Denken und Glauben am Göbekli Tepe - SSOAR
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42 <strong>Denken</strong> <strong>und</strong> Nativismus<br />
nur mit dem was sie schon können, können sie weiteres lernen. Über Simulation setzten<br />
sich die Kinder dann immer mehr in die Lage anderer, reflektierten deren Situation <strong>und</strong><br />
gewännen dabei – besonders im Gespräch mit Gleichaltrigen! – (B2) auch moralische<br />
Urteile, wenn sie „den Schmerz der anderen fühlen“. (210f) Tomasello verweist auf die<br />
Bedeutung der gemeins<strong>am</strong>en Aufmerks<strong>am</strong>keit zwischen Kind <strong>und</strong> Bezugsperson <strong>und</strong> die<br />
Perspektivenübernahme durch das Kind als zentral für den fortgeschrittenen<br />
Spracherwerb im Alter ab etwa zwölf Monaten; kurz nach dem Beginn der intentionalen<br />
Phase also. Warum – fragt er – setzt der Spracherwerb nach ersten erworbenen<br />
Kenntnissen in besonderer Weise gerade mit dieser Fertigkeit zur gemeins<strong>am</strong>en<br />
Aufmerks<strong>am</strong>keit ein, wenn nämlich das Kind in der Lage ist 1. einen Gegenstand, 2. die<br />
Bezugsperson <strong>und</strong> 3. sich selbst (!) in der Interaktion zu erkennen? (131, 142ff) Sprache<br />
werde nach den dazu angestellten Experimenten in sozialen Situationen ganz pragmatisch<br />
erlernt. 1 Das gelte besonders für die nächste Stufe der kindlichen Entwicklung, die<br />
Tomasello mit einer (C) Simultantheorie beschreibt. (wobei er auf Harris verweist; 222)<br />
Simultan heißt hier: Kinder lernen, sich in eine fremde Perspektive einzudenken, sie<br />
simultan zu verstehen. Regeln mit Belohnung/ Bestrafung behinderten dieses Lernen eher<br />
(keine Dressur). (227f) Gerade bei komplexeren Formen sprachlicher Kognition zeige sich<br />
das pragmatische Lernen deutlich. 2 Als ein letztes Element wird auf die Jahre zwischen<br />
fünf <strong>und</strong> sieben verwiesen, wenn modern erzogene Kinder (D) Selbststeuerung <strong>und</strong><br />
Metakognition lernen. Sie verinnerlichen <strong>und</strong> variieren gegebenenfalls die Regeln<br />
Erwachsener <strong>und</strong> lernen, über ihr eigenes Nachdenken <strong>und</strong> über Problemlösungen zu<br />
sprechen, verfolgen den Eindruck, den sie auf andere machen <strong>und</strong> andersrum, verstehen<br />
verschachtelte Sätze (sie denkt, daß ich X denke), beginnen Fertigkeiten der<br />
Metaerinnerung zu zeigen, die ihnen ermöglichen, bei Gedächtnisaufgaben<br />
Planungsstrategien zu verwenden. Und sie fangen an zu lesen <strong>und</strong> zu schreiben, sofern<br />
ihnen dies gezeigt wird. (242) Mit anderen Worten, wir haben hier ungefähr <strong>und</strong><br />
individuell etwas differierend das kognitive Inventar des Endes des prä-operativen<br />
Stadiums (Piaget) vor uns. Dux ergänzt Piagets vier Stadien <strong>und</strong> spricht (mit: Bates) von<br />
Leuten im dörflichen Indien, mit denen er Tests über das Zeitverständnis machte, als im<br />
proto-konkret-operativen Stadium befindlich. (1989: 221; aber das war Ende des 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts, nicht in der Steinzeit) Das sind gute Gründe gegen nativistische Ansätze, die<br />
etwa die Entstehung genetischer Sprachmodule zur Erklärung komplexer Sprache gerade<br />
für diesen ontogenetischen Zeitraum anbieten.<br />
Ursprung des Animismus‘<br />
Wenn jeder Mensch aktiv lernend seine Umwelt erfassen <strong>und</strong> konstruieren muß, dann<br />
kann nicht „die Gesellschaft“ allein für das Bewußtsein, das Wissen <strong>und</strong> <strong>Denken</strong><br />
verantwortlich sein. Es ist für ein modernes Kind unmöglich, alle Vorgaben der Kultur<br />
seiner Gesellschaft genau aufzunehmen. Dann änderte sich – wie bei rezenten Urvölkern,<br />
die versuchen wie ihre Ahnen zu leben – auch nichts. Jedes moderne Individuum <strong>und</strong> jede<br />
Generation erarbeitet sich einen eigenen Blick auf seine Welt. Und nur bei bedeutendem<br />
Wandel, wenn das bisherige Weltbild nicht mehr greift, wird ein neuer Zugriff auf die<br />
Realität angestrebt. Im frühkindlichen Prozeß wird auch die Teilung in Geistes- <strong>und</strong><br />
Handarbeit vorgeprägt, wenn in der Ontogenese eigene Erfahrungen sich mit der äußeren<br />
Vorgabe der sorgenden Bezugsperson verbinden. Der engere Lebensbereich des Kindes<br />
entwickelt sich zum einen als seine eigene Praxis, <strong>und</strong> vom äußeren Bereich werden zum<br />
anderen größere Zus<strong>am</strong>menhänge, aber auch Zwänge <strong>und</strong> Autorität vermittelt. Das<br />
erinnert an mystische Gemeinschaften einer zwar rationalen individuellen Alltagspraxis<br />
mit aber göttlichem Überbau <strong>und</strong> sozialen Zwängen, etwa zur Ehrung der Alten <strong>und</strong><br />
Ahnen anstelle des Blicks auf die Zukunft. Doch wie entstand der Prozeß der geistigen<br />
Menschwerdung aus den Primaten, bei der auch der Animismus des prä-operativen<br />
Menschen in die Welt k<strong>am</strong>? Wollen wir erklären, was der Mensch ist <strong>und</strong> kann, müssen<br />
wir vom phylogenetischen Prozeß her aufzeigen, wie er wurde was er ist, beziehungsweise<br />
für unser Thema, was er um das Ende der Eiszeit herum <strong>und</strong> bis zum Entstehen des ersten<br />
Stadtstaates Sumer herum gewesen ist. Dort beginnt wohl eine Epoche weitergehender<br />
Kompetenz spätestens mit der Schrift; doch auch die Erscheinung: Stadt selbst steht schon<br />
1 Wenn eine eingeschränkte Pidgin-Sprache beispielsweise zwischen zwei Völkern nur zum Grenzhandel<br />
entsteht, ist die Pragmatik besonders deutlich; unten mehr dazu.<br />
2 Es wäre zu prüfen, ob diese von Tomasello betonte neue Fähigkeit ab vier Jahren in einer historischen<br />
Differenzierung erkennbar zu machen ist, ob es unter Urvölkern solche gab, deren Kompetenz nicht weiter<br />
reichte. Den Leuten vom <strong>Göbekli</strong> <strong>Tepe</strong> ist vollständig ausgeprägte Prä-Operativität zuzutrauen, scheint mir.