Denken und Glauben am Göbekli Tepe - SSOAR
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52 Person<br />
einem „Gottesurteil“, wie wir sagen, etwa einem Gifttrunk, um festzustellen, ob sie in der<br />
Ferne zaubernd tätig geworden ist. Aber – komme ich zur Definition des Animismus<br />
zurück – nicht ihre „Seele“ verläßt sie zu dieser „Zauberreise“, sondern das, was die<br />
Missionare als christliche Seele mißverstehen, ist in jenem Verständnis gleichermaßen<br />
hier wie dort <strong>und</strong> gleichzeitig anwesend. Das erinnert an die Schilderung Hübners über die<br />
mythische Vorstellung im alten Griechenland, die ganz ähnlich für Mesopot<strong>am</strong>ien oder<br />
Ägypten beschrieben wird. Diese Vorstellung einer alles durchdringenden Kraft mag<br />
helfen, die Beschreibung des doppelten Ichs nachvollziehbar zu machen <strong>und</strong> könnte sich<br />
bei Menschen aus einem Gefühl heraus entwickelt haben, nicht immer „ein- <strong>und</strong> dieselbe“<br />
zu sein, sich „mal so mal anders“ zu fühlen. Und das Erklären eines Traumes, in dem die<br />
Träumenden ja tatsächlich zugleich anderswo sein können, hat vielleicht eine Rolle<br />
gespielt – viele Jahrtausende zurück. (197)<br />
Das bekannteste Wort für solche Phänomene ist wahrscheinlich: Voodoo, wenn etwa<br />
eine kleine Nachbildung eines Feindes rituell zerstört wird, um diesen Feind zu schädigen.<br />
Doch nicht nur im karibischen Raum findet sich dieser Glaube beziehungsweise die<br />
selbstverständliche Annahme des Doppel-Ichs, sondern weltweit gibt es ganz ähnliche<br />
Vorstellungen bei rezenten Urvölkern. Das oben Gesagte erklärt die Funktionsweise. Es<br />
ist beim Erkennen der Welt vielleicht – versuche ich ein weiteres mal zu erläutern – ein<br />
bißchen wie ein unbestimmbarer immaterieller Nebel, der dem <strong>Denken</strong> dieser Völker nur<br />
einen verschwommenen Blick auf die Welt erlaubt – jedenfalls gegenüber unserem auf<br />
umfassende Begrifflichkeit geschulten differenzierten Blick. Und die Betrachtung der<br />
Welt klärt sich im Prozeß der Zivilisation nur langs<strong>am</strong>. Alles irgendwie mit einer Person<br />
(<strong>und</strong> anderen Erscheinungen) jeweils Zus<strong>am</strong>menhängende wird als Einheit/ Identität<br />
verstanden <strong>und</strong> nicht im Sinne schließender Logik analysiert. Ein Mensch ist nicht<br />
abgegrenzt von seinen schweißgetränkten Kleidern oder seiner von ihm angepflanzten<br />
Nahrung oder ähnlichem, sondern der Besitz eines Kleidungsstückes in fremder Hand<br />
erlaubt den Zugriff (des Zaubers) auf die lebende Person, die auch in diesem Sinn das<br />
Doppel-Ich ist, dieses Eine aus Körper <strong>und</strong> Geist (was die Tendenz traditionalen <strong>Denken</strong>s<br />
auch nur ungefähr angibt; wir verstehen es heute wohl nicht wirklich). Diese Verbindung<br />
zu einer umfassenden Einheit ist auszudehnen von der Person zu seiner F<strong>am</strong>ilie, zu seinem<br />
St<strong>am</strong>m. Schaden an einer Person nimmt nicht nur diese, sondern die soziale Einheit<br />
gleichermaßen. Personen sind in diesem Sinne austauschbar, wie bei Blutrache zu sehen,<br />
bei der es nicht auf den Mörder ankommt, sondern auf die gleiche Zahl an Toten in seiner<br />
Lebenseinheit; der einzelne Mensch zählt nicht, wie auch ein Neugeborenes erst nach<br />
einer gewissen Zeit als Mensch anerkannt wird, so richtig erst nach der Initiation, vor<br />
allem die der Männer. Individuation?<br />
Diese Einheit der F<strong>am</strong>ilie wird – mit Morgan – als „klassifikatorische F<strong>am</strong>ilie“<br />
bezeichnet, die Gruppe zählt, nicht das Individuum, das erst in der Moderne in der<br />
bürgerlichen F<strong>am</strong>ilie aufscheint, im Begriff der Liebe. Entsprechend sind in der Steinzeit<br />
auch „Hochzeiten“ Vereinbarungen zwischen Sippen, bei denen die Menschenzahl<br />
auszugleichen ist, indem vielleicht eine Doppelhochzeit vereinbart wird, bei der jede<br />
Partei eine Tochter oder einen Sohn hergibt <strong>und</strong> gleiches bekommt. Oft geschieht das<br />
schon bei oder sogar vor der Geburt als F<strong>am</strong>ilien-Vereinbahrung, wie die Geschichte sie<br />
noch bis in die Moderne hinein kennt. Deshalb kommt es bei der geschlechtlichen<br />
Vereinigung, wenn exog<strong>am</strong>e Heiraten vorgeschrieben sind, auch primär darauf an, ob die<br />
PartnerInnen dabei generell (!) miteinander verkehren dürfen oder dürften. Bei zum Teil<br />
rigiden Strafen gegen sexuelle Tabus kommt es dann nicht wirklich auf die körperliche<br />
Vereinigung an, kann wohl unterstellt werden, sondern es geht um die Regelverletzung<br />
gegen die mystische Ordnung (wie die Hysterie noch gegen die langen Haare männlicher<br />
68er: Ordnung)! Deshalb dürfte eine Frau generell mit allen Brüdern ihres Mannes Sex<br />
haben. Ein Verstoß in dieser Hinsicht mit einem Bruder des Mannes würde wenig, wenn<br />
überhaupt sanktioniert, <strong>und</strong> der Ehemann kann in manchen Völkern seinen Brüdern diese<br />
Gunst erlauben. Lévy-Bruhl hält die Frage, ob es jemals wirklich aus dieser generellen<br />
Möglichkeit heraus eine reale Gruppenehe gegeben habe (Morgan, mit ihm Engels), bei<br />
der alle Söhne der einen Mutter alle Töchter der anderen geheiratet haben, für nicht<br />
lösbar. 1 (1927: 70, 90) Turnbull berichtet von den Mbuti, dort würde ein Kind alle<br />
Erwachsenen der Altersgruppe seiner Eltern als Vater <strong>und</strong> Mutter ansprechen, die ältere<br />
Generation als Großvater <strong>und</strong> -mutter, sowie alle Gleichaltrigen als Bruder <strong>und</strong><br />
1 An dieser Frage scheiterte auch Engels bei der Bewertung Morgans, mit dem er von einer realen<br />
Gruppenehe ausgegangen war, die bestanden haben müsse; woher sollten sonst diese Bezeichnungen der<br />
Verwandtschaft gekommen sein, fragt er? Jetzt wissen wir es.