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Denken und Glauben am Göbekli Tepe - SSOAR

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40 <strong>Denken</strong> <strong>und</strong> Nativismus<br />

Flüssigkeit aus zwei gleichen durchsichtigen Gläsern zum einen in ein flacheres<br />

durchsichtiges Glas mit größerem Durchmesser, zum anderen in ein höheres mit<br />

kleinerem Durchmesser gegossen wird, daß die Menge gleich blieb, sich erhalten hat? Die<br />

Fähigkeit, diese Frage richtig zu entscheiden, wird normalerweise erst mit dem konkretoperativen<br />

Stadium erworben. 1 Im Ergebnis kann gesagt werden, daß WildbeuterInnen<br />

<strong>und</strong> einfache Bauernschaften generell das prä-operative Stadium nicht überschreiten. Die<br />

Jäger dieser Völker sind beispielsweise meist gute Schützen mit Pfeil <strong>und</strong> Bogen oder<br />

dem Speer mittels der Speerschleuder. Sie könnten aber das Wesen des Pflugs dieser<br />

Waffen nicht erklären. Selbst Aristoteles denkt noch, das Projektil werde von der beim<br />

Wurf von der Hand mit bewegten Luft weitergetragen, wenn es sich vom Arm des<br />

Schützen oder der Bogensehne getrennt hat; erst im Mittelalter wird mit der Impetus-<br />

Theorie eine Eigenkraft im – nun mit der Kanone abgeschossenen – Projektil vermutet,<br />

bevor Newton die Lösung mit der in der Anfangsgeschwindigkeit gespeicherten Energie<br />

fand (später: e=mc 2 , Energie ist gleich Masse mal Geschwindigkeit zum Quadrat,<br />

Einstein).<br />

Hallpike, der die Stadien Piagets hinsichtlich rezenter Urvölker aus psychologischer<br />

Sicht überprüft, sagt: „Für das Kind des präoperativen Stadiums ist das eigene Weltbild<br />

unmittelbar, subjektiv <strong>und</strong> absolut“, obwohl es beim Heranwachsen Widersprüche mit<br />

der Wirklichkeit bemerkt. Es begreift noch nicht, „daß es eine Wirklichkeit gibt, die<br />

wahrgenommen wird, einen Denkprozeß, der diese Wahrnehmungen vermittelt, <strong>und</strong><br />

einen Sprachprozeß, in den das <strong>Denken</strong> enkodiert [verschlüsselt] wird. Es ist deshalb<br />

noch nicht imstande, N<strong>am</strong>en <strong>und</strong> Wörter von den Dingen zu unterscheiden, auf die sie<br />

sich beziehen, <strong>und</strong> glaubt anfänglich, sie seien den Gegenständen inhärent [enthalten],<br />

die sie bezeichnen; für das Kind in diesem Alter ist das <strong>Denken</strong> ein physischer Prozeß,<br />

der mit dem M<strong>und</strong> oder mit der Sprache identifiziert wird, das Kind glaubt auch, die<br />

Träume spielten sich außerhalb von ihm ab. Es ist sich seiner eigenen Gedanken <strong>und</strong><br />

Gefühle bewußt, aber es sieht nichts Ungereimtes darin, auch der physischen Welt einen<br />

Willen, eine Zielgerichtetheit <strong>und</strong> Gefühle zuzuschreiben. Selbst auf der Ebene der<br />

physischen Wahrnehmung nimmt es an, sein Auge sende einen Strahl aus, wenn es<br />

Dinge wahrnehme, <strong>und</strong> es w<strong>und</strong>ert sich, daß die ‚Augen-Strahlen‘ der Leute nicht<br />

aufeinander prallen, wenn sie sich kreuzen; es glaubt auch, die Kraft, die benötigt wird,<br />

um einen Stein zu heben, sei eine Kraft, die aktiv vom Stein selbst ausgeübt werde“.<br />

(1990: 447ff) Dem Urteil des Kindes fehle die Objektivität, alle Erscheinungen sind ihm<br />

subjektiv <strong>und</strong> mit eigenem Willen ausgestattet. Diese Vorstellung bleibt lange erhalten<br />

<strong>und</strong> verschwindet erst mit dem formal-operativen <strong>Denken</strong> vollständig: mit etwa sechs<br />

Jahren nimmt das Kind noch an, N<strong>am</strong>en – identisch mit den benannten Dingen – hätten<br />

selbst Kraft, Gewicht <strong>und</strong> Geschwindigkeit oder andere physische Eigenschaften. Dann<br />

nehmen Kinder von den N<strong>am</strong>en an, sie seien den Dingen durch ihre Hersteller gegeben<br />

worden, durch Gott oder die ersten Menschen (Ur-Mythen). Erst danach wird erkannt, daß<br />

N<strong>am</strong>en reine Zeichen sind. Wir werden gleich noch erörtern, wie Kinder zu solchen<br />

animistischen Vorstellungen kommen, alles sei real <strong>und</strong> belebt, alles sei Subjekt.<br />

Das prä-operative Stadium vertiefe ich noch etwas, weil rezente Urvölker, die hier zum<br />

Abgleich mit jenen <strong>am</strong> <strong>Göbekli</strong> <strong>Tepe</strong> für die frühere Zeit dienen, dieses generell nicht<br />

überschreiten <strong>und</strong> das konkret- <strong>und</strong> das formal-operative Stadium nicht erreichen. Die<br />

Handlungen <strong>und</strong> ihre Koordination sind immer noch zentral für die kognitive Entwicklung<br />

<strong>und</strong> müssen in das innere – nicht fotografisch zu verstehende – Bild, das sich das Kind im<br />

sensomotorischen Stadium von der Umwelt konstruiert, weitergehend integriert werden.<br />

Die kindliche Vorstellung sieht nur eine Dimension zur Zeit (Höhe oder Breite bei den<br />

angesprochenen Gläsern). Ein Kind ist aber fähig, mit manchen Problemen praktisch<br />

umzugehen, die es noch nicht erklären kann (Spiel über die Bande). Klassifikationen sind<br />

bei ihm insofern subjektiv, wie es ihm gerade einfällt, nicht systematisch: vielleicht sitzt<br />

1 Prä-operative Kinder in modernen Gesellschaften <strong>und</strong> viele Erwachsene in traditionalen Gemeinschaften<br />

erkennen das nicht <strong>und</strong> nehmen, wenn sie auswählen können, welches sie mitnehmen dürfen, das höhere <strong>und</strong><br />

schmalere Glas (mit Zucker). Selbst wenn sich im flacheren Glas tatsächlich deutlich mehr (!) Inhalt befindet,<br />

greifen sie meist (!) zum Glas mit „höherem“ Gut darin. (Dux, 2008) Es gibt aber mehrere Tests zur<br />

Erhaltung, nicht nur den mit dem Volumen, sondern auch mit der Zahl, dem Gewicht. Es sei eine gründlich<br />

erhärtete Tatsache, schreiben Ginsburg/ Opper in ihrer Darstellung der Theorie Piagets zur geistigen<br />

Entwicklung, „daß es dem Kind mit etwa sechs oder sieben Jahren gelingt, die diskontinuierliche Quantität<br />

<strong>und</strong> die Substanz zu erhalten; daß es das Stadium 3 der Erhaltung des Gewichts nicht vor Vollendung seines<br />

neunten oder zehnten Lebensjahres erreicht; daß es ungefähr elf oder zwölf Jahre alt werden muß, bevor es<br />

über die Erhaltung der Volumens verfügt“. (1969: 209) Dazu gibt es noch Unterscheidungen hinsichtlich des<br />

sozialen Milieus <strong>und</strong> der regionalen Herkunft aus europäischen Regionen oder jenen der Dritten Welt. (204)

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