier bei Albright landete. Das ist<br />

mittlerweile 10 Jahre her. Es ist okay, es<br />

ist ein Job (lacht).<br />

Das hört sich nicht nach großer<br />

Leidenschaft an!<br />

Meine Motivation sind die Leute, mit<br />

denen ich arbeite. Ich mag es, von Menschen<br />

umgeben zu sein, die kämpfen,<br />

das inspiriert mich. Etwa Künstler, die<br />

ohne Geld zu uns kommen und kurz<br />

vor ihrer ersten Galerie-Eröffnung stehen.<br />

Und es macht mir Spaß, Frauen zu<br />

beobachten, die sich in unserem Spiegel<br />

auf einmal anders wahrnehmen,<br />

sich neu entdecken und Selbstvertrauen<br />

finden.<br />

Wie schaffen Sie es, diesen Mädchen<br />

und Frauen zu helfen, einen<br />

eigenen Stil zu finden?<br />

Indem ich ein guter Zuhörer bin und<br />

ihr Verhalten beobachte. Heutzutage<br />

vergessen wir oft den menschlichen<br />

Austausch und die Signale, die wir immerzu<br />

aussenden. Natürlich hat jede<br />

meiner Kundinnen auch ein unterschiedliches<br />

„Publikum“, unterschiedliche<br />

Zielgruppen, ob Magazinleser<br />

oder Eventgäste. Es ist wichtig, ob die<br />

Kundin mit ihrem Mann zu einer Veranstaltung<br />

geht oder vielmehr einen<br />

finden möchte, ob sie mit ihrem Chef<br />

oder mit ihren Kollegen unterwegs ist.<br />

Das Publikum kennt immer die Wahrheit.<br />

Aber man muss dem Geschmack<br />

des Publikums nicht hundertprozentig<br />

folgen. Und so kann ein Outfit einen<br />

ganz anderen Menschen entstehen lassen<br />

– Kleider machen Leute.<br />

Man braucht also ein trainiertes<br />

Auge!<br />

Ja, nur das Traurige ist, dass wir alle<br />

kaum noch aufmerksam sind. Wir<br />

schauen auf die Diamanten und lassen<br />

uns davon blenden. Das ist das „Fashion-Game“.<br />

... ein Spiel, das mittlerweile einem<br />

immensen Demokratisierungsprozess<br />

unterlaufen hat. Mode wird<br />

immer offener und erreichbarer<br />

für eine große Gruppe. Inwiefern<br />

macht sich das in Ihrem beruflichen<br />

Alltag bemerkbar?<br />

Eine Beobachtung, die ich in den letzten<br />

Jahren machen musste, war, dass<br />

sich Freunde von mir, die schon ewig<br />

in der Fashion-Szene arbeiten, von<br />

heute auf morgen in der zweiten oder<br />

„DAS LEBEN IST<br />

KEIN ,DESPERATE<br />

HOUSEWIVES’“<br />

dritten Reihe bei den Shows wiederfanden.<br />

Hinter irgendwelchen Bloggern.<br />

Das verwirrt erst einmal. Auf der<br />

anderen Seite ermöglicht dieser Trend<br />

auch Menschen außerhalb des inneren<br />

Zirkels einen Zugang zur Mode, besonders<br />

zur High Fashion. Sie entwickeln<br />

so einen Sinn für Ästhetik, ohne allerdings<br />

ein fundiertes Wissen zu haben,<br />

woher Modetrends oder Designer<br />

kommen und was für eine Geschichte<br />

hinter ihnen steckt. Vielleicht bedeutet<br />

das heute auch nicht mehr so viel,<br />

ich bin mir da nicht so sicher. Aber ich<br />

glaube, wir haben die Poesie verloren.<br />

Was macht diese Poesie aus?<br />

Zeit zu haben zu reflektieren, zu reisen,<br />

sich inspirieren zu lassen. Heute<br />

scheint es, als würde jeder tagtäglich<br />

seinen eigenen roten Teppich entlangschreiten.<br />

Wenn wir aber alle nur in<br />

unseren Glashäusern sitzen und wegschauen,<br />

dann gibt es keine Entwicklung!<br />

Haben wir im Vergleich zu früher<br />

die Idole mit „Seele“ verloren?<br />

Ja. Das Leben ist weder „Desperate<br />

Housewives“ noch ein „Projekt Runway“.<br />

Es ist wichtig, dass eine Frau<br />

Selbstvertrauen hat, dass sie weiß, wer<br />

sie ist. Wenn nicht, dann hilft es auch<br />

nicht viel, sie in das schönste, sexieste<br />

Kleid einzuhüllen. Wir handeln mit Beträgen,<br />

die sich an Erziehung und Ausbildung,<br />

an Herkunft und Jobs messen.<br />

Es muss aber mehr geben an einer Person,<br />

eine Seele eben.<br />

Was inspiriert Sie persönlich?<br />

Meine Inspiration kommt aus meinem<br />

Filmwissen, aus meinem Alltag, aus<br />

Dingen, die ich auf der Straße oder in<br />

der Subway sehe. Unser Office liegt<br />

direkt gegenüber der Cooper Union<br />

School für Schüler, denen die finanzielle<br />

Unterstützung fehlt. Ich schaue<br />

gerne, was die Kids dort tragen. Das,<br />

was wir in der Mode machen, ist doch<br />

eigentlich nichts anderes als Beobachtetes<br />

zu glorifizieren, es in Kaschmir<br />

oder in die beste Seide der Welt zu verwandeln.<br />

Welche Erfahrungen haben Sie<br />

persönlich mit der Modeszene in<br />

New York gemacht?<br />

Es ist ein Club und Teil dieses Club zu<br />

werden kostet. Also zahlst und zahlst<br />

du, mit Geld, das du dir oft borgen<br />

musst, bevor du dort hinkommst, wo<br />

du hinwillst. Dabei geht das Ursprüngliche<br />

verloren. Die Herausforderung in<br />

New York ist meiner Meinung nach,<br />

etwas von dir zu erhalten, ohne dich<br />

von der Stadt auffressen zu lassen. Du<br />

musst bereit sein zu scheitern. Jeder<br />

liebt einen Gewinner, aber am meisten<br />

lieben wir diejenigen, die auf ihrer<br />

Strecke auch mal gefallen und wieder<br />

aufgestanden sind.<br />

Im März 2014 hat die Albright Fashion<br />

Library ihr zehnjähriges Jubiläum in<br />

Kooperation mit New Yorks Fashion Institute<br />

of Technology und einem Team aus Moderedakteuren,<br />

Stylisten und Kostümdesignern<br />

gefeiert. In einem Kurzfilm, der zurzeit im<br />

Rahmen der Ausstellung „Albright goes to<br />

school“ gezeigt wird, diskutiert das Team<br />

unter anderem die Bedeutung von Albright<br />

für ihren beruflichen Alltag.<br />

Nr.13<br />

114 115<br />

Nr.13


FEIERABEND<br />

Interview: Hanno Hauenstein<br />

Foto: Jonas Opperskalski<br />

Etgar Keret ist einer der bedeutensten<br />

zeitgenössischen Schriftsteller<br />

Israels und ein zwischen lustvoller Ironie<br />

und eigentümlicher Melancholie umhertreibender<br />

Geist. So darf an dieser Stelle<br />

zum ersten Mal auch ein Mann in der<br />

<strong>Fräulein</strong> auftauchen! Ein Gespräch in Tel<br />

Aviv über das wohl schmalste Haus der<br />

Welt, Miranda Julys E-Mail-Projekt „We<br />

Think Alone“ und das Schreiben zwischen<br />

Kunst und Politik.<br />

<strong>Fräulein</strong>: Herr Keret, was inspiriert<br />

Sie?<br />

Etgar Keret: Ich hatte mal eine Lesung<br />

in Chicago mit älteren jüdischen Damen.<br />

Eine von ihnen stand am Ende<br />

auf und sagte, ich sei gar kein richtiger<br />

Schriftsteller. Ich hätte gar keine Beschreibungen<br />

von Szenerien in meinen<br />

Geschichten. Warum schreibst du nicht,<br />

wie Dinge aussehen? Ich sagte, es interessiert<br />

mich nicht, wie Dinge aussehen.<br />

Was mich interessiert, sind lebende Kreaturen.<br />

Du kannst mir den schönsten<br />

Sonnenuntergang zeigen, den grünsten<br />

Hügel, die bezauberndste Blume, das<br />

interessiert mich alles einen Dreck. Der<br />

Blick eines Kindes, eine kichernde Frau,<br />

das ist das Spektrum, in dem ich Dinge<br />

fühle.<br />

Hier in Israel haben Sie eine Art<br />

Zwischenstellung als Schriftsteller<br />

und Kommentator. Letztes Jahr interviewten<br />

Sie Benjamin Netanjahu.<br />

Wo liegt für Sie die Grenze zwischen<br />

Kunst und Politik?<br />

In der Kunst geht es um die menschliche<br />

Verfassung – die ist von Haus aus ambivalent.<br />

Wenn jemand kommt und sagt,<br />

guck mal, hier passieren schreckliche<br />

Dinge, darüber solltest du schreiben,<br />

dann ist das ein Missverständnis. Das<br />

Stärkste an der Kunst ist, dass sie keine<br />

Funktion hat. Mit einem Buch kannst<br />

du nicht jagen oder googlen, es ist zu<br />

nichts gut, es spricht über Leute, die nie<br />

existiert haben, ist eine große Lüge, hat<br />

die Kraft der Infragestellung. Politische<br />

Kommentare dagegen haben etwas sehr<br />

Pragmatisches, das ist fast eine Art Anti-Schreiben.<br />

Der Titel einer Ihrer Geschichten<br />

lautet „Creative Writing“. Sie unterrichten<br />

selbst kreatives Schreiben.<br />

Kann jeder Schriftsteller werden?<br />

Das Erste, was ich meinen Studenten<br />

sage: Das ist keine echte Klasse hier.<br />

„ICH WUCHS<br />

OHNE WURZELN<br />

AUF, OHNE<br />

GROSSELTERN,<br />

OHNE SPRACHE“<br />

Schreiben kann man niemandem beibringen.<br />

Bei mir läuft das eher wie bei<br />

den Anonymen Alkoholikern. Da kommt<br />

wer, sagt, hey, mein Name ist Yaakov, ich<br />

schreibe Geschichten – wir antworten:<br />

Es ist okay Yaakov, wir auch! In den USA<br />

gibt es diese Tendenz zu denken, Schreiben<br />

sei Handwerk, einer lernt Schriftsteller,<br />

der nächste Zimmermann. Daran<br />

glaube ich nicht.<br />

Im deutschen Kanon gilt Schreiben<br />

eher als Produkt unerreichten<br />

Genies.<br />

Schreiben ist auch kein Geniewerk. Ich<br />

kann schlecht damit umgehen, wenn<br />

Leute Schriftsteller anhimmeln. Ich<br />

glaube, ein Schriftsteller ist jemand mit<br />

vielen Problemen, die er in Geschichten<br />

kanalisiert. Das ist ein aufrichtiger Akt,<br />

in dem man die intimsten Unfähigkeiten<br />

zugibt, aus fiktionalem Sicherheitsabstand.<br />

In meiner letzten Sammlung gibt<br />

es eine Geschichte namens „Teamwork“,<br />

über einen Vater und seinen Sohn, der<br />

von einem fetten Mädchen im Kindergarten<br />

gemein gezwickt wird. Der Vater<br />

sieht das, schubst das Mädchen und<br />

verletzt sie am Kopf. Später leugnet er,<br />

es getan zu haben. Auf einer Lesung<br />

in Berkeley sagte mir eine Frau, es sei<br />

großartig, dass ich einen so gewundenen<br />

Charakter erfinden konnte. Ich antwortete,<br />

ich habe ihn nicht erfunden, das bin<br />

ich selbst! Wann immer ich mit meinem<br />

Sohn rausgehe und ein anderes Kind ihn<br />

mit Sand bewirft, will ich dem Kind am<br />

liebsten ins Gesicht treten und wenn es<br />

blutet, sagen: Na, wie fühlt sich das an,<br />

du Stück Scheiße? In der Realität sage<br />

ich mir, es ist eben doch nur ein Kind,<br />

außerdem könnte ja die Polizei kommen.<br />

Ich schreibe über meine eigenen<br />

Abgründe.<br />

Hat das auch einen therapeutischen<br />

Aspekt?<br />

In erster Linie einen deklarativen. Meine<br />

Frau sagte mal, es nerve sie, dass ich<br />

so oft über verheiratete Männer schreibe,<br />

die ihre Frauen betrügen. Ich fragte<br />

sie, ob sie es lieber hätte, wenn ich von<br />

loyalen Männern schreiben und sie betrügen<br />

würde? Die Geschichten handeln<br />

davon, dass ich Frauen kenne, in die ich<br />

mich verlieben und mit denen ich schlafen<br />

will. Indem ich es deklariere, löse ich<br />

mich davon.<br />

Die erste Geschichte Ihrer jüngsten<br />

Sammlung handelt von drei aufdringlichen<br />

Typen in Tel Aviv, die Sie<br />

zwingen, eine Geschichte zu erzählen.<br />

Wie gehen Sie mit der israelischen<br />

Mentalität um?<br />

Ich liebe es hier. Die Kehrseite zu der<br />

Aufdringlichkeit ist unsere Großzügigkeit.<br />

Ich vermisse das, wenn ich in<br />

Europa oder den USA bin, das ist wie<br />

in einem guten Restaurant zu essen,<br />

mit dreckigen Toiletten. Was mich an<br />

Israel eher stört, ist ein Kind hier großzuziehen.<br />

Mein Sohn ist sieben. Bei den<br />

letzten Missile-Attacken auf Tel Aviv<br />

mussten wir uns alle ziemlich plötzlich<br />

auf den Boden legen. Er weigerte sich,<br />

meinte, der Boden sei nicht sauber genug.<br />

Ich fand mich in einer Situation<br />

wieder, wo ich ihn überreden und zusehen<br />

musste, wie er zum ersten Mal Hass<br />

empfindet und Rache nehmen will. Ich<br />

erklärte ihm dann, was Besatzung heißt.<br />

Solche Sachen würde ich von einem<br />

Siebenjährigen lieber fernhalten, so wie<br />

die Leute in Gaza ihre Kinder wohl auch<br />

lieber unter anderen Bedingungen großziehen<br />

würden.<br />

Es scheint schwierig, damit umzugehen,<br />

dass Tel Aviv und Gaza lediglich<br />

40 Kilometer voneinander<br />

entfernt liegen.<br />

Früher war das einfacher für mich, da<br />

lebte ich komplett in der Gegenwart. Mit<br />

einem Kind wird die Vergangenheit und<br />

die Zukunft ein Teil deines Lebens.<br />

Für viele scheint die Entscheidung,<br />

in Israel zu bleiben oder von hier<br />

wegzugehen, sehr emotional besetzt,<br />

mehr als in Europa.<br />

Da stimme ich zu. Der Unterschied ist,<br />

sowohl die Argumente hier zu bleiben,<br />

als auch die dafür, Israel zu verlassen,<br />

gehen auf mein Jüdisch-Sein zurück.<br />

Das Argument zu bleiben nährt sich aus<br />

dem Konzept von Zuhause. Mich mit<br />

dem Premierminister, Bürgermeister<br />

oder sonst wem zu streiten ist etwas,<br />

das ich tun kann, ohne dass wer sagt:<br />

Geh verdammt noch mal dahin zurück,<br />

wo du herkommst. Das ist ein Geschenk,<br />

das meine Eltern nie hatten – ein starkes<br />

Erbe.<br />

Sehen Sie Unterschiede darin, wie<br />

sie selbst, als Vertreter der zweiten<br />

Generation Holocaust-Überlebender,<br />

und die dritte Generation mit<br />

diesem Erbe umgehen?<br />

Große Unterschiede! Ich wuchs ohne<br />

Wurzeln auf, ohne Großeltern, ohne<br />

Sprache, die ich mit meinem Großvater<br />

hätte teilen können. Dieser Bruch<br />

erzeugt ein Verlangen, Dinge zu verstetigen.<br />

Meine Eltern hatten so ein Verlangen<br />

nie. Deshalb hat Immigration für<br />

mich auch immer den Beigeschmack,<br />

dem Sterben einen Schritt näher zu sein.<br />

Dazu kommt: Ich bin ein Hakenkreuzmagnet.<br />

Symbolisch gesprochen?<br />

Nein, physisch! Ich gehe wohin, sehe<br />

mich um und finde eins! Das scheint mir<br />

so eine Art Disposition zu sein. Auf der<br />

anderen Seite erinnert mich dieses Erbe<br />

auch daran, dass wir überlebt haben,<br />

weil wir zu der Zeit, als die Nazis gewählt<br />

wurden, die Ersten waren, die unsere<br />

Sachen packten und abhauten. Heute<br />

gibt es wieder Leute um uns herum, die<br />

meinen Sohn gerne tot sehen würden.<br />

Deshalb gibt es auch diese Seite, die mir<br />

sagt, wir sollten schleunigst raus hier.<br />

Der Architekt Jakub Szczesny hat in<br />

Warschau ein Haus nach dem Vorbild<br />

Ihrer Geschichten erbaut. Waren<br />

Sie schon dort?<br />

Ja, und es ist nicht so klaustrophobisch,<br />

wie man denken könnte! Auf kleinstem<br />

Raum liefert es alles, was ein Haus<br />

braucht, das sind die Proportionen, die<br />

er meinen Geschichten entnimmt. Es<br />

liegt an einem Ort, den meine Mutter gut<br />

kannte, da sie ins Warschauer Ghetto<br />

Essen schmuggelte. Das Haus steht genau<br />

an der Stelle, wo man früher vom<br />

kleinen ins große<br />

Nr.13<br />

116 117<br />

Nr.13


Ghetto gelangte.Für mich war es ein<br />

bewegendes Projekt, weil es meinen Familiennamen<br />

am Leben erhielt an dem<br />

Ort, wo er ausradiert wurde. Polen ist ein<br />

wichtiger Ort für mich, dort werde ich<br />

am meisten gelesen, der Charakter und<br />

der Humor meiner Geschichten funktioniert<br />

dort wohl sehr gut. Als meine<br />

Mutter meine Geschichten auf Polnisch<br />

las, meinte sie, ich sei eigentlich ein polnischer<br />

Schriftsteller im Exil.<br />

In Israel und in Deutschland hat<br />

man manchmal das Gefühl, die Erinnerung<br />

an den Holocaust werde<br />

zu einem starren Staatsnarrativ institutionalisiert.<br />

Ist das Keret-Haus<br />

eine alternative Form von Erinnerung?<br />

Erinnerung war für mich immer etwas<br />

Lebendiges und Dynamisches. Mein<br />

Problem mit Mahnmalen ist, dass sie<br />

von Vergangenheit handeln, nicht von<br />

Gegenwart. Das Keret-Haus wird immer<br />

von einer Gruppe von vier Menschen<br />

besichtigt. Das letzte Mal, als ich da war,<br />

standen da vier Leute, die Witwe des<br />

Pianisten Władysław Szpilman, ein italienischer<br />

Architekt, eine polnische Frau,<br />

die ein großer Fan meiner Geschichten<br />

ist, und ein Kind. Szpilmans Witwe war<br />

den Tränen nahe, wegen diesem Stück<br />

jüdischer Kultur mitten im Ghetto, ein<br />

Fakt, den niemand verleugnen kann. Der<br />

Italiener war begeistert, dass das Haus<br />

nicht auseinanderfiel, für ihn ging es um<br />

Architektur. Mein Fan sagte: „Wow, ich<br />

sehe die Verbindung, so minimalistisch<br />

und so funktional zugleich!“ Und das<br />

Kind sagte: „Yeah, ein Piratenschiff, dort<br />

gibt’s eine Leiter, da kann ich hochklettern!“<br />

Es gibt etwas sehr undefiniert-offenes<br />

an dem Projekt, das ist genau<br />

das, was es ausmacht. Wie in einer Geschichte,<br />

die immer auch eine Mischung<br />

ist aus dem Text und dem Rätsel, das<br />

darin versteckt liegt. So funktioniert das<br />

Gebäude. Die Leute suchen und finden<br />

etwas. Das ist übrigens auch, was ich an<br />

der Kunst mag, sie soll mir keine Lektionen<br />

erteilen, sie soll etwas liefern, womit<br />

ich selbst etwas anfangen kann.<br />

„ES INTERESSIERT<br />

MICH NICHT, OB<br />

MAN BÜCHER<br />

VERBRENNT,<br />

NACHDEM MAN<br />

SIE SCHREIBT, OB<br />

MAN AUF SIE<br />

SCHEISST,<br />

NACHDEM MAN<br />

SIE LIEST“<br />

Zusammen mit Lena Dunham,<br />

Kirsten Dunst und anderen haben<br />

Sie an „We Think Alone“ mitgewirkt,<br />

Miranda Julys letztem Online-Projekt,<br />

in dem man die privaten<br />

E-Mails bekannter Personen einsehen<br />

konnte. Liegt hier die Zukunft<br />

der Literatur? Werden sich Bücher<br />

überleben?<br />

Mich interessieren die Geschichten. Die<br />

überleben immer.<br />

Das Medium spielt keine Rolle?<br />

Nein. Die Diskussion, ob Kindles nun<br />

Bücher ablösen, gab es so ähnlich ja<br />

schon zu der Zeit, als der Film erfunden<br />

wurde. Meine erste Geschichte schrieb<br />

ich auf einem Computer, in einer dieser<br />

48-Stunden-Schichten in der Armee. Als<br />

meine Ablöse kam, fragte ich ihn, ob er<br />

sie lesen wollte, er verneinte, also sagte<br />

ich: Fuck off, druckte die Story, nahm sie<br />

mit zum Haus meines Bruders nach Tel<br />

Aviv und fragte ihn. Es war sechs Uhr<br />

morgens und seine Freundin war jetzt<br />

wach und angefressen, trotzdem sagte<br />

er, okay, wir machen einen Spaziergang<br />

mit dem Hund. Wir gingen los, er fing an<br />

zu lesen und, nun ja, der Hund musste<br />

scheißen. Es war ein sehr entschlossener<br />

Hund, mein Bruder las, doch der<br />

Hund hüpfte und zog ihn wie ein Gummiball<br />

über den Boulevard. Zum Glück<br />

sind meine Geschichten sehr kurz, zwei<br />

Minuten später hatte mein Bruder also<br />

fertig gelesen, sah mich mit funkelnden<br />

Augen an und sagte, sie sei großartig.<br />

In dem Moment setzte sein Hund einen<br />

dicken Haufen in die Mitte des Boulevards.<br />

Mein Bruder fragte, ob ich eine<br />

Kopie der Geschichte hätte. Die hatte ich,<br />

also nahm er das Papier und räumte die<br />

Scheiße damit weg. In diesem Moment<br />

verstand ich, dass ich Schriftsteller werden<br />

wollte. Mein Bruder lehrte mich:<br />

Geschichten liegen nicht im Papier – ein<br />

Argument für Bücherverbrennung. Es<br />

interessiert mich nicht, ob man Bücher<br />

verbrennt, nachdem man sie schreibt,<br />

ob man auf sie scheißt, nachdem man sie<br />

liest. Ein Buch kann dich an einen anderen<br />

Ort bringen, darauf kommt es an.<br />

Was sind Ihre schriftstellerischen<br />

Einflüsse?<br />

Kafka war eine Befreiung. Ich verstand,<br />

dass es einen Menschen auf dieser Welt<br />

gab, der abgefuckter war als ich selbst,<br />

das half mir, etwa in der Armee, wo ich<br />

ständig mit meiner absoluten Inkompetenz<br />

konfrontiert war. Für Individuelles,<br />

Andersartiges, Fettes, Kleines ist da kein<br />

Platz.<br />

Sehen Sie sich in einer Linie mit<br />

israelischen Schriftstellern wie<br />

Amos Oz, David Grossman, Yoram<br />

Kaniuk?<br />

Mit Oz wuchs ich auf, er ist begnadet.<br />

Generell glaube ich aber, das israelische<br />

Modell von Schreiben findet oft vor einem<br />

befriedenden Horizont statt, vor<br />

dem die Autoren dann als so eine Art säkulare<br />

Propheten dastehen. Auch wenn<br />

ich diese Art Literatur gern lese, ich fühle<br />

mich dem nicht zugehörig.<br />

Weil Sie das als bevormundend<br />

empfinden?<br />

Nicht bevormundend, nein. Es ist ein<br />

junges Land, die Leute hier sind auf der<br />

Suche. Als Leser könnte ich mich darin<br />

verlieben. Ich hatte nur immer den Eindruck,<br />

die Protagonisten sind bessere<br />

Menschen als ich. Da fühle ich mich verzweifelter,<br />

jüdischer Literatur von Leuten<br />

wie Shelly Singer, Shaul Ha’Melech<br />

oder Phillip Roth mehr verbunden, Leute<br />

in der Diaspora, wo sich der Dialog<br />

zwischen Schriftsteller und Protagonist<br />

in die Geschichten einpasst. Nicht, dass<br />

ich das in mir hätte. Nur will ich eben<br />

keine Antworten liefern, ich habe eben<br />

keine. Wenn du und ich jetzt Intelligenz<br />

vergleichen, besteht eine gute Chance,<br />

dass du gewinnst. Wenn wir Stress und<br />

Angst vergleichen, verlierst du. So bin<br />

ich gebaut. Wenn ich Zigaretten kaufe,<br />

denke ich darüber nach, was passieren<br />

würde, wenn mir der Verkäufer einen<br />

Kuss auf den Mund gibt. In meinen Geschichten<br />

hat man immer diese Vorahnung<br />

davon, es könnte etwas Schlimmes<br />

passieren. Ich wäre lieber jemand, der<br />

meint eine Idee zu haben, wie er den<br />

Konflikt löst. Stattdessen bin ich jemand,<br />

der, wenn der Konflikt eskaliert, weiß, wo<br />

man sich am besten versteckt.<br />

Etgar Keret, 1967 in Tel Aviv geboren, ist einer<br />

der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller<br />

Israels. Er schreibt Kurzgeschichten,<br />

politische Kommentare, Graphic Novels, Theaterstücke<br />

und Drehbücher. Sein erster Film<br />

„ Jellyfish“ wurde 2007 auf den Filmfestspielen<br />

in Cannes als bestes Debüt ausgezeichnet.<br />

Heute lebt Keret mit seiner Frau Shira und<br />

seinem Sohn Lev in Tel Aviv. Bei Fischer erscheint<br />

demnächst „Die sieben guten Jahre“ ,<br />

ein nicht-fiktionales Buch, das sechseinhalb<br />

Jahre in Kerets Leben wiedergibt, die er auf<br />

Tonband aufnahm – von der Geburt seines<br />

Sohnes bis zum Tod seines Vaters.<br />

www.madame.de | Instagram: @madamewinter | Twitter: @MadamePetra | im AppStore<br />

Das Luxusmagazin<br />

jeden Monat neu im Handel<br />

Nr.13<br />

118<br />

Sophisticated fashion & luxury since 1952


REZEPT<br />

Illustration: Lenia Hauser<br />

Foto: Sabine Volz<br />

Nr.13<br />

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Nr.13


DAS TRAGE ICH FÜR DIE EWIGKEIT<br />

Protokoll: Robert Grunenberg<br />

Foto: Jan Lessner<br />

Styling: Adrian Fekete<br />

„ICH WEISS,<br />

WIE ES IST, WENN MAN<br />

TRAUERT“<br />

DIE US-AMERIKANERIN LUCINDA CHILDS GEHÖRT ZU DEN PRÄGENDSTEN<br />

CHOREOGRAFEN UNSERER ZEIT. SIE ARBEITETE MIT DEM MINIMALISTEN SOL<br />

LEWITT, DEM KOMPONISTEN PHILIP GLASS UND DEM REGISSEUR ROBERT WILSON<br />

AN WEGWEISENDEN WERKEN WIE „DANCE“ UND „EINSTEIN ON THE BEACH“. MIT<br />

IN DIE EWIGKEIT WÜRDE SIE EIN SCHWARZES<br />

COCKTAILKLEID VON ARMANI NEHMEN.<br />

„Mit einem Kleid für die Ewigkeit<br />

verbinde ich die Idee, dass man passend<br />

gekleidet ist, egal wo man ist oder<br />

was man tut. Mir gefällt die Vorstellung,<br />

dass ein Design so zeitlos und elegant<br />

ist, dass man es zu jeder Tageszeit<br />

tragen kann, ohne dabei komisch oder<br />

unmodisch auszusehen. Ich habe mir<br />

in den 80er-Jahren ein Armani-Cocktailkleid<br />

gekauft, es ist ein schwarzer<br />

einfacher Dress, wunderschön geschnitten.<br />

Etwas, das zu jedem Anlass<br />

passt, zeitlos schön und für die Ewigkeit<br />

designt. Ich halte es immer bereit.<br />

Giorgio Armani ist ein feiner Mann.<br />

Sein Auge fürs Detail macht aus etwas<br />

ganz Einfachem etwas, das sich sehr<br />

elegant anfühlt. Ich habe ihn kennengelernt,<br />

als er sich Aufführungen anschaute,<br />

die ich mit Regisseur Robert<br />

Wilson produzierte. Das war Mitte der<br />

1970er-Jahre in Paris. Damals wurden<br />

mein Interesse und mein Gespür für<br />

Mode sensibilisiert, als ich die Designs<br />

von Issey Miyake und Yves Saint Laurent<br />

sah. Auch Robert Wilson inspirierte<br />

mich. Sein Feingefühl für jedes<br />

Detail im Theater und der Oper ist außergewöhnlich,<br />

auch was die Kostüme<br />

angeht.<br />

Ich bewundere Mode, für mich ist sie<br />

eine Kunstform, auch wenn Designer<br />

wie Saint Laurent das vehement verneinten.<br />

Als Tänzerin habe ich es unglaublich<br />

genossen, mich in Kostümen<br />

zu bewegen. Ich erinnere mich gerne<br />

an das Stück „Maladie de la Mort“,<br />

eine Adaption von Robert Wilson für<br />

„IN DER OPER<br />

GEHT ES UM DIE<br />

ELEMENTAREN<br />

FRAGEN DES<br />

LEBENS“<br />

die Berliner Schaubühne, für das die<br />

Kostümbildnerin Frida Parmeggiani<br />

ein fantastisches Kleid für mich entwarf.<br />

Es hatte eine Schleppe, die über<br />

die ganze Bühne fiel. Meine gesamten<br />

Bewegungen wurden durch das<br />

Design vorgegeben. Ich musste das<br />

Kleid von seiner Fabrikation komplett<br />

analysieren, verinnerlichen und auch<br />

manipulieren. Ich entwickelte Augen<br />

in meinen Händen und Füßen, denn<br />

ich konnte bei der Choreografie nicht<br />

auf den Boden schauen. Ich musste<br />

das Kleid mit meinem ganzen Körper<br />

spüren; eine außergewöhnliche und<br />

extreme Erfahrung. Das Stück „Maladie<br />

de la Mort“ selbst dreht sich um<br />

die Ohnmacht der Gefühle, das Kranksein<br />

und Todsein der Gefühle, nicht um<br />

das Sterben selbst, sondern die Unfähigkeit<br />

zu lieben. In der Postmoderne<br />

arbeiten Theater, Ballett und Oper<br />

mit semidramatischen Elementen.<br />

Sie vermeiden die direkte Darstellung<br />

von Tod, es gibt kein Playacting wie in<br />

„Giselle“ oder „Schwanensee“. Gefühle<br />

werden zum Beispiel gezeigt, indem<br />

man etwas weglässt: das Fehlen von<br />

Menschen, das Auslassen von Text<br />

und Musik oder das Nicht-Zeigen von<br />

Bewegung auf der Bühne. Diese Form<br />

der Auseinandersetzung mit Emotionen<br />

gefällt mir. Es ist ein Angebot,<br />

jeder kann es zu Ende denken, wie er<br />

will, manche verbinden zum Beispiel<br />

mit dem Fehlen von Musik in der Oper<br />

etwas wie den Tod, andere nicht. Jeder<br />

Zuschauer kann sich seine eigenen Gedanken<br />

machen.<br />

Wenn ich persönlich an den Tod denke,<br />

habe ich Schwierigkeiten, mir das<br />

Sterben vorzustellen. Jeder denkt darüber<br />

nach, jedem wird es passieren.<br />

Ich habe mir nahe stehende Menschen<br />

verloren und ich weiß, wie es ist, wenn<br />

man trauert. Doch den Prozess des<br />

Sterbens habe ich gedanklich noch<br />

nicht examiniert. Vielleicht ist es naiv,<br />

doch es fällt mir schwer. Die Auseinandersetzung<br />

damit durch Kunst hingegen<br />

kann mir persönlich einen anderen<br />

Zugang gewähren. In der Oper geht es<br />

oft um diese elementaren Fragen des<br />

Lebens.<br />

Ein Stück wie „Einstein on the Beach“<br />

arbeitet mit Wiederholungen und Variationen<br />

von gleichen Mustern. Das<br />

zwingt einen selbst, den Gang zu wechseln,<br />

denn es führt einen aus den gewohnten<br />

Strukturen heraus. Mit John<br />

Cage und Merce Cunningham begann<br />

eine Periode der performativen Künste,<br />

in der diskutiert wurde, dass persönliche<br />

Entscheidungen und Seinszustände<br />

sehr limitiert sind. Ich selbst begann<br />

in diese Richtung zu arbeiten, was dazu<br />

führte, dass man völlig außerhalb der eigenen<br />

Limitation zu denken beginnt. Es<br />

befreit und man sieht plötzlich ganz viele<br />

Optionen. Man fragt sich: Okay, ich arbeite<br />

mit dem Raum auf der Bühne, wie<br />

viel Möglichkeiten gibt es, diesen Raum<br />

zu betreten, ihn zu verlassen, mit und<br />

in diesem Raum zu arbeiten? Man hat<br />

ein Thema und man wiederholt es und<br />

variiert es unendlich lang. Man verlässt<br />

nicht das Erste, was man hat, bis man<br />

wirklich herausgefunden hat, was man<br />

damit tun kann. Das ist für mich etwas<br />

Wunderschönes. Dieser intellektuelle<br />

Ansatz, dieses postmoderne Fühlen, hat<br />

für mich eine Unendlichkeit der Möglichkeiten<br />

aufgetan. In dieser Weise ist<br />

es auch etwas, das ich in mir für die<br />

Ewigkeit trage.“<br />

Lucinda Childs und ihre Dance Company<br />

performen das Tanzstück DANCE am 17. &<br />

18. Mai 2014 in Macao, eine Kollaboration<br />

mit dem Komponist Philip Glass und dem<br />

Künstler Sol LeWitt. DANCE zählt zu den<br />

bahnbrechendsten Werken postmoderner<br />

Choreografie.<br />

Nr.13<br />

122<br />

Nr.13


HOROSKOP<br />

Illustration: Paraskewi Palaska<br />

PANTA RHEI – ALLES FLIESST<br />

KREBS<br />

22. Juni - 22. Juli<br />

WAAGE<br />

24. September - 23. Oktober<br />

FÜR DIE ALTEN GRIECHEN WAREN ORDNUNG UND SCHÖNHEIT IDENTISCH. DANN SAHEN SIE IN DEN<br />

NÄCHTLICHEN STERNENHIMMEL. ER WAR VÖLLIG UNORDENTLICH UND DOCH WUNDERSCHÖN. SIE NANNTEN<br />

IHN KOSMOS: WELTORDNUNG, GLANZ. DAS WORT KOSMETIK STAMMT DAHER. WAS DAS ALLES MIT IHREM<br />

HOROSKOP ZU TUN HAT? LESEN SIE SELBST.<br />

STEINBOCK<br />

22. Dezember - 20. Januar<br />

Es gibt zu viele Häuptlinge, da braucht<br />

es Diplomaten mit emotionaler Intelligenz.<br />

Mit der Zeit merkt man, dass es<br />

auf Sie ankommt. Und während die<br />

Genies noch mit 50 auf den Durchbruch<br />

als Popstar warten, sind die<br />

Indianer längst Abteilungsleiter oder<br />

Marketingleiter geworden. Zu welchem<br />

Stamm gehören Sie? Achten<br />

Sie darauf, nicht zu kurz zu kommen.<br />

Muss ja nicht jeder merken, dass Sie<br />

nicht völlig selbstlos sind. Malen Sie<br />

ein großes Bild. Hören Sie Barockmusik.<br />

Schauen Sie mal bei Joyclub oder<br />

OKcupid vorbei (das sind Websites,<br />

NSFW, das heißt No save for work).<br />

WASSERMANN<br />

21. Januar - 19. Februar<br />

Selbstbewusstsein kann auch einsam<br />

machen. Visionen können Anderen auf<br />

die Nerven gehen. Zum Glück sind Sie<br />

eine Schnellmerkerin, smart und witzig.<br />

So wird es auch in der Liebe nicht<br />

langweilig – und falls doch, verabschieden<br />

Sie sich, aber Hallo! Sie sind<br />

anspruchsvoll. Sie können gut delegieren,<br />

manchmal wird dann protestiert:<br />

„Ich bin nicht deine Sekretärin.“ Dann<br />

schnell einen Witz machen, damit alles<br />

gut ist. Üben Sie sich in Geduld. Versuchen<br />

Sie in einem Chor die Stimmen<br />

zu unterscheiden. Bedanken Sie sich<br />

heute drei Mal bei drei verschiedenen<br />

Menschen.<br />

FISCHE<br />

20. Februar - 20. März<br />

Es gibt viel zu tun. Aber bringen Sie<br />

es zu Ende. Sie lassen sich leicht ablenken,<br />

auch emotional. Man kann<br />

Ihre Gedanken nicht lesen. Sie jedoch<br />

glauben, Sie könnten Gedanken lesen.<br />

Es stimmt, Ihr Einfühlungsvermögen<br />

ist groß, wenn Sie sich nicht gerade<br />

als Prinzessin aufführen. Was die wenigsten<br />

vermuten: Sie nehmen sich<br />

die Sachen zu Herzen. Sie sind nicht<br />

störrisch. Manchmal sind Sie schwer<br />

greifbar, ein Fisch eben. Werfen Sie alte<br />

Sachen weg, alles, was Sie seit einem<br />

Jahr nicht angefasst haben (außer Bücher).<br />

Fragen Sie nicht, was die Gesellschaft<br />

für Sie tun soll, fragen Sie, was<br />

Sie für die Allgemeinheit tun können.<br />

Besteigen Sie einen hohen Berg.<br />

WIDDER<br />

21. März - 20. April<br />

Mitten auf dem einmal eingeschlagenen<br />

Weg umzukehren ist nicht Ihre Sache,<br />

auch wenn er in die falsche Richtung<br />

führt. Schauen Sie deshalb auch<br />

mal in den inneren Rückspiegel. Die<br />

größten Verletzungen fügen Sie nicht<br />

anderen, sondern sich selbst zu. Damit<br />

sie nicht als einsame Eisprinzessin auf<br />

der schwarzen Insel enden: Lust vor<br />

Life! Beweg deine Hüften! Setzen Sie<br />

sich eine Maske auf, spielen Sie eine<br />

andere Rolle. Lassen Sie den Würfel<br />

entscheiden, ob Sie Tofu oder Schweinebraten<br />

essen, Wein oder Wasser<br />

trinken, treu oder untreu sind.<br />

STIER<br />

21. April - 20. Mai<br />

Von Natur aus Hedonistin, fällt Ihnen<br />

das Genießen erstaunlich oft schwer.<br />

Was würde X sagen? Und dann die<br />

Kopfschmerzen nach der Party. Und so<br />

jung sind wir auch nicht mehr. Stopp!<br />

Aufhören mit dem inneren Monolog<br />

der schlechten Laune. Lassen Sie los,<br />

hören auf Ihren Atem und zählen alles<br />

auf, was positiv ist. Sie sind nicht für alles<br />

verantwortlich. Der Friedhof ist voller<br />

Menschen, die sich für unersetzbar<br />

hielten. Testen Sie einen Wein, ganz<br />

langsam und vorsichtig. Streicheln Sie<br />

ein Tier. Bleiben Sie eine halbe Stunde<br />

im Bett liegen und träumen. Schalten<br />

Sie das schlechte Gewissen aus, das<br />

klappt.<br />

ZWILLING<br />

21. Mai - 21. Juni<br />

Natürlich ist das Leben lustig. Man<br />

sollte es nicht zu ernst nehmen. Doch<br />

Einstein, Bill Gates und viele andere<br />

glückliche Menschen meinten im hohen<br />

Alter: Ich bereue nichts in meinem<br />

Leben, nur hätte ich mich mehr<br />

um meine Zähne kümmern sollen.<br />

Bei aller Nonchalance: Zahnweh bezwingt<br />

jeden Dandy. Irony is over. Es<br />

ist ja nicht so, dass Spaß und Ernst<br />

Gegensätze sein müssen. Machen<br />

Sie morgens Gymnastik und zwanzig<br />

Liegestütze. Lesen Sie „Madame Bovary“.<br />

Schalten Sie das Smartphone<br />

aus und raten, was die anderen gerade<br />

mit dem ihren machen.<br />

Eigentlich sind Sie eine pragmatische<br />

Persönlichkeit und kommen gut im Leben<br />

zurecht. Das wird erledigt und das,<br />

und zwar rechtzeitig. Doch in Ihnen<br />

stürmen die Gefühle. Sie haben viel<br />

Liebe in sich. Das ist gut, aber manchmal<br />

fühlen Sie sich zurückgestoßen.<br />

Die anderen verstehen nicht, dass Sie<br />

nur das Beste wollten. Wie? Der Depp<br />

will meine Liebe nicht? Ich will doch<br />

nur ein bisschen streicheln - kann ich<br />

was dafür, dass grade Fußball läuft?<br />

Kümmern Sie sich deshalb mal nur um<br />

sich. Kaufen Sie sich eine Hautcreme.<br />

Nehmen jemandem die Vorfahrt. Strecken<br />

einem Kind die Zunge raus.<br />

LÖWE<br />

23. Juli - 23. August<br />

Seinem Image entkommt man nur<br />

schwer. Vor allem gute Freunde bleiben<br />

dabei, Sie für beratungsresistent<br />

und herrisch zu halten. Das ist doch<br />

ungerecht. Sie haben es denen schon<br />

oft genug gesagt, aber niemand hört<br />

auf Sie. Sollen die mit ihrer repressiven<br />

Toleranz doch hingehen, wo der Pfeffer<br />

wächst. Langweilige Leute gibt es eh<br />

genug, da müssen Sie doch nicht auch<br />

noch so werden. Gründen Sie eine Sekte.<br />

Ärgern Sie Ihre Beifahrer. Erfinden<br />

Sie Zitate von Kurt Cobain oder Goethe.<br />

Gehen Sie als Erste ans Buffet. Ist<br />

der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz<br />

ungeniert. Wer angibt, hat mehr vom<br />

Leben. Mit Größenwahn fängt´s meistens<br />

an.<br />

JUNGFRAU<br />

24. August - 23. September<br />

Es gibt für Sie eine klare Trennung von<br />

Draußen und Drinnen, vom Ich und<br />

den anderen. Sie wissen selbst, dass<br />

Sie manchmal wie eine Trutzburg wirken.<br />

Das kommt von Ihrem Blick und<br />

der Körperhaltung. Da kommt man<br />

nicht so leicht raus. Die anderen, die<br />

stecken da nicht drin. Ist wie eine Ritterrüstung.<br />

Aber: You are not the only<br />

one who is lonely. Umso überraschender,<br />

wenn Sie mal sehr laut lachen.<br />

Oder, wenn Sie eher von der redelustigen<br />

Fraktion sind, mal nichts sagen.<br />

Mit gaaanz langen Pausen die andern<br />

verunsichern. Sagen Sie so oft „Das<br />

macht doch nichts“, bis die anderen<br />

sich über Sie wundern.<br />

Der Möglichkeitssinn bedeutet, stets<br />

einen Plan B im Kopf zu haben. Aber<br />

im Konjunktiv zu leben lässt einen<br />

leicht zum Träumer werden. Wachen,<br />

Schlafen, sonst nichts? Träumen,<br />

ja Träumen! heißt es irgendwo bei<br />

Shakespeare. Ist ja okay, nur irgendwann<br />

müssen die Sachen erledigt<br />

werden. Probieren Sie mal die Baby-Step-Methode:<br />

Ein kleiner Schritt<br />

nach dem anderen. Genug von Politik?<br />

Online-Petitionen bringen nichts?<br />

Stimmt. Aber irgendwo gibt es ein Feld,<br />

auf dem Sie etwas erreichen können:<br />

Mit Baby-Steps. Spenden Sie zehn<br />

Euro für die Welthungerhilfe. Lächeln<br />

Sie einen Tag armen Menschen zu. Rufen<br />

Sie eine alte Freundin an.<br />

SKORPION<br />

24. Oktober - 22. November<br />

Ich launisch? Nur weil ich weiß, was<br />

ich will? Und die andern irgendwie<br />

stumm in der Ecke verharren, auf das<br />

man ihre Gedanken lesen soll? Bin<br />

ich Jesus? Stimmt, Jesus sind Sie eher<br />

nicht. Aber mal ehrlich: Wären Sie<br />

gerne mit jemanden wie Ihnen zusammen,<br />

wenn Sie mal laut werden oder<br />

beleidigt sind? Kommen Sie besser mit<br />

ruhigen Menschen zurecht? Das heißt<br />

natürlich nicht, dass Sie launisch sind,<br />

um Gottes willen, nein. Überhaupt,<br />

was heißt hier launisch? Dafür gibt es<br />

doch viel schönere Bezeichnungen wie<br />

emotional und spontan. Schließen Sie<br />

Freundschaft mit einem Tier. Putzen<br />

Sie eine Maschine (Spülmaschine,<br />

Motorraum des Autos). Lesen Sie ein<br />

englisches Buch.<br />

SCHÜTZE<br />

23. November - 21. Dezember<br />

Lassen Sie es sich nicht zu deutlich anmerken,<br />

wenn man Sie langweilt oder<br />

jemand etwas irrsinnig Blödes sagt.<br />

Als Optimist lassen Sie gern mal ein<br />

Projekt unbeendet. Immer diese Frage:<br />

Soll man sich treu bleiben oder sich ändern?<br />

Kann man das überhaupt? Bleibt<br />

man nicht irgendwie dieselbe? Nur in<br />

Grün? Schreiben Sie alle Ihre schlechten<br />

Eigenschaften auf. Das reicht ja oft.<br />

Probieren Sie neue Lebensmittel (Kimchi,<br />

Haggis, Runkelrübe). Nehmen Sie<br />

mal einen ganz anderen Standpunkt<br />

ein, so als Neoliberale oder Katholikin,<br />

und versuchen Sie jemanden zu<br />

überzeugen, dass Sie es wirklich ernst<br />

damit meinen.<br />

Nr.13<br />

124 125<br />

Nr.13


IMPRESSUM<br />

RÄTSEL<br />

Illustration: Christina Keuter<br />

<strong>Fräulein</strong> ist eine<br />

Off One’s Rocker Ltd. Produktion<br />

mit Redaktionssitz:<br />

<strong>Fräulein</strong> Magazin<br />

Kurfürstenstraße 31-32<br />

10785 Berlin<br />

Telefon: +49 (0)30 2888 40 43<br />

Fax: +49 (0)30 2888 40 44<br />

info@fraeulein-magazin.com<br />

www.fraeulein-magazin.com<br />

Chefredakteur und Kreativdirektor<br />

V.i.S.d.P.<br />

Götz Offergeld<br />

Stellvertretender Chefredakteur<br />

Hendrik Lakeberg<br />

Ruben Donsbach<br />

Art-Direktion<br />

Andreas Kuschner<br />

Redaktion:<br />

Redaktionsleitung<br />

Anna Klusmeier<br />

International Fashion Editor<br />

Bernat Buscato<br />

Mode & Beauty<br />

Adrian Fekete<br />

Sina Braetz<br />

Revan Baysal<br />

Fashion Department New York<br />

Leo Saraniecki<br />

Schlussredaktion<br />

Eckart Eisenblätter<br />

Redaktion<br />

Lorenz Schröter, Maja Hoock, Robert Grunenberg<br />

Autoren<br />

Christian Fahrenbach, Hanno Hauenstein, Jakob<br />

Krakel, Wäis Kiani, Willy Katz,<br />

Fotografen<br />

Adam Fedderly, Elfie Semotan, Fabian Blaschke,<br />

Irina Gavrich, Jan Lessner, Jane Chardiet, Joegh<br />

Bullock, Johi von Bruises, Jonas Opperskalski,<br />

Joshua White, Hadley Hudson, Miles Michael,<br />

Mirjam Wählen, Sabine Volz, Stacey Mark, Stefan<br />

Armbruster, Tony Cox<br />

Illustratoren<br />

Brode Dalle, Christina Keuter, Elena Xausa, Katrin<br />

Funcke, Lenia Hauser, Paraskewi Palaska, Patricia<br />

Keller, Romina Rosa<br />

Styling<br />

Anais Codina, Antwyone Ingram, Maximilian<br />

Märzinger<br />

Cover:<br />

Foto: Tony Cox<br />

<strong>Fräulein</strong> Logo:<br />

André Saraiva<br />

<strong>Gaby</strong> trägt: Jumpsuit agnès b.<br />

Verlag:<br />

Off Ones Rocker Publishing Ltd.<br />

Kurfürstenstraße 31-32<br />

10785 Berlin<br />

Telefon: +49 (0)30 2888 40 43<br />

Fax: +49 (0)30 2888 40 44<br />

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Herausgeber: Götz Offergeld<br />

Verlagsleiter: Hannes von Matthey<br />

Idee und Konzept: Götz Offergeld<br />

Vertrieb<br />

BPV Medien Vertrieb GmbH & Co. KG<br />

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79618 Rheinfelden<br />

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Druckerei<br />

Dierichs Druck+Media GmbH & Co. KG<br />

Frankfurter Str. 168<br />

34121 Kassel<br />

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Anzeigenverkauf:<br />

Nielsen 1 (Hamburg, Berlin, Schleswig-Holstein,<br />

Niedersachsen)<br />

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Poelchaukamp 8, 22301 Hamburg<br />

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Großbritannien<br />

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HÄNDLERVERZEICHNIS<br />

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B<br />

Bottega Veneta<br />

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Burberry Prorsum<br />

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C<br />

Carven<br />

www.carven.com<br />

Cinque<br />

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Chanel<br />

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Chantelle<br />

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Charlotte Olympia<br />

www.charlotteolympia.com<br />

Clarins<br />

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Costume National<br />

www.costumenational.com<br />

D<br />

Diesel<br />

www.diesel.com<br />

Dior<br />

www.dior.com<br />

DKNY<br />

www.dkny.com<br />

Donna Karan<br />

www.donnakaran.com<br />

Dr. Martens<br />

www.drmartens.com<br />

E<br />

Emporio Armani<br />

www.armani.com<br />

F<br />

Fred Perry<br />

www.fredperry.com<br />

G<br />

G-Star-Raw<br />

www.g-star.com<br />

Gemma Redux<br />

www.gemmaredux.com<br />

Gucci<br />

www.gucci.com<br />

L<br />

La Perla<br />

www.laperla.de<br />

Lanvin<br />

www.lanvin.com<br />

Levi‘s Made & Crafted<br />

www.levismadeandcrafted.com<br />

Louis Vuitton<br />

www.vuitton.com<br />

M<br />

M Missoni<br />

www.m-missoni.com<br />

Maison Kitsuné<br />

www.kitsune.fr<br />

Golden Goose<br />

Manish Arora<br />

www.goldengoosedeluxebrand.com www.manisharora.com<br />

Marni<br />

www.marni.com<br />

Miu Miu<br />

www.miumiu.com<br />

Musette<br />

www.musettegroup.ro<br />

N<br />

Nike<br />

www.nike.com<br />

P<br />

Petar Petrov<br />

www.petarpetrov.com<br />

Pirmin Blum<br />

www.pirminblum.net<br />

Prada<br />

www.prada.com<br />

PRPS<br />

www.prpsjeans.com<br />

R<br />

Reebok<br />

www.reebok.com<br />

S<br />

Serge Lutens<br />

www.sergelutens.com<br />

Stine Goya<br />

www.stinegoya.com<br />

T<br />

Theory<br />

www.theory.com<br />

Tom Ford Beauty<br />

www.tomford.com<br />

Tory Burch<br />

www.toryburch.com<br />

V<br />

Versace<br />

www.versace.com<br />

W<br />

Wendy & Jim<br />

www.wendyjim.com<br />

Wolford<br />

www.wolford.com<br />

Nr.13<br />

126<br />

127<br />

Nr.13


SACHEN GIBT ES<br />

Text: Maja Hoock<br />

Illustration: Romina Rosa<br />

TIERISCHE<br />

KOMMUNIKATION<br />

Man kann nicht nicht kommunizieren. Das wusste schon der Soziologe Niklas Luhmann und gilt nicht<br />

nur für Menschen, sondern ebenso für Elefanten, Vögel, Delfine und sogar Bäume! Die Natur ist ein<br />

sagenhafter Resonanz- (und Tanz)raum. Wir müssen einfach besser hinschauen und hinhören. Ein<br />

Best-of tierischer und pflanzlicher Kommunikation, das Lust darauf machen soll, wieder aufmerksamer<br />

gegenüber der eigenen Umwelt zu werden.<br />

Manche Vögel machen so täuschend<br />

echt Handy-Klingeltöne nach, dass<br />

man keinen Unterschied mehr hört.<br />

Je mehr Handys es gibt, desto öfter<br />

klingeln die Vögel. Die großstädtischen<br />

Stare, Eichelhäher und Dohlen singen<br />

das „Quantum Bell“, „Rollin Tone“ oder<br />

„Old Telephone“ nicht nur um ihr Territorium<br />

abzustecken oder um potenzielle<br />

Partner zu beeindrucken, sondern<br />

weil es ihnen gefällt, ihre Stimmen<br />

auszureizen. Die natürliche Tonleiter<br />

deckt aber nur einfache Klingeltöne ab,<br />

Songs sind davon ausgeschlossen.<br />

Viel komplexer kann der Leierschwanz<br />

seine Umwelt imitieren. Der „Menura“<br />

genannte Vogel hat ein eigenes Repertoire<br />

und imitiert dazu jedes Geräusch,<br />

das er einmal im Leben gehört hat.<br />

Dazu gehört der Gesang anderer Vögel,<br />

das Bellen von Hunden, das Miauen<br />

von Katzen, menschliche Stimmen,<br />

Instrumente, Maschinen, Explosionen,<br />

Motorsägen, Alarme, Gewehrschüsse,<br />

Klicken von Kameraverschlüssen und<br />

alles, was sie sonst noch zu hören bekommen.<br />

Diese Gesänge gibt es mittlerweile<br />

sogar als CD und in Orchesterfassung.<br />

Bäume sprechen miteinander – zwar<br />

nicht hörbar, aber doch messbar: Sie<br />

senden Informationen mithilfe von<br />

chemischen Botenstoffen von Baum<br />

zu Baum und warnen sich gegenseitig<br />

vor Fressfeinden. So schüttet etwa die<br />

Akazie einen Stoff aus, der für Rehe<br />

unbekömmlich ist, und verbreitet die<br />

Botschaft mit dem Wind. Die Bäume<br />

in der Umgebung produzieren dann<br />

ebenfalls den Stoff. Damit können Bäume<br />

auch Regenwolken anlocken, wenn<br />

sie Wasser brauchen. Die Moleküle<br />

steigen über ihnen in die Luft und binden<br />

Wasserteilchen, die gebündelt als<br />

Regen über den Bäumen wieder herunterkommen.<br />

Angeblich sollen Messungen<br />

ergeben haben, dass die Warnungen,<br />

die Bäume ausstoßen, wenn<br />

sie gefällt werden, so extrem sind, dass<br />

sie in Ohnmacht fallen.<br />

Wale, die von Menschenhand aufgezogen<br />

werden, klingen wie Menschen. Sie<br />

imitieren ihre Pfleger und versuchen,<br />

Wörter nachzusprechen. Dazu verändern<br />

sie die Tonbildung: Die Grundfrequenzen<br />

liegen dabei zwischen 200<br />

bis 300 Hertz, sind damit der menschlichen<br />

Stimme ähnlich und liegen<br />

mehrere Oktaven unter den üblichen<br />

Lauten der Wale. Außerdem sind Wale<br />

dafür bekannt, die Gesänge ihrer Artgenossen<br />

zu imitieren und so zu regelrechte<br />

Superhits zu kreieren.<br />

Laut wie ein Elefant? Von wegen. Eigentlich<br />

kommunizieren Dumbos<br />

lautlos, singen stille Paarungsgesänge<br />

und verständigen sich über Infraschall.<br />

Diese für Menschen unhörbaren<br />

Schwingungen werden über Luft und<br />

Erde kilometerweit übertragen. Über<br />

das bekannte Tröten äußern sie sich<br />

nur im Ausnahmefall. Dafür klingen<br />

balzende Koalas wie laute Elefanten.<br />

Delfine rufen sich beim Namen. Sie<br />

reagieren auf bestimmte, festgelegte<br />

Pfeiftöne, wenn sie ein Artgenosse ruft.<br />

Jeder Delfin hat eine eigene Tonfolge.<br />

So erkennen sie sich, sprechen sich an<br />

und wissen, wann sie wohin kommen<br />

sollen.<br />

Bienen drücken sich durch Tanzen<br />

aus. Durch die Art, wie sie im Kreis<br />

schwänzeln, sagen sie deutlich, wo sie<br />

was gefunden haben, wie es schmeckt<br />

und ob es sich lohnt, dahin zu fliegen.<br />

Je intensiver sie tanzen, desto besser<br />

ist der Fund. Twerking deutet auf eine<br />

Blumenwiese hin. Kein Witz.<br />

Nr.13


Nr.13<br />

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