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<strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong><br />
Unser <strong>Fräulein</strong> <strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong> ist<br />
witzig, schlau und dabei wahnsinnig<br />
ehrlich. Auch darum legt die amerikanische<br />
Schauspielerin und Tochter von<br />
Andy Warhols Superstar Viva großen<br />
Wert auf die Privatsphäre. Die Bilder<br />
auf diesen ersten, persönlichen Seiten<br />
sind vor allem Snapshots von ihrer<br />
Kunstsammlung.<br />
Nr.13<br />
1<br />
Nr.13
MAXMARA.COM
Nr.13<br />
9<br />
Nr.13
EDITORIAL<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
von allen Wetterumschwüngen ist der anbrechende Frühling<br />
der unmittelbarste und intensivste. Wenn die ersten<br />
wärmenden Sonnenstrahlen die Menschen auf die Straße<br />
locken, die Pollen die Sinne benebeln, einem überall küssende<br />
Paare im Weg herumstehen und ganz verliebt tun,<br />
dann regt sich etwas in uns. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit<br />
und Euphorie kommt auf.<br />
Das beeinflusst sicher die „Temperatur“ und Stimmung<br />
in unserer Redaktion, die auch im neuen Jahr wieder Zuwachs<br />
bekommmen hat durch junge, hungrige Kollegen.<br />
Ihre Ideen und Fragen haben uns bewegt und Spuren in<br />
der <strong>Fräulein</strong> hinterlassen. Vielleicht ist das neue Heft ein<br />
wenig ernster als die vorherigen geworden, so beginnt das<br />
Interview mit unserem Titelfräulein <strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong>, einer<br />
der spannensten Independent Schauspielerinnen der USA<br />
und Tochter von Andy Warhols Superstar Viva, mit ihrer<br />
Wut auf die politische Kultur in den USA. Der Autor Etgar<br />
Keret sorgt sich um seinen kleinen Sohn, der mitten<br />
im Nahostkonflikt aufwächst und die Anti-Atomkraft-Aktivistin<br />
Helen Caldicott gibt sich frustriert über die Lage<br />
in Fukushima.<br />
Der anbrechende Jahreszeit hat eben zwei Gesichter. Im<br />
Frühlingserwachen lauert immer etwas negatives, zerstörerisches.<br />
Wettgemacht wird dies nur von der rauschhaften<br />
Wiedergeburt der Natur, die uns selbst ein kurzes<br />
Gefühl der Unsterblichkeit schenkt.<br />
Also keine Sorge, <strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong> entflieht zum Ende unseres<br />
Gesprächs in die Wälder „upstate“ New York, um<br />
dort mit „verdammt gut aussehenden Waschbären“ zu Oris<br />
Redding zu tanzen und Helen Caldicott ruft alle Leserinnen<br />
auf zur Revolte!<br />
Wieder in der <strong>Fräulein</strong> zu finden sind außerdem das<br />
Schnittmuster, diesmal von Tory Burch, Modestrecken<br />
und Must-Haves, eine Tagesreise in die kommende<br />
Kunst-Hauptstadt Detroit und ein tiefer Blick in die Sterne,<br />
der diesmal Formidables verspricht.<br />
Am wichtigsten ist mir hier zu sagen, dass die <strong>Fräulein</strong><br />
einmal mehr mit Leidenschaft und Liebe geschrieben, fotografiert<br />
und gelayoutet worden ist. Uns geht es um die<br />
persönlichen Geschichten abseits der allzeitigen Aufregungsökonomien,<br />
wir wollen jene Stimmen zu Wort kommen<br />
lassen, die vielleicht nicht die lautesten sind, unserer<br />
Meinung nach aber relevantes zu erzählen haben.<br />
Genießen sie nun den Frühling, nehmen Sie die <strong>Fräulein</strong><br />
mit nach draußen in den Park oder die Natur und erzählen<br />
sie von uns, ob den Freunden, der Familie oder den Kollegen,<br />
denn nur mit Ihnen, den Leserinnen und Lesern, hat<br />
unabhängiger Magazinjournalismus eine Zukunft.<br />
Ihr Götz Offergeld<br />
P.S. Neben den Lesern möchte ich nicht vergessen, mich<br />
bei all den hervorragenden Fotografen, Illustratoren und<br />
Schreibern herzlich zu bedanken, ohne die das <strong>Fräulein</strong><br />
Magazin nicht wäre was es ist. Insbesondere aber möchte<br />
ich mich bei einem Menschen bedanken, der mich in letzer<br />
Zeit sehr inspiriert hat, nicht nur durch sein Talent, sondern<br />
vor allen Dingen durch seine menschliche Größe und<br />
seinen unwiderstehlichen Charme. Vielen Dank André für<br />
den neuen <strong>Fräulein</strong> Schriftzug.<br />
Nr.13<br />
11
MAISON KITSUNÈ<br />
PARIS • NEW YORK • TOKYO<br />
www.kitsune.fr
Illustration: Elena Xausa — www.ex-designer.it<br />
GABY HOFFMANN<br />
...ist echter New Yorker „Downtown Adel“ und eine der<br />
aufregensten Schauspielerinnen ihrer Generation.<br />
S.66<br />
HELEN CALDICOTT<br />
Aktivistin gegen den Atomaren Holocaust.<br />
PHARMAKON<br />
<strong>Fräulein</strong>s höllisches Talent macht keine Gefangenen.<br />
S.18<br />
POSTMIGRANTISCHE<br />
REVOLTE<br />
Shermin Langhoff bricht am Gorki-Theater mit der Tradition.<br />
S.98<br />
SCHNITTMUSTER<br />
Tory Burch schickte uns das Schnittmuster für ein<br />
elegantes und frühlingshaftes Leinen-Kleid.<br />
S.60<br />
90‘S RIOT<br />
Jutha Köther und Kim Gordon über ein Leben nach der<br />
Digitalen Revolution.<br />
S.46<br />
DARKTECH<br />
Fuck Pop, hier kommt die echte Subkultur.<br />
S.100<br />
S.110<br />
FRAUEN IN DER MAFIA<br />
<strong>Fräulein</strong>s Netzwerkkarte portraitiert die harten Bräute der Cosa Nostra.<br />
S.26<br />
NARZISS 3.0<br />
Der Hype ums Selfie nervt. Selbstbespiegelungen gibt es<br />
seit Anbeginn der Kultur. Hier geht es um das Selbstportrait<br />
heute und so Mythen wie „Narziss „und „Spieglein<br />
Spieglein an der Wand“.<br />
S.22<br />
Nr.13<br />
14 15<br />
Nr.13
CONTRIBUTORS<br />
JOHI VON BRUISES<br />
Schweiß, Sex und schwarze Tränen:<br />
die Bilder der Darktech-Szene von Johi<br />
von Bruises dampfen vor lauter Street<br />
Credibility.<br />
KATRIN FUNCKE<br />
Die Illustration von Katrin für das<br />
Antifräulein oszilliert wie immer großartig<br />
zwischen DaDa und Pop.<br />
ROMINA ROSA<br />
So realistisch wie verspielt, sind Rosas Zeichnungen<br />
für unsere Rubrik „Sachen gibt’s“ ein<br />
toller Anschluss zur <strong>Fräulein</strong>.<br />
MIRJAM WÄHLEN<br />
Shermin Langhoff war ganz begeistert, als sie erfuhr,<br />
dass Mirjam sie für unsere Rubrik „Der Körper“<br />
fotografieren würde. Zurecht!<br />
CHRISTIAN FAHRENBACH<br />
Die Damen waren hart drauf, aber Christian<br />
stellte Kim Gordon und Jutta Koether in<br />
New York die richtigen Fragen.<br />
HANNO HAUENSTEIN<br />
In Tel Aviv traf Hanno den Autoren Etgar<br />
Keret für ein so nachdenkliches wie<br />
lustiges Gespräch über das Fremdgehen<br />
und „beschissene Literatur“.<br />
SABINE VOLZ<br />
Ihr Foto zum Rezept definiert den selbstgemachten,<br />
persönlichen <strong>Fräulein</strong>-Ton.<br />
JAKOB KRAKEL<br />
So einen pedantischen Grübler wie<br />
Jakob Krakel zur Einhaltung der<br />
Deadline zu zwingen, ist schwer. Sein<br />
Interview mit Helen Caldicott kam<br />
kurz vor Zwölf.<br />
WÄIS KIANI<br />
Antifräulein ist immer ein echter<br />
Aufreger im <strong>Fräulein</strong>kosmos. Diesmal<br />
geht es Cara Delevigne an den Kragen.<br />
FABIAN BLASCHKE<br />
In der Staatsoper traf Fabian die Sängerin<br />
Anna Prohaska und portraitierte sie<br />
für unseren „Durchbruch“.<br />
LENIA HAUSER<br />
hat die schöne und persönliche<br />
Illustration zu unserem Rezept<br />
gezeichnet.<br />
PARASKEWI PALASKA<br />
Paraskewis Illustration für das Horoskop<br />
gibt dem Spährenklang der Sterne<br />
die notwendige „edginess“.<br />
MAXIMILIAN MÄRZINGER<br />
Großen Dank für sein Styling der Candy<br />
Boy und Shadowplay Modestrecke,<br />
sieht gut aus!<br />
JAN PHILIPP LESSNER<br />
hat keine Mühen gescheut um sein Model,<br />
eine süße aber etwas moppelige Biene, in<br />
Szene zu setzen.<br />
NORA LUTHER<br />
ist <strong>Fräulein</strong>s gestalterische<br />
Allzweckwaffe.<br />
IRINA GAVRICH<br />
So cool und kontrolliert Irinas Fotografien<br />
auch sein mögen, sie haben<br />
den Soul in sich.<br />
Nr.13<br />
16<br />
STEFAN ARMBRUSTER<br />
Ohne eine Modestrecke von Stefan<br />
Armbruster läuft in der <strong>Fräulein</strong> wenig.<br />
Sein Candy-Boy ist Zucker für<br />
euch Ladys da draußen!<br />
ELENA XAUSAS<br />
italienisches Herz lodert im <strong>Fräulein</strong>-Inhaltsverzeichnis<br />
hell auf.<br />
CRISTINA KEUTER<br />
Ihre Illustrationen für <strong>Fräulein</strong> sind<br />
so rätselhaft wie super chic.
TALENT<br />
Text: Sina Braetz<br />
rebecca<br />
minkoff<br />
IHRE MUTTER KAUFTE IHR<br />
EINE NÄHMASCHINE UND<br />
MOTIVIERTE SIE, IHREN<br />
TRAUM ZU LEBEN. BIS<br />
REBECCA MINKOFF IHREN<br />
PLATZ FAND, DAUERTE ES<br />
ALLERDINGS.<br />
Rebecca Minkoff ist eine toughe,<br />
zielstrebige Businessfrau und gleichzeitig<br />
eine liebevolle, junge Mutter. In<br />
New York wird sie schon seit Längerem<br />
gehypt, nicht nur wegen ihrer<br />
Mode, sondern besonders, weil die<br />
junge Designerin die Geschichte eines<br />
beeindruckenden Familienzusammenhalts<br />
erzählt. Was klein angefangen<br />
hat, ist heute ein florierendes Unternehmen:<br />
Das Haus Minkoff zählt<br />
900 Verkaufsstellen weltweit, designt<br />
eine Jeans- und Ready-to-wear-Linie,<br />
seit Kurzem auch für Männer, Accessoires<br />
und Schuhe.<br />
Minkoff war 18 Jahre alt, als sie allein<br />
nach New York zog und versuchte,<br />
ihre eigene Firma auf die Beine zu<br />
stellen. Dann, als die gebürtige Kalifornierin<br />
kurz davor war aufzugeben,<br />
stieg ihr Bruder ein ins Business und<br />
wurde CEO. Heute ist Minkoff eine<br />
der vier größten Handtaschendesignerinnen<br />
in den USA. Es sind starke<br />
Frauen, die Minkoff inspirieren, wie<br />
beispielsweise Soldad Gompf von<br />
der Non-Profit Organisation „Foundation<br />
for International Community<br />
Assistance“ (FINCA), die finanziell<br />
schwache Unternehmen unterstützt<br />
und in der auch Minkoff aktiv ist. Die<br />
„American Apparel & Footwear Association“<br />
zeichnete das junge Talent<br />
vor zwei Jahren als Designerin des<br />
Jahres aus, der „Accessoires Council“<br />
verlieh ihr den „Breakthrough Design<br />
Award“.<br />
Info: Rebecca Minkoff ist ein Accessoireund<br />
Ready-to-wear Label mit Sitz in<br />
New York. Eine eigene Interpretation der<br />
„I love New York“-T-Shirts brachten ihr<br />
2001 den Durchbruch.<br />
Nr.13<br />
18
TALENT<br />
Text: Maja Hoock<br />
Foto: Jane Chardiet<br />
pharmakon<br />
PHARMAKON MACHT<br />
NOISE-MUSIK, DIE VON<br />
GANZ WEIT UNTEN<br />
ZU KOMMEN SCHEINT,<br />
UND DENJENIGEN, DER<br />
SICH IHR HINGIBT, WIE<br />
NEUGEBOREN UND<br />
GEREINIGT ZURÜCK-<br />
LÄSST.<br />
Alleine ihr Name deutet auf etwas<br />
hin, das wehtut – Pharmakon bedeutet<br />
Medizin, aber auch Gift und so klingt<br />
auch die Musik der 22-jährigen New<br />
Yorkerin Margaret Chardiet: Sie schreit,<br />
bearbeitet Metall und schlägt mit einem<br />
Holzbrett auf den Boden. Es entsteht ein<br />
musikalischer Schock, Noise-Musik, die<br />
von irgendwo ganz weit unten herrührt.<br />
Diese wird, wenn man sich überwindet<br />
und hingibt, zur Reinigung, da man alles<br />
Dunkle und Brutale durchlebt und von<br />
Gänsehaut geschüttelt wird, um wie neu<br />
geboren aus ihrem Konzert zu kommen.<br />
Dass diese Musik von einer zarten, blonden<br />
Frau kommt, bildet dabei einen wunderbaren<br />
Kontrast, denn für gewöhnlich<br />
dominieren Männer die Szene. Nach ihrem<br />
ersten Album „Abandon“ (Hingabe)<br />
tourte Pharmakon durch die Welt und<br />
löste auch abseits der Noise-Welt Begeisterung<br />
aus.<br />
Am 25. Mai spielt Pharmakon<br />
im „Vera“ in Groningen, NL.<br />
Nr.13<br />
20 21<br />
Nr.13
THEMA<br />
Text: Robert Grunenberg<br />
selfie<br />
Interview: Jakob Krakel<br />
Foto: Elfie Semotan<br />
ELFIE<br />
DAS SELFIE IST IN<br />
ALLER MUNDE. DABEI<br />
IST DER DRANG,<br />
SICH ÜBER BILDER<br />
ZU DEFINIEREN<br />
UND MIT ANDEREN<br />
ZU VERGLEICHEN,<br />
KEIN PHÄNOMEN<br />
DER DIGITALEN<br />
MODERNE ALLEIN.<br />
AM ANFANG DIESER<br />
KULTURGESCHICHTE<br />
STEHT NARZISS.<br />
Immer wieder werden über die medialen<br />
Kanäle überspitzte Behauptungen<br />
zur vermeintlichen Volkskrankheit<br />
Narzissmus in die Welt entlassen: Wir<br />
würden in einer Ellenbogen-Gesellschaft<br />
voller Egoisten leben, soziale Interaktion<br />
– das berühmte Socializen –<br />
diene nur den eigenen Vorteilen, dann<br />
heißt es, unsere Zeitkultur begünstige<br />
sogar die Ausbildung narzisstischer<br />
Verhaltensformen und letztlich narzisstischer<br />
Neurosen. Es klingt, als sei<br />
Narzissmus die Epidemie einer ganzen<br />
Generation. Doch so ganz haut das<br />
nicht hin. Denn die Ausbildung einer<br />
narzisstischen Störung im klinischen<br />
Sinne ist weit komplexer und betrifft<br />
tatsächlich nur einen kleinen Prozentsatz<br />
der Bevölkerung. Was sich im<br />
Alltag als narzisstisch darstellt, ist vielmehr<br />
ein übersteigertes Streben nach<br />
Anerkennung: ein Wille zur totalen<br />
Selbstoptimierung. Doch der Wunsch<br />
perfekt zu sein, fördert keine Individualität,<br />
sondern führt im Gegenteil<br />
dazu, dass die Menschen sich immer<br />
ähnlicher werden. Der Frankfurter Sozialpsychologe<br />
Erich Fromm schrieb<br />
in seinem Buch „Authentisch leben“,<br />
dass mit dem Beginn der westlichen<br />
Wohlstandsgesellschaft ein Drang<br />
nach Konformität und permanenter<br />
Selbstverbesserung entstand. Gefühle<br />
wie Zweifel, Leere oder Unsicherheit<br />
würden einfach wegoptimiert oder<br />
durch kulturelle Opiate zerstreut. Das<br />
war zu Zeiten Erich Fromms bereits<br />
so, gilt in der heutigen paradoxen Konsumkultur<br />
aber umso mehr. Auf der<br />
einen Seite gibt es ausgeklügelte Serviceangebote<br />
wie „Quantified Self Apps“,<br />
die jeden Lebensreich datenmäßig<br />
erfassen, um ihn zu optimieren. Auf<br />
der anderen Seite gibt es Opiate fürs<br />
Volk, die unsere inneren Widersprüche<br />
vermeintlich ausschalten: Alkohol,<br />
Drogen, Zucker, Porno, Fernsehen und<br />
natürlich Angebote im Internet. Das<br />
führt zu Entfremdung, zu einem Loch<br />
im Selbstgefühl. Das Ergebnis und<br />
vermeintlicher Ausweg zugleich ist<br />
eine verzerrte Selbstbespiegelung. Das<br />
Bild, das entsteht, kommt nicht von<br />
innen heraus, sondern ist ein um die<br />
Ecke gedachtes Außenbild. Selbstwert<br />
wird über Selbstvermarktung erzeugt<br />
und Vermarktung denkt immer den<br />
Wunsch der anderen mit. So wird das<br />
Dasein zu einer Art Ware, das Umfeld<br />
und deren Nachfrage wird zum Wertemesser.<br />
Die Selbstbespiegelung in<br />
und durch die Massenmedien ist die<br />
logische Konsequenz. Die Schaffung<br />
sozialer Avatare auf Plattformen wie<br />
Instagram und Facebook dient schließlich<br />
der Aufmerksamkeit anderer Menschen,<br />
womit Selbstwertgefühle von<br />
außen befriedigt werden. Doch mehr<br />
als das: Mit unseren Profilen in sozialen<br />
Netzwerken setzen wir uns selbst<br />
ein Denkmal, ein idealer Abguss, ein<br />
Götzenbild, von dem, was wir eigentlich<br />
nur teilweise sind. Widersprüche,<br />
Zweifel, Schwäche und Zufall – keine<br />
Chance. Unsere Avatare aus Selfies,<br />
kuratierten Profilinformationen und<br />
obligatorischen Humblebrags sind bis<br />
ins letzte Detail kalkuliert und damit<br />
weit davon entfernt echt zu sein. Die<br />
Kreativität und Energie, die dafür aufgebracht<br />
werden, sind enorm. Allein 70<br />
Millionen Selfies werden jeden Monat<br />
bei Instagram geposted. Viel Energie<br />
für viel Ablenkung, mit der es sich erübrigt,<br />
sich seiner selbst bewusst zu<br />
werden. Man lebt seine eigene Illusion.<br />
Transzendiert seine Komplexität in<br />
eine eindimensionale und völlig beschönigte<br />
Selbstbespiegelung. Diese<br />
Überhöhung des Ichs findet sich über<br />
alle Zeiten und ist nicht nur ein Phänomen<br />
unserer Gegenwart. Zu einem<br />
gewissen Grad ist sie sogar natürlich:<br />
Denn um sich selbst zu erkennen, muss<br />
der Mensch sich ein Bild von sich selbst<br />
machen. Kulturelle Ausdrucksformen<br />
dieser Selbstbilder, die jedoch über das<br />
Ziel hinaus schossen, gab es schon immer:<br />
Sei es die Selbstvergewisserung<br />
der eigenen Schönheit, wie sie die Königin<br />
in „Schneewittchen“ mit ihrem<br />
„Spieglein, Spieglein“ befragt oder der<br />
bildhübsche Dorian Gray, der für seine<br />
jugendhafte Makellosigkeit sein Altern<br />
in einem Selbstbildnis auslagert. Am<br />
Anfang dieser Kulturgeschichte steht<br />
Narziss selbst, eine mythologische Figur<br />
Ovids, der sich in einem Tümpel in<br />
sein eigenes Spiegelbild verliebt und<br />
davor verschmachtet bis zum Tod. Im<br />
Selfie der digitalen Bildwelten stecken<br />
viele dieser Mechanismen. Wir verleihen<br />
unseren Abbildern eine Aura,<br />
warten darauf, dass diese geschönten<br />
Selbstbilder viele Likes und Kommentare<br />
kassieren, schließlich will man<br />
nicht untergehen in den vierstelligen<br />
Freundeslisten bei Facebook und abertausenden<br />
Followern auf Instagram.<br />
Die Frage, die sich immer wieder stellt:<br />
Begünstigten unsere Zeit, die Smartphones<br />
und sozialen Netzwerke dieser<br />
Welt wirklich eine kollektive Neurose,<br />
eine narzisstische Akzentuierung unserer<br />
Persönlichkeit? Schwierig. Wahrscheinlich<br />
ist ein verzerrtes Selbstbild<br />
nichts Neuartiges, auch nicht in seiner<br />
gegenwärtigen Dimension. Wir sind<br />
also nicht alle Narzissten, vielleicht<br />
einfach nur ein bisschen am Staunen<br />
über die Möglichkeiten der DIY-Selbstinszenierungen.<br />
Wirklich neu hingegen<br />
ist die Zugänglichkeit zu diesen<br />
Selbstbildern. Denn die sozialen<br />
Medien bieten zum ersten Mal eine<br />
demokratische, systemisch verankerte<br />
Plattform, um diese inszenierten Bilder<br />
unserer selbst zu visualisieren und zu<br />
verbreiten.<br />
ELFIE SEMOTAN ARBEITET SCHON<br />
SEIT JAHRZEHNTEN ERFOLGREICH ALS<br />
MODE- UND MAGAZINFOTOGRAFIN.<br />
NEBEN KOOPERATIONEN MIT<br />
MARTIN KIPPENBERGER UND HELMUT<br />
LANG VERÖFFENTLICHTE SIE IN DER<br />
„VOGUE“,DER „ELLE“ UND DEM „NEW<br />
YORKER“. ZUM THEMA SELFIE<br />
SCHICKTE SIE UNS EIN STILLLELEBEN<br />
MIT CHRYSANTHEMEN.<br />
<strong>Fräulein</strong>: Frau Semotan, als wir<br />
Sie um einen Beitrag zum Thema<br />
Selfie gebeten haben, schickten sie<br />
uns ein Stillleben. Was ist darauf<br />
zu sehen?<br />
Elfie Semotan: Das Bild habe ich erst<br />
vor Kurzem aufgenommen. Sie sehen<br />
darauf nichts Besonderes. Es sind zwei<br />
Chrysanthemen und ein Schaffell. Ich<br />
mag die Lichtstimmung und die ungewöhnliche<br />
Kombination der Elemente.<br />
Was sagt dieses Bild über Sie persönlich<br />
und als Fotografin aus?<br />
So genau möchte ich das gar nicht erklären.<br />
Da würde mir wohl jeder erfahrene<br />
Psychiater sofort widersprechen<br />
(lacht).<br />
Es gibt mittlerweile einen wahnsinnigen<br />
Überschuss an Bildern,<br />
insbesondere an Selbstportraits.<br />
Ja.<br />
Ist Ihr stilles (Selbst-)Bild hierzu<br />
als Antithese zu verstehen?<br />
Auch. Einerseits gibt es in diesem ganzen<br />
Irrsinn der sich ununterbrochen<br />
selbst fotografierenden Menschen immer<br />
wieder mal ein paar bemerkenswerte<br />
Fotos. Andererseits kommt es in<br />
der Fotografie wie in jeder sinnvollen<br />
Arbeit auf Kontinuität an, auf eine klare<br />
Vorstellung davon, was man denn<br />
eigentlich ausdrücken möchte.<br />
Was macht ein gelungenes Selbstportrait<br />
aus?<br />
Da gibt es natürlich unheimlich viele<br />
Zugänge. Aber es muss eine Wichtigkeit<br />
und Bedeutung für einen selbst in<br />
der Arbeit, im Fotografieren, im Bild<br />
liegen. Das zu bewerten ist aber sehr<br />
schwer. Ich saß einmal in der Jury eines<br />
Fotowettbewerbs, in der immer<br />
nur die sichere Nummer ausgewählt<br />
wurde. Doch es gab auch diese Bilder<br />
von einem jungen Mädchen, das<br />
sich selbst mit wenig Licht in einem<br />
kleinen Raum fotografiert hatte. Diese<br />
Bilder waren ... ungewöhnlich. Man<br />
hat mitbekommen, dass es für dieses<br />
Mädchen wichtig war, diese Bilder in<br />
diesem Moment zu machen. Es muss<br />
nicht immer alles neu sein, aber ein<br />
Funken Unbekanntes, der muss schon<br />
mitschwingen.<br />
Können Sie verstehen, dass sich<br />
grade junge Menschen ständig<br />
selbst fotografieren, weil sie Angst<br />
haben, in der digitalen Moderne<br />
ansonsten einfach unterzugehen?<br />
Man kann das sicher so sehen. Man<br />
will sich bestätigen, das Erlebte und<br />
Gesehene kommentieren, anderen<br />
zeigen, dass man überhaupt noch existiert.<br />
Darin liegt aber auch ein gewisser<br />
Narzissmus. So bleibt nur das Äußere,<br />
das Shopping und die Kleider.<br />
Sie haben vor diesem Gespräch<br />
gesagt, dass Sie die Diskussion um<br />
das Phänomen Selfie eigentlich<br />
langweilt, haben aber selbst in Ihrer<br />
langen Karriere immer wieder<br />
Selbstportraits fotografiert. Was<br />
wollten Sie damit herausfinden?<br />
Das ist ein unheimliches Gemisch von<br />
Dingen. Anfänglich ging es um die<br />
Selbstverortung, auch als Frau, in meiner<br />
künstlerischen wie sozialen Umgebung.<br />
Aber es geht wohl grundsätzlich<br />
um das Einnehmen, Festlegen und Sichtbarmachen<br />
einer Position.<br />
Nr.13<br />
22<br />
23<br />
Nr.13
DURCHBRUCH<br />
Text: Willy Katz<br />
Foto: Fabian Blaschke<br />
SIRÈNE<br />
ANNA PROHASKA IST EINE AUFREGENDE, JUNGE OPERN-SÄNGERIN UND EIN LIEBLING DER SZENE. GRUND GENUG<br />
FÜR FRÄULEIN NACHZUFRAGEN, WAS MOZART MIT RAMMSTEIN UND DEM ERSTEN WELTKRIEG ZU TUN HAT UND<br />
WARUM DAS HIRN MEISTENS SCHNELLER SCHALTET ALS DIE STIMME.<br />
Morgens um zehn ist noch nicht viel<br />
los in Sarah Wieners schönem weitläufigen<br />
Café im Hamburger Bahnhof. Eine<br />
Etage höher im gegenüberliegenden<br />
Flügel des Museums für moderne Kunst<br />
liegt Joseph Beuys, außen erstrecken sich<br />
die Reste des Berliner Niemandslandes.<br />
Anna Prohaska ist schon da. Erster Eindruck<br />
nach der Begrüßung und ein paar<br />
Kennenlernfloskeln, da scheint mehr<br />
Grunge als gedacht in der immer leicht<br />
nervösen Hochkultur zu schlummern.<br />
Einen Café, dann geht’s los.<br />
- „Du hast dieses Label weg, junger, schöner<br />
Klassikstar, der auch noch Rammstein<br />
hört. Das nervt doch bestimmt.“<br />
- „Gar nicht! Ich rede gerne über Rammstein.<br />
Das kommt doch eigentlich aus der<br />
linken, ostdeutschen Punkecke. Rammstein<br />
ist total skurril, fast schon Varieté.<br />
Die Tragödie braucht immer auch Humor<br />
...“<br />
... sagt Anna Prohaska lässig, die schon<br />
mit 23 Jahren an die Staatsoper kam<br />
und mit eigentlich allen Wichtigen, mit<br />
Claudio Abbado, Daniel Barenboim, Pierre<br />
Boulez, Simon Rattle UND Christoph<br />
Schlingensief gearbeitet, die 2012 den<br />
Echo als beste Nachwuchskünstlerin<br />
für ihr Soloalbum „Sirène“ bekommen<br />
hat. Die schwarzen Haare sind zurückgebunden,<br />
die Gesichtsfarbe geht im Januarlicht<br />
über ins elfenbeinerne. Derweil<br />
kurze Verschwisterung: Ihre Mutter ist<br />
nordenglisch, so wie die der Pressedame,<br />
die daneben sitzt, so wie die Mutter des<br />
Autors. Und die Beatles? Das waren doch<br />
die „Schuberts der Popmusik“. Guter<br />
Vergleich, weil es stimmt!<br />
- „Als Kind und Jugendliche, hast du da<br />
gegen dein Umfeld, deine singenden und<br />
Musik unterrichtenden Eltern rebelliert?“<br />
- „Ich war schon Außenseiter, aber eher<br />
in der Schule, habe Alte Musik und<br />
Oper gehört, mich erst später in die<br />
Heavy-Metal-Ecke geflüchtet. Das war<br />
episch, emotional, dramatisch, nicht Pop,<br />
aber so bombastisch wie Wagner.“<br />
Was hasst sie? Das Label „bildungsbürgerlich“.<br />
Ist sie natürlich trotzdem. Aber<br />
man verzeiht das. Wer so emphatisch unprätentiös<br />
über klassische Musik spricht,<br />
wer sagt „ich bin ein wenig crazy“ und<br />
über so was Blödes selbst lachen muss,<br />
wer die eigenen Ängste zugibt, aber letztendlich<br />
immer cool bleibt, wer glaubhaft<br />
sagen kann: „Ich bin mit U-3000 auf<br />
MTV aufgewachsen“ und erzählt, dass<br />
Schlingensief auf Proben zwar ab und an<br />
rumgeschrien habe, es aber immer nur<br />
als „die Verarschung eines Regisseurs,<br />
der das so machen würde“ gemeint war,<br />
dem ist man natürlich wohlgesonnen.<br />
Schlingensief hat Anna Prohaska einmal<br />
spontan bei einer Liveperformance<br />
gesagt: „Geh raus und sing die Mathäus-Passion“.<br />
Und dann wäre auf einmal<br />
die Angst weggewesen: „Du hast durch<br />
Christoph den Respekt verloren vor der<br />
Bühnensituation. Sonst sitzt da das Publikum<br />
und du bist das Opferlamm, was in<br />
der Arena geschlachtet wird. Er gab dir<br />
Mut.“<br />
Letztes Jahr hat sie den Abend „Behind<br />
the Lines“ mit Liedern über Soldaten<br />
„METAL IST SO<br />
EMOTIONAL UND<br />
BOMBASTISCH<br />
WIE WAGNER“<br />
gesungen. Der Erste Weltkrieg, das sei<br />
die erste moderne Materialschlacht gewesen.<br />
Stichwörter: Panzer, Flugzeuge,<br />
Schützengräben, Menschen als Kanonenfutter.<br />
Wie Menschenleben verbraucht<br />
und weggeschmissen wurden.<br />
Um das zu verstehen, sang sie Georg Trakls<br />
Gedicht „Der Untergang“. Trakl, der<br />
kurz nachdem er diese Zeilen geschrieben<br />
hat, halb wahnsinnig verendet ist in<br />
einem Lazarett in Galizien. Dann Brecht /<br />
Eisler-Lieder aus dem 30-jährigen Krieg.<br />
So wird Singen zum Erforschen nicht<br />
nur von Klang-, auch von Zeiträumen.<br />
Für Anna Prohaska geht es um Intensitäten,<br />
um historische Konstellationen:<br />
Wagner, Weltkrieg 1, Rammstein, da<br />
führt die Spur entlang.<br />
Und sie mag Kino, erzählt von Jim Jarmuschs<br />
Vampirfilm „Only Lovers Left<br />
Alive“, von Nickcaveartigem, Renaissance-Motiven,<br />
Schubert, Byron, alten<br />
sowjetischen Röhrenfernsehern. So wie<br />
bei Jarmusch, so abseitig fühle sie sich<br />
manchmal. Und dass der alles in den<br />
Beschleuniger schmeißt und klar wird,<br />
Schubert, Beatles, Motown, Black-Metal,<br />
irgendwie alles aus derselben dionysischen<br />
Quelle. Und alles hier und jetzt.<br />
Weil: Jede mögliche Melodiekombination<br />
hat der Pop schon produziert und für den<br />
Rest gab es Frank Zappa und Musik ist<br />
trotzdem toll. Aber auch die Klassik, das<br />
war Pop, die ist nicht tot, die riecht auch<br />
nicht komisch, früher hat man Mozart<br />
auf der Straße gepfiffen. D’accord zu all<br />
dem. Sie bekommt jetzt ihren zweiten<br />
Earl Grey serviert, noch immer ist es<br />
früh, noch immer sitzen wenige Gäste<br />
im Café. Wir sprechen über Rituale am<br />
Morgen, das notwendige Schonen der<br />
Stimme, über großen Diven, von deren<br />
Allüren hält sie wenig.<br />
Manchmal führt Prohaska stattdessen<br />
schizophrene Zwiesprachen mit der eigenen<br />
Stimme, lobt bald ihr Gehirn, das<br />
oft schneller ist als die Gesangsmuskeln,<br />
freut sich über Adrenalinschübe, mit denen<br />
man die c-Moll-Messe von Mozart in<br />
Salzburg überlebt, auch wenn man sich<br />
in die Hose macht vor Ehrfurcht, findet,<br />
dass auch hässliche Stimmen schön<br />
sein können und der Gesang von Anna<br />
Netrebko nach Schokolade und Rotwein<br />
schmeckt.<br />
Auf der Bühne der Staatsoper ist sie<br />
grade in „Le vin herbé“ zu sehen, zwölf<br />
Sänger, sieben Streicher, ein Klavier, „armes<br />
Theater“, sagt sie. Theater aber mit<br />
Wucht, ohne Schnörkel, mit einfachen<br />
Mitteln. Die Geschichte, das sei eigentlich<br />
„Tristan und Isolde“, „aber aus französischer<br />
Sicht und ein wenig anti-deutsch“.<br />
Man kann auch sagen: Punk.<br />
Für den klassisch ungebildeten Autor, der<br />
sich immer doch bereitwillig vom Schönen,<br />
von ein wenig Erhabenheit ohne<br />
Feierlichkeit verführen lässt, für den ist<br />
ein solches Theater auch ein Geschenk.<br />
Und das postmoderne Pop-Prekariat<br />
der <strong>Fräulein</strong>-Leserschaft jetzt mal die<br />
Ohren gespitzt: Schaut euch die Anna<br />
Prohaska an, wie sie da auf der Bühne<br />
der Staatsoper spät-modernistisch leidet<br />
und durchsichtig schaut und so schön<br />
singt. Es ist ein Fest.<br />
Nr.13<br />
24 25<br />
Nr.13
NETZWERK<br />
Text: Robert Grunenberg<br />
Illustration: Patricia Keller<br />
Rosetta Cutolo (*1937)<br />
Camorra<br />
Spitzname: Eisauge<br />
Info: Sie ist die Schwester des notorischen<br />
Camorra-Bosses Raffaele Cutolo, Anführer<br />
der Nuova Camorra Organizzata. Bekannt<br />
dafür, dass sie aus dem Off operierte, entgingen<br />
der Polizei ihre tatsächlichen Aktivitäten.<br />
So half sie zum Beispiel ihrem Bruder bei der<br />
Flucht aus einem Gefängniskrankenhaus.<br />
Sie selbst war bis 1993 auf der Flucht, dann<br />
bis 1999 im Gefängnis. Rosetta statuierte<br />
mit ihrer eiskalten Professionalität ein erstes<br />
Beispiel für eine neue Frauenrolle in der<br />
Mafia.<br />
Erminia Giuliano (*1955)<br />
Camorra, Giuliano-Clan<br />
Spitzname: „Celeste“, die Himmlische, wegen<br />
ihrer blauen Augen.<br />
Info: Leitete bis zur ihrer Verhaftung im Jahr<br />
2000 den Guiliano-Clan. Sie gilt als extrem<br />
aggressiv; erdolchte eine andere Mafiafrau<br />
und fuhr aus Wut einen Wagen in den<br />
Einkaufsladen eines gegnerischen Clans.<br />
Als Erminia nach zehn Monaten Flucht in<br />
einem Geheimzimmer im Haus ihrer Tochter<br />
entdeckt und verhaftet wurde, bestand sie<br />
auf einen Besuch von ihrem Friseur; zog sich<br />
High Heels, einen falschen Leoparden-Mantel<br />
und schwarze Handschuhe an und ließ<br />
sich so in Handschellen abführen.<br />
Giusy Vitale (*1972)<br />
Cosa Nostra<br />
Spitzname: Boss im Rock<br />
Info: Als Schwester der drei Mafiabosse<br />
Leonardo, Michele und Vito Vitale wurde<br />
sie nach deren Verhaftung Clan-Anführerin.<br />
Schon mit 13 Jahren arbeitete sie als Übermittlerin<br />
von vertraulichen Informationen,<br />
die sie bei Gefängnisbesuchen ihrer Kollegen<br />
nach außen kommunizierte. Nach erfolgreicher<br />
Karriere in der Cosa Nostra wurde<br />
sie später zur „Penita“, zur Verräterin, weil<br />
sie die Schweigepflicht brach, als sie nach<br />
ihrer sechsjährigen Gefängniszeit gegen ihre<br />
eigene Familie aussagte.<br />
Nr.13<br />
Maria Licciardi (*1951)<br />
Camorra, Licciardi-Clan<br />
Spitzname: Die Patin<br />
Info: Maria ist wahrscheinlich die bislang<br />
einflussreichste Frau in der italienischen<br />
Mafia. Nachdem ihr Bruder, der Clan-Boss<br />
Gennaro in der Camorra, verhaftet wurde,<br />
füllte sie als erste Frau an der Spitze das<br />
Machtvakuum. Von 1993 – 2001 saß Maria<br />
als Chefin mit anderen Clan-Bossen an einem<br />
Tisch und traf Entscheidungen über Leben<br />
und Tod. Ab 1999 auf der Flucht, gehörte<br />
sie zu den 30 meistgesuchten Verbrechern<br />
Italiens. Seit 2001 im Gefängnis, ist sie eine<br />
der wenigen weiblichen Kriminellen, die in<br />
Italiens härtestem Strafvollzug verwahrt<br />
werden und deren Kontakt zur Außenwelt<br />
streng beschränkt ist.<br />
Pupetta (Assunta) Maresca (*1935)<br />
Camorra<br />
Spitzname: Madame Camorra<br />
Info: Ehemalige Beautyqueen. Sie machte<br />
internationale Schlagzeilen, weil sie Mitte<br />
der 1950er den Mörder ihres Ehemanns<br />
am helllichten Tag tötete. Während der<br />
Gerichtsverhandlung sagte Pupetta: „Ich<br />
würde es immer wieder tun“, woraufhin die<br />
Anwesenden Beifall klatschen. Sie saß bis<br />
1964 im Gefängnis, wurde später die Ehefrau<br />
des Drogenbarons Umberto Ammaturo und<br />
trat als verhandlungsstarke Partnerin an<br />
seiner Seite auf.<br />
Maria Serraino (*1931)<br />
Ndrangheta<br />
Spitzname: Mamma Heroin<br />
Info: Maria ist eines der raren Beispiele<br />
für eine weibliche Führungsperson im<br />
Ndrangheta-Clan. Gemeinsam mit ihren zwei<br />
Söhnen und ihrer Tochter etablierte sie in den<br />
1980ern eines der größten Drogengeschäfte<br />
im Mittelmeerraum. Drogenlieferanten<br />
verhandelten ausschließlich mit Maria. Das<br />
Kartell wurde zwischen 1993 – 95 aufgedeckt,<br />
wobei über 180 Mitglieder verhaftet wurden,<br />
darunter Maria und ihre Tochter Rita. Schon<br />
mit zwölf Jahren wurde sie aus der Schule<br />
genommen, um beim Umpacken von Kokain<br />
in Shampoo-Flaschen zu helfen. 1997 wurde<br />
Maria wegen ihrer Drogendelikte und wegen<br />
Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.<br />
26 27<br />
FRAUEN<br />
IN DER<br />
MAFIA<br />
Es gab entgegen der landläufigen<br />
Meinung immer Frauen, die eine zentrale<br />
Rolle in der italienischen Mafia<br />
gespielt haben. Und es gibt sie noch. Es<br />
sind selbstbewusste Frauen, oftmals<br />
charismatische, risikofreudige Persönlichkeiten<br />
mit einer ordentlichen Portion<br />
Aggressivität und Gewaltbereitschaft.<br />
Zum einen schaffen es Frauen genau wegen<br />
dieser Persönlichkeitsstruktur in die<br />
obersten Positionen der Mafia. Zum anderen<br />
gibt es immer wieder Personalnot<br />
bei den Mafiamännern, die den Aufstieg<br />
der Frauen erst möglich macht. So halten<br />
oft Witwen von Gangsterbossen oder<br />
Ehefrauen, deren Männer im Gefängnis<br />
sitzen oder auf der Flucht sind, die Zügel<br />
in der Hand. Sitzt ein Boss im Kittchen,<br />
geben Mütter, Töchter, Schwestern und<br />
Schwägerinnen die Befehle des Clanbosses<br />
weiter oder steigen sogar selbst<br />
zum Leittier auf. Die italienische Mafia ist<br />
heute eine merkwürdige Mischung aus<br />
Tradition und Moderne, aus verkrusteten<br />
alten Strukturen, archaisch und primitiv<br />
vollzogenen Operationen und modernem<br />
wirtschaftsgetriebenen Handeln.<br />
Trotz oder grade wegen dieser Struktur<br />
widersteht die Mafia allen Bestrebungen,<br />
sie endgültig zu besiegen. Währenddessen<br />
bedeutet für die Frauen in der Mafia<br />
die Anpassung an Emanzipation, Öffentlichkeit<br />
oder Kapitalismus unterm Strich<br />
mehr Einfluss. Zwar erfüllen sie oftmals<br />
nach wie vor eher traditionelle Rollen,<br />
schneiden und verpacken beispielsweise<br />
Kokain und Heroin in ihrer Küche. In<br />
der Camorra hingegen erpressen Frauen<br />
Schutzgelder von Händlern, beteiligen<br />
sich an millionenschwerem Drogenhandel<br />
oder sind in Morde verwickelt.<br />
Die Netzwerkkarte stellt sechs der bekanntesten<br />
Verbrecherinnen vor.<br />
Das Thema Frauen in der Mafia ist noch<br />
wenig erforscht. Einen guten Überblick bietet<br />
der Sammelband „Women and the Mafia.<br />
Female Roles in Organized Crime Structures“<br />
herausgegeben von Giovanni Fiandaca. Seit<br />
2007 erhältlich bei Springer science.<br />
Nr.13
KUNST<br />
Text: Robert Grunenberg<br />
Fotos: Circle Culture Gallery & Corita Art Center<br />
sister<br />
corita<br />
KUNST, NÄCHSTENLIEBE UND FREIGEISTIGKEIT – DIE<br />
AMERIKANISCHE NONNE UND KÜNSTLERIN SISTER CORITA<br />
LEBTE ZWISCHEN DEN EXTREMEN GLAUBE, FREIER KUNST<br />
UND POLITISCHER AKTIVISMUS. FÜR IHRE ÜBERZEUGUNG<br />
BRACHTE SIE HARTE OPFER. EINE ANDERE GESCHICHTE<br />
DER AMERIKANISCHEN POP-ART.<br />
Sister Coritas Lebensgeschichte ist<br />
Stoff für einen großen Spielfilm. Ein Leben<br />
voller Wendungen und Grenzüberschreitungen<br />
– das ganze kondensiert<br />
zwischen großen Eckpunkten amerikanischen<br />
Zeitgeschehens. Ihre Geschichte<br />
ist auch die Geschichte der Emanzipation<br />
der Frau, der Counterculture- Bewegung,<br />
der Rolle der katholischen Kirche,<br />
der Entwicklung der modernen Kunst<br />
und des Aufkommens der Pop- und<br />
Konsumkultur. Betrachtet man die Welt<br />
durch Sister Coritas Augen, dann zeigt<br />
sich ein neuer, lebhafter und vielseitiger<br />
Blickpunkt auf die großen Veränderungen<br />
Amerikas zwischen 1940 und 1980.<br />
Als Sister Corita 1936 dem Schwesternorden<br />
Immaculate Heart of Mary in Los<br />
Angeles im Alter von 18 Jahren beitrat,<br />
lag Amerika nach dem Schock der Weltwirtschaftskrise<br />
im Dornröschen Schlaf.<br />
Die großen Veränderungen, die es zur<br />
politischen und kulturellen Supermacht<br />
werden ließ, sollten noch kommen und<br />
Sister Corita sollte dieses neue Amerika<br />
mit gestalten. Im humanistisch und<br />
künstlerisch ausgerichteten Orden der<br />
katholischen Kirche experimentierte sie<br />
in allen kreativen Bereichen, fand ihr<br />
Ausdrucksmedium im Siebdruck und<br />
entschloss sich schließlich für eine Laufbahn<br />
als Kunstlehrerin. 1941 erlangte sie<br />
einen Bachelor of the Arts, lehrte zwischenzeitlich<br />
in Kanada und kehrte 1951<br />
zum Orden nach Los Angeles zurück,<br />
dessen Leitung sie später übernahm.<br />
Bevor Sister Corita die amerikanische<br />
Pop Art Szene mit ihren Siebdruck-Arbeiten<br />
aufmischte, beschäftigte sich<br />
intensiv mit Fragen der Kunstlehre. Prägend<br />
war die Begegnung mit dem Designer<br />
Charles Eams, der später ein enger<br />
Freund wurde. Mit ihm sprach sie darüber,<br />
was es bedeutet, ein guter Lehrer zu<br />
sein. Beide stimmten darüber ein, dass<br />
man Schülern nicht<br />
Nr. 13<br />
28 29<br />
Nr. 13
KUNST<br />
Vorherige Seite:<br />
Bild oben:<br />
Corita Kent, circa 1976<br />
Courtesy of the Corita Art Center,<br />
Immaculate Heart Community, Los Angeles<br />
Bild links:<br />
Corita lehrt im Immaculate Heart College,<br />
circa 1967, courtesy of Circle Culture Gallery and<br />
Corita Art Center, unbekannter Fotograf<br />
Bild oben:<br />
Yes #3, 1979, Siebdruck auf Papier,<br />
Foto: Joshua White<br />
Rechte Seite:<br />
Bild oben:<br />
Sister Corita: Give The Gang Our Best, 1966,<br />
serigraph on pellon, courtesy of Circle Culture Gallery<br />
and Corita Art Center, Foto: Joshua White<br />
Bild rechts:<br />
Maria-Himmelfahrt-Prozession am<br />
Immaculate Heart College, 1964<br />
beibringen sollte originell zu sein, das<br />
führe dazu, dass man imitiert. Hingegen<br />
solle man rational sein. So lehrte Sister<br />
Corita mit harter Hand, wie Kunst dabei<br />
helfen kann die eigenen Sinne und Kreativität<br />
zu sensibilisieren. Dabei gab sie ihren<br />
Schülern teilweise unmögliche komplexe<br />
Aufgaben, forderte erschöpfende<br />
Wiederholungen der gleichen Übungen,<br />
wie das hundertfache Zeichnen von serifen<br />
und serifenlosen Alphabeten. Sie<br />
erklärte, dass in der Wiederholung und<br />
der Konzentration die Freiheit und Kreativität<br />
liegen, mit denen man Klischees<br />
und vorhersehbare Ausdrucksformen<br />
überwinden kann. Doch neben der eisernen<br />
Arbeit am Schreibtisch und im<br />
Atelier ging sie mit ihren Schülern in<br />
die Natur, saß abends am Strand, veranstaltete<br />
Happenings im Park und auf<br />
der Straße, organisierte Proteste und<br />
Charity-Events. Dabei ging es um politische<br />
Themen, Bürgerrechte, Vietnamkrieg,<br />
sowie um eine Haltung zu einem<br />
authentischen und erfüllten Leben. Was<br />
immer mitschwang war ein Credo für<br />
das Hier und Jetzt: „You shouldn’t blink,<br />
you should not close your eyes or turn<br />
your head away“ – you will miss part of<br />
life, you will skip the full picture.“ Sister<br />
Corita und ihr Kunstdepartment waren<br />
am Puls der Zeit. Ihr ästhetischer Formalismus,<br />
die Konzentration auf die Art und<br />
Weise wie die Dinge gemacht sind, passt<br />
zu den Bildern der Abstrakten Expressionisten,<br />
die in den 1950er und 60er-Jahren<br />
populär wurden. Denn hier wurde<br />
visualisiert, was sie selbst wichtig fand.<br />
Die Arbeiten von Künstlern der New<br />
York School – Jackson Pollock, Barnett<br />
Newman und Mark Rothko – zeigten<br />
dass Bilder im Grunde aus schwarzen,<br />
weißen und bunten Formen bestehen.<br />
Die Abstraktion des Dargestellten visualisiert<br />
wie es aussieht, wie es gemacht ist<br />
und nicht was es repräsentiert, symbolisiert<br />
oder erzählt. Diese Konzentration<br />
auf Formen wandte sie auch auf Sprache<br />
an. Ihr Interesse für Poesie und Texte<br />
galt den Buchstaben, der Typographie<br />
und der formalen Ästhetik, weniger den<br />
Bedeutungen. Diese Idee bezog sie auf<br />
den Pop-Zeitgeist, der seit den 1950ern<br />
immer größere Wellen schlug. Sister<br />
Corita sah die Konsumwelt und Massenmedien<br />
mit ähnlicher Begeisterung<br />
wie Andy Warhol, wobei es ihr weniger<br />
um die Warenästhetik von Produktverpackungen<br />
und Werbung ging. Sie<br />
staunte über die Poesie in der Werbesprache,<br />
sie sah etwas Positives in der<br />
materiellen Popkultur, eine Huldigung<br />
auf das, was der Marktplatz verspricht,<br />
aber nicht einhält. In ihren knallbunten<br />
Siebdrucken vermengte sie Markennamen,<br />
Werbeslogans, Popsongtexte und<br />
Zeitungsüberschriften, kombinierte sie<br />
mit Gedichten von Rainer Maria Rilke,<br />
Texten von E.E. Cummings und Albert<br />
Camus. Sie zerschnitt Wörter, drehte<br />
sie um und verfremdete sie. So löste sie<br />
die Sprache von ihren Produkten und<br />
nutzte sie für ihre künstlerischen und<br />
sozialphilosophischen Überzeugungen.<br />
Ihr Statement lautete: „In a way all the<br />
words we need are in the ads, they can<br />
be endlessly re-sorted and reassambled,<br />
it is a huge game, a way of confronting<br />
mystery.“ Sie kondensierte aus dem<br />
Sprachmaterial der Konsumkultur, aus<br />
dem Alphabet des Pop, eine Philosophie<br />
des Lebensglücks. Die Beschäftigung<br />
mit Pop-Art machte sie zu einer der bekanntesten<br />
und einflussreichsten Grafikkünstlerinnen<br />
der USA dieser Zeit;<br />
sie entwarf populäre Briefmarken mit<br />
Schlagwörtern wie „love“ und ragte 1967<br />
vom Cover der amerikanischen Newsweek.<br />
Doch anders als Andy Warhol<br />
oder James Rosenquist überschritten<br />
ihre Textspielereien die Ideen der frühen<br />
Pop-Art. Sister Corita zählt zu den Pionieren<br />
der zweiten Generation Pop-Art,<br />
die sich kritisch zur scheinbar perfekten<br />
Wohlstandsgesellschaft der USA äußerten<br />
und ihre Verwundbarkeit aufzeigten.<br />
So entfachten einige ihrer Plakate zum<br />
Vietnamkrieg und zu sozialer Diskriminierung<br />
politische Kontroversen. Sie<br />
provozierte und sprach Themen an, die<br />
man von einer Frau und Nonne nicht<br />
erwartete. Plötzlich stand Sister Corita<br />
in der Öffentlichkeit, hatte großen Erfolg,<br />
medialen Druck und Widersacher. Damit<br />
hatte sie zu kämpfen. Auch die katholische<br />
Kirche beäugte die ungewöhnlichen,<br />
progressiven Aktivitäten von ihr<br />
kritisch. Vor allem ihre mehrdeutige Verwendung<br />
von Sprache rief Irritation und<br />
Argwohn bei der katholischen Kirche<br />
hervor. Ihr Siebdruck „the juiciest tomata<br />
of all“ (1964), in der Corita spielerisch<br />
auf die Jungfrau Maria verwies, führte<br />
zu Empörung, zu Vorwürfen der Gotteslästerung<br />
und schließlich zu Zensuren.<br />
Eine Umdeutung einer geistlichen Ikone<br />
wie Maria in einem poppigen, vielleicht<br />
sogar lasziven Kontext – ein Skandal,<br />
das ging der Kirche zu weit. Sister Corita<br />
zeigte sich nach außen unbeeindruckt,<br />
doch innerlich löste es eine emotionale<br />
Krise aus, die im Sommer 1968 zu ihrem<br />
Austritt aus dem Schwesternbund<br />
führte. Ihre Glaubenskrise erklärte sie<br />
damit, dass die christliche Lehre Ideen<br />
befördern sollte, statt diese zu definieren<br />
oder zu beschneiden. Sie fühlte sich<br />
eingeengt, ging nach Boston und kam bis<br />
zur ihrer schweren Krankheit nicht mehr<br />
zurück. Sie hielt Kontakt zu Schülern<br />
und Kollegen, doch ihr soziales Umfeld<br />
änderte sich in Boston, sie traf Künstler,<br />
Kunsthändler und hatte Freunde an der<br />
Harvard Universität – eine Partnerschaft<br />
ging sie nicht ein und sie blieb bis zu<br />
ihrem Tod im Herbst 1986 unverheiratet.<br />
Ihre Arbeiten aus der Bostoner Zeit<br />
waren weiterhin politisch. Sie promotete<br />
einen tiefgründigen Aktivismus, der sich<br />
aus Gefühlen und Bedenken ableitet.<br />
Sie propagierte Bürgerrechte, prangerte<br />
Rassismus und Diskriminierung an<br />
und engagierte sich im sozialen Bereich.<br />
In den letzten Jahren vor ihrer Krebserkrankung<br />
zog sie sich zunehmend<br />
zurück. Ihre Arbeiten wurden introvertierter,<br />
kontemplativer und stilistisch<br />
konventioneller. Wurden die meisten<br />
männlichen Künstler der Pop-Art-Generation<br />
zu Ikonen der zeitgenössischen<br />
Kunstgeschichte, so verstummte die Aufmerksamkeit<br />
um Sister Corita. Vielleicht<br />
lag es daran, dass sie sich nicht vereinnahmen<br />
lies und immer nach vorne<br />
arbeitete. Der Kunstmarkt interessierte<br />
sie nicht, sie wollte keinerlei Erwartung<br />
erfüllen, genauso wenig wollte sie eingegrenzt<br />
werden. Lange Zeit galt sie als<br />
Nonne, die poppige Arbeiten machte und<br />
politisch Aktiv war. Erst in den letzten<br />
Jahren bekommt sie Aufmerksamkeit als<br />
eigenständige künstlerische Position der<br />
amerikanischen Pop-Art. So erlebt Sister<br />
Corita und Ihr Werk zurzeit ein Comeback.<br />
Alleine drei große Museumsausstellungen<br />
werden mit ihren Arbeiten bis<br />
2015 in den USA gezeigt. Sister Coritas<br />
technische Fähigkeiten, ihre komplexen<br />
Arbeiten aus Text und Bild, ihr pädagogisches<br />
Talent, ihr Humanismus und<br />
soziales Engagement – diese Vielseitigkeit<br />
ermöglicht aus unserer heutigen<br />
Perspektive einen ganz neuen Zugang<br />
zur Kunst- und Zeitgeschichte Amerikas.<br />
Nicht zuletzt begegnet man einer unabhängigen<br />
Frau, bereit, Widersprüche,<br />
Entbehrungen für ihre Überzeugungen<br />
zu leben.<br />
Sister Corita, 1918 als Frances Elizabeth Kent<br />
in Iowa geboren. Ihren künstlerischen Nachlass<br />
betreut heute das Corita Art Institut in<br />
Kalifornien. Ihre Arbeiten befinden sich u.a.<br />
in der Sammlung des Whitney Museums in<br />
New York, des Museum of Fine Art in Boston<br />
und dem Metropolitan Museum of Art in<br />
New York. In Deutschland sind ihre Arbeiten<br />
bis zum 10. Mai in einer Retrospektive in der<br />
Circle Culture Gallery in Berlin zu sehen.<br />
Nr. 13<br />
30 31<br />
Nr. 13
BIENEN<br />
Text: Adrian Fekete<br />
Foto: Jan Lessner<br />
Ohne Bienen geht es nicht, das<br />
weiß jedes Kind. Sie bestäuben Pflanzen,<br />
produzieren Honig und Wachs. Neben<br />
Rindern und Schweinen sind sie das<br />
wichtigste Nutztier überhaupt. Doch je<br />
mehr der Mensch in Natur und Umwelt<br />
eingreift, desto schlechter scheint es den<br />
kleinen Brummern zu gehen. Seit einiger<br />
Zeit macht die Angst vor dem „großen<br />
Bienensterben“ die Runde und wird Jahr<br />
für Jahr von den Medien aufgegriffen.<br />
Gegen diese Aufmerksamkeit ist erst<br />
einmal nichts zu sagen, zeugt sie doch<br />
von einem ausgeprägten Umweltbewusstsein.<br />
Und es stimmt, dass die Biene<br />
empfindlich ist. Schon bei kleinsten<br />
Veränderungen in ihrer natürlichen Umgebung<br />
reagiert sie drastisch: Sie stirbt.<br />
Für Imker ist eine tote Biene jedoch<br />
nichts Dramatisches. „An kalten Wintern<br />
stellen wir uns immer darauf ein, dass<br />
circa 30 Prozent unserer Bienen sterben<br />
werden“, sagt Marc-Wilhelm Kohfink,<br />
der Vorsitzende des Imkerverbandes<br />
Berlin. „Das wird Imkern seit Generationen<br />
so beigebracht und ist kein neues<br />
Phänomen.“ Die Statistik, die die Anzahl<br />
an Honigbienen in Deutschland festhält,<br />
weist zwar auf eine drastische Abnahme<br />
von Bienenvölkern seit der Wiedervereinigung<br />
hin, doch das ist nur die eine<br />
Seite der Medaille, denn die DDR hat in<br />
ihrem Subventionierungsprogramm für<br />
Landwirte besonderen Wert auf Imker<br />
gelegt. Nach der Wende gab es deutlich<br />
weniger Unterstützung für diesen Zweig<br />
der Agrarwirtschaft, deshalb auch weniger<br />
Bienen. Also keine Angst, in nächster<br />
Zukunft werden wir nicht auf den süßen<br />
Nektar verzichten müssen.<br />
Wer Imker werden, einen Bienenschaden melden<br />
oder mit seinem Bienenvolk nach Berlin<br />
einwandern will, der wende sich an:<br />
post@imkerverband-berlin.de.<br />
Nr. 13<br />
32<br />
33 Nr. 13
BUCH<br />
DER BLICK<br />
Foto: © Ascot Elite Filmverleih<br />
DOGGYSTYLE<br />
ZUM CLOWN<br />
AUFGEDONNERTE PUDEL<br />
UND FLIPPIGE BICHONS MIT<br />
LEOPARDENMUSTER – DER<br />
BILDBAND „GROOMED“<br />
VERSAMMELT WILDE UND<br />
KRASSE ARBEITEN VON<br />
HUNDESTYLISTEN.<br />
Groomed, das heißt soviel wie gestriegelt<br />
und zurechtgemacht, aber beschreibt<br />
schlecht, was Stylisten mit Hunden anstellen:<br />
Sie rasieren und färben ihnen<br />
Schildkröten, Papageien und Löwenmähnen<br />
ins Fell oder föhnen Ihnen Puschelpalmen<br />
auf dem Kopf zurecht. Auf<br />
den Fotografien von Paul Nathan findet<br />
man ein zwischen Groteske und Witz<br />
changierendes Kleintier-Bestiarium,<br />
welches „Schönheit der Schönheit willen“<br />
portraitieren möchte, dabei Hunde<br />
am Abgrund des guten Geschmacks<br />
zeigt. Es ist schlimm ... aber wir stehen<br />
drauf.<br />
Groomed von Paul Nathan, PelluceoPublishing<br />
(2014), www.paulnathanstudio.com<br />
mia wasikowska<br />
Mia Wasikowskas braune Augen<br />
laden ein, etwas in sie hineinzulesen.<br />
Erst scheinen sie freundlich und aufgeschlossen,<br />
um dann in einen gewissen<br />
Rühr-mich-nicht-an-Trotz umzuschlagen.<br />
Sie kann mit ihrem Blick Opfer, Eigensinnige<br />
und Verlassene spielen. So<br />
bändigt sie in ihrem neuen Film „Spuren“<br />
diverse australische Outback-Rüpel<br />
und vier Kamele. Ein Mädchen im<br />
Kampf mit der feindlichen Umgebung.<br />
„Spuren“ ist ein schöner Film nach<br />
einer wahren Geschichte: Die Hippiefrau<br />
Robyn Davidson durchquerte<br />
1977 die australische Wüste mit ihren<br />
Kamelen und einem Hund. Regisseur<br />
John Curran zeigt diese Reise im spektakulären<br />
National-Geographic-Look<br />
in im Sekunden-Rhythmus aneinander<br />
geschnittener Szenen, schreckt<br />
aber leider davor zurück, die Ödnis<br />
und Langeweile einer solchen Reise<br />
zu zelebrieren. Dabei würden wir der<br />
zierlichen 163 cm großen Mia gerne in<br />
langen Einstellungen dabei zuschauen,<br />
wie sie ganz allein durch weite, weite<br />
Wildnis läuft. Nur ein Ziel vor Augen:<br />
Das Meer.<br />
Info: „Spuren“ mit Mia Wasikowska<br />
läuft seit 10. April im Kino.<br />
Nr.13<br />
34 35<br />
Nr.13
ESSAY<br />
Text: Maja Hoock<br />
Inseln waren schon immer ein<br />
utopischer Rückzugsort, an dem<br />
man die Last der Zivilisation<br />
einfach abstreifen konnte. Für<br />
eine Robinsonade muss man<br />
aber nicht in die Ferne schweifen,<br />
sie beginnt bei uns zu Hause.<br />
Ich habe mir gestern Nacht eine Insel<br />
gekauft. Bei PrivateIslands.com, für<br />
fünf Millionen Euro, in der REM-Phase.<br />
Sie lag bei Sizilien und als ich aufwachte,<br />
war sie nicht mehr da. Es gab<br />
dort keine Politik, keinen Kapitalismus,<br />
keine Media-Markt-Werbung und keine<br />
Chips-Schmatzer. Allen Menschen,<br />
die Uli Hoeneß für einen Helden halten<br />
oder die Tagesschau für gute Nachrichten,<br />
wird der Fuß von einem Schwarm<br />
Piranhas abgekaut, bevor sie ihn an<br />
Land setzen können. Und weil an solchen<br />
Traumgebilden alles perfekt ist,<br />
ragen sie so selbstbewusst aus dem<br />
Wasser wie Elfenbeinbusen vom Leib<br />
schöner Frauen. Sie sind stolz, weil sie<br />
etwas Besseres sind als das Festland<br />
mit seinem hässlichen Alltag. Menschen<br />
gehen sich auf die Nerven. Da<br />
scheinen Inseln als isolierte Monolithen<br />
wie sandgewordene Intimität.<br />
Und Ursprung. So kommt der latent<br />
rückwärts-gewandte Inseltraum auch<br />
vom Konflikt zwischen Hochkultur<br />
und dem Affen in uns. Robinson wurde<br />
nicht zufällig zu Zeiten der Aufklärung<br />
schiffbrüchig.<br />
Er landete auf einer Insel, die noch<br />
nicht mit Vernunft in Berührung gekommen<br />
ist und sein einziger Freund<br />
Freitag war das wilde Spiegelbild des<br />
Angespülten. Mit dem Stranden, das<br />
als Motiv in Literatur und Kino von<br />
Crusoe über Gilligan’s Island und Lost<br />
reicht, erlangen wir Zugang zur Natur<br />
– und zur Freiheit: Auf Inseln dürfen<br />
Gemeinschaften nach eigenen Regeln<br />
leben, rosa Pferde anbeten und anarchistisch<br />
gefärbten Marxismus mit<br />
polyamourösen Zügen erproben. Thomas<br />
Morus schrieb vor 500 Jahren von<br />
dem abgeschnittenen Ort „Utopia“, wo<br />
es weder Armut noch Neid gibt. Im 18.<br />
Jahrhundert sprach man viel von der<br />
sagenhaften Liebesinsel der Aphrodite<br />
namens Kythera, wo es nur Schönes<br />
und Gutes gebe. Und heute treibt im<br />
Houellebecq-Roman die „Möglichkeit<br />
einer Insel“ seine Figuren an, weiterzuleben<br />
– die Aussicht auf ein besseres<br />
Leben als Daseinsgrund. Manchmal<br />
wird die abstrakte Idee der perfekten<br />
Lebensweise auch real.<br />
Lamu ist so ein manifestierter Inseltraum.<br />
Auf der zehn mal sechs Kilometer<br />
kleinen Insel vor Kenia leben<br />
seit Generationen Schriftsteller weit<br />
weg von Beton und Grau. Prinzessin<br />
Soraya von Persien suchte dort Ruhe<br />
und Hippies die Freiheit. Sie wussten:<br />
Durch die Isolation kann man sich auf<br />
das Wesentliche konzentrieren, auf<br />
den Geschmack einer am Lagerfeuer<br />
gebratenen Dorade. Regisseurin Frauke<br />
Finsterwalder ist dort hingezogen,<br />
weil es keine Autos gibt, und Christian<br />
Kracht, weil er auf Eseln reiten kann.<br />
Sicher dachte er beim Schreiben seines<br />
Kolonialisten-Romans „Imperium“ an<br />
das blaue Wasser mit den Hummern<br />
und die Mango-Palmen. „Lamu darf<br />
nicht verschwendet werden“, schrieb<br />
Hemingway, denn er wusste, dass man<br />
Inseln verteidigen muss. Sonst entwickeln<br />
sie einen Ballermann.<br />
Man muss sich ja nicht gleich eine eigene<br />
Insel kaufen. Es reicht, sich ab und<br />
zu eine in der Stadt zu schaffen. Auch<br />
die eigene Wohnung kann einen retten,<br />
wenn man den Tag in der Stadt getrieben<br />
ist. Und dann gibt es Menschen, die<br />
Inseln sind, wenn sie aus der Masse,<br />
die einen nicht kümmert, herausragen<br />
wie unser ganz persönliches, psychologisch<br />
warmes Lamu. Natürlich wissen<br />
wir, dass man sich nicht zu tief in die<br />
Idee des perfekten Ortes flüchten darf,<br />
denn Atlantis ist bekanntlich untergegangen.<br />
Doch auf die Möglichkeit einer<br />
Insel will ich nicht verzichten. Sie ist<br />
das Rettungsboot, auf dem ich aufrecht<br />
treibend der Welt den Stinkefinger zeigen<br />
kann.<br />
Nr.13<br />
36 37<br />
Nr.13
STIL<br />
REBELL:<br />
PATCHWORK<br />
JEANS<br />
Die Geburtsstunde der<br />
Patchwork-Jeans liegt<br />
mittlerweile über 40<br />
Jahre zurück. Entstanden<br />
ist sie nämlich in<br />
der Hippie-Bewegung<br />
der 1970er Jahre, in der<br />
Zeit, in der der Jeansstoff die Welt der<br />
friedlichen Rebellen eroberte. Die Jeans<br />
wurde symbolisch getragen um sich mit<br />
der Arbeiterschicht zu solidarisieren.<br />
Man bemalte, bestickte und verzierte sie.<br />
Modern interpretierte sie diese Saison<br />
u.a. DKNY in Blazer- und Parka-Kombination.<br />
1<br />
2<br />
3<br />
5<br />
4<br />
How to „sweater“! In den 80ern erlebte<br />
er seine goldenen Jahre und zwar<br />
als treuer Begleiter der Leggings, bis er<br />
sich kurze Zeit später in der Rolle des<br />
Nerds wiederfand, als Markenzeichen<br />
der „Popper“. Die trugen ihn nämlich<br />
am liebsten ganz klassisch, schlicht,<br />
um nicht zu sagen extrem spießig. Der<br />
„Sweater“ hat seinen Kultstatus längst<br />
wieder erobert, je auffälliger die Farbe,<br />
der Print oder das Logo, desto besser.<br />
Ob Céline, Kenzo, Carven, Givenchy<br />
oder Kitsuné: Sie alle sind Schöpfer<br />
des „It-Sweaters“ und diese lieben wir<br />
in dieser Saison besonders in Kombination<br />
mit edlen Röcken, ob in kurzer<br />
oder langer Version.<br />
6<br />
Schön dazu: schlichte High Heels<br />
oder ganz sporty mit Chucks oder<br />
Sneakern.<br />
1. Sweater von Maison Kitsuné,<br />
ca. 180 Euro<br />
2. Lippenstift von Tom Ford,<br />
ca. 45 Euro<br />
3. Sweater von Carven<br />
über farfetch.com, ca. 229 Euro<br />
4. Seidentuch von Louis Vuitton &<br />
André Saraiva, ca. 635 Euro<br />
5. Twin Bag von Prada, ca. 2100 Euro<br />
6. Kamera Clutch von Charlotte Olympia,<br />
ca. 1685 Euro<br />
7. Chucks Converse & Nate Lowman<br />
für justoneeye.com, Preis auf Anfrage<br />
7<br />
MEISTERWERK VON<br />
STEFANO PILATI<br />
Mit der neuen „CARA Bag“ hat die italienische Luxus-Marke Agnona<br />
unter der neuen Führung von Stefano Pilati eine Tasche für die Ewigkeit<br />
geschaffen. Wir lieben sie besonders für ihr klassisches, perfekt<br />
verarbeitetes Design und ihr weiches Kalbsleder mit natürlicher Narbung.<br />
Von Agnona, ab Mai/Juni 2014 erhältlich, Preis auf Anfrage<br />
Nr.13<br />
38
2<br />
STIL<br />
1<br />
3<br />
DAS WUNDERKIND<br />
SERGE LUTENS<br />
Create your own happiness! Es ist das<br />
Credo, dass den französischen Fotografen,<br />
Filmemacher, Haar-Stylisten, Modedesigner<br />
und Parfümeur Serge Lutens<br />
seit seiner Kindheit begleitet. Berühmt<br />
sein wollte er - bis heute - nie. Vielmehr<br />
genießt es die weltbekannte Nase seiner<br />
Leidenschaft nachzugehen, stets mit einer<br />
Tendenz zur Antikonformität. Denn<br />
was er kreieren will, ist nichts als Kunst,<br />
so maximal es irgend geht, ohne erst<br />
einmal einen Gedanken dem Kommerz<br />
zu schenken. Seit der Nachkriegszeit,<br />
so meint das Allround-Talent, ist unsere<br />
sinnliche Wahrnehmung nämlich viel<br />
zu stark zensiert worden. Was Lutens<br />
zudem abschreckt, ist unsere überparfümierte<br />
Welt. Eigentlich rieche in dieser<br />
Welt alles, aber nichts dufte mehr. Nun ja,<br />
sagen wir doch lieber „wenig“, denn ein<br />
perfektes Gegen-Beispiel ist dieser sommerlich-blumige<br />
Orangenblüten-Duft.<br />
Chic Running Shape! Er ist nicht neu,<br />
der Suit‘n‘Sneaker-Trend, aber zeigt sich<br />
auf den Straßen immer wieder in neuer<br />
Variante. Was in Skandinavien anfing mit<br />
dem Trend, Sneaker zu Seidenkleidern<br />
zu tragen, zeigt sich jetzt sogar als kleine<br />
Revolution bei Chanel, denn selbst Karl<br />
Lagerfeld ist dem Sneakerhype verfallen.<br />
In Paris haben wir uns verliebt, in die<br />
Variante mit puristischen Anzügen und<br />
Laufschuhen, am liebsten in Farbe.<br />
1. Ring von Aurélie Bidermann<br />
(über netaporter.com), ca. 410 Euro<br />
2. Ring von Valentino, ca. 220 Euro<br />
3. Kette von Maison Martin Margiela<br />
über netaporter.com, ca. 175 Euro<br />
4. Uhr von Emporio Armani,<br />
ca. 950 Euro<br />
5. Tasche von Dior, ca. 2700 Euro<br />
6. Rouge Creme „Multi-Blush Candy“<br />
von Clarins, ca. 24 Euro<br />
7. Limited Edition,<br />
Nike x Liberty Air Max, ca. 120 Euro<br />
8. & 9. Nike Roshe Run, ca. 95 Euro<br />
8<br />
9<br />
PERLENFIEBER<br />
Wiederentdeckt: die Perle! Salonfähig machte sie Coco<br />
Chanel, die damals ihre Abneigung offenbarte gegenüber<br />
Frauen, die mit üppigen Brillanten behangen waren.<br />
Pearis Treasure von Chanel, 2170 Euro.<br />
Serge Lutens, „Fleurs d´Oranger“<br />
50 ml, ca. 82 Euro<br />
4<br />
7<br />
Nr.13<br />
5<br />
40 41<br />
6<br />
Nr.13
STIL<br />
Fotos: Jan Lessner<br />
shop at santonishos.com<br />
AIR FORCE<br />
LOW<br />
Entstanden ist der ursprüngliche Basketballschuh bereits im<br />
Jahr 1982. In den letzten 25 Jahren wurden über 1700 Modelle<br />
von ihm auf den Markt gebracht. Wir lieben das Modell für seinen<br />
perfekten Mix aus Sport- und Streetstyle-Chic.<br />
Nike Air Force, ca. 110 Euro<br />
LIMITED EDITION<br />
Frischer Kult aus Italien: Das 2000 gegründete Label hat mit<br />
diesen Sneakern eine moderne Version von puristischer<br />
Zeitlosigkeit entworfen. Clean, simple und feminin in seinem<br />
Design sichert er sich seinen Platz unter unseren Top 3.<br />
Golden Goose White Out Leather Limited Edition, ca. 300 Euro<br />
CLASSIC<br />
LEATHER<br />
„Let‘s put on our classics and have a little dance!“ Es waren die<br />
ersten Reebok-Laufschuhe im Casual-Look, die die UK-Marke<br />
1987 auf den Markt brachte. Seither kann ihm, wie wir finden,<br />
keine andere Version das Wasser reichen: klassisch, schlicht<br />
und komfortabel.<br />
Reebok Classic, ca. 85 Euro<br />
Nr.13<br />
42
HANDTASCHE<br />
Text: Maja Hoock<br />
Foto: Revan Baysal<br />
BASCHA MIKA<br />
1<br />
2<br />
3<br />
5<br />
9<br />
Ob Pfefferspray, Philosophie-Buch oder<br />
Gleitgel - Was <strong>Fräulein</strong>s in ihrer Handtasche<br />
spazierentragen, sagt oft mehr über<br />
sie aus, als ein komplettes Interview.<br />
Darum zeigen wir an dieser Stelle ab<br />
sofort private Einblicke in die Clutches,<br />
Shopping- und Hobo-Bags spannender<br />
Persönlichkeiten. Unser erstes Opfer war<br />
Bascha Mika, eine der bekanntesten Feministinen<br />
des Landes und Erfolgsfrau<br />
par excellence. Sie war Chefredakteurin<br />
der taz, leitet nun die Frankfurter<br />
Rundschau, hat eine eigene Talkshow,<br />
veröffentlichte soeben ein neues Buch<br />
und wurde dafür bekannt, sich öffentlich<br />
mit Alice Schwarzer anzulegen.<br />
Ihre Lieblingstasche im Animal-Print<br />
beweist: Auch Feministinnen schminken<br />
sich; Bascha Mika sogar schon, seit sie<br />
15 war. Weiblichkeit und Eigenständigkeit<br />
schließen sich also nicht aus. Also<br />
Schwestern, ran an die guten Jobs, und<br />
vergesst dabei den Chanel-Lippenstift<br />
nicht!<br />
1. Ihr neues Buch „Mutprobe“, 2. Chanel Lippenstift „Rouche Coco Shine“ No. 62, 3.<br />
Lippen Balsam, 4. iPad 2 – ihr kompakter Computer für unterwegs, 5. Weleda Handcreme<br />
Granatapfel, 6. Montblanc Schreibset - ein Geschenk von Freunden, 7. Moleskine<br />
Notizheft - für die wichtigsten Einfälle, 8. Lippenstift von M.A.C. Relentlessly Red, 9.<br />
Antikes Puderdöschen, 10. Kleiner persönlicher Duft, 11. Lid-Schatten von Artdeco in<br />
den Farben 203 & 314, 12. Kindle Notepad, 13. Einladung zum Dinner mit Freunden, 14.<br />
Gabs-Tasche aus dem Italein-Urlaub, 15. Pochette, mit allem drin, was man für Notfälle<br />
braucht.<br />
4<br />
8<br />
14<br />
6<br />
10<br />
13<br />
7<br />
11<br />
12<br />
15<br />
Nr.13<br />
44 45<br />
Nr.13
ANGEKOMMEN<br />
Interview: Christian Fahrenbach<br />
Mitarbeit: Robert Grunenberg<br />
Fotos: © Moderna Museet, Stockholm<br />
KLICKS,<br />
LIKES,<br />
FOLLOWER<br />
UND DAS<br />
ERBE DER<br />
90ER<br />
SEIT DEN 90ER-JAHREN LÖSEN JUTTA KOETHER UND KIM GORDON DIE GRENZEN VON<br />
MUSIK, PERFORMANCE UND BILDENDER KUNST AUF UND DENKEN SIE NEU. VOR EINER<br />
GEMEINSAMEN PERFORMANCE ZUM ENDE DER MIKE-KELLEY-RETROSPEKTIVE IM NEW<br />
YORKER MOMA PS1 SPRACHEN WIR MIT BEIDEN ÜBER EINE ZEIT VOR DEM INTERNET,<br />
DEN AMERIKANISCHEN TRAUM UND DIE BERÜCHTIGTEN 15 MINUTEN RUHM.<br />
<strong>Fräulein</strong>: Frau Koether und Frau<br />
Gordon, zuletzt gab es einen auffälligen<br />
90er-Jahre-Hype, der sich<br />
in unzähligen Retrospektiven mit<br />
Künstlern wie Jeff Koons, Paul Mc-<br />
Carthy, John Baldessari und eben<br />
Mike Kelley zeigt. Woran liegt das?<br />
Kim Gordon: Ich denke, der Hype<br />
speist sich vor allem aus einem Interesse<br />
an einer Vor-Internet-Zeit, an die<br />
wir uns kollektiv nur noch vage erinnern<br />
können.<br />
Warum gibt es so eine Nostalgie<br />
nach dieser Zeit?<br />
Jutta Koether: Ich glaube nicht, dass es<br />
nur Nostalgie ist. Viele Retrospektiven<br />
und auch Trends in der Main stream-<br />
Kultur versuchen zu analysieren, wie<br />
es uns mit der digitalen Revolution<br />
ergangen ist, wie neue kulturelle Ausdrucksformen<br />
funktionieren. Man<br />
denkt zurück an ein Zeitalter, in dem<br />
die Medien noch nicht derart präsent<br />
in unserem Alltag waren. Damals wurden<br />
Inhalte und Gefühle anders ausgedrückt.<br />
Inzwischen wird man sich<br />
darüber bewusst, dass seit dem etwas<br />
verloren gegangen und unwiderrufbar<br />
geworden ist. Doch diese vermeintliche<br />
Unschuld einer vor-mediatisierten<br />
Sphäre ist selbst eine problematische<br />
Empfindung. Denn auch die 90er-Jahre<br />
waren natürlich durch Kanäle wie das<br />
Fernsehen stark mediatisiert. Allein<br />
der technologische Aspekt der Digitalität<br />
spielt heute eine größere Rolle.<br />
Kurz, es gibt einen Realisierungsprozess,<br />
dass ein Wandel eingetreten ist.<br />
So etwas dauert 20 bis 30 Jahre, deshalb<br />
fällt er genau in unsere Zeit.<br />
Das Internet hat zahlreiche solcher<br />
Verschiebungen bewirkt,<br />
Stars werden immer zugänglicher,<br />
es hat sich eine DIY-Starkultur herausgebildet<br />
...<br />
KG: Sicher. Jeder beruft sich heute<br />
auf Warhols „15 minutes of fame“, auf<br />
seine Prognose, dass jeder Mensch in<br />
der Zukunft kurz berühmt sein wird.<br />
Ruhm oder das, was wir darunter heute<br />
verstehen, ist für jeden zugänglich.<br />
Die Selbstvermarktungsmöglichkeiten<br />
im Internet haben unsere Vorstellung<br />
von Stars und Starkultur verändert.<br />
JK: Ich denke, dass Stars vor allem ein<br />
Markt sind. Das ist ein Konsum-Konzept.<br />
Das Begehren richtet sich nicht<br />
auf Objekte und Dinge, sondern auf<br />
Status. Dieser zirkuliert als eine Art<br />
Währung, mit dem eine Form des<br />
Seins gehandelt, gekauft und verkauft<br />
werden kann.<br />
KG: Insgesamt ist das eine amerikanische<br />
Entwicklung; es ist ein wesentlicher<br />
Bestandteil des amerikanischen<br />
Traums.<br />
Wie hat sich der amerikanische<br />
Traum seit den 90er-Jahren verändert?<br />
Ist das amerikanische Versprechen<br />
vom Tellerwäscher zum<br />
Millionär noch gültig?<br />
JK: Ich gebe die Frage lieber zurück.<br />
Unter welchen Bedingungen arbeiten<br />
wir heute? Offensichtlich gibt es eine<br />
Veränderung, eine technologische Erreichbarkeit<br />
und eine Beschleunigung,<br />
die jeden beeinflusst: Arbeiter, Kulturschaffende,<br />
wen auch immer. Wir<br />
sind heute nicht weiser als noch in den<br />
90er-Jahren. Wir haben auch keine besonderen<br />
Werkzeuge.<br />
Nr.13<br />
46 47<br />
Nr.13
ANGEKOMMEN<br />
Es ist vielmehr eine Art der Intuition.<br />
Man geht zurück zu dem, was man<br />
gelernt hat; Techniken, die man sich<br />
innerhalb seiner eigenen Geschichte<br />
angeeignet hat. Was wir hier heute bei<br />
der Performance platzieren oder herausarbeiten<br />
wollen, das sind Partikel<br />
einer geteilten Geschichte zwischen<br />
Kim, Mike Kelley und mir, einer Zeit<br />
und einem Ort.<br />
Stichwort: geteilte Geschichte. Wie<br />
wurden Sie beide Freunde?<br />
JK: Wir trafen uns während der Arbeit.<br />
KG: Das war 1987. Jutta interviewte<br />
mich und Sonic Youth für das „Spex<br />
„SOCIAL-MEDIA-STATUS<br />
IST HEUTE EINE WÄHRUNG<br />
DES SEINS“<br />
Magazin“. Das erste gemeinsame Projekt<br />
machten wir dann 1994. Jutta hatte<br />
eine Show bei Pat Hearn in New York<br />
1999 und fragte, ob sie ein paar Arbeiten<br />
installieren könnte. Unsere erste<br />
gemeinsame Installation „The Club in<br />
the Shadow“ machten wird dann 2003<br />
bei Kenny Schachter ConTEMPorary<br />
in New York.<br />
JK: Uns verbindet ein geteiltes Interesse,<br />
ein geteilter Austausch, der gleichermaßen<br />
Kunst und Musik berührt.<br />
Gibt es andere jüngere Künstlerinnen,<br />
die in Ihrer Tradition arbeiten,<br />
die in den Fokus gehören?<br />
JK: Mich interessieren künstlerische<br />
Positionen, die etwas verändern, die<br />
wirklich neue Ideen und Behauptungen<br />
aufstellen und nicht die Modelle<br />
aus den 90ern oder sonst irgendeiner<br />
Zeit wiederholen. Neue Rollenmodelle<br />
sollten aus ihrer eigenen Zeit kommen.<br />
Es ist doch viel interessanter etwas<br />
wachsen zu sehen, das anders ist und<br />
eine Verbindung zu den Fragen der Gegenwart<br />
herstellt.<br />
Was hat heute zeitgenössische Relevanz?<br />
JK: Die Frage ist eher, wie wird zeitgenössische<br />
Relevanz konstituiert. Wir<br />
sind in einem System der Klicks, Likes<br />
und Follower gefangen. Ich glaube, das<br />
ist nicht der einzige Weg zu denken. Es<br />
wird eine neue Generation geben, die<br />
das nicht mehr mitmacht, die wirklich<br />
versuchen wird, andere Möglichkeiten<br />
und Wertesysteme herauszuarbeiten.<br />
Wer oder was das ist, kann man zurzeit<br />
noch nicht sagen, wir stecken mitten<br />
im Prozess. Das braucht Zeit.<br />
Vielleicht hat sich der Glaube gefestigt,<br />
dass eine mediale Popularität<br />
kulturellen Einfluss verleiht ...<br />
KG: Es gibt diese Vorstellung und den<br />
Wunsch in der Kunstwelt, über die<br />
Maße populär und einflussreich zu<br />
sein. Das sind ähnliche Mechanismen<br />
wie in der Politik. Zudem begünstigen<br />
die sozialen Medien eine Auflösung der<br />
Grenzen zwischen Kunst und Mainstream.<br />
Jay-Zs Song, seine Performance<br />
mit Marina Abramovic in der Pace<br />
Gallery 2013, steht sinnbildlich dafür,<br />
wie Mode, Pop und Kunst verschmelzen.<br />
Es zeigt, dass einiges falsch läuft<br />
in der Kunstwelt.<br />
Was lässt hoffen?<br />
JK: Es gibt Bereiche, etwa in den Kunsthochschulen<br />
oder nerdigen Gruppierungen,<br />
in denen neue Philosophien oder<br />
kulturelle Praktiken ausprobiert werden.<br />
Leute, die wirklich Dinge in neuen Formen<br />
durchdenken. Ich kann nicht sagen,<br />
dies oder das ist oder wird das heißeste<br />
oder beste Zeug. Interessant ist es, danach<br />
zu schauen, wo kommen kleine<br />
Gruppen zusammen, die diskutieren<br />
und darüber nachdenken, unter welchen<br />
Bedingungen sie selbst arbeiten<br />
und leben, wie es dazu kam und was<br />
man tun kann, um das alles zu verändern<br />
oder zu beeinflussen.<br />
Jutta Koether (*1958) ist eine deutsche<br />
Malerin, Performancekünstlerin und<br />
Theoretikerin. Seit 2010 ist sie Professorin<br />
für Malerei an der Hochschule für bildende<br />
Künste in Hamburg.<br />
Kim Gordon (*1953) ist eine US-amerikanische<br />
Musikerin, Kuratorin und Künstlerin.<br />
Bis zur Auflösung 2011 war sie Sängerin<br />
und Bassistin der Band Sonic Youth.<br />
Nr.13<br />
48 49<br />
Nr.13
AGENDA<br />
ILMENAU STATT LA:<br />
EIN FILM-FESTIVAL IN<br />
DER WALACHEI<br />
Dass Goethe in Ilmenau sein letztes<br />
Gedicht „Über allen Wipfeln ist ruh“<br />
geschrieben hat, trägt nicht gerade<br />
zum Ruf des Städtchens als Film-Metropole<br />
bei. Trotzdem gibt es dort seit<br />
einem Jahr ein Kurzfilmfestival, das<br />
genau deshalb so gut ist, weil es nicht<br />
in Berlin oder München stattfindet.<br />
Der Eintritt ist frei, die hochwertige<br />
Filmauswahl und die Location am<br />
Thüringer Wald sprechen für sich.<br />
Am Berg Kickelhahn, auf Seebühnen,<br />
bewachsenen Häuserbaracken oder<br />
Freilichtbühnen im Stadtpark gibt es<br />
Filme aller Genres. Am Abend kann<br />
man noch zu Goethes Wald-Häuschen<br />
wandern.<br />
Ilmenau, 22. bis 25. Mai<br />
EUROPE 14|14<br />
Vom 7. bis 11. Mai treffen auf dem<br />
History Campus in Berlin bis zu 500<br />
junge Menschen aus ganz Europa im<br />
Maxim Gorki Theater aufeinander.<br />
Gemeinsam wollen sie die Bedeutung<br />
des Ersten Weltkrieg für sich<br />
persönlich, die jeweilige nationale<br />
Identität und für das heutige Europa<br />
als gemeinsames Friedensprojekt erkunden.<br />
Weitere Infos unter www.bpb.de<br />
LIEBE ALS KUNST<br />
Gegenwartskunst und Liebe? Bei zeitgenössischen<br />
Arbeiten denkt man eher<br />
an Provokationen aus Politik, Konsum<br />
und Sex oder an völlig abstrakte Konzeptkunst.<br />
Doch was ist mit Gefühlen<br />
oder sogar Romantik – nicht cool genug?<br />
Dabei spielt die Liebe doch genauso<br />
wie die Kunst mit unserer Fantasie,<br />
befeuert unsere Vorstellungskraft,<br />
kann wie die Kunst als unordentliche<br />
Emotion Grenzen überschreiten. Das<br />
Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen<br />
will diskutieren, wie, warum<br />
und was Liebe in der Gegenwartskunst<br />
bedeutet und zeigt dabei Arbeiten von<br />
Marina Abramovic, Sophie Calle, Tracey<br />
Emin und Tino Sehgal.<br />
„Liebe“, Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen,<br />
bis 29. Juni<br />
AUF DEN BESEN,<br />
SCHWESTERN! ES IST<br />
WALPURGISNACHT<br />
In der Nacht vom 30. April zum ersten<br />
Mai werden Feuer angezündet<br />
und es wird wild getanzt. Überall in<br />
Deutschland finden große Feste statt,<br />
besonders in Berlin. Traditionell gilt die<br />
Nacht vom 30. April auf den 1. Mai als<br />
die Nacht, in der die Hexen insbesondere<br />
auf dem Blocksberg (Brocken),<br />
aber auch an anderen erhöhten Orten<br />
ein großes Fest abhalten.<br />
In der Nacht vom 30. April auf 01. Mai<br />
FANATIKER DES<br />
AUGENBLICKS<br />
Düsseldorf ist eine Kunst-Stadt par<br />
excellence. Die Quadriennale, die dort<br />
alle vier Jahre stattfindet, gleicht einem<br />
kreativen Vulkanausbruch, an dem alle<br />
führenden Düsseldorfer Kunstmuseen,<br />
Ausstellungshäuser und die Kunstakademie<br />
beteiligt sind. Alles dreht sich<br />
um ein zentrales Leitthema, auf das<br />
sich alle teilnehmenden Institutionen<br />
entsprechend ihrer programmatischen<br />
Ausrichtung mit Werkschauen, Ausstellungen<br />
und einem umfangreichen<br />
Begleitprogramm beziehen. Thema<br />
dieses Mal: der Augenblick und die<br />
Zukunft.<br />
Kunst-Quadriennale Düsseldorf,<br />
5. April bis 10. August<br />
Foto: Frank Hurley, 1917<br />
FILM ALS DOKUMENT<br />
Vier Tage lang werden auf dem 3. Berlin<br />
Documentary Forum verschiedenste<br />
Modi des Dokumentierens, Erinnerns<br />
und Abbildens in Life-Präsentationen,<br />
Screenings und Ausstellungen reflektiert.<br />
Thema des zum 3. Mal von Hila<br />
Peleg kuratierten Forums soll die Auseinandersetzung<br />
mit der Tradition des<br />
Narrativen Realismus sein, der sich<br />
Künstler wie Harun Farocki, Elfriede<br />
Jelinek und Uriel Orlow stellen.<br />
Berlin Documentary Forum 3:<br />
29. Mai bis 1. Juni<br />
FEUERBACHS MUSEN – LAGERFELDS MODELS<br />
Musen und Models sind das beflügelnde<br />
Opiat der Kunst und Mode. Ohne sie<br />
wäre es sehr langweilig, weil weniger<br />
schön und rauschhaft. Die Hamburger<br />
Kunsthalle zeigt nun eine Doppelschau,<br />
in der Gemälde von Anselm Feuerbach<br />
mit noch nie gezeigten Fotografien von<br />
Karl Lagerfeld zusammengeführt werden.<br />
Von Feuerbach sind über vierzig<br />
Arbeiten aus den Jahren 1860 bis 1870<br />
zu sehen. Karl Lagerfeld schuf speziell<br />
für die Ausstellung eine Serie von rund<br />
sechzig Schwarz-Weiß-Aufnahmen.<br />
Hamburger Kunsthalle, bis 15. Juni<br />
Parallel zur Ausstellung ist bei STEIDL<br />
der Band „Karl Lagerfeld – Moderne<br />
Mythologie“ erschienen.<br />
Foto: “Veracruz/Virginia,” performance Maria Thereza Alves and Jimmie Durham, 1992, Monterrey,<br />
Mexico, courtesy Museo de Monterrey<br />
Nr.13<br />
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Nr.13
AGENDA<br />
BALLKLEIDER<br />
FÜR ALLE!<br />
Charles James war im zwanzigsten<br />
Jahrhundert einer der wichtigsten Modeschöpfer<br />
der Vereinigten Staaten. In<br />
der Schau im Metropolitan Museum wird<br />
seine Karriere nachgezeichnet – unter<br />
Anderem seine Arbeit an mathematisch<br />
und wissenschaftlich angelegten Entwürfen<br />
für revolutionäre Abendkleider.<br />
Zu sehen sind etwa 80 der markantesten<br />
Entwürfe, Ballkleider aus den 40er- und<br />
50er-Jahren, die zum Schönsten zählen,<br />
was die Mode jener Zeit hervorgebracht<br />
hat: weibliche Silhouetten, mehrlagige<br />
halb transparente Stoffe, extrem betonte<br />
Taillen und extrava gante Details.<br />
Charles James Beyond Fashion, New<br />
York, Metropolitan Museum of Art, 8.<br />
Mai bis 10. August<br />
BIRDS<br />
OF<br />
PARADISE<br />
So luxuriös wie fragil, haben Federn<br />
immer schon die Phantasie von Modedesignern<br />
und Künstlern angeregt. Nun<br />
erzählt die Ausstellung „Birds of Paradise“<br />
von der Arbeit der Plumassier,<br />
der Federarbeiter, Federn in der Kunstgeschichte<br />
und ihrer Bedeutung für<br />
so schillernde Stilikonen wie Marlene<br />
Dietrich und Yves Saint Laurent.<br />
„Birds of Paradise - Federn und<br />
Daunen in der Mode“, bis 24. August im<br />
MMAntwerpen<br />
EUROPEAN MEDIA<br />
ART FESTIVAL<br />
Wir sind der Feind: Dass wir überwacht<br />
werden, ist insofern ein hausgemachtes<br />
Problem, weil es keinen<br />
Widerstand, sondern vorauseilenden<br />
Gehorsam gibt. Damit beschäftigt<br />
sich das European Media Art Festival.<br />
Seit über 25 Jahren ist Osnabrück<br />
der Treffpunkt für den künstlerischen<br />
Nachwuchs im Medienbereich. Dieses<br />
Jahr steht es unter dem Motto „We, the<br />
enemy“. Was George Orwell in seinem<br />
Roman „1984“ noch wie eine tumbe<br />
Überwachungsdiktatur gestaltet hat,<br />
hat sich viel subtiler in unseren Alltag<br />
eingeschlichen: Die Gesellschaft der<br />
Selbstkontrolle zielt auf eine optimierte<br />
Bewirtschaftung der Menschen und<br />
beutet sich selbst aus. In der Ausstellung,<br />
in Performances, Filmprogrammen<br />
und Gesprächen wird reflektiert,<br />
wie wir zu allseitig überwachten<br />
„Feinden“ wurden und wie die aktuelle<br />
internationale Kunstszene darauf<br />
antwortet.<br />
Osnabrück, 23. bis 27. April, Ausstellung<br />
bis 25. Mai<br />
Alice und Matt, seit 2 Jahren ein Paar<br />
Nr.13<br />
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Nr.13
DAS BILD<br />
Interview: Robert Grunenberg<br />
Zeichnung: Brode Dalle<br />
DIE PUNKROCK-SÄNGERIN BRODY DALLE LIEBT KRAWALL UND KONTEMPLATION. SCHON MIT 15 JAHREN HATTE SIE<br />
EINEN PLATTENVERTRAG UND SPIELTE SPÄTER ALS FRONTFRAU UND GITARRISTIN DER BANDS THE DISTILLERS UND<br />
SPINNERETTE AUF ALLEN GROSSEN FESTIVALS. EIN GESPRÄCH ÜBER IHRE TEENAGER-ZEIT, ZWEI SCHWANGERSCHAFTEN<br />
UND ANDERE METAMORPHOSEN DES ALLTAGS. DAZU MALTE SIE UNS EIN EINÄUGIGES SELBSTPORTRAIT.<br />
„I WANT TO<br />
KICK ASS“<br />
<strong>Fräulein</strong>: Wie oft sind Sie in<br />
Ihrem Leben durch eine Metamorphose<br />
gegangen?<br />
Brody Dalle: Wahrscheinlich ist mein<br />
ganzes Leben eine einzige Metamorphose.<br />
Man entwickelt sich die ganz<br />
Zeit. Mein Vater sagte mir, das Einzige,<br />
was im Leben konstant ist, sei Veränderung.<br />
Das ist wahr. Wenn du eine<br />
miese Zeit durchlebst, ist es das Beste,<br />
wenn man das in irgendeiner Form<br />
ausdrücken kann. Insbesondere, wenn<br />
man den Wunsch hat, voranzukommen,<br />
eine glückliche Person zu sein.<br />
Wenn nicht, kannst du dich in deinem<br />
Unglück suhlen!<br />
Inwiefern reflektieren Sie diese<br />
Transformationen in Ihrer Musik?<br />
Ein Song, ein Album ist immer eine<br />
Momentaufnahme der eigenen Lebensphase.<br />
Die Aufnahmen speisen<br />
sich aus allem, was einen umgibt.<br />
Ein Song hat deshalb oft mehrere<br />
Geschichten, die alle miteinander zusammenhängen.<br />
Mit meinem ersten<br />
Solo-Album „Diploid Love“ begann ich<br />
kurz vor der Schwangerschaft 2011.<br />
Im Song „Dont Need Your Love“<br />
hört man Kinderstimmen im Hintergrund<br />
quietschen. Sind das Ihre<br />
Kinder?<br />
Ja, das sind die Stimmen meines Sohnes<br />
und meiner Tochter. Ich nahm sie<br />
auf, während sie in der Badewanne<br />
spielten. Der Song ist ursprünglich<br />
für eine Person, enthält aber zwei Geschichten.<br />
Es geht um mich und meinen<br />
Sohn.<br />
Was hat sich nach der Geburt Ihres<br />
Sohnes verändert?<br />
Während der Schwangerschaft und<br />
nach der Geburt fühlte ich mich wirklich<br />
gut. Ich fühlte mich selbstsicher<br />
und glücklich. Als meine Tochter 2006<br />
geboren wurde, hatte ich so was wie<br />
eine persönliche Krise. Ich wusste<br />
nicht, wer ich bin, wo ich bin und was<br />
ich mache. Da kam ich nicht richtig<br />
raus. Erst nachdem mein Sohn geboren<br />
wurde, fühlte ich mich wirklich<br />
als Mutter. Ich gewöhnte mich an mein<br />
neues Leben, an das Erziehen meiner<br />
kleinen Tochter und daran, mit meinen<br />
eigenen Problemen umzugehen, ohne<br />
es auf sie abzuwälzen.<br />
Persönliche Krisen führen oft zu<br />
einem Gefühl der Entfremdung.<br />
Kennen Sie das Gefühl, eine Außerirdische<br />
zu sein?<br />
Ich fühle mich bereits mein ganzes Leben<br />
wie ein Außerirdischer. Als Kind<br />
war ich ein Außenseiterin. Ich war<br />
schüchtern, fühlte mich seltsam und<br />
passte nicht so richtig dazu. Doch je<br />
älter ich wurde, desto mehr entdeckte<br />
ich, dass es unzählige Leute gibt, die<br />
genauso fühlen, dass es ein ziemlich<br />
menschlicher Zustand ist.<br />
Sie texten und singen darüber, wie<br />
man überlebt, seine Probleme in<br />
den Griff bekommt. Was gibt Ihnen<br />
Kraft und Energie?<br />
Ich habe von Natur aus viel Energie.<br />
Um mein Gehirn auszuschalten, gehe<br />
ich lange joggen. Joggen ist großartig,<br />
denn man findet einen eigenen Rhythmus.<br />
Man kann es überall machen,<br />
man ist frei. Es ist wie Meditation.<br />
Mein Ehemann versucht mich schon<br />
seit Längerem von Transzendentaler<br />
Meditation (TM) zu überzeugen.<br />
Was passiert da?<br />
Man denkt an überhaupt nichts. Es<br />
ist eine unglaublich kraftvolle Erfahrung.<br />
Angeblich soll es sogar Körperzellen<br />
regenerieren. Es gibt eine kleine<br />
Stadt in den USA, die total von einer<br />
TM-Welle ergriffen wurde. Dinge liefen<br />
in dem Dorf nicht gut, die Leute waren<br />
depressiv, dann gab es eine Stadtversammlung,<br />
eine Frau überzeugte alle<br />
Bewohner, Transzendentale Meditation<br />
auszuprobieren. Plötzlich fingen die<br />
Leute an gut zu arbeiten, ihr Leben erfüllter<br />
und glücklicher zu gestalten. Ich<br />
schätze, ich sollte es ausprobieren.<br />
Mit Meditation kann man verschiedene<br />
Charaktereigenschaften ins<br />
Gleichgewicht bringen. Was sind die<br />
Extreme Ihrer Persönlichkeit?<br />
Ich bin von Natur aus sehr aggressiv.<br />
Wenn ich auf die Bühne gehe, dann<br />
transformiere ich zu diesem wilden<br />
Tier. Es gibt ein Element in mir, das<br />
überleben, den Leuten in den Arsch treten<br />
will. Ich habe keine Lust mir Scheiße<br />
anzuhören. Als Kind habe ich so viel<br />
Mist erlebt, dass ich manches jetzt komplett<br />
ablehne. Meine Mutter war auch<br />
eine energische Person. Sie ist eine politische<br />
Aktivistin. Somit bin ich von Kind<br />
an mit einem aggressiven weiblichen<br />
Archetyp aufgewachsen, die zu Protesten<br />
ging und Prügeleien mit Polizisten<br />
führte. Solche Erlebnisse prägen.<br />
Wie fühlten Sie sich damals?<br />
Als Kind war das sehr peinlich und<br />
auch beängstigend. Heute kann ich<br />
diese Energie und kritische Haltung in<br />
meiner Musik ausdrücken.<br />
Im Video zu Ihrem Song „Meet the<br />
Foetus“ empören Sie sich über viele<br />
gegenwärtige Ereignisse ...<br />
Es gibt viele Dinge, die mir nicht gefallen.<br />
Ich haue keine Statements raus,<br />
sondern stelle lieber Fragen. Denn es<br />
gibt einige Fragen zu stellen: Schau<br />
nach Syrien, nach Fukushima oder auf<br />
die Missbrauchsfälle in der katholischen<br />
Kirche. All dieser Scheiß macht<br />
mich sehr wütend. Im Video zu „Meet<br />
the Foetus“ sind Traumsequenzen zu<br />
sehen, die meine Angst zeigen, Kinder<br />
in diese Welt zu bringen.<br />
Was bedeutet es für Sie jetzt, eine<br />
Familie zu haben?<br />
Meine Kids und mein Ehemann sind<br />
meine Heimat. Wir leben in Kalifornien,<br />
teilen dort unser Leben, spielen<br />
und singen viel zu zusammen. Das vereint.<br />
Mein Sohn spricht schon sehr gut,<br />
singt unentwegt und erfindet seine eigenen<br />
Texte. Mein absoluter Favorit ist,<br />
wenn er in der Küche steht und schreit:<br />
„I don’t like you, don’t like you, don’t tell<br />
me what to do!“<br />
Auf ihrem ersten Solo-Album „Diploid Love“<br />
entlässt Brody Dalle wieder bebende Sounds<br />
und nachdenkliche Texte in die Welt. Dalle<br />
singt über das Leben: wie man es erschafft,<br />
darin lebt und überlebt. Musikalisch mischt<br />
sie dabei Punkrock mit einem Schimmer Pop.<br />
EV: Ende April 2014<br />
Nr.13<br />
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Nr. 13
EIN TAG<br />
Text: Maja Hoock<br />
Fotos: Miles Michael<br />
„Detroit ist nicht tot, Detroit wird leben“,<br />
sagt Tilda Swinton im Vampir-Film<br />
„Only Lovers Left Alive“. „Spätestens,<br />
wenn die Städte im Süden brennen.“<br />
Miami brennt zwar nicht, aber seine<br />
Künstler suchen sich trotzdem günstigere<br />
Alternativen. Auch New York ist so<br />
teuer, eng und seit dem 11. September polizeikontrolliert,<br />
dass es fast anti-kreativ<br />
geworden ist. Künstler brauchen Platz<br />
für Ateliers, haben oft wenig Geld und<br />
wollen sich austoben. Darum erobern sie<br />
sich jetzt Detroit.<br />
Die Stimmung dort ist von einem Vampir-Film<br />
tatsächlich nicht weit entfernt.<br />
Als die Autoindustrie die Stadt verließ,<br />
haben auch die Bürger ihre Wohnungen<br />
teils komplett eingerichtet zurückgelassen.<br />
In den 1950er-Jahren lebten in Detroit<br />
fast zwei Millionen Menschen, heute<br />
sind es nur noch 700.000. Viele Straßen<br />
sind verwaist, Steine brechen von den<br />
Bordsteinen und aus den Kanalisationen<br />
dampft es.<br />
Obwohl die Warnung ausgesprochen<br />
wurde, besser nicht alleine durch die<br />
Stadt zu fahren, führt Miles Michael Besucher<br />
bereitwillig abseits der toten Innenstadt<br />
herum. Er arbeitet eigentlich im<br />
neun Stunden entfernten New York als<br />
Künstler und Bühnenbildner, doch gerade<br />
hat er sich ein Haus in Detroit gekauft.<br />
Nicht zuletzt die New Yorker Vernissagen,<br />
die eher Marketing-Events ähneln,<br />
haben ihn wie viele seiner Kollegen aus<br />
der Stadt getrieben.<br />
Er will als Künstler leben, nicht als Abziehbild<br />
seines Berufes, sich nicht weiter<br />
von Sekt auf Ausstellungseröffnungen<br />
nähren. In Detroit kann er durchdrehen:<br />
Gerade hat er ein Auto in die Luft<br />
gesprengt, denn es gehörte niemandem<br />
und die Polizei hat andere Sorgen. Die<br />
Stadt in Michigan ist einer der kriminellsten<br />
Orte der USA. Die berüchtigte<br />
„Eight Mile Road“ trennt die innere<br />
Stadt, in der zu 80 Prozent Schwarze<br />
leben, von den Vororten der Weißen. Statistisch<br />
passiert dort jeden Tag ein Mord<br />
und es gibt einen eigenen Gewaltfeiertag,<br />
die „Detroit Devil’s Night“, in der Brände<br />
gelegt werden. Das ist gefährlich, führt<br />
aber auch dazu, dass man sich frei und<br />
lebendig fühlt, so als wäre alles erlaubt.<br />
Miles’ neues Haus liegt direkt am belebten<br />
Eastern Market, hat nur 15.000<br />
Dollar gekostet und noch weiß er gar<br />
nicht wohin mit dem ganzen Platz. Im<br />
Keller hat er sein 60 Quadratmeter großes<br />
Atelier, oben ein riesiges Büro. „New<br />
York klingt für mich vor allem nach Geld<br />
und Polizei“, sagt er. „Hier kann ich machen,<br />
was ich will.“ Neben ihm hat sein<br />
Nachbar aus New York ein Haus gekauft<br />
und die original Zwanzigerjahre-Bar im<br />
Erdgeschoss renoviert. Daneben haben<br />
Freunde ein eigenes Café mit Konzertraum;<br />
eine befreundete Fotografin aus<br />
Los Angeles errichtet sich gerade ein eigenes<br />
Museum mit Buch-Verlag in einer<br />
ehemaligen Bank samt verschlossenem<br />
Safe für 500 Dollar. Wieder eine andere<br />
lebt in einer Art Schloss und Bekannte<br />
haben sich das „Treasure Nest“ eingerichtet,<br />
eine verdrogte Villa Kunterbunt<br />
für Erwachsene. Nirgends ist es so einfach,<br />
selbst etwas auf die Beine zu stellen<br />
wie hier. Mit 2.000 Dollar im Monat<br />
kann man sich schon ein Loft leisten, im<br />
Prinzip kann man aber auch einfach in<br />
eines der 78.000 leer stehenden Häuser<br />
ziehen. Die Aufbruchstimmung erinnert<br />
an Berlin in den Achtzigern: Alles ist<br />
möglich, die Ästhetik ist roh und selbstgemacht.<br />
Detroits Künstler sind anti-akademisch,<br />
sozial engagiert und machen<br />
Outsider-Art wie im „Italian American<br />
Pizza Museum“, im „Heidelberg Projekt“,<br />
einem riesigen Outdoor-Kunst-Ort, oder<br />
im „African Beat Museum“, das einfach<br />
seine Umgebung übernommen hat und<br />
im ganzen Viertel Kunst verbreitet natürlich<br />
ohne Erlaubnis der Stadt. Brachliegende<br />
Flächen werden zu riesigen<br />
Gärten, in denen Gemüse und Obst angebaut<br />
werden, und im Sommer baut man<br />
etwas aus dem Schrott, der überall herumliegt,<br />
oder badet im Erie-See. Miles<br />
hat seinen Strand „Miles Beach“ getauft.<br />
Die Stadt ist ein Abenteuerspielplatz aus<br />
leeren Wolkenkratzern, Museen, Banken<br />
und Theatern.<br />
Detroit muss in den 50er-Jahren aufregend<br />
gewesen sein, als die Art-déco-Hochhäuser<br />
noch belebt waren, man<br />
ohne Grenzkontrollen über den Fluss<br />
nach Kanada fahren konnte, um Alkohol<br />
zu kaufen, und an jeder Straßenecke<br />
Bands spielten, die hofften, vom Motown-Label<br />
entdeckt zu werden. Heute<br />
ist es ein Modell, wie sich eine amerikanische<br />
Stadt nach dem Kapitalismus entwickeln<br />
kann: kreativ und alternativ. Eine<br />
Oase. Dass es nicht ganz einfach ist, hier<br />
zu leben, bewahrt es sie davor, zu einem<br />
zweiten Brooklyn zu werden.<br />
Nr.13<br />
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Nr.13
LEGENDE<br />
Text: Lorenz Schröter<br />
Fotos: The Ayn Rand® Institute<br />
SIE WAR MIT EINEM GUT AUSSEHENDEN SCHAUSPIELER<br />
VERHEIRATET, AMPHETAMINABHÄNGIG UND SCHRIEB<br />
MEHRERE BESTSELLER. SILICON-VALLEY-MILLIARDÄRE,<br />
BOLLYWOODSTARS UND MODEDESIGNER WIE RALPH<br />
LAUREN LASSEN SICH VON IHREM WERK LEITEN. AYN<br />
RANDS ULTRA-KAPITALISTISCHE WELTSICHT MUSS<br />
MAN SICHER NICHT TEILEN. OHNE SIE LÄSST SICH DIE<br />
AMERIKANISCHE GESELLSCHAFT ABER NICHT VERSTEHEN.<br />
„The right to agree is not a problem in<br />
any society. It is the right to disagree<br />
that is crucial. It is the institution of<br />
private property that protects and implements<br />
right to disagree.“<br />
Alissa Rosenbaum, wie Ayn Rand ursprünglich<br />
hieß, war die Tochter eines<br />
wohlhabenden Apothekers in Sankt<br />
Petersburg, der außerhalb des Judenviertels<br />
leben durfte. Mit der russischen<br />
Revolution verlor die Familie<br />
ihr Geschäft und floh auf die Krim. Anschließend<br />
studierte Rand Geschichte<br />
in Sankt Petersburg, führte Proletarier<br />
durch Museen und emigrierte mit<br />
zwanzig in die USA. Sie arbeitete als<br />
Kellnerin, Garderobiere und Drehbuch-Mitarbeiterin<br />
in Hollywood. Im<br />
Film „King of Kings“ ist die Atheistin<br />
ein Teil der Jesus zujubelnden Menge.<br />
Während der Dreharbeiten lernte sie<br />
Frank O’Conner kennen und heiratete<br />
ihn. Nebenbei schrieb sie. Buch um<br />
Buch, Theaterstücke, Drehbücher. Sie<br />
nahm Benzedrin (Speed), das war damals<br />
nicht verschreibungspflichtig, in<br />
den James-Bond-Büchern ist oft von<br />
„Bennies“ die Rede. Mit 38 schrieb Ayn<br />
Rand, so ihr angenommener Name,<br />
ihren ersten Bestseller: „The Fountainhead“,<br />
der ewige Quell, 1943 mit Gary<br />
Cooper verfilmt. Es handelt von einer<br />
Frau zwischen zwei Architekten, der<br />
eine ein willensstarker Modernisierer,<br />
der Wolkenkratzer baut, der andere ein<br />
erfolgreicher Opportunist.<br />
Es ist die Art von Büchern, die einen<br />
jungen idealistischen Geist entflammen<br />
können. Yaron Brook, heute Präsident<br />
der Ayn Rand Society, war in<br />
seiner Jugend ein guter Sozialist gewesen:<br />
„Das war jeder in Israel. Dann las<br />
ich mit 16 Jahren Ayn Rand und war<br />
komplett geschockt. Am Ende war ich<br />
überzeugt, ich hatte Unrecht und sie<br />
Recht.“<br />
Rands Ansichten sind stets dafür<br />
gut, um Gemeinschaftskundelehrer,<br />
Gewerkschaftler und Sozialisten zu<br />
ärgern. Warum Hungersnöte fast ausschließlich<br />
in sozialistischen Staaten<br />
vorkommen? Es im Sozialismus keine<br />
Meinungsfreiheit gibt? Für Rand eine<br />
klare Angelegenheit:<br />
„The basic issue is only: is man free?<br />
In mankind’s history, capitalism is the<br />
only system that answers yes.“<br />
In ihrem nächsten Buch „Atlas Shrugged“,<br />
Atlas wirft die Welt ab, verschwinden<br />
die Erfinder und Unternehmer. Sie<br />
wollen weg von einem Staat, der sie<br />
mit Vorschriften drangsaliert und sie<br />
durch Steuern enteignet. Sie gründen<br />
eine kapitalistische Utopie, über dem<br />
Eingang erhebt sich ein gewaltiges<br />
Dollarzeichen aus purem Gold. In einer<br />
berühmten Szene in „Atlas Shrugged“<br />
heißt es: „If you saw Atlas, the giant<br />
who holds the world on his shoulders,<br />
if you saw that he stood, blood running<br />
down his chest, his knees buckling,<br />
his arms trembling but still trying to<br />
hold the world aloft with the last of his<br />
strength, and the greater his effort the<br />
heavier the world bore down upon his<br />
shoulders - What would you tell him?“<br />
„I don‘t know. What could he do? What<br />
would you tell him?“<br />
„To shrug.“<br />
Dagny Taggert, die Hauptperson von<br />
„Atlas Shrugged“, gilt vielen als erste<br />
richtige Heldin der Literaturgeschichte.<br />
Sie entscheidet selbstbewusst und<br />
unabhängig, dient dabei aber auch<br />
gern Männern. Die Liebesszenen<br />
schwanken irgendwo zwischen Vergewaltigung<br />
und stummem SM. Feministinnen<br />
verachten und verehren sie,<br />
sowohl Dagny als auch ihre Schöpferin,<br />
die energische Kettenraucherin mit<br />
herrischer Stimme und dem goldenen<br />
Dollarzeichen als Brosche, die ihren<br />
Mann jeden Dienstag und Samstag aus<br />
dem gemeinsamen Apartment in der<br />
120 East 34th St schickt, um ihren halb<br />
so alten Liebhaber Nathaniel zu empfangen.<br />
Dessen Frau Barbara schrieb<br />
dann eine liebevolle Biografie über Ayn<br />
Rand. Als sich dann Nathaniel eine<br />
wesentlich jüngere Geliebte aussuchte,<br />
waren sowohl Barbara als auch Ayn<br />
sehr böse.<br />
„Tell me what a person finds sexually<br />
attractive and I will tell you their entire<br />
philosophy of life.“<br />
Ayn Rand war in den 50er-Jahren ein<br />
Superstar in Amerika. Ihre Vorträge<br />
waren extrem populär, sie hatte eine<br />
eigene Radio-Show, trat im Fernsehen<br />
auf; die Gesamtauflage ihrer Bücher<br />
beträgt 25 Millionen allein in den USA.<br />
Alan Greenspan, der fast zwanzig Jahre<br />
die amerikanische Notenbank leitete,<br />
war ihr eifriger Schüler. Auch wegen<br />
solcher Lehren:<br />
„It is morally obscene to regard wealth<br />
as an anonymous tribal product and to<br />
talk about redistributing it. The view<br />
that wealth is the result of some undifferentiated<br />
collective process, that we<br />
all did something and it is impossible to<br />
tell who did what, therefore some sorted<br />
equalitarian distribution is necessary<br />
might have been appropriate in<br />
the primary jungle with a savage horde<br />
moving boulders by brute physical labor.<br />
To hold that view in an industrial<br />
society where individual achievements<br />
are a matter of public record is so crass<br />
an evocation that even to give the benefit<br />
of the doubt is an obscenity.“<br />
Es sind demnach die Erfinder, die die<br />
„THE BASIC<br />
ISSUE IS ONLY:<br />
IS MAN FREE?”<br />
Welt am Laufen halten, es sind die<br />
Unternehmer, die Werte schaffen, und<br />
nicht der Staat, der nichts anderes tut,<br />
als fremdes Eigentum zu verteilen.<br />
Laut Ayn Rand sollte der Leviathan,<br />
wie Hobbes den Staat nennt, nur für<br />
die Sicherheit seiner Bürger sorgen, als<br />
sogenannter Nachtwächterstaat. Kultur,<br />
Bildung, Transport- und Gesundheitswesen<br />
sollten sich frei am Markt<br />
entfalten, Steuern seien unmoralisch.<br />
Monopole gäbe es nur, wo der Staat<br />
eingreift, Zölle erhebt, Vorschriften<br />
erlässt. Sie beruft sich dabei auf die<br />
Ökonomen der österreichischen Schule<br />
Hayek und Mises, die darauf hinwiesen,<br />
dass in einer staatlich geleiteten<br />
Wirtschaft Misswirtschaft entstehen<br />
muss, da es in der Planwirtschaft keine<br />
Nachfrage-Information gibt. In einem<br />
freien Markt signalisieren steigende<br />
Preise einen Mangel, der in Folge unternehmerische<br />
Kräfte anzieht und den<br />
Mangel behebt.<br />
„The difference between a welfare state<br />
and a totalitarian state is a matter of<br />
time.“<br />
Die Gründungsväter der USA und danach<br />
die Einwanderer aus Europa waren<br />
vor absolutistischen Herrschern<br />
und anderen Diktaturen geflohen. So<br />
wurde Freiheit für die Ausgestoßenen<br />
aus den herrschenden Systemen,<br />
der Wohlfahrtsstaat für die in Europa<br />
verbliebenen Nutznießer der Regimes<br />
zum Ideal.<br />
„The question isn‘t who is going to let<br />
me; it‘s who is going to stop me.“<br />
Die kleine Frau mit dem Pagenschnitt<br />
und der silberblauen Zigarettenspitze,<br />
geflohen vor den Sowjets, Selfmade-Millionärin,<br />
ist die Stimme dieses<br />
amerikanischen Ideals. Die Rechten<br />
von der Tea Party übernehmen zwar<br />
gern ihre Wirtschaftsideologie, ihr<br />
kämpferischer Atheismus stößt ihnen<br />
hingegen sauer auf.<br />
Ayn Rands Sprüche zieren heute<br />
T-Shirts, Universitäten tragen ihren<br />
Namen, die Internet-Unternehmer<br />
preisen sie, zurzeit wird die dritte<br />
Kino-Folge von „Atlas Shrugged“ gedreht.<br />
Die ersten beiden Teile floppten<br />
allerdings.<br />
1982, mit 77, starb sie an Lungenkrebs.<br />
Ihr Mann war ein paar Jahre vorher<br />
gestorben, ihre Schwester, enttäuscht<br />
vom Kapitalismus, war längst zurück<br />
in die Sowjetunion gezogen. Ayn Rand<br />
hinterließ keine Kinder. Bis zuletzt bestritt<br />
sie, dass ihre geliebten Zigaretten<br />
Marke Tareytons mit dem Krebs<br />
etwas zu tun haben könnten. Ihr sollt<br />
alle rauchen, hatte sie verkündet, wer<br />
raucht, ist ein Prometheus.<br />
Laut Gore Vidal ist die Philosophie von<br />
Ayn Rand (1905 – 1982) nahezu perfekt in<br />
ihrer Immoralität. Paul Ryan, Vizepräsidentschaftskandidat<br />
der Republikaner, und<br />
Amber Heard, die bisexuelle Freundin von<br />
Johnny Depp, sind Fans. Anne Hathaway liebt<br />
ihre Romane. Die meisten Google-Anfragen zu<br />
ihr kommen aus den USA und Indien.<br />
Nr.13<br />
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Nr.13
SCHNITTMUSTER<br />
Interview: Sina Braetz<br />
TORY<br />
BURCH<br />
EINST EIN TOMBOY AUF EINER FARM IN PENNSYLVANIA, HEUTE EINE DER WELTWEIT REICHSTEN FRAUEN MIT<br />
EINEM GLOBALEN MODEIMPERIUM: TORY BURCH HAT EINE MÄRCHENHAFTE METAMORPHOSE DURCHGEMACHT. DIE<br />
AMERIKANISCHE DESIGNERIN GESTALTET IN IHREM HELLEN, WEISSEN NEW YORKER ATELIER NICHT NUR FEMININE<br />
FRAUENMODE MIT KLASSISCHER SILHOUETTE, SONDERN AUCH BRILLEN, ACCESSOIRES, SCHUHE – DARUNTER IHRE<br />
BERÜHMTEN REVA BALLERINAS – UND EIN BREITES SORTIMENT AN BEAUTY-PRODUKTEN. UHREN FOLGEN IN DIESEM<br />
HERBST, EINE SPORTKOLLEKTION KOMMT NÄCHSTES JAHR NOCH DAZU. FRÄULEIN STELLTE DIE SELFMADE-MILLIARDÄRIN<br />
EIN SCHNITTMUSTER EINES KLEIDES AUS IHRER AKTUELLEN SOMMERKOLLEKTION ZUR VERFÜGUNG.<br />
<strong>Fräulein</strong>: Sie haben Ihr Label 2004<br />
gegründet. Hat sich Ihrer Meinung<br />
nach die Mode seither verändert?<br />
Tory Burch: Mode entwickelt sich stetig<br />
weiter – Designer wechseln ihre Häuser,<br />
Firmen schließen, neue Talente entwickeln<br />
sich. Die kontinuierliche Veränderung<br />
ist Teil von dem, was diese Industrie<br />
so spannend macht.<br />
Ihre Inspiration schöpfen Sie hauptsächlich<br />
aus den 60er- und 70er-Jahren,<br />
was fasziniert Sie so an der Zeit?<br />
Mit den 60er- und 70er-Jahren verbinde<br />
ich so viele, fantastische Stilikonen wie<br />
Faye Dunaway, Julie Christie, Marisa Berenson,<br />
Charlotte Rampling. Sie verbindet<br />
ein ungezwungen-einzigartiger Stil.<br />
Diese Ära erinnert mich zudem an meine<br />
Eltern, die oft nach Italien, Marokko und<br />
Griechenland gereist sind. Ich liebe es,<br />
Fotos von ihren faszinierenden Reisen<br />
anzuschauen.<br />
Ihre Eltern sind also eine Inspirationsquelle<br />
für Sie?<br />
Absolut! Nicht nur ihre Reisen, auch ihr<br />
Stil. Die Vintage Militärjacke meiner Mutter<br />
beispielsweise war einmal der Startpunkt<br />
einer ganzen Kollektion.<br />
Was macht eine Frau schön und sexy?<br />
Selbstvertrauen und ein Sinn für Humor.<br />
Ich denke, sexy zu sein hängt sehr stark<br />
mit Selbstbewusstsein zusammen, viel<br />
mehr mit einem Seelenzustand als mit<br />
einem persönlichen „Style“. Das hat auch<br />
die wahren Stilikonen ausgemacht und<br />
abgehoben von der Masse.<br />
Sie sind Mutter von drei Jungs sowie<br />
CEO, als auch Designer Ihres Labels.<br />
Das hört sich nach verdammt viel Arbeit<br />
an. Wie schaffen Sie das alles?<br />
Arbeit und Familie unter einen Hut zu<br />
bringen ist eine meiner größten Herausforderungen,<br />
aber ich habe einen guten<br />
Weg gefunden, alles zu managen, indem<br />
ich klare Prioritäten setze. So etwas muss<br />
man lernen. Ich fokussiere mich heute<br />
stark auf Zeitmanagement und muss<br />
manchmal einfach Grenzen setzen.<br />
Was sind das teilweise für Grenzen,<br />
die Sie setzen müssen?<br />
Zeit zu managen bedeutet sich klarzumachen,<br />
was man an einem Tag schaffen<br />
kann. Jeder Tag in meinem Leben ist<br />
anders und mein Terminkalender ändert<br />
sich ständig. Dennoch bringe ich meine<br />
Söhne jeden Tag zur Schule und schaffe es<br />
meistens, abends zum Essen zu Hause zu<br />
sein, selbst, wenn das bedeutet, auf dem<br />
Heimweg ein Meeting im Auto zu haben.<br />
Meine Söhne kommen immer an erster<br />
Stelle. Wenn ich keine gute Mutter wäre,<br />
wäre ich auch kein guter CEO.<br />
Sie selber sind auf einer Farm in Philadelphia<br />
aufgewachsen. Vermissen<br />
Sie manchmal diese Zeit im Vergleich<br />
zu dem rasanten, stressigen Leben in<br />
New York?<br />
Ich liebe es, in New York zu leben – die<br />
Stadt besitzt eine großartige Energie und<br />
tolle Persönlichkeiten. Ich empfand New<br />
York von Beginn an inspirierend, bis heute.<br />
Aber ich liebe auch das Landleben. Meine<br />
Jungs und ich gehen so oft wie möglich<br />
nach Long Island am Wochenende und<br />
verbringen so viel Zeit wie möglich.<br />
Sie waren früher eher ein Tomboy,<br />
stimmt das?<br />
Ja, ich wuchs mit drei Brüdern auf und<br />
war ziemlich bubenhaft. Ich habe fast<br />
meine ganze Zeit draußen verbracht, bin<br />
überall herumgerannt, habe Tennis gespielt<br />
und bin geritten. Ich habe bis zur<br />
High School fast nie Kleider getragen.<br />
Heute kleiden Sie sich sehr weiblich,<br />
auch der Stil Ihrer Marke ist sehr<br />
feminin…<br />
Das stimmt, aber eigentlich ist er feminin<br />
und „tomboyish“ zugleich. Ich mag den<br />
unerwarteten Mix und spiele gerne mit<br />
Kontrasten.<br />
2009 haben Sie Ihre Tory Burch<br />
Foundation gegründet, um Frauen<br />
wirtschaftlich zu unterstützen und<br />
zu stärken. Was hat Sie zu dieser<br />
Gründung motiviert?<br />
Als ich meine eigene Firma gegründet<br />
habe, sah ich zum ersten Mal die Herausforderungen,<br />
mit denen Frauen konfrontiert<br />
sind. Ich wollte anderen Frauen<br />
helfen und ihnen Kraft geben, ein eigenes<br />
Business zu gründen. Unsere Programme<br />
bieten mittlerweile Zugang zu Darlehen,<br />
Ausbildungsangeboten und Mentorenprogrammen.<br />
Wie arbeiten Sie im Design Department<br />
von Tory Burch? Wie gehen Sie<br />
an eine Kollektion heran?<br />
Das Konzept für eine Kollektion kommt<br />
meist zuerst - eine Idee, zu der wir dann<br />
Bilder und Stoffe sammeln. Dann folgen<br />
Skizzen und die Schnittmuster. Manchmal<br />
inspiriert ein Teil auch ein anderes.<br />
Warum haben Sie sich für das<br />
Schnittmuster dieses Kleides entschieden?<br />
Es ist simpel, aber sehr ausdrucksstark.<br />
Ich liebe die leichte A-Silhouette des<br />
Rocks. Das Kleid ist die perfekte Leinwand<br />
für großartige Verzierungen.<br />
Auch wenn Sie es oft gefragt werden<br />
als einer der reichsten Frauen weltweit:<br />
Was bedeutet Luxus für Sie<br />
wirklich?<br />
Für mich äußert sich Luxus in der Art und<br />
Weise, wie man sein Leben lebt, angefangen<br />
von der Zeit, die man mit seiner Familie<br />
und seinen Freunden verbringt, bis hin<br />
zu wie man anderen Menschen begegnet,<br />
wie man sie behandelt. Darauf lege ich<br />
großen Wert.<br />
Sie investieren viel in Social Media<br />
und E-Commerce. Wie gehen Sie mit<br />
sozialen Medien um als Individuum<br />
auf der einen Seite und als Business-Frau<br />
auf der anderen Seite?<br />
Das ist schwierig zu trennen. Ich kümmere<br />
mich in der Firma um Twitter und Instagram,<br />
mein Team dafür um Facebook,<br />
Pinterest, YouTube, Google+ und Co. Ich<br />
mag es, eine mehr oder weniger direkte<br />
Konversation zu führen mit den Kunden<br />
und von ihnen Feedback zu bekommen<br />
– dafür sind solche Kanäle ideal. Wir glauben,<br />
dass soziale Medien der Schlüssel<br />
zum Erfolg sind, um ein Business aufzubauen.<br />
Was wird Ihr nächstes Projekt sein?<br />
Uhren! Die werden in diesem Herbst gelauncht,<br />
sowie eine Sport-Kollektion im<br />
nächsten Jahr.<br />
Tory Burch gründete ihr namensgleiches<br />
Modelabel 2004 in New York und ist heute<br />
mit 100 eigenen Stores weltweit vertreten. Die<br />
Marke ist bekannt für ihren typischen „preppy-bohemian“<br />
Stil und umfasst mittlerweile<br />
ein Sortiment an Ready-to-wear, Accessoires<br />
und Beauty-Produkten.<br />
Nr.13<br />
60 61<br />
Nr.13
2A 2<br />
2B 2 2B 2<br />
2A 2<br />
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2B 2 2B 2<br />
2A 2 2A 2<br />
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2A 2A 2 2 2A 2A 2 2<br />
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3<br />
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3<br />
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2A 2A 2 2<br />
2B 2B 2 2<br />
NR. 13<br />
TORY BURCH<br />
2A 2<br />
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4<br />
4<br />
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2A 2<br />
12141489<br />
HEAVY BURLAP LONG DRESS<br />
1. FA1 HEAVY BURLAP (2X)<br />
LÄNGE: 4.4 YARDS<br />
BREITE: 55“<br />
2. FA2 ORGANZA (3X)<br />
LÄNGE: 1.05 YARDS<br />
BREITE: 51“<br />
3. FUSIBILE MBB40 (2X)<br />
LÄNGE: 1.1 YARDS<br />
BREITE: 57/58“<br />
4. LINING COTTON VOILE (2X)<br />
LÄNGE: 3.74 YARDS<br />
BREITE: 55“<br />
2A 2<br />
2B 2<br />
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2A 2A 2 2 2A 2A 2 2<br />
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2B 2B 2 2<br />
2B 2B 2 2<br />
2B 2B 2 2<br />
4<br />
4
PIN-UP<br />
Text: Sina Braetz<br />
Foto: Adam Fedderly<br />
ANDRÉ SARAIVA<br />
ANDRÉ SARAIVA SIEHT SELBST DANN NOCH SEXY AUS, WENN ER ALS HUND VERKLEIDET NACH WÜRSTCHEN<br />
LECHZT. SCHON AUF DEN GESCHMACK GEKOMMEN? FÜR UNS IST DER GRAFFITIKÜNSTLER, CLUBBESITZER<br />
UND CHEFREDAKTEUR DER L‘OFFICIEL HOMMES FRANKREICH NÄMLICH EINFACH UNWIDERSTEHLICH!<br />
Monsieur André? Das ist ein Mann, der vor Leidenschaft<br />
sprüht und einen riesigen Durst hat<br />
nach Leben, Spaß, Frauen und natürlich: Sex!<br />
André Saraiva verdreht Frauenköpfe mit einer<br />
Taktik, die er wahrscheinlich gar nicht mal beabsichtigt.<br />
Mit seinem Charme macht er einem<br />
erst Appetit, bis man dann einen richtigen Heißhunger<br />
bekommt. Auf mehr. Mehr von ihm, seiner<br />
Lässigkeit und von Fotos, auf denen er seine<br />
Klamotten fallen lässt – damit hat er nämlich<br />
kein Problem, erst recht nicht, wenn es sein bestes<br />
Stück zu sehen gibt. André ist ein Kumpeltyp<br />
und erfüllt davon – ganz hypothetisch natürlich<br />
-, ein perfekter Lover zu sein: keine Divaallüren,<br />
keine nervige Eitelkeit, kein Rumgezicke. Ein<br />
richtiger Mann eben. Spätestens seit man den<br />
nackten, sexy definierten Oberkörper des 40-Jährigen,<br />
fotografiert von Terry Richardson, auf<br />
dem Cover des „Purple Magazins“ gesehen hat,<br />
war klar: He´s got it! Ich erinnere mich an den<br />
Abend, an dem ich ihn das erste Mal in persona<br />
gesehen habe. Geschäftig lief er durch das Restaurant<br />
seines Pariser Hotels „Amour“. Es war<br />
Fashion Week, Full House. An fast jedem Tisch<br />
blieb der Halbschwede/Halbportuguiese stehen<br />
und begrüßte seine Leute. Die lieben ihn, egal ob<br />
Mann, Frau oder Kind. Es ist eben Master André.<br />
Seine Lederjacke und seine Jeans wirkten extrem<br />
heiß an ihm. Das eng sitzende Shirt ließ seinen<br />
muskulösen Körperbau erkennen. Selbst seine<br />
gegelte Mini-Rockabilly-Locke, die fast jeden<br />
anderen Kerl zu einem unattraktiven Macho machen<br />
würde, stand ihm genau wie sein Englisch<br />
mit französischem Akzent. Que beau grosse! In<br />
seinem Hotel, das ihm mit Thierry Costes gehört,<br />
spürt man den puren Sex gemischt mit einer<br />
Liebe zur Ästhetik. In den dunklen Fluren, die<br />
fast ein bisschen anrüchig wirken (aber stets mit<br />
Stil), sieht man den Mon sieur an einigen Wänden<br />
hängen, ziemlich gut getroffen und natürlich mit<br />
den schönsten Frauen. André lebt puren Sex und<br />
Spaß, lebt das Leben eines Jetsetter-Rockstars.<br />
Er ist Chefredakteur eines der besten Männermagazine,<br />
Hotel- und Clubbesitzer, Hero of the<br />
Night, kurz gesagt „Mr Allrounder“. Hinzu ist er<br />
der Mann hinter „Le Baron“, einem der angesagtesten<br />
Clubs in Paris. Affige VIP-Bereiche gibt es<br />
hier nicht – das wäre auch einfach nicht „André“,<br />
denn er ist bodenständig und hasst es, wenn<br />
Leute nach Geld und Ansehen urteilen. Mit dem<br />
Graffiti fing André an, als er als Kind von Schweden<br />
nach Paris zog. Anstelle von Liebesbriefen<br />
– denn mit denen hatte er es nicht so – schrieb<br />
er die Namen seiner Liebsten an die Wände –<br />
einfach zuckersüß, das Enfant Terrible! So wild<br />
der Künstler auch sein mag, in ihm schlummern<br />
romantische Vorstellungen von der einen, wahren<br />
Liebe. Für seinen Humor steht sein Mr A, mit<br />
dem er bekannt wurde, sein zwinkerndes, rosa<br />
Strichmännchen mit breitem Grinsen und coolem<br />
Zylinder. Das alles macht ihn nicht nur sexy, sondern<br />
auch noch extrem sympathisch!<br />
André Saraiva ( *1971, Uppsala, Schweden, aufgewachsen<br />
in Paris) wurde in den späten 90er-Jahren mit<br />
seinem Graffiti-Charakter „Mr. A“ bekannt. Saraiva ist<br />
Chefredakteur der französischen „L‘Officiel Hommes“<br />
und der Mastermind hinter dem Club „Le Baron“.<br />
65<br />
Nr. 13<br />
Nr.13<br />
64 65<br />
Nr.13
COVER<br />
Mantel Vintage Russel Bennett<br />
ALL<br />
AMERICAN<br />
INDIE<br />
GABY HOFFMANN HAT GENUG VOM PRÜDEN AMERIKA, EINEM MEGALOMANEN<br />
HOLLYWOOD UND DEN TOURISTEN, DIE IHRE HEIMATSTADT NEW YORK ÜBERRENNEN.<br />
AUFGEWACHSEN IM BERÜHMTEN „CHELSEA HOTEL“, IHRE MUTTER WAR ANDY WARHOLS<br />
SUPERSTAR VIVA, SIE SELBST EINER DER KINDERSTARS DER 90ER-JAHRE, WIRD SIE HEUTE<br />
ALS HOFFNUNG DES INDEPENDENT-FILMS GEFEIERT UND GEHT FÜR MEHR BÜRGERRECHTE<br />
PROTESTIEREN. EIN ECHTES FRÄULEIN EBEN.<br />
Interview Ruben Donsbach<br />
Fotos Tony Cox<br />
Styling Bernat Buscato<br />
Styling-Assistenz Anais Codina<br />
Cover: Jumpsuit Agnès B.<br />
Nr.13<br />
66<br />
Nr.13
COVER<br />
<strong>Fräulein</strong>: Hallo Miss <strong>Hoffmann</strong>,<br />
wie geht es Ihnen?<br />
<strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong>: Ehrlich gesagt bin ich<br />
gerade ziemlich krank. Ich habe mir einen<br />
schrecklichen Schnupfen während<br />
einer Demonstration durch den Bundesstaat<br />
New Hampshire zugezogen.<br />
Worum ging es da?<br />
In New Hampshire werden 2016 die<br />
ersten parteiinternen Vorwahlen abgehalten.<br />
Wir wollten Aufmerksamkeit<br />
für die Reform der Wahlkampf-Finanzierung<br />
schaffen. Nur 150.000<br />
Amerikaner, also 0,5 Prozent der Bevölkerung,<br />
finanzieren die Politik in<br />
unserem Land. Nur ihre Interessen<br />
spielen in Washington eine Rolle.<br />
Engagieren Sie sich regelmäßig politisch?<br />
Das kann man so nicht sagen. 1999<br />
begann ich mit dem College. Ein Jahr<br />
später wurde George W. Bush gewählt.<br />
Dann kamen die Anschläge auf das<br />
World Trade Center und der Krieg. All<br />
dieser Mist. Damals habe ich mich<br />
obsessiv mit dem politischen Leben<br />
beschäftigt. Seit zehn Jahren war das<br />
etwas eingeschlafen. Bis jetzt.<br />
Was hat 9/11 bei Ihnen ausgelöst?<br />
Es schien mir damals so, als zerbräche<br />
die Welt in tausend Teile. Das hat<br />
mir verdammt noch mal Angst eingejagt.<br />
9/11 war schon an sich tragisch<br />
und traumatisch. Dann wurde dieses<br />
Trauma von der Bush-Administration<br />
instrumentalisiert um den Krieg gegen<br />
Afghanistan, später den Irak zu rechtfertigen.<br />
Das öffnete mir die Augen für<br />
die Welt, ihre Konflikte und Spielregeln<br />
und die Rolle der Amerikaner darin.<br />
Sie sind in den 80er-Jahren in New<br />
York aufgewachsen. Wie hat sich<br />
Amerika, wie hat sich die Stadt seit<br />
Ihrer Kindheit verändert?<br />
Viele Ecken in Manhattan sind nicht<br />
wiederzuerkennen. Wir wohnten im<br />
„Chelsea Hotel“. Ich wuchs in West-Village<br />
und in der Lower East Side auf.<br />
Und was einst der Gay-Pornshop an<br />
der Ecke war, ist nun ein schicker<br />
Klamottenladen mit einem X-Millionen-Dollar-Apartment<br />
darüber. Ich<br />
will die Vergangenheit nicht romantisieren,<br />
das Verbrechen, die Probleme<br />
der 80er-Jahre, und ich liebe New York<br />
noch immer, aber es ist zu einer Stadt<br />
für Shopper und Immobilien-Mogule<br />
geworden.<br />
Wie war es im „Chelsea Hotel“ aufzuwachsen?<br />
Als Kind wollte ich eine Zeit lang lieber<br />
in den Vororten leben, in einem Haus<br />
mit weißen Gartenzäunen, weil ich<br />
dachte, das würde uns zu einer normalen<br />
Familie machen. Als wenn das<br />
den Charakter meiner Mutter geändert<br />
hätte! Es war in Wahrheit ein großes<br />
Glück, im „Chelsea Hotel“ aufzuwachsen.<br />
Ich rann barfuß durch die zehn<br />
Stockwerke, verschwand für Stunden<br />
in Apartments von Freunden, ob es<br />
nun ein Kind meines Alters war, das<br />
mir beibrachte Dope zu rauchen, oder<br />
eine 45-jährige Sängerin, die an ihrem<br />
neuen Album arbeitete.<br />
Sie haben dann als sehr junges<br />
Mädchen begonnen Filme wie<br />
„Schlaflos in Seattle“ mit Tom<br />
Hanks zu drehen.<br />
Das stimmt. Ich liebte es, am Set zu<br />
sein. Aber ich liebte es wegen der<br />
Menschen, liebte es, mit Erwachsenen<br />
zusammen zu sein und für jeweils drei<br />
Monate in einer transformierten Welt<br />
zu leben. Mehr war das nicht.<br />
In Ihrem aktuellen Film „Crystal<br />
Fairy“ spielen Sie eine sich in Chile<br />
herumtreibende Amerikanerin, die<br />
auf der Flucht vor ihrem eigenen<br />
Leben ist. Wie bereiten Sie sich auf<br />
so eine Rolle vor?<br />
Ich denke vorher viel über die Psychologie<br />
einer Figur nach, so wie ich selbst<br />
viel über meine eigene Psychologie und<br />
Psyche nachdenke. Spielen tue ich aber<br />
aus dem Instinkt heraus. Wenn jemand<br />
am Ende einer Szene „Cut“ sagt und ich<br />
das Gefühl habe, ich erwache aus einem<br />
Blackout, dann war das meistens gut.<br />
Der Film scheint eine Antithese<br />
zum digitalen Lebensstil zu sein,<br />
wie ihn zumindest die kalifornische<br />
Tech-Elite zelebriert.<br />
Da ist was dran. Ich versuche selbst so<br />
„disconnected“ wie möglich zu leben.<br />
Es gibt eine Verbindung von zwischenmenschlichen<br />
Kontakten, Empathie,<br />
Zuneigung und Technologie, die ziemlich<br />
kompliziert ist. Offensichtlich haben<br />
das Internet und unsere technischen<br />
Fortschritte viel Gutes bewirkt. Auf der<br />
anderen Seite gibt es dadurch aber immer<br />
mehr Trennendes, Desintegrierendes,<br />
darüber mache ich mir Sorgen. Ich<br />
versuche mich aus dieser ganzen Social-Media-Geschichte<br />
rauszuhalten und<br />
die Dinge so einfach und old school wie<br />
möglich zu halten. Menschliche Interaktion,<br />
in all ihrer Komplexität und Merkwürdigkeit,<br />
Nuanciertheit und Problematik<br />
ist schwer zu finden in einer SMS.<br />
Sie sind im Film mehrfach nackt zu<br />
sehen und dabei im Intimbereich<br />
nicht rasiert. Das hat in den USA zu<br />
einer kuriosen Debatte geführt.<br />
Das ist eines dieser amerikanischen<br />
Themen, über die man sprechen muss,<br />
weil es die Leute umtreibt. Ich wünschte<br />
„ICH VERSUCHE<br />
SELBST SO<br />
,DISCONNECTED‘<br />
WIE MÖGLICH ZU<br />
LEBEN“<br />
mir einfach, es wäre nicht so ein fucking<br />
Deal. Ich bin damit aufgewachsen, weder<br />
meine Achseln zu rasieren noch<br />
meine Pussy zu waxen. In Chile sagte<br />
der Regisseur Sebastián Silver zu mir:<br />
„Wie wäre es, wenn du high bist und alle<br />
Sachen ausziehst?“ Ich sagte: „Klingt super.“<br />
Wir wollten damit kein politisches<br />
Statement abgeben! Ich war grade in<br />
ein paar Folgen von dieser HBO-Serie<br />
„Girls“ nackt von der Hüfte abwärts zu<br />
sehen und jetzt geht die Debatte in die<br />
nächste Runde. Das alles unterstreicht<br />
Amerikas puritanisches Verhältnis<br />
zum eigenen Körper und zum Sex. Das<br />
interessiert mich aber nicht. Was als<br />
schön und ästhetisch empfunden wird,<br />
scheint sich eh alle zehn Jahre zu ändern.<br />
Irgendwann werde ich mit meinem<br />
Busch also wieder angesagt sein.<br />
Wie geht es Ihnen wirklich damit?<br />
Das stößt mich alles richtig ab und<br />
ist die totale Entstellung vermeintlich<br />
christlicher Werte. Wir sagen: Krieg,<br />
ja! Sex, nein! Gewalt, na klar! Nacktheit,<br />
eine Sünde! Das ist alles fucking<br />
durcheinander! Ich hoffe so sehr, dass<br />
wir wieder anfangen, die Schönheit<br />
und Bedeutung des Natürlichen, des<br />
Schönen und des Sex zu zelebrieren.<br />
In „Cristal Fairy“ hat Ihr Charakter<br />
den Hintergrund, eine Domina<br />
gewesen zu sein. Interessiert Sie<br />
diese Form der Sexualität?<br />
Nein, S&M, schwarzes Leder, Ketten,<br />
das alles hat mich nie sonderlich interessiert.<br />
Also ein wenig Aggression, na<br />
klar. Aber ansonsten ... vielleicht verpasse<br />
ich da ja was?<br />
Vor Kurzem haben Sie in einem Interview<br />
gesagt, dass Sie froh sind,<br />
dass das Hollywood-System zu einem<br />
Ende kommt und es einfacher<br />
wird, Filme zu drehen. Klingt nach<br />
„do it yourself“ und einer neuen<br />
Form der Selbstermächtigung.<br />
Es gibt immer mehr erfolgreiche<br />
DIY-Filmemacher. Das geht sicher mit<br />
einer Demokratisierung des Filmemachens<br />
einher ... Entschuldigung, ich bin<br />
auf so viel Erkältungsmedizin, dass ich<br />
kaum grade denken kann ... also, es ist<br />
zwar einfacher geworden, einen Film<br />
zu drehen, nicht aber als Filmemacher<br />
ein Auskommen zu finden. Währenddessen<br />
hat Hollywood völlig den<br />
Verstand verloren, was Inhalte und<br />
die Größe der Produktionen angeht.<br />
Während die gesellschaftliche und<br />
ökonomische Mittelschicht in Amerika<br />
wegbricht, gibt es auch im Film keinen<br />
wirklichen Mittelbau mehr. Das war in<br />
den 90er-Jahren noch gänzlich anders<br />
und ist ein Riesenproblem. Die Welt<br />
wird offener, aber dabei extremer. Ich<br />
setzte auf das Comeback der Mittelschicht.<br />
Als das New Hollywood dem Studiosystem<br />
den Rest gab, stand dies<br />
in Verbindung mit großen gesellschaftlichen<br />
Umbrüchen. Könnte<br />
das heute wieder so sein?<br />
Keine Ahnung. Vielleicht bin ich grade<br />
auch viel zu high auf diesen Medikamenten,<br />
aber manchmal habe ich einfach<br />
die Hoffnung, dass dieses ganze<br />
Chaos, alles, was wir versaut haben in<br />
Amerika, dass das irgendwann besser<br />
werden wird.<br />
Outfit Costume National<br />
Nr.13<br />
Nr.13
COVER<br />
Outfit Costume National<br />
Nr.13<br />
Nr.13
COVER<br />
Outfit Costume National<br />
Outfit Costume National<br />
Nr.13<br />
72<br />
Nr.13
Mantel Vintage Russel Bennett<br />
Nr.13<br />
74 75<br />
Nr.13
COVER<br />
Top Vintage Helmut Lang<br />
Es gibt derzeit nichts, was Ihnen<br />
an Amerika gefällt?<br />
Doch ... als ich nach New Hampshire<br />
fuhr um diesen Marsch durch den<br />
Bundesstaat mitzumachen um das<br />
Land wieder für uns Bürger zurückzufordern,<br />
da hörte ich ein Interview<br />
mit der russischen Journalistin Masha<br />
Gessen, die grade ein Buch über Pussy<br />
Riot geschrieben hat.<br />
Das Interview auf dem liberalen<br />
Sender NPR?<br />
Ja, genau. Sie sprach über die politische<br />
Situation in Russland. Da wurde mir<br />
noch mal klar, wie ambivalent mein<br />
Verhältnis zu meinem Land ist. Nur<br />
knapp 50 Jahre nach der Bürgerrechtsbewegung<br />
haben wir einen schwarzen,<br />
wiedergewählten Präsidenten. Auch<br />
wenn sie immer wieder verwässert<br />
und vergessen wird, die Vision, auf der<br />
Amerika gegründet worden ist, die Vision,<br />
dass jeder Mensch gleich sei und<br />
sagen könne, was er wolle, sie ist trotz<br />
allem noch immer greifbar. Dafür bin<br />
ich dankbar.<br />
Masha Gessen erzählt in dem Interview<br />
auf NPR davon, dass man<br />
ihr als lesbischer Frau und kritischer<br />
Journalistin in Russland<br />
gedroht hat zumindest eines ihrer<br />
Kinder wegzunehmen.<br />
Ja, das ist wirklich gruselig.<br />
Es mag abwegig sein, aber wurde<br />
Ihrer Mutter wegen ihrer unkonventionellen<br />
Lebensweise jemals<br />
Ähnliches in den USA angedroht?<br />
Oh, nein! Was denken Sie. Klar war bei<br />
uns alles etwas anders und wir gingen<br />
sonntags nicht in die Kirche. Aber natürlich<br />
besuchte ich die Schule, wurde<br />
vernünftig ernährt und betreut.<br />
Verstehen Sie mich nicht falsch, es<br />
geht mir eher um den gesellschaftlichen<br />
Konsens: In den 80er-Jahren<br />
war es zumindest in Deutschland<br />
völlig normal, dass Kinder<br />
auch noch spät mit ihren Eltern<br />
zu irgendwelchen Veranstaltungen<br />
gingen und dann einfach unter<br />
dem Tisch einschliefen. Heute<br />
wäre das undenkbar und würde<br />
sanktioniert. Da gab es einen Paradigmenwechsel.<br />
Okay, das stimmt allerdings und darüber<br />
spreche ich oft mit meinen Freunden.<br />
Es ist ja schön, dass Eltern heute<br />
so obsessiv mit ihren Kindern beschäftigt<br />
sind, aber das wird zunehmend<br />
extrem. In meinem Umfeld kommen<br />
Kinder mit zur Galerieeröffnung und<br />
sind trotzdem rechtzeitig im Bett. Wir<br />
sollten alle etwas relaxen. Auch wenn<br />
es in Anbetracht all dieses ökonomischen<br />
Stresses immer schwerer wird,<br />
Kindern ein gutes Zuhause zu bereiten,<br />
bin bin meiner Mutter einfach für ihre<br />
anti-autoritäre Erziehung dankbar.<br />
Gibt es auch etwas, auf das Sie sich<br />
dieses Jahr freuen?<br />
Ich und mein Freund haben ein kleines<br />
Bauprojekt am laufen. Wir haben einen<br />
alten Anhänger nördlich von New<br />
York in den Wäldern und bauen davor<br />
seit einiger Zeit eine Art Wintergarten.<br />
Dieses Frühjahr wollen wir damit fertig<br />
werden. Darauf freue ich mich sehr. Es<br />
gibt dann diesen völlig transparenten<br />
Raum in den Wäldern, in dem wir viele<br />
Freunde und Familienmitglieder willkommen<br />
heißen und selbst eine Familie<br />
gründen wollen.<br />
In den Wäldern geschehen manchmal<br />
merkwürdige Dinge. Was war<br />
Ihr skurrilstes Erlebnis?<br />
Ich habe mich sehr an das Heulen der<br />
Kojoten gewöhnt, an die Coydogs ...<br />
Aber eine Nacht tanzten mein Freund<br />
und ich im Wohnzimmer dieses kleinen<br />
Trailers. Es war Vollmond und<br />
es lief Otis Redding. Wir tanzten sehr<br />
eng umschlungen und alles war sehr<br />
romantisch, was uns selten unterläuft<br />
(lacht). Nein, das stimmt nicht ... Also<br />
wir tanzten, die Lichter waren aus und<br />
plötzlich zeigt mein Freund nach draußen<br />
auf die Veranda ... und das klingt<br />
jetzt nach einem Scherz, aber es ist<br />
wahr ... da standen zwei Waschbären<br />
auf den Hinterbeinen, sie tanzten ebenso<br />
eng umschlungen wie wir. Ich liebe<br />
Waschbären. Sie hinterlassen zwar<br />
eine Riesensauerei, aber sie sehen dabei<br />
verdammt gut aus!<br />
<strong>Gaby</strong> <strong>Hoffmann</strong> war durch Filme wie<br />
„Feld der Träume“ mit Kevin Costner und<br />
„Schlaflos in Seattle“ neben Macaulay<br />
Culkin einer der großen Kinderstars der<br />
frühen 90er-Jahre. Ihr letzter Kinofilm<br />
„Cristal Fairy“ wurde auf dem Sundance<br />
Festival gefeiert. Aktuell ist sie in Transparent,<br />
einer Amazon Original Series online<br />
zu sehen.<br />
Outfit Costume National<br />
Nr.13<br />
77<br />
Nr.13
Fotos Stefan Armbruster<br />
Haare & Make-up Patrick Glatthaar<br />
Styling Götz Offergeld & Maximilian Märzinger<br />
Model Ares / wienermodels.com<br />
Top Vintage<br />
Jeans Diesel<br />
Schuhe Dr. Martens<br />
Hemd PRPS Good & Co.<br />
Shorts Diesel<br />
Nr.13<br />
Nr.13
Jeans Cinque<br />
Top Vintage<br />
Jeans Diesel<br />
Schuhe Converse<br />
Nr.13<br />
Nr.13
Hemd Fred Perry<br />
Shorts Levi‘s Made & Crafted<br />
Schuhe Gucci<br />
Jeansweste G-Star<br />
Nr.13<br />
83<br />
Nr.13
SHADOW<br />
PLAY<br />
Anzug Lanvin<br />
Top Pirmin Blum<br />
Schuhe Musette<br />
Ohrringe Stine Goya<br />
Fotos Irina Gavrich<br />
Assistenz Patrick Melech<br />
Styling Maximilian Märzinger<br />
Haare & Make-up Patrick Glatthaar using Chanel und bumble&bumble<br />
Model Helena Severin / wienermodels.com<br />
Special thanks to Pirmin Blum Artspace<br />
Nr.13<br />
Nr.13
Blazer M Missoni<br />
Ohrringe Anton Heunis<br />
Anzug Petar Petrov<br />
Ohrringe Gemma Redux<br />
Schuhe Madeleine<br />
Nr.13<br />
86<br />
Nr.13
Anzug Petar Petrov<br />
Schuhe Madeleine
Anzug Wendy & Jim<br />
Sandalen Marni<br />
Sonnenbrille Robert La Roche Vintage<br />
Blazer Theory<br />
Ohrringe Cadenzza by Gemma Redux<br />
Nr.13<br />
91<br />
Nr.13
Top Bottega Veneta<br />
Hose Prada<br />
Gürtel Prada<br />
Schuhe Versace<br />
Fotos Stacey Mark<br />
Assistenz Colin Michael Simmons<br />
Styling Bernat Buscato<br />
Styling-Assistenz Anais Codina & Antwyone Ingram<br />
Haare Thanos Samaras / L‘Atelier<br />
Make-up Robert Greene / See Management<br />
Model Britany Nola / APM<br />
Nr.13<br />
92 92 93 93 Nr.13
Bluse Bottega Veneta<br />
Rock Tory Burch<br />
Schuhe Bottega Veneta<br />
BH Chantelle<br />
Mantel Burberry Prorsum<br />
Höschen Donna Karan<br />
Strumpfhose Wolford<br />
BH La Perla<br />
Schuhe Bottega Veneta<br />
Nr.13<br />
94<br />
Nr.13
Outfit Prada<br />
BH Chantelle<br />
Outfit Miu Miu<br />
Nr.13<br />
97<br />
Nr.13
DER KÖRPER<br />
Interview: Ruben Donsbach<br />
Foto: Mirjam Wählen<br />
trotz schiller,<br />
trotz heine,<br />
trotz humboldt<br />
SHERMIN LANGHOFF IST EINE DER MEISTDISKUTIERTEN THEATERMACHERINNEN<br />
DER REPUBLIK. IN DEM VON IHR CO-GELEITETEN GORKI-THEATER BRINGT SIE DIE<br />
LEBENSWIRKLICHKEITEN DER EINWANDERUNGSGESELLSCHAFT AUF DIE BÜHNE. EIN<br />
GESPRÄCH ÜBER MODERNES THEATER UND DEN KÖRPER ALS WAFFE.<br />
<strong>Fräulein</strong>: Frau Langhoff, bei den<br />
antiken Griechen wurde Fremdheit<br />
als zunehmende Distanz zum<br />
Zentrum Athen verstanden. Je<br />
fremder, desto fantastischer und<br />
monströser stellte man sich die<br />
Körper vor. Ist das heute in gewisser<br />
Weise noch immer so?<br />
Shermin Langhoff: Das ist jetzt eine<br />
hochphilosophische und dabei mehrschichtige<br />
Frage. Aber natürlich gibt es<br />
im zeitgenössischen Rassismus einen<br />
sehr archaischen Umgang mit Körper<br />
und Physiognomie. Der „Andere“ wird<br />
ausgehend von Haar-, Augen- und<br />
Hautfarbe markiert. Da mag jemand<br />
seit fünf Generationen als schwarzer<br />
Deutscher leben und ...<br />
... Bayerisch sprechen ...<br />
... und Bayrisch sprechen, ja! Es gibt<br />
eine Szene in unserer Produktion<br />
„Übergangsgesellschaft“. Der wunderbare<br />
Schauspieler Falilou Seck kommt<br />
nach vorne an den Bühnenrand und<br />
sagt: „Deutsch? Du willst wissen, was<br />
Deutsch ist? Ich zeig dir, was Deutsch<br />
ist!“ Er zieht sich das Hemd vom Leib,<br />
zeigt auf seinen Körper, seinen schwarzen,<br />
und sagt: „Das ist Deutsch!“<br />
Warum haben wir hierzulande<br />
noch immer so einen eingeschränkten<br />
Identitätsbegriff ?<br />
Erst mal ist die Identifizierung des eigenen<br />
Ich eine geringe intellektuelle<br />
Herausforderung: Ich werde ein „Ich“<br />
und behaupte es. So weit so gut. Nun<br />
aber gibt es parallel Millionen von<br />
Ich-Perspektiven, die sich auf ein und<br />
dieselbe Welt beziehen. Mit diesem<br />
„Schmerz“, dass eben nicht alle so sind<br />
wie ich, muss ich umgehen lernen.<br />
Denn wir sind alle Individuen und weder<br />
körperlich, politisch, philosophisch<br />
noch moralisch gleich. Aber jedes kluge<br />
Individuum weiß, dass man nur mit<br />
anderen etwas verändern kann.<br />
Was kann das Theater hier für einen<br />
Beitrag leisten?<br />
Als Künstlerin und Intellektuelle muss<br />
man, um mit Ai Weiwei zu sprechen,<br />
nicht auf den Tiananmen Platz gehen,<br />
um politisch zu sein. Zunächst hat man<br />
die soziale Verantwortung, die eigene<br />
Position, den eigenen Ausdruck zu entwickeln.<br />
Das ist nicht selbstverständlich.<br />
Gerade im Kulturbetrieb leben<br />
wir relativ bequem, gesponsert und in<br />
Anführungszeichen gekauft. Statt in alten<br />
Mustern zu verharren, müssen wir<br />
anerkennen, dass wir geprägt sind von<br />
Gleichzeitigkeiten und Komplexitäten.<br />
Diese Komplexität der Lebenswirklichkeiten<br />
wird zunehmend<br />
als Überlastung wahrgenommen.<br />
Sicher. Aber nicht immer zu Recht. Ich<br />
nehme jetzt mal Ihr Bild vom Anfang<br />
auf: Je weiter wir von Athen wegkommen,<br />
desto eher wird uns ein Bild<br />
vermittelt, dass alles so fürchterlich<br />
komplex wäre, dass da eh keiner mehr<br />
durchblicken kann – „da“ bei den Arabern<br />
oder Jugoslawen. Das ist natürlich<br />
Quatsch. In allen Konflikten mag es<br />
individual-psychologische Vorurteile<br />
und „Ängste vor dem Fremden“ geben.<br />
Doch die eigentliche Frage ist ja, was<br />
dem zugrunde liegt. Denn oft liegen<br />
diesen Konflikten knallharte ökonomische<br />
Interessen zugrunde, die aber<br />
verschleiert werden. In unserer Gesellschaft<br />
gilt die Prämisse des Kapitals:<br />
Wer ist nützlich? Wir definieren uns<br />
weniger über Werte als über Verwertungsmöglichkeiten.<br />
Ist der Körper in diesem Sinne nur<br />
noch eine Form von Rohstoff oder<br />
Kapital?<br />
Vielleicht. Aber Körper und Sprache<br />
können tatsächlich auch Waffen sein.<br />
Am Gorki-Theater versuchen wir Erwartungen,<br />
die an den Körper gestellt<br />
werden, zu unterlaufen. Auch kulturell.<br />
In „Verrücktes Blut“ stehen am Anfang<br />
zehn junge Männer und zwei Frauen<br />
auf der Bühne und produzieren, was<br />
man so von „dem“ Migrantenkind<br />
erwartet. Am Ende aber entwickelt<br />
sich ihre Lehrerin, mit der Fahne der<br />
Aufklärung und Schiller in der Hand,<br />
körperlich wie sprachlich zur Leitkulturchauvinistin.<br />
Sie selbst wird zur<br />
größten Gegnerin der Aufklärung, weil<br />
sie mit der Waffe in der Hand Schönheit<br />
erzwingen will. Und zwar Schönheit<br />
im Sinne der von ihr selbst aufgestellten<br />
Kategorien. Das Wahre und<br />
das Schöne und das Gute liegt aber in<br />
der Komplexität begraben und wird<br />
oftmals nur als Assimilationsstrategie<br />
missbraucht. Aber diese Kategorien<br />
ändern sich. Und für die Änderbaren<br />
machen wir Theater.<br />
Auf dem Majdan und auf dem Taksim<br />
haben Menschen ihren Körper<br />
eingesetzt, um sich politisch und<br />
auch künstlerisch zu äußern. Wie<br />
nahe, wie fern ist ein solcher Protest<br />
noch von der Bühne, dem politischen<br />
Theater?<br />
Erst mal befinden Sie sich auf der Bühne<br />
in einem geschützten Raum. Es gibt<br />
nicht dieses Risiko, welches die Versehrung<br />
des Leibes einschließt.<br />
Gibt es auch Parallelen?<br />
Die gibt es, denn in beiden Fällen gibt<br />
es eine öffentliche Äußerung. Manche<br />
unserer Performances würden auf<br />
dem Tahrir, dem Majdan oder Taksim<br />
vollzogen zu politischen Akten und<br />
gegebenenfalls verfolgt werden. Es ist<br />
aber ein Unterschied, ob Pussy Riot in<br />
einer Kirche einen Protest zelebriert,<br />
mit Musik und mit dem Körper als<br />
Waffe, oder ob sie auf einem Event von<br />
Amnesty International in London open<br />
air auftreten, vor bezahlenden, spendenden<br />
Menschen.<br />
Inwiefern kann und soll Kultur<br />
überhaupt aufklären?<br />
Hierzulande gibt es dafür ja ein prägendes<br />
Beispiel. Nach der monokulturellen<br />
Zuspitzung in Deutschland ...<br />
... während des Dritten Reichs ...<br />
... ist die Freiheit der Kunst und des<br />
Ausdrucks und damit fest verbunden<br />
die Förderung der Kunst zum konstituierenden<br />
Prinzip unserer Demokratie<br />
geworden. Man begriff, dass man<br />
besser auf die Künstler und die Kritik<br />
hören sollte. Im Kern hat das Heinrich<br />
Heine schon 1822 gewusst und geschrieben:<br />
„Wo man Bücher verbrennt,<br />
verbrennt man auch bald Menschen.“<br />
Und zwar trotz Heine, trotz Schiller,<br />
trotz Goethe, trotz Herder, trotz Lessing,<br />
trotz Humboldt.<br />
In der Vorbereitung auf dieses Interview<br />
ist mir aufgefallen, dass die<br />
Kultur, mit der ich mich persönlich<br />
umgebe, trotz vieler Freunde mit<br />
Migrationshintergrund, trotz Neugier<br />
und vermeintlicher Offenheit,<br />
„IM WESTEN<br />
LEBEN WIR<br />
OFTMALS BEQUEM,<br />
GESPONSERT UND<br />
GEKAUFT”<br />
recht gradlinig, westlich und weiß<br />
geprägt ist.<br />
Genau Ihre Wahrnehmung teile ich<br />
auch, dass man auf der einen Seite grade<br />
in seinen Alltagsrealitäten in einer<br />
großen Diversität lebt, dann aber die<br />
Szenen, in denen man sich bewegt,<br />
oft homogener sind, als man sich das<br />
zugestehen will. Ich glaube tatsächlich,<br />
dass diesen Heterogenität der Gesellschaft<br />
in den Medien noch zu wenig<br />
auftaucht, zu wenig selbstverständlich<br />
ist. Am Gorki versuchen wir für die im<br />
Werden befindliche Stadtgesellschaft<br />
heutige Bilder und Geschichten zu erzählen<br />
und die Stadtbewohner dazu<br />
einzuladen. Das hilft übrigens, aus<br />
diesem banalen Integrationsdiskursen<br />
herauszukommen und den Blick auf<br />
Deutschland, auf Berlin, zu schärfen.<br />
Wir wollen ein wirkliches Stadttheater<br />
sein.<br />
Am Ende aber sollen die vermeintlichen<br />
Unterschiede hinter einer<br />
neuen Stadtkultur verschwinden?<br />
Selbstverständlich nicht, aber es geht<br />
eben auch um die Gemeinsamkeit.<br />
Hier ist der Weg das Ziel. Jeden Tag<br />
verändern sich Möglichkeiten, Normen,<br />
Ökonomien, und die Verhandlung<br />
dessen muss ja irgendwo stattfinden.<br />
Wir haben nicht mehr die eine Agora,<br />
um noch mal bei den Griechen zu landen.<br />
Aber das Theater kann EIN Ort<br />
der öffentlichen Debatte sein. Diesen<br />
Anspruch haben wir, unseren Raum zu<br />
öffnen als Performanz-, aber auch als<br />
Denk- und Diskussionsraum. Und hier<br />
kann man die individuelle Verantwortung,<br />
die Ai Weiwei beschreibt, teilen.<br />
Damit stehen Sie am Gorki in einer<br />
langen Tradition.<br />
Als sich das Haus als Sing-Akademie<br />
im 19. Jahrhundert konstituierte, befand<br />
man sich am Übergang von einer<br />
rein feudalen hin zu einer bürgerlichen<br />
Kunst und Gesellschaft. Als dann in der<br />
DDR das Gorki von einer Singakademie<br />
zum Sprechtheater umgewidmet<br />
worden ist, da spielte der Gedanke der<br />
Übergangsgesellschaft hin zur Utopie,<br />
vom Sozialismus zum Kommunismus,<br />
eine wichtige Rolle. Der neue Mensch,<br />
der Arbeiter oder Proletarier, er sollte<br />
hier durch Autoren wie Heiner Müller<br />
und Volker Braun neue Geschichten,<br />
seine Geschichte erzählt bekommen.<br />
Das Ganze stellt sich natürlich viel<br />
komplexer dar. Aber an diesem Haus<br />
und in der Tradition solcher Ideen zu<br />
arbeiten, das ist mir immer eine große<br />
Ehre gewesen.<br />
Shermin Langhoff (1969* Bursa, Türkei) ist<br />
mit neun Jahren nach Deutschland gekommen.<br />
Sie war Kuratorin am Hebbel am Ufer<br />
Theater Berlin und bearbeitete dort das<br />
Projekt „X-Wohnungen“. Von 2008-2013 war<br />
Langhoff Künstlerische Leiterin des Ballhaus<br />
Naunynstraße, seit der Spielzeit 2013/14 teilt<br />
sie sich mit Jens Hillje die Intendanz des<br />
Gorki Theaters in Berlin.<br />
Nr.13<br />
98 99<br />
Nr.13
REPORTAGE<br />
Text: Maja Hoock<br />
Fotos: Johi von Bruises<br />
DARKTECH IST DER<br />
BÖSE BRUDER DES<br />
TECHNO. JENSEITS DES<br />
BALLERMANN-FLAIRS DER<br />
GROSSRAUMDISCOS,<br />
OHNE FESTE<br />
ROLLENZUSCHREIBUNG UND<br />
DEFINIERTE SEXUALITÄT,<br />
ERINNERT DIE SZENE AN<br />
DIE ANFÄNGE DES RAVE. SO<br />
WANDERT DER CLUB VON<br />
DER KIRCHE RUNTER IN DIE<br />
KRYPTA UND WIRD ZUM<br />
KRAFTWERK DER GEFÜHLE<br />
DER GENERATION Y.<br />
Es gibt eine Szene, die riecht nach<br />
Schweiß, schmeckt nach Club-Mate<br />
mit MDMA. und fühlt sich nach Muskelkater<br />
vom Tanzen an. Entsprechend<br />
athletisch sehen die Körper aus. Es ist<br />
eine Nachtclub-Kultur, in der es egal ist,<br />
ob man eine Frau, ein Mann oder etwas<br />
dazwischen ist. Jeder kann lieben, wen<br />
er will, und sein, wer er will. Es ist dort<br />
ohnehin so dunkel und verraucht, dass<br />
es keine Rolle mehr spielt und nach drei<br />
Tagen im Club sieht jedes Make-up aus<br />
wie das einer Drag-Queen. Das erinnert<br />
an die 1990er-Jahre, als die ersten<br />
Raves in Londoner Abrisshäusern eine<br />
Szene mit eigenen Stars wie Leigh Bowery<br />
hervorbrachten. Der präsentierte<br />
im Club „Taboo“ seine Outfits, die Ganzkörper-Kunstwerke<br />
waren, und zeigte<br />
damit, dass die Club-Kultur mehr als nur<br />
Party bedeutete: die Party des Lebens.<br />
Damals kam die Utopie der „Raving<br />
Society“ auf, einer Gesellschaft, in der<br />
freie Liebe und das Recht auf Verrücktheit<br />
massenkompatibel sind. Daraus<br />
ist offensichtlich nichts geworden und<br />
Mainstream-Techno erinnert heute eher<br />
an Ballermann auf Speed. Darum ist<br />
die Darktech-Szene als Techno-Underground,<br />
trotz ihrer teils populären Clubs<br />
wie dem „Berghain“, wieder als Subkultur<br />
zu verstehen. Sie fühlt sich eher von<br />
der „Fuck Parade“ als von der „Love Parade“<br />
angezogen, und das sagt viel: Erstere<br />
ist die anti-kommerzielle, von der Musik<br />
her wesentlich härtere und hedonistisch<br />
geprägte Gegenveranstaltung zum Massenphänomen.<br />
Dieses Prinzip lässt sich<br />
auf alle Clubs übertragen, in denen sich<br />
diese Leute treffen, ob nun „Berghain“,<br />
„Gegen Berlin“ / „KitKat“, „Loophole“,<br />
ihre teils namenlosen Äquivalente in<br />
Nr.13<br />
100 101<br />
Nr.13
REPORTAGE<br />
„ICH SPARE<br />
15.000 EURO<br />
FÜR MEINE<br />
BEERDIGUNG UND<br />
LEGE SCHON DIE<br />
PLAYLIST FEST“<br />
London und New York, sowie auf ihre<br />
illegalen Abrisshäuser-Partys. Natürlich<br />
geht es dort in erster Linie um das Feiern.<br />
Aber eben nicht nur. Darktech hat mehr<br />
mit den ausschweifenden Orgien der<br />
20er-Jahre-Bohème als mit Techno-Kids<br />
in Massendiscos gemein. Es geht um alternative<br />
Lebensstile. Doch im Gegensatz<br />
zu den 20ern ist das ausschweifende Leben<br />
in den Großstädten kein wirkliches<br />
Tabu mehr und muss ständig extremer<br />
werden, um eine Steigerung zu erfahren:<br />
Feiern dauern drei Tage am Stück, Sex<br />
gibt es auf der Tanzfläche und die Musik<br />
schaltet in ihrer Massivität den Verstand<br />
völlig aus. Der Soundtrack kommt<br />
von amGod, Tri-State, Empty Set, Voilet<br />
Shaped oder IVVVO und klingt wie ein<br />
rhythmischer mütterlicher Herzschlag,<br />
den man aus dem Bauch heraus wahrnimmt,<br />
also laut und all-einnehmend.<br />
Dabei hat die Musik etwas Zerstörerisches<br />
an sich: Stör-Töne und Bässe wie<br />
dreckige Tsunamis, die einen überrollen<br />
und die Kleidung am Körper vibrieren<br />
lassen. Mit dieser Musik sind Leute erwachsen<br />
geworden, die als Teenager<br />
Punk und Gothic mochten, denn sie<br />
klingt ähnlich hart und düster, ist aber<br />
nicht auf bestimmte Einstellungen festgelegt.<br />
Das ist die Disco der Generation Y, also<br />
ein „Taboo“-Publikum 2.0. Auch im Londoner<br />
„Taboo“ traf sich die Queer-Szene.<br />
Und auch heute hat die Szene ihre Stars;<br />
vielleicht nicht so expressiv wie einst<br />
Leigh Bowery, doch zumindest haben sie<br />
sich durch ihr regelmäßiges Auftreten<br />
einen Namen gemacht. Dazu zählt Johi<br />
von Bruises, die mit 18 Jahren aus der<br />
Punk-Welt zum Darktech gekommen ist,<br />
seitdem „permanent Party“ macht und<br />
ihr Club-Leben mit einer analogen Kamera<br />
festhält. Die Bilder der 22-Jährigen<br />
erinnern an Nan Goldin, doch statt New<br />
York um 1980 zeigen sie das Berlin der<br />
Jetzt-Zeit. Johi ist halb Britin und reist<br />
viel, doch sie weiß, dass das Zentrum des<br />
Darktechs momentan dort liegt: „Ich bin<br />
so froh, dass ich in Berlin wohne, weil<br />
hier gerade alles Wichtige passiert.“ An<br />
anderen Orten wird ihr langweilig, denn<br />
sie braucht die Aufmerksamkeit als Szene-Ikone.<br />
„Ein absolutes Main stream-<br />
Leben zu führen, wäre für mich Selbstmord“,<br />
sagt sie. Für das nötige Aufsehen<br />
sorgt sie durch ihre Stylings. Sie führt<br />
entweder ihr pompös gekleidetes Alter<br />
Ego „Stacey AB“ oder die trashigere „Johi<br />
von Bruises“ aus. „Wenn ich feiern gehe,<br />
dann exzessiv mit Full-Body-Outfit und<br />
immer anderen Persönlichkeiten: vom<br />
stillen Charakter bis zum Plappermaul,<br />
das alle beleidigt.“ Ihren Stil bezeichnet<br />
sie als „weibliche Transe“. Das bedeutet<br />
viel Schwarz, Leopardenmuster, Gold<br />
und High Heels. Außerdem liebt sie Tätowierungen<br />
und sticht sie sich teilweise<br />
selbst. Auf dem Oberschenkel trägt sie<br />
ein Portrait des Sängers Klaus Nomi; ein<br />
Zeichen ihrer Vorliebe für Extravaganz<br />
und das Spiel mit Geschlechterrollen.<br />
Der ästhetische Code der Darktech-Szene<br />
erinnert an eine New-Age Version<br />
des Goth-Punk und ist untrennbar mit<br />
der 90er-Jahre-liebenden Hipster-Kultur<br />
verbunden: Kleider und Röcke in<br />
Schwarz oder Weiß, bauchfreie<br />
Nr.13<br />
102 103<br />
Nr.13
REPORTAGE<br />
„EIN ABSOLUTES<br />
MAINTSTREAM-<br />
LEBEN WÄRE<br />
SELBSTMORD“<br />
Nr.13<br />
104 105<br />
Nr.13
REPORTAGE<br />
„IN DER DESTRUKTIVEN DARKTECH-<br />
ÄSTHETIK LIEGT IMMER AUCH<br />
EIN MOMENT DES KREIERENS.<br />
DIESES ZERSTÖRERISCHE MOMENT<br />
HAT EINE GROSSE KRAFT: MAN<br />
SCHALTET SICH AUF NULL UND<br />
DRÖHNT SICH SO MIT DROGEN<br />
ZU, DASS AUS DIESER LEERE<br />
NEUE LEBENSENERGIE GESCHÖPFT<br />
WIRD.“<br />
Tops und hüfthohe Shorts. Mit fließenden<br />
Stoffen und durchsichtigen Elementen<br />
geben sich die Frauen weibliche<br />
Silhouetten und kontrastieren sie mit<br />
hartem Leder oder Lack. Ketten, Bänder<br />
und Harnesse sind der Fetischszene<br />
entliehen, dazu kommen Statement-Schmuck,<br />
Perücken oder gefärbte<br />
Haare, strenge Pony-Frisuren und ein<br />
aussagekräftiger Lidstrich. Wer diesen<br />
Look trägt, will auch Teil der Szene sein.<br />
So auch Danai Moshona. Die 21-jährige<br />
Produktdesignerin ist als Tochter von<br />
Diplomaten um die Welt gereist und in<br />
Berlin gelandet. Durch ständige Umzüge<br />
musste sie sich immer wieder von<br />
Dingen trennen, die ihr wichtig waren.<br />
So erklärt sie sich ihren Hang dazu,<br />
durch das Aussehen in Erinnerung zu<br />
bleiben: „Schon in der Schulzeit bin ich<br />
mit Kopftuch und Hut darüber rumgelaufen.<br />
Irgendwann hatten wir einen Danai-Mottotag.<br />
Ich musste helle Jeans mit<br />
Blümchenhemd anziehen. Ich habe mich<br />
noch nie so unwohl gefühlt - als würde<br />
ich nackt über die Straße laufen und jeder<br />
kann in mich hineinblicken.“ Wenn<br />
sie heute ausgeht, bereitet sie sich mehrere<br />
Stunden darauf vor und kombiniert<br />
Elemente aus dem Punk mit klassischen<br />
Accessoires, also etwa eine Vintage-Lederjacke<br />
mit Kleid, Hut, Sonnenbrille und<br />
Ketten. Ihre schwarz-gefärbten Haare hat<br />
sie sich im Afro-Shop flechten lassen, die<br />
Haut ist weiß und die Lippen sind dunkelrot.<br />
So wurde sie zu einer zentralen<br />
Figur des Berliner Darktechs und macht<br />
in ihrer Freizeit seit drei Jahren über das<br />
Wochenende nichts anderes, als zu tanzen.<br />
Im Club findet sie Konstanten, da sie<br />
jeder kennt. „Hier kann ich mich spüren.<br />
Ich gehe elf bis zwölf Stunden ins Berghain<br />
und nur raus, um etwas zu essen.<br />
Alle Sorgen sind weg und ich komme in<br />
eine Trance.“<br />
Auch die 25-jährige Japanologie-Studentin<br />
Maike Schmidt bezeichnet die<br />
Szene als Ort, an dem die Leute ähnliche<br />
Dinge erwarten. Es verbindet sie eine<br />
Einstellung, die sie als „für den Moment<br />
sorgenfrei“ beschreibt. „Es geht vor allem<br />
um die Freiheit“, sagt sie. „Neulich<br />
hatte ich eine sehr schöne Erfahrung. Ich<br />
war vorher am Boden zerstört, dann bin<br />
ich alleine Tanzen gegangen und konnte<br />
nicht mehr aufhören. Morgens um elf<br />
Uhr bin ich aus dem Club gekommen<br />
und habe mich gut gefühlt. Das hatte eine<br />
reinigende Wirkung, eine Katharsis - als<br />
wäre alles gut.“ Die zierliche Frau mit den<br />
langen blonden Haaren zieht das Düstere<br />
und Tabuisierte an, das in der Szene offen<br />
ausgelebt wird. Die triebgesteuerte Seite<br />
der Psyche bekommt, was sie fordert:<br />
Rausch, kurzen Ruhm, Sex, Drogen und<br />
Musik, die den Kopf ausschaltet. „Das war<br />
am Anfang sogar ein bisschen Ehrfurcht<br />
einflößend. Nach und nach kann man<br />
diese Abgründe erkunden und etwas für<br />
sich selbst mitnehmen. Ich bin dann froh,<br />
dass ich genau zu dieser Zeit und an diesem<br />
Ort lebe.“ Auch die neunzehnjährige<br />
Lara Wehrs ist eine Art Szene-Institution<br />
und experimentiert mit dem Verbotenen:<br />
„Ich finde es interessant, dass in der destruktiven<br />
Ästhetik immer auch ein Moment<br />
des Kreierens liegt; dass also dieser<br />
zerstörerische Moment eine Kraft hat,<br />
die in der Szene gefeiert wird. Man schaltet<br />
auf null und versucht sich auch mit<br />
Drogen so zuzudröhnen, dass aus dieser<br />
Leere wieder Lebensenergie geschöpft<br />
wird.“ Ketamin hat teilweise das Ecstasy<br />
der Raver abgelöst, aber auch MDMA<br />
oder Speed werden verwendet: „Es ist<br />
fast wie ein telepathischer Moment in<br />
der Masse, wenn alle im gleichen Lichtspiel<br />
etwas Besonderes sehen und im<br />
Beat mitschwimmen.“ Das Portrait- und<br />
Aktmodel wirkt, während sie das sagt,<br />
lasziv wie eine französische Lolita. Ihre<br />
hellrot gefärbten Haare trägt sie sorglos<br />
hochgesteckt. Die erotische Energie<br />
und der überaus wache Geist springen<br />
einen an. Junge Frauen wie Johi, Maike,<br />
Danai und Lara suchen und finden in der<br />
Darktech-Szene einen Ort, an dem sie<br />
sich abseits der Mainstream-Partys ausprobieren<br />
können. „Die Szene ist mein<br />
Mind-Set“, sagt Lara dazu. „Ein Ort, um<br />
Fragen zu stellen, aber keine Antworten<br />
zu finden. Dort sind die Mittel gegeben,<br />
um etwas zu beginnen. Das kann man<br />
auf andere Bereiche übertragen – und<br />
dann seine Freiheit aus anderen Quellen<br />
schöpfen.“<br />
Wie immer in einer Szene, die besonders<br />
individuell sein will, ist niemand mehr<br />
wirklich anders. Und einer Feier-Kultur<br />
einen intellektuellen Überbau zu zimmern<br />
wäre sicher übertrieben. Dennoch<br />
bekommt die Generation Y mit dem<br />
Darktech ihren Underground zurück,<br />
nachdem Indie, Punk, Wave und Rave im<br />
Mainstream angekommen sind und sich<br />
damit irrelevant gemacht haben. Jede<br />
Generation braucht ihr zeitgemäßes „Taboo“;<br />
einen „verbotenen“ Ort, an dem sie<br />
wie einst Leigh Bowery Extreme erprobt,<br />
komplett ausklinkt und jenseits der<br />
Norm durchdrehen kann. Darum bedeutet<br />
die Darktech-Szene für einige mehr,<br />
als nur ein paar Nächte im Club. Johi von<br />
Bruises sieht sie als Möglichkeit, ein Leben<br />
zu gestalten. Ihre letzte Party plant<br />
sie darum bereits: „Ich spare 15.000 Euro<br />
für meine Beerdigung und lege schon<br />
die Playlist fest, darunter ‚Haus Arafna‘<br />
und ‚Grauzone‘. Es soll für die Gäste die<br />
beste Party ihres Lebens werden.“ Bis<br />
dahin feiert sie jedes Wochenende die<br />
beste Party ihres Lebens. Zumindest, bis<br />
sich irgendwann ein neues Ventil und ein<br />
neuer Sinn ergeben.<br />
Nr.13<br />
106 107<br />
Nr.13
SO STELL‘ ICH MIR DIE LIEBE VOR<br />
Protokoll: Lorenz Schröter<br />
Foto: Joegh Bullock<br />
„AUCH<br />
PORNOSTARS<br />
WERDEN ÄLTER“<br />
ANNIE SPRINKLE HAT 18 JAHRE LANG ALS PROSTITUIERTE GEARBEITET UND<br />
ANGEBLICH MIT 3452 MÄNNERN, 371 FRAUEN UND 83 ½ TRANSLEUTEN<br />
GESCHLAFEN. SPÄTER ENTDECKTE SIE DIE EROTIK DER NATUR UND VERANSTALTETE<br />
ZUSAMMEN MIT IHRER PARTNERIN SEX-PERFORMANCES IN DER SHOW „ECOSEX<br />
BOOTCAMP“. EIN ETWAS EXZENTRISCHER BLICK AUF DIE LIEBE.<br />
„Vor sechs Jahren habe ich die Erde<br />
geheiratet und betreibe seitdem Öko-<br />
Sex. Die Erde ist mein Liebhaber und<br />
ich liebe es, mit der Natur erotisch<br />
eins zu werden. Es ist eine eigene<br />
Weltanschauung, dazu habe ich ein<br />
Öko-Sex-Manifest auf meiner Website<br />
sexecology.org veröffentlicht. Die Erde<br />
ist nicht nur Mutter, sondern auch Geliebte.<br />
Ja, wir haben die Erde geheiratet,<br />
das war transgender, die Erde ist<br />
allgender. Wir hatten eine große Hochzeit,<br />
zusammen mit meiner Ehefrau<br />
Beth Stephens, sie ist auch Künstlerin.<br />
Wir heiraten öfter, in Frankreich, Kroatien,<br />
überall in Europa und Amerika.<br />
Mit der Erde war es meine 17. große<br />
Hochzeitsfeier.<br />
Natürlich haben wir die Erde vorher<br />
gefragt und wir denken, sie hat Ja gesagt.<br />
Wir haben gefragt! Zustimmung<br />
ist sehr wichtig. Wir umarmen auch<br />
nur Bäume, wenn wir sie vorher um<br />
Erlaubnis gebeten haben. Wenn so ein<br />
Baum es nicht mag, stirbt er. Öko-Sex<br />
ist eine Erweiterung der Sexualität,<br />
„WENN MAN NACKT IST,<br />
SIND ALLE MENSCHEN SCHÖN”<br />
man erotisiert alles, auch den Sternenhimmel.<br />
Das machen viele unbewusst,<br />
wenn sie nackt sind oder in der Badewanne,<br />
dann haben sie Sex mit dem<br />
Wasser oder wenn man nackt unter<br />
der heißen Sonne liegt. Die Menschen<br />
haben dauernd erotische Gefühle mit<br />
der Natur, nur geben sie das nicht zu.<br />
Auch der Anblick von schönen Blumen<br />
gehört dazu. Wenn man auf einem Motorrad<br />
den Fahrtwind spürt, kann man<br />
den Wind als Wind spüren oder ihn als<br />
erotisch annehmen und zulassen, dass<br />
er mit dir Liebe macht.<br />
Ich habe 20 Jahre als Prostituierte gearbeitet,<br />
damals war ich 18, und war<br />
sehr promiskuitiv. Ich mochte meine<br />
Arbeit als Prostituierte, ich mag Menschen,<br />
ich habe mit mehr als 3000<br />
von ihnen geschlafen und ich bin sehr<br />
stolz darauf. Ich hatte eine schöne Zeit,<br />
manchmal war es nicht nett, aber ich<br />
wurde nie vergewaltigt. Manchmal war<br />
es wirklich hart, aber das gehört zu<br />
meinen Erfahrungen. Das gehört zum<br />
Leben.<br />
Ich war in Pornomagazinen und habe<br />
Burlesque gemacht. Danach war ich<br />
15 Jahre monogam. Und dann wurde<br />
ich öko-sexuell und habe jeden Tag<br />
erotische Erfahrungen. Ich bin ja fast<br />
sechzig und es ist nicht langweilig.<br />
Auch wenn ich nackt durch die Natur<br />
laufe und die Redwoods umarme. Alles<br />
ist Liebe, Sex ist ein Teil der Liebe. Mit<br />
meiner Partnerin mache ich seit 17 Jahren<br />
Liebes-Projekte, denn die meisten<br />
Menschen haben so eine langweilige<br />
Vorstellung von Liebe wie diese Hallmark-Grußkarten<br />
mit den Liebessprüchen<br />
drauf.<br />
Ich gehe so oft ich kann ins Gym und<br />
wir gehen mit dem Hund spazieren.<br />
Ich versuche meinen Körper so zu lieben,<br />
wie er ist, und gebe auf ihn acht<br />
so gut ich kann. Wenn ich in den Spiegel<br />
schaue, kann ich mich sehr hart<br />
kritisieren oder meinen Körper schön<br />
finden, meist mache ich beides. Man<br />
sollte sich selbst lieben, das ist sehr<br />
wichtig. Auch wir Pornostars werden<br />
älter und sich mit früher zu vergleichen<br />
ergibt keinen Sinn, das macht einen<br />
nur unglücklich. Ich mache immer<br />
noch Performances und zieh mich auf<br />
der Bühne nackt aus und habe in unserer<br />
Show „Ecosex Bootcamp“ zusammen<br />
mit meiner Freundin in großen<br />
Schlammhaufen öffentlichen Sex. Ich<br />
liebe Menschen und das mochte ich an<br />
meiner Arbeit als Prostituierte: Wenn<br />
man nackt ist, sind alle schön.“<br />
Annie Sprinkle, 59, zeigte als Sex-Performance-Künstlerin<br />
dem Publikum gern ihren<br />
Gebärmutterhals. Ist sehr stolz, als erste<br />
Pornodarstellerin einen Doktortitel erworben<br />
zu haben. Thema: Arbeitsbedingungen von<br />
Sexarbeitern. Auf ihrer Website:<br />
www.anniesprinkle.org(asm).<br />
AUS DEM VORGESPRÄCH<br />
<strong>Fräulein</strong>: Sie haben mit 3452<br />
Männern, 371 Frauen und 83 ½<br />
Trans-Leuten geschlafen. Was hat<br />
es mit dem ½ auf sich?<br />
Annie Sprinkler: Oh, der/die war vermutlich<br />
im Übergang.<br />
Kann man queer sein, wenn man<br />
heterosexuell ist?<br />
AS: Absolut! Queer ist eine Geisteshaltung,<br />
man ist anders. Sie sehen für<br />
mich ziemlich queer aus.<br />
Ist das ein Kompliment?<br />
AS: Natürlich ist das als Kompliment<br />
gemeint. Wenn man als Mann für<br />
eine Frauenzeitschrift arbeitet, kann<br />
das schon ein wenig queer sein. Und<br />
du, bist du in eine Frau verliebt, einen<br />
Mann, Transgender oder einem Baum?<br />
Da muss ich mal nachschauen.<br />
AS: Ich nenne das radikal, radikal traditionell.<br />
Straight zu sein ist auch ziemlich<br />
queer.<br />
Manchmal denke ich, es ist abenteuerlicher<br />
straight zu sein.<br />
AS: Queers haben mitunter ein hartes<br />
Schicksal. Wenn man Frauenkleidung<br />
trägt, ist das schon queer. Viele von ihnen<br />
haben Probleme und passen nicht<br />
in die Gesellschaft. Mein Hund ist auch<br />
queer.<br />
Umarmt er auch Bäume?<br />
AS: Nein, er pisst sie an.<br />
Und dann umarmen Sie den Baum<br />
und entschuldigen sich für den<br />
Hund?<br />
AS: Den Bäumen scheint es nichts auszumachen.<br />
Da bin ich anderer Meinung.<br />
AS: Da könnten Sie recht haben. Aber<br />
es sind sehr große Bäume, Redwoods,<br />
die werden über 100 Meter hoch und<br />
können älter als 600 Jahre werden.<br />
Nr.13<br />
108 109<br />
Nr.13
EINE STIMME<br />
Protokoll: Jakob Krakel<br />
HELEN CALDICOTT<br />
HELEN CALDICOTT WAR LANGE ZEIT EINE DER PROFILIERTESTEN ANTI-ATOMKRAFT-<br />
AKTIVISTINNEN DER WELT. IHRE PERSÖNLICHE HINGABE FÜR DIE ZIVILGESELLSCHAFT IST<br />
BEISPIELHAFT. EIN GESPRÄCH ÜBER DIE LANGZEITFOLGEN ATOMARER VERSTRAHLUNG,<br />
WESTLICHE SCHURKENSTAATEN UND DIE TICKENDE ZEITBOMBE FUKUSHIMA.<br />
Als ich Ende der 50er-Jahre mit<br />
etwa 17 Jahren das Buch „On the Beach“<br />
von Nevil Shute las, war ich noch<br />
eine sehr unschuldige junge Frau. Ich<br />
wollte Menschen helfen, einer meiner<br />
großen Helden war Robin Hood. In „On<br />
the beach“ bricht durch ein Missverständnis<br />
ein nuklearer Krieg aus, der<br />
in kurzer Zeit große Teile der Weltbevölkerung<br />
auslöscht. Als sich die<br />
radioaktive Wolke Melbourne nähert,<br />
verteilt die Regierung Gift, sodass die<br />
Menschen ihre Babys töten können,<br />
bevor sie jämmerlich zugrunde gehen.<br />
Damals war das alles noch eine<br />
Dystopie, doch kurze Zeit später gab<br />
es genug atomare Waffen auf der Erde,<br />
um dieses Szenario plausibel werden<br />
zu lassen. Das hat meine Perspektive<br />
grundlegend verändert. Ich fühlte mich<br />
seitdem nie wieder sicher.<br />
Ich bin eine auf interne Medizin spezialisierte<br />
Kinderärztin. Ich verstehe sehr<br />
gut, was atomare Waffen und Strahlung<br />
Menschen antun können. Ich habe an<br />
der Harvard Medical School über zystische<br />
Fibrose geforscht und hätte Professorin<br />
werden können. Es war sehr<br />
schwierig für mich, meine Karriere für<br />
meinen Aktivismus aufzugeben. Ich<br />
liebe die Medizin. Doch mir blieb einfach<br />
keine Wahl. Als ich nach meiner<br />
Kündigung hinaus auf die Straße trat,<br />
fühlte ich mich nackt. Ich war kein cleverer<br />
Doktor der Harvard Universität<br />
mehr. Wer war ich? Also co-gründete<br />
ich „Physicians for Social Responsibility<br />
(PSR)“, eine Organisation, die bald<br />
von 23.000 Ärzten unterstützt wurde.<br />
Ein Agent in Hollywood arbeitete umsonst<br />
für mich und vermittelte mich in<br />
die Sendung „60 Minutes“, auch war<br />
ich in den Magazinen „Vogue“, „Time“<br />
und „Life“ vertreten.<br />
1985 bekam unsere Dachorganisation<br />
„Internationale Ärzte für die Verhütung<br />
des Atomkrieges (IPPNW)“ für<br />
ihr Engagement den Friedensnobelpreis<br />
überreicht. Nach dem Ende des<br />
Kalten Krieges hätten die USA und<br />
Russland dann einen weitreichenden<br />
Vertrag zum Abbau von Atomwaffen<br />
unterzeichnen müssen. Es kam anders.<br />
Beide besitzen noch heute 94 Prozent<br />
der Wasserstoffbomben. Sie sind<br />
die waren Schurkenstaaten und gefährden<br />
nachhaltig das Leben auf der<br />
Erde. Das ist extrem frustrierend. Firmen<br />
wie Lockheed Martin und Boeing<br />
beherrschen Politik und Wirtschaft.<br />
Zudem gibt es zu viele Unternehmen<br />
und Staaten, die von Soziopathen geleitet<br />
werden, die vielleicht brillant und<br />
charmant sind, aber kein moralisches<br />
Gewissen besitzen.<br />
Der Zwischenfall von Fukushima 2011<br />
und seine Folgen bedeuten trotz allem<br />
eine neue Stufe der Eskalation. Die Reaktoren<br />
dort stehen mittlerweile auf<br />
einer Art weichgespültem Dreck, weil<br />
ständig Wasser aus den Bergen die<br />
Fundamente unterspült. Im Gebäude<br />
4 gibt es einen frischen Kern, der kurz<br />
vor dem Tsunami aus dem eigentlichen<br />
Reaktorbecken gehoben wurde. Sollte<br />
es ein neues Erdbeben mit der Stärke<br />
7 oder höher geben, dann könnte das<br />
Gebäude einstürzen und eine Explosion<br />
auslösen. Zehnmal mehr Cäsium<br />
als während des Unglücks von Tschernobyl<br />
oder das Äquivalent von 14.000<br />
Hiroshima-Bomben würden dann in<br />
die Atmosphäre gelangen. Das würde<br />
je nach Windrichtung die komplette<br />
nördliche Hemisphäre mit Radioaktivität<br />
verseuchen und zu einem gewaltigen<br />
Anstieg der Krebsfälle und zu<br />
genetischen Deformationen führen.<br />
In Fukushima gab es zudem drei Kernschmelzen<br />
in den Einheiten 1-3. Sollte<br />
auch nur eines dieser Gebäude kollabieren,<br />
würde auch hier eine Unmenge<br />
an Radioaktivität freigesetzt werden.<br />
Jeder der Kerne enthält etwa 100 Tonnen<br />
Uran. Wir haben keine Ahnung,<br />
wo sie sich genau befinden. Ob sie auf<br />
dem Grund der Gebäude liegen oder<br />
sich bereits in den Untergrund eingeschmolzen<br />
haben. So oder so nimmt<br />
das Wasser, das aus den Bergen das<br />
Kraftwerk unterspült, die radioaktiven<br />
“IN DER GESCHICHTE DER<br />
MENSCHHEIT GAB ES NOCH NIE EINE<br />
SOLCHE GEFAHR WIE FUKUSHIMA”<br />
Isotope der Kerne auf und trägt sie bis<br />
ins Meer. Diese geschmolzenen Kerne<br />
können mit größter Wahrscheinlichkeit<br />
niemals geborgen werden. Selbst<br />
Roboter würden von diesen stark<br />
strahlenden Kernen zerstört werden.<br />
Pro Tag werden 300 Tonnen des verseuchten<br />
Wassers aus den Reaktoren<br />
in Container abgepumpt, von denen es<br />
mittlerweile ca. 1100 Stück auf dem Gelände<br />
über dem Kraftwerk gibt. Diese<br />
Tanks wurden von unqualifizierten Arbeitern<br />
errichtet, manche der Dichtungen<br />
sind aus Gummi, die Schrauben<br />
korrodieren. Bei einem starken Erdbeben<br />
würden diese Tanks kollabieren<br />
und all das gespeicherte Wasser in den<br />
Pazifik fließen.<br />
In der Geschichte der Menschheit<br />
gab es noch nie eine solche Situation.<br />
Es gibt für Fukushima keine Lösung.<br />
Und wenn einmal Radioaktivität in die<br />
Nahrungskette, darüber in den Körper,<br />
die Leber oder das Gehirn eingedrungen<br />
ist, wird man das nicht mehr los.<br />
Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit<br />
Krebs zu bekommen. Die Inkubationszeit<br />
dafür liegt zwischen 2-80 Jahren.<br />
Wir sprechen also über einen langfristigen,<br />
stummen, kryptogenetischen<br />
Prozess, den die meisten Menschen<br />
nicht überschauen können.<br />
Aber es geht nicht nur um Fukushima,<br />
sondern um die 400 Reaktoren in der<br />
Welt, die ein latentes Sicherheitsrisiko<br />
darstellen. Alleine 23 der Reaktoren<br />
in Amerika sind vom selben Typ wie<br />
Fukushima. Dazu kommt der ganze radioaktive<br />
Müll, 77.000 Tonnen in Amerika<br />
alleine, und keiner weiß wohin damit.<br />
Kein Container hält länger als 100<br />
Jahre, doch dieser Müll muss von der<br />
Ökosphäre für Millionen von Jahren<br />
isoliert bleiben. Das ist unmöglich.<br />
Schon während des Manhattan-Projektes<br />
wusste man von den Gefahren<br />
der Strahlung. Man wusste, dass Marie<br />
Curie und ihre Tochter am Radium<br />
zugrunde gegangen sind. Es gibt aber<br />
diesen Mythos, dass Atomkraft sauber<br />
und billig sei. Das ist eine Lüge. Selbst<br />
Wallstreet investiert nicht in sie. Die<br />
Kosten der Uranminen, der Anreicherungsprozess,<br />
der Bau der Reaktoren,<br />
die Kosten der Zwischen- und Endlagerung<br />
und nicht zuletzt die Kosten<br />
für die Gesundheit großer Teile der<br />
Bevölkerung, all dies wird nicht mit<br />
einkalkuliert. 53 Prozent der Weltbevölkerung<br />
sind Frauen, aber wir sind<br />
ziemliche Angsthasen. Es ist an der<br />
Zeit, sich zu erheben. Ich habe drei<br />
großartige Kinder und sieben Enkel.<br />
Ich mache mir wahnsinnige Sorgen um<br />
deren Zukunft. Ich werde trotz aller<br />
Zweifel nicht aufhören, auf Missstände<br />
hinzuweisen. „On the beach“ darf niemals<br />
Realität werden.<br />
Von Helen Caldicott (*1938 in Melbourne) ist<br />
auf Deutsch das Buch „Atomgefahr USA. Die<br />
nukleare Aufrüstung der Supermacht“ im<br />
Diederichs Verlag, München erschienen.<br />
Europa<br />
10 Wochen<br />
für nur<br />
10 €<br />
taz.de/10wochen<br />
D e r H i n t e r g r u n d i m V o r d e r g r u n d :<br />
Jetzt 10 Wochen taz lesen und Europa verstehen.<br />
Nr.13<br />
110 www.taz.de | abo@taz.de | T (030) 25 90 25 90<br />
111<br />
Nr.13
ANTIFRÄULEIN<br />
Text: Wäis Kiani<br />
Illustration: Katrin Funcke<br />
DAS 22-JÄHRIGE „UBER-MODEL“ CARA DELEVINGNE HATTE LANGE ZEIT<br />
NARRENFREIHEIT. MITTLERWEILE GEHEN UNS IHRE SAUF-ESKAPADEN EINFACH NUR<br />
NOCH AUF DIE NERVEN. EIN ABGESANG.<br />
Unser Anti-<strong>Fräulein</strong> ist nicht nur<br />
Topmodel, „Super-It-Girl“, und A-Celebrity,<br />
und sie wird nicht nur als das<br />
Gesicht des Jahres bezeichnet, sondern<br />
der DEKADE, wenn man der britischen<br />
Zeitung „Guardian“ glauben darf.<br />
Yes, UBER-Model Cara Delevingne ist<br />
ein 22-jähriger Mega-Weltstar, deren<br />
Ruhm sogar Kate Moss von ihrem<br />
Thron gestoßen hat. Aber wie kommt<br />
es, dass ein Engelsgesicht mit La-Perla-Wäsche-Body,<br />
stinkreichen Eltern,<br />
aristokratischem Background (ihre<br />
Grossmutter war Prinzessin Margrets<br />
Hofdame), Patenkind von Denver-Biest<br />
Joan Collins, best Buddy von Leuten<br />
wie Rihanna, Giorgia May Jagger, Rita<br />
Ora und Lieblingsmodel von Chanel-Karli<br />
ausgerechnet hier als Anti-<strong>Fräulein</strong><br />
endet? Nun, Miss Delevingnes<br />
Auftritte ausserhalb der Catwalks<br />
haben das, was man einen „süssen<br />
rebellischen Fratz“ nennen kann, leider<br />
lange verlassen. Die Tatsache dass<br />
Klein-Cara schon als Baby ein Tomboy<br />
war, am Schlagzeug genauso gut<br />
performen kann wie auf einem Fussballfeld,<br />
ihr Markenzeichen eine umgedrehte<br />
Baseballkappe ist, so wie sie<br />
Bart Simpson tragen würde, und Röcke<br />
hasst, war ein erfrischender Bruch zu<br />
der perfekten Oberfläche, die sie Werbenden,<br />
Designern und luxusliebenden<br />
Tusneldas in aller Welt bot. Aber Cara<br />
scheint der Erfolg tatsächlich nicht in<br />
den Kopf gestiegen zu sein, sondern<br />
woandershin. Die ewigen Schielaugen,<br />
verzogenen Gesichter, herausgestreckten<br />
Zungen und andere Fratzen<br />
kann man auch noch verstehen. Wer<br />
hat schon Lust, immer nur schön zu<br />
sein? Das machen doch nur die, die es<br />
nur mithilfe von Schönheits-OPs und<br />
Transen-Make-up und Instagram-Filtern<br />
sind, sowie die Kardashians, Paris<br />
Hilton und ihre Anhängerinnen. Cara<br />
ist natural blonde, natural beauty und<br />
natural fresh, sie darf in ausgeleierten<br />
Shirts und dreckigen Turnschuhen<br />
die Fotografen anschielen, soviel sie<br />
will, wir sind keine Spießer, wirklich<br />
nicht. Auch dass sie sich weniger für<br />
die Jungs, mit denen die Presse sie<br />
lange vergeblich versucht hat zu verlinken,<br />
wie zum Beispiel dem Brit-Star<br />
Harry Styles, mit dem sie nach einer<br />
Burberry-Show knutschend erwischt<br />
wurde, sondern für Frauen interessiert,<br />
finden wir und die Welt vollkommen in<br />
Ordnung. Das Foto von Rihannas Hand<br />
auf Caras nacktem Hintern bekam auf<br />
Instagram mehr als 150.000 Likes, das<br />
war letzten Sommer auf der Yacht, die<br />
der Popstar gemietet hatte, um vor der<br />
Küste Südfrankreichs in aller Ruhe mit<br />
ihren Freunden Orgien zu feiern. Aber<br />
was nicht mehr lustig ist, sind die bierdosenbreiten<br />
Bilder einer Proletin, die<br />
sich mit ihrer lesbischen Freundin Michelle<br />
Rodriguez bei einem Baseballspiel<br />
dermaßen volllaufen lässt, dass<br />
die beiden sich danach mit Paparazzi<br />
prügeln und auf dem Boden wälzen<br />
müssen. Genau wie das Bild einer komatösen<br />
Cara, die huckepack aus dem<br />
Londoner Club „Chinawhite“ herausgetragen<br />
wird, weil sie sich einfach nach<br />
dem Beyoncé-Konzert zu sehr amüsiert<br />
hat. Kate Moss hat es immerhin bis<br />
heute geschafft, von ihrem Begleiter gestützt<br />
auf ihren zwei Beinen nach dem<br />
Feiern herauszutorkeln. Auch wenn es<br />
schön ist, dass sich die britische Presse<br />
nicht zu schade ist, das versiffte Sweatshirt<br />
der Cara-Leiche als It-Piece und<br />
Kaufanregung zu hypen, haben wir bei<br />
den Fotos einer auf Vamp gestylten Cara<br />
ab jetzt das Gefühl, einer fatalen Lüge<br />
aufzusitzen.<br />
Nr.13<br />
112 113<br />
Nr.13
INTERVIEW<br />
Interview: Sina Braetz<br />
Fotos: Hadley Hudson<br />
PATRICIA BLACK<br />
PATRICIA BLACK WEISS<br />
GENAU, WIE DAS<br />
MODEBUSINESS TICKT,<br />
NUR SO KONNTE SIE ZU<br />
EINER DER TOP-STYLISTEN<br />
NEW YORKS WERDEN. SEIT<br />
2003 ARBEITET SIE ALS<br />
KREATIVDIREKTORIN DES<br />
SHOWROOMS ALBRIGHT<br />
FASHION LIBRARY, DER<br />
STYLISTEN, BLOGGERN,<br />
STARS UND DESIGNERN ALS<br />
BEGEHRTER STILBERATER<br />
GILT.<br />
„Sie ist süß, ich weiß nicht. Alle sind<br />
sie süß.“ Patricia Black grinst verschmitzt,<br />
zwinkert mit dem Auge und<br />
lässt sich lässig auf einen Stuhl fallen.<br />
Ihre kobaltblaue Mütze, ihr schwarzer<br />
Swea ter und ihre Wedges lassen sie<br />
noch größer und tougher erscheinen,<br />
als sie eigentlich schon ist. Dann schaut<br />
sie wieder zu dem jungen, hübschen<br />
Mädchen, das gerade in ein neues<br />
Outfit schlüpft. „Sie ist eine Bloggerin,<br />
eine von vielen, die wir beim Styling<br />
beraten. Frage mich nicht, warum sie<br />
hier ist.“ Black schnappt ein neues Outfit<br />
von einer der endlos scheinenden<br />
Kleiderstangen, die den hellen, 7000<br />
Quadratmeter großen Showroom des<br />
Mode-Verleihs „Albright Fashion Library“<br />
in New Yorks East Village zu<br />
einem wahren Paradies machen. Aus<br />
einem Riesenrepertoire an Kleidern –<br />
über 15.000 an der Zahl – Anzügen, Röcken,<br />
Blusen, Schuhen, Accessoires und<br />
Schmuck von Alexander Wang bis hin<br />
zu Valentino stellt Black mit Albright<br />
Outfits für unterschiedlichste Kunden<br />
zusammen.<br />
<strong>Fräulein</strong>: Mrs. Black, Sie haben es<br />
bis an die Spitze der New Yorker<br />
Fashion-Szene geschafft. Wichtige<br />
Trendsetter trauen Ihrem Rat. Wie<br />
haben Sie das gemacht?<br />
Patricia Black: Erst einmal glaube ich,<br />
dass es wichtig ist, sich für alles außer<br />
Mode zu interessieren, so komisch das<br />
klingt. Denn es ist das Leben, Kunst,<br />
Literatur, die Theatergeschichte, alles,<br />
was uns umgibt, das Trendsetter und<br />
Tastemaker inspiriert oder zumindest<br />
inspirieren sollte und was letztendlich<br />
unsere Mode formt.<br />
Sie arbeiteten lange als Stylistin<br />
in Atlanta. Was hat Sie nach New<br />
York verschlagen?<br />
Ich ließ mich damals grade in Atlanta<br />
scheiden und bekam dann über Umwege<br />
einen Job in New York, den ich<br />
nach 9/11 gleich wieder verlor. Ich arbeitete<br />
dann für einen Setdesigner, bis<br />
ich hier bei Albright landete. Das ist<br />
mittlerweile 10 Jahre her. Es ist okay, es<br />
ist ein Job (lacht).<br />
Das hört sich nicht nach großer<br />
Leidenschaft an!<br />
Meine Motivation sind die Leute, mit<br />
denen ich arbeite. Ich mag es, von Menschen<br />
umgeben zu sein, die kämpfen,<br />
das inspiriert mich. Etwa Künstler, die<br />
ohne Geld zu uns kommen und kurz<br />
vor ihrer ersten Galerie-Eröffnung stehen.<br />
Und es macht mir Spaß, Frauen zu<br />
beobachten, die sich in unserem Spiegel<br />
auf einmal anders wahrnehmen,<br />
sich neu entdecken und Selbstvertrauen<br />
finden.<br />
Wie schaffen Sie es, diesen Mädchen<br />
und Frauen zu helfen, einen<br />
eigenen Stil zu finden?<br />
Indem ich ein guter Zuhörer bin und<br />
ihr Verhalten beobachte. Heutzutage<br />
vergessen wir oft den menschlichen<br />
Austausch und die Signale, die wir immerzu<br />
aussenden. Natürlich hat jede<br />
meiner Kundinnen auch ein unterschiedliches<br />
„Publikum“, unterschiedliche<br />
Zielgruppen, ob Magazinleser<br />
oder Eventgäste. Es ist wichtig, ob die<br />
Kundin mit ihrem Mann zu einer Veranstaltung<br />
geht oder vielmehr einen<br />
finden möchte, ob sie mit ihrem Chef<br />
oder mit ihren Kollegen unterwegs ist.<br />
Das Publikum kennt immer die Wahrheit.<br />
Aber man muss dem Geschmack<br />
des Publikums nicht hundertprozentig<br />
folgen. Und so kann ein Outfit einen<br />
ganz anderen Menschen entstehen lassen<br />
– Kleider machen Leute.<br />
Man braucht also ein trainiertes<br />
Auge!<br />
Ja, nur das Traurige ist, dass wir alle<br />
kaum noch aufmerksam sind. Wir<br />
schauen auf die Diamanten und lassen<br />
uns davon blenden. Das ist das „Fashion-Game“.<br />
... ein Spiel, das mittlerweile einem<br />
immensen Demokratisierungsprozess<br />
unterlaufen hat. Mode wird<br />
immer offener und erreichbarer<br />
für eine große Gruppe. Inwiefern<br />
macht sich das in Ihrem beruflichen<br />
Alltag bemerkbar?<br />
Eine Beobachtung, die ich in den letzten<br />
Jahren machen musste, war, dass<br />
sich Freunde von mir, die schon ewig<br />
in der Fashion-Szene arbeiten, von<br />
heute auf morgen in der zweiten oder<br />
„DAS LEBEN IST<br />
KEIN ,DESPERATE<br />
HOUSEWIVES’“<br />
dritten Reihe bei den Shows wiederfanden.<br />
Hinter irgendwelchen Bloggern.<br />
Das verwirrt erst einmal. Auf der<br />
anderen Seite ermöglicht dieser Trend<br />
auch Menschen außerhalb des inneren<br />
Zirkels einen Zugang zur Mode, besonders<br />
zur High Fashion. Sie entwickeln<br />
so einen Sinn für Ästhetik, ohne allerdings<br />
ein fundiertes Wissen zu haben,<br />
woher Modetrends oder Designer<br />
kommen und was für eine Geschichte<br />
hinter ihnen steckt. Vielleicht bedeutet<br />
das heute auch nicht mehr so viel,<br />
ich bin mir da nicht so sicher. Aber ich<br />
glaube, wir haben die Poesie verloren.<br />
Was macht diese Poesie aus?<br />
Zeit zu haben zu reflektieren, zu reisen,<br />
sich inspirieren zu lassen. Heute<br />
scheint es, als würde jeder tagtäglich<br />
seinen eigenen roten Teppich entlangschreiten.<br />
Wenn wir aber alle nur in<br />
unseren Glashäusern sitzen und wegschauen,<br />
dann gibt es keine Entwicklung!<br />
Haben wir im Vergleich zu früher<br />
die Idole mit „Seele“ verloren?<br />
Ja. Das Leben ist weder „Desperate<br />
Housewives“ noch ein „Projekt Runway“.<br />
Es ist wichtig, dass eine Frau<br />
Selbstvertrauen hat, dass sie weiß, wer<br />
sie ist. Wenn nicht, dann hilft es auch<br />
nicht viel, sie in das schönste, sexieste<br />
Kleid einzuhüllen. Wir handeln mit Beträgen,<br />
die sich an Erziehung und Ausbildung,<br />
an Herkunft und Jobs messen.<br />
Es muss aber mehr geben an einer Person,<br />
eine Seele eben.<br />
Was inspiriert Sie persönlich?<br />
Meine Inspiration kommt aus meinem<br />
Filmwissen, aus meinem Alltag, aus<br />
Dingen, die ich auf der Straße oder in<br />
der Subway sehe. Unser Office liegt<br />
direkt gegenüber der Cooper Union<br />
School für Schüler, denen die finanzielle<br />
Unterstützung fehlt. Ich schaue<br />
gerne, was die Kids dort tragen. Das,<br />
was wir in der Mode machen, ist doch<br />
eigentlich nichts anderes als Beobachtetes<br />
zu glorifizieren, es in Kaschmir<br />
oder in die beste Seide der Welt zu verwandeln.<br />
Welche Erfahrungen haben Sie<br />
persönlich mit der Modeszene in<br />
New York gemacht?<br />
Es ist ein Club und Teil dieses Club zu<br />
werden kostet. Also zahlst und zahlst<br />
du, mit Geld, das du dir oft borgen<br />
musst, bevor du dort hinkommst, wo<br />
du hinwillst. Dabei geht das Ursprüngliche<br />
verloren. Die Herausforderung in<br />
New York ist meiner Meinung nach,<br />
etwas von dir zu erhalten, ohne dich<br />
von der Stadt auffressen zu lassen. Du<br />
musst bereit sein zu scheitern. Jeder<br />
liebt einen Gewinner, aber am meisten<br />
lieben wir diejenigen, die auf ihrer<br />
Strecke auch mal gefallen und wieder<br />
aufgestanden sind.<br />
Im März 2014 hat die Albright Fashion<br />
Library ihr zehnjähriges Jubiläum in<br />
Kooperation mit New Yorks Fashion Institute<br />
of Technology und einem Team aus Moderedakteuren,<br />
Stylisten und Kostümdesignern<br />
gefeiert. In einem Kurzfilm, der zurzeit im<br />
Rahmen der Ausstellung „Albright goes to<br />
school“ gezeigt wird, diskutiert das Team<br />
unter anderem die Bedeutung von Albright<br />
für ihren beruflichen Alltag.<br />
Nr.13<br />
114 115<br />
Nr.13
FEIERABEND<br />
Interview: Hanno Hauenstein<br />
Foto: Jonas Opperskalski<br />
Etgar Keret ist einer der bedeutensten<br />
zeitgenössischen Schriftsteller<br />
Israels und ein zwischen lustvoller Ironie<br />
und eigentümlicher Melancholie umhertreibender<br />
Geist. So darf an dieser Stelle<br />
zum ersten Mal auch ein Mann in der<br />
<strong>Fräulein</strong> auftauchen! Ein Gespräch in Tel<br />
Aviv über das wohl schmalste Haus der<br />
Welt, Miranda Julys E-Mail-Projekt „We<br />
Think Alone“ und das Schreiben zwischen<br />
Kunst und Politik.<br />
<strong>Fräulein</strong>: Herr Keret, was inspiriert<br />
Sie?<br />
Etgar Keret: Ich hatte mal eine Lesung<br />
in Chicago mit älteren jüdischen Damen.<br />
Eine von ihnen stand am Ende<br />
auf und sagte, ich sei gar kein richtiger<br />
Schriftsteller. Ich hätte gar keine Beschreibungen<br />
von Szenerien in meinen<br />
Geschichten. Warum schreibst du nicht,<br />
wie Dinge aussehen? Ich sagte, es interessiert<br />
mich nicht, wie Dinge aussehen.<br />
Was mich interessiert, sind lebende Kreaturen.<br />
Du kannst mir den schönsten<br />
Sonnenuntergang zeigen, den grünsten<br />
Hügel, die bezauberndste Blume, das<br />
interessiert mich alles einen Dreck. Der<br />
Blick eines Kindes, eine kichernde Frau,<br />
das ist das Spektrum, in dem ich Dinge<br />
fühle.<br />
Hier in Israel haben Sie eine Art<br />
Zwischenstellung als Schriftsteller<br />
und Kommentator. Letztes Jahr interviewten<br />
Sie Benjamin Netanjahu.<br />
Wo liegt für Sie die Grenze zwischen<br />
Kunst und Politik?<br />
In der Kunst geht es um die menschliche<br />
Verfassung – die ist von Haus aus ambivalent.<br />
Wenn jemand kommt und sagt,<br />
guck mal, hier passieren schreckliche<br />
Dinge, darüber solltest du schreiben,<br />
dann ist das ein Missverständnis. Das<br />
Stärkste an der Kunst ist, dass sie keine<br />
Funktion hat. Mit einem Buch kannst<br />
du nicht jagen oder googlen, es ist zu<br />
nichts gut, es spricht über Leute, die nie<br />
existiert haben, ist eine große Lüge, hat<br />
die Kraft der Infragestellung. Politische<br />
Kommentare dagegen haben etwas sehr<br />
Pragmatisches, das ist fast eine Art Anti-Schreiben.<br />
Der Titel einer Ihrer Geschichten<br />
lautet „Creative Writing“. Sie unterrichten<br />
selbst kreatives Schreiben.<br />
Kann jeder Schriftsteller werden?<br />
Das Erste, was ich meinen Studenten<br />
sage: Das ist keine echte Klasse hier.<br />
„ICH WUCHS<br />
OHNE WURZELN<br />
AUF, OHNE<br />
GROSSELTERN,<br />
OHNE SPRACHE“<br />
Schreiben kann man niemandem beibringen.<br />
Bei mir läuft das eher wie bei<br />
den Anonymen Alkoholikern. Da kommt<br />
wer, sagt, hey, mein Name ist Yaakov, ich<br />
schreibe Geschichten – wir antworten:<br />
Es ist okay Yaakov, wir auch! In den USA<br />
gibt es diese Tendenz zu denken, Schreiben<br />
sei Handwerk, einer lernt Schriftsteller,<br />
der nächste Zimmermann. Daran<br />
glaube ich nicht.<br />
Im deutschen Kanon gilt Schreiben<br />
eher als Produkt unerreichten<br />
Genies.<br />
Schreiben ist auch kein Geniewerk. Ich<br />
kann schlecht damit umgehen, wenn<br />
Leute Schriftsteller anhimmeln. Ich<br />
glaube, ein Schriftsteller ist jemand mit<br />
vielen Problemen, die er in Geschichten<br />
kanalisiert. Das ist ein aufrichtiger Akt,<br />
in dem man die intimsten Unfähigkeiten<br />
zugibt, aus fiktionalem Sicherheitsabstand.<br />
In meiner letzten Sammlung gibt<br />
es eine Geschichte namens „Teamwork“,<br />
über einen Vater und seinen Sohn, der<br />
von einem fetten Mädchen im Kindergarten<br />
gemein gezwickt wird. Der Vater<br />
sieht das, schubst das Mädchen und<br />
verletzt sie am Kopf. Später leugnet er,<br />
es getan zu haben. Auf einer Lesung<br />
in Berkeley sagte mir eine Frau, es sei<br />
großartig, dass ich einen so gewundenen<br />
Charakter erfinden konnte. Ich antwortete,<br />
ich habe ihn nicht erfunden, das bin<br />
ich selbst! Wann immer ich mit meinem<br />
Sohn rausgehe und ein anderes Kind ihn<br />
mit Sand bewirft, will ich dem Kind am<br />
liebsten ins Gesicht treten und wenn es<br />
blutet, sagen: Na, wie fühlt sich das an,<br />
du Stück Scheiße? In der Realität sage<br />
ich mir, es ist eben doch nur ein Kind,<br />
außerdem könnte ja die Polizei kommen.<br />
Ich schreibe über meine eigenen<br />
Abgründe.<br />
Hat das auch einen therapeutischen<br />
Aspekt?<br />
In erster Linie einen deklarativen. Meine<br />
Frau sagte mal, es nerve sie, dass ich<br />
so oft über verheiratete Männer schreibe,<br />
die ihre Frauen betrügen. Ich fragte<br />
sie, ob sie es lieber hätte, wenn ich von<br />
loyalen Männern schreiben und sie betrügen<br />
würde? Die Geschichten handeln<br />
davon, dass ich Frauen kenne, in die ich<br />
mich verlieben und mit denen ich schlafen<br />
will. Indem ich es deklariere, löse ich<br />
mich davon.<br />
Die erste Geschichte Ihrer jüngsten<br />
Sammlung handelt von drei aufdringlichen<br />
Typen in Tel Aviv, die Sie<br />
zwingen, eine Geschichte zu erzählen.<br />
Wie gehen Sie mit der israelischen<br />
Mentalität um?<br />
Ich liebe es hier. Die Kehrseite zu der<br />
Aufdringlichkeit ist unsere Großzügigkeit.<br />
Ich vermisse das, wenn ich in<br />
Europa oder den USA bin, das ist wie<br />
in einem guten Restaurant zu essen,<br />
mit dreckigen Toiletten. Was mich an<br />
Israel eher stört, ist ein Kind hier großzuziehen.<br />
Mein Sohn ist sieben. Bei den<br />
letzten Missile-Attacken auf Tel Aviv<br />
mussten wir uns alle ziemlich plötzlich<br />
auf den Boden legen. Er weigerte sich,<br />
meinte, der Boden sei nicht sauber genug.<br />
Ich fand mich in einer Situation<br />
wieder, wo ich ihn überreden und zusehen<br />
musste, wie er zum ersten Mal Hass<br />
empfindet und Rache nehmen will. Ich<br />
erklärte ihm dann, was Besatzung heißt.<br />
Solche Sachen würde ich von einem<br />
Siebenjährigen lieber fernhalten, so wie<br />
die Leute in Gaza ihre Kinder wohl auch<br />
lieber unter anderen Bedingungen großziehen<br />
würden.<br />
Es scheint schwierig, damit umzugehen,<br />
dass Tel Aviv und Gaza lediglich<br />
40 Kilometer voneinander<br />
entfernt liegen.<br />
Früher war das einfacher für mich, da<br />
lebte ich komplett in der Gegenwart. Mit<br />
einem Kind wird die Vergangenheit und<br />
die Zukunft ein Teil deines Lebens.<br />
Für viele scheint die Entscheidung,<br />
in Israel zu bleiben oder von hier<br />
wegzugehen, sehr emotional besetzt,<br />
mehr als in Europa.<br />
Da stimme ich zu. Der Unterschied ist,<br />
sowohl die Argumente hier zu bleiben,<br />
als auch die dafür, Israel zu verlassen,<br />
gehen auf mein Jüdisch-Sein zurück.<br />
Das Argument zu bleiben nährt sich aus<br />
dem Konzept von Zuhause. Mich mit<br />
dem Premierminister, Bürgermeister<br />
oder sonst wem zu streiten ist etwas,<br />
das ich tun kann, ohne dass wer sagt:<br />
Geh verdammt noch mal dahin zurück,<br />
wo du herkommst. Das ist ein Geschenk,<br />
das meine Eltern nie hatten – ein starkes<br />
Erbe.<br />
Sehen Sie Unterschiede darin, wie<br />
sie selbst, als Vertreter der zweiten<br />
Generation Holocaust-Überlebender,<br />
und die dritte Generation mit<br />
diesem Erbe umgehen?<br />
Große Unterschiede! Ich wuchs ohne<br />
Wurzeln auf, ohne Großeltern, ohne<br />
Sprache, die ich mit meinem Großvater<br />
hätte teilen können. Dieser Bruch<br />
erzeugt ein Verlangen, Dinge zu verstetigen.<br />
Meine Eltern hatten so ein Verlangen<br />
nie. Deshalb hat Immigration für<br />
mich auch immer den Beigeschmack,<br />
dem Sterben einen Schritt näher zu sein.<br />
Dazu kommt: Ich bin ein Hakenkreuzmagnet.<br />
Symbolisch gesprochen?<br />
Nein, physisch! Ich gehe wohin, sehe<br />
mich um und finde eins! Das scheint mir<br />
so eine Art Disposition zu sein. Auf der<br />
anderen Seite erinnert mich dieses Erbe<br />
auch daran, dass wir überlebt haben,<br />
weil wir zu der Zeit, als die Nazis gewählt<br />
wurden, die Ersten waren, die unsere<br />
Sachen packten und abhauten. Heute<br />
gibt es wieder Leute um uns herum, die<br />
meinen Sohn gerne tot sehen würden.<br />
Deshalb gibt es auch diese Seite, die mir<br />
sagt, wir sollten schleunigst raus hier.<br />
Der Architekt Jakub Szczesny hat in<br />
Warschau ein Haus nach dem Vorbild<br />
Ihrer Geschichten erbaut. Waren<br />
Sie schon dort?<br />
Ja, und es ist nicht so klaustrophobisch,<br />
wie man denken könnte! Auf kleinstem<br />
Raum liefert es alles, was ein Haus<br />
braucht, das sind die Proportionen, die<br />
er meinen Geschichten entnimmt. Es<br />
liegt an einem Ort, den meine Mutter gut<br />
kannte, da sie ins Warschauer Ghetto<br />
Essen schmuggelte. Das Haus steht genau<br />
an der Stelle, wo man früher vom<br />
kleinen ins große<br />
Nr.13<br />
116 117<br />
Nr.13
Ghetto gelangte.Für mich war es ein<br />
bewegendes Projekt, weil es meinen Familiennamen<br />
am Leben erhielt an dem<br />
Ort, wo er ausradiert wurde. Polen ist ein<br />
wichtiger Ort für mich, dort werde ich<br />
am meisten gelesen, der Charakter und<br />
der Humor meiner Geschichten funktioniert<br />
dort wohl sehr gut. Als meine<br />
Mutter meine Geschichten auf Polnisch<br />
las, meinte sie, ich sei eigentlich ein polnischer<br />
Schriftsteller im Exil.<br />
In Israel und in Deutschland hat<br />
man manchmal das Gefühl, die Erinnerung<br />
an den Holocaust werde<br />
zu einem starren Staatsnarrativ institutionalisiert.<br />
Ist das Keret-Haus<br />
eine alternative Form von Erinnerung?<br />
Erinnerung war für mich immer etwas<br />
Lebendiges und Dynamisches. Mein<br />
Problem mit Mahnmalen ist, dass sie<br />
von Vergangenheit handeln, nicht von<br />
Gegenwart. Das Keret-Haus wird immer<br />
von einer Gruppe von vier Menschen<br />
besichtigt. Das letzte Mal, als ich da war,<br />
standen da vier Leute, die Witwe des<br />
Pianisten Władysław Szpilman, ein italienischer<br />
Architekt, eine polnische Frau,<br />
die ein großer Fan meiner Geschichten<br />
ist, und ein Kind. Szpilmans Witwe war<br />
den Tränen nahe, wegen diesem Stück<br />
jüdischer Kultur mitten im Ghetto, ein<br />
Fakt, den niemand verleugnen kann. Der<br />
Italiener war begeistert, dass das Haus<br />
nicht auseinanderfiel, für ihn ging es um<br />
Architektur. Mein Fan sagte: „Wow, ich<br />
sehe die Verbindung, so minimalistisch<br />
und so funktional zugleich!“ Und das<br />
Kind sagte: „Yeah, ein Piratenschiff, dort<br />
gibt’s eine Leiter, da kann ich hochklettern!“<br />
Es gibt etwas sehr undefiniert-offenes<br />
an dem Projekt, das ist genau<br />
das, was es ausmacht. Wie in einer Geschichte,<br />
die immer auch eine Mischung<br />
ist aus dem Text und dem Rätsel, das<br />
darin versteckt liegt. So funktioniert das<br />
Gebäude. Die Leute suchen und finden<br />
etwas. Das ist übrigens auch, was ich an<br />
der Kunst mag, sie soll mir keine Lektionen<br />
erteilen, sie soll etwas liefern, womit<br />
ich selbst etwas anfangen kann.<br />
„ES INTERESSIERT<br />
MICH NICHT, OB<br />
MAN BÜCHER<br />
VERBRENNT,<br />
NACHDEM MAN<br />
SIE SCHREIBT, OB<br />
MAN AUF SIE<br />
SCHEISST,<br />
NACHDEM MAN<br />
SIE LIEST“<br />
Zusammen mit Lena Dunham,<br />
Kirsten Dunst und anderen haben<br />
Sie an „We Think Alone“ mitgewirkt,<br />
Miranda Julys letztem Online-Projekt,<br />
in dem man die privaten<br />
E-Mails bekannter Personen einsehen<br />
konnte. Liegt hier die Zukunft<br />
der Literatur? Werden sich Bücher<br />
überleben?<br />
Mich interessieren die Geschichten. Die<br />
überleben immer.<br />
Das Medium spielt keine Rolle?<br />
Nein. Die Diskussion, ob Kindles nun<br />
Bücher ablösen, gab es so ähnlich ja<br />
schon zu der Zeit, als der Film erfunden<br />
wurde. Meine erste Geschichte schrieb<br />
ich auf einem Computer, in einer dieser<br />
48-Stunden-Schichten in der Armee. Als<br />
meine Ablöse kam, fragte ich ihn, ob er<br />
sie lesen wollte, er verneinte, also sagte<br />
ich: Fuck off, druckte die Story, nahm sie<br />
mit zum Haus meines Bruders nach Tel<br />
Aviv und fragte ihn. Es war sechs Uhr<br />
morgens und seine Freundin war jetzt<br />
wach und angefressen, trotzdem sagte<br />
er, okay, wir machen einen Spaziergang<br />
mit dem Hund. Wir gingen los, er fing an<br />
zu lesen und, nun ja, der Hund musste<br />
scheißen. Es war ein sehr entschlossener<br />
Hund, mein Bruder las, doch der<br />
Hund hüpfte und zog ihn wie ein Gummiball<br />
über den Boulevard. Zum Glück<br />
sind meine Geschichten sehr kurz, zwei<br />
Minuten später hatte mein Bruder also<br />
fertig gelesen, sah mich mit funkelnden<br />
Augen an und sagte, sie sei großartig.<br />
In dem Moment setzte sein Hund einen<br />
dicken Haufen in die Mitte des Boulevards.<br />
Mein Bruder fragte, ob ich eine<br />
Kopie der Geschichte hätte. Die hatte ich,<br />
also nahm er das Papier und räumte die<br />
Scheiße damit weg. In diesem Moment<br />
verstand ich, dass ich Schriftsteller werden<br />
wollte. Mein Bruder lehrte mich:<br />
Geschichten liegen nicht im Papier – ein<br />
Argument für Bücherverbrennung. Es<br />
interessiert mich nicht, ob man Bücher<br />
verbrennt, nachdem man sie schreibt,<br />
ob man auf sie scheißt, nachdem man sie<br />
liest. Ein Buch kann dich an einen anderen<br />
Ort bringen, darauf kommt es an.<br />
Was sind Ihre schriftstellerischen<br />
Einflüsse?<br />
Kafka war eine Befreiung. Ich verstand,<br />
dass es einen Menschen auf dieser Welt<br />
gab, der abgefuckter war als ich selbst,<br />
das half mir, etwa in der Armee, wo ich<br />
ständig mit meiner absoluten Inkompetenz<br />
konfrontiert war. Für Individuelles,<br />
Andersartiges, Fettes, Kleines ist da kein<br />
Platz.<br />
Sehen Sie sich in einer Linie mit<br />
israelischen Schriftstellern wie<br />
Amos Oz, David Grossman, Yoram<br />
Kaniuk?<br />
Mit Oz wuchs ich auf, er ist begnadet.<br />
Generell glaube ich aber, das israelische<br />
Modell von Schreiben findet oft vor einem<br />
befriedenden Horizont statt, vor<br />
dem die Autoren dann als so eine Art säkulare<br />
Propheten dastehen. Auch wenn<br />
ich diese Art Literatur gern lese, ich fühle<br />
mich dem nicht zugehörig.<br />
Weil Sie das als bevormundend<br />
empfinden?<br />
Nicht bevormundend, nein. Es ist ein<br />
junges Land, die Leute hier sind auf der<br />
Suche. Als Leser könnte ich mich darin<br />
verlieben. Ich hatte nur immer den Eindruck,<br />
die Protagonisten sind bessere<br />
Menschen als ich. Da fühle ich mich verzweifelter,<br />
jüdischer Literatur von Leuten<br />
wie Shelly Singer, Shaul Ha’Melech<br />
oder Phillip Roth mehr verbunden, Leute<br />
in der Diaspora, wo sich der Dialog<br />
zwischen Schriftsteller und Protagonist<br />
in die Geschichten einpasst. Nicht, dass<br />
ich das in mir hätte. Nur will ich eben<br />
keine Antworten liefern, ich habe eben<br />
keine. Wenn du und ich jetzt Intelligenz<br />
vergleichen, besteht eine gute Chance,<br />
dass du gewinnst. Wenn wir Stress und<br />
Angst vergleichen, verlierst du. So bin<br />
ich gebaut. Wenn ich Zigaretten kaufe,<br />
denke ich darüber nach, was passieren<br />
würde, wenn mir der Verkäufer einen<br />
Kuss auf den Mund gibt. In meinen Geschichten<br />
hat man immer diese Vorahnung<br />
davon, es könnte etwas Schlimmes<br />
passieren. Ich wäre lieber jemand, der<br />
meint eine Idee zu haben, wie er den<br />
Konflikt löst. Stattdessen bin ich jemand,<br />
der, wenn der Konflikt eskaliert, weiß, wo<br />
man sich am besten versteckt.<br />
Etgar Keret, 1967 in Tel Aviv geboren, ist einer<br />
der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller<br />
Israels. Er schreibt Kurzgeschichten,<br />
politische Kommentare, Graphic Novels, Theaterstücke<br />
und Drehbücher. Sein erster Film<br />
„ Jellyfish“ wurde 2007 auf den Filmfestspielen<br />
in Cannes als bestes Debüt ausgezeichnet.<br />
Heute lebt Keret mit seiner Frau Shira und<br />
seinem Sohn Lev in Tel Aviv. Bei Fischer erscheint<br />
demnächst „Die sieben guten Jahre“ ,<br />
ein nicht-fiktionales Buch, das sechseinhalb<br />
Jahre in Kerets Leben wiedergibt, die er auf<br />
Tonband aufnahm – von der Geburt seines<br />
Sohnes bis zum Tod seines Vaters.<br />
www.madame.de | Instagram: @madamewinter | Twitter: @MadamePetra | im AppStore<br />
Das Luxusmagazin<br />
jeden Monat neu im Handel<br />
Nr.13<br />
118<br />
Sophisticated fashion & luxury since 1952
REZEPT<br />
Illustration: Lenia Hauser<br />
Foto: Sabine Volz<br />
Nr.13<br />
120 121<br />
Nr.13
DAS TRAGE ICH FÜR DIE EWIGKEIT<br />
Protokoll: Robert Grunenberg<br />
Foto: Jan Lessner<br />
Styling: Adrian Fekete<br />
„ICH WEISS,<br />
WIE ES IST, WENN MAN<br />
TRAUERT“<br />
DIE US-AMERIKANERIN LUCINDA CHILDS GEHÖRT ZU DEN PRÄGENDSTEN<br />
CHOREOGRAFEN UNSERER ZEIT. SIE ARBEITETE MIT DEM MINIMALISTEN SOL<br />
LEWITT, DEM KOMPONISTEN PHILIP GLASS UND DEM REGISSEUR ROBERT WILSON<br />
AN WEGWEISENDEN WERKEN WIE „DANCE“ UND „EINSTEIN ON THE BEACH“. MIT<br />
IN DIE EWIGKEIT WÜRDE SIE EIN SCHWARZES<br />
COCKTAILKLEID VON ARMANI NEHMEN.<br />
„Mit einem Kleid für die Ewigkeit<br />
verbinde ich die Idee, dass man passend<br />
gekleidet ist, egal wo man ist oder<br />
was man tut. Mir gefällt die Vorstellung,<br />
dass ein Design so zeitlos und elegant<br />
ist, dass man es zu jeder Tageszeit<br />
tragen kann, ohne dabei komisch oder<br />
unmodisch auszusehen. Ich habe mir<br />
in den 80er-Jahren ein Armani-Cocktailkleid<br />
gekauft, es ist ein schwarzer<br />
einfacher Dress, wunderschön geschnitten.<br />
Etwas, das zu jedem Anlass<br />
passt, zeitlos schön und für die Ewigkeit<br />
designt. Ich halte es immer bereit.<br />
Giorgio Armani ist ein feiner Mann.<br />
Sein Auge fürs Detail macht aus etwas<br />
ganz Einfachem etwas, das sich sehr<br />
elegant anfühlt. Ich habe ihn kennengelernt,<br />
als er sich Aufführungen anschaute,<br />
die ich mit Regisseur Robert<br />
Wilson produzierte. Das war Mitte der<br />
1970er-Jahre in Paris. Damals wurden<br />
mein Interesse und mein Gespür für<br />
Mode sensibilisiert, als ich die Designs<br />
von Issey Miyake und Yves Saint Laurent<br />
sah. Auch Robert Wilson inspirierte<br />
mich. Sein Feingefühl für jedes<br />
Detail im Theater und der Oper ist außergewöhnlich,<br />
auch was die Kostüme<br />
angeht.<br />
Ich bewundere Mode, für mich ist sie<br />
eine Kunstform, auch wenn Designer<br />
wie Saint Laurent das vehement verneinten.<br />
Als Tänzerin habe ich es unglaublich<br />
genossen, mich in Kostümen<br />
zu bewegen. Ich erinnere mich gerne<br />
an das Stück „Maladie de la Mort“,<br />
eine Adaption von Robert Wilson für<br />
„IN DER OPER<br />
GEHT ES UM DIE<br />
ELEMENTAREN<br />
FRAGEN DES<br />
LEBENS“<br />
die Berliner Schaubühne, für das die<br />
Kostümbildnerin Frida Parmeggiani<br />
ein fantastisches Kleid für mich entwarf.<br />
Es hatte eine Schleppe, die über<br />
die ganze Bühne fiel. Meine gesamten<br />
Bewegungen wurden durch das<br />
Design vorgegeben. Ich musste das<br />
Kleid von seiner Fabrikation komplett<br />
analysieren, verinnerlichen und auch<br />
manipulieren. Ich entwickelte Augen<br />
in meinen Händen und Füßen, denn<br />
ich konnte bei der Choreografie nicht<br />
auf den Boden schauen. Ich musste<br />
das Kleid mit meinem ganzen Körper<br />
spüren; eine außergewöhnliche und<br />
extreme Erfahrung. Das Stück „Maladie<br />
de la Mort“ selbst dreht sich um<br />
die Ohnmacht der Gefühle, das Kranksein<br />
und Todsein der Gefühle, nicht um<br />
das Sterben selbst, sondern die Unfähigkeit<br />
zu lieben. In der Postmoderne<br />
arbeiten Theater, Ballett und Oper<br />
mit semidramatischen Elementen.<br />
Sie vermeiden die direkte Darstellung<br />
von Tod, es gibt kein Playacting wie in<br />
„Giselle“ oder „Schwanensee“. Gefühle<br />
werden zum Beispiel gezeigt, indem<br />
man etwas weglässt: das Fehlen von<br />
Menschen, das Auslassen von Text<br />
und Musik oder das Nicht-Zeigen von<br />
Bewegung auf der Bühne. Diese Form<br />
der Auseinandersetzung mit Emotionen<br />
gefällt mir. Es ist ein Angebot,<br />
jeder kann es zu Ende denken, wie er<br />
will, manche verbinden zum Beispiel<br />
mit dem Fehlen von Musik in der Oper<br />
etwas wie den Tod, andere nicht. Jeder<br />
Zuschauer kann sich seine eigenen Gedanken<br />
machen.<br />
Wenn ich persönlich an den Tod denke,<br />
habe ich Schwierigkeiten, mir das<br />
Sterben vorzustellen. Jeder denkt darüber<br />
nach, jedem wird es passieren.<br />
Ich habe mir nahe stehende Menschen<br />
verloren und ich weiß, wie es ist, wenn<br />
man trauert. Doch den Prozess des<br />
Sterbens habe ich gedanklich noch<br />
nicht examiniert. Vielleicht ist es naiv,<br />
doch es fällt mir schwer. Die Auseinandersetzung<br />
damit durch Kunst hingegen<br />
kann mir persönlich einen anderen<br />
Zugang gewähren. In der Oper geht es<br />
oft um diese elementaren Fragen des<br />
Lebens.<br />
Ein Stück wie „Einstein on the Beach“<br />
arbeitet mit Wiederholungen und Variationen<br />
von gleichen Mustern. Das<br />
zwingt einen selbst, den Gang zu wechseln,<br />
denn es führt einen aus den gewohnten<br />
Strukturen heraus. Mit John<br />
Cage und Merce Cunningham begann<br />
eine Periode der performativen Künste,<br />
in der diskutiert wurde, dass persönliche<br />
Entscheidungen und Seinszustände<br />
sehr limitiert sind. Ich selbst begann<br />
in diese Richtung zu arbeiten, was dazu<br />
führte, dass man völlig außerhalb der eigenen<br />
Limitation zu denken beginnt. Es<br />
befreit und man sieht plötzlich ganz viele<br />
Optionen. Man fragt sich: Okay, ich arbeite<br />
mit dem Raum auf der Bühne, wie<br />
viel Möglichkeiten gibt es, diesen Raum<br />
zu betreten, ihn zu verlassen, mit und<br />
in diesem Raum zu arbeiten? Man hat<br />
ein Thema und man wiederholt es und<br />
variiert es unendlich lang. Man verlässt<br />
nicht das Erste, was man hat, bis man<br />
wirklich herausgefunden hat, was man<br />
damit tun kann. Das ist für mich etwas<br />
Wunderschönes. Dieser intellektuelle<br />
Ansatz, dieses postmoderne Fühlen, hat<br />
für mich eine Unendlichkeit der Möglichkeiten<br />
aufgetan. In dieser Weise ist<br />
es auch etwas, das ich in mir für die<br />
Ewigkeit trage.“<br />
Lucinda Childs und ihre Dance Company<br />
performen das Tanzstück DANCE am 17. &<br />
18. Mai 2014 in Macao, eine Kollaboration<br />
mit dem Komponist Philip Glass und dem<br />
Künstler Sol LeWitt. DANCE zählt zu den<br />
bahnbrechendsten Werken postmoderner<br />
Choreografie.<br />
Nr.13<br />
122<br />
Nr.13
HOROSKOP<br />
Illustration: Paraskewi Palaska<br />
PANTA RHEI – ALLES FLIESST<br />
KREBS<br />
22. Juni - 22. Juli<br />
WAAGE<br />
24. September - 23. Oktober<br />
FÜR DIE ALTEN GRIECHEN WAREN ORDNUNG UND SCHÖNHEIT IDENTISCH. DANN SAHEN SIE IN DEN<br />
NÄCHTLICHEN STERNENHIMMEL. ER WAR VÖLLIG UNORDENTLICH UND DOCH WUNDERSCHÖN. SIE NANNTEN<br />
IHN KOSMOS: WELTORDNUNG, GLANZ. DAS WORT KOSMETIK STAMMT DAHER. WAS DAS ALLES MIT IHREM<br />
HOROSKOP ZU TUN HAT? LESEN SIE SELBST.<br />
STEINBOCK<br />
22. Dezember - 20. Januar<br />
Es gibt zu viele Häuptlinge, da braucht<br />
es Diplomaten mit emotionaler Intelligenz.<br />
Mit der Zeit merkt man, dass es<br />
auf Sie ankommt. Und während die<br />
Genies noch mit 50 auf den Durchbruch<br />
als Popstar warten, sind die<br />
Indianer längst Abteilungsleiter oder<br />
Marketingleiter geworden. Zu welchem<br />
Stamm gehören Sie? Achten<br />
Sie darauf, nicht zu kurz zu kommen.<br />
Muss ja nicht jeder merken, dass Sie<br />
nicht völlig selbstlos sind. Malen Sie<br />
ein großes Bild. Hören Sie Barockmusik.<br />
Schauen Sie mal bei Joyclub oder<br />
OKcupid vorbei (das sind Websites,<br />
NSFW, das heißt No save for work).<br />
WASSERMANN<br />
21. Januar - 19. Februar<br />
Selbstbewusstsein kann auch einsam<br />
machen. Visionen können Anderen auf<br />
die Nerven gehen. Zum Glück sind Sie<br />
eine Schnellmerkerin, smart und witzig.<br />
So wird es auch in der Liebe nicht<br />
langweilig – und falls doch, verabschieden<br />
Sie sich, aber Hallo! Sie sind<br />
anspruchsvoll. Sie können gut delegieren,<br />
manchmal wird dann protestiert:<br />
„Ich bin nicht deine Sekretärin.“ Dann<br />
schnell einen Witz machen, damit alles<br />
gut ist. Üben Sie sich in Geduld. Versuchen<br />
Sie in einem Chor die Stimmen<br />
zu unterscheiden. Bedanken Sie sich<br />
heute drei Mal bei drei verschiedenen<br />
Menschen.<br />
FISCHE<br />
20. Februar - 20. März<br />
Es gibt viel zu tun. Aber bringen Sie<br />
es zu Ende. Sie lassen sich leicht ablenken,<br />
auch emotional. Man kann<br />
Ihre Gedanken nicht lesen. Sie jedoch<br />
glauben, Sie könnten Gedanken lesen.<br />
Es stimmt, Ihr Einfühlungsvermögen<br />
ist groß, wenn Sie sich nicht gerade<br />
als Prinzessin aufführen. Was die wenigsten<br />
vermuten: Sie nehmen sich<br />
die Sachen zu Herzen. Sie sind nicht<br />
störrisch. Manchmal sind Sie schwer<br />
greifbar, ein Fisch eben. Werfen Sie alte<br />
Sachen weg, alles, was Sie seit einem<br />
Jahr nicht angefasst haben (außer Bücher).<br />
Fragen Sie nicht, was die Gesellschaft<br />
für Sie tun soll, fragen Sie, was<br />
Sie für die Allgemeinheit tun können.<br />
Besteigen Sie einen hohen Berg.<br />
WIDDER<br />
21. März - 20. April<br />
Mitten auf dem einmal eingeschlagenen<br />
Weg umzukehren ist nicht Ihre Sache,<br />
auch wenn er in die falsche Richtung<br />
führt. Schauen Sie deshalb auch<br />
mal in den inneren Rückspiegel. Die<br />
größten Verletzungen fügen Sie nicht<br />
anderen, sondern sich selbst zu. Damit<br />
sie nicht als einsame Eisprinzessin auf<br />
der schwarzen Insel enden: Lust vor<br />
Life! Beweg deine Hüften! Setzen Sie<br />
sich eine Maske auf, spielen Sie eine<br />
andere Rolle. Lassen Sie den Würfel<br />
entscheiden, ob Sie Tofu oder Schweinebraten<br />
essen, Wein oder Wasser<br />
trinken, treu oder untreu sind.<br />
STIER<br />
21. April - 20. Mai<br />
Von Natur aus Hedonistin, fällt Ihnen<br />
das Genießen erstaunlich oft schwer.<br />
Was würde X sagen? Und dann die<br />
Kopfschmerzen nach der Party. Und so<br />
jung sind wir auch nicht mehr. Stopp!<br />
Aufhören mit dem inneren Monolog<br />
der schlechten Laune. Lassen Sie los,<br />
hören auf Ihren Atem und zählen alles<br />
auf, was positiv ist. Sie sind nicht für alles<br />
verantwortlich. Der Friedhof ist voller<br />
Menschen, die sich für unersetzbar<br />
hielten. Testen Sie einen Wein, ganz<br />
langsam und vorsichtig. Streicheln Sie<br />
ein Tier. Bleiben Sie eine halbe Stunde<br />
im Bett liegen und träumen. Schalten<br />
Sie das schlechte Gewissen aus, das<br />
klappt.<br />
ZWILLING<br />
21. Mai - 21. Juni<br />
Natürlich ist das Leben lustig. Man<br />
sollte es nicht zu ernst nehmen. Doch<br />
Einstein, Bill Gates und viele andere<br />
glückliche Menschen meinten im hohen<br />
Alter: Ich bereue nichts in meinem<br />
Leben, nur hätte ich mich mehr<br />
um meine Zähne kümmern sollen.<br />
Bei aller Nonchalance: Zahnweh bezwingt<br />
jeden Dandy. Irony is over. Es<br />
ist ja nicht so, dass Spaß und Ernst<br />
Gegensätze sein müssen. Machen<br />
Sie morgens Gymnastik und zwanzig<br />
Liegestütze. Lesen Sie „Madame Bovary“.<br />
Schalten Sie das Smartphone<br />
aus und raten, was die anderen gerade<br />
mit dem ihren machen.<br />
Eigentlich sind Sie eine pragmatische<br />
Persönlichkeit und kommen gut im Leben<br />
zurecht. Das wird erledigt und das,<br />
und zwar rechtzeitig. Doch in Ihnen<br />
stürmen die Gefühle. Sie haben viel<br />
Liebe in sich. Das ist gut, aber manchmal<br />
fühlen Sie sich zurückgestoßen.<br />
Die anderen verstehen nicht, dass Sie<br />
nur das Beste wollten. Wie? Der Depp<br />
will meine Liebe nicht? Ich will doch<br />
nur ein bisschen streicheln - kann ich<br />
was dafür, dass grade Fußball läuft?<br />
Kümmern Sie sich deshalb mal nur um<br />
sich. Kaufen Sie sich eine Hautcreme.<br />
Nehmen jemandem die Vorfahrt. Strecken<br />
einem Kind die Zunge raus.<br />
LÖWE<br />
23. Juli - 23. August<br />
Seinem Image entkommt man nur<br />
schwer. Vor allem gute Freunde bleiben<br />
dabei, Sie für beratungsresistent<br />
und herrisch zu halten. Das ist doch<br />
ungerecht. Sie haben es denen schon<br />
oft genug gesagt, aber niemand hört<br />
auf Sie. Sollen die mit ihrer repressiven<br />
Toleranz doch hingehen, wo der Pfeffer<br />
wächst. Langweilige Leute gibt es eh<br />
genug, da müssen Sie doch nicht auch<br />
noch so werden. Gründen Sie eine Sekte.<br />
Ärgern Sie Ihre Beifahrer. Erfinden<br />
Sie Zitate von Kurt Cobain oder Goethe.<br />
Gehen Sie als Erste ans Buffet. Ist<br />
der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz<br />
ungeniert. Wer angibt, hat mehr vom<br />
Leben. Mit Größenwahn fängt´s meistens<br />
an.<br />
JUNGFRAU<br />
24. August - 23. September<br />
Es gibt für Sie eine klare Trennung von<br />
Draußen und Drinnen, vom Ich und<br />
den anderen. Sie wissen selbst, dass<br />
Sie manchmal wie eine Trutzburg wirken.<br />
Das kommt von Ihrem Blick und<br />
der Körperhaltung. Da kommt man<br />
nicht so leicht raus. Die anderen, die<br />
stecken da nicht drin. Ist wie eine Ritterrüstung.<br />
Aber: You are not the only<br />
one who is lonely. Umso überraschender,<br />
wenn Sie mal sehr laut lachen.<br />
Oder, wenn Sie eher von der redelustigen<br />
Fraktion sind, mal nichts sagen.<br />
Mit gaaanz langen Pausen die andern<br />
verunsichern. Sagen Sie so oft „Das<br />
macht doch nichts“, bis die anderen<br />
sich über Sie wundern.<br />
Der Möglichkeitssinn bedeutet, stets<br />
einen Plan B im Kopf zu haben. Aber<br />
im Konjunktiv zu leben lässt einen<br />
leicht zum Träumer werden. Wachen,<br />
Schlafen, sonst nichts? Träumen,<br />
ja Träumen! heißt es irgendwo bei<br />
Shakespeare. Ist ja okay, nur irgendwann<br />
müssen die Sachen erledigt<br />
werden. Probieren Sie mal die Baby-Step-Methode:<br />
Ein kleiner Schritt<br />
nach dem anderen. Genug von Politik?<br />
Online-Petitionen bringen nichts?<br />
Stimmt. Aber irgendwo gibt es ein Feld,<br />
auf dem Sie etwas erreichen können:<br />
Mit Baby-Steps. Spenden Sie zehn<br />
Euro für die Welthungerhilfe. Lächeln<br />
Sie einen Tag armen Menschen zu. Rufen<br />
Sie eine alte Freundin an.<br />
SKORPION<br />
24. Oktober - 22. November<br />
Ich launisch? Nur weil ich weiß, was<br />
ich will? Und die andern irgendwie<br />
stumm in der Ecke verharren, auf das<br />
man ihre Gedanken lesen soll? Bin<br />
ich Jesus? Stimmt, Jesus sind Sie eher<br />
nicht. Aber mal ehrlich: Wären Sie<br />
gerne mit jemanden wie Ihnen zusammen,<br />
wenn Sie mal laut werden oder<br />
beleidigt sind? Kommen Sie besser mit<br />
ruhigen Menschen zurecht? Das heißt<br />
natürlich nicht, dass Sie launisch sind,<br />
um Gottes willen, nein. Überhaupt,<br />
was heißt hier launisch? Dafür gibt es<br />
doch viel schönere Bezeichnungen wie<br />
emotional und spontan. Schließen Sie<br />
Freundschaft mit einem Tier. Putzen<br />
Sie eine Maschine (Spülmaschine,<br />
Motorraum des Autos). Lesen Sie ein<br />
englisches Buch.<br />
SCHÜTZE<br />
23. November - 21. Dezember<br />
Lassen Sie es sich nicht zu deutlich anmerken,<br />
wenn man Sie langweilt oder<br />
jemand etwas irrsinnig Blödes sagt.<br />
Als Optimist lassen Sie gern mal ein<br />
Projekt unbeendet. Immer diese Frage:<br />
Soll man sich treu bleiben oder sich ändern?<br />
Kann man das überhaupt? Bleibt<br />
man nicht irgendwie dieselbe? Nur in<br />
Grün? Schreiben Sie alle Ihre schlechten<br />
Eigenschaften auf. Das reicht ja oft.<br />
Probieren Sie neue Lebensmittel (Kimchi,<br />
Haggis, Runkelrübe). Nehmen Sie<br />
mal einen ganz anderen Standpunkt<br />
ein, so als Neoliberale oder Katholikin,<br />
und versuchen Sie jemanden zu<br />
überzeugen, dass Sie es wirklich ernst<br />
damit meinen.<br />
Nr.13<br />
124 125<br />
Nr.13
IMPRESSUM<br />
RÄTSEL<br />
Illustration: Christina Keuter<br />
<strong>Fräulein</strong> ist eine<br />
Off One’s Rocker Ltd. Produktion<br />
mit Redaktionssitz:<br />
<strong>Fräulein</strong> Magazin<br />
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10785 Berlin<br />
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Chefredakteur und Kreativdirektor<br />
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Götz Offergeld<br />
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Autoren<br />
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Bullock, Johi von Bruises, Jonas Opperskalski,<br />
Joshua White, Hadley Hudson, Miles Michael,<br />
Mirjam Wählen, Sabine Volz, Stacey Mark, Stefan<br />
Armbruster, Tony Cox<br />
Illustratoren<br />
Brode Dalle, Christina Keuter, Elena Xausa, Katrin<br />
Funcke, Lenia Hauser, Paraskewi Palaska, Patricia<br />
Keller, Romina Rosa<br />
Styling<br />
Anais Codina, Antwyone Ingram, Maximilian<br />
Märzinger<br />
Cover:<br />
Foto: Tony Cox<br />
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<strong>Gaby</strong> trägt: Jumpsuit agnès b.<br />
Verlag:<br />
Off Ones Rocker Publishing Ltd.<br />
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SECHS RÄDER, DIE FRÄULEIN FAHREN WILL,<br />
RÄTSEL UND SECHS FEHLER, DIE ZU FINDEN SIND!<br />
HÄNDLERVERZEICHNIS<br />
A<br />
Anton Heunis<br />
www.antonheunis.com<br />
Agnona<br />
www.agnona.com<br />
Aurélie Bidermann<br />
www.aureliebidermann.com<br />
B<br />
Bottega Veneta<br />
www.bottegaveneta.com<br />
Burberry Prorsum<br />
www.burberry.com<br />
C<br />
Carven<br />
www.carven.com<br />
Cinque<br />
www.cinque.de<br />
Chanel<br />
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Chantelle<br />
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Charlotte Olympia<br />
www.charlotteolympia.com<br />
Clarins<br />
www.clarins.com<br />
Costume National<br />
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D<br />
Diesel<br />
www.diesel.com<br />
Dior<br />
www.dior.com<br />
DKNY<br />
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Donna Karan<br />
www.donnakaran.com<br />
Dr. Martens<br />
www.drmartens.com<br />
E<br />
Emporio Armani<br />
www.armani.com<br />
F<br />
Fred Perry<br />
www.fredperry.com<br />
G<br />
G-Star-Raw<br />
www.g-star.com<br />
Gemma Redux<br />
www.gemmaredux.com<br />
Gucci<br />
www.gucci.com<br />
L<br />
La Perla<br />
www.laperla.de<br />
Lanvin<br />
www.lanvin.com<br />
Levi‘s Made & Crafted<br />
www.levismadeandcrafted.com<br />
Louis Vuitton<br />
www.vuitton.com<br />
M<br />
M Missoni<br />
www.m-missoni.com<br />
Maison Kitsuné<br />
www.kitsune.fr<br />
Golden Goose<br />
Manish Arora<br />
www.goldengoosedeluxebrand.com www.manisharora.com<br />
Marni<br />
www.marni.com<br />
Miu Miu<br />
www.miumiu.com<br />
Musette<br />
www.musettegroup.ro<br />
N<br />
Nike<br />
www.nike.com<br />
P<br />
Petar Petrov<br />
www.petarpetrov.com<br />
Pirmin Blum<br />
www.pirminblum.net<br />
Prada<br />
www.prada.com<br />
PRPS<br />
www.prpsjeans.com<br />
R<br />
Reebok<br />
www.reebok.com<br />
S<br />
Serge Lutens<br />
www.sergelutens.com<br />
Stine Goya<br />
www.stinegoya.com<br />
T<br />
Theory<br />
www.theory.com<br />
Tom Ford Beauty<br />
www.tomford.com<br />
Tory Burch<br />
www.toryburch.com<br />
V<br />
Versace<br />
www.versace.com<br />
W<br />
Wendy & Jim<br />
www.wendyjim.com<br />
Wolford<br />
www.wolford.com<br />
Nr.13<br />
126<br />
127<br />
Nr.13
SACHEN GIBT ES<br />
Text: Maja Hoock<br />
Illustration: Romina Rosa<br />
TIERISCHE<br />
KOMMUNIKATION<br />
Man kann nicht nicht kommunizieren. Das wusste schon der Soziologe Niklas Luhmann und gilt nicht<br />
nur für Menschen, sondern ebenso für Elefanten, Vögel, Delfine und sogar Bäume! Die Natur ist ein<br />
sagenhafter Resonanz- (und Tanz)raum. Wir müssen einfach besser hinschauen und hinhören. Ein<br />
Best-of tierischer und pflanzlicher Kommunikation, das Lust darauf machen soll, wieder aufmerksamer<br />
gegenüber der eigenen Umwelt zu werden.<br />
Manche Vögel machen so täuschend<br />
echt Handy-Klingeltöne nach, dass<br />
man keinen Unterschied mehr hört.<br />
Je mehr Handys es gibt, desto öfter<br />
klingeln die Vögel. Die großstädtischen<br />
Stare, Eichelhäher und Dohlen singen<br />
das „Quantum Bell“, „Rollin Tone“ oder<br />
„Old Telephone“ nicht nur um ihr Territorium<br />
abzustecken oder um potenzielle<br />
Partner zu beeindrucken, sondern<br />
weil es ihnen gefällt, ihre Stimmen<br />
auszureizen. Die natürliche Tonleiter<br />
deckt aber nur einfache Klingeltöne ab,<br />
Songs sind davon ausgeschlossen.<br />
Viel komplexer kann der Leierschwanz<br />
seine Umwelt imitieren. Der „Menura“<br />
genannte Vogel hat ein eigenes Repertoire<br />
und imitiert dazu jedes Geräusch,<br />
das er einmal im Leben gehört hat.<br />
Dazu gehört der Gesang anderer Vögel,<br />
das Bellen von Hunden, das Miauen<br />
von Katzen, menschliche Stimmen,<br />
Instrumente, Maschinen, Explosionen,<br />
Motorsägen, Alarme, Gewehrschüsse,<br />
Klicken von Kameraverschlüssen und<br />
alles, was sie sonst noch zu hören bekommen.<br />
Diese Gesänge gibt es mittlerweile<br />
sogar als CD und in Orchesterfassung.<br />
Bäume sprechen miteinander – zwar<br />
nicht hörbar, aber doch messbar: Sie<br />
senden Informationen mithilfe von<br />
chemischen Botenstoffen von Baum<br />
zu Baum und warnen sich gegenseitig<br />
vor Fressfeinden. So schüttet etwa die<br />
Akazie einen Stoff aus, der für Rehe<br />
unbekömmlich ist, und verbreitet die<br />
Botschaft mit dem Wind. Die Bäume<br />
in der Umgebung produzieren dann<br />
ebenfalls den Stoff. Damit können Bäume<br />
auch Regenwolken anlocken, wenn<br />
sie Wasser brauchen. Die Moleküle<br />
steigen über ihnen in die Luft und binden<br />
Wasserteilchen, die gebündelt als<br />
Regen über den Bäumen wieder herunterkommen.<br />
Angeblich sollen Messungen<br />
ergeben haben, dass die Warnungen,<br />
die Bäume ausstoßen, wenn<br />
sie gefällt werden, so extrem sind, dass<br />
sie in Ohnmacht fallen.<br />
Wale, die von Menschenhand aufgezogen<br />
werden, klingen wie Menschen. Sie<br />
imitieren ihre Pfleger und versuchen,<br />
Wörter nachzusprechen. Dazu verändern<br />
sie die Tonbildung: Die Grundfrequenzen<br />
liegen dabei zwischen 200<br />
bis 300 Hertz, sind damit der menschlichen<br />
Stimme ähnlich und liegen<br />
mehrere Oktaven unter den üblichen<br />
Lauten der Wale. Außerdem sind Wale<br />
dafür bekannt, die Gesänge ihrer Artgenossen<br />
zu imitieren und so zu regelrechte<br />
Superhits zu kreieren.<br />
Laut wie ein Elefant? Von wegen. Eigentlich<br />
kommunizieren Dumbos<br />
lautlos, singen stille Paarungsgesänge<br />
und verständigen sich über Infraschall.<br />
Diese für Menschen unhörbaren<br />
Schwingungen werden über Luft und<br />
Erde kilometerweit übertragen. Über<br />
das bekannte Tröten äußern sie sich<br />
nur im Ausnahmefall. Dafür klingen<br />
balzende Koalas wie laute Elefanten.<br />
Delfine rufen sich beim Namen. Sie<br />
reagieren auf bestimmte, festgelegte<br />
Pfeiftöne, wenn sie ein Artgenosse ruft.<br />
Jeder Delfin hat eine eigene Tonfolge.<br />
So erkennen sie sich, sprechen sich an<br />
und wissen, wann sie wohin kommen<br />
sollen.<br />
Bienen drücken sich durch Tanzen<br />
aus. Durch die Art, wie sie im Kreis<br />
schwänzeln, sagen sie deutlich, wo sie<br />
was gefunden haben, wie es schmeckt<br />
und ob es sich lohnt, dahin zu fliegen.<br />
Je intensiver sie tanzen, desto besser<br />
ist der Fund. Twerking deutet auf eine<br />
Blumenwiese hin. Kein Witz.<br />
Nr.13
Nr.13<br />
130