Willem J. Ouweneel: Sektiererei - Bruederbewegung.de
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<strong>Willem</strong> J. <strong>Ouweneel</strong><br />
<strong>Sektiererei</strong><br />
Ihre Gefahren für die<br />
»Brü<strong>de</strong>rbewegung«<br />
brue<strong>de</strong>rbewegung .<strong>de</strong>
Zuerst erschienen im Verlag Me<strong>de</strong>ma, Vaassen (Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>).<br />
Der Abdruck folgt <strong>de</strong>r Vorlage zeichengetreu; lediglich die Endnoten<br />
(im Original auf S. 20) wur<strong>de</strong>n in Fußnoten umgewan<strong>de</strong>lt, und die im<br />
Original vertauschten Anmerkungen 15 und 16 wur<strong>de</strong>n richtig zugeordnet.<br />
Die Seitenzahlen <strong>de</strong>r Vorlage sind in eckigen Klammern und kleinerer,<br />
roter Schrift eingefügt. In eckigen Klammern stehen<strong>de</strong> Textteile in<br />
normaler Schriftgröße stammen vom Autor.<br />
© dieser Ausgabe: 2005 brue<strong>de</strong>rbewegung.<strong>de</strong><br />
Texterfassung und Satz: Michael Schnei<strong>de</strong>r<br />
Veröffentlicht im Internet unter<br />
http://www.brue<strong>de</strong>rbewegung.<strong>de</strong>/pdf/ouweneelsektiererei.pdf<br />
brue<strong>de</strong>rbewegung .<strong>de</strong>
<strong>Sektiererei</strong>:<br />
Ihre Gefahren für die<br />
»Brü<strong>de</strong>rbewegung«<br />
<strong>Willem</strong> J. <strong>Ouweneel</strong><br />
1992<br />
2. Auflage, April 1992<br />
Diese Arbeit ist zu beziehen bei:<br />
HENK P. MEDEMA, POSTBUS 113, 8170 AC VAASSEN, NIEDERLÄNDE [sic]<br />
TEL. (0031) 5788-4867 · FAX (0031) 5788-3099
[1]<br />
1 Sekten in <strong>de</strong>r Christenheit<br />
1.1 Was ist eine Sekte?<br />
1.1.1 Die Hintergrün<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Begriff Sekte<br />
Entwicklungen in <strong>de</strong>r Christenheit machen es immer wie<strong>de</strong>r sinnvoll, einen Begriff genauer<br />
zu untersuchen, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Kirchengeschichte und auch in <strong>de</strong>r sogenannten »Brü<strong>de</strong>rbewegung«<br />
eine wichtige Rolle gespielt hat: <strong>de</strong>n Begriff Sekte. Dieses Wort kommt aus <strong>de</strong>m<br />
Spätlateinischen und be<strong>de</strong>utet soviel wie »organisierte kirchliche Gruppierung«. Das Wort<br />
geht auf das lateinische Verb sequor, »folgen«, zurück. Das heißt, daß es um eine bestimmte<br />
religiöse Gruppierung geht, die einem bestimmten Lehrer und/o<strong>de</strong>r einer bestimmten<br />
Sammlung von Lehren nachfolgt, und zwar abweichend zu an<strong>de</strong>ren Lehrern<br />
und/o<strong>de</strong>r Sammlungen von Lehren. Daher erhält das Wort auch oft die Be<strong>de</strong>utung von<br />
einer sich abson<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n, schismatischen Glaubensgruppierung.<br />
In mo<strong>de</strong>rnen Bibelübersetzungen wird das Wort »Sekte« als Übersetzung <strong>de</strong>s griechischen<br />
Wortes hairesis verwen<strong>de</strong>t. Dieses Wort ist von <strong>de</strong>m Verb haireo abgeleitet, das<br />
»nehmen, fassen« be<strong>de</strong>utet. In dieser Form kommt das Verb nicht im Neuen Testament<br />
vor, wohl aber in <strong>de</strong>r sogenannten medialen Form haireomai, was buchstäblich »für sich<br />
nehmen«, und daher »(aus)wählen« o<strong>de</strong>r »vorziehen« be<strong>de</strong>utet (s. Phil 1,22; 2Thess 2,13;<br />
Hebr 11,25). Das Hauptwort hairesis be<strong>de</strong>utet zu allererst »Einnehmung« (z. B. einer<br />
Stadt), und weiterhin »Wahl«. Aus dieser letzten Be<strong>de</strong>utung entwickelte sich dann die<br />
Be<strong>de</strong>utung »gewählte Auffassung«, »Denkrichtung«, »Lehrmeinung«, und daraus wie<strong>de</strong>r<br />
die Be<strong>de</strong>utung »Schule« o<strong>de</strong>r »Partei« (im Sinn einer Gesamtheit von Personen, die eine<br />
bestimmte Sammlung von Lehrmeinungen gewählt haben). In <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>s Hellenismus<br />
wur<strong>de</strong> das Wort für die »Schulen« (haireseis) <strong>de</strong>r Philosophen verwen<strong>de</strong>t. Wichtige Kennzeichen<br />
solcher Schulen waren: (a) die <strong>de</strong>utliche Abgrenzung einer »Schule« von an<strong>de</strong>ren<br />
»Schulen«; (b) die selbstgewählte Autorität eines Lehrers (Philosophen); (c) die Lehre,<br />
von <strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st ein gewisser Kerninhalt als unantastbar betrachtet wur<strong>de</strong>; (d) <strong>de</strong>r<br />
streng private (nach außen hin abgeschlossene) Charakter.<br />
In <strong>de</strong>r Septuaginta be<strong>de</strong>utet hairesis gelegentlich »Wahl« (1Mo 49,5; 3Mo 22,18.21;<br />
1Makk 8,30). Jüdisch-hellenistische Autoren im ersten Jahrhun<strong>de</strong>rt unserer Zeitrechnung<br />
benutzten das Wort, um hiermit philosophische Schulen zu bezeichnen (so <strong>de</strong>r bekannte<br />
jüdische Denker Philo) o<strong>de</strong>r die verschie<strong>de</strong>nen Schulen im Ju<strong>de</strong>ntum: Essener, Sadduzäer<br />
und Pharisäer (so <strong>de</strong>r bekannte jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus). Diese<br />
bei<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utungen liegen nicht so weit auseinan<strong>de</strong>r, wie es <strong>de</strong>n Anschein hat: die<br />
griechisch-philosophischen und die jüdisch-religiösen »Schulen« wiesen in ihrer Struktur<br />
wesentliche Übereinstimmungen auf.<br />
1.1.2 »Sekten« im Neuen Testament<br />
Im Neuen Testament zielt hairesis zuerst auf die genannten »Sekten« innerhalb <strong>de</strong>s Ju<strong>de</strong>ntums:<br />
Sadduzäer (Apg 5,17) und Pharisäer (Apg 15,5; 26,5). Auch die Christen wur<strong>de</strong>n<br />
durch ihre Gegner als eine »Sekte«, eine schismatische Abspaltung vom Ju<strong>de</strong>ntum<br />
(Apg 24,5.14; 28,22) angesehen. In all diesen Fällen hat das Wort »Sekte« eine mehr o<strong>de</strong>r<br />
weniger neutrale Be<strong>de</strong>utung und zielt auf eine »Schule«, eine lehrmäßige »Richtung«<br />
innerhalb <strong>de</strong>s Ju<strong>de</strong>ntums. Diese neutrale Be<strong>de</strong>utung ist umso seltsamer, als das Wort innerhalb<br />
<strong>de</strong>s Christentums von Anfang an einen negativen Klang gehabt zu haben scheint:
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 5<br />
(a) In 1Kor 11,19 hat es <strong>de</strong>n Sinn von »Uneinigkeit«, »Parteiung«, »Spaltung«. Das<br />
Wort folgt hier auf »Spaltungen« (schismata) in Vers 18, was auf eine Uneinigkeit in <strong>de</strong>r<br />
Versammlung als Folge von Re<strong>de</strong>streit und Rivalität hinweist, in <strong>de</strong>r persönliche Motive<br />
(nicht Lehrmeinungen) eine Rolle spielen (vgl. 1,10–12). Die Be<strong>de</strong>utung von Vers 19 ist,<br />
daß Gott <strong>de</strong>rartige »Gruppenbildungen« als einen Test zuläßt: die »Bewährten« sind die,<br />
die über dieser Gruppenbildung stehen und bei <strong>de</strong>r »<strong>Sektiererei</strong>« in <strong>de</strong>r Versammlung<br />
nicht mitmachen.<br />
(b) In Gal 5,20 hat das Wort dieselbe Be<strong>de</strong>utung. Dort wird die »Sekte« zu <strong>de</strong>n »Werken<br />
<strong>de</strong>s Fleisches« gerechnet, aufgenommen in die Aufzählung »Feindschaft, Ha<strong>de</strong>r, Eifersucht,<br />
Zorn, Zank, Zwietracht, Sekten, Neid«. Das sind Worte, mit <strong>de</strong>nen es in engem<br />
Zusammenhang steht (vgl. auch 1Kor 3,3–5!). <strong>Sektiererei</strong> <strong>de</strong>utet hier wie<strong>de</strong>rum eine verwerfliche<br />
Gruppenbildung innerhalb <strong>de</strong>r Versammlung an.<br />
(c) In 2Pet 2,1 lesen wir von »falschen Lehrern«, die »ver<strong>de</strong>rbliche Sekten« heimlich<br />
in die Versammlung einführen. Allein hier hat hairesis offensichtlich die Be<strong>de</strong>utung von<br />
»Lehrmeinung«, und zwar von »Lehrmeinungen«, die die Grundlagen <strong>de</strong>s Christentums<br />
»ver<strong>de</strong>rben«. Aber auch hier ist <strong>de</strong>r Verweis auf Spaltung und Gruppenbildung nicht<br />
wegzu<strong>de</strong>nken: die falschen Lehrer bil<strong>de</strong>n ihre eigenen Schulen o<strong>de</strong>r Parteien auf christlichem<br />
Bo<strong>de</strong>n. Nebenbei sei angemerkt, daß die Be<strong>de</strong>utung »Lehrmeinung« auch in Apg<br />
24,14 möglich ist, wo Paulus dann so etwas meinen könnte wie »nach <strong>de</strong>r Lehre, die sie<br />
[bloß] eine [2] [bestimmte, vom orthodoxen Ju<strong>de</strong>ntum abweichen<strong>de</strong>] Schulmeinung nennen«.<br />
Neben hairesis begegnen wir auch einmal <strong>de</strong>m Adjektiv hairetikos (»sektiererisch«),<br />
und zwar in Tit 3,10. Hier kann man entwe<strong>de</strong>r an einen »Trennungsstifter« <strong>de</strong>nken, <strong>de</strong>r<br />
seine eigene Schule o<strong>de</strong>r Partei von <strong>de</strong>r Versammlung löst, o<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n »Ketzer«, <strong>de</strong>r<br />
Irrlehren verkün<strong>de</strong>t. Diese bei<strong>de</strong>n liegen in <strong>de</strong>r Praxis natürlich auch oft sehr dicht beisammen,<br />
<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Irrlehrer verkün<strong>de</strong>t nicht allein falsche Lehre, son<strong>de</strong>rn versucht mit<br />
seinen Irrlehren auch, Menschen aus <strong>de</strong>r Gemeinschaft <strong>de</strong>r Gläubigen herauszulösen und<br />
sie hinter sich her zu ziehen, um so seine eigene Schule, Partei, Gruppe o<strong>de</strong>r Glaubensgemeinschaft<br />
zu bil<strong>de</strong>n (vgl. Apg 20,30).<br />
1.1.3 Zusammenfassung: »Sekte« im biblischen Sinn<br />
Wir haben also zwei Be<strong>de</strong>utungen von »Sekte« (hairesis) gefun<strong>de</strong>n: einerseits »Partei«,<br />
»Schule«, schismatische Gruppe innerhalb einer größeren Gesamtheit, an<strong>de</strong>rerseits: »Irrlehre«,<br />
»Ketzerei«. Es ist gut, diese zwei Be<strong>de</strong>utungen auseinan<strong>de</strong>r zu halten:<br />
Gruppenbildung. Wir haben sowohl bei <strong>de</strong>n jüdischen Sekten als auch in 1Kor 11,19<br />
und Gal 5,20 gesehen, daß nicht unbedingt Irrlehre im Spiel sein muß, son<strong>de</strong>rn daß einfach<br />
Parteien innerhalb einer größeren Gesamtheit beabsichtigt sein können. Innerhalb<br />
<strong>de</strong>s Ju<strong>de</strong>ntums mag so etwas eine normale Sache gewesen sein, aber im Christentum wird<br />
dies als ein Werk <strong>de</strong>s Fleisches bezeichnet. Die »Bewährten« sind die Christen, die sich<br />
nicht in irgen<strong>de</strong>ine Partei mit hineinziehen lassen, son<strong>de</strong>rn darüber stehen und an <strong>de</strong>r<br />
Einheit <strong>de</strong>s Geistes auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes Christi festhalten.<br />
Irrlehre. Diese Be<strong>de</strong>utung erhielt das Wort hairesis vor allem in <strong>de</strong>r späteren Kirchengeschichte<br />
(vgl. <strong>de</strong>utsch: Häresie; englisch: heresy) und hat diese auch im mo<strong>de</strong>rnen<br />
Sprachgebrauch beibehalten, wenn wir z. B. über »Sekten« wie die Zeugen Jehovas, die<br />
Mormonen, die Moon-Sekte sprechen, also Ran<strong>de</strong>rscheinungen <strong>de</strong>s Christentums. In <strong>de</strong>n<br />
zehn Stellen im Neuen Testament, in <strong>de</strong>nen »Sekte« bzw. »sektiererisch« vorkommt,<br />
be<strong>de</strong>utet es nur in einem Fall unmißverständlich »(Partei mit) Irrlehre« (2Pet 2,1).<br />
Aber es besteht auch ein <strong>de</strong>utlicher Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>n zwei Be<strong>de</strong>utungen:<br />
wenn in <strong>de</strong>r Versammlung in irgend einer Weise Gruppenbildung entsteht, kommt diese
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 6<br />
immer daher, daß bestimmte Personen untereinan<strong>de</strong>r etwas gemeinsames haben, das sie<br />
zueinan<strong>de</strong>r hinzieht, während diese Gruppe sich gleichzeitig in diesem Punkt von an<strong>de</strong>ren<br />
<strong>de</strong>rartigen Gruppen in <strong>de</strong>r Versammlung unterschei<strong>de</strong>t. Das muß durchaus nicht be<strong>de</strong>uten,<br />
daß die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Gruppe, o<strong>de</strong>r auch bei<strong>de</strong> Gruppen, fundamentale Irrlehren<br />
vertreten. Aber sie wer<strong>de</strong>n doch auf je<strong>de</strong>n Fall bestimmte Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Lehrauffassung<br />
aufweisen, jeweils abhängig von <strong>de</strong>n Führern/Lehrern, <strong>de</strong>nen man nachfolgen<br />
möchte. In 2Pet 2,1 sind das »falsche« Lehrer und es geht dort tatsächlich um fundamentale<br />
Irrlehre. Aber die Spaltungen in Korinth waren die Folge von sektiererischer Gruppenbildung<br />
um Lehrer, die eben überhaupt keine Irrlehrer waren, nämlich Paulus, Apollos<br />
und Kephas (1,10–12; 3,3–5). In diesem Fall waren diese Lehrer selbst auch keineswegs<br />
Trennungsstifter, son<strong>de</strong>rn vielmehr die Menschen, die sich sektiererisch, schismatisch,<br />
parteisüchtig nach ihnen nannten. Gesun<strong>de</strong>, normale Unterschie<strong>de</strong>, die nun einmal in <strong>de</strong>r<br />
Versammlung bestehen, weil z. B. je<strong>de</strong>r Lehrer unterschiedlich geartet und begabt ist,<br />
wer<strong>de</strong>n für eine sektiererische Parteibildung mißbraucht.<br />
1.2 Sekten in <strong>de</strong>r Kirchengeschichte<br />
1.2.1 Einige allgemeine Kennzeichen von Sekten<br />
Wir können nun zusammenfassend einige Kennzeichen davon aufzählen, was wir aufgrund<br />
<strong>de</strong>s Neuen Testaments eine »Sekte« nennen müssen, auch aufgrund <strong>de</strong>s allgemeinen<br />
damaligen Sprachgebrauchs:<br />
(a) Gruppenbildung. Eine »Sekte« ist eine Partei innerhalb <strong>de</strong>r Versammlung (örtlich,<br />
regional o<strong>de</strong>r weltweit), die sich <strong>de</strong>utlich abgrenzt von an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>rartigen Parteien o<strong>de</strong>r<br />
von <strong>de</strong>r Versammlung als solcher. Eine Sekte hat immer einen echten »Gruppengeist«,<br />
einen typischen »Nestgeruch«, wodurch sie sofort von an<strong>de</strong>ren Sekten o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r wirklichen<br />
Darstellung <strong>de</strong>r Versammlung unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann.<br />
(b) Bevorzugte Lehrer. Typisch sektiererisch ist, die Nachfolge und Überbetonung <strong>de</strong>r<br />
(einseitigen) Lehrauffassungen bestimmter bevorzugter Lehrer, die als beson<strong>de</strong>rs »begna<strong>de</strong>t«<br />
o<strong>de</strong>r »berufen« angesehen wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>ren Lehre nicht notwendigerweise öffentlich<br />
o<strong>de</strong>r bewußt, jedoch in <strong>de</strong>r Praxis unbewußt <strong>de</strong>r Schrift gleich o<strong>de</strong>r gar über die<br />
Schrift gestellt wird. Objektives Bibelstudium ist dann nicht mehr gut möglich. Sektierer<br />
schaffen es nicht mehr, die Schrift an<strong>de</strong>rs als vom <strong>de</strong>m [sic] Gesichtspunkt <strong>de</strong>r von ihnen<br />
bevorzugten Lehrer heraus zu lesen. Diese Lehrer müssen keine Irrlehrer sein – oft sind<br />
es begna<strong>de</strong>te Knechte Gottes – und müssen noch nicht einmal für diese <strong>Sektiererei</strong> verantwortlich<br />
sein. Es ist möglich, daß letzteres vollständig in <strong>de</strong>r Verantwortung ihrer ernstirnigen<br />
[sic] Nachfolger liegt, die <strong>de</strong>n Lehrer [3] und sein Schrifttum verehren.<br />
(c) Bevorzugte Lehre. Typisch sektiererisch ist »die Lehre«, über die in untergeordneten<br />
Punkten zwar noch gere<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n kann – wenngleich selbst das bei <strong>de</strong>n unnachgiebigsten<br />
Sektierern nicht mehr möglich ist – die jedoch in <strong>de</strong>r Hauptsache einen unantastbaren<br />
und autoritären Charakter erhalten hat. Noch einmal: diese Lehre muß keine fundamentalen<br />
Irrlehren umfassen. Sehr wohl beinhaltet sie aber immer die typischen Eigenarten<br />
<strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Sekte: eigene Lehren, die man nirgendwo sonst hört und die <strong>de</strong>r<br />
eigentümliche Besitz dieser Sekte sind. Je abweichen<strong>de</strong>r bestimmte Lehren sind, <strong>de</strong>sto<br />
mehr Anlaß fin<strong>de</strong>t die Sekte darin, ihren eigenen beson<strong>de</strong>ren Charakter hervorzuheben.<br />
Außergewöhnliche Lehren sollten sie eigentlich sich selbst gegenüber mißtrauisch machen,<br />
aber statt <strong>de</strong>ssen erhebt sich diese Sekte wegen <strong>de</strong>s beson<strong>de</strong>ren Lichts, das Gott ihr anvertraut<br />
hat (wie »<strong>de</strong>mütig« sie sich dabei auch geben mag).
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 7<br />
1.2.2 Einige extreme Kennzeichen von Sekten<br />
(a) Streng eingegrenztes Geschichtsbewußtsein. Für <strong>de</strong>n echten Sektierer beginnt die<br />
Kirchengeschichte eigentlich erst mit <strong>de</strong>m Entstehen <strong>de</strong>r eigenen Sekte; vor dieser Zeit<br />
gab es hauptsächlich Finsternis. Dann kommt plötzlich <strong>de</strong>r gewaltige Bruch mit <strong>de</strong>r Vergangenheit:<br />
<strong>de</strong>r/die große/n Grün<strong>de</strong>r steht/stehen auf, ohne Bezug zur Vergangenheit –<br />
sie sind sozusagen ein unmittelbares Geschenk <strong>de</strong>s Himmels – und plötzlich ist das volle<br />
Licht da, sei es nun durch vollkommen neue Offenbarungen, sei es durch ein radikales<br />
»Zurückkehren zum ursprünglichen Christentum«. Auch nach <strong>de</strong>m Auftreten <strong>de</strong>s/<strong>de</strong>r<br />
Grün<strong>de</strong>r/s gibt es eigentlich keine »Geschichte«. Es gibt ja keine »Entwicklung« <strong>de</strong>r<br />
»Wahrheit«; die ist mit <strong>de</strong>m/<strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>r/n schon vollständig »geschenkt« wor<strong>de</strong>n. Für<br />
echt ursprüngliche Denker gibt es keinen Platz. Eine »Geschichte« einer <strong>de</strong>rartigen Sekte<br />
umfaßt dann auch in <strong>de</strong>r Hauptsache die Lebensgeschichte/n <strong>de</strong>s/<strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>r/s und im<br />
weiteren Verlauf die Trennungen und Abspaltungen, die die Sekte (oft wegen unterschiedlicher<br />
Interpretation <strong>de</strong>r Lehren <strong>de</strong>s/<strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>r/s) durchgemacht hat. Je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
verschie<strong>de</strong>nen Parteien, in die die Sekte auseinan<strong>de</strong>rfällt, hat ihre eigene Geschichtsschreibung,<br />
nach <strong>de</strong>r natürlich nur die betreffen<strong>de</strong> Partei die getreue Fortsetzung <strong>de</strong>r<br />
I<strong>de</strong>ale <strong>de</strong>s/<strong>de</strong>r ursprünglichen Grün<strong>de</strong>r/s darstellt und die übrigen Parteien abgefallen<br />
sind.<br />
(b) Unzugänglichkeit. Je sektiererischer eine Gruppe ist, <strong>de</strong>sto schwieriger ist es, sich<br />
ihr anzuschließen. Wenn vielleicht auch nicht offiziell, so aber doch in <strong>de</strong>r Praxis muß<br />
man allerlei beson<strong>de</strong>ren For<strong>de</strong>rungen entsprechen. Man muß von Herzen die außergewöhnlichen<br />
Lehren <strong>de</strong>r Gruppe übernehmen und am besten auch noch die typische I<strong>de</strong>ntität<br />
<strong>de</strong>r Gruppe angenommen haben (dieselben Gewohnheiten, <strong>de</strong>nselben Sprachgebrauch,<br />
dieselbe äußere Erscheinung, dieselben Auffassungen, dieselbe Lektüre, dasselbe Gesangbuch,<br />
etc.). Je sektiererischer eine Gruppe ist, <strong>de</strong>sto länger dauert es gewöhnlich, bis jemand<br />
von außen vollständig in diesen Kreis aufgenommen ist. Bestimmte Regeln sind<br />
nicht von vornherein klar formuliert und wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Aufzunehmen<strong>de</strong>n erst schrittweise<br />
mit seiner Integration in die Gruppe bekannt. Die Sekte entzieht sich so je<strong>de</strong>r Beurteilung<br />
von außen und lehnt auch jegliche Beurteilung von außerhalb ab (»nicht kompetent«). Ihr<br />
höchstes I<strong>de</strong>al ist: alle Mitglie<strong>de</strong>r haben genau dieselben (sektiererischen!) Auffassungen<br />
und dasselbe Verhaltensmuster. Alles, was nicht <strong>de</strong>n eigenen Regeln entspricht, ist verkehrt.<br />
Man fühlt sich allein unter <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r eigenen Gruppe völlig geborgen und<br />
behaglich.<br />
(c) Elitebewußtsein. Unmittelbar damit hängt die Tatsache zusammen, daß <strong>de</strong>r Elitegeist<br />
<strong>de</strong>r Sekte auch for<strong>de</strong>rt, daß man einerseits soweit wie möglich die Verbindung mit<br />
Menschen, die nicht Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Sekte sind (auch wenn sie wahre Gläubige sind) auf<br />
das Unvermeidbare reduziert. An<strong>de</strong>rerseits ist man verpflichtet, soviel wie möglich <strong>de</strong>n<br />
eigenen Zusammenkünften beizuwohnen und enge soziale Verbindungen mit <strong>de</strong>n übrigen<br />
Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Sekte zu unterhalten. Sie verträgt auch keine Kritik: je sektiererischer<br />
eine Sekte, <strong>de</strong>sto weniger Selbstkritik gibt es. Sie verträgt nicht einmal unparteiischste<br />
Kritik, selbst wenn sie aus <strong>de</strong>n eigenen Reihen stammt; sie weiß sich selbst immer zu entschuldigen<br />
und die Kritiker immer zu verurteilen. Die Intelligenten unter ihnen durchschauen<br />
das natürlich sehr wohl und versuchen, dies durch einen Anschein von Demut zu<br />
verbrämen; dadurch verän<strong>de</strong>rt sich jedoch nicht das Geringste. Man anerkennt wohl die<br />
»großen Schwachheiten« im eigenen Kreis, aber gewöhnlich bezieht sich das auf die »an<strong>de</strong>ren«:<br />
diejenigen in <strong>de</strong>r Sekte, die vom Gruppengeist abweichen. Es ist doch sehr anmaßend,<br />
daß, wenn auch nicht laut gesagt, so doch oft gedacht wird: »Wir haben das beste<br />
Schrifttum«, »Wir sind Phila<strong>de</strong>lphia«, »Außerhalb von uns ist nur Laodicäa«, »Außerhalb<br />
von uns gibt es zwar sehr wohl Gläubige, aber diese haben sehr viel weniger Licht«, »Der
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 8<br />
Tisch <strong>de</strong>s Herrn is [sic] nur bei uns«, »Bei an<strong>de</strong>ren Glaubensgemeinschaften ist <strong>de</strong>r Herr<br />
nicht in <strong>de</strong>r Mitte«, »Es gibt keine Gemein<strong>de</strong>, die sich so schriftgemäß versammelt wie<br />
wir«, etc.<br />
(d) Angst. Je fester zusammengefügt und einförmiger die Gruppe ist, <strong>de</strong>sto größer ist<br />
die Angst <strong>de</strong>r einzelnen Glie<strong>de</strong>r, aus <strong>de</strong>r Gruppe gestoßen zu wer<strong>de</strong>n. Man verliert dann<br />
nämlich seine Familie und Freun<strong>de</strong> und oft auch seine Existenzgrundlage. Überdies verliert<br />
man <strong>de</strong>n festen Bo<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>n Füßen, mit <strong>de</strong>m man manchmal ein ganzes Leben<br />
lang vertraut gewesen ist. »Wo sollte ich hingehen, wenn ich ausgeschlossen wür<strong>de</strong>?« So<br />
schweigen viele, die Kritikpunkte haben, lieber aus [4] Furcht, die Gruppe gegen sich aufzubringen.<br />
Merkwürdig genug gilt das auch für die Führer, soweit sie finanziell von <strong>de</strong>r<br />
Gruppe abhängig sind. Wegen dieser Angst wagt man auch nicht, irgend etwas zu verän<strong>de</strong>rn<br />
– das wür<strong>de</strong> Kritik an <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n vorangegangenen Generationen<br />
be<strong>de</strong>uten – so daß nicht die geringste Erneuerung möglich ist. Wegen dieser Angst hat<br />
man keinen Mut, etwas zu unternehmen. Neben Erstarrung also auch Passivität. Wer<br />
nichts tut, kann auch nicht kritisiert wer<strong>de</strong>n.
[5]<br />
2 <strong>Sektiererei</strong> und die »Brü<strong>de</strong>rbewegung«<br />
2.1 Einheit und Trennung<br />
2.1.1 Die Grundlage <strong>de</strong>s Zusammenkommens <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>r«<br />
Dem ersten Eindruck entsprechend scheint es für <strong>de</strong>n Außenstehen<strong>de</strong>n, als ob die sogenannte<br />
»Brü<strong>de</strong>rbewegung« von Anfang an eine Art »Sekte« gewesen ist. Diese Beurteilung<br />
wäre aber völlig ungerecht. In gewisser Hinsicht kann man sogar sagen, daß eine<br />
<strong>de</strong>r charakteristischsten Ursachen <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>rbewegung« gera<strong>de</strong> in ihrer Abkehr von<br />
<strong>Sektiererei</strong> lag. Fast von Anfang an wur<strong>de</strong> großer Nachdruck auf die Lehre <strong>de</strong>r Einheit<br />
<strong>de</strong>s Leibes Christi gelegt. Man wollte damit <strong>de</strong>utlich machen, daß man auf einer Grundlage<br />
zusammenzukommen versuchte, auf <strong>de</strong>r alle wahren Gläubigen, Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Leibes<br />
Christi, willkommen waren, es sei <strong>de</strong>nn, daß bei ihnen selbst ein schriftgemäßer Hin<strong>de</strong>rungsgrund<br />
wegen eines unsittlichen Lebenswan<strong>de</strong>ls o<strong>de</strong>r böser Lehren vorlag. Die ersten<br />
»Brü<strong>de</strong>r« fan<strong>de</strong>n zu einan<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r Not heraus, die sie in ihren Seelen infolge<br />
<strong>de</strong>r Tatsache erfuhren, daß sie durch allerlei unbiblische Kirchenmauern geschie<strong>de</strong>n waren.<br />
Ohne notwendigerweise die Mitgliedschaft in ihren eigenen Kirchen und Glaubensgemeinschaften<br />
aufzugeben, überschritten sie die Mauern, um auf biblische Weise zusammen<br />
das Brot brechen zu können, nicht als Glie<strong>de</strong>r dieser o<strong>de</strong>r jener »Gruppe«, son<strong>de</strong>rn<br />
ausschließlich als Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Leibes Christi.<br />
Die ersten »Brü<strong>de</strong>r« hatten eine große Furcht vor je<strong>de</strong>r sektiererischen Einschränkung<br />
dieser Vorgehensweise bei <strong>de</strong>r Zulassung. Sogar <strong>de</strong>r Name »Brü<strong>de</strong>rbewegung« o<strong>de</strong>r die<br />
Anführungszeichen bei <strong>de</strong>m Wort »Brü<strong>de</strong>r« – die wir benötigen, um <strong>de</strong>utlich zu machen,<br />
worüber wir re<strong>de</strong>n – hätten sie radikal abgelehnt. Nicht die Frage, welche beson<strong>de</strong>ren<br />
Auffassungen jemand über bestimmte Teilbereiche <strong>de</strong>r christlichen Wahrheit hatte o<strong>de</strong>r<br />
bei welcher Kirche o<strong>de</strong>r Glaubensgemeinschaft jemand Mitglied war, son<strong>de</strong>rn allein und<br />
ausschließlich die Frage, ob ein solcher in Gemeinschaft mit Gott war, bestimmte, ob jemand<br />
in <strong>de</strong>r Gemeinschaft am Tisch <strong>de</strong>s Herrn, die sie miteinan<strong>de</strong>r hatten, willkommen<br />
geheißen wur<strong>de</strong>. Die »Brü<strong>de</strong>rbewegung« war zu Beginn alles an<strong>de</strong>re als eine Sekte, vielmehr<br />
gera<strong>de</strong> eine Gemeinschaft von Gläubigen, die von allen Glaubensgemeinschaften<br />
wohl <strong>de</strong>r <strong>Sektiererei</strong> am feindlichsten gegenüber stand.<br />
Wie lange aber kann eine so außergewöhnliche und herausragen<strong>de</strong> Initiative standhalten?<br />
O<strong>de</strong>r, um die Frage an<strong>de</strong>rs zu formulieren: Wer kennt aus <strong>de</strong>r biblischen Geschichte<br />
o<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Kirchengeschichte eine »Erweckung«, die 160 Jahre lang gedauert hat?? Eine<br />
solche Erweckung hat es noch nie gegeben. Wir brauchen diesbezüglich nur die Bücher<br />
Esra (Kap. 1–3) und Nehemia nebeneinan<strong>de</strong>r zu legen, die etwa einen solchen Zeitraum<br />
auseinan<strong>de</strong>rliegen. In Esra fin<strong>de</strong>n wir die Erweckung, in Nehemia die traurigen Überreste<br />
<strong>de</strong>r Erweckung. Die Entwicklung ist noch niemals an<strong>de</strong>rs gewesen. Ich habe Bru<strong>de</strong>r H. L.<br />
Heijkoop oft sagen hören: »Aus Offenbarung 3 wird <strong>de</strong>utlich, daß ›Phila<strong>de</strong>lphia‹ bis zum<br />
Kommen <strong>de</strong>s Herrn bestehen bleibt, aber es gibt gar keine Gewißheit, daß, wenn <strong>de</strong>r Herr<br />
kommt, ›wir‹ zu Phila<strong>de</strong>lphia gehören wer<strong>de</strong>n.« Und so ist es. Was wir uns auch irgend<br />
einbil<strong>de</strong>n mögen, <strong>de</strong>r Herr hat uns nicht nötig. Wenn wir versagen, setzt Er sein Werk mit<br />
an<strong>de</strong>ren fort, die treuer sind als wir.<br />
2.1.2 Die erste Spaltung<br />
Als theoretische Möglichkeit wer<strong>de</strong>n viele <strong>de</strong>m soeben Angemerkten zustimmen wollen.<br />
Aber laßt uns einmal konkret fragen, wie es aktuell bei uns steht. Wie lange hat die »Er-
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 10<br />
weckung« gedauert? Ich wür<strong>de</strong> sagen: bis 1848, als die »Brü<strong>de</strong>rbewegung« in »offene<br />
Brü<strong>de</strong>r« und »geschlossene Brü<strong>de</strong>r« auseinan<strong>de</strong>rfiel. Das war schon nach etwa zwanzig<br />
Jahren! Warum war die »Erweckung« dann eigentlich vorbei? Weil zum einen eine Erweckung<br />
normalerweise erfahrungsgemäß nicht viel länger dauert; und weil zum an<strong>de</strong>ren<br />
bei dieser Spaltung die Einheit <strong>de</strong>s Geistes schon gründlich durch Zwietracht zerstört<br />
wur<strong>de</strong>! Hier wur<strong>de</strong>n ja zwei Gruppen von Christen voneinan<strong>de</strong>r getrennt, die bei<strong>de</strong> damit<br />
fortfuhren, zu bekennen, daß sie sich auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>s einen Leibes versammeln<br />
wollten, d. h. mit <strong>de</strong>r Zulassung aller wahren Gläubigen, in Abson<strong>de</strong>rung von allem Bösen,<br />
das die Grundlagen <strong>de</strong>s Christentums antastet. Lei<strong>de</strong>r meinen noch immer viele »geschlossene<br />
Brü<strong>de</strong>r«, daß die »offenen Brü<strong>de</strong>r« die fundamentale Irrlehre von Benjamin<br />
W. Newton angenommen hätten. Davon kann aber gar nicht die Re<strong>de</strong> sein. Es bestand<br />
zwar Unklarheit über die Frage, inwieweit Newton seine Irrlehren wirklich zurückgezogen<br />
hatte, aber er verschwand noch in <strong>de</strong>mselben Jahr aus <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>rbewegung«, und<br />
kein einziger »offener Bru<strong>de</strong>r« hat meines Wissens jemals Newtons Irrlehre wie<strong>de</strong>r aufgenommen.<br />
Ich gehe hier nicht weiter auf die Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n »offenen« und »geschlossenen<br />
Brü<strong>de</strong>rn« ein, weil ich das mit Bru<strong>de</strong>r H. P. Me<strong>de</strong>ma schon in einer separaten<br />
Abhandlung getan [6] habe. 1 Je<strong>de</strong>nfalls sind die Unterschie<strong>de</strong> viel geringer, als die meisten<br />
Brü<strong>de</strong>r glauben, mit Ausnahme <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n äußersten Flügel bei <strong>de</strong>n »offenen« und <strong>de</strong>n<br />
»geschlossene [sic] Brü<strong>de</strong>rn«. Worum es mir nun geht, ist, daß die »Erweckung« vorüber<br />
war. Als Folge <strong>de</strong>r Spaltung wur<strong>de</strong>n viele »offene Brü<strong>de</strong>r« offener, als sie es jemals vor<br />
dieser Zeit gewesen waren, und viele »geschlossene Brü<strong>de</strong>r« wur<strong>de</strong>n exklusiver, als sie es<br />
jemals vor dieser Zeit gewesen waren.<br />
Was die »geschlossenen Brü<strong>de</strong>r« betrifft, sahen einige <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Lehrer diese<br />
Entwicklung mit kritischen Augen an. Der sehr geschätzte Bru<strong>de</strong>r George V. Wigram<br />
stellte gegen En<strong>de</strong> seines Lebens – er starb 1879 – die Herausgabe seiner Bibelstudienzeitschrift<br />
The Present Testimony (Das gegenwärtige Zeugnis) ein, weil er fand, daß die »Brü<strong>de</strong>r«<br />
das Zeugnis (in bezug auf die Einheit <strong>de</strong>s Leibes Christi) zwar nicht lehrmäßig, aber<br />
doch praktisch aufgegeben hätten. Die »Brü<strong>de</strong>r« waren eifrig dabei, eine Sekte zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Die gesamte Bewegung war seiner Meinung nach ins Leere gelaufen: die »Brü<strong>de</strong>r«<br />
waren ihm zufolge nur noch damit beschäftigt, Seifenblasen aufzublasen, 2 d. h. die Bewegung<br />
war schöner Schein gewor<strong>de</strong>n.<br />
2.1.3 Die zweite Spaltung<br />
Die zweite Spaltung in <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>rbewegung« war die von 1879–1881 (kurz nach <strong>de</strong>n<br />
Bemerkungen von Wigram!). Wie groß diese Katastrophe tatsächlich war, wird daran<br />
<strong>de</strong>utlich, daß dadurch sogar zwei so große Führer wie J. N. Darby und W. Kelly von einan<strong>de</strong>r<br />
getrennt wur<strong>de</strong>n. Den Anlaß zu dieser Spaltung bil<strong>de</strong>te eine an sich nicht so be<strong>de</strong>utsame<br />
Trennung in einer bestimmten Versammlung, ohne daß dabei irgendwelches<br />
fundamental Böse vorlag. Aber die wahren Ursachen <strong>de</strong>r Spaltung lagen viel tiefer und<br />
müssen in <strong>de</strong>r »New-Lump«-Bewegung gesucht wer<strong>de</strong>n.<br />
New Lump be<strong>de</strong>utet »neuer Teig«, und spielt auf 1Kor 5,7 an. Diese sektiererische<br />
und gesetzliche Bewegung kam in <strong>de</strong>n siebziger Jahren <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts auf. Sie<br />
hatte eine neue Abson<strong>de</strong>rung innerhalb <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>rbewegung« im Auge, in <strong>de</strong>r alle Brü-<br />
1 Open & Gesloten Broe<strong>de</strong>rs, in: Bo<strong>de</strong> Expres, Beilage zu Bo<strong>de</strong> van het heil in Christus, Jahrgang 1992,<br />
Hefte 1 und folgen<strong>de</strong>; (dtsch.: Offene und Geschlossene Brü<strong>de</strong>r).<br />
2 wörtl.: “[the Brethren are] blowing ecclesiastical bubbles”.
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 11<br />
<strong>de</strong>r, die die »tieferen Wahrheiten« <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>r« verstan<strong>de</strong>n, vereinigt wer<strong>de</strong>n und sich<br />
von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, die soviel »weniger Licht« besaßen, »abson<strong>de</strong>rn« sollten. Diese üble<br />
Bewegung war <strong>de</strong>r Anlaß, daß Bru<strong>de</strong>r Wigram meinte, daß das Zeugnis <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r vorüber<br />
war.<br />
Bru<strong>de</strong>r Darby, <strong>de</strong>r die Wahrheit <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes Christi immer so hoch gehalten<br />
hatte, sah sofort die tödliche Gefahr dieser Bewegung. Er brachte dann auch sehr<br />
scharfe Einwendungen dagegen vor und schrieb auch in Briefen sehr viel dagegen. Ich<br />
habe die Briefe (die nicht veröffentlicht sind), soweit sie erhalten geblieben sind, allesamt<br />
gelesen. Aber die tiefe Tragik war, daß Bru<strong>de</strong>r Darby, <strong>de</strong>r inzwischen ein alter Mann<br />
gewor<strong>de</strong>n war, nicht zu verhin<strong>de</strong>rn wußte, daß er selbst in diese Bewegung hineingezogen<br />
und somit von Bru<strong>de</strong>r Kelly getrennt wur<strong>de</strong>.<br />
Innerhalb kürzester Zeit zeigte diese Bewegung dann ihr wahres Wesen, in<strong>de</strong>m sie<br />
zwei an<strong>de</strong>re be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Lehrer, nämlich Bru<strong>de</strong>r F. W. Grant und Bru<strong>de</strong>r C. E. Stuart,<br />
hinauswarf (1884–1885). Schließlich kamen die tiefsten Wurzeln nach oben, als sich in<br />
dieser Sekte Irrlehre offenbarte und sie in die Raven-Sekte entartete. Von 1881 bis 1890<br />
waren wir mit dieser Sekte in Gemeinschaft. Erst beim Auftreten von Raven gingen<br />
schließlich uns die Augen auf. Aber, soweit ich weiß, haben wir niemals, auch bei keiner<br />
Wie<strong>de</strong>rvereinigung unterschiedlicher »Brü<strong>de</strong>r«-Gruppen, die seit<strong>de</strong>m stattgefun<strong>de</strong>n hat,<br />
diese neunjährige Verbindung mit <strong>de</strong>r New-Lump-Sekte als böse vor <strong>de</strong>m Herrn bekannt.<br />
Das scheint zwar sehr lange her zu sein, aber moralisch ist und bleibt es von enormer<br />
Be<strong>de</strong>utung. Wir haben dieses Böse niemals verurteilt, im Gegenteil, wir drohen wie<strong>de</strong>r<br />
vollständig hineinzufallen.<br />
Eine <strong>de</strong>r schlimmen Irrlehren, die die in 1890 entstan<strong>de</strong>ne Raven-Taylor-Sekte aufweist,<br />
ist die starke Überbetonung <strong>de</strong>r Versammlung. Es wird ihr eine Wür<strong>de</strong> beigemessen,<br />
die nur <strong>de</strong>m Haupt <strong>de</strong>r Versammlung gebührt. Zu diesem Irrweg gehört auch, daß die<br />
Autorität <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Männer fast <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Herrn gleichgesetzt wird. Versammlungsbeschlüsse<br />
wer<strong>de</strong>n hinter <strong>de</strong>n Kulissen von diesen Führern gesteuert und wer<strong>de</strong>n dann zu<br />
einem Prüfstein für alle Versammlungen gemacht, als ob es sich um fundamentale Irrlehre<br />
han<strong>de</strong>le. Eine Entscheidung für o<strong>de</strong>r gegen solche Beschlüsse, d. h. letztendlich: für o<strong>de</strong>r<br />
gegen die führen<strong>de</strong>n Männer, wird faktisch zu einer Entscheidung für o<strong>de</strong>r gegen Christus<br />
gemacht. Das, was <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>n Versammlungen sagt (Offb. 2:7 usw.), be<strong>de</strong>utet dann in<br />
<strong>de</strong>r Praxis das, was die Führer sagen. Die Gegenwart <strong>de</strong>s Herrn nach Matth. 18:20 sei nur<br />
bei <strong>de</strong>n Versammlungen <strong>de</strong>s genau umschriebenen Gemeinschaftskreises, nicht woan<strong>de</strong>rs.<br />
Überall, wo heute in <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>rbewegung in verschie<strong>de</strong>nen Län<strong>de</strong>rn die sektiererischen<br />
»Neue-Teig-Ten<strong>de</strong>nzen« wie<strong>de</strong>r auftauchen, spüren wir genau dieselben Kennzeichen.<br />
Die Versammlung wird (natürlich nicht lehrmäßig, aber doch praktisch) <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>rbewegung<br />
gleichgesetzt, und Kritik an <strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rversammlungen be<strong>de</strong>utet faktisch Kritik<br />
an <strong>de</strong>r Versammlung Gottes und damit Kritik an Gott und <strong>de</strong>m Herrn Jesus. Mittels sogenannter<br />
Versammlungszucht schaffen die Führer unbequeme Brü<strong>de</strong>r, die <strong>de</strong>r vorgeschriebenen<br />
Hauptlinie nicht folgen, bei Seite. Zweifelhafte Versammlungsbeschlüsse<br />
wer<strong>de</strong>n zu einem Prüfstein für alle Geschwister gemacht. Dies geschieht unter <strong>de</strong>m Vorwand<br />
<strong>de</strong>r »Wahrheit <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes«; in Wirklichkeit han<strong>de</strong>lt es sich hier um die<br />
»Einheitlichkeit <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>rbewegung«, welche ein Hauptanliegen <strong>de</strong>r Führer ist. Die<br />
Unterweisungen <strong>de</strong>r Führer wer<strong>de</strong>n zuweilen (natürlich nicht offiziell, aber doch faktisch)<br />
<strong>de</strong>m Wort [7] Gottes gleichgesetzt; d.h., wer ihre Belehrungen nicht akzeptiert, wi<strong>de</strong>rsteht<br />
<strong>de</strong>r Wahrheit und unterwirft sich nicht <strong>de</strong>m Wort Gottes.
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 12<br />
2.2 Die alten Brü<strong>de</strong>r über die <strong>Sektiererei</strong><br />
2.2.1 Darby<br />
Es ist gera<strong>de</strong> eines <strong>de</strong>r Kennzeichen einer Sekte, bestimmte Lehrer aufs Po<strong>de</strong>st zu heben.<br />
Mitunter geschieht dies gegen <strong>de</strong>ren Willen, <strong>de</strong>nn noch längst nicht immer wollen die<br />
Lehrer dies selber. Ich gehöre selbst zu <strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rn, die <strong>de</strong>n Bibelunterweisungen von<br />
Bru<strong>de</strong>r Darby einen beson<strong>de</strong>ren Wert beimessen und ich habe in ihnen sehr viel studiert.<br />
Doch hoffe ich davor bewahrt zu bleiben, Bru<strong>de</strong>r Darby jemals auf einen Sockel zu heben<br />
und ihn damit unfreiwillig zu einem Anführer einer Sekte zu machen. An<strong>de</strong>re zeigen<br />
diese Neigung lei<strong>de</strong>r sehr wohl: was z. B. Darby und Kelly geschrieben haben, ist für sie<br />
das En<strong>de</strong> allen Wi<strong>de</strong>rspruchs. Nun, gera<strong>de</strong> für diese Brü<strong>de</strong>r will ich gerne ausführlich<br />
Bru<strong>de</strong>r Darby und auch Kelly zitieren, um ihnen darzulegen, daß diese Brü<strong>de</strong>r ganz an<strong>de</strong>rs<br />
über die <strong>Sektiererei</strong> dachten als sie selbst, ja, daß gera<strong>de</strong> diese Brü<strong>de</strong>r viele <strong>de</strong>rer, die<br />
sie am meisten verehren, vielleicht zuerst als »sektiererisch« bezeichnen wür<strong>de</strong>n.<br />
Die Zitate, die ich im folgen<strong>de</strong>n von Bru<strong>de</strong>r Darby gebe, sind für mich nur <strong>de</strong>shalb<br />
von Be<strong>de</strong>utung, weil sie meines Erachtens schriftgemäß sind. Dies ist die einzige Norm,<br />
auf die es ankommt. Zuerst gebe ich ein Zitat von ihm wie<strong>de</strong>r, das einer allgemeinen Abhandlung<br />
über die <strong>Sektiererei</strong> entnommen ist; danach folgt ein frühes Zitat von ihm, als<br />
die »Brü<strong>de</strong>rbewegung« gera<strong>de</strong> begonnen hatte und schließlich noch fünf weitere Zitate<br />
aus <strong>de</strong>m späteren Teil seines Lebens, als die sektiererischen Ten<strong>de</strong>nzen bereits angefangen<br />
hatten, sich innerhalb <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>rbewegung« auszubreiten.<br />
(a) Aufsatz What is a Sect? aus <strong>de</strong>m Jahr 1872 o<strong>de</strong>r kurz vorher 3<br />
»Der Ausdruck ›Sekte‹ … bezeichnet entwe<strong>de</strong>r eine Lehre o<strong>de</strong>r ein System, sei es auf<br />
philosophischem o<strong>de</strong>r religiösem Gebiet, <strong>de</strong>ssen Anhänger vereinigt sind als solche, die<br />
jene Lehre übernommen haben. (…) Ein sektiererischer Geist existiert da, wo <strong>de</strong>r Wunsch<br />
besteht, Jünger auf irgen<strong>de</strong>iner an<strong>de</strong>ren Grundlage als <strong>de</strong>r dieser Einheit [<strong>de</strong>s Leibes<br />
Christi] zu vereinen, und wo diejenigen, die vereinigt sind, dies wegen und mittels einer<br />
bestimmten gemeinsamen Meinung sind. Ihre Einheit ist we<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Grundsatz <strong>de</strong>r<br />
Einheit <strong>de</strong>s Leibes, noch <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>r Gläubigen gegrün<strong>de</strong>t. Wenn solche Personen in<br />
einer Glaubensgemeinschaft vereinigt sind und sich gegenseitig als Mitglie<strong>de</strong>r dieser Glaubensgemeinschaft<br />
anerkennen, dann bil<strong>de</strong>n sie formal eine Sekte, weil ihr Versammlungsgrundsatz<br />
nicht die Einheit <strong>de</strong>s Leibes ist und weil sie nicht als Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Leibes Christi<br />
versammelt sind – selbst wenn sie tatsächlich solche wären – son<strong>de</strong>rn als Glie<strong>de</strong>r einer<br />
beson<strong>de</strong>ren Glaubensgemeinschaft. (…)«<br />
»Wenn eine Glaubensgemeinschaft von Christen es als ihr Recht beansprucht, nur ihre<br />
eigenen Glie<strong>de</strong>r zum Mahl <strong>de</strong>s Herrn zuzulassen, das doch <strong>de</strong>r Ausdruck <strong>de</strong>r Einheit aller<br />
Glie<strong>de</strong>r [<strong>de</strong>s Leibes Christi] ist (wie wir es in 1Kor 10,17 fin<strong>de</strong>n), dann ist [in jener Glaubensgemeinschaft]<br />
eine Einheit geschaffen wor<strong>de</strong>n, welche formal zu <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes<br />
Christi in direktem Wi<strong>de</strong>rspruch steht. Es mag sein, daß dies in Unwissenheit geschehen<br />
ist, o<strong>de</strong>r daß diese Christen noch nie verstan<strong>de</strong>n haben, was die Einheit <strong>de</strong>s Leibes<br />
wirklich ist und daß es <strong>de</strong>r Wille Gottes ist, daß diese Einheit auf dieser Er<strong>de</strong> dargestellt<br />
wird; aber faktisch bil<strong>de</strong>n sie eine Sekte, eine völlige Verleugnung <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes<br />
3 in: The Bible Treasury, Vol. 9, S. 191–192, ebenso in: The Collected Writings of J. N. Darby, Vol. 14, S.<br />
362–365 (Reprint 1971 Edition, Believers Bookshelf) sowie dtsch.: Was ist eine Sekte? in: Botschafter<br />
<strong>de</strong>s Heils in Christo, Jahrgang 1877, S. 119ff (Neudruck; Neustadt: Paulus, 1967).
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 13<br />
Christi. Viele <strong>de</strong>rer, die Glie<strong>de</strong>r am Leibe Christi sind, sind nicht Mitglie<strong>de</strong>r dieser Glaubensgemeinschaft,<br />
und das Mahl <strong>de</strong>s Herrn ist nicht <strong>de</strong>r Ausdruck <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes<br />
Christi, auch wenn die Glie<strong>de</strong>r an diesem in gottesfürchtiger Weise teilnehmen. (…)«<br />
»Wenn ich alle Christen als Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Leibes Christi anerkenne, wenn ich sie liebe<br />
und sie unter <strong>de</strong>r Voraussetzung, daß sie in <strong>de</strong>r Wahrheit und in Heiligkeit wan<strong>de</strong>ln und<br />
<strong>de</strong>n Herrn aus reinem Herzen anrufen (2Tim 2,19–22; Offb 3,7), mit einem weiten Herzen<br />
aufnehme, selbst am Mahl <strong>de</strong>s Herrn, dann wandle ich nicht in einem sektiererischen<br />
Geist, selbst wenn ich nicht alle Kin<strong>de</strong>r Gottes wie<strong>de</strong>rvereinen kann, <strong>de</strong>nn ich wandle<br />
dann gemäß <strong>de</strong>s Grundsatzes dieser Einheit <strong>de</strong>s Leibes Christi und strebe nach praktischer<br />
Vereinigung unter <strong>de</strong>n Gläubigen. Wenn ich mich mit an<strong>de</strong>ren Gläubigen zur Feier <strong>de</strong>s<br />
Abendmahls vereinige, einfach als ein Glied am Leibe Christi, und nicht als ein Glied<br />
irgen<strong>de</strong>iner Gemein<strong>de</strong> – wenn ich dies wirklich tue in <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes, in<strong>de</strong>m ich<br />
bereit bin, alle Christen, die in Gottseligkeit und in <strong>de</strong>r Wahrheit wan<strong>de</strong>ln, aufzunehmen<br />
– dann bin ich nicht das Glied einer Sekte, son<strong>de</strong>rn ein Glied von nichts geringerem als<br />
<strong>de</strong>m Leib Christi. (…)«<br />
»Eine Sekte ist also eine religiöse Gemeinschaft, die aufgrund eines an<strong>de</strong>ren Grundsatzes,<br />
als <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes Christi vereinigt ist. Eine solche Glaubensgemeinschaft<br />
ist auf je<strong>de</strong>n Fall eine Sekte, wenn diejenigen, welche sie ausmachen, als <strong>de</strong>ren<br />
Glie<strong>de</strong>r betrachtet wer<strong>de</strong>n. Dann wan<strong>de</strong>lt man in einem sektiererischen Geist, wenn man<br />
nur gewisse Personen anerkennt und zuläßt, ohne sich gera<strong>de</strong> Glie<strong>de</strong>r einer Glaubensgemeinschaft<br />
zu nennen.«<br />
[8] (b) Brief aus <strong>de</strong>m Jahr 1833 4<br />
»(…) Ich vertraue sehr darauf, daß ihr [d. h. die Gläubigen in Plymouth] euch unendlich<br />
weit von <strong>Sektiererei</strong> entfernt haltet. Die große Masse <strong>de</strong>r Gläubigen, die sich an Religion<br />
gewöhnt haben, ist schwerlich fähig, etwas an<strong>de</strong>res [als <strong>Sektiererei</strong>] zu verstehen, da ihr<br />
Sinn dieser stets zugeneigt ist. Wenn sie [d. h. die Gläubigen in Plymouth] ebenfalls in<br />
ihrer Stellung vor Gott so wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n, dann wür<strong>de</strong>n sie völlig nutzlos wer<strong>de</strong>n und<br />
wür<strong>de</strong>n, davon bin ich überzeugt, unmittelbar in einzelne Stücke auseinan<strong>de</strong>rbrechen. Ihr<br />
seid nichts an<strong>de</strong>res als einfach Christen, und im selben Augenblick, da ihr aufhört, je<strong>de</strong>m<br />
im Wan<strong>de</strong>l beständigen Christen die Gemeinschaft zu ermöglichen 5 , wer<strong>de</strong>t ihr in Stücke<br />
zerfallen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Bösen helfen.«<br />
(c) Brief aus <strong>de</strong>m Jahr 1858 6<br />
»Was die Brü<strong>de</strong>r betrifft, von <strong>de</strong>nen Sie sprechen: Empfangt die strengsten Baptisten,<br />
wenn sie in eure Mitte [an <strong>de</strong>n Tisch <strong>de</strong>s Herrn] kommen. Wenn ihr es an<strong>de</strong>rs machen<br />
wür<strong>de</strong>t, so wür<strong>de</strong>t ihr wie sie sein. Es ist von äußerster Wichtigkeit, die Weite <strong>de</strong>s Christus<br />
zu bewahren. Es liegt an euch, dies zu tun, um die Einheit <strong>de</strong>s Geistes zu bewahren<br />
in <strong>de</strong>m Ban<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns. Ja, es ist meiner Meinung nach von großer Be<strong>de</strong>utung, daß<br />
man entschie<strong>de</strong>n an diesem Grundsatz festhält und daß man hier alle Geduld zeigt. Wenn<br />
sich bei jemand Sün<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r eine Lehre, die die Person <strong>de</strong>s Heilan<strong>de</strong>s angreift, zeigt, so<br />
verwerft ihn; aber dann muß dies auch bewiesen sein. Selbst wenn sich ein Bru<strong>de</strong>r wegen<br />
echter Gewissensnöte von einer Versammlung getrennt hat, wür<strong>de</strong> ich ihn empfangen, nur<br />
wür<strong>de</strong> ich die Versammlung, von <strong>de</strong>r er sich abgeson<strong>de</strong>rt hat, davon unterrichten, nach<br />
4 Letters of J. N. Darby, Stow Hill Ed., Vol. I, S. 18.<br />
5 orig.: to cease to be an available mount for communion for any consistent Christian.<br />
6 Messager Évangélique, Jahrgang 1894, S. 119.
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 14<br />
welchem Grundsatz man das getan hat [d. h. wodurch die Abson<strong>de</strong>rung entstan<strong>de</strong>n ist].<br />
Wenn Bosheit da war und wenn es um einen Trennungsanstifter geht, also jemand, <strong>de</strong>n<br />
die Schrift einen sektiererischen Menschen nennt, dann soll ich ihn verwerfen, nach<strong>de</strong>m<br />
ich ihn zweimal zurechtgewiesen hätte. Es ist sehr wichtig, daß die Tür für Personen offengehalten<br />
wird, die abgeirrt o<strong>de</strong>r betrübt sein könnten und nicht wissen, was sie tun<br />
sollen, und daß man keine Sekte gegen die Baptisten bil<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn daß man nach <strong>de</strong>r<br />
Einheit <strong>de</strong>s Geistes strebt. Wenn sie eine Sekte sein wollen, bitte; aber wir nicht! Das<br />
Wort sagt: ›Einen sektiererischen Menschen weise nach einer ein- und zweimaligen Zurechtweisung<br />
ab‹ [Tit 3,10f]. Der Sektierer ist jemand, <strong>de</strong>r eine Sekte auf seine eigene<br />
Meinung grün<strong>de</strong>t; nicht jemand, <strong>de</strong>r eine verkehrte Lehre hat, son<strong>de</strong>rn jemand, <strong>de</strong>r in<br />
dieser Weise versucht, eine Sekte zu bil<strong>de</strong>n. Wenn jemand dies tut, haben wir ein biblisches<br />
Motiv, ihn auszuschließen. Aber, lieber Bru<strong>de</strong>r, wen<strong>de</strong> alle Geduld auf … auf Dauer<br />
ist Gott <strong>de</strong>r Stärkste; nur erprobt er unseren Glauben. Lies 1Sam 25,31 und auch Kol<br />
1,11. Kraft zeigt sich im Ausharren. (…) Wenn jemand Trennungen verursachen wür<strong>de</strong>,<br />
so wür<strong>de</strong> ich von ihm Abstand halten, selbst wenn da keine Fakten vorlägen, ihn auszuschließen.«<br />
(d) Brief aus <strong>de</strong>m Jahr 1869 7<br />
»Kann man solche zulassen [zum Tisch <strong>de</strong>s Herrn], die nicht formell und regelmäßig in<br />
unserer Mitte sind? (…) Stellen wir uns jemand vor, <strong>de</strong>r als gottesfürchtig und gesund im<br />
Glauben bekannt ist, obwohl er das kirchliche System, <strong>de</strong>m er angehört, nicht verlassen<br />
hat; stellen wir uns sogar vor, daß er überzeugt ist, daß die Schrift einen durch Menschen<br />
geweihten Dienst empfehle, sich aber freut, von einer Gelegenheit, die sich darbietet [mit<br />
uns das Brot zu brechen] gebrauch [sic] zu machen. (…) Muß er zurückgewiesen wer<strong>de</strong>n,<br />
weil er irgend einem System angehört, betreffs <strong>de</strong>ssen sein Gewissen nicht erleuchtet ist,<br />
o<strong>de</strong>r welches er sogar für richtiger hält? Er ist ein gottesfürchtiges Glied <strong>de</strong>s Leibes Christi<br />
und als solches bekannt. Muß er abgewiesen wer<strong>de</strong>n? Wenn es geschieht, so macht man<br />
die Gemeinschaft von <strong>de</strong>m Gra<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lichts, das man besitzt, abhängig, und die Versammlung,<br />
die eine solche Seele zurückweist, verleugnet die Einheit <strong>de</strong>s Leibes. Der<br />
Grundsatz <strong>de</strong>s Zusammenkommens (nämlich als Glie<strong>de</strong>r Christi, die in Gottesfurcht wan<strong>de</strong>ln)<br />
wird so aufgegeben. Übereinstimmung mit uns wird als Vorbedingung gefor<strong>de</strong>rt und<br />
die Versammlung wird eine Sekte mit ihren Glie<strong>de</strong>rn, gera<strong>de</strong> so wie je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re. Man<br />
wür<strong>de</strong> uns sagen: Die Sekten versammeln sich auf ihrem Grundsatz, <strong>de</strong>m baptistischen<br />
o<strong>de</strong>r einem beliebigen an<strong>de</strong>ren; ihr [versammelt euch] auf <strong>de</strong>m eurigen, und wer nicht<br />
formell zu euch gehört, <strong>de</strong>n laßt ihr nicht zu.«<br />
»Damit wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Grundsatz <strong>de</strong>r Versammlungen <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r aufgegeben und eine<br />
neue Sekte gebil<strong>de</strong>t sein; vielleicht mit mehr Licht, [als an<strong>de</strong>re besitzen,] aber das wäre<br />
auch alles. Es ist ohne Zweifel mühsamer und erfor<strong>de</strong>rt mehr Sorgfalt, je<strong>de</strong>n Fall für sich<br />
beson<strong>de</strong>rs nach <strong>de</strong>m Grundsatz <strong>de</strong>r Einheit aller Glie<strong>de</strong>r Christi zu behan<strong>de</strong>ln, als zu sagen:<br />
›Du gehörst nicht zu unserer Versammlung, du darfst nicht kommen [um teilzunehmen].‹<br />
Aber wenn man das letztere täte, so wür<strong>de</strong> man damit <strong>de</strong>n ganzen Grundsatz <strong>de</strong>s<br />
Zusammenkommens aufgeben. Ein solcher Weg wäre nicht in Übereinstimmung mit Gott.<br />
(…)«<br />
»Man hat behauptet, daß die Brü<strong>de</strong>r gemäß dieses sektiererischen Grundsatzes, <strong>de</strong>n<br />
wir soeben verurteilt haben, gehan<strong>de</strong>lt hätten. Diese Behauptung ist schlicht unzutreffend.<br />
7 Messager Évangélique, Jahrgang 1905, S. 16–19; teilweise auch wie<strong>de</strong>rgegeben in R. Brockhaus: Die<br />
Einheit <strong>de</strong>s Leibes Christi, 1913, S. 20.
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 15<br />
Zwar wur<strong>de</strong>n inzwischen neue Versammlungen gebil<strong>de</strong>t, die ich nie besucht habe, aber<br />
die alten, die schon lange [9] als Brü<strong>de</strong>r [mit uns] gehen, und die ich von Beginn an gekannt<br />
habe, haben allezeit Christen, die als solche bekannt waren, empfangen, und ich<br />
zweifle nicht daran, daß dies überall so geschieht, selbst in <strong>de</strong>n neueren Versammlungen.<br />
Vielleicht könnten Einzelpersonen diesen Gedanken [<strong>de</strong>s Nichtzulassens] haben, aber die<br />
Versammlung hat immer wahre Christen empfangen. Am letzten Sonntag, als ich in L.<br />
war, haben drei Personen auf diese Weise dort das Brot gebrochen. (…) Wenn ihr abweicht<br />
von <strong>de</strong>m rechten Weg, was <strong>de</strong>n Grundsatz <strong>de</strong>s Versammelns anbetrifft, wenn ihr<br />
euch von diesem Grundsatz trennt, dann seid ihr eine örtliche Sekte, die auf ihre eigenen<br />
Grundsätze gegrün<strong>de</strong>t ist.«<br />
»In allem, was unsere Treue betrifft, ist Gott mein Zeuge, daß ich keinem lockeren<br />
Wan<strong>de</strong>l nachstrebe. Aber Satan ist wirksam, uns zu <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite zu<br />
schicken, entwe<strong>de</strong>r, um die [wahre] Weite <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes zu vernichten o<strong>de</strong>r, um<br />
sie in praktische o<strong>de</strong>r lehrhafte Lockerheit zu verkehren. Wir dürfen nicht in <strong>de</strong>n einen<br />
Irrtum fallen, um <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zu vermei<strong>de</strong>n. Das Zulassen aller wahren Christen verleiht<br />
<strong>de</strong>m Fernhalten solcher, die unor<strong>de</strong>ntlich wan<strong>de</strong>ln, Kraft. Wenn ich zur selben Zeit alle<br />
die fernhalte, die nach <strong>de</strong>r Gottseligkeit wan<strong>de</strong>ln, aber nicht <strong>de</strong>nselben Weg wie wir gehen,<br />
so verliert das Fernhalten seine Kraft, da diejenigen, die gottesfürchtig sind, ebenso<br />
ferngehalten wer<strong>de</strong>n, wie die, die in Gottlosigkeit wan<strong>de</strong>ln. Man ist nicht mehr als ein<br />
›Glied <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r‹, anstatt [nur] ein Glied Christi zu sein. Ein ›Glied einer Versammlung‹<br />
zu sein ist etwas, das <strong>de</strong>r Schrift unbekannt ist. Man ist Glied am Leib Christi. Wenn alle<br />
[die am Brotbrechen teilnehmen wollen] zu euch gehören müßten, dann wür<strong>de</strong> dies praktisch<br />
heißen, ›Glie<strong>de</strong>r eures Leibes‹ zu sein. Möge <strong>de</strong>r Herr euch davor bewahren! Dieser<br />
Bo<strong>de</strong>n ist kein an<strong>de</strong>rer als <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>Sektiererei</strong>.«<br />
(e) Brief aus <strong>de</strong>m Jahr 1873 8<br />
»Mein lieber Bru<strong>de</strong>r, (…) die Frage, die Sie mir bezüglich <strong>de</strong>r Zulassung [zum Tisch <strong>de</strong>s<br />
Herrn] stellten, ist für mich immer eine heikle. Der springen<strong>de</strong> Punkt ist <strong>de</strong>r, das Ausüben<br />
gesun<strong>de</strong>r Zucht einerseits und das völlige – und zunehmend wichtiger wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> – Fernhalten<br />
von <strong>de</strong>m, was das Lager ist, damit zu versöhnen, daß man vermei<strong>de</strong>t, eine Sekte zu<br />
wer<strong>de</strong>n, was ich genau so gerne tun möchte. Wenn man alle Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Leibes Christi<br />
zuläßt, so ist man ein<strong>de</strong>utig keine Sekte, und eben dies ist <strong>de</strong>r Grundsatz, nach <strong>de</strong>m wir<br />
uns vereinigen; aber diese [betroffenen Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Leibes Christi] müssen or<strong>de</strong>ntlich<br />
wan<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>r Zucht unterworfen sein und dürfen sich nicht anmaßen, <strong>de</strong>r Versammlung<br />
Gottes Bedingungen aufzuerlegen.«<br />
(f) Brief aus <strong>de</strong>m Jahr 1879 9<br />
»(…) Es ging nicht darum, daß er mit dir o<strong>de</strong>r irgend einem an<strong>de</strong>ren alleine stehen<strong>de</strong>n<br />
Gläubigen das Brot gebrochen hatte. Das könnte man akzeptieren. Das habe ich bereits<br />
so gesagt und habe Vorwürfe dafür geerntet. Man möchte Vertrauen und Gemeinschaft in<br />
solchen Handlungen wünschen, aber wenn es in <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Geistes getan wur<strong>de</strong>, so<br />
ist daran nichts falsches. (…) Was die Gefahr anbetrifft, in die <strong>Sektiererei</strong> abzugleiten, und<br />
also selbst eine geson<strong>de</strong>rte Gemeinschaft zu bil<strong>de</strong>n, so erkenne ich diese völlig. (…) Das<br />
gedruckte Verzeichnis <strong>de</strong>r Versammlungen tendierte dahin, <strong>de</strong>nn das Böse schlüpft unbeabsichtigt<br />
herein, und eben aus diesem Grund wollte ich darüber niemals etwas zu sagen<br />
8 Letters of J. N. Darby, Stow Hill Ed., Vol. II, S. 212.<br />
9 Letters of J. N. Darby, Stow Hill Ed., Vol. III, S. 48f.
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 16<br />
haben, obwohl es sehr bequem ist und <strong>de</strong>shalb auch erstellt wur<strong>de</strong>. Das Buch von [Andrew]<br />
M[iller (über die Geschichte <strong>de</strong>r ›Brü<strong>de</strong>r‹)], von <strong>de</strong>m ich – so seltsam das zu sagen<br />
ist – bis vor drei Tagen noch nie etwas gehört hatte, hat nach allem, was ich davon gehört<br />
habe (ich habe es niemals selbst gesehen), dieselbe Ten<strong>de</strong>nz; aber die menschliche Natur<br />
ist stets geneigt, ›wir‹ zu sagen, wenn sie schon nicht ›ich‹ sagen kann: ›Er geht nicht mit<br />
uns‹. Während ich vom Lager getrennt bin, bin ich so entschie<strong>de</strong>n wie möglich. Aber noch<br />
nie in meinem Leben habe ich jemand gebeten, sich zu <strong>de</strong>n ›Brü<strong>de</strong>rn‹ zu gesellen.«<br />
»Aber <strong>de</strong>r Grundsatz <strong>de</strong>r Schrift ist so einfach wie möglich. Es gab einen Leib auf <strong>de</strong>r<br />
Er<strong>de</strong>, wovon alle Glie<strong>de</strong>r sind. (…) Das Mahl <strong>de</strong>s Herrn ist das äußere Zeichen dieser<br />
Einheit: ›… ein Leib; <strong>de</strong>nn wir alle nehmen teil an <strong>de</strong>m einen Brot‹ [1Kor 10,17]. Genau<br />
dies war es, das mich vor über fünfzig Jahren aus <strong>de</strong>r Staatskirche herausführte; und auch<br />
heute habe ich keinen an<strong>de</strong>ren Grundsatz. Dies verpflichtete mich, je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m<br />
Heiligen Geist getauft ist, als Glied <strong>de</strong>s Leibes anzuerkennen. Nur daß wir in <strong>de</strong>n letzten<br />
Tagen aufgerufen wer<strong>de</strong>n, die zu erkennen, die ›<strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Herrn anrufen aus reinem<br />
Herzen‹ [2Tim 2,22], wozu anfangs nicht aufgerufen wur<strong>de</strong>: ›<strong>de</strong>r Herr aber tat täglich<br />
hinzu‹ [Apg 2,47]. Dies macht die (sogenannten) ›Brü<strong>de</strong>r‹ nicht zur Versammlung Gottes,<br />
son<strong>de</strong>rn vielmehr die, die allein auf <strong>de</strong>m Grundsatz ihrer Einheit zusammenkommen. Die<br />
Trennlinie zwischen Enge und Treue ist eine sehr schmale. Aber <strong>de</strong>r Geist Christi kann<br />
uns darauf leiten und bewahren. Die Einheit <strong>de</strong>s Leibes kann nicht angerührt wer<strong>de</strong>n, da<br />
<strong>de</strong>r Heilige Geist mit Christus vereinigt: alle die, die mit <strong>de</strong>m Heiligen Geist getauft wor<strong>de</strong>n<br />
sind (d. h., Ihn [d. i. Christus] angenommen haben), sind Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Leibes. Wir haben<br />
die ›Einheit <strong>de</strong>s Geistes‹ zu bewahren, d. h., in <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>s Geistes zu wan<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>r<br />
uns hier auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> in Einheit bewahrt, und dies bedarf <strong>de</strong>s Befleißigens. Ich habe<br />
Furcht davor, wenn ein Zusammenkommen an irgend einem Ort die Versammlung Gottes<br />
genannt wird. Sie mag die einzige [10] Versammlung sein, die nach schriftgemäßen Grundsätzen<br />
zusammenkommt – dächte ich nicht so, so wür<strong>de</strong> ich nicht dorthin gehen – aber<br />
dies [Versammlung genannt zu wer<strong>de</strong>n] tendiert dazu, sie zu verengen und zu einer Sekte<br />
zu machen.«<br />
(g) Brief aus <strong>de</strong>m Jahr 1881 10<br />
»Die Versammlung ist keinesfalls eine freiwillige Zusammenkunft von Christen, die die<br />
Versammlung ausgewählt haben, <strong>de</strong>nn in diesem Fall wäre sie eine Sekte. Sie ist, soweit<br />
dies heute möglich ist, die Vereinigung aller Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Leibes Christi. Wir müssen ausreichen<strong>de</strong>n<br />
Beweis dafür haben, daß diejenigen, die [am Brotbrechen] teilnehmen wollen,<br />
wahre Christen sind, und daß ihr Wan<strong>de</strong>l moralisch und christlich ist. Wenn sie jedoch<br />
regelmäßig mit solchen zusammenkommen, die die Wahrheiten <strong>de</strong>s Christentums leugnen,<br />
so sind sie verunreinigt, und dasselbe ist <strong>de</strong>r Fall, wenn sie dort zusammenkommen, wo<br />
Sittenlosigkeit gedul<strong>de</strong>t wird. Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Einsicht hinsichtlich Versammlungsangelegenheiten<br />
ist kein ausreichen<strong>de</strong>r Grund, eine Seele [vom Brotbrechen] fernzuhalten.«<br />
2.2.2 Kelly<br />
Von Bru<strong>de</strong>r Kelly führe ich zwei Zitate an, die <strong>de</strong>utlich seine Ansicht bezüglich <strong>de</strong>r Frage,<br />
was eine Sekte ist, und bezüglich <strong>de</strong>r Gefahr <strong>de</strong>r <strong>Sektiererei</strong> unter <strong>de</strong>n »Brü<strong>de</strong>rn« wie<strong>de</strong>rgeben.<br />
Ich könnte eigentlich auch aus seiner beson<strong>de</strong>rs interessanten Broschüre Christli-<br />
10 Messager Évangélique, Jahrgang 1936, S. 150.
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 17<br />
che Einheit und Gemeinschaft 11 zitieren, aber da diese Broschüre seit ungefähr zehn Jahren<br />
in großer Menge und in verschie<strong>de</strong>nen Sprachen verbreitet wur<strong>de</strong>, will ich <strong>de</strong>n Inhalt<br />
<strong>de</strong>rselben als bekannt voraussetzen. Das erneute Lesen dieser Broschüre will ich allerdings<br />
nochmals sehr empfehlen. Keine an<strong>de</strong>re Schrift hat mir in meiner Jugend mehr geholfen,<br />
die Wahrheit <strong>de</strong>s schriftgemäßen Zusammenkommens verstehen zu lernen als<br />
diese! Bezeichnend ist übrigens, daß verschie<strong>de</strong>ne sektiererisch eingestellte Brü<strong>de</strong>r die<br />
Herausgabe dieser Broschüre öffentlich bedauert haben.<br />
(a) In seiner Broschüre The Doctrine of Christ and Bethesdaism 12 spricht Kelly über<br />
die Möglichkeit, gelegentlich »offene Brü<strong>de</strong>r« am Tisch <strong>de</strong>s Herrn zu empfangen:<br />
»Hier geht es nicht um das Empfangen von Christen im Namen Christi, wobei wir<br />
bezüglich kirchlicher Unwissenheit gnädig verfahren. Dies haben wir (außer einiger, die<br />
eine unglückliche Rolle in <strong>de</strong>n jüngsten Katastrophen [<strong>de</strong>r Trennung von 1879–1881]<br />
gespielt haben) stets vertreten als etwas, das völlig gottgemäß ist – und ich bin sicher, daß<br />
wir allezeit so fortfahren wer<strong>de</strong>n, glaubend und <strong>de</strong>mgemäß han<strong>de</strong>lnd wie es Christus<br />
gebührt. Betreffs O[ffener] B[rü<strong>de</strong>r] liegt <strong>de</strong>r Fall völlig an<strong>de</strong>rs als beim Willkommenheißen<br />
einer gottesfürchtigen Person, trotz <strong>de</strong>ren Sekte. (…)«<br />
»Wenn er [d.i. jemand von uns] so weit geht, daß er einzelne Personen [z.B. <strong>de</strong>r ›offenen<br />
Brü<strong>de</strong>r‹] wegen ›Unabhängigkeit‹ zurückweist [am Abendmahl teilzunehmen], dann<br />
muß er, um konsequent zu sein, die ganze Weite <strong>de</strong>s Herzens preisgeben, die die ›Brü<strong>de</strong>r‹<br />
von Anfang an kennzeichnete, und ebenso <strong>de</strong>n Grundsatz, auf <strong>de</strong>n <strong>de</strong>ren beste und weiseste<br />
Führer bis zum Äußersten größten Wert gelegt hatten: unser Anrecht <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>,<br />
gottesfürchtige Heiligen aus je<strong>de</strong>r bibeltreuen Benennung willkommen zu heißen, wenn<br />
sie auch alle durch Unabhängigkeit in verschie<strong>de</strong>ner Form geprägt sind. (…)«<br />
»Wir haben stets die Möglichkeit offen gelassen, daß es in <strong>de</strong>n Reihen <strong>de</strong>r offenen<br />
Brü<strong>de</strong>r einzelne Personen geben mag, die völlig und aufrichtig darüber unwissend sind,<br />
daß sie als Gesellschaft auf <strong>de</strong>r Gleichgültigkeit bezüglich eines wahren o<strong>de</strong>r falschen<br />
Christus gegrün<strong>de</strong>t sind. Wo dies sicher ist, möchte man suchen, nachsichtig mit solchen<br />
zu verfahren, und niemand war freier, solche mit ernster Sorgfalt zu empfangen, als <strong>de</strong>r<br />
verstorbene J. N. D[arby], wie es auch fast alle an<strong>de</strong>ren führen<strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>r getan haben.<br />
Ängstliche Menschen, stets sektiererischen Barrieren zugeneigt, haben [jedoch] – lei<strong>de</strong>r!<br />
– selbst solche zurückgewiesen.«<br />
(b) Brief: On Alleged Neutrality and Real Sectarianism vom 15. Mai 1882 13<br />
(Kelly schreibt hier anläßlich <strong>de</strong>r Trennung von 1879–1881 über die Versammlung in<br />
Ramsgate, die ohne schriftgemäße Grün<strong>de</strong> in die Teile Abbott’s Hill (A.H.) und Guildford<br />
Hall (G. H.) auseinan<strong>de</strong>rgefallen war, und über die Versammlung in London, Park Street,<br />
die diese Trennung als gemeinschaftsentschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Frage (»Test«) allen an<strong>de</strong>ren Versammlungen<br />
aufgezwungen hatte.)<br />
»Die Sün<strong>de</strong> von Park Street und <strong>de</strong>ren Gefolgsleuten liegt darin, daß sie eine Frage<br />
wie die von Ramsgate – Unstimmigkeit in einer Versammlung – zu einer gemeinschaftsentschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Frage [einem ›Test‹] für an<strong>de</strong>re Versammlungen und sogar für einzelne<br />
11 Schwelm: Heijkoop-Verlag, 1982 (<strong>de</strong>utschsprachige Ausgabe). Original: William Kelly: The Unity of The<br />
Spirit, in: The Bible Treasury, Vol. 14, S. 140ff, u. a.<br />
12 in: William Kelly: Pamphlets (eine Sammlung von Einzelschriften Kellys), Reprint 1971, Believers Bookshelf,<br />
S. 481f; (dtsch.: Die Lehre <strong>de</strong>s Christus und <strong>de</strong>r Bethesdaismus).<br />
13 in: The Bible Treasury, Vol. 14, S. 302f (dtsch.: Über angebliche Neutralität und wirkliche <strong>Sektiererei</strong>).
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 18<br />
Personen, wie ich tatsächlich erfahren habe, macht. Gottesfürchtige Männer mögen aufrichtige<br />
Zweifel betreffs A. H. o<strong>de</strong>r G. H., o<strong>de</strong>r betreffs bei<strong>de</strong>r, hegen. Wenn man <strong>de</strong>shalb<br />
aus Ramsgate eine gemeinschaftsentschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Frage macht, so be<strong>de</strong>utet das, daß man die<br />
Versammlungen aufspaltet o<strong>de</strong>r sie <strong>de</strong>moralisiert, in<strong>de</strong>m man viele dazu bringt, solche als<br />
in Gemeinschaft anzunehmen, über die sie in Wirklichkeit in [11] Zweifel sind. Ganz abgesehen<br />
von <strong>de</strong>r tatsächlichen Situation in Ramsgate glaube ich, daß es ein Abweichen von<br />
unseren fundamentalen Grundsätzen ist, wenn Park Street o<strong>de</strong>r irgend eine an<strong>de</strong>re Versammlung<br />
eine <strong>de</strong>rartige Kontroverse aufgreift und sie zu einer Frage macht, um die Heiligen<br />
voneinan<strong>de</strong>r zu trennen. Die Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Trennung liegt bei <strong>de</strong>nen, die danach streben,<br />
<strong>de</strong>rgestalt die Gewissen zu nötigen. Alle, außer <strong>de</strong>ren Parteigängern, wären einverstan<strong>de</strong>n<br />
gewesen, G. H. und A. H. <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Herrn zu überlassen. (…) Was die Person<br />
Christi o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong> ähnlich fundamentale Wahrheit betrifft, so wür<strong>de</strong> man sich, wie uns<br />
befohlen ist, verpflichtet fühlen, die zurückzuweisen, die nicht Seine Lehre bringen. Aber<br />
einen Bruch in einer Versammlung als damit gleichwertig zu behan<strong>de</strong>ln heißt, die Schrift<br />
zugunsten <strong>de</strong>r Tradition – die sowieso immer dahin tendiert, zur Verunehrung Gottes die<br />
Versammlung an die Stelle Christi zu setzen – aufzugeben. Diejenigen, die so han<strong>de</strong>ln,<br />
sind meinem Urteil nach eine Sekte und sollten nicht als auf <strong>de</strong>m Grund Gottes stehend<br />
anerkannt wer<strong>de</strong>n – wenn man auch einzelne Gläubige daraus um Christi willen empfangen<br />
mag.«<br />
2.3 <strong>Sektiererei</strong> in <strong>de</strong>r heutigen Situation: die Grundsätze<br />
2.3.1 Ein »Circle of Fellowship«?<br />
Mehr und mehr kam es in <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>rbewegung« dazu, einen immer schärferen Unterschied<br />
zu machen zwischen Versammlungen, die mit uns in Gemeinschaft sind und solchen,<br />
die dies nicht sind. Diese I<strong>de</strong>e wird gewöhnlich mit <strong>de</strong>m Ausdruck circle of fellowship<br />
14 bezeichnet. Dies ist ein Kreis (eine Gruppe) von Versammlungen, die sich gegenseitig<br />
als in praktischer (Abendmahls-)Gemeinschaft miteinan<strong>de</strong>r anerkennen, und die<br />
sich von an<strong>de</strong>ren Versammlungen abgrenzen, die sie nicht als in praktischer Gemeinschaft<br />
mit ihnen zu sein betrachten.<br />
Brü<strong>de</strong>rn wie Darby und Kelly war diese I<strong>de</strong>e noch unbekannt. Soviel ich weiß, hat<br />
Bru<strong>de</strong>r F. W. Grant sie zuerst geäußert. Dieser Gedanke ist auch sehr verständlich: in <strong>de</strong>r<br />
Praxis wollen die Gläubigen gerne eine gewisse Vorstellung davon haben, zu welchen<br />
Versammlungen sie ohne irgen<strong>de</strong>ine vorherige Einzeluntersuchung hingehen können, um<br />
dort Brot zu brechen. Aber die I<strong>de</strong>e eines strengen circle of fellowship, so praktisch und<br />
verständlich diese auch sein mag, birgt im Grun<strong>de</strong> die Gefahr <strong>de</strong>r <strong>Sektiererei</strong> in sich. Darum<br />
war Darby auch so unglücklich über ein Adressenverzeichnis <strong>de</strong>r Versammlungen, wie<br />
es u. a. aus einem seiner oben zitierten Briefe (f) hervorgeht. Ein <strong>de</strong>rartiges Adreßbuch<br />
setzt ja die I<strong>de</strong>e eines circle of fellowship voraus. Das große Problem eines Adreßbuches<br />
sind nicht so sehr die Versammlungen, die darin aufgeführt wer<strong>de</strong>n – damit spricht man<br />
aus, daß die Gläubigen ohne Be<strong>de</strong>nken dorthin gehen können, um Brot zu brechen – als<br />
vielmehr die Versammlungen, die nicht darin stehen. Das Adreßbuch erweckt <strong>de</strong>n Anschein,<br />
daß je<strong>de</strong> Versammlung, die nicht darin steht, eine solche ist, zu <strong>de</strong>r man nicht<br />
gehen kann, um dort das Brot zu brechen. Nun, dieser Gedanke ist klar sektiererisch. Ein<br />
circle of fellowship wird auf diese Weise zu einer ganz gewöhnlichen Glaubensgemein-<br />
14 wörtl. übersetzt etwa: Kreis <strong>de</strong>r Gemeinschaft.
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 19<br />
schaft, so wie zahllose an<strong>de</strong>re. Wir sprechen zwar nicht von »Mitglie<strong>de</strong>rn«, aber wenn wir<br />
von solchen re<strong>de</strong>n, die »in Gemeinschaft« sind, zur Unterscheidung von solchen, die<br />
»nicht in Gemeinschaft« sind, dann be<strong>de</strong>utet das natürlich genau dasselbe. Die ganze<br />
Trennungslinie zwischen Personen bzw. Versammlungen, die »mit uns« o<strong>de</strong>r nicht »mit<br />
uns in (praktischer) Gemeinschaft« o<strong>de</strong>r »<strong>de</strong>s Weges« sind, ist in diesem Sinne sektiererisch.<br />
Und je schärfer diese Trennlinie gezogen wird – »die erste Gruppe mag je<strong>de</strong>rzeit<br />
mit uns brotbrechen, die zweite (nahezu) niemals« – <strong>de</strong>sto sektiererischer ist man.<br />
Unsere amerikanischen Brü<strong>de</strong>r haben das gut gelöst, in<strong>de</strong>m sie ihrem Adreßbuch <strong>de</strong>n<br />
Titel gaben: »Liste einiger Versammlungen in Nord-Amerika«, d. h., sie überlassen die<br />
Frage, ob es wohl noch an<strong>de</strong>re Versammlungen gibt, die auf biblischem Bo<strong>de</strong>n stehen,<br />
<strong>de</strong>m Herrn und <strong>de</strong>m geistlichen Urteil <strong>de</strong>s einzelnen Gläubigen. Kein einziger Bru<strong>de</strong>r und<br />
keine einzelne Versammlung hat das Recht zu sagen: »Nur die Versammlungen, die im<br />
Adreßbuch stehen, stehen auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Wahrheit.« Nicht nur haben sie dazu kein<br />
Recht, son<strong>de</strong>rn wir wissen darüber hinaus auch mit Sicherheit, daß dies schlicht unwahr<br />
ist.<br />
In unserer Zeit tritt das merkwürdige Phänomen auf, daß diejenigen, die heute die<br />
Grundsätze vertreten, die beispielsweise Darby und Kelly früher vertreten haben, »offen«<br />
genannt wer<strong>de</strong>n! Das war in <strong>de</strong>ren Zeit schon nicht an<strong>de</strong>rs. Alle Brü<strong>de</strong>r, die danach trachteten,<br />
das biblische Gleichgewicht zu wahren, bekamen von <strong>de</strong>n Sektierern zu hören, daß<br />
sie »offen« seien. In einem <strong>de</strong>r zitierten Briefe schreibt Darby, daß man ihm übelnahm,<br />
daß seinem Urteil nach jemand ruhig das Brot mit an<strong>de</strong>ren Christen brechen kann, vorausgesetzt<br />
es geschieht auf schriftgemäßer Grundlage und in <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Geistes. Und<br />
im zitierten Brief von Kelly (1882) schreibt dieser, daß er auch selbst <strong>de</strong>n Vorwurf, »offen«<br />
zu sein, zu hören bekommen hätte (dies war nach <strong>de</strong>r Trennung von Park Street).<br />
Nach<strong>de</strong>m er geschrieben hatte, daß die Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>s tatsächlichen »offenen Standpunktes«<br />
Gleichgültigkeit (Neutralität) gegenüber fundamentaler Irrlehre (und <strong>de</strong>shalb gegenüber<br />
Christus) ist, fährt Kelly in seinem Brief fort: »Wenn man unseren und ihren Standpunkt<br />
Bethesdaismus [d. i. <strong>de</strong>r [12] gera<strong>de</strong> erwähnte ›offene Standpunkt‹] nennt, so beruht das<br />
also auf einem Mangel an Kenntnis und Gerechtigkeit, an Wahrheit und an Liebe.«<br />
Darby und Kelly schrieben häufig beson<strong>de</strong>rs heftig über die »offenen Brü<strong>de</strong>r«, aber<br />
das ist auch dadurch erklärbar, daß sie die Trennung von <strong>de</strong>n »offenen Brü<strong>de</strong>rn« selbst<br />
mitgemacht hatten und kurz nach <strong>de</strong>r Trennung schrieben, und daß die Generation, die<br />
die Trennung mitgemacht o<strong>de</strong>r verursacht hatte, größtenteils noch am Leben war. Aber<br />
wie erklärbar ihre Haltung auch sein mag, zuweilen überschreiten auch sie meiner beschei<strong>de</strong>nen<br />
Meinung nach die Grenzen <strong>de</strong>ssen, was sich geziemt. In unserer Zeit müssen<br />
wir noch viel vorsichtiger sein mit unserem Urteil über die, die als »offene Brü<strong>de</strong>r« bekannt<br />
sind. Es ist außeror<strong>de</strong>ntlich unfair und verletzend, vom Großteil <strong>de</strong>r »offenen Brü<strong>de</strong>r«<br />
zu behaupten, daß die Grundlage ihres Zusammenkommens »Gleichgültigkeit gegenüber<br />
Christus« sei (siehe Brief (a) unter Punkt 2.2.2). Das Gegenteil ist nämlich ein<strong>de</strong>utig<br />
<strong>de</strong>r Fall. Aber darum geht es hier nicht. Es geht mir darum, daß Darby und Kelly selbst,<br />
die so kräftig die »offenen Grundsätze« verurteilt haben, heute von vielen unter uns<br />
selbst »offen« genannt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n!<br />
An sich sind solche falschen Anschuldigungen wohl verständlich. Man beurteilt an<strong>de</strong>re<br />
ja immer von <strong>de</strong>m eigenen Standpunkt aus, <strong>de</strong>r natürlich »<strong>de</strong>r richtige« ist. Wie »exklusiv«<br />
man selber auch ist, man weiß einerseits immer auf an<strong>de</strong>re hinzuweisen, die noch<br />
exklusiver sind, wodurch man sich selbst rechtfertigt. Und an<strong>de</strong>rerseits bezeichnet man<br />
automatisch alle, die auf <strong>de</strong>r entgegengesetzten Seite stehen, als »offen«. So haben schon<br />
damals die »Exklusiven« (die später in <strong>de</strong>r Raven-Sekte lan<strong>de</strong>ten) Darby und Kelly »offen«<br />
genannt, und genau so machen es die »Exklusiven« heute wie<strong>de</strong>r. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 20<br />
weniger sektiererisch als sie selbst darstellt, ist »offen«. Man beschuldigt solche Brü<strong>de</strong>r<br />
auch öffentlich, »offene Grundsätze« zu vertreten, selbst wenn man weiß, daß das nicht<br />
(ganz) richtig ist. Für viele einfache Geschwister sind bekanntlich Bezeichnungen wie<br />
»offene Brü<strong>de</strong>r« und »offene Grundsätze« etwas ganz verwerfliches, obwohl sie gar nicht<br />
genau wissen, was darunter zu verstehen ist. Dadurch also, daß Brü<strong>de</strong>r, die an <strong>de</strong>n alten,<br />
schriftgemäßen Grundsätzen von Darby und Kelly festhalten, »offen« genannt wer<strong>de</strong>n,<br />
wer<strong>de</strong>n sie völlig zu Unrecht abgewertet. Im Gegensatz dazu können nunmehr sektiererische<br />
Grundsätze als die »alte Lehre <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r« ausgegeben wer<strong>de</strong>n.<br />
In Wirklichkeit gibt es Brü<strong>de</strong>r, die an <strong>de</strong>n alten, schriftgemäßen Grundsätzen festhalten<br />
möchten, und alles an<strong>de</strong>re als »offen« sein wollen. Ich persönlich lehne je<strong>de</strong> Anschuldigung<br />
»offener Grundsätze« entschie<strong>de</strong>n ab. Unter »offenen Grundsätzen« ist geschichtlich<br />
ein<strong>de</strong>utig das folgen<strong>de</strong> zu verstehen (ohne daß das hier ausführlich belegt wer<strong>de</strong>n<br />
kann; siehe Fußnote 1):<br />
(a) Ein offener Grundsatz: Teilnahme am Tisch <strong>de</strong>s Herrn liegt in rein persönlicher<br />
Verantwortung, o<strong>de</strong>r höchstens <strong>de</strong>r Verantwortung <strong>de</strong>r »Ältesten« o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n<br />
Brü<strong>de</strong>r.<br />
Ein schriftgemäßer Grundsatz: Teilnahme am Tisch <strong>de</strong>s Herrn liegt in <strong>de</strong>r gemeinsamen<br />
Verantwortung <strong>de</strong>r ganzen örtlichen Versammlung.<br />
(b) Ein offener Grundsatz: Für die Zulassung zum Tisch <strong>de</strong>s Herrn gilt nur die For<strong>de</strong>rung,<br />
daß <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Gläubige persönlich rein von bösem Wan<strong>de</strong>l und von fundamentaler<br />
Irrlehre ist.<br />
Ein schriftgemäßer Grundsatz: Ein Gläubiger muß, um zum Tisch <strong>de</strong>s Herrn zugelassen<br />
wer<strong>de</strong>n zu können, nicht nur persönlich rein von bösem Wan<strong>de</strong>l und von fundamentaler<br />
Irrlehre sein, son<strong>de</strong>rn darf auch nicht Gemeinschaft mit bösen Personen und bösen<br />
Handlungsweisen üben.<br />
(c) Ein offener Grundsatz: Die örtliche Versammlung ist autonom, d. h. sie faßt ihre<br />
Beschlüsse völlig unabhängig von an<strong>de</strong>ren Versammlungen und ist nicht unbedingt an die<br />
Beschlüsse an<strong>de</strong>rer Versammlungen gebun<strong>de</strong>n.<br />
Ein schriftgemäßer Grundsatz: Die örtliche Versammlung ist nicht autonom, d. h. sie<br />
rechnet bei ihren Beschlüssen mit <strong>de</strong>m Rat und <strong>de</strong>n Einsprüchen von Geschwistern aus<br />
an<strong>de</strong>ren Versammlungen und ist auch selbst prinzipiell an die Beschlüsse an<strong>de</strong>rer Versammlungen<br />
gebun<strong>de</strong>n.<br />
Ich hoffe, daß ich hiermit ganz klar <strong>de</strong>n schriftgemäßen Standpunkt von <strong>de</strong>m »offenen«<br />
Standpunkt abgegrenzt habe. Das be<strong>de</strong>utet, daß je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r mich und an<strong>de</strong>re Brü<strong>de</strong>r,<br />
die diesen schriftgemäßen Standpunkt aufrechterhalten wollen, »offen« nennt, entwe<strong>de</strong>r<br />
unwissend ist o<strong>de</strong>r sich bewußt <strong>de</strong>r Verleumdung und <strong>de</strong>n [sic] üblen Nachre<strong>de</strong> schuldig<br />
macht. Ich sage hier genau so wie Bru<strong>de</strong>r Kelly: Wenn man unseren Standpunkt »offen«<br />
nennt, ist das unsachgemäß, ungerecht, wahrheitswidrig und lieblos.<br />
Um dies noch klarer zu machen, sollen aus <strong>de</strong>n zitierten Briefen von Darby und Kelly<br />
im folgen<strong>de</strong>n zehn »Grundsätze« abgeleitet wer<strong>de</strong>n.<br />
2.3.2 Grundsätze <strong>de</strong>s Zusammenkommens<br />
(1) Keine I<strong>de</strong>en aufdrängen. Eine Sekte ist u. a. eine Gruppe von Christen, die – wenn<br />
auch ihr Bekenntnis noch so schön klingen mag – sich faktisch vereint haben auf <strong>de</strong>r<br />
Grundlage einer Anzahl von Lehrauffassungen, mit <strong>de</strong>nen man einig sein muß, z. B. beson<strong>de</strong>re<br />
Gedanken über böse »Verbindungen« (wobei die Kette <strong>de</strong>r »Verunreinigungen«<br />
manchmal bis ins Absur<strong>de</strong> hin durchgeführt wird) o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gedanke eines circle of fellowship.<br />
Wer <strong>de</strong>rartige Lehrmeinungen zu einem Test für Gemeinschaft macht, ist sektiererisch.
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 21<br />
[13] (2) Keine faktische Mitgliedschaft einführen. Eine Sekte ist u. a. eine Gruppe von<br />
Christen, die faktisch eine Art Mitgliedschaft führen, und zwar dadurch, daß sie einen<br />
fundamentalen Unterschied machen zwischen solchen, die »in praktischer Gemeinschaft«<br />
am Tisch <strong>de</strong>s Herrn sind und an<strong>de</strong>ren, die es nicht sind. Die Schrift kennt nicht die Gemeinschaft<br />
einer bestimmten Gruppierung o<strong>de</strong>r eines »örtlichen Zeugnisses«, son<strong>de</strong>rn<br />
ausschließlich die Gemeinschaft <strong>de</strong>r Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Leibes Christi. Das be<strong>de</strong>utet nicht, daß<br />
man in <strong>de</strong>r Praxis keinen Unterschied machen dürfte zwischen <strong>de</strong>nen, die »zugelassen«<br />
sind und an<strong>de</strong>ren, die es nicht (d.h. nicht »bei uns«) sind, o<strong>de</strong>r zwischen Versammlungen,<br />
die »anerkannt«, und an<strong>de</strong>ren, die es nicht sind. Das läßt sich gar nicht vermei<strong>de</strong>n. Aber<br />
man sollte daraus nicht <strong>de</strong>n Schluß ziehen, daß solche noch nicht anerkannten Versammlungen<br />
o<strong>de</strong>r solche (noch) nicht zugelassenen (jedoch woan<strong>de</strong>rs zugelassenen) Gläubigen<br />
<strong>de</strong>shalb auch nicht auf <strong>de</strong>m »Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Wahrheit« stehen, und/o<strong>de</strong>r nicht am Mahl <strong>de</strong>s<br />
Herrn teilnehmen dürfen. Je<strong>de</strong>s Glied <strong>de</strong>s Leibes Christi, das in Gemeinschaft mit Gott<br />
wan<strong>de</strong>lt, hat ein Recht darauf, zur Gemeinschaft <strong>de</strong>s Brotbrechens zugelassen zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Wer <strong>de</strong>n Unterschied zwischen »anerkannt sein« und »nicht anerkannt sein« o<strong>de</strong>r zwischen<br />
»zugelassen sein« und »nicht zugelassen sein« als ein Mittel benutzt, wahren Glie<strong>de</strong>rn<br />
<strong>de</strong>s Leibes das Abendmahl zu verwehren, ist im reinsten Sinne sektiererisch. Das<br />
Abendmahl ist dann nicht mehr <strong>de</strong>r Ausdruck <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s ganzen Leibes Christi, son<strong>de</strong>rn<br />
nur noch das Abendmahl einer bestimmten Glaubensgemeinschaft.<br />
(3) Sektenmitglie<strong>de</strong>r abweisen ist sektiererisch. Wenn wir Personen aus allerlei Sekten<br />
<strong>de</strong>shalb abweisen, weil sie zu Sekten gehören, wür<strong>de</strong>n wir es ihnen gera<strong>de</strong> gleich tun und<br />
uns sektiererisch verhalten. Wir lassen z. B. Personen aus <strong>de</strong>r Sekte <strong>de</strong>r Baptisten zu,<br />
nicht weil sie Baptisten sind, son<strong>de</strong>rn weil sie Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Leibes Christi sind (vorausgesetzt,<br />
daß sie nicht mit fundamental Bösem verbun<strong>de</strong>n sind). Wir könnten sie ggf. auf<br />
diesen Punkt hinweisen, wir könnten sogar mit ihnen über das Übel <strong>de</strong>r <strong>Sektiererei</strong>, an<br />
<strong>de</strong>m sie lei<strong>de</strong>n, re<strong>de</strong>n – aber wenn wir sie aus diesem Grund abwiesen, wür<strong>de</strong>n wir uns<br />
selbst sektiererisch verhalten.<br />
(4) Zulassung von solchen, »die sich zurückgezogen haben«. Sogar Personen, die von<br />
einer bestimmten Versammlung wegen bestimmter Gewissensübungen weggegangen sind,<br />
können – solange klar ist, daß von Bosheit und Verursachen von Spaltung nicht die Re<strong>de</strong><br />
ist – an an<strong>de</strong>ren Orten nach einer gründlichen Untersuchung (einschließlich einer Absprache<br />
mit <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Versammlung) mit ruhigem Herzen am Tisch <strong>de</strong>s Herrn<br />
aufgenommen wer<strong>de</strong>n. Was m.E. sehr zu ta<strong>de</strong>ln ist, – ich erinnere hier an <strong>de</strong>n Punkt 1.2.2<br />
(Angst) – ist <strong>de</strong>r Druck, <strong>de</strong>r gelegentlich auf solche ausgeübt wird, die sich aus Gewissensgrün<strong>de</strong>n<br />
vorübergehend vom Brotbrechen zurückziehen, insofern sie entwe<strong>de</strong>r wie Ausgeschlossene<br />
behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n (und sich <strong>de</strong>shalb »neu mel<strong>de</strong>n« müssen) o<strong>de</strong>n [sic] min<strong>de</strong>stens<br />
zu einem öffentlichen »Bekenntnis« genötigt wer<strong>de</strong>n. Dem Gewissen muß Freiheit<br />
und auch Zeit zugestan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />
(5) Zucht gegen Sektierer. Man muß gegenüber einem Sektierer alle Geduld beweisen<br />
(wiewohl die Schrift nicht von unendlicher Geduld, son<strong>de</strong>rn nur von einer ersten und<br />
einer zweiten Ermahnung spricht, und nicht mehr). Wenn er aber fortfährt, Spaltungen zu<br />
verursachen, ohne daß fundamental Böses vorliegt, muß er nach zwei Warnungen unter<br />
Zucht gestellt wer<strong>de</strong>n: die Schrift spricht von »abweisen« (Tit 3,10). Man sollte mit ihm<br />
also zumin<strong>de</strong>st keinen persönlichen Umgang haben. Man muß sich in Versammlungen von<br />
solchen Brü<strong>de</strong>rn distanzieren, selbst wenn man keine ausreichen<strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong> für einen<br />
Ausschluß hat. Dabei ist zu be<strong>de</strong>nken, daß nicht je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r eine abweichen<strong>de</strong> (nicht fundamentale)<br />
Lehrmeinung o<strong>de</strong>r Praxis verkündigt, sofort als Sektierer dargestellt wer<strong>de</strong>n<br />
darf, wie es manchmal geschehen ist.
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 22<br />
(6) Keine unbiblischen Bedingungen stellen. Wir haben kein Recht, irgend eine Person<br />
abzuweisen, die (a) nach genügend gesichertem Zeugnis wirklich ein Gläubiger ist, die (b)<br />
nicht in Sittenlosigkeit o<strong>de</strong>r (c) in fundamentaler Irrlehre wan<strong>de</strong>lt, und die (d) nicht wissentlich<br />
in Gemeinschaft mit solchen ist, die sittlich Böses und/o<strong>de</strong>r fundamentale Irrlehre<br />
in ihrer Mitte dul<strong>de</strong>n. Wir dürfen von solchen Personen nicht for<strong>de</strong>rn, daß sie mit unseren<br />
Ansichten über die Versammlung eins sind, so sehr wir auch davon überzeugt sein mögen,<br />
daß diese Ansichten schriftgemäß sind. Wir müssen sie also zulassen, selbst wenn sie erkennen<br />
lassen, daß sie z. B. das Anstellen von Predigern für biblischer halten als unsere<br />
Praxis bezüglich dieses Punktes. Ebensowenig dürfen wir von solchen Personen for<strong>de</strong>rn,<br />
daß sie zuerst mit <strong>de</strong>r Glaubensgemeinschaft, zu <strong>de</strong>r sie gehören, brechen. Wenn wir über<br />
die vier oben genannten Bedingungen hinaus noch weitere für die Zulassung stellen, dann<br />
sind wir sektiererisch. So dürfen wir z. B. <strong>de</strong>m Ausdruck »fundamental Böses« keine Be<strong>de</strong>utung<br />
geben, die über die Bibel hinausgeht, in<strong>de</strong>m wir »Böses« mit »Irrtum, Versehen«<br />
o<strong>de</strong>r gar mit »Meinungsunterschied« verwechseln. Böses ist ein Verwerfen von fundamentalen<br />
Wahrheiten wie <strong>de</strong>r Gottheit Christi, <strong>de</strong>r Sühnungskraft seines Werkes am Kreuz,<br />
<strong>de</strong>r Inspiration <strong>de</strong>r Bibel o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r grundlegen<strong>de</strong>n Heiligkeit, wie etwa das Eingehen von<br />
sexuellen Verbindungen außerhalb <strong>de</strong>r Ehe o<strong>de</strong>r das Verharren etwa in Verleumdung,<br />
übler Nachre<strong>de</strong>, Götzendienst, lie<strong>de</strong>rlichem Lebenswan<strong>de</strong>l, Betrug. Überdies muß dabei<br />
feststehen, daß die betreffen<strong>de</strong>n Personen bewußt mit solchen Formen <strong>de</strong>s Bösen in Verbindung<br />
sind und auch nicht bereit sind, von diesem Bösen abzustehen, nach<strong>de</strong>m sie klar<br />
und <strong>de</strong>utlich auf dieses Böse hingewiesen wor<strong>de</strong>n sind. Alle Formen <strong>de</strong>r Abson<strong>de</strong>rung, die<br />
weiter gehen als die Abson<strong>de</strong>rung [14] von fundamental Bösem, sind <strong>Sektiererei</strong>.<br />
(7) Zulassung von »offenen Brü<strong>de</strong>rn«. Dasselbe gilt im Blick auf die, die sich »offene<br />
Brü<strong>de</strong>r« nennen o<strong>de</strong>r das in unseren Augen sind. Wenn es um Brü<strong>de</strong>r geht, die Gleichgültigkeit<br />
gegenüber Christus gutheißen, dann dürfen wir diese bestimmt nicht aufnehmen.<br />
Wenn es aber um Brü<strong>de</strong>r geht, die <strong>de</strong>n unter Punkt (6) genannten Bedingungen<br />
entsprechen und <strong>de</strong>shalb auch (ausdrücklich) Gleichgültigkeit gegenüber Christus verurteilen,<br />
und sie wünschen mit uns das Brot zu brechen (z. B. weil sie bei uns zu Besuch<br />
sind), dann dürfen wir sie nicht abweisen. Tun wir es doch, dann sind wir eine Sekte.<br />
(8) Gefahren eines Adressenverzeichnisses. Ein Adressenverzeichnis ist eine sehr<br />
bequeme Sache und muß nicht notwendigerweise verkehrt sein. Wenn aber eine <strong>de</strong>rartige<br />
Adressenliste <strong>de</strong>n Gedanken mit sich bringt, daß alle Versammlungen, die nicht darin<br />
stehen, als notwendigerweise nicht auf biblischer Grundlage zusammenkommend betrachtet<br />
wer<strong>de</strong>n, dann ist das verwerflich. Wir haben je<strong>de</strong> Versammlung, die in <strong>de</strong>m praktischen<br />
Anerkennen <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes Christi zusammenkommt, anzuerkennen. Die<br />
Tatsache, daß wir aufrichtig gläubige wie z. B. konsequent wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Baptisten zulassen,<br />
be<strong>de</strong>utet nicht, daß wir ihre sektiererische Grundlage gutheißen, geschweige <strong>de</strong>nn, daß<br />
wir dahin gehen wür<strong>de</strong>n, um Brot zu brechen.<br />
(9) An<strong>de</strong>rweitig Brotbrechen. Umgekehrt können wir – vorzugsweise in guter Harmonie<br />
mit <strong>de</strong>r eigenen örtlichen Versammlung – in je<strong>de</strong>r Glaubensgemeinschaft Brot brechen,<br />
die (a) die Einheit <strong>de</strong>s Leibes anerkennt, in<strong>de</strong>m sie alle wahren Gläubigen im Sinn<br />
von Punkt (6) zuläßt, (b) sich getrennt hält von sittlich Bösem und fundamentaler Irrlehre,<br />
(c) diese Sün<strong>de</strong>n auch verurteilt, wenn sie in ihrer Mitte auftreten. Während wir aber bei<br />
<strong>de</strong>r Zulassung aus an<strong>de</strong>ren Kreisen keine weiteren als diese For<strong>de</strong>rungen stellen dürfen,<br />
müssen wir jedoch, wenn wir selbst in einer an<strong>de</strong>ren Glaubensgemeinschaft Brot brechen<br />
– mit <strong>de</strong>r wir uns dann in diesem Moment eins machen! – dieses in Übereinstimmung mit<br />
unserem Gewissen tun können. Und darum füge ich für mich selbst, wenn es sich um<br />
an<strong>de</strong>rweitiges Brotbrechen han<strong>de</strong>lt, noch ein viertes Kriterium hinzu: (d) eine Glaubensgemeinschaft,<br />
die nicht unter <strong>de</strong>r Leitung eines angestellten Führers und nach einer zuvor
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 23<br />
bestimmten Liturgie zusammenkommt, son<strong>de</strong>rn unter <strong>de</strong>r freien Wirksamkeit <strong>de</strong>s Heiligen<br />
Geistes zu Anbetung, Gebet, Wortverkündigung und Bibelstudium.<br />
(10) Auseinan<strong>de</strong>rbrechen einer Versammlung ist kein Test für Gemeinschaft. Unter<br />
keinen Umstän<strong>de</strong>n darf das Auseinan<strong>de</strong>rbrechen einer Versammlung – es sei <strong>de</strong>nn, daß es<br />
um die Fundamente <strong>de</strong>r christlichen Lehre o<strong>de</strong>r Praxis geht – zu einem Test für die Gemeinschaft<br />
wer<strong>de</strong>n, d. h. an<strong>de</strong>re Versammlungen dürfen nicht gezwungen wer<strong>de</strong>n, bei<br />
einem <strong>de</strong>rartigen Bruch die Seite <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Versammlung zu wählen.<br />
Ein <strong>de</strong>rartiges Auseinan<strong>de</strong>rbrechen ist tief zu bedauern. Wenn es aber keinen biblischen<br />
Grund für <strong>de</strong>n Bruch gab – wie es bei fundamentaler Irrlehre <strong>de</strong>r Fall wäre – haben wir<br />
diesen Bruch hinzunehmen. Wir dürfen dann aber auf keinen Fall eine Wahl für die eine<br />
o<strong>de</strong>r die an<strong>de</strong>re Versammlung treffen, son<strong>de</strong>rn müssen aufrichtige Gläubige bei<strong>de</strong>r Seiten<br />
zulassen.<br />
2.4 <strong>Sektiererei</strong> in <strong>de</strong>r heutigen Situation: die Praxis<br />
Natürlich gibt es heute unter uns viele Brü<strong>de</strong>r, die die oben genannten Dinge sehr gut<br />
kennen. Sie versichern sogar, daß sie mit <strong>de</strong>n erwähnten Grundsätzen »im Großen und<br />
Ganzen« von Herzen übereinstimmen! Denn sie wollen natürlich nicht <strong>de</strong>n Makel auf sich<br />
la<strong>de</strong>n, daß sie mit unseren »alten Brü<strong>de</strong>rn« nicht übereinstimmen. Dennoch weicht ihre<br />
gängige Praxis vielfach von <strong>de</strong>n schriftgemäßen Grundsätzen ab, die Darby und Kelly und<br />
viele an<strong>de</strong>re Brü<strong>de</strong>r vertreten haben. Dafür wer<strong>de</strong>n u. a. drei Arten von Begründungen<br />
gegeben, die wir nachfolgend besprechen wollen.<br />
2.4.1 Zu viele Barrieren<br />
Wie gesagt, bezeugt man, daß man von Herzen mit unseren alten Brü<strong>de</strong>rn übereinstimmt,<br />
ja, man betont ausdrücklich die von ihnen vertretenen Grundsätze bei Besprechungen und<br />
richtet mit Nachdruck die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r darauf, <strong>de</strong>nn man ist sich sehr wohl<br />
bewußt, daß man zu einer Sekte wür<strong>de</strong>, wenn man die erwähnten Grundsätze nicht mehr<br />
verträte. Aber daraufhin stellt man so viele zusätzliche, schwer zu erfüllen<strong>de</strong>n Bedingungen<br />
auf, daß es faktisch nahezu unmöglich ist, die erwähnten Grundsätze in die Praxis<br />
umzusetzen. Das läßt sich leicht nachweisen; man braucht nur bei <strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rn, die soviel<br />
Nachdruck auf die erwähnten Grundsätze legen, nachzufragen, wieviel Personen »aus<br />
an<strong>de</strong>ren Kreisen« in <strong>de</strong>n vergangenen Monaten <strong>de</strong>nn in »ihrer« Versammlung am Brotbrechen<br />
teilgenommen hätten! Die Antwort ist fast immer »keine«. Mit Genugtuung weist<br />
man vielleicht auf <strong>de</strong>n Fall hin, daß es in einer bestimmten Versammlung vor ungefähr<br />
zwanzig Jahren einmal vorgekommen sei, daß jemand »von außen« zugelassen wur<strong>de</strong>!<br />
Kurz: die erwähnten Grundsätze sind offensichtlich schöne Theorie gewor<strong>de</strong>n, die in<br />
<strong>de</strong>r Praxis überhaupt keine Kraft mehr hat. Tritt einmal <strong>de</strong>r Fall ein, daß jemand »von<br />
außen« teilnehmen möchte, weiß man fast immer genug Grün<strong>de</strong> anzuführen, um <strong>de</strong>n<br />
Besucher abzuweisen. Prüfen wir [15] uns selbst gewissenhaft, so wer<strong>de</strong>n wir wahrscheinlich<br />
feststellen müssen, daß <strong>de</strong>r wichtigste Grund gewöhnlich Furcht ist: »Was wer<strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>re Brü<strong>de</strong>r davon halten, wenn ich X zum Brotbrechen empfehle?« »Was wer<strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>re Versammlungen o<strong>de</strong>r die führen<strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>r <strong>de</strong>nn dazu sagen, wenn wir hier am<br />
Ort <strong>de</strong>n X (gera<strong>de</strong> ihn!) am Brotbrechen teilnehmen lassen?« Also darum lieber nicht!<br />
Be<strong>de</strong>nken wir dabei aber gut, daß wir ein gottesfürchtig wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>s Glied am Leib Christi<br />
draußen stehen lassen, um »Unruhe« zu vermei<strong>de</strong>n. Was wird unser Herr dazu sagen …?
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 24<br />
2.4.2 »Heute nicht mehr anwendbar«<br />
Noch viel trauriger ist die zweite Metho<strong>de</strong>, um sich <strong>de</strong>n schriftgemäßen Grundsätzen, wie<br />
sie die alten Brü<strong>de</strong>r vertreten haben, zu entziehen. Es wird nämlich sehr oft behauptet,<br />
daß wir heute diese Grundsätze so nicht mehr anwen<strong>de</strong>n können, »weil <strong>de</strong>r Zustand in<br />
<strong>de</strong>r Christenheit soviel schlimmer gewor<strong>de</strong>n ist«. Das ist ein übles Argument. Es wird<br />
unzählige Male angeführt, ohne daß jemand sich die Mühe macht, es zu begrün<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />
zu sagen, warum es unter <strong>de</strong>n schlimmsten Umstän<strong>de</strong>n nicht mehr möglich sein sollte,<br />
schriftgemäße Grundsätze zu praktizieren. Wir dürfen nicht heiliger sein wollen als Gott.<br />
Das tun wir aber, wenn wir unsere eigenen extremen Maßstäbe aufstellen, weil angeblich<br />
die <strong>de</strong>r Schrift bzw. die unserer alten Brü<strong>de</strong>r heute nicht mehr anwendbar seien. Galten<br />
ihre Grundsätze dann etwa wohl vom ersten bis zum 19., aber nicht mehr im 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt?<br />
Eine solche Haltung müssen wir entschie<strong>de</strong>n ablehnen. Natürlich übersehen Brü<strong>de</strong>r,<br />
die so <strong>de</strong>nken, nicht die Konsequenzen ihres Gedankengangs. Unsere alten Brü<strong>de</strong>r haben<br />
schriftgemäße Grundsätze vertreten, die heute noch genauso gelten wie seinerzeit. Auch<br />
sie wußten genauso gut wie wir heute, daß es schwierig ist, sie in die Praxis umzusetzen<br />
und daß dabei große Sorgfalt nötig ist. Aber sie taten es dann auch, und so wur<strong>de</strong>n Gläubige<br />
»von außen« sehr regelmäßig in ihrer Mitte zugelassen. Aber heute machen wir aus<br />
diesem »schwierig« in <strong>de</strong>r Praxis ein »unmöglich« – von sehr seltenen Ausnahmen einmal<br />
abgesehen. Unsere große Sorge (o<strong>de</strong>r ist es einfach Lässigkeit und Trägkeit [sic]?) ist so<br />
gigantisch groß gewor<strong>de</strong>n, daß kein Gläubiger mehr durch die Maschen unseres Netzes<br />
hereinschlüpfen kann. Darby und Kelly hätten dieser Praxis wohl einen be<strong>de</strong>utsamen<br />
biblischen Namen gegeben: <strong>Sektiererei</strong>.<br />
Wir müssen beson<strong>de</strong>rs achtgeben, daß wir nicht in das Fahrwasser tausen<strong>de</strong>r von<br />
Christen geraten, die wohl Ehrfurcht vor <strong>de</strong>m Wort hatten, aber einfach meinen, daß<br />
bestimmte Grundsätze zur Zeit nicht mehr anwendbar wären. Wenn man gläubigen Kirchenchristen<br />
z.B. die Ordnung <strong>de</strong>s Zusammenkommens als Versammlung vorhält, wie sie<br />
in 1Kor 14 beschrieben wird, antworten sie: »Ja, das ist wohl schön und gut, aber das ist<br />
heute nicht mehr durchführbar.« O<strong>de</strong>r sie sagen: »Theoretisch wäre das schon möglich,<br />
aber es wür<strong>de</strong> zu großer Unordnung führen« – und <strong>de</strong>shalb macht man es auf seine eigene,<br />
menschliche Weise. Aber wir tun genau dasselbe, wenn wir sagen: »Ja, die Grundsätze<br />
für die Zulassung sind wohl schön und gut, aber in <strong>de</strong>r großen Verwirrung in <strong>de</strong>r Christenheit<br />
können wir das heute nicht mehr anwen<strong>de</strong>n – wir schlagen lieber <strong>de</strong>n sicheren<br />
Weg ein und lassen nur Gläubige aus Versammlungen zu, die mit uns in praktischer Gemeinschaft<br />
sind.« Wer so re<strong>de</strong>t, geht ebenso an <strong>de</strong>r göttlichen Ordnung vorbei wie die<br />
genannten Kirchenchristen. Man will es besser wissen als Gottes Wort. O<strong>de</strong>r man erkennt<br />
das Wort wohl an, aber hat nicht mehr <strong>de</strong>n Mut o<strong>de</strong>r die Kraft, danach zu han<strong>de</strong>ln. Das<br />
Ergebnis ist das gleiche: <strong>Sektiererei</strong>. Wie stehen wir vor Gott da?<br />
2.4.3 »Sie wollen nicht«<br />
Das dritte Argument, das wir hören, ist: »Wir haben unsere Grundsätze gar nicht verän<strong>de</strong>rt,<br />
aber <strong>de</strong>r Zustand in <strong>de</strong>r Christenheit ist so traurig gewor<strong>de</strong>n, daß Gläubige ›von<br />
außen‹ nicht mal mehr <strong>de</strong>n Wunsch aussprechen, bei uns teilnehmen zu dürfen.« Auch<br />
dieses Argument stimmt durchaus nicht. In vieler Hinsicht ist <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>r Christenheit<br />
natürlich in <strong>de</strong>r Tat viel schlimmer als im vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rt; aber in an<strong>de</strong>rer Hinsicht<br />
ist die Situation gera<strong>de</strong> viel besser, und zwar dadurch, daß tausen<strong>de</strong> von Christen die<br />
kirchlichen Systeme, in <strong>de</strong>nen Unsittlichkeit und Irrlehre blühen, verlassen. Im vorigen<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt hätten sich viele von ihnen <strong>de</strong>n »Brü<strong>de</strong>rn« angeschlossen; heute ist das lei<strong>de</strong>r<br />
nicht mehr <strong>de</strong>r Fall. Sektiererisch <strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Brü<strong>de</strong>r haben dafür eine einfache Erklärung:
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 25<br />
»Das kommt dadurch, daß die meisten so ungeistlich sind, daß sie schriftgemäße Grundsätze<br />
nicht mehr annehmen wollen.«<br />
Das ist in <strong>de</strong>r Regel nicht nur eine unwahre, son<strong>de</strong>rn auch eine beson<strong>de</strong>rs hochmütige<br />
Beurteilung. Natürlich gibt es auch Gläubige, die aus <strong>de</strong>r Kirche austreten, aber nicht<br />
wirklich an schriftgemäßen Grundsätzen interessiert sind. Es gibt jedoch wohl viele Christen,<br />
für die ein Austritt aus <strong>de</strong>r Kirche mit viel Kampf verbun<strong>de</strong>n gewesen ist, und<br />
schließlich hat dann die Liebe zum Herrn und zu Seinem Wort <strong>de</strong>n Ausschlag gegeben.<br />
Solche Gläubige wollen nun nichts lieber als die Grundsätze <strong>de</strong>r Schrift kennenlernen,<br />
auch was das Zusammenkommen als Gläubige betrifft. Warum kommen sie dann nicht<br />
von selbst auf »uns« zu? Die Antwort erscheint mir einfach: Wegen unseres unbiblischen<br />
»exklusiven« Rufs. Einige Beispiele sollen dies ver<strong>de</strong>utlichen:<br />
* Allgemein wird von Außenstehen<strong>de</strong>n angenommen, daß man bei <strong>de</strong>n »Exklusiven«<br />
nicht teilnehmen kann, außer wenn man einen Empfehlungsbrief einer anerkannten Versammlung<br />
bei [16] sich hat; und es zeigt sich in <strong>de</strong>r Praxis, daß diese Annahme auch<br />
stimmt. Daß die »Exklusiven« theoretisch auch Gläubige »von außen« zulassen, ist bei<br />
keinem bekannt, und das ist auch kein Wun<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nn es geschieht praktisch höchst selten,<br />
und zwar unter äußerst strengen Bedingungen. Wenn Gläubige sich ausnahmsweise einmal<br />
mel<strong>de</strong>n und am Brotbrechen teilnehmen wollen, weist man auf allerlei Dinge in <strong>de</strong>n<br />
Glaubensgemeinschaften hin, mit <strong>de</strong>nen man nicht einverstan<strong>de</strong>n ist. Dabei geht es meistens<br />
nicht um fundamental Böses, son<strong>de</strong>rn um Irrtümer – die oft völlig erklärlich sind,<br />
weil solche Glaubenskreise jung und unreif sind – und Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Auffassung<br />
und <strong>de</strong>r Schriftauslegung. Trotz<strong>de</strong>m verlangt man von solchen Gläubigen, daß sie erst mit<br />
solchen Kreisen brechen und sich »uns« anschließen!<br />
* Die Erfahrung hat gelehrt, daß, wenn eine Gruppe von Gläubigen versucht, als<br />
Versammlung anerkannt zu wer<strong>de</strong>n, das in <strong>de</strong>r Praxis nahezu unmöglich ist. Sie muß<br />
zunächst folgen<strong>de</strong>n schriftgemäßen Kennzeichen entsprechen: (a) Zusammenkommen auf<br />
<strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>s einen Leibes, (b) sich getrennt halten von Unsittlichkeit und fundamentaler<br />
Irrlehre, (c) diese Sün<strong>de</strong>n auch richten, wenn sie in <strong>de</strong>r eigenen Mitte auftauchen,<br />
und (d) nicht zusammenkommen unter <strong>de</strong>r Leitung angestellter Führer und gemäß einer<br />
vorher bestimmten Liturgie, son<strong>de</strong>rn unter <strong>de</strong>r freien Wirkung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes. Aber<br />
darüber hinaus muß man oft auch eine Reihe nicht schriftgemäßer For<strong>de</strong>rungen erfüllen:<br />
(e) man muß aufhören, das Brot mit Gläubigen zu brechen, die, wie schriftgemäß sie auch<br />
sein mögen, nicht mit <strong>de</strong>n »Exklusiven« in Gemeinschaft sind, (f) man darf erst mit Brotbrechen<br />
beginnen, wenn man die Zustimmung umliegen<strong>de</strong>r Versammlungen o<strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>r<br />
Brü<strong>de</strong>r erhalten hat, (g) man muß von Herzen die beson<strong>de</strong>ren Belehrungen <strong>de</strong>r Gruppe<br />
übernehmen – sonst steht man nicht »auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r ganzen Wahrheit« – und (h)<br />
am liebsten auch das beson<strong>de</strong>re Selbstverständnis <strong>de</strong>r Gruppe übernehmen (dieselben<br />
Gewohnheiten, <strong>de</strong>nselben Sprachgebrauch, dieselben Vorstellungen über Kleidung und<br />
Haartracht, dieselben Ansichten, z. B. über das Fernsehen, dasselbe Schrifttum – am liebsten<br />
nur die Schriften <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>r« – dasselbe Lie<strong>de</strong>rbuch, usw.). Und selbst wenn man<br />
allen diesen Kennzeichen entspricht, wird manchmal verlangt, daß man zuerst einmal<br />
individuell in Gemeinschaft kommen muß bei <strong>de</strong>r nächstliegen<strong>de</strong>n Versammlung, auch<br />
wenn diese weit entfernt liegt. Vielleicht wird erst nach Jahren untersucht, ob diese Gruppe<br />
reif ist, sich eigenständig zu versammeln.<br />
Was wer<strong>de</strong>n »Außenstehen<strong>de</strong>« unter diesen Bedingungen von <strong>de</strong>n »Exklusiven« <strong>de</strong>nken?<br />
Sie wer<strong>de</strong>n sie wahrscheinlich als Sekte ablehnen. Und lei<strong>de</strong>r haben sie damit recht.<br />
Darby und Kelly haben nämlich <strong>de</strong>n »Brü<strong>de</strong>rn« in vielen Briefen und Artikeln vorgehalten,<br />
daß sie schon wegen viel geringerer Sün<strong>de</strong>n als sektiererisch bezeichnet wer<strong>de</strong>n<br />
müßten!
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 26<br />
2.5 Noch drei Zeugnisse<br />
2.5.1 Ein Brief von Dönges<br />
Wie töricht das Argument ist, wir könnten heute bestimmte schriftgemäße Grundsätze<br />
praktisch nicht (o<strong>de</strong>r kaum) mehr anwen<strong>de</strong>n, ergibt sich aus <strong>de</strong>r Tatsache, daß die »Brü<strong>de</strong>r«<br />
auch in unserem Jahrhun<strong>de</strong>rt bis zum »Verbot« 1937 dieselben Grundsätze vertreten<br />
haben. Ich zitiere hier aus einem Brief von Bru<strong>de</strong>r Emil Dönges aus Darmstadt 15 ,<br />
<strong>de</strong>r auch <strong>de</strong>shalb von Interesse ist, weil Bru<strong>de</strong>r Dönges hier nicht nur über die Zulassung<br />
»nicht abgeson<strong>de</strong>rter« Christen, son<strong>de</strong>rn auch über die gemeinsame Arbeit mit ihnen<br />
schreibt:<br />
»Dann fragst Du, was die ›erfor<strong>de</strong>rlichen Voraussetzungen‹ seien, um mit Christen, die<br />
noch nicht ›abgeson<strong>de</strong>rt‹ [sind,] zusammen beten und arbeiten etc. zu können. Da <strong>de</strong>nke<br />
ich z.B. an Zurückgezogenheit <strong>de</strong>r Frauen vom öffentlichen Dienst, an Freisein von wirklich<br />
bösen Lehren wi<strong>de</strong>r die Person und das Werk <strong>de</strong>s HErrn und an<strong>de</strong>res mehr, wie<br />
Schwärmerei. Wohl ist es einfacher (d. h. leichter) für sich zu bleiben und zu arbeiten,<br />
aber ob es <strong>de</strong>m HErrn gefällt, nie die Einheit in manchen Punkten zu betätigen o<strong>de</strong>r die<br />
Hän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Schoß zu legen und zu kritisieren, das ist eine an<strong>de</strong>re und sehr ernste Frage.<br />
Die Schwierigkeiten, die kommen können, müssen bei Einfalt, die <strong>de</strong>n HErrn über alle<br />
eigene Ehre stellt, sich alle erledigen lassen. Unser l[ieber] Br. v. Viebahn hat nicht so sehr<br />
durch die gemeinsame Arbeit, als durch Aufstellen neuer Gesichtspunkte über die Abson<strong>de</strong>rung,<br />
die er nicht mehr for<strong>de</strong>rt,* bzw. seine grundsätzliche Anerkennung <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen<br />
Schranken und durch s[eine] Toleranz hinsichtlich böser Lehren <strong>de</strong>n Grund zu<br />
Schwierigkeiten gegeben. Ich wür<strong>de</strong> mir von niemand ein Gewissen machen lassen, wenn<br />
ich mit nicht abgeson<strong>de</strong>rten Christen zusammen betete, das Wort lese und auch arbeite,<br />
vorausgesetzt es geschieht in biblischen Richtlinien.«<br />
»* In einzelnen Fällen ist m.E. selbst bei <strong>de</strong>r Zulassung zum Tisch <strong>de</strong>s HErrn <strong>de</strong>r nicht<br />
Abgeson<strong>de</strong>rte nicht zurückzuweisen; vgl. <strong>de</strong>n Brief von J. N. D., <strong>de</strong>n ich Dir s[einer[ [sic]<br />
Zeit darüber sandte.«<br />
2.5.2 Der Baseler Brief<br />
Im Jahre 1921 schrieb eine Anzahl führen<strong>de</strong>r europäischer Brü<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n bekannten »Baseler<br />
[17] Empfehlungsbrief«, in <strong>de</strong>m sie ihre Meinung über das Zulassen von Gläubigen<br />
»von außen« wie<strong>de</strong>rgaben. Ich zitiere:<br />
»Han<strong>de</strong>lt es sich um Gläubige aus <strong>de</strong>n Systemen, die sich aus Unwissenheit dort befin<strong>de</strong>n<br />
und in aller Einfalt wünschen, an einem Sonntag am Tische <strong>de</strong>s Herrn das Brot zu<br />
brechen, so meinen die Brü<strong>de</strong>r übereinstimmend, daß man solche zulassen sollte, vorausgesetzt,<br />
daß sie durch zwei o<strong>de</strong>r drei Brü<strong>de</strong>r, die sie kennen und von ihrer Frömmigkeit<br />
Zeugnis geben können, empfohlen wer<strong>de</strong>n können. Ihren Mangel an Erkenntnis sollten<br />
wir in Langmut tragen, er ist kein Grund für die Versammlung, sie zurückzuweisen,<br />
aber in<strong>de</strong>m sie am Brotbrechen teilnehmen, nehmen sie ihren Platz in <strong>de</strong>r Versammlung<br />
ein, wo wir sie zu unterweisen haben, und sollten sie abwechselnd in <strong>de</strong>n Systemen und<br />
unter uns am Abendmahl teilnehmen, so ist es unsere Pflicht, sie über <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch,<br />
<strong>de</strong>r in ihrem Verhalten liegt, aufzuklären.«<br />
»Was die Brü<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Versammlungen betrifft, von <strong>de</strong>nen wir getrennt sind, ohne<br />
daß diese Versammlungen gegenwärtig böse Lehren haben, o<strong>de</strong>r sie im Anfang, gelegent-<br />
15 Unveröffentlichter Brief an Jakob Voorhoeve, Dillenburg, vom 8.12.1905 (Kopie in meinem Besitz).
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 27<br />
lich <strong>de</strong>r Trennung, hatten, so sollten, nach <strong>de</strong>r Meinung <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r, die Versammlungen<br />
die Freiheit haben, solche von ihnen zuzulassen, die zwei o<strong>de</strong>r drei Brü<strong>de</strong>rn als gottesfürchtig<br />
und vertrauenswürdig bekannt sind. Jedoch wird es gut sein, mit viel Besonnenheit<br />
und Weisheit zu han<strong>de</strong>ln, angesichts <strong>de</strong>r Anstrengungen <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s, uns zu trennen<br />
und das Zeugnis <strong>de</strong>s Herrn zu zerstören.«<br />
Danach folgt noch eine Ermahnung bezüglich <strong>de</strong>r Systeme, und zwar, daß jemand<br />
natürlich nicht für sich die Freiheit beanspruchen kann, einmal hier, einmal da Brot zu<br />
brechen; dagegen muß ein »ernster Einspruch« erhoben wer<strong>de</strong>n. »Sollten sie sich diesem<br />
Einspruch dauernd verschließen, so wür<strong>de</strong>n wir vor die Frage gestellt wer<strong>de</strong>n, ob wir<br />
länger mit ihnen in Gemeinschaft bleiben können.« Man beachte die große Vorsicht, mit<br />
<strong>de</strong>r hier gesprochen wird: »Einspruch erheben« – »sich die Frage stellen, ob«. Für »exklusive«<br />
Brü<strong>de</strong>r sind diese Dinge längst keine Frage mehr. Sie wollen Sicherheit und ziehen<br />
die Zulassung von solchen Gläubigen lieber gar nicht erst in Erwägung.<br />
2.5.3 Ein Brief von Rossier<br />
Ein an<strong>de</strong>res Schreiben aus <strong>de</strong>m 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt, das für unser Thema von Interesse ist,<br />
stammt von <strong>de</strong>m allseits bekannten und wegen seines Dienstes geschätzten Schweizer<br />
Bru<strong>de</strong>r Henri Rossier. In einem sehr wichtigen Brief von 1923 16 schreibt er unter an<strong>de</strong>rem<br />
folgen<strong>de</strong>s:<br />
»Sehen sie [sic], wie die Dinge normalerweise unter <strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rn verlaufen: (…) [normalerweise<br />
verlangen wir einen Empfehlungsbrief] Aber es kommt auch vor, daß ein<br />
Christ, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m Ort auf <strong>de</strong>r Durchreise ist und ohne zu <strong>de</strong>r Versammlung zu gehören,<br />
einem von ihnen als Christ bekannt ist, darum bittet, seinen Platz einnehmen zu dürfen<br />
am Tisch <strong>de</strong>s Herrn. In diesem Fall wird <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r, an <strong>de</strong>n er sich gewandt hat, <strong>de</strong>r ihn<br />
kennt und <strong>de</strong>r zugleich das Vertrauen <strong>de</strong>r Versammlung hat, es auf sich nehmen, ihn vorzuschlagen<br />
in seiner eigenen Verantwortung, mit <strong>de</strong>m Risiko, die Kritik <strong>de</strong>r Versammlung<br />
auf sich zu ziehen, wenn er sich geirrt hat. Nie ist davon die Re<strong>de</strong>, daß man in einem<br />
solchen Fall <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r darum bittet, seinen Platz am Tisch <strong>de</strong>s Herrn einzunehmen, irgend<br />
eine Bedingung auferlegt, außer daß er ein Kind Gottes und kein Zuchtfall ist. Nie wird<br />
von ihm verlangt, daß er sich von <strong>de</strong>r Sekte, zu <strong>de</strong>r er gehört, abwen<strong>de</strong>t, um zugelassen<br />
zu wer<strong>de</strong>n, außer wenn die Sekte, von <strong>de</strong>nen es heutzutage so viele gibt, durch ihre Lehren<br />
in offenem Wi<strong>de</strong>rspruch steht mit <strong>de</strong>r Lehre <strong>de</strong>s Christus und mit <strong>de</strong>m Wort Gottes.«<br />
»Da ich viel in (…) gereist bin, weiß ich, daß es hier und da, wie Sie sagen, eine Versammlung<br />
gibt, bei <strong>de</strong>r gewisse Praktiken mehr o<strong>de</strong>r weniger eng o<strong>de</strong>r sektiererisch sind,<br />
aber ich habe immer gefun<strong>de</strong>n, daß sie sich unterweisen lassen durch Brü<strong>de</strong>r, die fähig<br />
sind, ihnen die Wahrheit darzulegen, was die Beson<strong>de</strong>rheiten angeht, über die ich soeben<br />
gesprochen habe.«<br />
16 Messager Évangélique, Jahrgang 1923, S. 305–309.
[18]<br />
3 Schlußfolgerungen<br />
3.1 Zusammenfassung<br />
Eines <strong>de</strong>r merkwürdigsten Dinge, <strong>de</strong>nen man begegnen kann, ist, daß einige Brü<strong>de</strong>r anscheinend<br />
meinen, allein die Tatsache, daß wir aufrichtig bekennen, auf <strong>de</strong>r Grundlage<br />
<strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes Christi zusammenzukommen, sei schon völlig ausreichend. Wenn<br />
man sie fragt, was das <strong>de</strong>nn beinhaltet, o<strong>de</strong>r woran man <strong>de</strong>nn sehen kann, daß wir in <strong>de</strong>r<br />
Tat auf dieser Grundlage zusammenkommen – so daß wir o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re prüfen können, ob<br />
unser Bekenntnis tatsächlich mit <strong>de</strong>r Schrift übereinstimmt – dann kommt keine vernünftige<br />
Antwort. Viele wissen es einfach nicht. Wenn man fragt: Wie kann man die Grundlage<br />
<strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes verlassen? – dann antworten sie vielleicht: In<strong>de</strong>m man die Brü<strong>de</strong>r<br />
verläßt. Diese sektiererische Antwort be<strong>de</strong>utet eigentlich, daß für solche Brü<strong>de</strong>r die Einheit<br />
<strong>de</strong>s Leibes längst unbemerkt ersetzt wor<strong>de</strong>n ist durch die Einheit <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>r«. Sich<br />
auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes zu versammeln ist für sie dasselbe wie sich <strong>de</strong>n<br />
»Brü<strong>de</strong>rn« anzuschließen. Es ist für sie dann auch un<strong>de</strong>nkbar, daß es außerhalb <strong>de</strong>s engen<br />
Kreises <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>r« noch an<strong>de</strong>re geben kann, die auf <strong>de</strong>r gleichen Grundlage zusammenkommen.<br />
Die unnachgiebigsten dieser »Exklusiven« behaupten mit Bestimmtheit,<br />
daß es außerhalb unseres Kreises keine Versammlungen gibt, in <strong>de</strong>nen man am Tisch <strong>de</strong>s<br />
Herrn zusammenkommt und wo <strong>de</strong>r Herr in <strong>de</strong>r Mitte ist. So weit ist es schon mit uns<br />
gekommen! Und das sind nicht immer »einfache« Brü<strong>de</strong>r irgendwo im Hintergrund, die<br />
so re<strong>de</strong>n.<br />
Die Frage, ob wir eine Sekte sind o<strong>de</strong>r nicht, hängt nicht davon ab, was wir selbst<br />
diesbezüglich »bekennen«, son<strong>de</strong>rn (a) von <strong>de</strong>r Frage, was nach <strong>de</strong>r Schrift eine Sekte ist<br />
und (b) von <strong>de</strong>r Frage, inwieweit wir offensichtlich <strong>de</strong>n schriftgemäßen Kennzeichen einer<br />
Sekte entsprechen. Wie schon gesagt, ist eine Sekte (in christlichem Sinn) eine Partei innerhalb<br />
<strong>de</strong>r Christenheit, die sich aufgrund von Kriterien, die weiter gehen als fundamental<br />
Böses, von an<strong>de</strong>ren Christen abgeson<strong>de</strong>rt hat. Wie Bru<strong>de</strong>r J. N. Darby es ausgedrückt<br />
hat: »Abson<strong>de</strong>rung vom Bösen ist Gottes Grundsatz <strong>de</strong>r Einheit« 17 ; d. h. die Einheit <strong>de</strong>s<br />
Leibes Christi kann nur praktisch ausgedrückt wer<strong>de</strong>n, wenn wir einerseits Gemeinschaft<br />
mit allen wahren Kin<strong>de</strong>rn Gottes haben (auch am Tisch <strong>de</strong>s Herrn) und uns an<strong>de</strong>rerseits<br />
von fundamental Bösem, auch wenn es bei Menschen vorkommt, die bekennen, Gläubige<br />
zu sein, getrennt halten.<br />
Alle Formen von Abson<strong>de</strong>rung, die weiter gehen als Abson<strong>de</strong>rung von fundamental<br />
Bösem, sind <strong>Sektiererei</strong>. Und diese <strong>Sektiererei</strong> kommt lei<strong>de</strong>r vielfältig unter uns vor:<br />
(a) Manche Brü<strong>de</strong>r trennen sich von (sog.) fundamental Bösem, ohne daß klar gewor<strong>de</strong>n<br />
ist, daß <strong>de</strong>r/die Betreffen<strong>de</strong>/n sich weigert/n, sich von diesem Bösen zu reinigen. Um<br />
eine an<strong>de</strong>re Aussage Darbys frei zu zitieren: es geht nicht darum, ob bei einer bestimmten<br />
Person o<strong>de</strong>r Gemeinschaft Sün<strong>de</strong> vorkommt, son<strong>de</strong>rn ob die betreffen<strong>de</strong> Person o<strong>de</strong>r<br />
Gemeinschaft sich weigert, die Sün<strong>de</strong> zu richten, auch nach<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>utlich ins Licht gestellt<br />
wor<strong>de</strong>n ist.<br />
(b) Manche Brü<strong>de</strong>r sprechen von »fundamental Bösem«, wo es etwa in Wirklichkeit<br />
nur um Schwachheit o<strong>de</strong>r Irrtum von z. B. jungen und unreifen Gläubigen geht. Wir <strong>de</strong>nken<br />
z.B. an (an sich bestimmt nicht unwichtige) Fragen wie die Entrückung <strong>de</strong>r Versamm-<br />
17 Separation From Evil, God’s Principle of Unity, in: The Collected Writings of J. N. Darby, Vol. 1, S.<br />
353–365 (Reprint 1971 Edition, Believers Bookshelf).
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 29<br />
lung vor o<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r großen Drangsal, Tausendjähriges Reich ja o<strong>de</strong>r nein, freier Wille<br />
gegen Auserwählung, <strong>de</strong>n Unterschied zwischen Israel und <strong>de</strong>r Versammlung, <strong>de</strong>n Dienst<br />
<strong>de</strong>r Schwestern, das Anstellen von Predigern, usw. Hätte man Geduld mit solchen Personen<br />
(und das dann vielleicht nicht nur wochenlang, son<strong>de</strong>rn monate- o<strong>de</strong>r sogar jahrelang),<br />
dann wür<strong>de</strong>n sich zumeist solche Irrtümer durch anhalten<strong>de</strong>, liebevolle Unterweisung<br />
von selbst auflösen.<br />
(c) Noch viel ernster ist es, daß manche Brü<strong>de</strong>r etwas »fundamental böse« nennen,<br />
was in Wirklichkeit nur unterschiedliche Auffassungen betrifft. Wir <strong>de</strong>nken z. B. an (an<br />
sich bestimmt nicht unwichtige) Fragen wie Gläubigentaufe o<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rtaufe, formell<br />
angestellte o<strong>de</strong>r informell anerkannte Älteste (»führen<strong>de</strong> Brü<strong>de</strong>r«), ob man Musikinstrumente<br />
benutzen darf, die Frage, wo und wann Schwestern sich <strong>de</strong>n Kopf be<strong>de</strong>cken müssen<br />
und wo und wann sie laut beten dürfen, usw. In allen diesen Punkten haben manche<br />
von uns nicht nur an<strong>de</strong>re Auffassungen als bestimmte Gläubige außerhalb unseres Kreises,<br />
son<strong>de</strong>rn auch untereinan<strong>de</strong>r haben wir diesbezüglich fast von Anfang an unterschiedliche<br />
Auffassungen gehabt. Wir müssen darin einan<strong>de</strong>r ertragen. Kein Bru<strong>de</strong>r hat das Recht,<br />
dabei seine eigene Schriftauslegung an<strong>de</strong>ren Brü<strong>de</strong>rn aufzudrängen. Doch kommt diese<br />
Form <strong>de</strong>r Überheblichkeit lei<strong>de</strong>r manchmal vor! Wo solche unterschiedlichen Auffassungen<br />
überdies als Normen für »Abson<strong>de</strong>rung« gehandhabt wer<strong>de</strong>n, sind Geschwister ohne<br />
weiteres in die Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>Sektiererei</strong> gefallen.<br />
(d) »Böses« ist auch nicht Verunreinigung, die durch eine lange Kette von »Verunreinigungen«<br />
[19] übertragen wer<strong>de</strong>n soll, wobei <strong>de</strong>r letzte in <strong>de</strong>r Kette nicht einmal mehr<br />
weiß, um welche Unreinheit es am Beginn <strong>de</strong>r Kette ging. Böses ist Verunreinigung, bei<br />
<strong>de</strong>r man persönlich nachweislich Irrlehre angenommen hat o<strong>de</strong>r persönlich in moralisch<br />
Bösem lebt, o<strong>de</strong>r Verunreinigung durch bewußten Kontakt mit solchen lehrmäßig o<strong>de</strong>r<br />
moralisch Bösen, in Gleichgültigkeit gegenüber <strong>de</strong>m Bösen, das ihnen anhaftet und im<br />
bewußten Unwillen, mit solcher Bosheit o<strong>de</strong>r solchen Bösen zu brechen. »Unreine Verbindung«<br />
ist nicht eine Art theoretischer Verunreinigung (oft »begrün<strong>de</strong>t« mit einer ganz<br />
unberechtigten Anwendung gewisser Gebote aus <strong>de</strong>m mosaischen Gesetz), son<strong>de</strong>rn eine<br />
Verbindung, die die Gemeinschaft mit Gott unterbricht. Die Schrift kennt gewiß nicht so<br />
etwas wie eine theoretische Verunreinigung, bei <strong>de</strong>r ich mir selbst überhaupt keines persönlichen<br />
Kontakts mit Bösem bewußt bin. Die Schrift sagt: »Böser Verkehr verdirbt gute<br />
Sitten« (1Kor 15,33). Das ist Verunreinigung durch »falsche Verbindung«. Wenn es an<strong>de</strong>rs<br />
wäre, wären alle Versammlungen längst total verunreinigt, dadurch, daß wir nämlich<br />
in verschie<strong>de</strong>nen Län<strong>de</strong>rn mit Versammlungen in praktischer Gemeinschaft sind, die viel<br />
»offener« sind als manche Versammlungen <strong>de</strong>r »offenen Brü<strong>de</strong>r«. Sicher kann es unter<br />
Umstän<strong>de</strong>n so etwas wie »unbewußte« Verunreinigung geben, aber bei einer geistlichen<br />
Gesinnung wird <strong>de</strong>r Herr diese bald auf<strong>de</strong>cken, so daß sie aufgehoben wer<strong>de</strong>n kann<br />
(vergl. Jos 7). Dies hat mit <strong>de</strong>r genannten theoretischen Verunreinigung nichts zu tun.<br />
3.2 Umkehr<br />
Ich habe nun ausführlich über die Diagnose <strong>de</strong>r <strong>Sektiererei</strong> gesprochen. Was die mögliche<br />
Therapie angeht, möchte ich gerne folgen<strong>de</strong> Punkte vorstellen:<br />
(1) Die Geschwister, die <strong>de</strong>n schriftgemäßen Standpunkt <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes Christi<br />
einnehmen wollen, müssen in erster Linie lernen, zum Herrn zu rufen und Schuld zu bekennen,<br />
weil wir alle mitverantwortlich sind für unsere <strong>Sektiererei</strong>, und wir müssen bei<br />
Ihm um Rettung flehen. Wie herrlich wäre es, wenn Gläubige auch untereinan<strong>de</strong>r zusam-
WILLEM J. OUWENEEL: SEKTIEREREI 30<br />
menkämen, um in dieser Not einträchtig zum Herrn zu rufen. Er wird sicher zu seiner Zeit<br />
und auf seine Weise antworten!<br />
(2) Die Geschwister, die <strong>de</strong>n schriftgemäßen Standpunkt einnehmen wollen, dürfen<br />
um <strong>de</strong>s Gewissens und um <strong>de</strong>r Ehre <strong>de</strong>s Herrn willen sich auch nicht länger still verhalten.<br />
Es geht nicht an, zum Herrn zu rufen, aber unseren Geschwistern gegenüber ängstlich zu<br />
schweigen. Sie müssen würdig, ehrlich und entschlossen wie<strong>de</strong>r für die Grundsätze <strong>de</strong>r<br />
Schrift eintreten und sich nicht einschüchtern lassen durch autoritäre Brü<strong>de</strong>r, die ihnen<br />
<strong>de</strong>n Mund verbieten wollen o<strong>de</strong>r sie gar mit Zuchtmaßnahmen bedrohen.<br />
(3) Sie dürfen sich keinerlei <strong>Sektiererei</strong> auferlegen lassen, son<strong>de</strong>rn müssen wie<strong>de</strong>r neu<br />
<strong>de</strong>n Blick für <strong>de</strong>n ganzen Leib Christi bekommen, froh und freimütig Gemeinschaft üben<br />
mit allen wahren Christen, die <strong>de</strong>n Herrn aus reinem Herzen anrufen, sich freuen über<br />
je<strong>de</strong>s Werk Gottes, das in unseren Tagen überall in <strong>de</strong>r bibeltreuen Christenheit geschieht<br />
und dabei von Herzen mit gleichgesinnten Christen mitarbeiten, insoweit es natürlich<br />
ein<strong>de</strong>utig <strong>de</strong>r Herr ist, <strong>de</strong>r ihnen bestimmte Projekte <strong>de</strong>r Zusammenarbeit auf die Schultern<br />
legt. Sie dürfen nicht länger abseits stehen vom Werk Gottes in unseren Tagen!<br />
(4) Sie müssen nachdrücklich (aber würdig und geistlich) Einspruch einlegen in Fällen,<br />
in <strong>de</strong>nen wahre Gläubige, die nicht mit fundamental Bösem behaftet sind, nicht zum<br />
Abendmahl zugelassen wer<strong>de</strong>n. Es geht hier um <strong>de</strong>n schriftgemäßen Grundsatz unseres<br />
Zusammenkommens! Was <strong>de</strong>n betrifft, dürfen sie keinen Kompromiß dul<strong>de</strong>n.<br />
(5) Sie müssen auch nachdrücklich (aber würdig und geistlich) Einspruch einlegen in<br />
Fällen von falschen Ausschlüssen, die durch sektiererische und gesetzliche Brü<strong>de</strong>r durchgedrückt<br />
wor<strong>de</strong>n sind. Es darf einfach nicht mehr gedul<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, daß solcher Sauerteig<br />
unbemerkt weiterwirken kann. Im Namen und in <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>s Herrn sollen sie mit Mut<br />
und Entschlossenheit dagegen Stellung beziehen.<br />
(6) Sie müssen vor allem <strong>de</strong>n Blick haben für die Schwachen, Enttäuschten und Jüngeren<br />
unter uns, die schwer unter <strong>de</strong>r erwähnten <strong>Sektiererei</strong>, <strong>de</strong>r Starrheit und Engherzigkeit<br />
zu lei<strong>de</strong>n haben. Sie dürfen sie keinesfalls auf fleischliche Weise aufstacheln, son<strong>de</strong>rn<br />
sie auf geistliche Weise mit <strong>de</strong>m Wort ermutigen im Herrn.<br />
»Wache auf, <strong>de</strong>r du schläfst, und stehe auf aus <strong>de</strong>n Toten, und <strong>de</strong>r Christus wird dir leuchten!«<br />
(Eph 5,14). Es sieht so aus, als müsse neu <strong>de</strong>r Ruf erschallen: »Siehe, <strong>de</strong>r Bräutigam!<br />
gehet aus, ihm entgegen!« (Mt 25,6), <strong>de</strong>nn wir sind wie<strong>de</strong>r eingeschlafen und ruhen aus<br />
auf <strong>de</strong>m weichen Moos unserer sektiererischen Selbstzufrie<strong>de</strong>nkeit [sic]. Vielleicht schenkt<br />
<strong>de</strong>r Herr uns noch Umkehr und Erleuchtung, damit wir wirklich zurückkehren dürfen zur<br />
Grundlage seines Wortes (nicht mehr zuge<strong>de</strong>ckt durch viele vollkommen erstarrte Auslegungen)<br />
und zur Grundlage <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s ganzen Leibes Christi. Zur Ehre Seines Namens!
[21]<br />
Schlußbemerkung<br />
Wir haben uns entschie<strong>de</strong>n, in dieser zweiten Auflage die letzten drei Seiten <strong>de</strong>r ersten<br />
Auflage wegzulassen. Diese Seiten bezogen sich auf gewisse sachliche Umstän<strong>de</strong> an bestimmten<br />
Orten o<strong>de</strong>r auf Äußerungen bestimmter Brü<strong>de</strong>r. Verschie<strong>de</strong>ne uns vertraute<br />
Brü<strong>de</strong>r haben uns, obwohl sie sagten, <strong>de</strong>m Inhalt <strong>de</strong>s Heftes ganz o<strong>de</strong>r größtenteils zuzustimmen,<br />
freundlich darauf hingewiesen, daß sie die Veröffentlichung dieser letzten drei<br />
Seiten nicht für weise hielten. Das hat uns nach<strong>de</strong>nklich gemacht, und wir sind vor <strong>de</strong>m<br />
Herrn zu <strong>de</strong>r Einsicht gekommen, daß wir <strong>de</strong>n Inhalt dieser letzten drei Seiten nicht in<br />
dieser Form hätten veröffentlichen sollen. Das be<strong>de</strong>utet nicht, daß wir nicht mehr mit<br />
ihrem Inhalt einverstan<strong>de</strong>n sind, aber wohl, daß wir die darin geäußerten Gedanken so<br />
nicht in die Öffentlichkeit hätten bringen sollen. Zum Beispiel wäre es besser gewesen,<br />
zuerst mit <strong>de</strong>n betreffen<strong>de</strong>n Personen über die jeweiligen Punkte gesprochen o<strong>de</strong>r sie<br />
schriftlich abgeklärt zu haben. Wir sehen dies jetzt als verkehrt ein. Einem Bru<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r<br />
beson<strong>de</strong>rs betroffen war, haben wir diesbezüglich geschrieben, mit <strong>de</strong>r Bitte, uns zu verzeihen.<br />
De Bilt / Vaassen, April 1992<br />
<strong>Willem</strong> J. <strong>Ouweneel</strong><br />
Henk P. Me<strong>de</strong>ma