Denken und Glauben am Göbekli Tepe - SSOAR
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post@LarsHennings.de 57<br />
wird, an Aristoteles‘ erste Versuche einer empirischen Physik. Schriftlose Urvölker fallen<br />
durch ihr gutes Gedächtnis <strong>und</strong> die Nutzung umfangreicher Klassifikationen bei Pflanzen<br />
<strong>und</strong> Tieren auf, zeigt Lévi-Strauss für das „Wilde <strong>Denken</strong>“ rezenter Urvölker. (1994;<br />
Lévy-Bruhl, 1910: 146) Mit Klassifizierungen sahen wir oben bei der Besprechung der<br />
Stadien Piagets den Grenzbereich zum konkret-operativen <strong>Denken</strong> angedeutet. Auch für<br />
die komplexe Geistwelt <strong>und</strong> die Übermittlung der noch unschriftlich überlieferten Mythen<br />
war eine Ordnung nötig. Bildeten also jene Menschen <strong>am</strong> <strong>Göbekli</strong> <strong>Tepe</strong>, beziehungsweise<br />
deren Elite, bereits den kognitiven Stand, die Kompetenz Sumers aus, kurz vor (!) der<br />
Schriftentwicklung? Die dann den weiteren wesentlichen Umbruch ins konkret-operative<br />
Stadium brachte? Jenes Stadium vielleicht, das Dux das proto-konkret-operative nennt?<br />
Erzählten sie sich schon Mythen analog zu solchen von Gilg<strong>am</strong>esch da oben in ihrem<br />
Tempel <strong>und</strong> fragten sich, ob es nicht Alternativen geben könne zum durch die GöttInnen<br />
vorgegebenen Leben, wie der König von Uruk sie viel später für sich sucht?<br />
Bisher war anzunehmen: erst in der Neolithischen Revolution entstand mit dauerhaften<br />
Dorfstrukturen <strong>und</strong> Landbau eine deutlich erweiterte Kompetenz gegenüber schlichtem<br />
Wildbeutertum. Mit dem <strong>Göbekli</strong> <strong>Tepe</strong> selbst erkennen wir jedoch bereits dort<br />
hinsichtlich des <strong>Denken</strong>s <strong>und</strong> Handelns neue Qualifikationen, die erst dieses Bauwerk<br />
entstehen lassen konnten. Oder entstanden weitgehende Seßhaftigkeit <strong>und</strong> entsprechende<br />
geistige Kompetenz dort schon früher? Gab es eine erste Phase, in der die Konstruktion<br />
von Gebäuden allgemein bekannt war, wie es einzelne F<strong>und</strong>e von Hütten in der<br />
Großregion nahe legen? Der Tempel selbst ist doch ein Symbol für Seßhaftigkeit dieses<br />
St<strong>am</strong>mes oder St<strong>am</strong>mesb<strong>und</strong>es, demonstriert eine Art Besitzanspruch auf den (heiligen)<br />
Ort <strong>und</strong> die Umgebung, selbst wenn die einzelnen Gruppen bei Bedarf um ihn herum noch<br />
mobil waren. 1 Rezente Urvölker wechseln, wenn überhaupt, oft nur zwischen Sommer<strong>und</strong><br />
Winterlager, wenn sie nicht tatsächlich Herden folgen mußten. 2 Mußte nicht eine<br />
Überproduktion an Nahrungsmitteln bereits Praxis sein, um den Kultbau denkbar zu<br />
machen – aber bei konservativen WildbeuterInnen, wozu, warum? Gehört nicht eine<br />
gewisse Lagerhaltung zum Bau, wie sie möglicherweise in den Gebäuden von Nevalı Çori<br />
<strong>und</strong> Çayönü stattfand? Kaum zu glauben, daß sie erst nach dem Beschluß zum Tempelbau<br />
ausprobiert wurde. 3 Besitzanspruch <strong>und</strong> eine Lagerhaltung, die schon mit Planung zu tun<br />
hat, mußten geistig erst geschaffen werden, durch ein erweitertes <strong>Denken</strong> gegenüber<br />
einfacher Wildbeuterei. Nicht nur als Gebäude, sondern als Kultstätte mußte die Anlage<br />
kognitiv vorstellbar werden, als Entwicklung des Geistes, <strong>und</strong> das ist für<br />
neuerungsfeindliche Urvölker ganz untypisch. Welche sozialen Veränderungen mußten<br />
mit solchem <strong>Denken</strong> entstanden sein? Den Druck, sich von Lagerplätzen der<br />
herumziehenden Gruppen mit Hütten hin zu Dörfern mit Felderwirtschaft weiter zu<br />
entwickeln, konnte zum Beispiel eine stark wachsende Bevölkerung <strong>am</strong> Ende der Eiszeit<br />
erzeugen, was in „paradiesischen“ Verhältnissen leicht vorstellbar ist. War erstmal<br />
erkannt <strong>und</strong> erprobt, sich von Wildgetreide zu ernähren, es rechtzeitig zu ernten, bevor die<br />
flüchtigen reifen Körner zu Boden fielen, <strong>und</strong> sich eine gewisse Lagermöglichkeit zu<br />
schaffen, war ein erster wesentlicher Schritt getan. Lagerung von Korn (in mit Lehm<br />
ausgestrichenen Körben?) <strong>und</strong> ebenso getrocknetem Fleisch ist vorstellbar. Und eine<br />
gewisse Zeit, für einige Wochen erstmal, war es vielleicht in Hütten zu lagern, aufgehängt<br />
an den Dach-Hölzern. In solcher Situation wird wiederum das Aufziehen aufgef<strong>und</strong>ener<br />
Lämmer leicht vorstellbar, mit dem die Domestizierung der Tiere begann. Von vielen<br />
anderen Vorteilen in Richtung Zivilisation abgesehen, die nun in den Blick kommen. Aber<br />
Lager schaffen Begehrlichkeiten. K<strong>am</strong> in solcher Situation die generelle Notwendigkeit<br />
des bewaffneten Schutzes auf? Auch auf diesem Weg kann der permanente<br />
Waffengebrauch aus einer inneren sozialen Veränderung des Lebensprozesses entstehen –<br />
Bauernschaft gegen Wildbeutertum? Oder wurde rechtzeitig die aktive Kriegsvermeidung<br />
durch Bildung eines St<strong>am</strong>mes-B<strong>und</strong>es geschaffen? Dem würde eine andere Beziehung zu<br />
den Nachbarn folgen, wieder gestützt auf Waffen wahrscheinlich. So oder so ging eine<br />
1 Menschen sind generell seßhaft – wenn es möglich ist <strong>und</strong> nicht Feinde, Überbevölkerung oder<br />
Katastrophen sie vertreiben, was ein schweres Problem sein kann. Lévy-Bruhl zitiert eine Reihe von Fällen, in<br />
denen von der Identität der Menschen mit ihrem Land/ Boden die Rede ist, in dem die Ahnen verbleiben, zu<br />
denen diese Menschen eine Identität sahen, verspürten. (1959: 192ff)<br />
2 Der Einzugsbereich solcher prähistorischer Lager/ F<strong>und</strong>orte wird mit der in zwei St<strong>und</strong>en zu erreichenden<br />
Distanz (10 km im platten festen Gelände) angenommen. (in Schyle/ Uerpmann, 1996: 714)<br />
3 So vielleicht: „Wenn es uns gelänge, Brüder <strong>und</strong> Schwestern, genügend Korn einer Ernte zu lagern, d<strong>am</strong>it<br />
wir genügend Zeit ohne Nahrungssuche uns schaffen könnten, dann ließe sich darüber nachdenken, den<br />
GöttInnen ein besonders großes Geschenk zu machen; hat jemand eine Idee dazu? Was meinst Du? Einen<br />
Tempel aus Steinen, was soll das denn sein, ein Tempel?“