Denken und Glauben am Göbekli Tepe - SSOAR
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66 Der prä-operative Mensch<br />
solche Völker k<strong>am</strong>en mit dem prä-operativen Stadium in ihrem Leben zurecht, das<br />
Gehors<strong>am</strong> <strong>und</strong> nicht Individualität fördert. Dux sagt dazu, der kognitive Erwerbsprozeß<br />
stocke, wenn eine lebbare Form gef<strong>und</strong>en sei, „an der Schwelle [!] zur konkretoperationalen<br />
Kompetenz“. (2008: 323) Riesige Symbolfiguren zu bauen ist doch noch<br />
etwas anderes als bloß M<strong>am</strong>mutschädel <strong>und</strong> -knochen für eine Unterkunft aufeinander zu<br />
türmen, was in zehn Tagen möglich war, während es für die ersten bekannten Bauten des<br />
<strong>Göbekli</strong> <strong>Tepe</strong> zumindest Monate brauchte, wenn nicht Jahre. Symbole zu nutzen ist<br />
allerdings nichts besonderes für jene frühe Zeit, sie zeigen sich bereits in den<br />
steinzeitlichen Malereien <strong>und</strong> den Zeichen dort lange zuvor; beispielsweise die oft<br />
gef<strong>und</strong>enen Handformen, die durch das Aufblasen von Farbe erzeugt wurden, oder bei<br />
Bildern, in denen Tiere durch Speere getroffen zu sein scheinen, selten auch ein Mensch.<br />
Hallpike betont bei rezenten Urvölkern einen „kollektiven Symbolismus“ von einem<br />
Umfang <strong>und</strong> einer Bedeutung, der modernen Gesellschaften verloren ging, <strong>und</strong> der bei<br />
Kindern bereits vor der Sprache ausgebildet wird. (1990: 175) Um sich das besser<br />
vorstellen zu können, denken wir einmal – nun sind wir doch beim Vergleich mit Kindern<br />
– an Siebenjährige (die zugleich als lebenserfahrene, selbstsichere Erwachsene auf diesem<br />
Niveau verstanden werden müssen). Könnten die einen solchen Bau errichten, wenn sie<br />
die Kraft dazu hätten? Könnten sie ihn ersinnen <strong>und</strong> gegebenenfalls gegen eine andere<br />
Gruppe argumentativ oder mit Gottes Hilfe, also gewalts<strong>am</strong>, durchsetzen? Könnten sie ihn<br />
konkret planen <strong>und</strong> sprachlich vermitteln? Ja, schon jeder Kindergarten oder<br />
Bauspielplatz deutet das an, <strong>und</strong> bei Tomasello sehen wir, was (moderne) Kinder mit vier<br />
Jahren, vor allem dann aber mit dem Ende des prä-operativen Stadiums im Alter von<br />
sechs bis sieben Jahren gelernt haben können; es ist die Zeit der (reflektierten)<br />
Metakognition <strong>und</strong> der Selbststeuerung, die Zeit des modernen Schulbeginns, der (in<br />
Berlin) gerade erst vorgezogen wurde. (2006: 242) Initiationsriten bei Urvölkern machen<br />
Kinder offenbar meist etwas später zu Erwachsenen, eher ab zehn Jahren. Das Leben war<br />
noch nicht so schnell <strong>und</strong> nicht schon für Kleinkinder so intensiv wie heute, wo sie von<br />
Beginn an gezielt gefördert werden.<br />
Welche sozialen Beziehungen hatten die Menschen <strong>am</strong> <strong>Göbekli</strong> <strong>Tepe</strong>, was konnten <strong>und</strong><br />
wußten sie? Wie dachten sie über die Welt? Sind Forschungsergebnisse aus der (meist<br />
teilnehmenden) Beobachtung rezenter Urvölker aussagekräftig? Ob diese Gruppen, die<br />
zum großen Teil in der zweiten Hälfte des 19. <strong>und</strong> auch noch in der ersten Hälfte des 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts beschrieben wurden, so etwas wie eine direkte Fortsetzung jener ersten<br />
Urgemeinschaften vor der neolithischen Revolution, des Werdens der Dorfgemeinschaften<br />
sind? Nichts kann beweisen, daß solche rezenten Gruppen noch wie in der Steinzeit leben,<br />
selbst wenn es uns so vorkommt; die traditionale Logik belegt es nicht, die kommt noch<br />
heute in modernen Gesellschaften vor. Aber es bleibt nichts anderes übrig, als nach<br />
plausiblen Analogien zu sehen. Lévi-Strauss (1973) hebt – auch gegen Lévy-Bruhls<br />
Zuordnung eines prä-logischen <strong>Denken</strong>s gerichtet – eine Reihe von Forschungen über das<br />
Vermögen des „wilden <strong>Denken</strong>s“ traditionaler Völker hervor, die über das für sie<br />
Wichtige erhebliche <strong>und</strong> systematisierte Kenntnisse hätten. Mehrere h<strong>und</strong>ert N<strong>am</strong>en von<br />
Pflanzen <strong>und</strong> Tieren seien oft als Gr<strong>und</strong>wissen gef<strong>und</strong>en worden. Solche<br />
Klassifizierungen lassen sich jedoch – füge ich ein – wesentlich mit Hilfe eines guten<br />
Gedächtnisses formulieren, ohne operatives <strong>Denken</strong> im Sinne Piagets; solche<br />
Klassifizierungen sind entscheidendes Ordnungsprinzip prä-operativen <strong>Denken</strong>s. Das sei<br />
ein großes Wissen mit dem Nutzen für den Alltag oder sogar für die Zucht. „Der Mensch<br />
des Neolithikums oder der Urgeschichte ist also der Erbe einer langen<br />
wissenschaftlichen Tradition“, sagt Lévi-Strauss sogar. Dabei sieht er zwei verschiedene<br />
Arten dieses wissenschaftlichen <strong>Denken</strong>s, eine, die der sinnlichen Intuition näher,<br />
(„Bastler“) <strong>und</strong> eine – unsere –, die ihr ferner läge. („Wissenschaftler“; 1973: 27) Seine<br />
Folgerung ist auch: „Wir beginnen erst langs<strong>am</strong> zu ahnen, daß frühere Beobachtungen,<br />
die man ebenso seltenen wie scharfsichtigen Forschern wie Cushing verdankt, keine<br />
außergewöhnlichen Fälle aufdecken, sondern daß sie auf Formen des Wissens <strong>und</strong> der<br />
Reflektion hinweisen, die in den sogenannten primitiven Gesellschaften außerordentlich<br />
verbreitet sind. Aufgr<strong>und</strong> dieser Tatsache muß sich das traditionelle Bild, das wir uns<br />
von dieser Primitivität gemacht haben, ändern. Niemals <strong>und</strong> nirgends war der ‚Wilde‘<br />
wohl jenes Lebewesen, das, kaum dem tierischen Zustand entwachsen, noch der<br />
Herrschaft seiner Bedürfnisse <strong>und</strong> Instinkte ausgeliefert ist, wie man es sich allzuoft<br />
vorgestellt hat“. Doch wenige Zeilen später benennt Lévi-Strauss dieses Wissen als dem<br />
im alten Griechenland <strong>und</strong> Mittelalter entsprechend. (55f) Er nähert sich Lévy-Bruhl