Carolinum - carocktikum.de
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Der 82-Jährige kommt mir auf halbem Weg entgegen und wir unternehmen einen<br />
weiten Spaziergang durch die Kastanienwäl<strong>de</strong>r und sommerlichen Wiesenhänge <strong>de</strong>r<br />
Collina d‘Oro. Er kennt die mir unbekannten Wege genau und macht auf manches,<br />
woran wir vorbeigehen, aufmerksam. Wir re<strong>de</strong>n und diskutieren, wie wenn wir das<br />
immer tun wür<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r unter uns üblich wäre. Der ‚romantische‘ Themenstrauß<br />
bietet besten Gesprächsstoff, aber auch über manch an<strong>de</strong>res, was einen 17-jährigen<br />
halt so beschäftigt, unterhalten wir uns - wie Gleichaltrige und nicht wie Großvater<br />
und Enkel. Das war mein prägen<strong>de</strong>r Eindruck: <strong>de</strong>n alten Mann interessiert, was ich<br />
<strong>de</strong>nke und von <strong>de</strong>r Welt und vom Leben halte, er fragt, will Genaueres wissen; ich<br />
fühle mich wie ein Erwachsener - ernst genommen.<br />
Am späteren Nachmittag en<strong>de</strong>t unsere Wan<strong>de</strong>rung bei <strong>de</strong>r ‚Casa Rossa‘, seinem<br />
Wohnhaus, wo wir bei<strong>de</strong> – inzwischen doch etwas hungrig - von Ninon erwartet und<br />
bewirtet wer<strong>de</strong>n. Nach <strong>de</strong>m ausge<strong>de</strong>hnten ‚Zvieri‘ (Vesper) begleitet mich mein<br />
‚Nonno‘ ein Stück Weges zurück, <strong>de</strong>n steilen Abstieg zum Seeufer mache ich allein.<br />
So habe ich einen wun<strong>de</strong>rbaren Nachmittag allein mit <strong>de</strong>m ‚Nonno‘ verbracht. Zwar<br />
erinnere ich mich heute nur an wenige Einzelheiten unserer Begegnung, sie bleibt<br />
auch so ein bleiben<strong>de</strong>s Erlebnis.<br />
Erfüllt vom Erlebten, treffe ich bei meinen Kamera<strong>de</strong>n ein. Noch am selben Abend<br />
äußert unser Professor, ich wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>mnächst <strong>de</strong>r Klasse die heutige Begegnung mit<br />
meinem Großvater vortragen. Ungläubig und vor <strong>de</strong>n Kopf gestoßen, hörte ich das<br />
mit an. Am nächsten Tag – es kostete einigen Mut – sprach ich meinen<br />
Deutschlehrer darauf an. Ich machte ihm <strong>de</strong>utlich, dass ich zwar gerne über alles<br />
mögliche dieser romantischen Woche re<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>, nicht aber die gestrige<br />
Begegnung, unsere persönlichen Gespräche und meine Familie zum Gegenstand<br />
eines Vortrags mache.<br />
Von da weg und bis zum En<strong>de</strong> meiner Schulzeit fielen meine Deutschnoten rapi<strong>de</strong><br />
und meine Aufsätze erhielten – manchmal auch nicht – eine gera<strong>de</strong> noch genügen<strong>de</strong><br />
Note. Die unerfüllten Erwartungen meines Professors zeigten mir zum ersten Mal im<br />
realen Leben, was <strong>de</strong>r Begriff ‚Projektion’ außerhalb <strong>de</strong>r darstellen<strong>de</strong>n Geometrie<br />
meint und zu bewirken vermag. Diese weniger angenehme Erfahrung hat sich mir<br />
ebenfalls eingeprägt, vermutlich aber auch <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruchsgeist geweckt,<br />
beson<strong>de</strong>rs, wenn ich mich ungerecht behan<strong>de</strong>lt fühle. Seit vielen Jahren hält <strong>de</strong>nn<br />
auch ein gut sichtbarer Zettel an <strong>de</strong>r Wand über meinem Computer folgen<strong>de</strong> Zeilen<br />
Hesses fest:<br />
„Gegen die Infamitäten <strong>de</strong>s Lebens sind die besten Waffen:<br />
Tapferkeit, Eigensinn und Geduld.<br />
Die Tapferkeit stärkt,<br />
<strong>de</strong>r Eigensinn macht Spaß<br />
und die Geduld gibt Ruhe.“<br />
Ähnliche Unannehmlichkeiten wegen meines Großvaters sind mir seither weitgehend<br />
erspart geblieben. Inzwischen – seit jenem Nachmittag – sind einiges über 40 Jahre<br />
vergangen; auch ich bin inzwischen Großvater gewor<strong>de</strong>n. Wenn meine Enkelin, die<br />
mich ebenfalls ‚Nonno‘ ruft, mich auch für einen gewöhnlichen Großvater hält, ist es<br />
mir recht; noch schöner, wenn sie sich später gerne an mich erinnern.<br />
Die stimmungsvolle Ausstellungseröffnung fin<strong>de</strong>t am nächsten Tag eine unerwartete<br />
Fortsetzung: Die Rückfahrt mit <strong>de</strong>r Bahn lässt die tags zuvor trübe Landschaft in