Cicero Ist der Islam böse? (Vorschau)
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Nº08<br />
AUGUST<br />
2014<br />
€ 8.50<br />
CHF 13<br />
Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €, Spanien: 9.50 € , Finnland: 12.80 €<br />
08<br />
4 196392 008505<br />
<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />
Isis, Hamas, Hisbollah: Gewalt im Namen des Propheten<br />
Amerikas Albtraum<br />
Francis Fukuyama und Roger<br />
Cohen über den Abstieg <strong>der</strong> USA<br />
In fremden Betten<br />
Der Hype um den<br />
Wohnungstausch im Netz<br />
„Sie verheimlichen es“<br />
Der Arzt Karl Lauterbach über<br />
Sucht und Krankheit in <strong>der</strong> Politik
is 24.08.2014 täglich 10 – 20 Uhr<br />
ab 25.08.2014 Mi – Mo 10 – 19 Uhr<br />
Dienstag geschlossen
ATTICUS<br />
N°-8<br />
DER ISLAMISCHE KRIEG<br />
Titelbild: Emiliano Ponzi/2 agenten; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
Mit Konflikten ist es wie mit Krankheiten.<br />
Es gibt grundsätzlich zwei<br />
Sorten. Die einen kann man heilen respektive<br />
lösen. Die an<strong>der</strong>en nur eindämmen,<br />
einigermaßen in den Griff kriegen, mit<br />
ihnen leben.<br />
Der Nahostkonflikt dürfte zur zweiten<br />
Kategorie gehören. US-Außenminister<br />
John Kerry hatte einen abermaligen<br />
An lauf genommen, den Konflikt zu<br />
lösen – vergebens. Nun fliegen wie<strong>der</strong><br />
Raketen und Kampfjets. Der Krieg ist<br />
zu rück in Israel und Gaza. Schon bevor er<br />
wie<strong>der</strong> aufflammte, hatte Isis den Kampf<br />
für ein großislamisches Reich eröffnet, das<br />
nicht nur Irak und Syrien umfassen soll,<br />
son<strong>der</strong>n auch Jordanien, Libanon, Palästina<br />
– und Israel.<br />
Al Qaida, Isis, Hamas, Hisbollah – <strong>der</strong><br />
heilige Krieg hat viele Namen und viele<br />
Krieger. <strong>Ist</strong> Allah ein Kriegsgott? Tobt in<br />
<strong>der</strong> arabischen Welt ein Dreißigjähriger<br />
Krieg, wie ihn das Christentum vor<br />
400 Jahren erlebt hat? Der renommierte<br />
Politologe und <strong>Islam</strong>kenner Gilles Kepel<br />
widmet sich in einem Essay dieser Frage<br />
( ab Seite 14 ). Der Buchautor Hamed<br />
Abdel Samad, über den eine Fatwa verhängt<br />
wurde, streitet im Gespräch mit<br />
<strong>der</strong> <strong>Islam</strong>wissenschaftlerin Lamya Kaddor<br />
( ab Seite 24 ). <strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank<br />
A. Meyer sieht eine ungleichzeitige Entwicklung<br />
in Religion und Weltanschauung,<br />
die zu Konflikten führt ( ab Seite 22 ).<br />
Ein Irak in Flammen, ein Israel im<br />
permanenten Ausnahmezustand, ein<br />
Russland, das sich die Krim einverleibt,<br />
und ein Deutschland, das ausgespäht wird:<br />
Kann es sein, dass die USA als Weltmacht<br />
scheitern? Roger Cohen, Kolumnist<br />
<strong>der</strong> New York Times, kommt in einem<br />
Exklusivbeitrag für <strong>Cicero</strong> zu einem<br />
an<strong>der</strong>en Befund. Der Politikwissenschaftler<br />
Francis Fukuyama sieht die Ursachen<br />
<strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen Schwäche nicht im<br />
System selbst, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> enttäuschenden<br />
Regierung des Barack Obama<br />
( ab Seite 62 ). Im Übrigen hält es Fukuyama<br />
mit Winston Churchills Bonmot,<br />
wonach die Demokratie westlicher<br />
Prägung unter den schlechten Staatsformen<br />
immer noch die beste ist: „We<strong>der</strong><br />
das islamische Kalifat noch <strong>der</strong> russische<br />
Petrostaat scheinen mir Modelle zu sein.“<br />
Mit besten Grüßen<br />
CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
Chefredakteur<br />
3<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
In Deutschland leben ca. 600.000 junge Witwen<br />
und Witwer. Fast 1 Million Kin<strong>der</strong> müssen den<br />
schmerzhaften Verlust eines Elternteils erleben.<br />
Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit<br />
einem professionellen und umfassenden Hilfsangebot<br />
Betroffene in dieser schwierigen Lebenssitu-<br />
Design: Marco Weißenberg | Konzeptlabor<br />
ation zu begleiten. Einen Schwerpunkt legen<br />
wir in die Betreuung trauern<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlicher<br />
mit dem Projekt, das uns beson<strong>der</strong>s<br />
am Herzen liegt: <strong>der</strong> Online-Beratungsstelle<br />
YoungWings.<br />
Jetzt spenden<br />
und helfen!<br />
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www.youngwings.de
INHALT<br />
TITELTHEMA<br />
Malerei: Ahmed Alsoudani/ Courtesy: VW (Veneklasen/Werner), Berlin<br />
22<br />
TOTALITÄRE RELIGION<br />
Der <strong>Islam</strong> ist heillos verspätet. Eine<br />
freie Gesellschaft wird unter seiner<br />
Herrschaft kaum möglich sein<br />
Von FRANK A. MEYER<br />
14<br />
DIE BLUTSPUR DES PROPHETEN<br />
Von den Muslimbrü<strong>der</strong>n bis zu Isis: Der islamistische<br />
Terror ist auch eine Geschichte <strong>der</strong> Entzweiung<br />
von Sunniten und Schiiten. Die geopolitischen<br />
Erschütterungen sind gewaltig. Eine Analyse des<br />
tödlichen Konflikts im Mittleren Osten<br />
Von GILLES KEPEL<br />
24<br />
„KEIN ISLAM OHNE ISLAMISMUS“<br />
Hamed Abdel-Samad und Lamya Kaddor<br />
im Streitgespräch über Gewalt, aufgeklärte<br />
Muslime und die Quintessenz des Koran<br />
Von ALEXANDER KISSLER und ALEXANDER MARGUIER<br />
5<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />
30 NOCH MAL GANZ IN RUHE<br />
EU-Kommissar Günther<br />
Oettingers schwieriger<br />
Dauersprint zur Anerkennung<br />
Von GEORG LÖWISCH<br />
48 DER NETTE HERR EKMEL<br />
Intellektuell, gläubig, weltoffen:<br />
Ekmeleddin Ihsanoglu will<br />
Präsident <strong>der</strong> Türkei werden<br />
Von FRANK NORDHAUSEN<br />
76 DER GEFÜHLSSPITZEL<br />
Catalin Voss bringt <strong>der</strong><br />
Datenbrille Google Glass<br />
bei, Emotionen zu lesen<br />
Von PETRA SORGE<br />
32 POSTBOTIN GEGEN SCHNÜFFLER<br />
Sabrina Löhr ist die Grün<strong>der</strong>in<br />
von Posteo: ein E-Mail-Dienst, <strong>der</strong><br />
Überwachern den Spaß verdirbt<br />
Von JOHANNES GERNERT<br />
50 DIE PATRIOTIN<br />
Jesselyn Radack legt sich mit<br />
<strong>der</strong> US-Regierung an und<br />
verteidigt Whistleblower<br />
Von PETRA SORGE<br />
78 UNQUALIFIZIERTER<br />
UNTERNEHMER<br />
Als Hippie schuf Joseph Wilhelm<br />
Rapunzel, heute einer <strong>der</strong><br />
führenden Biohersteller Europas<br />
Von DANIELA SINGHAL<br />
34 „ICH SCANNE JEDEN<br />
AUTOMATISCH“<br />
Karl Lauterbach ist SPD-Politiker – und<br />
Arzt. Ein Interview über Krankheit,<br />
Sucht und Stress im Bundestag<br />
Von GEORG LÖWISCH UND<br />
CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
37 FRAU FRIED FRAGT SICH...<br />
… ob sie als emanzipiert gelten<br />
kann, obwohl sie nicht Rasen mäht<br />
Von AMELIE FRIED<br />
38 BETRIEBSRAT UND MANAGEMENT<br />
Die SPD muss sich an ihr Profil unter<br />
Gerhard Schrö<strong>der</strong> erinnern. Ein<br />
Zwischenruf des nie<strong>der</strong>sächsischen<br />
Ministerpräsidenten<br />
Von STEPHAN WEIL<br />
40 DER ABFRACKER<br />
Ein Mann bringt die CDU gegen<br />
Fracking auf und unterwirft die<br />
Erdgasfirmen. Die erstaunliche<br />
Geschichte des Andreas Mattfeldt<br />
Von GEORG LÖWISCH<br />
40<br />
Industrieschreck<br />
54 DIE ZAUDERNDE WELTMACHT<br />
Sind die USA außenpolitisch<br />
am Ende o<strong>der</strong> nehmen<br />
sie einen neuen Anlauf?<br />
Von ROGER COHEN<br />
60 USA: SELBSTBILD UND<br />
DEUTSCHE SICHT<br />
Zwei Nationen, zwei Ansichten – eine<br />
Umfrage im Auftrag von <strong>Cicero</strong><br />
62 „AMERIKAS SYSTEM HAT<br />
ZU VIELE KONTROLLEN“<br />
Der Politologe Francis Fukuyama<br />
im Interview über Kalifat,<br />
Petrostaat und Republik<br />
Von JUDITH HART<br />
64 „AMERIKA GEHÖRT VERNICHTET“<br />
Alexan<strong>der</strong> Dugin gilt<br />
als Philosoph des Kreml.<br />
Was denkt er wirklich?<br />
Von ALEXANDER MARGUIER<br />
66 IRANS ZWEITES GESICHT<br />
Einblicke in den verborgenen<br />
Alltag im Iran – ein Fotoessay<br />
Von HOSSEIN FATEMI<br />
60<br />
Supermacht<br />
80 „ES GIBT HIER KEINE<br />
GEEIGNETEN FRAUEN<br />
FÜR CEO-JOBS“<br />
Die Top-Headhunter<br />
Christina Virzí und<br />
Heiner Thorborg über<br />
versteckten Machismo und<br />
zurückhaltende Frauen<br />
Von LENA BERGMANN UND TIL KNIPPER<br />
84 DRECKIGE SAUBERMÄNNER<br />
Die Bösen waren<br />
immer die an<strong>der</strong>en.<br />
Jetzt häufen sich<br />
bei den Sparkassen Exzesse,<br />
Skandale und Affären<br />
Von MEIKE SCHREIBER<br />
80<br />
Talentjägerin<br />
Fotos: Kiên Hoàng Lê für <strong>Cicero</strong>, Tim Wegner für <strong>Cicero</strong>; Illustration: Sebastian Haslauer<br />
6<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
STIL<br />
SALON<br />
CICERO<br />
STANDARDS<br />
90 WINZERS GLÜCK<br />
Traumhafte Zweitkarriere: Der<br />
Jurist Horst Hummel macht in<br />
Ungarn vorzüglichen Wein<br />
Von KENO VERSECK<br />
92 DIE HOMESTORY<br />
Vom Matratzenlager zur<br />
neuen Form des Tourismus.<br />
Die Geschichte von Airbnb<br />
102 LICHT IM SCHACHT<br />
Judith Hermann, Meisterin <strong>der</strong> kleinen<br />
Form, legt ihren ersten Roman vor<br />
Von PETER HENNING<br />
104 HINFORT MIT DEM TAND!<br />
Der Intendant Markus Hinterhäuser<br />
wechselt von den Wiener Festwochen<br />
zu den Salzburger Festspielen<br />
Von AXEL BRÜGGEMANN<br />
3 ATTICUS<br />
Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
8 STADTGESPRÄCH<br />
10 FORUM<br />
12 IMPRESSUM<br />
130 POSTSCRIPTUM<br />
Von ALEXANDER MARGUIER<br />
Von JUDITH LUIG<br />
98 FERNSEHSERIE MIT<br />
NEBENWIRKUNGEN<br />
<strong>Ist</strong> „Breaking Bad“ mit<br />
schuld am Siegeszug von<br />
Crystal Meth? Ja und Nein<br />
Von CHRISTOPH SCHWENNICKE und<br />
CONSTANTIN MAGNIS<br />
100 WARUM ICH TRAGE,<br />
WAS ICH TRAGE<br />
Das Kostüm macht etwas mit dir<br />
Von HANNAH HERZSPRUNG<br />
98<br />
106 AUS DEM GRAS GERATEN<br />
Die Performance-Künstlerin Alevtina<br />
Kakhidze verbindet Politik mit Poesie<br />
Von KRISTINA V. KLOT<br />
108 DER FROMME BETRUG<br />
Kunst und Geld sind verschwistert,<br />
obwohl sie es oft leugnen<br />
Von RALF HANSELLE<br />
116 LITERATUREN<br />
Bücher von Walter Kirn, Sabine Adatepe,<br />
Oliver Bottini und Rüdiger Görner<br />
122 BIBLIOTHEKSPORTRÄT<br />
Der Humorist Herbert Feuerstein<br />
schätzt amerikanische Literatur<br />
Von BJÖRN EENBOOM<br />
126 HOPES WELT<br />
Geigen und an<strong>der</strong>e Mordinstrumente<br />
Emiliano Ponzi<br />
Was verbirgt die Burka?<br />
Was bewirkt die Burka?<br />
Emiliano Ponzi, Künstler<br />
aus Mailand, hat dieses<br />
Bild vor einigen Jahren<br />
angefertigt. Bisher wurde<br />
es nur auf Ausstellungen<br />
gezeigt. Für <strong>Cicero</strong> hat er<br />
die Burka farblich leicht<br />
bearbeitet. Aktuell ist<br />
diese leise, aber zugleich<br />
starke Arbeit ohnehin noch.<br />
Von DANIEL HOPE<br />
Illustrationen: Jens Bonnke, Emiliano Ponzi/2 agenten; Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong>, Alix Smith<br />
Drogenkoch<br />
128 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />
Mit Omas Reisestiefeln auf<br />
die letzte große Fahrt<br />
Von VERA LENGSFELD<br />
108<br />
Erfolgsmaler<br />
Ahmed Alsoudani<br />
2011 vertrat Ahmed Alsoudani<br />
auf <strong>der</strong> Biennale in<br />
Venedig den Irak, das Land,<br />
in dem er 1975 geboren<br />
wurde. Der Konflikt im<br />
Irak prägt sein Schaffen;<br />
Krieg, Korruption und<br />
Ausbeutung sind seine Themen.<br />
Ahmed Alsoudanis<br />
Arbeiten illustrieren unser<br />
Titelthema. Es sind Motive,<br />
in denen Gewalt und<br />
Macht, Zerstörung und<br />
Überleben in bizarrer Weise<br />
miteinan<strong>der</strong> verwachsen.<br />
7<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
CICERO<br />
Stadtgespräch<br />
Den Leuten im Bundespresseamt fällt die Decke auf den Kopf,<br />
das ZDF hat die FDP auf dem Gewissen – und in Berlin regiert ein Vogel<br />
Das Bundespresseamt informiert:<br />
Dachschaden<br />
Ornithokratie:<br />
Die Königin von Berlin<br />
Coverboy Kai:<br />
Diekmanns Son<strong>der</strong>heft<br />
In ereignisarmen Zeiten, volkstümlich<br />
auch als Sommerloch bekannt, kann<br />
einem schon mal die Decke auf den<br />
Kopf fallen – das gilt insbeson<strong>der</strong>e für<br />
Mitarbeiter des Bundespresseamts. Tatsächlich<br />
stürzten dort unlängst zehn<br />
Quadratmeter Gipsputz vom Plafond,<br />
verletzt wurde zum Glück niemand.<br />
Das zuständige Bundesamt für Raumwesen<br />
und Bauordnung nannte als Ursache<br />
lapidar schlechte Renovierungsarbeiten<br />
aus den neunziger Jahren; in<br />
politischen Hauptstadtkreisen kursiert<br />
dagegen eine ganz an<strong>der</strong>e Analyse des<br />
Ereignisses. Linkspartei-Chef Bernd<br />
Riexinger mutmaßte, <strong>der</strong> Gips habe sich<br />
gelöst, weil sich bei den Informationen<br />
des Presseamts über die Politik <strong>der</strong> Großen<br />
Koalition „die Balken durchgebogen“<br />
hätten. Gut möglich, dass Riexinger<br />
damit aber auch nur vom einen o<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Dachschaden in den eigenen<br />
Reihen ablenken wollte. tz<br />
Seit sie zur „Leitart“ auf <strong>der</strong> Brache<br />
des ehemaligen Tempelhofer Flughafens<br />
gekürt wurde, hat die Feldlerche<br />
die Stadtentwicklungspolitik fest in <strong>der</strong><br />
Kralle. „Sie gibt den rechtlichen Rahmen<br />
vor“, sagt ein Ornithologe. An<strong>der</strong>e<br />
Vögel haben sich ihren Wünschen zu<br />
beugen, und die sind bei <strong>der</strong> Bodenbrüterin<br />
klar: keine Bäume. Deshalb müssen<br />
die Parkpfleger höheren Bewuchs<br />
im Wiesenmeer abmähen. Will die<br />
Stadt feldlerchische Län<strong>der</strong>eien selbst<br />
nutzen, muss sie sie ersetzen. Als man<br />
noch hoffte, das Tempelhofer Feld bebauen<br />
zu können, hatte man <strong>der</strong> Feldlerche<br />
deshalb für 375 000 Euro ein<br />
Ausweichterritorium vermacht. Die<br />
„Feldlerchenproblematik“ würde es laut<br />
Senatsverwaltung auch bei einer Bebauung<br />
des Flughafens Tegel geben. Denn<br />
dass die Feldlerche dort ebenfalls zur<br />
Leitart und Monarchin wird, gilt als sicher.<br />
Gut so, einer muss die Stadt ja<br />
regieren. vin<br />
Zum 50. Geburtstag ihres Chefredakteurs<br />
haben sich die Kollegen von<br />
<strong>der</strong> Bild ein beson<strong>der</strong>es Geschenk einfallen<br />
lassen: eine Kai-Diekmann-Son<strong>der</strong>edition,<br />
bestehend aus Titel-Entwürfen<br />
an<strong>der</strong>er Zeitungen und Magazine,<br />
die allesamt dem Jubilar gewidmet<br />
sind. Und offenbar hat Diekmann mehr<br />
Freunde in <strong>der</strong> Branche, als man vermuten<br />
könnte, denn fast alle haben sich<br />
an dem Spaß beteiligt – von Spiegel<br />
über Stern und Bunte bis hin zum Obdachlosenmagazin<br />
Hinz & Kunzt. Nur<br />
<strong>der</strong> FAZ und <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung<br />
war das Projekt offenbar nicht geheuer.<br />
So gratuliert also das Carnivoren-Leitmedium<br />
Beef dem König des<br />
deutschen Boulevards mit <strong>der</strong> Titelzeile<br />
„Die besten Enten <strong>der</strong> Welt“. Dagegen<br />
liest sich die Spiegel-Aufmachung<br />
„Haltet den Brandstifter“ unter<br />
einem Diekmann-Porträt mit brennendem<br />
Bart fast harmlos. mar<br />
Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />
8<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Liberale Namenssuche:<br />
Keiner mag uns<br />
Ein neuer Name für die FDP? Warum<br />
nicht, schließlich hat sich ja auch die<br />
SED vor etlichen Jahren ganz erfolgreich<br />
in PDS umbenannt. Inzwischen<br />
jedoch dämmert vielen Liberalen, dass<br />
dieser Vorschlag ihrer stellvertretenden<br />
Vorsitzenden Marie-Agnes Strack-<br />
Zimmermann vor allem für Spott im<br />
Internet sorgt. Mal wird das Kürzel<br />
KMU vorgeschlagen („Keiner mag<br />
uns“), dann wie<strong>der</strong> wird zu FIW geraten<br />
(„Fähnchen im Wind“). FDP-Chef<br />
Christian Lindner geht denn auch auf<br />
Distanz zu einem möglichen Rebranding:<br />
„Die Umbenennung wäre eine<br />
oberflächliche Sache.“ Mit Blick auf den<br />
alten Koalitionspartner stichelt Lindner:<br />
„Die CDU hat ihren inneren Kern verloren.<br />
Der ist bei <strong>der</strong> FDP noch da, bei<br />
Merkel und <strong>der</strong> CDU nicht.“ Nun denn,<br />
die Union scheint es zu verkraften.<br />
Hilfe bei <strong>der</strong> Namenssuche leistete<br />
unaufgefor<strong>der</strong>t <strong>der</strong> baden-württembergische<br />
CDU-Landesvorsitzende Thomas<br />
Strobl: Im „Ländle“ nenne sich die<br />
FDP bis heute „FDP/DVP“. Da könne<br />
man doch schlicht auf die verpönte<br />
Buchstabenfolge FDP verzichten und<br />
sich mit DVP begnügen, sagt Strobl.<br />
Wäre ja keine schlechte Botschaft, immerhin<br />
steht DVP für Demokratische<br />
Volkspartei – und demokratisch wolle<br />
gewiss auch die neue FDP sein. Weniger<br />
konstruktiv klingt da schon <strong>der</strong><br />
Hinweis des ehemaligen SPD-Wahlkampfplaners<br />
Frank Strauss: „Ein guter<br />
Name kann kein schlechtes Produkt<br />
retten.“ tz<br />
Die Kanzlerin klärt auf:<br />
Schavans Schweigen<br />
Wir haben es dir nett gemacht“,<br />
kündigte die Bundeskanzlerin<br />
gleich zu Beginn <strong>der</strong> Abschiedsfeier<br />
von Annette Schavan an, die als neue<br />
Botschafterin am Vatikan künftig auf<br />
Berliner Eigentümlichkeiten verzichten<br />
muss. Wohl auch deshalb wurde zu Ehren<br />
<strong>der</strong> ehemaligen Bildungs- und Forschungsministerin<br />
ganz stilecht Currywurst<br />
mit Kartoffelsalat gereicht – und<br />
das ausgerechnet in <strong>der</strong> baden-württembergischen<br />
Landesvertretung am<br />
Tiergarten.<br />
Schavan wirkte angesichts dieser<br />
Nettigkeiten ernsthaft gerührt, zumal<br />
in <strong>der</strong> Hauptstadt kaum jemand so<br />
freundschaftlich verabschiedet wird,<br />
<strong>der</strong> unfreiwillig gehen muss. Auch Angela<br />
Merkel zeigte sich von ihrer persönlichen<br />
Seite und würdigte mit<br />
verschmitztem Grinsen Schavans Verschwiegenheit<br />
als <strong>der</strong>en größte Gabe.<br />
Die Belobigte lachte, die an<strong>der</strong>en Gäste<br />
(darunter EU-Kommissar Günther Oettinger,<br />
Bundestagspräsident Norbert<br />
Lammert und Unionsfraktionschef Volker<br />
Kau<strong>der</strong>) nicht alle. Annette Schavan<br />
wie<strong>der</strong>um verriet an diesem Abend,<br />
wer <strong>der</strong> Urheber <strong>der</strong> Freundschaft zwischen<br />
ihr und <strong>der</strong> Kanzlerin war: Helmut<br />
Kohl. 1996 habe er auf einem Parteitag<br />
die beiden Frauen rechts und<br />
links von sich platziert, um dann plötzlich<br />
mit seinen Armen weit auszuholen<br />
und Merkel und Schavan an seine Brust<br />
zu drücken. „Nun vertragt euch gefälligst“,<br />
sagte Kohl damals. „Auftrag ausgeführt“,<br />
stellte Schavan nun fest. vr<br />
Ursachenforschung:<br />
ZDF killed FDP<br />
Die Diskussion darüber, wer die<br />
Schuld am Untergang <strong>der</strong> FDP<br />
trägt, ist noch immer ein beliebter Partyspaß<br />
in <strong>der</strong> Hauptstadt. War’s Westerwelle,<br />
war’s Rösler? O<strong>der</strong> die schwarze<br />
Witwe Merkel, die dem Koalitionspartner<br />
keine Leihstimmen gönnte? Das<br />
ZDF war’s! Das zumindest legt jetzt<br />
eine Studie <strong>der</strong> Uni Mainz nahe.<br />
Der Sen<strong>der</strong> veröffentlichte erstmals<br />
noch drei Tage vor <strong>der</strong> Wahl eine<br />
letzte Umfrage. Diese sah die FDP mit<br />
5,5 Prozent im Bundestag. Ganz nah<br />
am mo<strong>der</strong>nen Wähler, <strong>der</strong> sich immer<br />
später entscheidet, wollte das ZDF so<br />
erscheinen. Ein umstrittener Tabubruch<br />
mit Folgen: „Die Schwarz-Gelb-Wähler<br />
reagieren auf die Umfrageergebnisse“,<br />
sagt <strong>der</strong> Politikwissenschaftler Thorsten<br />
Faas. In einem Experiment hat er<br />
den Teilnehmern verschiedene Umfrageszenarien<br />
präsentiert – die FDP kam<br />
dabei entwe<strong>der</strong> auf 4, 5, 6 o<strong>der</strong> 8 Prozent<br />
– und sie anschließend nach ihrem<br />
Wahlverhalten befragt. Der Einfluss auf<br />
taktische Wähler war signifikant: Je<br />
höher <strong>der</strong> vorgegebene Wert war, desto<br />
weniger Befragte gaben anschließend<br />
an, die FDP wählen zu wollen. „Der Effekt<br />
ist eindeutig“, sagt Faas. Daraus<br />
folgt: „Die letzte Umfrage des ZDF hat<br />
die Bundestagswahl mit entschieden.“<br />
Nach <strong>der</strong> Bayernwahl eine Woche zuvor<br />
bangten viele um Schwarz-Gelb<br />
und um die FDP. Die Demoskopen gaben<br />
Entwarnung. Bei <strong>der</strong> Wahl in Nie<strong>der</strong>sachsen<br />
hatte dieser Effekt zuvor<br />
noch umgekehrt funktioniert. cse<br />
9<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
CICERO<br />
Leserbriefe<br />
FORUM<br />
Es geht um die Deutsche Bank, Ursula von <strong>der</strong><br />
Leyen, Christian Wulff, Religionen und Kriege<br />
Zum Beitrag „Staatsmänner“ von Frank A. Meyer, Juli 2014<br />
Banker-Hetze<br />
Mit Verwun<strong>der</strong>ung lese ich, wie die Deutsche Bank dem Image Deutschlands<br />
schaden soll. Da gibt es ein Problem: Aus <strong>der</strong> ausländischen Presse, zum Beispiel<br />
The Economist, ist mir so was nicht bekannt. Auch beim Googeln findet man solche<br />
Kommentare nicht. Die Berichte dort sind nicht an<strong>der</strong>s als über jede beliebige<br />
Großbank. Deutschland-schädigend kaum. Die Herren Jain und Fitschen sind offenbar<br />
den 68ern nicht sympathisch, aber im Ausland stören sie nicht. Da ist <strong>der</strong><br />
Berliner Flughafen, also die Politik, eher am Pranger. Die Medien haben Bundespräsident<br />
Wulff gehetzt und zum Abschied gezwungen, jetzt soll gegen Banker<br />
gehetzt werden. Kann das sein, dass Herr Weber zurück nach Frankfurt will?<br />
Michael Novosad, Langenzenn<br />
Zum Beitrag „Die Stunde null“ von<br />
Georg Löwisch, Constantin Magnis,<br />
Alexan<strong>der</strong> Marguier, Christoph<br />
Schwennicke, Juli 2014<br />
Respektlos<br />
Es kann vermutlich nur <strong>der</strong> anbrechenden<br />
Saure-Gurken-Zeit geschuldet<br />
sein, dass ein ansonsten so<br />
gut gemachtes und von mir sehr geschätztes<br />
politisches Magazin wie<br />
<strong>der</strong> <strong>Cicero</strong> sich zu einem so reißerischen<br />
Titelbild („Uschi lädt durch“)<br />
hinreißen lässt und sich in <strong>der</strong> begleitenden<br />
Titelgeschichte in zum<br />
Teil überflüssigen Spekulationen<br />
über die Nachfolge von Angela Merkel<br />
ergeht.<br />
Der Respekt vor ihren Leistungen<br />
als Bundeskanzlerin sollte es<br />
dem <strong>Cicero</strong> gebieten, sich nicht zur<br />
Unzeit an – wie und von wem auch<br />
immer initiierten – Spekulationen<br />
über ihre Nachfolge zu beteiligen.<br />
Christian Puttkammer, Hamburg<br />
Fehlende Tiefenschärfe<br />
Müsste <strong>Cicero</strong> nur anhand <strong>der</strong> Titel<br />
meine Aufmerksamkeit finden, hätten<br />
Sie ein Problem.<br />
„Uschi“ wirkt auf mich schlicht<br />
nur zweidimensional, hat überhaupt<br />
keine Tiefe, wirkt wie in den Anfängen<br />
<strong>der</strong> Grafik, als noch ausgeschnitten<br />
wurde. Grob.<br />
Schade eigentlich, denn was<br />
hätte man aus diesem Motiv nicht<br />
alles machen können!<br />
Schlagschatten mit noch sanfter<br />
Zeichnung in den Schatten (sichtbare<br />
Magazine zum Nachladen …),<br />
Reflexion des Sonnenlichts auf den<br />
beiden „Wummen“, Zigarillo in<br />
Uschis „Maul“.<br />
Bernd Rösner, Bielefeld<br />
Zum Beitrag „Wulff“ von Alexan<strong>der</strong><br />
Marguier, Juli 2014<br />
Ahnungslos<br />
Wer als Politiker meint, es gäbe in<br />
Deutschland nicht genügend Zeitungen,<br />
und sich deshalb mit <strong>der</strong> Springer-Bande<br />
einlässt, um bekannt zu<br />
werden, darf sich nicht wun<strong>der</strong>n,<br />
wenn er irgendwann den Preis dafür<br />
zahlen muss. Deshalb hält sich mein<br />
Mitleid mit Herrn Wulff in äußerst<br />
engen Grenzen.<br />
Wenn man aber auch noch als<br />
Frührentner mit rund 200 000 Euro<br />
„Ehrensold“ im Jahr sein Schicksal<br />
beweint und im Titel des entsprechenden<br />
Buches einen Buchtitel von<br />
Günter Wallraff zitiert, dann beweist<br />
man damit, dass man nicht<br />
die entfernteste Spur einer Ahnung<br />
vom Schicksal <strong>der</strong> Menschen<br />
hat, um die es in „Ganz unten“ geht.<br />
Schon deshalb ist es mehr als gut,<br />
dass Herr Wulff nicht mehr für sich<br />
in Anspruch nehmen kann, (auch)<br />
diese Menschen zu repräsentieren.<br />
Dieter Thomashoff, Köln<br />
Exemplarisch<br />
Das ist <strong>der</strong> Grund, warum ich <strong>Cicero</strong><br />
lese. Nicht, weil ich ein Wulff-<br />
Fan bin, son<strong>der</strong>n weil in diesem<br />
Postscriptum exemplarisch vorgeführt<br />
wird, wie anspruchslos, selbstverliebt<br />
und vorhersehbar die Mainstream-Medien<br />
„argumentieren“.<br />
Gerhard Leuner, Halstenbek<br />
10<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
∆Wie wird Bildung groß und stark?<br />
Die Zahl <strong>der</strong> Hochschulabsolventen in Deutschland ist seit 2002 um 80 % gestiegen.<br />
Und das ist nur einer von vielen Gründen, warum es sich lohnt, Verantwortung zu<br />
übernehmen. Darum investiert die KfW in Bildungsprogramme – und ermöglicht je<strong>der</strong><br />
Generation, ihre Lebensbedingungen nachhaltig zu verbessern.<br />
Verän<strong>der</strong>ung fängt mit Verantwortung an. kfw.de/verantwortung
März 2013<br />
8 EUR / 12,50 CHF<br />
www.cicero.de<br />
IMPRESSUM<br />
<strong>Cicero</strong>-Ausgabe März 2013<br />
„ICH KANN ALLES<br />
AUSSER SCHWEISSEN“<br />
VERLEGER Michael Ringier<br />
CHEFREDAKTEUR Christoph Schwennicke<br />
STELLVERTRETER DES CHEFREDAKTEURS<br />
Alexan<strong>der</strong> Marguier<br />
REDAKTION<br />
TEXTCHEF Georg Löwisch<br />
CHEFIN VOM DIENST Kerstin Schröer<br />
RESSORTLEITER Lena Bergmann ( Stil ),<br />
Judith Hart ( Weltbühne ), Dr. Alexan<strong>der</strong> Kissler ( Salon ),<br />
Til Knipper ( Kapital ), Constantin Magnis<br />
( Reportagen ), Dr. Frauke Meyer-Gosau ( Literaturen )<br />
CICERO ONLINE Christoph Seils ( Leitung ),<br />
Petra Sorge, Timo Stein<br />
ASSISTENTIN DES CHEFREDAKTEURS<br />
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REDAKTIONSASSISTENTIN Sonja Vinco<br />
ART-DIREKTORIN Viola Schmieskors<br />
BILDREDAKTION Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />
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VERLAG<br />
GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />
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VERTRIEB UND UNTERNEHMENSENTWICKLUNG<br />
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REDAKTIONSMARKETING Janne Schumacher<br />
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EINE PUBLIKATION DER RINGIER GRUPPE<br />
Winfried Kretschmann<br />
„Ich kann<br />
alles außer<br />
Schweißen“<br />
Deutschlands mächtigster<br />
Grüner – und was seine<br />
Partei von ihm lernen kann<br />
Benedikts<br />
Rückzug<br />
Was <strong>der</strong> neue Papst<br />
können muss<br />
Bisher unveröffentlichte Fotos<br />
Wie Elvis zum Star wurde<br />
In einem <strong>Cicero</strong>-<br />
Gespräch fragten wir<br />
2013 Baden-Württembergs<br />
grünen<br />
Ministerpräsidenten<br />
Winfried Kretschmann,<br />
wie viel<br />
Spießertum sich seine<br />
Partei leisten könne.<br />
Stundenlang vergleiche er in Baumärkten<br />
Bohrmaschinen, antwortete er.<br />
Wenn Heimwerken spießig sei, habe er<br />
damit kein Problem. Und: „Ich kann alles<br />
außer Schweißen.“ Der Satz kam auf den<br />
<strong>Cicero</strong>-Titel, machte die Runde und<br />
wurde im Stuttgarter Landtag zitiert. Zu<br />
Kretschmanns 65. Geburtstag<br />
schenkten ihm seine Minister einen<br />
Schweißkurs. In <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>-Kultur-Werkstatt<br />
in Nürtingen stieben die Funken.<br />
Das Produkt: ein Winfried-W als<br />
Stiftehalter für den Schreibtisch.<br />
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12<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
CICERO<br />
Leserbriefe<br />
Zum Beitrag „Demokratie, ein<br />
Auslaufmodell?“ von William J. Dobson,<br />
Juli 2014<br />
Christliche Zukunft<br />
Der Amerikaner Dobson erwähnt<br />
eingangs die Befürchtung Willy<br />
Brandts aus dem Jahre 1975, Westeuropa<br />
werde in 30 Jahren seine<br />
Demokratie aufgeben. Dazu passt<br />
die Wahlbeteiligung von nur<br />
43 Prozent bei den Europawahlen.<br />
Dobson hofft, das sei nur Protest<br />
gegen politischen Zynismus. Lei<strong>der</strong><br />
ein Irrtum. Wie <strong>der</strong> australische<br />
Historiker Christopher Clark<br />
feststellte, fehlt es den Europäern<br />
an Geschichtsbewusstsein, am Bewusstsein,<br />
dass sie nur als Christen<br />
Zukunft haben.<br />
Gerd Neubronner, Friedrichsdorf<br />
Zum Beitrag „Vergesst Interventionen“<br />
von Judith Hart, Juli 2014<br />
Fotos: Daniel Jüptner; Karikatur: Hauck & Bauer<br />
Überfällig<br />
Ihr Kommentar „Vergesst Interventionen“<br />
ist einer <strong>der</strong> wenigen<br />
– dafür aber wichtigen – und<br />
wohlbegründeten Texte über<br />
längst überfällige Schlussfolgerungen<br />
aus dem Scheitern einer Politik<br />
<strong>der</strong> „Regulierung“ mit militärischen<br />
Mitteln, die vor 25 Jahren<br />
in Afghanistan ihren Anfang nahm<br />
und von den westlichen Demokratien<br />
betrieben wurde und bis<br />
heute wird. Ich wende mich an Sie<br />
mit dem Hinweis, dass ich – Jahrgang<br />
1939 – Kriegsende und „Kalten<br />
Krieg“ als Gegenwart und<br />
DDR-Bürger erlebt habe. Damit<br />
will ich nicht sagen, dass ich mehr<br />
weiß, nur meine Betrachtungsweise<br />
könnte deshalb an<strong>der</strong>s sein.<br />
Wieland Becker, Berlin<br />
Zum Beitrag „Querulatoren“ von<br />
Christoph Schwennicke, Juli 2014<br />
Gelungener Auftritt<br />
Herrlich – <strong>der</strong> Artikel von Christoph<br />
Schwennicke über die Querulatoren.<br />
Ein gelungener Auftritt als<br />
führen<strong>der</strong> Querulator in <strong>der</strong> politischen<br />
Medienlandschaft.<br />
Stefan Leicht, Radolfzell<br />
Zum Beitrag „Der prekäre Frieden“ von<br />
Karl Feldmeyer und „Putin muss sich<br />
verkleiden“, Interview mit Herfried<br />
Münkler, Juni 2014<br />
Ewig gestrig<br />
Man kann sich kaum zwei gegensätzlichere<br />
Beiträge vorstellen als<br />
Karl Feldmeyers „Der prekäre Frieden“<br />
und die Aussagen von Herfried<br />
Münkler in „Putin muss sich<br />
verkleiden“. Während <strong>der</strong> von Ihnen<br />
als „Doyen <strong>der</strong> sicherheitspolitischen<br />
Berichterstattung“ gekennzeichnete<br />
Herr Feldmeyer nichts<br />
weiter ist als ein alter Kalter Krieger,<br />
<strong>der</strong> sich in die Zeiten vor dem<br />
Mauerfall zurücksehnt, in denen<br />
die deutsch-amerikanische Freundschaft<br />
das Kernstück einer scheinselbstständigen<br />
deutschen Außenpolitik<br />
war, stellt man bei Herfried<br />
Münkler ein echtes Verstehen <strong>der</strong><br />
europapolitischen Lage fest. Anstatt<br />
eines geradezu albernen Aufrufs<br />
zur Wie<strong>der</strong>einführung <strong>der</strong> Wehrpflicht<br />
steht hier die Einsicht, dass<br />
auch Russland Interessen hat, und<br />
dass die Begierde <strong>der</strong> USA nach einem<br />
neuen Kalten Krieg mit Russland<br />
von Deutschland keineswegs<br />
mitgetragen werden muss.<br />
Prof. Dr. Claus Priesner, München<br />
Zum Beitrag „Töten für den Terrorstaat“<br />
von William J. Dobson, Mai 2014<br />
Religionen und Kriege<br />
Mit Interesse habe ich den guten Artikel<br />
von W. J. Dobson über den Terror<br />
von Al Qaida gelesen. Die Destabilisierung<br />
<strong>der</strong> Region im Nahen<br />
Osten schreitet voran. Gefreut hat<br />
mich, dass in <strong>der</strong> Berichterstattung<br />
jetzt auch <strong>der</strong> religöse Gehalt des<br />
Konflikts gewürdigt wird. Von irgendwoher<br />
kommen ja die Ideen<br />
zum heiligen Krieg, zur Errichtung<br />
eines Kalifats. Kein Geringerer als<br />
Samuel Huntington in seinem Buch<br />
„Clash of Civilisations“ hat deutlich<br />
gemacht, dass unterschiedlich geprägte<br />
Kulturen, wenn sie aufeinan<strong>der</strong>treffen,<br />
Reibungen verursachen,<br />
also Konflikte. Das hat sich tausendfach<br />
bewahrheitet.<br />
Dieter Loest, Rot am See<br />
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />
Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen<br />
senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />
13<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
TITEL<br />
<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />
DIE BLUTSPUR<br />
DES PROPHETEN<br />
Von GILLES KEPEL<br />
Von den Muslimbrü<strong>der</strong>n bis zu Isis:<br />
Der islamistische Terror verläuft an<br />
<strong>der</strong> Scheidelinie von Sunniten und Schiiten.<br />
Die Geschichte einer Entzweiung, die<br />
die Welt des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts vor ihre bisher<br />
größte Herausfor<strong>der</strong>ung stellt<br />
Malerei AHMED ALSOUDANI<br />
14<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Untitled, 2013
TITEL<br />
<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />
Der „<strong>Islam</strong>ische Staat“ marschiert. Die sunnitischen<br />
Dschihadisten von IS, die sich bisher<br />
Isis nannten, haben die Vororte von Bagdad<br />
in Angriff genommen. Leichen pflastern ihren<br />
Weg. Die vielen Morde an schiitischen „Apostaten“<br />
sind eine erstaunliche und erschreckende Folge jener<br />
großen Bewegung <strong>der</strong> arabischen Revolutionen, die im<br />
Frühling 2011 für so viel Begeisterung bei den Demokraten<br />
<strong>der</strong> ganzen Welt gesorgt haben. Vergessen wir<br />
aber nicht: Die IS-Gräuel finden in einer Zeit erdbebenartiger<br />
Verän<strong>der</strong>ungen des geopolitischen Gleichgewichts<br />
im Mittleren Osten statt, dessen Umrisse auf<br />
die beiden großen Weltkriege im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t zurückgehen.<br />
Zu den tektonischen Verschiebungen zählt<br />
die Gründung eines kurdischen Staates im Juni dieses<br />
Jahres. Seine Truppen haben die Kontrolle über die<br />
irakische Stadt Kirkuk übernommen, von wo aus Öl<br />
in die Türkei exportiert werden kann. Nun fehlt ihm<br />
nur noch ein Sitz bei den Vereinten Nationen. Der Kurdenstaat<br />
ist jedoch nur eine <strong>der</strong> vielen Verschiebungen.<br />
Man sollte sie alle zusammen betrachten.<br />
Zu ihnen zählt auch die Zersplitterung Syriens.<br />
Dort steht einem Gebiet an <strong>der</strong> Küste und rings um<br />
Damaskus, das vom Regime Baschar al Assads verwaltet<br />
wird, ein von den Rebellen dominiertes Hinterland<br />
gegenüber. Die jahrhun<strong>der</strong>tealte Konfiguration<br />
des Mittleren Ostens wird weiterhin umgeworfen<br />
durch die Spaltung des Irak in schiitische, kurdische<br />
und sunnitische Zonen mittels brutaler ethnisch-religiöser<br />
Säuberungen und die Entstehung eines sunnitischen<br />
„Dschihadistan“, das sich von Aleppo in Syrien<br />
bis Falludscha im Irak erstreckt.<br />
In diesem Kontext wäre ein Nuklearabkommen<br />
zwischen Amerika und dem Iran, wie es sich <strong>der</strong>zeit<br />
abzeichnet, eine heikle Sache. Die Ölmonarchien<br />
<strong>der</strong> Arabischen Halbinsel befürchten, in diesem Fall<br />
den Kürzeren zu ziehen und zusehen zu müssen, wie<br />
Obama sich mit Teheran versöhnt, gerade so wie Nixon<br />
es 1972 mit Peking tat. Und schließlich sind sich<br />
dieselben arabischen sunnitischen Län<strong>der</strong> innerhalb<br />
des Golf-Kooperationsrats uneins darüber, wie sie es<br />
mit den Muslimbrü<strong>der</strong>n halten wollen. Diese transnationale<br />
islamistische Organisation wird von Katar<br />
und dessen Sen<strong>der</strong> Al Dschasira, aber auch von<br />
Die islamische Zivilisation<br />
ist tief gespalten<br />
und kaum auf einen<br />
gemeinsamen Nenner<br />
zu bringen<br />
Erdogans Türkei unterstützt, während Saudi-Arabien<br />
sie bekämpft – aus Sorge, die aus dem Mittelstand rekrutierten<br />
lokalen Muslimbrü<strong>der</strong> würden die Dynastie<br />
in Riad stürzen.<br />
Der saudische Staat und seine Verbündeten finanzieren<br />
lieber in Kairo Marschall Sisi, <strong>der</strong> ein unerbittlicher<br />
Gegner <strong>der</strong> ägyptischen Muslimbrü<strong>der</strong> ist, mit<br />
einem Budget in Höhe von 13 Milliarden Dollar. Die<br />
gewaltige Summe ist das Zehnfache jenes Betrags, mit<br />
dem die Amerikaner Ägypten unterstützen. Dennoch<br />
wird diese Achse <strong>der</strong> „Rückkehr zur militärisch-konservativen<br />
Ordnung“, <strong>der</strong>en Schatzmeister in Riad sitzen,<br />
von Teheran beschuldigt, <strong>der</strong> größte Destabilisierungsfaktor<br />
<strong>der</strong> Region zu sein. Saudis und Ägypter,<br />
so lautet <strong>der</strong> iranische Vorwurf, unterstützten unter<br />
<strong>der</strong> Hand die Dschihadisten von IS, die sich zum Salafismus<br />
bekennen, <strong>der</strong> strengen sunnitischen Doktrin<br />
des saudischen Königreichs, <strong>der</strong> zufolge Schiiten als<br />
Apostaten den Tod verdienten.<br />
Fast immer, wenn <strong>der</strong> islamistische Terror sein<br />
Haupt erhebt, verläuft er an <strong>der</strong> Scheidelinie von Schiiten<br />
und Sunniten. Die Schiiten leiten sich vom arabischen<br />
Wort für Gruppe o<strong>der</strong> Fraktion ab. Sie waren<br />
eine Abspaltung von den Mehrheitsmuslimen. Sie<br />
folgten Ali, dem vierten Kalifen des <strong>Islam</strong>, dem Cousin<br />
und Schwiegersohn des Propheten. Nach dessen<br />
Ermordung im Jahr 661 hielten die Schiiten allein die<br />
Nachkommen Alis für legitime Kalifen. Später spalteten<br />
sich von ihnen die Alewiten ab. Die Sunniten hingegen<br />
knüpfen die Führung <strong>der</strong> muslimischen Gemeinschaft,<br />
<strong>der</strong> Umma, nicht an eine Abstammung aus <strong>der</strong><br />
Prophetenfamilie. Sie stehen in <strong>der</strong> Nachfolge jener<br />
vornehmen Familien <strong>der</strong> Aristokratie von Mekka, aus<br />
<strong>der</strong>en Reihen die ersten drei Kalifen hervorgegangen<br />
waren. Der Zwist zwischen den beiden Gruppierungen<br />
durchzieht die islamische Geschichte. Erst mit <strong>der</strong><br />
iranischen „<strong>Islam</strong>ischen Republik“ von 1979 aber erreichte<br />
dieser Gegensatz seine unermesslichen Tiefen.<br />
Um den Übergang von <strong>der</strong> etwas naiven Begeisterung<br />
für die „arabischen demokratischen Revolutionen“<br />
im Frühling 2011 zu den Massakern und den politisch-religiösen<br />
Rissen des Sommers 2014 zu verstehen,<br />
muss man sowohl die Fakten betrachten als auch die<br />
Art und Weise, wie man sich im Westen die arabischmuslimische<br />
Welt vorstellt. Unsere Eliten leiden unter<br />
zwei akademisch übertragbaren Krankheiten, die<br />
aus amerikanischen Universitäten stammen: dem Fukuyama-<br />
und dem Huntington-Syndrom.<br />
Die erste Erzählung, Fukuyamas „Ende <strong>der</strong> Geschichte“,<br />
strebt die universale Vorherrschaft <strong>der</strong> amerikanischen<br />
Normen in einer unipolaren Welt an. Bestärkt<br />
durch den EU-Beitritt <strong>der</strong> meisten ehemaligen<br />
sozialistischen Län<strong>der</strong> aus Mitteleuropa, wurde diese<br />
große Erzählung aus Bequemlichkeit herangezogen,<br />
um den „Arabischen Frühling“ des Jahres 2011 zu<br />
analysieren. Die Metapher bezieht sich sowohl auf den<br />
„Prager Frühling“ von 1968 als auf den „Frühling <strong>der</strong><br />
16<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Der Arabische Frühling<br />
galt vielen als Wun<strong>der</strong>,<br />
als Gemeinschaft von<br />
Facebook-Freunden<br />
ganz ohne Dschihad<br />
von Facebook-Freunden in einer virtuellen, einer letztlich<br />
irrealen Welt den Frieden finden.<br />
Die Wirklichkeit hat sich gerächt: Während Ben<br />
Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten und Gaddafi in<br />
Libyen gestürzt wurden, wehrten sich die Regierungen<br />
im Jemen, in Bahrein und Syrien erfolgreich gegen<br />
die demokratische Welle. Auch die Arabische Halbinsel<br />
duldete keine soziopolitische Bewegung, die den<br />
Ölexport hätte gefährden können. Der Antagonismus<br />
zwischen sunnitischen und schiitischen Staaten, zwischen<br />
arabischen und iranischen Hegemonialbestrebungen<br />
siegte rasch über die Begeisterung <strong>der</strong> zivilen<br />
Gesellschaften und <strong>der</strong> Internetnutzer. Sogar in Län<strong>der</strong>n<br />
wie Tunesien o<strong>der</strong> Ägypten, in denen die Despoten<br />
abgesetzt wurden, endeten die ersten demokratischen<br />
Wahlen mit einem Erfolg <strong>der</strong> Muslimbrü<strong>der</strong>. Sie<br />
hatten die Revolution zwar nicht begonnen, aber ihre<br />
Wohltätigkeitsnetzwerke, Krankenstationen, Schulen,<br />
Moscheen und Essensverteilungen brachten die meisten<br />
neuen Wähler dazu, für sie zu stimmen.<br />
Untitled, 2013<br />
Untitled, 2013<br />
Völker“ von 1848, zwei Ereignisse, <strong>der</strong>en unmittelbare<br />
Folgen fatal waren: <strong>der</strong> Einmarsch russischer Panzer<br />
in die ehemalige Tschechoslowakei und <strong>der</strong> Triumph<br />
reaktionärer und autoritärer Mächte, von Napoleon III.<br />
bis Franz Josef I. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo, auf<br />
<strong>der</strong> Avenue Bourguiba in Tunis, auf den Fernsehbildschirmen<br />
und bei Youtube hat man deshalb nur die jungen<br />
Leute <strong>der</strong> Mittelklasse und <strong>der</strong> Generation 2.0 sehen<br />
wollen. Sie sollten eine strukturelle Verän<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> arabischen Welt belegen, aus <strong>der</strong> <strong>der</strong> Dschihad<br />
und <strong>der</strong> Niqab, Al Qaida, Hamas und Hisbollah wie<br />
durch ein postmo<strong>der</strong>nes Wun<strong>der</strong> verschwunden wären.<br />
Stattdessen sollte eine universelle Gemeinschaft<br />
Nun schlug die Stunde <strong>der</strong> entgegengesetzten<br />
großen Erzählung, wonach es einen<br />
„Kampf <strong>der</strong> Kulturen“ gebe. In <strong>der</strong> Nachfolge<br />
Samuel Huntingtons sah <strong>der</strong> Westen<br />
einen Kampf zwischen unserer jüdisch-christlichen<br />
Demokratie und ihrer unausrottbaren islamischen<br />
Theokratie. Die Wirklichkeit ist komplexer. Die angeblich<br />
antiwestlich gesinnte islamische Zivilisation<br />
ist in Wahrheit tief gespalten. Schiiten stehen gegen<br />
Sunniten, Araber gegen Iraner. Auch Türken, Kurden,<br />
Alawiten, Muslimbrü<strong>der</strong> und Salafisten sind kaum auf<br />
einen gemeinsamen Nenner zu bringen.<br />
Wer die Massaker im Irak und die territoriale Neuvermessung<br />
am Persischen Golf verstehen will, muss<br />
den politischen <strong>Islam</strong>ismus begreifen. Dessen aktuelle<br />
Ausprägung ergibt sich unmittelbar aus den Wi<strong>der</strong>sprüchen<br />
bei <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Muslimbrü<strong>der</strong> – ob es<br />
nun die Feindschaft mit dem Westen ist o<strong>der</strong> die mit<br />
ihm geschlossenen Kompromisse sind und die tiefen,<br />
selbstzerstörerischen inneren Konflikte.<br />
Als Geburtsstunde <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen islamistischen<br />
Bewegungen gilt das Jahr 1928. Damals gründete <strong>der</strong><br />
ägyptische Grundschullehrer Hasan al Banna den Verein<br />
<strong>der</strong> Muslimbrü<strong>der</strong>. Er tat es in Ismailia, am Ufer des<br />
Suezkanals, am Sitz <strong>der</strong> internationalen Kanalgesellschaft,<br />
einem Symbol <strong>der</strong> europäischen Kolonisation.<br />
Die Muslimbrü<strong>der</strong> wollten auf den Ruinen <strong>der</strong> kolonialen<br />
Herrschaft einen islamischen Staat gründen. Die<br />
weltlichen Parteien hingegen traten für einen unabhängigen<br />
Staat ein, dessen Regierung von <strong>der</strong> politischen<br />
Philosophie <strong>der</strong> Aufklärung inspiriert sein sollte. Wie<br />
auch die sozialistischen, kommunistischen und faschistischen<br />
Bewegungen verdankt die Bru<strong>der</strong>schaft ihre<br />
Verbreitung sozialen und wohltätigen Aktivitäten. Sie<br />
verbündete sich mit <strong>der</strong> ägyptischen Monarchie gegen<br />
die große nationalistisch-laizistische Partei.<br />
17<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Untitled, 2013
TITEL<br />
<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />
In <strong>der</strong> chaotischen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
verübt die Bru<strong>der</strong>schaft politische Morde. Ihr<br />
geistlicher Führer Hasan al Banna wird 1949 erschossen.<br />
Als Nasser mit seinen Freien Offizieren im Jahre<br />
1952 <strong>der</strong> Staatsstreich gelingt, stehen einige Muslimbrü<strong>der</strong><br />
ihnen nahe. Dennoch wird die Vereinigung<br />
1954 nach einem gegen Nasser gerichteten, den Brü<strong>der</strong>n<br />
angerechneten Attentat aufgelöst. Ihre Hauptführer<br />
werden erhängt und <strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong> leitenden<br />
Anhänger in ein Lager geschickt. An<strong>der</strong>en gelingt es,<br />
in die Königreiche des Öls zu fliehen, da diese die von<br />
Nasser mit sowjetischer Hilfe errichtete sozialistische<br />
Staatsform ablehnen.<br />
Aus dieser schwierigen Zeit stammt die Märtyrer-<br />
Legende <strong>der</strong> Muslimbrü<strong>der</strong>. Ihr Führer Sayyid Qutb<br />
begründet mit seiner eigenen Erfahrung im Staatsgefängnis,<br />
in dem Folter an <strong>der</strong> Tagesordnung war, seine<br />
Kritik am unabhängigen Staat, spricht ihm jeglichen<br />
muslimischen Charakter ab. Er ruft zu dessen Bekämpfung<br />
auf wie einstmals <strong>der</strong> Prophet. Mohammed wollte<br />
das sündige und götzendienerische Mekka zerstören,<br />
um aus den Ruinen den ursprünglichen islamischen<br />
Staat wie<strong>der</strong> aufzurichten. In seinem Manifest „Meilensteine“<br />
– dem „Was tun?“ <strong>der</strong> islamistischen Bewegung<br />
– for<strong>der</strong>t Sayyid Qutb den bewaffneten Kampf<br />
gegen die „ungläubigen“ Regierungen, die aus <strong>der</strong> Unabhängigkeitsbewegung<br />
entstanden sind. Nasser lässt<br />
ihn 1966 erhängen.<br />
Die furchtbare Nie<strong>der</strong>lage Ägyptens aber gegen<br />
Israel während des Sechstagekriegs im Juni 1967 ruiniert<br />
Nassers Ansehen. Die Muslimbrü<strong>der</strong> sehen darin<br />
ein Strafgericht Allahs über den sündigen Pharao,<br />
<strong>der</strong> Qutb verfolgen ließ. Nachfolger Sadat schenkt den<br />
Brü<strong>der</strong>n die Freiheit. Zugleich instrumentalisiert er<br />
sie, um die linken und weltlichen Aktivisten aus den<br />
Universitäten und Gewerkschaften vertreiben zu können.<br />
Sie verleihen dem „gläubigen Präsidenten“ eine<br />
ebenso wertvolle wie paradoxe Legitimität. Letztlich<br />
ist es ihre Unterstützung, die Sadat in die Lage versetzt,<br />
mit Israel ein Friedensabkommen zu schließen<br />
und den jüdischen Staat anzuerkennen – für die Muslimbrü<strong>der</strong><br />
eine teuflische Gräueltat. Die Unterzeichnung<br />
des Friedensvertrags lässt sie denn auch in den<br />
entschlossenen Wi<strong>der</strong>stand gegen Sadat eintreten. Eine<br />
ihr nahestehende radikale Gruppierung ermordet ihn<br />
im Oktober 1981. Danach prägt Gewalt die Beziehungen<br />
zwischen amtierenden Regierungen und islamistischen<br />
Organisationen. Man erkennt somit seit den Anfängen<br />
dieser Bewegung ihre Ambivalenz, das Ausmaß<br />
ihrer Kompromissbereitschaft mit den Feinden ihrer<br />
Feinde, selbst wenn das Endziel die Errichtung eines<br />
islamistischen Staates bleibt.<br />
Dennoch entsteht dieser nicht in Ägypten, wo Mubarak<br />
Nachfolger Sadats wird. Die islamische Revolution<br />
bricht stattdessen 1978 im Iran aus. Sie wird<br />
Ajatollah Chomeini an die Macht bringen. Diese Revolution<br />
ist nur im geringen Maße von <strong>der</strong> Doktrin <strong>der</strong><br />
Mohammed wollte<br />
das sündige Mekka zerstören,<br />
um den islamischen<br />
Staat aus Ruinen<br />
wie<strong>der</strong> aufzurichten<br />
Muslimbrü<strong>der</strong> beeinflusst und eher dem Schiismus zuzurechnen.<br />
Der Klerus spielt eine tragende Rolle. Seine<br />
Hierarchie funktioniert fast wie eine Revolutionspartei<br />
leninistischer Art, um den Schah zu stürzen und nach<br />
und nach alle Gegner <strong>der</strong> Theokratie zu eliminieren.<br />
Von Anfang an bedroht dieser schiitische radikale <strong>Islam</strong>,<br />
allen Hasstiraden gegen den „großen Satan“ in<br />
Übersee zum Trotz, eher die konservativen sunnitischen<br />
Regierungen <strong>der</strong> nahen Arabischen Halbinsel,<br />
vor allem die saudische Dynastie. Auf <strong>der</strong>en Bitte hin<br />
beginnt <strong>der</strong> sunnitische Führer Saddam Hussein, von<br />
westlichen Mächten umhegt, 1980 den Irak-Iran-Krieg,<br />
den „Ersten Golfkrieg“. Er dauert acht Jahre. Beide<br />
Län<strong>der</strong> bluten aus, die iranische Expansion wird gebremst,<br />
kann jedoch im Libanon mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong><br />
Hisbollah innerhalb <strong>der</strong> schiitischen Gemeinschaft Fuß<br />
fassen. Diese bewaffnete Bewegung wird zu Teherans<br />
Arm gegen die westlichen Interessen und gegen Israel.<br />
Während <strong>der</strong> Krieg zwischen dem sunnitisch<br />
regierten Bagdad und dem schiitischen<br />
Teheran in den achtziger Jahren<br />
kein Ende findet, entsteht in Afghanistan<br />
eine neue Front des <strong>Islam</strong>ismus. An Weihnachten 1979<br />
war die Rote Armee einmarschiert. Sunnitische afghanische<br />
Kämpfer, denen sich „internationale dschihadische<br />
Brigaden“ überwiegend aus Algerien, Ägypten, Saudi-<br />
Arabien und dem Pakistan anschließen, führen einen<br />
Guerillakrieg gegen die sowjetischen Truppen. Der afghanische<br />
Dschihad ist das symbolträchtigste Ereignis<br />
des bewaffneten <strong>Islam</strong>ismus am Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
Der Rückzug <strong>der</strong> UdSSR Anfang 1989 verleiht<br />
ihm enormes Ansehen und kündigt nebenbei den Zusammenbruch<br />
<strong>der</strong> sowjetischen Welt an; die Berliner<br />
Mauer fällt am 9. November. Dieser neue <strong>Islam</strong>ismus<br />
wird von <strong>der</strong> CIA ausgestattet und von den sunnitischen<br />
Ölmonarchien <strong>der</strong> Golfregion finanziert.<br />
Letztere schlagen so zwei Fliegen mit einer<br />
Klappe: Sie helfen bei <strong>der</strong> Zerschlagung des Kommunismus<br />
und gebärden sich noch radikaler islamistisch<br />
als <strong>der</strong> revolutionäre Iran. Um sich als Herold <strong>der</strong> gekränkten<br />
islamischen Welt zu profilieren, wird Chomeini<br />
am 14. Februar 1989 die berühmte Fatwa gegen<br />
Salman Rushdie erlassen. Der Roman „Die satanischen<br />
19<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
TITEL<br />
<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />
Verse“ soll blasphemisch sein. Die Fatwa zieht die mediale<br />
Aufmerksamkeit auf sich und stellt das Ereignis<br />
des darauffolgenden Tages, den sowjetischen Rückzug,<br />
in den Schatten. Dennoch wird das Debakel <strong>der</strong> Invasoren<br />
die größere Langzeitwirkung haben und dem<br />
Dschihadismus Dynamik verleihen. In den USA gibt<br />
man sich <strong>der</strong> trügerischen Hoffnung hin, das Phänomen<br />
verschwinde, wenn <strong>der</strong> Geldstrom aus Washington<br />
erlischt. Doch die bärtigen „Freiheitskämpfer“ gegen<br />
die Sowjetunion werden sich zehn Jahre später in<br />
die Terroristen des 11. Septembers verwandelt haben<br />
und in genau jene Hand beißen, die sie gefüttert hatte.<br />
In den neunziger Jahren versuchen die ehemaligen<br />
Dschihadisten aus Afghanistan neue Fronten zu eröffnen<br />
– beson<strong>der</strong>s in Algerien, Bosnien, Ägypten.<br />
Aber obwohl <strong>der</strong> Bürgerkrieg in Algerien die Regierung<br />
beinahe zum Zusammensturz bringt und über<br />
100 000 Tote verursacht, können sie die Bevölkerung<br />
nicht auf ihre Seite ziehen. So entsteht eine Dschihad-Bewegung<br />
ohne geografische Verankerung, die<br />
die digitalen Kommunikationsverbindungen nutzt. Sie<br />
erstreckt sich von Afghanistan, wohin sich die wichtigsten<br />
arabischen Führer des Dschihads zurückgezogen<br />
haben, bis nach „Londonistan“, wie ihr Refugium<br />
in <strong>der</strong> britischen Hauptstadt genannt wird. Der Saudi<br />
Osama bin Laden und <strong>der</strong> Ägypter Aiman al Zawahiri<br />
erreichen eine zweifelhafte internationale Berühmtheit<br />
unter dem Namen Al Qaida („Die Basis“).<br />
Die Attentate vom 11. September seien geplant<br />
als Reaktion gegen das Unvermögen <strong>der</strong> Dschihadisten,<br />
die muslimischen Massen für sich zu mobilisieren,<br />
The Ruler, 2013<br />
erklärt Zawahiri in seinem Manifest „Ritter unter dem<br />
Banner des Propheten“. Der spektakuläre Charakter<br />
des Angriffs, <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Zeichensprache von Hollywood<br />
bedient, sichert ihm weltweite Wirkung und soll<br />
zeigen, dass Amerika ein Koloss auf tönernen Füßen<br />
sei, unfähig, die Verbündeten in <strong>der</strong> arabisch-muslimischen<br />
Welt zu verteidigen. Die Massen <strong>der</strong> Gläubigen<br />
sollen die USA nicht mehr fürchten, Mubarak und<br />
Konsorten stürzen und aus den Trümmern den islamischen<br />
Staat errichten.<br />
Gleichzeitig wird in <strong>der</strong> sunnitischen dschihadistischen<br />
Weltanschauung <strong>der</strong> Angriff gegen New York<br />
und Washington nach dem Sieg über die sowjetischen<br />
Truppen wie ein Remake <strong>der</strong> heiligen Geschichte<br />
des <strong>Islam</strong> erlebt: Die Ritter des Propheten und seiner<br />
Nachfolger besiegten hintereinan<strong>der</strong> die beiden Supermächte<br />
<strong>der</strong> damaligen Zeit, erst das Sassaniden-, dann<br />
das byzantinische Reich. Die Fantasie <strong>der</strong> Gläubigen<br />
wird <strong>der</strong>art stark angeregt, dass <strong>der</strong> 11. September für<br />
viele Berufungen verantwortlich ist und Al Qaida eine<br />
hohe Zahl von jungen islamistischen Rekruten weltweit<br />
sichern konnte – wenngleich er nirgends zur Errichtung<br />
eines islamistischen Staates beitrug.<br />
Die Kamikaze-Dimension des Angriffs, bei dem<br />
<strong>der</strong> Dschihadist sein Leben für den heiligen Terrorismus<br />
opfert, wurde innerislamisch kritisiert, vor allem<br />
von dem Saudi-Arabien treu ergebenen salafistischen<br />
Establishment. Der Schlüsselbegriff, um den so erbittert<br />
gerungen wird, ist <strong>der</strong> Dschihad. Er bezeichnet im<br />
<strong>Islam</strong> die religiöse Pflicht, den Glauben zu verbreiten.<br />
Der Prophet, <strong>der</strong> alle islamischen Tugenden vereint, war<br />
bezeichnen<strong>der</strong>weise beides, ein entschiedener Krieger<br />
und ein Staatsgrün<strong>der</strong>. Die heiligen Texte des <strong>Islam</strong> dokumentieren<br />
in großer Ausführlichkeit seine Schlachten<br />
und seine Unbarmherzigkeit gegenüber den Feinden,<br />
beson<strong>der</strong>s wenn diese als „Ungläubige“ o<strong>der</strong> „Apostaten“<br />
zum Tode verurteilt wurden. Die wörtliche Auslegung<br />
eines solchen Brachial-<strong>Islam</strong> liefert die Rechtfertigung<br />
für die Gewaltakte <strong>der</strong> Dschihadisten, vom<br />
Afghanistan <strong>der</strong> achtziger Jahre bis hin zum neu ausgerufenen<br />
„<strong>Islam</strong>ischen Kalifat“ von IS im Juli 2014.<br />
Auch die Attentate von Nairobi, Bali, Madrid, London,<br />
die die Welt zu Beginn des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts in<br />
Angst und Schrecken versetzen, finden in Saudi-Arabien<br />
keine Zustimmung: Der <strong>Islam</strong>, heißt es, verbiete<br />
den Selbstmord. Durch ihre Radikalität for<strong>der</strong>n die<br />
Terroristen die saudische Vormachtstellung über den<br />
sunnitischen <strong>Islam</strong>ismus heraus. So bedrohte Al Qaida<br />
zwischen 2003 und 2006 auf <strong>der</strong> Arabischen Halbinsel<br />
die Riad-Monarchie durch eine umfassende terroristische<br />
Kampagne. Die eindrücklichsten Selbstmordaktionen<br />
sind aber <strong>der</strong> palästinensischen Hamas und <strong>der</strong><br />
schiitischen libanesischen Hisbollah zuzuschreiben.<br />
Beide sind mit dem Iran verbunden und verbessern<br />
so die Position Teherans im Kampf um die muslimische<br />
Hegemonie gegenüber den sunnitischen Feinden<br />
aus den Ölmonarchien in <strong>der</strong> Golfregion.<br />
Malerei: Ahmed Alsoudani/ Courtesy: VW (Veneklasen/Werner), Berlin (Seiten 15 bis 20); Foto: DDP<br />
20<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
MILITANTER ISLAM<br />
MUSLIMBRÜDER<br />
Die Muslimbru<strong>der</strong>schaft ist die Mutterorganisation des<br />
politischen <strong>Islam</strong>. Von einer kleinen Gruppe um den<br />
Grundschullehrer Hasan al Banna 1928 in Ägypten<br />
gegründet, propagiert sie eine „Rückkehr zum <strong>Islam</strong>“.<br />
In kurzer Zeit wuchs die Bru<strong>der</strong>schaft zur Massenbewegung,<br />
die Wohlfahrtsorganisationen betreibt, aber<br />
auch versucht, Armee und Verwaltung zu infiltrieren.<br />
2012 gewann <strong>der</strong> Muslimbru<strong>der</strong> Mohammed al Mursi<br />
die Präsidentenwahl. Ein Jahr später setzte die Armee<br />
ihn ab. Wie schon oft in ihrer Geschichte werden die<br />
Muslimbrü<strong>der</strong> erneut brutal verfolgt.<br />
HAMAS<br />
Seit ihrem Wahlsieg 2006 regiert Hamas über den<br />
Ga zastreifen. 1987 von Achmed Yassin als Zweig <strong>der</strong><br />
Muslimbru<strong>der</strong>schaft und als Opposition gegen die<br />
säkulare PLO gegründet, setzte auch Hamas auf eine<br />
Kombination von Sozialleistungen und Gewalt. Ihre<br />
Charta ruft zur Vernichtung Israels auf – nach <strong>der</strong><br />
Unterzeichnung des Osloer Abkommens 1993 war sie<br />
für zahlreiche Selbstmordattentate in Israel verantwortlich.<br />
Nachdem Israel den Gazastreifen abgeriegelt<br />
hat, um weitere Attentate zu verhin<strong>der</strong>n, verlegt sie<br />
sich auf regelmäßigen Raketenbeschuss.<br />
HISBOLLAH<br />
Die „Partei Gottes“ sieht sich als eine <strong>der</strong> wichtigsten<br />
Vertreterinnen <strong>der</strong> schiitischen Bevölkerung des Libanon.<br />
Sie wurde 1982 mit iranischer Unterstützung gegründet<br />
und ist zu einer Art Staat im Staat geworden. Hisbollah<br />
ist im Parlament und in <strong>der</strong> Regierung vertreten und<br />
unterhält auch die schlagkräftigste Miliz des Nahen<br />
und Mittleren Ostens, die zurzeit an <strong>der</strong> Seite Baschar<br />
al Assads in Syrien kämpft und ein gegen Israel gerichtetes<br />
Raketenarsenal im Süden Libanons unterhält.<br />
Hisbollah wird für zahlreiche Attentate auch außerhalb<br />
des Nahen Ostens verantwortlich gemacht.<br />
AL QAIDA<br />
„Die Basis“ ist seit den Anschlägen vom 11. September 2001<br />
die wohl bekannteste Terrororganisation. Von Osama<br />
bin Laden 1988 gegründet, richtete sie sich zunächst<br />
gegen die Präsenz von US-Truppen auf saudischem<br />
Boden. Später kam die Verteidigung des <strong>Islam</strong> mit einem<br />
Dschihad gegen „Ungläubige“ hinzu. Seit dem Tod bin<br />
Ladens am 2. Mai 2011 gilt <strong>der</strong> Ägypter Ayman al Zawahiri<br />
als Kopf einer Dachorganisation, unter <strong>der</strong> sich inzwischen<br />
zahlreiche regionale Dschihadisten-Gruppierungen<br />
wie „Al Qaida im Zweistromland“ im Irak o<strong>der</strong> „Al Qaida<br />
auf <strong>der</strong> Arabischen Halbinsel“ im Jemen gebildet haben.<br />
ISIS ODER IS<br />
Aus einer dieser „Untergruppierungen“, <strong>der</strong> „ Al-Qaida<br />
im Irak“, ging die dschihadistische Terrororganisation<br />
„<strong>Islam</strong>ischer Staat in Irak und Syrien“ hervor. Sie strebt<br />
die Errichtung eines islamischen Kalifats an, das den<br />
Irak und Syrien, aber auch Jordanien, Libanon und<br />
Israel/Palästina umfasst. Im syrischen Bürgerkrieg<br />
kämpft sie gegen Baschar al Assad, aber auch gegen<br />
die freie syrische Armee und Kurden im Norden des<br />
Landes. Im Irak eroberte sie jüngst weite Teile des sunnitischen<br />
Nordens mit <strong>der</strong> Stadt Mosul. Seit Mai 2010<br />
ist Abu Bakr al Baghdadi ihr Anführer.<br />
Die Reaktion <strong>der</strong> USA auf den 11. September bestand<br />
darin, zwei Jahre später in Saddam Husseins Irak<br />
einzumarschieren. Den Vorwand gaben eine vage Verbundenheit<br />
mit dem Dschihadismus ab und <strong>der</strong> Verdacht,<br />
<strong>der</strong> Diktator besitze Massenvernichtungswaffen.<br />
Die Besatzung Iraks diente <strong>der</strong> Regierung Bush, nach<br />
dem Tod Husseins einen schiitisch dominierten Staat<br />
zu errichten. Durch einen solchen Gegenpol wollte<br />
man das sunnitische Saudi-Arabien bestrafen, da 15<br />
<strong>der</strong> 19 Selbstmordattentäter vom 11. September aus<br />
diesem Land gekommen waren. Außerdem sollte <strong>der</strong><br />
Weltmarkt mit irakischem Öl versorgt werden. Schließlich<br />
sah man in einem proamerikanischen, prosperierenden<br />
schiitischen Staat ein Vorzeigemodell, das die<br />
iranischen Bürger ermuntern sollte, die Mullahs zu<br />
stürzen. Diese naive Wahrnehmung basierte auf <strong>der</strong><br />
Erfahrung mit <strong>der</strong> Übergangssituation im sowjetischen<br />
Osteuropa. Ein großes Chaos im Irak war das Resultat,<br />
die jüngsten Ausläufer sind die Mordaktionen von IS.<br />
Paradoxerweise stärkte also die amerikanische Sichtweise<br />
den Iran, den man einhegen wollte.<br />
Der „Arabische Frühling“ hat den Akteuren<br />
<strong>der</strong> zivilen Gesellschaft ermöglicht, sich für<br />
die Demokratie einzusetzen. Er gefährdet<br />
aber seit 2012 das geopolitische Gleichgewicht<br />
<strong>der</strong> Region, indem er die Län<strong>der</strong>, in denen er<br />
sich ereignet, schwächt und die Karten neu verteilt.<br />
Die sunnitischen Dschihadisten sehen sich als Kin<strong>der</strong><br />
bin Ladens, lassen sich aber in die Machtkämpfe in<br />
Syrien und Irak hineinziehen, während Al Qaida eine<br />
transnationale Organisation war. Sie gefährden Teheran<br />
durch den Druck, den sie auf Assad in Syrien und<br />
Maleki im Irak zu jenem Zeitpunkt ausüben, da die<br />
Verhandlungen zwischen Iran und den USA zu Ende<br />
gehen. Sollten diese erfolgreich abgeschlossen werden,<br />
sähen sich die sunnitischen Öl-Königreiche <strong>der</strong> Arabischen<br />
Halbinsel geschwächt. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />
mussten die schiitischen <strong>Islam</strong>isten <strong>der</strong> libanesischen<br />
Hisbollah, die den Druck auf Israel konstant halten sollen,<br />
militärisch gegen die syrische sunnitische Revolution<br />
eingreifen. Damit wurde die Stellung Assads gesichert,<br />
<strong>der</strong> Druck auf Israel wie<strong>der</strong>um gelockert. Israel<br />
kann nun dank des syrischen Engagements <strong>der</strong> Hisbollah<br />
ungehin<strong>der</strong>t die Hamas bekämpfen.<br />
Momentan sind Muslime die Hauptopfer <strong>der</strong> islamistischen<br />
Terrorbewegungen. Europa aber wäre gut<br />
beraten, ernsthaft über eine zentrale Frage nachzudenken:<br />
Was bedeutet die Rückkehr vieler Tausen<strong>der</strong><br />
europäischer IS-Kämpfer in die europäischen Staaten?<br />
Übersetzung: Dorothée Pschera<br />
GILLES KEPEL ist Professor am Institut<br />
d’études politiques de Paris. Er widmet sich seit<br />
30 Jahren <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen muslimischen Welt und<br />
schrieb u. a. „Das Schwarzbuch des Dschihad“<br />
und „Die Spirale des Terrors“<br />
21<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
TITEL<br />
Kommentar<br />
TOTALITÄRE<br />
RELIGION<br />
Mo<strong>der</strong>ne Zivilisation<br />
bedeutet die freie<br />
Gesellschaft des christlichjüdischen<br />
Kulturkreises.<br />
Der <strong>Islam</strong> aber funktioniert<br />
wie eine reaktionäre<br />
Zeitmaschine<br />
Von<br />
FRANK A. MEYER<br />
Wie lautete er gleich wie<strong>der</strong>, jener Satz des byzantinischen<br />
Kaisers Manuel II. Palaiologos,<br />
den Papst Benedikt XVI. bei <strong>der</strong> ominösen<br />
Regensburger Vorlesung im September 2006 zitierte?<br />
„Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht<br />
hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes<br />
finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben,<br />
den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.“<br />
Für den damaligen Bischof von Rom wurde <strong>der</strong><br />
Auftritt zum PR-Desaster. Wie steht es heute mit dem<br />
acht Jahre alten Zitat, mit dem 600 Jahre alten Satz?<br />
Bewahrheitet sich die Aussage nicht tagtäglich?<br />
Der <strong>Islam</strong> wütet durch nahezu sämtliche Regionen,<br />
die er religiös bestimmt: Massaker unter Muslimen,<br />
Terror gegen An<strong>der</strong>sgläubige, Entführung von<br />
Mädchen, Erniedrigung von Frauen, Vernichtung von<br />
Kulturgut, Versklavung von Arbeitern.<br />
Die Liste ist endlos. Der <strong>Islam</strong> beherrscht die<br />
Nachrichten, noch immer und weiterhin.<br />
Der <strong>Islam</strong>?<br />
Unter Linken, Grünen und Linksliberalen gilt die<br />
Sprachregelung, dass <strong>der</strong>lei Schrecken, wie sie Tag und<br />
Nacht aus Allahs Hoheitsgebieten zu vermelden sind,<br />
nichts, aber auch gar nichts mit dem <strong>Islam</strong> zu tun haben,<br />
dass es sich vielmehr um <strong>Islam</strong>ismus handle, um<br />
Dschihadismus gar, welcher – zugegeben – das Böse<br />
sei, ganz im Gegensatz jedoch zum friedfertigen und<br />
wohltätigen <strong>Islam</strong>. Denn diese Religion sei gut.<br />
Es war Benedikts Fehler, dass er sich in Regensburg<br />
nicht an solchen Neusprech hielt. Es ist <strong>der</strong> Fehler<br />
<strong>der</strong> muslimischen <strong>Islam</strong>kritiker Necla Kelek und<br />
Hamed Abdel-Samad, wie es überhaupt <strong>der</strong> Fehler ist<br />
von allen, die in Mohammeds Verkündigung den Schoß<br />
erblicken, aus dem das Ungeheuer kroch und kreucht<br />
und kriechen wird.<br />
Könnte es sein, dass es so ist, wie es scheint?<br />
Könnte es sein, dass eine historisch heillos verspätete<br />
Religion die Gegenwart mit ihrer For<strong>der</strong>ung<br />
heimsucht, die Geschichte müsse zurückgedreht werden<br />
um mindestens 300 Jahre, nämlich in die Zeit vor<br />
<strong>der</strong> Aufklärung?<br />
Könnte es sein, dass <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> wie eine reaktionäre<br />
Zeitmaschine funktioniert?<br />
Der Koran-Komplex, zu dem die Scharia und die<br />
sogenannten Überlieferungen zu zählen sind, erhebt<br />
unverblümt Anspruch auf Macht sowohl über die Gesellschaft<br />
wie über den Gläubigen. Also die totale<br />
Macht über das menschliche Leben – totalitäre Macht,<br />
wie keine säkulare Despotie o<strong>der</strong> Diktatur sie je auszuüben<br />
imstande war.<br />
Aber so funktioniert nun einmal jede Religion mit<br />
politischem Herrschaftsanspruch: Sie sichert das gesellschaftliche<br />
Gefängnis hermetisch ab, bis hinein in die<br />
Seele des Menschen, so dass er seine Unterwerfung als<br />
Glaubensakt erfährt. Tief verschleierte Frauen, die erklären,<br />
sie stülpten sich Burka, Tschador o<strong>der</strong> Hidschab<br />
freiwillig über, liefern dazu das Sinnbild.<br />
Mo<strong>der</strong>ne Zivilisation dagegen bedeutet nichts an<strong>der</strong>es<br />
als die freie Gesellschaft des jüdisch-christlichen<br />
Kulturkreises. Was wie<strong>der</strong>um bedeutet: blühende Forschung<br />
und Wissenschaft und Literatur und Philosophie<br />
und Kunst und überhaupt die unbändige Lust an<br />
Verän<strong>der</strong>ung und Entwicklung.<br />
Das Resultat ist das, was Karl Popper, <strong>der</strong> größte<br />
Philosoph <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Demokratie, die „offene Gesellschaft“<br />
genannt hat. Popper meinte damit eine Gesellschaft,<br />
die sich nach dem Prinzip Versuch und Irrtum<br />
entwickelt – allein dieses Prinzip ist in den Augen<br />
islamischer Rechtgläubiger des Teufels.<br />
Doch exakt dieses Prinzip, seit den Frühzeiten <strong>der</strong><br />
Aufklärung sukzessive eingeübt – und nicht zuletzt gegen<br />
die katholische Kirche durchgesetzt –, begründet<br />
den gewaltigen Erfolg <strong>der</strong> westlichen Welt sowie ihre<br />
Distanz zur islamischen Kultur.<br />
So pflegt das Prinzenpack <strong>der</strong> arabischen Despotien<br />
zwar über iPhone zu kommunizieren – die eigene<br />
Kultur aber ist zu keiner vergleichbaren technischen<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
22<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Anzeige<br />
Leistung fähig. Auch inszenieren sich die Protz-Potentaten<br />
weltweit als Investoren – für die Arbeit zu<br />
Hause aber sind sie angewiesen auf die Fachkräfte aus<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft <strong>der</strong> Ungläubigen. Mit ihren Fonds, gesättigt<br />
durch Ausbeutung fossiler Energieträger, kaufen<br />
sie sich ein in westliche Unternehmen – verbieten<br />
ihren Frauen aber das Autofahren.<br />
Während die computergetriebene Börse die Abwicklung<br />
globaler Geschäfte in Nanosekunden ermöglicht,<br />
in <strong>der</strong> permanenten Gleichzeitigkeit, in <strong>der</strong> absoluten<br />
Jetztzeit, lebt <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> ein Bewusstsein, dessen<br />
historische Zeitzone Hun<strong>der</strong>te von Jahren zurückliegt.<br />
Für die Menschen dieses Kulturraums tief im Brunnen<br />
<strong>der</strong> Vergangenheit bedeutet das: Behin<strong>der</strong>ung von<br />
Intelligenz, von Neugierde, von Ehrgeiz, von Eigenverantwortung<br />
– von Leben! Und zwar nicht nur für<br />
Frauen, denen ja schon das Kopftuch jedes spontane<br />
und neugierige Wechseln <strong>der</strong> Blickrichtung erschwert.<br />
Nein, auch Männer, zumal die jungen, werden in<br />
ihrer Entwicklung gehemmt durch die vom Koran gelehrte<br />
Selbstgewissheit: Es genügt, dass ich ein Mann<br />
bin! Konsequenz dieser jämmerlichen Macho-Identität<br />
ist die Unterdrückung <strong>der</strong> Frau – ein männliches Erziehungsrecht,<br />
das laut Koran-Sure 4,34 die körperliche<br />
Züchtigung einschließt.<br />
All die Dogmen sind bis heute gültig, und zwar so<br />
sehr gültig, dass die von westlichen Unternehmen hofierten<br />
arabischen Geschäftspartner nach ihrer Rückkehr<br />
von Meetings in Zürich, Frankfurt o<strong>der</strong> London<br />
Dschihadisten finanzieren: Saudi-Arabien und Katar<br />
betätigen sich seit Jahren als Mäzene <strong>der</strong> mör<strong>der</strong>ischen<br />
Feinde von Demokratie und Rechtsstaat.<br />
Wenn dies aber mit dem richtig verstandenen <strong>Islam</strong><br />
nichts zu tun hätte, wie es uns das Mantra <strong>der</strong><br />
deutschen Berufstoleranzler unablässig weiszumachen<br />
versucht, dann müsste es doch irgendwo und irgendwann<br />
muslimische Auflehnung gegen den Missbrauch<br />
ihrer Religion geben: Bewegungen von Tausenden und<br />
Zehntausenden, ja Millionen Gläubigen, die Massaker<br />
und Terror nicht weiter hinzunehmen gewillt sind –<br />
und diesem Unwillen auch Ausdruck verleihen.<br />
Wo sind sie?<br />
Wann immer in westlichen Demokratien politisches<br />
Unrecht geschieht, strömen Bürgerinnen und<br />
Bürger ins Freie und lehren ihre Eliten das Fürchten –<br />
sei es in Washington, Berlin o<strong>der</strong> Tel Aviv.<br />
Vergleichbar massenhafte Manifestationen von<br />
Muslimen gegen muslimische Macht – sie würden das<br />
Ankommen des <strong>Islam</strong> im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t bedeuten.<br />
Bundespräsident Christian Wulff hinterließ nach<br />
seiner kurzen Amtszeit einen einzigen bemerkenswerten<br />
Satz: „Der <strong>Islam</strong> gehört zu Deutschland.“<br />
Es war die Antwort auf die falsche Frage. Die richtige<br />
Frage lautet: „Gehört <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> in unsere Zeit?“<br />
FRANK A. MEYER ist Journalist und Gastgeber<br />
<strong>der</strong> politischen Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat
TITEL<br />
<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />
„KEIN ISLAM OHNE<br />
ISLAMISMUS“<br />
Religion des Friedens o<strong>der</strong><br />
Anstiftung zur Gewalt?<br />
Der <strong>Islam</strong>kritiker Hamed<br />
Abdel-Samad und die<br />
<strong>Islam</strong>wissenschaftlerin und<br />
Religionspädagogin Lamya<br />
Kaddor im Streitgespräch<br />
Mo<strong>der</strong>ation ALEXANDER KISSLER<br />
und ALEXANDER MARGUIER<br />
Herr Abdel-Samad, sind Sie eigentlich noch Muslim?<br />
Hamed Abdel-Samad: In einem konfessionellen<br />
Sinn gewiss nicht, kulturell schon eher. Ich habe mir<br />
den <strong>Islam</strong> nicht ausgesucht, aber er fließt gewissermaßen<br />
durch meine A<strong>der</strong>n. Ich bekomme ihn nicht los.<br />
<strong>Ist</strong> es denn überhaupt möglich, aus dem <strong>Islam</strong><br />
auszutreten?<br />
Lamya Kaddor: Das kommt auf die Perspektive an<br />
und wie man einen solchen Austritt versteht. Viele islamische<br />
Theologen bejahen dieses Recht, an<strong>der</strong>e lehnen<br />
es ab.<br />
Abdel-Samad: Das ist typisch für den <strong>Islam</strong>. Man<br />
findet immer jemanden, <strong>der</strong> haarklein begründet, warum<br />
eine Sache so und nicht an<strong>der</strong>s sein müsse – und<br />
man findet jemanden, <strong>der</strong> das Gegenteil ebenso islamisch<br />
begründet.<br />
Kaddor: In allen Religionen gibt es verschiedene<br />
Interpretationen. Das ist nichts Beson<strong>der</strong>es.<br />
Abdel-Samad: Nur <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> aber tritt mit dem<br />
Anspruch auf, er sei das letzte und endgültige Wort<br />
Gottes. Wenn Gott im Koran ein für alle Mal gesprochen<br />
haben soll, muss ich erwarten können, dass er<br />
sich eindeutig äußert. Das tut er aber nicht. Der Koran<br />
steckt voller innerer Wi<strong>der</strong>sprüche. Sie bilden<br />
den Keim für die blutigen innerislamischen Schlachten,<br />
die unmittelbar nach Mohammeds Tod begonnen<br />
haben. Ein Gott, <strong>der</strong> so etwas wollen kann, wäre ein<br />
Psychopath.<br />
Kaddor: Geht es auch ohne Polemik? Wir müssen<br />
uns schon die Mühe machen zu differenzieren. Der Koran<br />
for<strong>der</strong>t dazu auf, selbst nachzudenken.<br />
Abdel-Samad: Wenn mich mein Nachdenken aber<br />
dazu verleitet, den <strong>Islam</strong> verlassen zu wollen, hört <strong>der</strong><br />
Spaß sofort auf.<br />
Aber warum geschieht dieses eigenständige Nachdenken<br />
so selten? Gegenwärtig gewinnen weltweit<br />
jene Kräfte an Einfluss, die den Koran wörtlich und<br />
sehr rigide auslegen.<br />
Kaddor: Auch ich bin mit <strong>der</strong> Praxis des <strong>Islam</strong> in<br />
weiten Teilen <strong>der</strong> arabischen Welt ziemlich unzufrieden.<br />
In den letzten Jahrhun<strong>der</strong>ten hat sich <strong>der</strong> <strong>Islam</strong><br />
dort lei<strong>der</strong> eher zurückentwickelt.<br />
Abdel-Samad: Das gilt nicht nur für die letzten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te. Sobald die Scharia herrscht, ist es vorbei<br />
mit Toleranz und Pluralität.<br />
Kaddor: Stopp! Es gibt gar nicht die eine Scharia,<br />
son<strong>der</strong>n sehr unterschiedliche Verständnisse und<br />
Umsetzungen.<br />
Abdel-Samad: Das mag stimmen, aber es schält<br />
sich doch eine gemeinsame Idee heraus. Egal, ob es<br />
sich um Schiiten o<strong>der</strong> Sunniten handelt, ob wir nach<br />
Iran o<strong>der</strong> Saudi-Arabien schauen, ob wir Boko Haram,<br />
Hamas, Hisbollah, die Schabab-Miliz o<strong>der</strong> Isis fragen:<br />
Überall bedeutet die Scharia, dass die Bevölkerung im<br />
Namen Gottes bevormundet wird und dass körperliche<br />
Strafen und ein auf den Mann zugeschnittenes Familienrecht<br />
eingeführt werden.<br />
Kaddor: Natürlich gibt es diese Auswüchse,<br />
und diese zu bekämpfen, ist ein Anliegen aller<br />
Für die im westfälischen Ahlen geborene Lamya<br />
Kaddor ist <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> spirituell überzeugend<br />
24<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
kämpferische Auseinan<strong>der</strong>setzungen in dessen Frühzeit,<br />
und Gott hat Mohammed tatsächlich erlaubt,<br />
Gewalt anzuwenden. Es ist aber immer Gewalt unter<br />
bestimmten Voraussetzungen und nach bestimmten<br />
Regeln. Die Abhandlungen <strong>der</strong> Religionsgelehrten<br />
sind voll davon. Blinde Gewalt gibt es selbst im<br />
Dschihad nicht.<br />
Abdel-Samad: Genau das ist <strong>der</strong> Kern des Problems.<br />
Der Koran verteufelt Gewalt nicht, son<strong>der</strong>n<br />
schafft lediglich Regeln <strong>der</strong> Gewaltanwendung.<br />
Fotos: Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong><br />
Der aus Ägypten stammende Politologe<br />
Hamed Abdel-Samad kritisiert die Scharia<br />
gesellschaftlichen Akteure. Wir tun uns aber keinen<br />
Gefallen, wenn wir die islamophobe Karte spielen<br />
und jede Fehlentwicklung dem <strong>Islam</strong> anlasten. Lei<strong>der</strong><br />
unterscheidest auch du nicht zwischen <strong>Islam</strong> und<br />
<strong>Islam</strong>ismus.<br />
Kann es da denn eine scharfe begriffliche Trennlinie<br />
geben?<br />
Abdel-Samad: Ich bezweifle es sehr stark. Derzeit<br />
sind, wenn ich es recht sehe, 57 Staaten Mitglied<br />
<strong>der</strong> <strong>Islam</strong>ischen Konferenz. Kein einziger ist eine islamismusfreie<br />
Zone. Es gibt eben lei<strong>der</strong> keinen <strong>Islam</strong><br />
ohne <strong>Islam</strong>ismus.<br />
Kaddor: Es ist auch keine beson<strong>der</strong>e Glanzleistung,<br />
aus einer Religion <strong>der</strong>en Gewaltpotenzial herauszufiltern<br />
und darauf eine recht simple Ideologie<br />
zu gründen.<br />
Abdel-Samad: Das Gewaltpotenzial ist das<br />
stärkste Angebot des <strong>Islam</strong>. Das Friedenspotenzial<br />
ist viel schwächer ausgeprägt.<br />
Kaddor: Du machst es dir schon wie<strong>der</strong> zu einfach.<br />
Wir müssen das Friedenspotenzial des <strong>Islam</strong> allein<br />
schon deshalb anerkennen, weil sich große Teile<br />
<strong>der</strong> Weltbevölkerung zu diesem Glauben aus spirituellen,<br />
nicht aus politischen o<strong>der</strong> sonstigen Gründen<br />
bekennen. Sie finden im <strong>Islam</strong> ein Menschen- und ein<br />
Gottesbild, das sie überzeugt, sie finden Trost und<br />
Hilfe in oft sehr schwierigen Situationen, eine Ethik<br />
des gelebten Miteinan<strong>der</strong>s.<br />
Der <strong>Islam</strong> hat keine beson<strong>der</strong>e Affinität zur Gewalt?<br />
Kaddor: Nein, aber er hat einen beson<strong>der</strong>s realistischen,<br />
ja pragmatischen Blick auf Gewalt. Es gab<br />
Derzeit erleben wir sehr starke innerislamische Gewalt<br />
zwischen Sunniten und Schiiten. Das Morden,<br />
so scheint es, will nicht enden. <strong>Ist</strong> eine solche Gewalt<br />
von Muslimen an Muslimen eigentlich vom Koran<br />
gedeckt?<br />
Abdel-Samad: Es gibt einen Vers im Koran, <strong>der</strong><br />
besagt: Wenn zwei Gemeinschaften unter euch gegeneinan<strong>der</strong><br />
kämpfen, dann kämpft gegen diejenige, die<br />
ungerecht ist, bis sie umkehrt.<br />
Kaddor: Es gibt aber auch einen Ausspruch des<br />
Propheten, wonach sich im Dschihad <strong>der</strong> Muslim gegen<br />
einen Nichtmuslim zur Wehr setzen kann. Ich möchte<br />
einen solchen Dschihad keineswegs rechtfertigen, aber<br />
auf den Unterschied hinweisen.<br />
Abdel-Samad: Der <strong>Islam</strong> gibt sich nur so lange<br />
friedlich, wie er in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit ist. In Mekka fand<br />
Mohammed freundliche Worte für Juden und Christen,<br />
in Medina, mit Staat und Armee im Rücken, rief<br />
er dazu auf, die Ungläubigen zu töten. Wer sich nur auf<br />
die friedliebenden Passagen im Koran beruft, macht<br />
es im Grunde nicht an<strong>der</strong>s als die Fundamentalisten,<br />
die zur Begründung ihres Anspruchs nur die Passagen<br />
aus Medina gelten lassen.<br />
Kaddor: Da muss ich wi<strong>der</strong>sprechen. Mein liberales<br />
Verständnis vom <strong>Islam</strong> geht nicht davon aus, dass<br />
ich die alleinige Wahrheit gepachtet habe. Ich werbe<br />
für mehr innerislamische Pluralität und muss darum<br />
tolerieren, dass es auch fundamentalistische Sichtweisen<br />
und Ausübungen gibt.<br />
Hoffen Sie, dass diese Fundamentalismen mittelfristig<br />
verschwinden?<br />
Kaddor: Das war meine Hoffnung für Ägypten, für<br />
Syrien, für Tunesien. Im Moment habe ich diese Hoffnung<br />
nicht. Oft ist es ein erbitterter Streit um Macht<br />
„Der Koran for<strong>der</strong>t<br />
dazu auf, selbst<br />
nachzudenken“<br />
Lamya Kaddor<br />
25<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
TITEL<br />
<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />
und um Territorien, weniger um Religion. Isis aber<br />
kämpft bereits gegen Christen und an<strong>der</strong>e Min<strong>der</strong>heiten,<br />
sodass ich befürchte, die nächste Stufe <strong>der</strong> Eskalation<br />
wird <strong>der</strong> konfessionelle Kampf sein bis aufs Blut.<br />
Abdel-Samad: Es ist ein Kampf um Identitäten,<br />
und Religion ist <strong>der</strong> Hauptmotor je<strong>der</strong> Identitätsbildung<br />
in diesen Regionen. Sie bestimmt die Art und<br />
Weise, wie über Politik, über Bildung, über Familie<br />
und Erziehung nachgedacht wird.<br />
Kaddor: Es gibt ja auch keinerlei funktionierende<br />
Zivilgesellschaft. Zudem haben die Menschen in Ägypten<br />
und Syrien momentan an<strong>der</strong>e Probleme, als wir sie<br />
hier verhandeln.<br />
HAMED ABDEL-SAMAD<br />
Im Juli 2014 gab <strong>der</strong> Autor ( u. a.<br />
„Der islamische Faschismus“,<br />
„Mein Abschied vom Himmel“)<br />
bekannt, dass er Deutschland<br />
nach 19 Jahren verlassen werde:<br />
„Deutschland wird immer<br />
ungemütlicher für Menschen<br />
wie mich. Das ist kein Vorwurf, son<strong>der</strong>n eine<br />
Warnung. Ja, ich bin müde geworden und kann<br />
den Druck nicht mehr aushalten.“ Im Sommer<br />
2013 erließ ein ägyptischer Geistlicher einen<br />
Mordaufruf nach einem islamkritischen Vortrag<br />
Abdel-Samads in Kairo. Er habe den Propheten<br />
beleidigt<br />
Umfragen deuten darauf hin, dass auch hierzulande<br />
junge Muslime sich zunehmend radikalisieren. Sind<br />
das Rückkopplungseffekte?<br />
Kaddor: Solche Effekte gibt es. Allerdings werden<br />
da nicht fromme Menschen plötzlich beson<strong>der</strong>s fromm,<br />
son<strong>der</strong>n Menschen in Identitätskrisen, oft in <strong>der</strong> späten<br />
Pubertät, suchen nach einem Halt in <strong>der</strong> Transzendenz.<br />
Die Botschaft <strong>der</strong> Salafisten fällt bei solchen Jugendlichen<br />
auf fruchtbaren Boden.<br />
In <strong>der</strong> Regel sind es junge Männer, die sich radikalisieren.<br />
<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> eine Machoreligion? Sie, Herr<br />
Abdel-Samad, haben in Ihrem Buch „<strong>Islam</strong>ischer Faschismus“<br />
vorgerechnet, dass einem Gotteskrieger<br />
5040 Frauen zur Belohnung im Paradies versprochen<br />
werden.<br />
Abdel-Samad: In <strong>der</strong> Tat. Der Koran schweigt sich<br />
dazu aus, in den Sprüchen des Propheten aber wird<br />
mehrfach <strong>der</strong> Märtyrerlohn von 72 Jungfrauen erwähnt.<br />
Jede Jungfrau hat wie<strong>der</strong>um 70 schöne Dienerinnen,<br />
ergibt summa summarum 5040 Frauen pro<br />
Märtyrer.<br />
Kaddor: Der <strong>Islam</strong> ist nun einmal eine patriarchalisch<br />
ausgerichtete Religion, das lässt sich nicht weginterpretieren.<br />
Gott sprach vor 1500 Jahren zu einer<br />
männlich dominierten Gesellschaft.<br />
Abdel-Samad: Vielleicht sollten wir sagen, ein<br />
Mann sprach zu Männern. Von Gott hätte ich erwartet,<br />
LAMYA KADDOR<br />
legte soeben gemeinsam mit<br />
Michael Rubinstein „So fremd<br />
und doch so nah – Juden und<br />
Muslime in Deutschland“ vor.<br />
Sie schrieb auch „Muslimisch,<br />
weiblich, deutsch! Mein Weg<br />
zu einem zeitgemäßen <strong>Islam</strong>“<br />
und gab, gemeinsam mit Rabeya Müller, einen<br />
„Koran für Kin<strong>der</strong> und Erwachsene“ heraus. Sie<br />
ist Gründungsmitglied und Erste Vorsitzende<br />
des Liberal-<strong>Islam</strong>ischen Bundes e. V. und<br />
lehrte am „Centrum für Religiöse Studien“ <strong>der</strong><br />
Westfälischen Wilhelms-Universität Münster<br />
dass er genügend Weitsicht besitzt, um nicht nur die<br />
damalige Gesellschaft, son<strong>der</strong>n die Menschheit als solche<br />
im Blick zu haben.<br />
Haben Sie, Frau Kaddor, ein Problem mit diesem<br />
Patriarchalismus?<br />
Kaddor: Aber natürlich! Ich muss einfach in Rechnung<br />
stellen, dass Gott immer in Kontexten spricht,<br />
und dass <strong>der</strong> damalige Kontext eben eine Gesellschaft<br />
<strong>der</strong> Zeltbewohner war, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mann das Sagen<br />
hatte. An<strong>der</strong>erseits hat <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> die Position <strong>der</strong> Frau<br />
gestärkt. Frauen durften nun erben und vererben, arbeiten<br />
und Geld besitzen.<br />
Abdel-Samad: Der Koran erlaubt den Männern,<br />
wi<strong>der</strong>spenstige Frauen zu schlagen. Sie sollen den<br />
Männern immer zur sexuellen Verfügung stehen, sie<br />
werden als sein „Saatfeld“ bezeichnet. Tut mir leid,<br />
aber <strong>der</strong> Gott des Korans fällt hinter Aristoteles und<br />
Platon zurück, die Jahrhun<strong>der</strong>te vor Mohammed viel<br />
vernünftiger und aufgeklärter argumentiert haben.<br />
Kaddor: Noch einmal zum Mitschreiben, lieber<br />
Hamed: Mohammed wäre gar nicht angenommen worden,<br />
wenn er einer sehr patriarchalisch geprägten Gesellschaft<br />
die gleichen Rechte und Pflichten von Männern<br />
und Frauen verkündet hätte. Ich wun<strong>der</strong>e mich<br />
doch sehr, dass du die Aussagen des Korans genauso<br />
wörtlich interpretierst wie deine Gegner, die <strong>Islam</strong>isten<br />
und Fundamentalisten. Und gleichzeitig als aufgeklärt<br />
gelten willst. Wer sagt mir persönlich denn, dass ich<br />
mich 100-prozentig und in jedem Detail an den Koran<br />
binden muss? Die Sklaverei etwa und auch die Vielehe<br />
sind für mich heute inakzeptabel. Ich trage auch,<br />
wie du siehst, kein Kopftuch. Der Koran ist und bleibt<br />
eine Offenbarung, die den Menschen konsequent dazu<br />
auffor<strong>der</strong>t, selbst nachzudenken. Es gibt kein zentrales<br />
Oberhaupt mit <strong>der</strong> Autorität, dir eine solche gedankliche<br />
Arbeit abzunehmen. Zahlreiche Verse sind heute<br />
einfach nicht mehr anwendbar und erfüllen ihren Sinn<br />
auch nicht. Man kann ein guter Moslem o<strong>der</strong> eine gute<br />
Muslima sein, wenn man vielleicht nur 50 Prozent <strong>der</strong><br />
koranischen Bestimmungen erfüllt.<br />
Fotos: Antje Berghäuser<br />
26<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
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TITEL<br />
<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />
„Der Koran ist das<br />
stärkste Buch, das<br />
die Menschen hin<strong>der</strong>t,<br />
kritisch zu denken“<br />
Hamed Abdel-Samad<br />
Abdel-Samad: Das kannst du doch aber nur sagen,<br />
weil du in Europa aufgewachsen bist und in keiner<br />
islamischen Mehrheitsgesellschaft. Hier kannst du<br />
es dir erlauben, die Rosinen gewissermaßen aus einem<br />
versteinerten Kuchen herauszupicken. Ich bleibe dabei:<br />
Der Koran ist das stärkste Buch, das die Menschen<br />
daran hin<strong>der</strong>t, kritisch zu denken. Denn wer kritisch<br />
über den <strong>Islam</strong> nachdenkt, ist seines Lebens nicht mehr<br />
sicher. Ich weiß, wovon ich rede.<br />
Kaddor: Du argumentierst nach demselben Muster<br />
wie die Fundamentalisten. Für dich gibt es nur den<br />
100-prozentigen o<strong>der</strong> gar keinen Moslem. So ist es<br />
aber nicht.<br />
Abdel-Samad: Wenn ich den Koran ernst nehme,<br />
ist es sehr wohl so. Gott soll laut Koran auf jede Schulter<br />
jedes Gläubigen einen Engel gesetzt haben, einen<br />
rechts und einen links, die alles protokollieren, fast<br />
wie die Gestapo. Wer mit solchen Überzeugungen aufwächst,<br />
fühlt sich 24 Stunden am Tag überwacht. Wie<br />
soll da kritisches Denken entstehen? Wer Gott nicht<br />
folgt, schmort in <strong>der</strong> Hölle: Das ist die Quintessenz<br />
dieser Religion.<br />
Kaddor: Das ist die Quintessenz je<strong>der</strong> Religion.<br />
Jede Religion will dem Menschen eine verbindliche<br />
Richtlinie für sein Leben vorgeben. Die Bekämpfung<br />
von An<strong>der</strong>sgläubigen steht in keiner Religion an erster<br />
Stelle.<br />
Abdel-Samad: Darum muss jede Religion relativiert<br />
werden – beson<strong>der</strong>s aber die Vorstellung eines<br />
heiligen Textes, <strong>der</strong> von Gott gesprochen und niemals<br />
verfälscht worden sein soll.<br />
Kaddor: Ein solcher heiliger Text birgt Gefahren,<br />
aber er gibt auch jedem Einzelnen die große Gelegenheit,<br />
mit ihm verantwortungsvoll umzugehen. Ich versuche<br />
das, indem ich ihn kontextualisiere, ohne beliebig<br />
zu werden.<br />
Damit dürften Sie einem recht exklusiven Club<br />
angehören.<br />
Abdel-Samad: Es ist immer leichter, einen Text<br />
wortwörtlich zu befolgen, als ihn in verschiedene Kontexte<br />
zu setzen. Darum haben es aufgeklärte Muslime<br />
so schwer. Sie dringen einfach nicht durch. Durch die<br />
gesamte islamische Geschichte zieht sich das Bild eines<br />
Gottes, <strong>der</strong> bestraft, aber nicht infrage gestellt werden<br />
darf. Alle Diktatoren dieser Welt haben ihn sich zum<br />
Vorbild genommen.<br />
Kaddor: Wir sollten bei aller berechtigten Kritik<br />
an einem solchen Bild aber bitte nicht vergessen, dass<br />
in vielen Religionen Gott eine herausfor<strong>der</strong>nde Gestalt<br />
ist.<br />
Abdel-Samad: Ja, auch im Alten Testament, auch<br />
in hinduistischen Texten wird Gewalt propagiert. Das<br />
Problem ist deshalb nicht <strong>der</strong> Text an sich, son<strong>der</strong>n dessen<br />
Stellenwert innerhalb <strong>der</strong> Gemeinschaft. Wenn die<br />
Mehrheit <strong>der</strong> Gläubigen davon ausgeht, dieses Wort<br />
Gottes sei bindend für alle Zeiten, haben wir ein Problem.<br />
Eine solche Sichtweise ist Sprengstoff.<br />
Wird sich daran je etwas än<strong>der</strong>n?<br />
Kaddor: Ich stimme zu, dass weniger die Inhalte<br />
als die Vermittlung und das Verständnis problematisch<br />
sind. Deshalb engagiere ich mich in <strong>der</strong> Religionspädagogik<br />
für ein an<strong>der</strong>es Gottesbild, für einen Gott,<br />
<strong>der</strong> von den Menschen verlangt, gerecht und gut zu<br />
sein, sich um Arme, Unterdrückte, Witwen und Waisen<br />
zu kümmern, Sklaven freizukaufen und Mädchen<br />
und Frauen genauso zu lieben und zu respektieren<br />
wie Jungen und Männer. Das gibt <strong>der</strong> Koran nämlich<br />
auch her. Die Muslime müssen, wie im Judentum und<br />
im Christentum, das Bewusstsein für Pluralität entwickeln.<br />
Wir müssen eine Jugend heranziehen, die kritisch<br />
und mündig mit Religion umgeht. Das ist systematisch<br />
die ganzen letzten Jahrhun<strong>der</strong>te nicht gemacht<br />
worden, we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> islamischen noch in <strong>der</strong> westlichen<br />
Welt. Ohne religiöse Mündigkeit wird es aber keinen<br />
religiösen Frieden geben.<br />
Abdel-Samad: Das will ich gerne glauben. Doch es<br />
wäre schön, wenn auch die Menschen, die an den Koran<br />
nicht glauben, in Frieden leben könnten. Europa<br />
wäre nicht so weit gekommen, wie es gekommen ist,<br />
wenn Immanuel Kant und John Locke, Jean-Jacques<br />
Rousseau und Voltaire ihre Gedanken nicht hätten öffentlich<br />
äußern dürfen. Es muss eines Tages auch möglich<br />
sein, in <strong>der</strong> Öffentlichkeit und nicht nur in den eigenen<br />
vier Wänden den <strong>Islam</strong> zu kritisieren, sich zu<br />
ihm zu bekennen o<strong>der</strong> sich von ihm abzuwenden. Ich<br />
hoffe, ich werde es noch erleben.<br />
„Wir müssen endlich<br />
eine Jugend heranziehen,<br />
die mündig<br />
mit Religion umgeht“<br />
Lamya Kaddor<br />
28<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
„ Zu behaupten,<br />
wir würden alle krank<br />
werden und Drogen<br />
benötigen, um diesem<br />
gigantischen Druck<br />
standzuhalten, wäre<br />
schlicht unwahr “<br />
Karl Lauterbach, SPD-Fraktionsvize im Bundestag, zur Debatte um den<br />
Crystal-Meth-Konsum eines Parlamentskollegen, Interview auf Seite 34<br />
29<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
NOCH MAL GANZ IN RUHE<br />
Denken, sprechen, tacktacktack. Günther Oettinger war <strong>der</strong> ewige Sprinter <strong>der</strong> Politik.<br />
Nun bleibt er EU-Kommissar. Begegnung mit einem, <strong>der</strong> auf einmal langsam redet<br />
Von GEORG LÖWISCH<br />
Foto: Christian Kielmann/Imago<br />
Der Mann mit den scharf geschnittenen<br />
Zügen sitzt im abgeschiedenen<br />
Raum eines italienischen<br />
Restaurants zwischen Charité und Naturkundemuseum.<br />
Draußen prasselt und<br />
stürmt es, wie<strong>der</strong> einer <strong>der</strong> halben Weltuntergänge,<br />
die dieser Berliner Sommer<br />
jeden Tag inszeniert. Der Regen peitscht<br />
durch den Abend, <strong>der</strong> Mann am Tisch ist<br />
ganz ruhig. Er formt seine Sätze langsam.<br />
Wort für Wort. Er redet nicht wie Günther<br />
Oettinger. Aber er ist es.<br />
Was für ein Glück er gerade erlebt.<br />
„Ich bleibe sehr gerne in Brüssel und bin<br />
dankbar für die Unterstützung <strong>der</strong> Kanzlerin.“<br />
Vor vier Tagen hat Angela Merkel<br />
ihn erlöst, Montag früh, ein paar Minuten<br />
vor <strong>der</strong> Präsidiumssitzung in <strong>der</strong> CDU-<br />
Zentrale. „Sie hat mich gefragt, ob ich bereit<br />
bin, weitere fünf Jahre Kommissar zu<br />
bleiben. Ich habe gesagt: Ja, gerne.“ Er<br />
redet unglaublich langsam, viele Silben<br />
betont er weich. Es wirkt sogar, als liefen<br />
Denken und Sprechen synchron. Und das<br />
ist ja schon auffällig bei dem Mann, den<br />
sein alter Wi<strong>der</strong>sacher Erwin Teufel einst<br />
ein Maschinengewehr genannt hat.<br />
Etwas weniger martialisch könnte<br />
man sein Sprechsystem mit einer dieser<br />
elektronischen Schreibmaschinen vergleichen.<br />
Ins Display tippte man eine<br />
Zeile ein und konnte sie noch mal korrigieren.<br />
Ein Knopfdruck und die Maschine<br />
tackerte die Zeile aufs Papier.<br />
Tacktacktack. Manchmal hört sich Oettinger<br />
an diesem Abend noch so an, wenn<br />
er zusammengesetzte Begriffe benutzt.<br />
Einkommenssteuerdurchführungsgesetz.<br />
Ssssst. Eurorettungspolitik. Rrrrrt. Aber<br />
meist spricht er heute so sorgfältig, als<br />
schriebe er von Hand einen Brief.<br />
Mit 60 hat er nun fünf Jahre als EU-<br />
Kommissar vor sich. Er ist nicht mal mehr<br />
von Merkel abhängig. Im Gegenteil: Sie<br />
braucht ihn als letzten hochrangigen<br />
Vertreter des Wirtschaftsflügels <strong>der</strong> CDU.<br />
Der ewige Sprinter ist am Ziel. Er hat die<br />
Anerkennung, <strong>der</strong>etwegen er einst in die<br />
Politik gegangen ist.<br />
Im Kreis Ludwigsburg hatte er die<br />
ersten Erfolge. Er wurde Chef <strong>der</strong> Jungen<br />
Union in Ditzingen. Nebenan, in Gerlingen,<br />
war Rainer Wieland JU-Chef, heute<br />
Vizepräsident des EU-Parlaments. „Als<br />
er sich 1983 aufmachte, den Landtagswahlkreis<br />
zu holen, hat er wahnsinnig<br />
schnell gesprochen“, sagt Wieland. „Erheblich<br />
schneller als heute.“ Oettinger<br />
stand vorn, Wieland postierte sich am<br />
an<strong>der</strong>en Hallenende und wedelte mit den<br />
Armen, wenn eine Rede zu rasant wurde.<br />
DER KELLNER BRINGT Weißwein. Oettinger<br />
probiert. Er wirkt asketisch, schmale<br />
Figur, vorsichtiger Blick.<br />
Als er ein Junge war, engagierte seine<br />
Mutter eine Klavierlehrerin. Er erinnert<br />
sich, wie hart <strong>der</strong> Unterricht war. Aber er<br />
fand Freude in <strong>der</strong> Musik. Mozart, Czerny.<br />
„Es ist Abschalten vom Alltag pur“, sagt er.<br />
Der Mann am Klavier ist <strong>der</strong> Mittelpunkt,<br />
aber er bleibt dennoch für sich. So kann<br />
er sich sicher fühlen, ruhiger.<br />
So mag es auch gewesen sein, wenn<br />
er als Jurastudent in Tübingen unter seinen<br />
Verbindungsbrü<strong>der</strong>n war. Männerrituale,<br />
die ihm das Gefühl gaben, dazuzugehören.<br />
Die an<strong>der</strong>en johlten die<br />
Pauklie<strong>der</strong>, er saß am Klavier.<br />
1991 wurde er Chef <strong>der</strong> CDU-Fraktion<br />
im Landtag. Er machte sich auf,<br />
die Regierungszentrale zu erobern, die<br />
Villa Reitzenstein, in <strong>der</strong> Erwin Teufel<br />
saß. Nach dem ersten Jahr als Fraktionschef<br />
hatte sein Dienstwagen mehr<br />
als 100 000 Kilometer auf dem Tacho.<br />
Der Kampf dauerte 14 Jahre und war<br />
am Ende bitter. Heute Abend wird er<br />
auch das abhaken, nachher bei <strong>der</strong> Verabschiedung<br />
von Annette Schavan, mit<br />
<strong>der</strong> er 2004 brutal um Teufels Nachfolge<br />
rang. Die Versöhnung als politischer Akt.<br />
2005 war er endlich Ministerpräsident.<br />
Auf einem Parteitagsabend saß er<br />
am Klavier. In <strong>der</strong> Mitte. Für sich. Die<br />
Anspannung war einen Moment gemil<strong>der</strong>t.<br />
Seine Helfer soffen sich ins Lallen.<br />
Aber als er das Amt hatte, nach dem er<br />
sich fast an<strong>der</strong>thalb Jahrzehnte gesehnt<br />
hatte, konnte er damit nichts anfangen.<br />
Er fuhr immer weiter von Auftritt zu<br />
Auftritt. Seine Gegner stellten das Rastlose<br />
an ihm heraus, das Plastiklächeln<br />
und natürlich die Sprechgeschwindigkeit.<br />
Die Politik ist ein Sprechberuf, und<br />
Oettingers Tiefpunkt wurde eine Rede.<br />
Auf den früheren Ministerpräsidenten<br />
Hans Filbinger hielt er eine bizarre Traueransprache,<br />
die den Nationalsozialisten<br />
zum Nazigegner umdeutete. Er sagt heute,<br />
er sei nach einem Besuch <strong>der</strong> Familie angerührt<br />
gewesen. Merkel verlangte damals<br />
den Kotau. Privat lief es auch schlecht,<br />
seine Ehe zerbrach. Der Mann, <strong>der</strong> das<br />
Kin<strong>der</strong>land Baden-Württemberg ausgerufen<br />
hatte, hatte gar keine heile Familie.<br />
Merkel lotste ihn nach Brüssel. Eine<br />
Abschiebung. Doch das Amt, das er sich<br />
nicht erträumt hatte, wurde ein Traumjob.<br />
Kaum noch Angriffe aus <strong>der</strong> eigenen<br />
Partei. Keine Entourage, die an ihm<br />
zerrte. Ein Apparat, <strong>der</strong> seinen ungeheuren<br />
Wissensspeicher mit Details versorgte.<br />
In <strong>der</strong> Kommission wird er eine<br />
Schlüsselrolle spielen. Wenige dort sind<br />
das zweite Mal dabei. Die Wirtschaftskapitäne,<br />
die er bewun<strong>der</strong>t, hören ihm zu.<br />
Aber wofür steht er? <strong>Ist</strong> er nur<br />
Sprachrohr <strong>der</strong> Industrie? Was hat er<br />
selbst <strong>der</strong> Welt zu sagen? Er kann sich<br />
das jetzt überlegen. Ganz in Ruhe.<br />
GEORG LÖWISCH ist Textchef von <strong>Cicero</strong>.<br />
Den Weg von Günther Oettinger verfolgt er<br />
schon eine ganze Weile<br />
31<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
POSTBOTIN GEGEN SCHNÜFFLER<br />
Der NSA-Skandal hat in Deutschland bisher eigentlich kaum etwas verän<strong>der</strong>t. Nur<br />
Sabrina Löhrs Idee verfängt: Posteo, ein Mailservice, <strong>der</strong> es Überwachern schwer macht<br />
Von JOHANNES GERNERT<br />
Dass Edward Snowden nicht bloß<br />
Aufklärung, son<strong>der</strong>n auch Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung<br />
betrieb, merkte<br />
Sabrina Löhr schon wenige Tage, nachdem<br />
sein Gesicht auf allen Nachrichtenseiten<br />
<strong>der</strong> Welt erschienen war. Damals,<br />
im Juni 2013, arbeiteten in Löhrs E-Mail-<br />
Firma Posteo in Berlin-Kreuzberg drei<br />
Leute auf 200 Quadratmetern. Zwei davon<br />
waren sie und ihr Mann. Heute sind<br />
es zwölf Angestellte auf 600 Quadratmetern.<br />
Posteo verwaltet 65 000 Postfächer.<br />
Sie sind jetzt nicht mehr nur ein<br />
E-Mail-Anbieter, <strong>der</strong> Daten beson<strong>der</strong>s<br />
sorgfältig schützt. Sie sind die Postboten<br />
<strong>der</strong> digitalen Welt, die sich gegen die<br />
Schnüffler profilieren. Kürzlich war Löhr<br />
bei einer Tagung des Internet Governance<br />
Forum, das für die UN über die<br />
Zukunft des Netzes nachdenkt. Auf den<br />
Tagungsunterlagen stand das Logo von<br />
Posteo neben dem des Konzerns Google.<br />
Der Grüne Christian Ströbele hat sie in<br />
einer Anfrage an die Bundesregierung<br />
erwähnt. Die Telekom hat zum ersten<br />
Mal einen Transparenzbericht veröffentlicht.<br />
Weil Posteo sie mit ihrem dazu getrieben<br />
hat, glaubt Sabrina Löhr. „Wir<br />
merken, dass man als kleiner Anbieter<br />
wirklich etwas erreichen kann“, sagt sie.<br />
Auch wenn Konkurrenten wie gmx o<strong>der</strong><br />
web.de mit jeweils 15 Millionen Nutzern<br />
viel größer sind.<br />
Als Edward Snowden mit den Journalisten<br />
Kontakt aufnahm, denen er<br />
seine NSA-Dokumente übergeben wollte,<br />
verwendete er eine Adresse des E-Mail-<br />
Anbieters Lavabit. Ein Dienst, <strong>der</strong> die<br />
Privatsphäre seiner Nutzer extra verschlüsselt.<br />
Wie Posteo – das realisierten<br />
sehr schnell sehr viele Menschen. In solchen<br />
Momenten entscheidet sich, ob eine<br />
Firma mit steilem Wachstum umgehen<br />
kann. Zum Glück hatte sie soeben ihre<br />
Website erneuert. Gerade rechtzeitig.<br />
Sabrina Löhr, 33 Jahre alt, ist keine<br />
Hosenanzugträgerin. Sie spricht überlegt,<br />
fast zögernd. Manchmal schließt sie beim<br />
Reden die Augen, bevor sie eine Frage<br />
beantworten kann. <strong>Ist</strong> Posteo ein politischer<br />
Mailanbieter? Immer wie<strong>der</strong> müsse<br />
sie sich bremsen, sagt Löhr. Und sich bewusst<br />
machen, dass sie ja Unternehmerin<br />
ist – keine Aktivistin wie früher. Ihren<br />
Mann hat sie in einer Ortsgruppe von<br />
Greenpeace kennengelernt. Aber ja, sie<br />
würden politische Arbeit machen. Die<br />
Konzerne, „die ihre Lobbyisten durch<br />
den Bundestag jagen“, täten es ja auch.<br />
ANFANGS WOLLTEN Sabrina Löhr und ihr<br />
Mann Patrick nur einen E-Mail-Service<br />
anbieten, <strong>der</strong> Ökostrom verwendet und<br />
auf nervige Werbung verzichtet. Einen<br />
Euro im Monat sollte er kosten. Bezahlt<br />
wurde in Euro und eben nicht in Daten,<br />
wie bei <strong>der</strong> Konkurrenz von Google. Den<br />
Namen Posteo dachte sich Löhr aus. Sie<br />
wollten etwas eingängiges, aber das Wort<br />
Mail vermeiden. Posteo sammelt so wenige<br />
Informationen wie möglich. Man<br />
muss keine Postadresse angeben und<br />
kann per Brief in bar zahlen.<br />
Löhr geht auch mit eigenen Daten<br />
sparsam um. Sie stammt aus <strong>der</strong> Nähe<br />
von Frankfurt. Ein kleiner Ort, 50 Kilometer<br />
vom Atomkraftwerk Biblis. Genauer<br />
wird sie nicht. Nach dem Abitur<br />
ging sie nach Berlin und schrieb PR-Texte<br />
für Agenturen. Für welche, sagt sie nicht.<br />
Auf dem Höhepunkt des Snowden-<br />
Ansturms beantwortete sie von früh<br />
bis nachts Mails <strong>der</strong> Kunden. Mittlerweile<br />
machen das Mitarbeiter in den<br />
hellen neuen Räumen mit <strong>der</strong> Dachterrasse<br />
in Berlin-Kreuzberg. In einer Post-<br />
Snowden-Welt, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Wunsch nach<br />
Anonymität nicht mehr verdächtig ist,<br />
son<strong>der</strong>n nachvollziehbar, sind sie eine<br />
Instanz geworden. Nicht nur in Tests<br />
des Computermagazins c’t schnitten sie<br />
besser ab als die meisten Wettbewerber.<br />
Löhr kann exakt erklären, wie sie<br />
den Transport <strong>der</strong> Mail o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Inhalt<br />
chiffriert. Perfect Forward Secrecy,<br />
Pretty Good Privacy. Posteo versuche,<br />
die Standards ständig zu heben. Trotzdem<br />
müssten die Nutzer auf ihre Rechner<br />
aufpassen. Die Inhalte von Mails können<br />
noch so gut verschlüsselt sein, wenn jemand<br />
auf den Computer zugreift und die<br />
Schlüssel klaut, nutze alles nichts, habe<br />
Snowden gesagt, sagt Sabrina Löhr.<br />
Als Klimaretter fingen sie und ihr<br />
Mann an, jetzt sind sie Datenschützer.<br />
<strong>Ist</strong> das die neue Lebensstilfrage des grünen<br />
Milieus? „Ich fürchte, ja. Ich habe<br />
das Gefühl, es bleibt einem nichts an<strong>der</strong>es<br />
übrig“, sagt Löhr. Doch sie merke an<br />
den Kunden, wie hoch die Schwelle sei,<br />
eine an<strong>der</strong>e Surfkultur zu entwickeln.<br />
Auf den Computern von Posteo gibt es<br />
we<strong>der</strong> Twitter noch Facebook, sie haben<br />
ihr eigenes Chat-Programm. Zu Hause,<br />
sagt Löhr, stehe ein Rechner, mit dem<br />
sie „rummülle“ und soziale Netzwerke<br />
o<strong>der</strong> Onlineshops nutze.<br />
Der Mail-Anbieter Lavabit, den<br />
Snowden noch nutzte, hat dichtgemacht.<br />
Nach einem aufreibenden Rechtsstreit<br />
glaubte sein Grün<strong>der</strong>, sein Sicherheitsversprechen<br />
nicht mehr einhalten zu können.<br />
Auch bei Posteo standen schon Polizeibeamte<br />
vor <strong>der</strong> Tür. Sie seien aus<br />
Bayern angereist und hätten Daten eines<br />
Kunden verlangt, die Posteo gar nicht<br />
erhebe, sagt Löhr. Die Beamten wollten<br />
das nicht einsehen. Sie hätten gedroht.<br />
Die Postbotin hat die Polizisten angezeigt.<br />
Das Verfahren läuft.<br />
JOHANNES GERNERT schreibt über die<br />
Höhen und Untiefen <strong>der</strong> digitalen Welt.<br />
Er hat fünf E-Mail-Accounts, manche nur<br />
zum Shoppen<br />
Foto: Steffen Jänicke für <strong>Cicero</strong><br />
32<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Interview<br />
„ICH SCANNE JEDEN<br />
AUTOMATISCH“<br />
Minister und Abgeordnete verheimlichen häufig ihre<br />
Gebrechen. Der Sozialdemokrat Karl Lauterbach ist Arzt –<br />
ihm vertrauen sie sich an. Manches entdeckt er auch so.<br />
Ein Gespräch über Krankheit, Drogen und Mitleid<br />
34<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Foto: Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong><br />
Herr Lauterbach, wann waren Sie zum<br />
letzten Mal krank?<br />
Karl Lauterbach: Vor vier Wochen<br />
war ich in Kasachstan, an einem Tag<br />
stürzte die Temperatur von 27 auf zwei<br />
Grad. Ich war zu dünn angezogen und<br />
bin fast erfroren. Das Ergebnis war eine<br />
Bronchitis.<br />
War das die schlimmste Krankheit in Ihrer<br />
Zeit im Bundestag?<br />
Nein, ich hatte schon so einiges. Eine<br />
herbe Bandscheibenverletzung, eine<br />
Knieoperation. Ich treibe gern Sport, und<br />
in Abständen von ein, zwei Jahren verletze<br />
ich mich.<br />
<strong>Ist</strong> es ungewöhnlich, dass ein Politiker<br />
zu Journalisten sagt: Dann und dann<br />
war ich krank?<br />
Es ist tatsächlich so, dass die allermeisten<br />
Politiker ihre Krankheiten verschweigen.<br />
In <strong>der</strong> Politik gehört es dazu,<br />
einen souveränen Eindruck zu erwecken.<br />
Zur Souveränität zählt die Gesundheit.<br />
Wenn es von jemandem heißt,<br />
er ist krank, hat er mit dieser son<strong>der</strong>baren<br />
Mischung aus Mitleid und Abwertung<br />
zu kämpfen.<br />
Woher wollen Sie wissen, dass Krankheiten<br />
verschwiegen werden?<br />
Ich bin ja Arzt und unterliege <strong>der</strong><br />
Schweigepflicht. Viele Abgeordnete und<br />
auch Minister verheimlichen ihre Krankheiten,<br />
aber sie vertrauen sich mir an. Sie<br />
wollen einen Rat haben, in welche Klinik<br />
o<strong>der</strong> zu welchem Arzt man gehen kann.<br />
Ich kenne mich recht gut aus, wer für welchen<br />
Krankheitsbereich prädestiniert ist.<br />
Und ich kann sagen, wo die Behandlung<br />
diskret läuft.<br />
Als <strong>der</strong> damalige Verteidigungsminister<br />
Peter Struck 2004 einen Schlaganfall<br />
erlitt, musste sein Pressesprecher<br />
Norbert Bicher für seinen Chef lügen.<br />
Horst Seehofer ist dagegen mit seiner<br />
Herzmuskelentzündung sehr offensiv<br />
umgegangen, Wolfgang Bosbach mit<br />
seiner Krebserkrankung auch. Hat sich<br />
etwas verän<strong>der</strong>t?<br />
Bosbach o<strong>der</strong> Seehofer gehen ja auch<br />
mit an<strong>der</strong>en Teilen ihres Privatlebens<br />
sehr offen um und pflegen einen sehr<br />
Karl Lauterbach<br />
hat Medizin studiert und wurde<br />
zweimal promoviert. Er ist<br />
Gründungsdirektor des Instituts<br />
für Gesundheitsökonomie<br />
und Klinische Epidemiologie an<br />
<strong>der</strong> Universität zu Köln. 2005<br />
wurde er vom Professor zum<br />
Politiker: Wahl in den Bundestag<br />
und dort Spezialist für<br />
Gesundheitspolitik. Inzwischen<br />
ist <strong>der</strong> 51 Jahre alte Arzt einer<br />
<strong>der</strong> Vizechefs <strong>der</strong> SPD-Fraktion<br />
klaren, ehrlichen Diskurs. Aber sie sind<br />
die Ausnahme. Gerade Krankheiten, die<br />
stigmatisiert sind, beispielsweise Depressionen,<br />
Suchtkrankheiten o<strong>der</strong> Krebserkrankungen<br />
werden eher verschwiegen.<br />
Die Politiker laden das lieber bei Ihnen<br />
ab.<br />
Das ist für mich keine Last, ich helfe<br />
sehr, sehr gern. Ich halte mich medizinisch<br />
fit, lese die wissenschaftliche Literatur<br />
und besuche Fortbildungen, um<br />
keine schlechten Ratschläge zu geben.<br />
Was sind typische Politikerkrankheiten?<br />
Es ist das breite Spektrum, das man<br />
auch in <strong>der</strong> Bevölkerung sieht. Abgeordnete<br />
leben auch in die Altersgruppen hinein,<br />
in denen chronische Erkrankungen<br />
häufiger vorkommen. Ich gehe mal<br />
von <strong>der</strong> Durchschnittsbevölkerung aus.<br />
Dann hätte bei <strong>der</strong> Altersverteilung, die<br />
wir im Bundestag haben, je<strong>der</strong> Zweite<br />
eine chronische Krankheit. Genau das<br />
ist auch mein Eindruck. Zuckerkrankheit,<br />
Bluthochdruck, eine Herzkrankheit.<br />
Sehr viele haben Arthrose und <strong>der</strong>gleichen.<br />
Bei den jüngeren Abgeordneten<br />
sind es oft Sportverletzungen.<br />
Stressinduzierte Krankheiten kommen<br />
Ihrer Erfahrung nach nicht häufiger vor?<br />
Nein. Ich bin jetzt wegen <strong>der</strong> Diskussion<br />
um Michael Hartmann immer wie<strong>der</strong><br />
angesprochen worden, ob <strong>der</strong> Job so<br />
stressig ist, dass man ihn nur unter Drogen<br />
durchhält.<br />
Der SPD-Abgeordnete, <strong>der</strong> im Verdacht<br />
steht, Crystal Meth genommen zu haben.<br />
Politiker stehen doch unter Druck.<br />
Der Stress ist nicht größer als bei<br />
Bankern o<strong>der</strong> Spitzenmanagern. Ich<br />
bin, was stressinduzierte Erkrankungen<br />
angeht, relativ sensibel, und es gibt<br />
nur wenige, die Anzeichen einer schweren<br />
Depression o<strong>der</strong> beispielsweise eines<br />
schweren Burnouts mitbringen. Daher<br />
glaube ich nicht, dass stressinduzierte Erkrankungen<br />
hier eine viel größere Rolle<br />
spielen als in an<strong>der</strong>en anspruchsvollen<br />
Berufen.<br />
Politik macht nicht zwangsläufig<br />
krank?<br />
Der Lebensstil ist schon gefährlich.<br />
Er verleitet dazu, schlecht zu essen und<br />
viel zu sitzen. Man hat lange Arbeitszeiten<br />
und wenig Zeit, einen Ausgleich zu<br />
finden. Dann die Reisen: stressreiche Abfertigung<br />
am Flughafen und dann wie<strong>der</strong><br />
Sitzen. Aber es wäre falsch zu glauben,<br />
alle Politiker befänden sich in einem brutalen<br />
Dauerstress. Ich habe mal fast ein<br />
Jahr in <strong>der</strong> Unfallchirurgie gearbeitet:<br />
Der Stress dort hat eine an<strong>der</strong>e Dimension<br />
als in <strong>der</strong> Spitzenpolitik hier.<br />
<strong>Ist</strong> Politik auch gefährlich, wenn Politiker<br />
Behandlungen aufschieben? Manfred<br />
Stolpe hat kürzlich offenbart, dass<br />
er 2004 seine Krebsdiagnose bekam. Er<br />
stand als Verkehrsminister wegen des<br />
Lkw-Maut-Systems Toll Collect unter<br />
Druck. Deshalb ließ er sich nicht gleich<br />
operieren.<br />
Dieser Fall ist <strong>der</strong> einzige, von dem<br />
ich je gehört habe, dass jemand aus politischen<br />
Gründen seine Krebsoperation<br />
verschiebt. Natürlich verschleppen<br />
Kranke auch in <strong>der</strong> Politik ihre Krankheit<br />
o<strong>der</strong> führen die Behandlung nicht<br />
konsequent fort. Aber das ist auch meine<br />
Erfahrung mit an<strong>der</strong>en Patienten in<br />
Führungspositionen.<br />
35<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Interview<br />
Haben Sie als Arzt den Eindruck, dass<br />
sich Politiker auch mal einen Nutzen<br />
davon versprechen, über ihre Krankheit<br />
zu erzählen, um einen weichen Teil ihrer<br />
Persönlichkeit herauszustellen?<br />
Nein, in <strong>der</strong> Politik hilft <strong>der</strong> weiche<br />
Teil nie. Nach dem Motto: Er ist<br />
mal krank gewesen, jetzt lernt er das<br />
wahre Leben kennen, dafür kann man<br />
sich nichts kaufen. Wir werden dafür bezahlt,<br />
souverän aufzutreten und unsere<br />
Arbeit zu tun.<br />
Lange kam in jedem Horst-Seehofer-<br />
Porträt die Geschichte seiner Herzmuskelentzündung<br />
vor.<br />
Dass er das instrumentalisiert, ist<br />
ihm oft unterstellt worden, aber es<br />
stimmt einfach nicht. Ich kenne Horst<br />
Seehofer sehr gut, wir sind per Du. Er<br />
ist offen mit <strong>der</strong> Krankheit umgegangen,<br />
weil das seine Art ist. Der Sturz kam ja<br />
aus vollem Lauf heraus – das muss einer<br />
erst mal verarbeiten. Und es ist gesund,<br />
darüber nachzudenken und zu reden.<br />
Vor kurzem wurde bekannt, dass Guido<br />
Westerwelle unter Leukämie leidet. Hat<br />
sich da Ihr Blick auf ihn verän<strong>der</strong>t?<br />
Nein. Ich habe Westerwelle immer<br />
als Menschen sehr geschätzt, allerdings<br />
politisch in je<strong>der</strong> Hinsicht abgelehnt. Er<br />
ist ein sympathischer Mensch, <strong>der</strong> sehr<br />
gut zuhört und sich kümmert. Mit <strong>der</strong><br />
politischen Person habe ich das nie übereinbekommen.<br />
Von daher tut es mir sehr<br />
leid, dass ihn dies erwischt hat, und ich<br />
wünsche ihm wirklich das Allerbeste.<br />
In an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n wird mit Gesundheit<br />
und Krankheit von Spitzenpolitikern<br />
streng umgegangen. Wer US-Präsident<br />
werden will, muss sich einem<br />
medizinischen Check stellen. Können<br />
Sie sich das für Deutschland vorstellen?<br />
Wie es in Amerika ist, wünsche ich<br />
es mir auf keinen Fall. Da wird öffentlich<br />
spekuliert, ob jemand zu alt ist o<strong>der</strong><br />
die eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Erkrankung ihn einschränkt.<br />
Als Hillary Clinton kürzlich zu<br />
Hause stürzte und sich am Kopf verletzte,<br />
wurde öffentlich darüber räsoniert, ob<br />
sie nicht doch ein Schädelhirntrauma<br />
gehabt hat – mit allen Konsequenzen.<br />
Ekelhaft. Eine solche Diskussion ist<br />
MANFRED STOLPE stand wegen<br />
<strong>der</strong> Lkw-Maut als Verkehrsminister<br />
2004 unter Druck. Sein Arzt diagnostizierte<br />
Krebs. Stolpe wollte<br />
nicht als Versager gelten und zog<br />
durch<br />
Als Ministerpräsidentin verschwieg<br />
HEIDE SIMONIS 2002, dass sie<br />
Brustkrebs hat. Sie ließ sich an<br />
einem Samstag operieren. Am<br />
Montag war sie wie<strong>der</strong> im Dienst<br />
Seinen Körper ignorierte CSU-Chef<br />
HORST SEEHOFER einfach.<br />
Im Januar 2002 kam er auf die<br />
Intensivstation. Die Diagnose:<br />
Herzmuskelentzündung<br />
unmenschlich. Ein Politiker hat ein Recht<br />
darauf, über seine medizinische Verfassung<br />
zu schweigen.<br />
Die CSU-Politikerin Christine Ha<strong>der</strong>thauer<br />
hat einen Schlaganfall gerade<br />
noch vermieden, danach darüber geredet<br />
und festgestellt: „Der Zeitgeist<br />
steht auf ständiges Funktionieren.“<br />
Liegt es nicht nahe, dass sich Politiker<br />
auch dopen, um zu funktionieren?<br />
Zu behaupten, wir würden alle<br />
krank werden und Drogen benötigen,<br />
um diesem gigantischen Druck standzuhalten,<br />
wäre schlicht unwahr. Natürlich<br />
sind die Spitzenpositionen zeitlich<br />
extrem belastend, und die Fallhöhe ist<br />
enorm. Aber wo wäre das an<strong>der</strong>s? <strong>Ist</strong><br />
das im Spitzensport an<strong>der</strong>s? <strong>Ist</strong> das im<br />
Management an<strong>der</strong>s? <strong>Ist</strong> das im Spitzenjournalismus<br />
an<strong>der</strong>s? Seien wir ehrlich:<br />
90 Prozent <strong>der</strong> Politiker sind keine Spitzenpolitiker,<br />
son<strong>der</strong>n einigermaßen gut<br />
versorgt.<br />
<strong>Ist</strong> Politik kein Extremsport?<br />
So stellen es Journalisten manchmal<br />
dar. Und auch ein paar Politiker, die eher<br />
eine ruhige Kugel schieben, haben ein Interesse<br />
an so einer Romantisierung. In<br />
Wahrheit ist <strong>der</strong> größte Stress von manchen<br />
Abgeordneten, dass die Partei sie<br />
wie<strong>der</strong> aufstellt. Das sind überschaubare<br />
Probleme.<br />
<strong>Ist</strong> die Alkoholikerquote höher als in an<strong>der</strong>en<br />
Bereichen?<br />
Glaube ich nicht. Man fällt ja schon<br />
auf, wenn man zum Essen den zweiten<br />
Wein bestellt. Dass zum Mittagessen jemand<br />
zwei Glas Wein trinkt, was früher<br />
in Bonn für viele die Untergrenze<br />
gewesen sein muss, das ist heute unüblich.<br />
Keiner will als <strong>der</strong>jenige gelten, <strong>der</strong><br />
ein Alkoholproblem hat. Es gibt Abgeordnete<br />
mit Alkoholproblemen, das ist<br />
ganz klar. Aber ab einer gewissen Ebene<br />
könnte ich mir vorstellen, dass <strong>der</strong> Politikerberuf<br />
sogar vor dem Alkoholismus<br />
schützen kann.<br />
Wie das denn?<br />
Man will zur Spitze gehören. Das<br />
schafft man als Alkoholiker nicht, weil<br />
man nicht immer funktioniert, wenn es<br />
Fotos: Markus Wächter/Caro Fotoagentur, David Maupilé/Laif, Michael Gottschalk/Photothek via Getty Images<br />
36<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
nötig ist. Und man steht unter strenger<br />
Beobachtung.<br />
Man würde die Droge Macht mit <strong>der</strong><br />
Droge Alkohol abschießen.<br />
Ob eine politische Position tatsächlich<br />
eine Droge ist, sei dahingestellt. Für<br />
den einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en sicherlich. Aber<br />
es ist auch ein großer Stressfaktor, wenn<br />
einer seine Vorstellungen nicht durchsetzen<br />
kann o<strong>der</strong> es nicht in eine wichtige<br />
Funktion schafft. Das ist Stress, <strong>der</strong> von<br />
innen kommt.<br />
Erkennen Sie es, wenn ein Kollege alkoholkrank<br />
ist?<br />
Wenn jemand ein ausgeprägtes Alkoholproblem<br />
hat, dann bemerkt man<br />
das als Arzt.<br />
Woran?<br />
Ich würde das jetzt ungern im Detail<br />
erläutern, sonst laufen Sie durch den<br />
Bundestag und versuchen sich in Dilettantendiagnosen.<br />
Aber es gibt klassische<br />
Symptome, die auf Alkoholismus<br />
hinweisen. Als Arzt haben Sie das Problem,<br />
dass Sie die Zeichen einer Erkrankung<br />
bereits sehen, ohne dass Sie danach<br />
suchen. Man scannt jeden automatisch,<br />
eigentlich traurig. Es gibt zum Beispiel<br />
tückische Verän<strong>der</strong>ungen unter den Augenli<strong>der</strong>n,<br />
an denen ich eine genetische<br />
Veranlagung für cholesterinbedingte zukünftige<br />
Herzinfarkte erkennen kann.<br />
Wenn ich jemandem in die Augen schaue<br />
und das sehe, dann überlege ich schon,<br />
ob ich den Kollegen darauf anspreche.<br />
Werden Sie eigentlich geschont von<br />
politischen Konkurrenten? Weil die sagen:<br />
Mit dem Doktor Lauterbach stell<br />
ich mich lieber gut, vielleicht hab ich<br />
auch mal ein Problem und brauche einen<br />
guten Ratschlag.<br />
Von welcher Schonung sprechen<br />
Sie? Ich werde lei<strong>der</strong> von niemandem<br />
geschont. Nicht mal von allen Kolleginnen<br />
und Kollegen in <strong>der</strong> SPD.<br />
FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />
… ob sie als emanzipiert gelten kann,<br />
obwohl sie nicht Rasen mäht<br />
Ich bin eine technische Null. Ob das bei mir frauenspezifisch o<strong>der</strong><br />
ameliespezifisch ist, weiß ich nicht. Wenn das Auto nicht anspringt,<br />
<strong>der</strong> Fernseher streikt o<strong>der</strong> ich meinen Computer nicht verstehe,<br />
frage ich meistens einen Mann. Nach meiner Erfahrung kennen sich<br />
Männer mit Technik in <strong>der</strong> Regel besser aus. Das laut zu sagen, traue<br />
ich mich kaum, Geschlechterklischees sind nämlich bäh. Wir Frauen<br />
können alles, und wenn wir’s noch nicht können, dann können wir’s<br />
lernen, so heißt es. Die Frage ist nur: Wollen wir auch alles lernen?<br />
Also: Ich nicht. Ich kann vieles gut. Kochen, einparken, Memory<br />
spielen, stricken. Wieso soll ich Sachen lernen, die mir keinen Spaß<br />
machen und für die ich nicht begabt bin? Solange das irgendwelche<br />
Sachen sind, kümmert es keinen, wenn ich mich verweigere. Verweigere<br />
ich aber Tätigkeiten, die eher Männern zugeschrieben werden,<br />
wird daraus ein Politikum. Ich darf mich zum Beispiel <strong>der</strong> Technik<br />
nicht verweigern, weil ich sonst 40 Jahre Frauenbewegung verrate.<br />
In meiner Ehe gibt es Männerarbeit und Frauenarbeit. Männerarbeit<br />
ist alles, was ich nicht gern mache o<strong>der</strong> nicht gut kann. Geräte<br />
reparieren, Rasen mähen, Schnee schippen. Frauenarbeit ist alles,<br />
was ich gern mache und gut kann. Kochen, Möbel umräumen, Reisen<br />
organisieren. So tun mein Mann und ich überwiegend Dinge, die wir<br />
können o<strong>der</strong> gerne tun. Bei uns findet Gleichberechtigung an<strong>der</strong>swo<br />
statt: Wir haben die Kin<strong>der</strong> gemeinsam aufgezogen und trotzdem<br />
unsere Berufe ausgeübt. Keiner ist finanziell vom an<strong>der</strong>en abhängig,<br />
keiner würde im Fall einer Trennung Unterhalt beanspruchen. Je<strong>der</strong><br />
von uns ist gleich wichtig, mal steckt <strong>der</strong> eine zurück, mal <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e.<br />
In unserer Ehe herrscht keine Gleichheit, son<strong>der</strong>n Gerechtigkeit.<br />
Gleichberechtigung ist nicht, wenn alle das Gleiche tun (müssen)<br />
o<strong>der</strong> gar die Rollen tauschen. Gleichberechtigung ist, wenn je<strong>der</strong><br />
seinen Neigungen und Begabungen entsprechend leben kann und die<br />
Aufgaben des Alltags gerecht verteilt sind. Ich jedenfalls verschwende<br />
meine Kraft nicht in ideologischen Scheingefechten. Wäre<br />
es nötig, könnte ich Rasen mähen und Schnee schippen, aber solange<br />
ein Mann im Haus ist, muss ich nicht. Emanzipiert bin ich trotzdem.<br />
Das Gespräch führten GEORG LÖWISCH<br />
und CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
AMELIE FRIED ist Fernsehmo<strong>der</strong>atorin und Bestsellerautorin.<br />
Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />
sonst an Fragen aufwirft<br />
37<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Zwischenruf<br />
BETRIEBSRAT UND MANAGEMENT<br />
Von STEPHAN WEIL<br />
Innovation und Gerechtigkeit! Den Älteren kommt dieser<br />
Slogan vielleicht noch bekannt vor: „Arbeit, Innovation<br />
und Gerechtigkeit“ – mit diesem Dreiklang gewann<br />
die SPD 1998 die Bundestagswahl. Und Gerhard Schrö<strong>der</strong><br />
wurde Bundeskanzler.<br />
15 Jahre später klang es ganz an<strong>der</strong>s: „Das Wir entscheidet“,<br />
hieß das Motto im Bundestagswahlkampf 2013,<br />
und die SPD landete zum zweiten Mal hintereinan<strong>der</strong> bei<br />
Mitte 20 Prozent <strong>der</strong> Wählerstimmen. Dass auch die Regierungsbeteiligung,<br />
<strong>der</strong> Mindestlohn und das Rentenpaket<br />
daran nichts Entscheidendes geän<strong>der</strong>t<br />
haben, zeigen die Wahlen zum Europäischen<br />
Parlament.<br />
Zwei unterschiedliche Slogans,<br />
zwei unterschiedliche Wahlergebnisse<br />
– so einfach ist es natürlich nicht.<br />
Wahlerfolge und -nie<strong>der</strong>lagen haben<br />
viele Gründe. Das politische Profil<br />
gehört jedoch zu den entscheidenden<br />
Faktoren. Da ist dann eben doch festzustellen,<br />
dass die SPD 1998 eine sehr<br />
klare Orientierung auf Wirtschaft und<br />
Zukunft hatte, 2013 dagegen an ein<br />
eher diffuses Gefühl <strong>der</strong> Zusammengehörigkeit<br />
appellierte.<br />
Aufmerken lässt auch ein an<strong>der</strong>er<br />
Vergleich. Die Wähler haben <strong>der</strong> SPD<br />
2013 Kompetenz beigemessen, allerdings<br />
vor allem bei Themen wie Gesundheit,<br />
Familie und soziale Gerechtigkeit. In Fragen <strong>der</strong><br />
Finanzen, <strong>der</strong> Wirtschaft und <strong>der</strong> Arbeit hatte dagegen die<br />
Union einen großen Vorsprung. Viele Menschen halten die<br />
SPD für einen guten Betriebsrat <strong>der</strong> Gesellschaft, trauen ihr<br />
aber das Management nicht zu. Das war 1998 ganz an<strong>der</strong>s;<br />
gerade bei Wirtschaft und Arbeit hatte die SPD ein ausgeprägtes<br />
Profil.<br />
Die Schlussfolgerung ist zwingend: Die SPD muss stärker<br />
eine innovative Wirtschaftspolitik und die Sorge <strong>der</strong><br />
Menschen um einen Arbeitsplatz in den Mittelpunkt ihrer<br />
Politik stellen, wenn sie wie<strong>der</strong> mehrheitsfähig werden will.<br />
Es reicht nicht aus, sich auf die sozial gerechte Verteilung<br />
dessen zu konzentrieren, was erwirtschaftet worden ist.<br />
Was kann die SPD anbieten? Eine eindimensionale Wirtschaftspolitik,<br />
die die Senkung von Steuern und sozialen<br />
Standards propagiert? Die SPD als bloßer Erfüllungsgehilfe<br />
<strong>der</strong> Wirtschaft? Das käme sie teuer zu stehen. Die Antwort<br />
ergibt sich vielmehr durch einen Blick auf die wachsenden<br />
Sorgen in immer mehr Unternehmen, für die gerade klassische<br />
Teile <strong>der</strong> sozialdemokratischen Programmatik viele<br />
Lösungen bieten.<br />
In unserer Gesellschaft geht die Zahl jüngerer Menschen<br />
zurück, <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Senioren wächst. Diese Entwicklung<br />
trifft auch die Unternehmen: Fachkräftemangel avanciert<br />
zum Wachstumsrisiko <strong>der</strong> deutschen Wirtschaft. Weniger<br />
junge Erwerbstätige und wachsende Anfor<strong>der</strong>ungen an <strong>der</strong>en<br />
Qualifikation verheißen eine schwierige Zukunft.<br />
Die Antwort auf diese Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
liegt nicht in weniger Staat,<br />
son<strong>der</strong>n in einem aktiven Staat: Bildung<br />
und Qualifizierung, Vereinbarkeit<br />
von Familie und Beruf, Zuwan<strong>der</strong>ung<br />
und Integration. Unsere<br />
Unternehmen werden dringend Talente<br />
benötigen, junge Frauen und<br />
junge Migranten eingeschlossen. Aus<br />
früheren Nischenthemen werden so<br />
zentrale Zukunftsthemen, aus sozialdemokratischen<br />
Zielen ökonomische<br />
For<strong>der</strong>ungen.<br />
Vor dem Hintergrund des demografischen<br />
Wandels zeigt sich, wie<br />
mo<strong>der</strong>n die Programmatik <strong>der</strong> SPD<br />
ist. Dass ein Staat in kluge Köpfe<br />
investieren muss, wird von Jahr zu<br />
Jahr deutlicher. Natürlich lässt sich<br />
eine mo<strong>der</strong>ne Wirtschaftspolitik nicht nur auf Bildung und<br />
Qualifizierung reduzieren. Eine leistungsfähige Infrastruktur,<br />
wettbewerbsfähige Standortkosten und an<strong>der</strong>e Faktoren<br />
gehören dazu. Gleichwohl: Die SPD hat als Partei <strong>der</strong><br />
Arbeit und als Partei <strong>der</strong> Bildung die Chance, ein authentisches<br />
Profil für die zentrale Herausfor<strong>der</strong>ung unserer Gesellschaft<br />
zu entwickeln.<br />
Sicher: Der Weg zurück zur Mehrheitsfähigkeit wird<br />
für die SPD nicht einfach, aber er ist gangbar. Er setzt eine<br />
selbstkritische Überprüfung bisheriger Schwerpunkte voraus,<br />
er kann aber an gute Erfahrungen anknüpfen. „Innovation<br />
und Gerechtigkeit“ – nicht die schlechtesten Leitplanken<br />
für den künftigen Kurs <strong>der</strong> SPD.<br />
STEPHAN WEIL ist Ministerpräsident von Nie<strong>der</strong>sachsen. Der<br />
Sozialdemokrat regiert seit 2013 mit einer rot-grünen Koalition<br />
Als die SPD auf ein starkes wirtschaftspolitisches Profil setzte,<br />
wurde Gerhard Schrö<strong>der</strong> Kanzler. Daran sollte sie sich erinnern<br />
Illustration: TV-yesterday<br />
38<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
VSF&P<br />
A<br />
UNG<br />
Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />
GERN<br />
© Foto Schwennicke : Andrej Dallmann, © Foto Meyer: Antje Berghäuser, © Foto Merkel: Bundesregierung/Denzel<br />
Angela Merkel<br />
27. AUGUST<br />
ANGELA<br />
MERKEL<br />
Christoph Schwennicke<br />
Frank A. Meyer<br />
Auf dem Höhepunkt <strong>der</strong> Macht<br />
Welche Ziele hat unsere Kanzlerin in ihrer dritten Legislaturperiode,<br />
was sind die Wegmarken für die zweite Auflage <strong>der</strong> Großen Koalition<br />
und wie verän<strong>der</strong>t sich Deutschlands Rolle in <strong>der</strong> Welt?<br />
<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur Christoph Schwennicke und <strong>Cicero</strong>-Kolumnist<br />
Frank A. Meyer im Gespräch mit Angela Merkel.<br />
Mittwoch, 27. August 2014, 18:00 Uhr<br />
Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />
Tickets unter:<br />
030 28 408 155<br />
In Kooperation mit<br />
dem Berliner Ensemble<br />
cicero.de
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
DER<br />
ABFRACKER<br />
Von GEORG LÖWISCH<br />
Fotos KIÊN HOÀNG LÊ<br />
Ein Mann treibt die Erdgasindustrie<br />
in die Defensive. In <strong>der</strong> CDU drückt<br />
er seine Kritik am Fracking durch.<br />
Geschichte über die Macht eines<br />
einzelnen Abgeordneten<br />
Oben: Gleich neben Langwedel<br />
in Nie<strong>der</strong>sachsen wird in einer<br />
Tiefe von 5000 Metern nach<br />
Erdgas gebohrt<br />
Rechts: Andreas Mattfeldt,<br />
CDU-Bundestagsabgeordneter,<br />
kämpft für strenge Regeln für<br />
die deutsche Erdgasför<strong>der</strong>ung<br />
Links: Mattfeldt inszeniert den<br />
Protest unübersehbar – an<br />
seinem Gartenzaun in Langwedel.<br />
Und in <strong>der</strong> Union in Berlin<br />
40<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Protestkreuze gegen Gasbohren.<br />
Der CDU-Mann Mattfeldt hat<br />
auch eines: „Die ketten sich an<br />
bei mir im Wahlkreis“<br />
Am Donnerstagnachmittag um 14.37 Uhr,<br />
die Sonne scheint ihm in den Nacken,<br />
lässt Sigmar Gabriel Dampf ab. Er war<br />
eine halbe Stunde artig, eingezwängt<br />
zwischen Sessel und Sitzungstisch, das<br />
Sakko über <strong>der</strong> Lehne. Er hat leise gesprochen, kurze<br />
Antworten, sonore Vizekanzlerstimme. Aber jetzt<br />
reicht es, jetzt muss sie raus, seine „ganz persönliche<br />
Einschätzung“, die dürfen <strong>der</strong> Mann mit <strong>der</strong> roten Krawatte<br />
links neben ihm und die an<strong>der</strong>en am Tisch schon<br />
noch hören. Es gehe nicht, die För<strong>der</strong>ung von Schiefergas<br />
auf ewig auszuschließen. „In diesem Land ist es inzwischen<br />
so, dass Menschen davor Angst haben, dass<br />
sie Krebs kriegen, wenn eine Stromleitung in Sicht ist.“<br />
Der SPD-Chef schaut in den kühl klimatisierten<br />
Raum im Paul-Löbe-Haus des Bundestags. Er hat gerade<br />
einen CDU-Spruch rausgehauen, so reden Unionspolitiker<br />
über Ökos. Aber an dem großen runden<br />
Tisch sitzt kein einziger Grüner. Der Wirtschaftsminister<br />
hat Abgeordnete des Koalitionspartners vor sich,<br />
30 Politiker von CDU und CSU. Sie sind ein wichtiger<br />
Grund dafür, dass Fracking, jene umstrittene Technik<br />
<strong>der</strong> Erdgasför<strong>der</strong>ung, in Deutschland gerade ziemlich<br />
tot ist. Und dass es nach <strong>der</strong> Sommerpause einen Gesetzentwurf<br />
geben wird, <strong>der</strong> den Erdgasunternehmen<br />
das Leben auch künftig schwer machen wird.<br />
Gabriel hat wenig zu gewinnen mit dem Fracking.<br />
Er hat auch wenig zu gewinnen gegen den Mann mit<br />
<strong>der</strong> roten Krawatte, <strong>der</strong> links neben ihm sitzt: Andreas<br />
Mattfeldt, 44 Jahre alt, CDU-Abgeordneter aus Nie<strong>der</strong>sachsen.<br />
Er hat um sich mehre dutzend Unionsabgeordnete<br />
geschart, die etwas gegen Fracking haben.<br />
Die „Mattfeldt-Gruppe“ heißt <strong>der</strong> Zusammenschluss<br />
im Bundestag. Es klingt unglaublich, doch letztlich<br />
hat dieser eine Abgeordnete die Erdgasunternehmen<br />
in Deutschland unterworfen. Der CDU hat er in einer<br />
Zukunftsfrage seine Linie aufgedrückt.<br />
MATTFELDT HAT EIN weiches Gesicht, mit einem lustigen<br />
Zug im linken Mundwinkel. Das Gesicht sagt:<br />
Tu mir nichts, dann tu ich dir nichts. Nur sein gera<strong>der</strong><br />
Blick kann Härte erzeugen, er sticht dann beinahe<br />
drohend geradeaus.<br />
Im Haushaltsausschuss beaufsichtigt Mattfeldt<br />
das Budget des Wirtschaftsministeriums. Wenn Gabriel<br />
Geld braucht, neue Stellen in irgendeinem Referat,<br />
führt <strong>der</strong> Weg über Mattfeldt. Dieser Umstand dürfte<br />
dazu beigetragen haben, dass sich <strong>der</strong> Minister an diesem<br />
Nachmittag Zeit genommen hat. In <strong>der</strong> vergangenen<br />
halben Stunde hat er ein Zugeständnis nach dem<br />
an<strong>der</strong>en gemacht. Eine Prüfung <strong>der</strong> Umweltverträglichkeit<br />
für alle Erdgasbohrungen. Ein Vetorecht <strong>der</strong><br />
Landratsämter. Und wenn es Schäden gibt, muss das<br />
Energieunternehmen nachweisen, dass es nicht schuld<br />
daran ist. Nur am Schluss gestattet sich Gabriel den<br />
kleinen Ausbruch zur Technologiefeindlichkeit: „Da<br />
habe ich einen prinzipiellen Wi<strong>der</strong>stand.“<br />
41<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
Mattfeldt richtet sich im Sessel auf. „Zunächst<br />
einmal herzlichen Dank für Ihre Ausführungen, Herr<br />
Minister.“ Blick auf Gabriel. Es hätten sich mehr als<br />
60 Kollegen von CDU und CSU für diese Sitzung angemeldet,<br />
über 100 machten sich ernste Gedanken über<br />
die Erdgasför<strong>der</strong>ung. Technologiefeindlich? Blick in<br />
die Runde. „Es ist hier niemand gegen eine sichere<br />
Erdgasför<strong>der</strong>ung.“ Blick zu Gabriel. „Ich bin allerdings<br />
nicht so gutgläubig <strong>der</strong> Industrie gegenüber, wie ich das<br />
vielleicht vor 15 Jahren war.“ Blick in die Runde. „Das<br />
darf ich auch in aller Deutlichkeit sagen!“<br />
FRACKING IST NICHT EBEN erst aus den USA nach<br />
Deutschland gekommen. In <strong>der</strong> Bundesrepublik wird<br />
schon seit Jahrzehnten gebohrt – und gefrackt. In Nie<strong>der</strong>sachsen<br />
begannen Geologen in den fünfziger Jahren<br />
damit, systematisch nach Erdgas zu suchen. Wo<br />
sie fündig wurden, brachen Ingenieure mit ihren Maschinen<br />
tief ins Gestein hinein. Erdgas hat sich über<br />
Millionen von Jahren aus organischen Ablagerungen<br />
gebildet, aus Pflanzen, aus Algen. Die Ablagerungen<br />
haben sich in <strong>der</strong> Tiefe verän<strong>der</strong>t. Unter Druck und bestimmten<br />
Temperaturen entstand das sogenannte Muttergestein,<br />
in dessen Poren sich das Gas befand. Weil<br />
es leicht war, strömte es von dort nach oben und wurde<br />
erst von undurchlässigen Steinschichten gestoppt, sodass<br />
Lagerstätten entstanden. Das Gestein bohrten die<br />
Ingenieure an, sie gingen bis auf 5000 Meter unter die<br />
Erde und bahnten dem Rohstoff einen Weg.<br />
Das Gas strömte, die Firmen kassierten. War das<br />
Gestein zu dicht, pumpten die Ingenieure unter hohem<br />
Druck Wasser und Chemikalien in die Erde. Sie<br />
erzeugten Risse, in die sie Sand o<strong>der</strong> Keramikkügelchen<br />
nachschossen, um den Weg für das Gas offen zu<br />
halten. Die Methode wurde 1961 in Nie<strong>der</strong>sachsen das<br />
erste Mal eingesetzt, sie kam aus den USA und hieß<br />
Hydraulic Fracturing, o<strong>der</strong>: Fracking.<br />
Der Bedarf nach Erdgas stieg. Nach <strong>der</strong> Ölkrise<br />
setzte Deutschland in den Siebzigern mehr und mehr<br />
auf Gas. Die Gasheizung galt schnell als mo<strong>der</strong>n, sauber<br />
und günstig. Die Heizöllaster hielten vor immer<br />
weniger Häusern, die Öltanks wurden herausgerissen,<br />
um Platz im Haus zu schaffen, Familienväter richteten<br />
sich einen Hobbykeller ein. Deutschland importierte<br />
den Brennstoff, aber rund 10 Prozent des Verbrauchs<br />
wurden im Land geför<strong>der</strong>t. Die Bergämter vergaben<br />
Konzessionen, <strong>der</strong> Staat kassierte einen För<strong>der</strong>zins,<br />
vor allem in Nie<strong>der</strong>sachsen, denn 95 Prozent des deutschen<br />
Erdgases kommen von dort.<br />
1996 bekam auch Andreas Mattfeldt im nie<strong>der</strong>sächsischen<br />
Langwedel einen Gasanschluss. Er hat ein<br />
stattliches Haus, es ist Sommer, 20 Grad. Eine Woche<br />
nach dem Termin mit Gabriel spaziert Mattfeldt um<br />
den Klinkerbau und zeigt seinen Garten. Im Winter<br />
an Sonntagnachmittagen sitzt er mit seiner Frau und<br />
den zwei Töchtern im warmen Wohnzimmer bei Kaffee<br />
und Butterkuchen. Er habe sich lange nicht darum<br />
gekümmert, wo das Gas herkommt, sagt er. „Hauptsache<br />
ein warmer Arsch.“<br />
Mattfeldt ist eigentlich Industriekaufmann für<br />
Fleischwaren. Wurst, Schinken, Brotaufstriche. Nachdem<br />
er sich dafür engagiert hatte, das heruntergekommene<br />
Freibad zu retten, wählte ihn Langwedel zum<br />
Bürgermeister. Wenn er abends an einer Bohrstelle <strong>der</strong><br />
RWE Dea vorbeifuhr und in <strong>der</strong> Dunkelheit eine Gasfackel<br />
lo<strong>der</strong>n sah, war er stolz. Die sauberste Energiequelle,<br />
die es gibt, dachte er. Als Bürgermeister wurde<br />
er zu Festen <strong>der</strong> Gasfirmen eingeladen. Die Ingenieure<br />
und die Männer vom Bergamt saßen beim Bier.<br />
Im Oktober 2004 machte Mattfeldt Urlaub auf Sylt,<br />
als er aufgeregte Anrufe bekam. „Andreas, ein Erdbeben,<br />
hier hat es gerumst.“ Eine Magnitude von 4,5<br />
auf <strong>der</strong> Richter-Skala. Er dachte an die Bohrungen, er<br />
rief bei <strong>der</strong> RWE Dea an, beim Bergamt in Hannover.<br />
„Die haben mich als Vollpfosten abgetan, als Dussel.“<br />
Vielleicht war das <strong>der</strong> größte Fehler, den die Industrie<br />
machen konnte.<br />
IN DEN USA beschlossen die Firmen in dieser Zeit, Fracking<br />
verstärkt einzusetzen. Das Gas sollte direkt aus<br />
dem Muttergestein geholt werden, dort wo es entstanden<br />
war. Die Ingenieure bohrten ins Schiefergestein,<br />
sie nannten die neuen Methoden Superfracking, und<br />
die lohnten sich, denn die Energiepreise waren hoch.<br />
Die Branche boomte, die USA konnten ihre Gasimporte<br />
drastisch reduzieren. Aber es gab bald Streit. Das<br />
Wasser, das auf den Bohrplätzen nach oben kam, war<br />
giftig, manchmal radioaktiv. Die Firmen entsorgten<br />
Was tun die hinterm Zaun? Und was<br />
im Erdinnern? Lange kümmert das keinen.<br />
„Hauptsache, ein warmer Arsch“
zackige Linie, sie führt von <strong>der</strong> einen Wand übers Eck<br />
zur an<strong>der</strong>en. Ein Riss. Vom Rums. „Da fällt das Haus<br />
nicht zusammen“, sagt Mattfeldt. Aber bisher muss<br />
ein Geschädigter <strong>der</strong> Erdgasfirma nachweisen, dass sie<br />
schuld ist. „Die Eigentümer wollen das ersetzt wissen.“<br />
Das Bundesumweltamt warnte vor unwägbaren<br />
Gefahren des Fracking. Im Gesetz stand nichts, was<br />
die Technik verbot. Es gab jedoch auch keine Regelungen,<br />
auf die sich Industrie und Bergämter berufen<br />
konnten. Die Leute in den Gasfirmen und in den Bergämtern<br />
hielten lieber still, bis ein Gesetz die Dinge<br />
klären würde. Sie hofften auf die FDP, <strong>der</strong>en Chef<br />
Philipp Rösler ein passendes Gesetz versprach. Und<br />
auf die CDU, die für Technologiefreundlichkeit stand.<br />
Sie hofften auf Männer wie Michael Fuchs.<br />
Er hat das Dorf zu seiner Familie gemacht.<br />
Jetzt verteidigt er die Heimat. Mattfeldt<br />
rüstet sich für den nächsten Auftritt<br />
es nicht immer sauber. Eine Studie <strong>der</strong> Duke University<br />
fand Hinweise, dass das Trinkwasser in <strong>der</strong> Nähe<br />
von Bohrstellen mit Gas kontaminiert ist. „Don’t frack<br />
my mother“, sangen Sean Lennon und Yoko Ono. Das<br />
Dilemma zwischen Energiehoffnung und Umweltangst<br />
war ein Stoff für Hollywood. „Promised Land“ handelte<br />
davon, wie Fracking die USA spaltet, Matt Damon<br />
stellte den Film auf <strong>der</strong> Berlinale vor.<br />
Als im Münsterland und am Bodensee bekannt<br />
wurde, dass Gasfirmen die Gegend erkundeten, um<br />
dort die neuartigen Fracking-Methoden aus den USA<br />
einzusetzen, waren die Menschen beunruhigt. Die Ablehnung<br />
baute auf Kindheitswissen auf: Gas ist gefährlich.<br />
Explosiv, giftig, unsichtbar.<br />
Im August 2011, Mattfeldt saß inzwischen im Bundestag,<br />
suppte aus einem Rohr <strong>der</strong> RWE Dea Benzol,<br />
<strong>der</strong> Stoff ist krebserregend. Das Benzol war auf mehreren<br />
Kilometern durch die Leitung diffundiert.<br />
Im November 2012 saß Mattfeldt beim Essen in<br />
Berlin. Das Handy klingelte: „Andreas, hier haben die<br />
Wände gewackelt.“ Nur eine Magnitude von 2,8, aber<br />
in 2000 bis 4000 Metern Tiefe, das Epizentrum am<br />
Rande des Erdgasfelds in Mattfeldts Nachbarschaft.<br />
Er geht von seinem Garten ums Haus und durch<br />
einen Seiteneingang in die Waschküche. Er zeigt eine<br />
VON DEN BUNDESTAGSBÜROS in Berlin hat Fuchs eines<br />
<strong>der</strong> feinsten. Blick auf die Reichstagskuppel, Blick<br />
auf die Spree, Montagmorgen, 8.20 Uhr, ein herrlicher<br />
Tag, die Woche kann beginnen. Fuchs, 65 Jahre alt,<br />
sitzt am Tisch, zwei Referenten schauen ihm beim Reden<br />
zu. Er ist einer <strong>der</strong> Vizechefs <strong>der</strong> Unionsfraktion,<br />
zuständig für Energie und Wirtschaft. Klar, er hat sich<br />
mit Fracking beschäftigt, Technik ist für ihn etwas Tolles.<br />
Sein erstes Geld als Unternehmer verdiente er mit<br />
einem speziellen Schlüsselanhänger. Statt ihn zu suchen,<br />
pfeift man einfach, und er macht sich durch ein<br />
Piepsen bemerkbar. Im Bundestag hat er für die Kernenergie<br />
gestritten, er war <strong>der</strong> „Atom-Fuchs“. Heute<br />
muss er Angela Merkels Atomausstieg mittragen. Aber<br />
alles macht er nicht mit. „Nur mit Sonne und Wind –<br />
wer glaubt, nur dadurch könnten wir die Energiewende<br />
schaffen, <strong>der</strong> liegt falsch. Es darf bei neuen Energiequellen<br />
einfach keine Denkverbote geben.“<br />
Ein wenig ist es wie früher. Es gibt die Bürgerinitiativen,<br />
die Umweltverbände, die Grünen. Und Michael<br />
Fuchs von <strong>der</strong> CDU steht auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite.<br />
„Wir sollten schon genau unterscheiden: Was sind Sorgen,<br />
die wir ernst nehmen müssen; und was ist nur ein<br />
neues Betätigungsfeld für NGOs, die sich nicht mehr<br />
an <strong>der</strong> Kernkraft abarbeiten können.“ Wir gegen die,<br />
Grün gegen Schwarz.<br />
Andreas Mattfeldt sitzt im Wintergarten von Sigrid<br />
Meyer-Klein in Langwedel. Vertreter <strong>der</strong> Bürgerinitiativen<br />
<strong>der</strong> Gegend sind zu Besuch. Aus Thedinghausen<br />
ist Dettmar Frese da, CDU-Mitglied, Rentner<br />
und bis vor kurzem noch Geschäftsführer von Masterrind,<br />
einem Versand von Bullensamen. Natürlich<br />
ist das jetzt nicht das Thema. Im Wintergarten geht<br />
es um grundwasserführende Schichten, um porösen<br />
Beton in Bohrleitungen, um das unbekannte Gebiet<br />
im Innern <strong>der</strong> Erde. „Keiner weiß, wie die Dinge dort<br />
unten sind“, gruselt sich Sigrid Meyer-Klein.<br />
Draußen summt ein Rasenmäher, im Wintergarten<br />
ist es heimelig. Ein Farn, ein getöpferter Leuchtturm,<br />
an einer Fensterfront hängt eine Lichterkette<br />
mit Sonnen, Monden und Sternen. Auf <strong>der</strong> Tischdecke<br />
43<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
mit dem Herzmuster stehen Kekse und Ferrero Küsschen<br />
bereit. Wenn RWE Dea auf die Idee kommt, sich<br />
neue Bohrstellen zu suchen, würde die Initiative sofort<br />
ihre roten Holzkreuze aufstellen. Gerade erklärt<br />
Mattfeldt: „Ich hab zum Sigmar Gabriel gesagt: ‚Die<br />
ketten sich an bei mir im Wahlkreis.‘“<br />
Je konkreter in Berlin 2012 über das Frackinggesetz<br />
gesprochen wurde, desto aktiver wurde Andreas<br />
Mattfeldt. Er verschmolz die Interessen: Die CDU-Abgeordneten<br />
aus Nie<strong>der</strong>sachsen, in <strong>der</strong>en Wahlkreisen<br />
schon gebohrt wird, brachte er mit Kollegen aus Wahlkreisen<br />
zusammen, in denen Energieunternehmen die<br />
Suche nach Schiefergas planten. Andreas Jung, ein<br />
Umweltpolitiker vom Bodensee, alarmierte die badenwürttembergischen<br />
Abgeordneten. Die Gruppe wuchs.<br />
Mit einem Bekannten vom Brauerbund überlegte<br />
Mattfeldt, was man noch tun könnte. Irgendwann<br />
stand auf Seite eins <strong>der</strong> Bild, die Bierbrauer fürchteten<br />
um das Trinkwasser. „Reinheitsgebot in Gefahr!“ Umgehend<br />
war die Mattfeldt-Gruppe um ein paar Kollegen<br />
<strong>der</strong> CSU stärker. Sie war nicht mehr zu ignorieren.<br />
In Mattfeldts Welt werden die Wichtigen und<br />
Mächtigen von Berlin Kumpels und Nachbarn, als kämen<br />
sie aus dem Flecken Langwedel. Spricht er von an<strong>der</strong>en<br />
Politikern, nennt er sie beim Vornamen, egal, ob<br />
er sie wirklich duzt o<strong>der</strong> nicht. Der Peter, <strong>der</strong> Sigmar.<br />
Die hierarchische Sortierung in Minister und Staatssekretäre,<br />
in Vizes und Sprecher verwischt in dieser<br />
Welt, als wäre <strong>der</strong> Bundestag ein Gemein<strong>der</strong>at und Peter<br />
Altmaier <strong>der</strong> Vorzimmerchef <strong>der</strong> Landrätin.<br />
Mattfeldt ist wichtig, weil er sich wichtig macht.<br />
Dabei agiert er so, dass ihm niemand <strong>böse</strong> sein kann.<br />
Missbilligt er etwas, sagt er bloß: „Mein lieber Schneeschieber!“<br />
Er verteilt Broschüren seiner alten Firma,<br />
Weißwürste, Kochschinken, Landschinken, alles bio,<br />
abends schmaust er mit Kollegen.<br />
Er ist in Langwedel nur mit <strong>der</strong> Mutter aufgewachsen.<br />
Der Vater, ein Austauschschüler, hatte sich nach<br />
einem Abenteuer zu Silvester 1968 wie<strong>der</strong> nach Frankreich<br />
verzogen. In <strong>der</strong> Provinz <strong>der</strong> siebziger Jahre<br />
musste man ohne Vater Vorurteile überwinden. Der<br />
Junge machte das Dorf zu seiner Familie. Heute verteidigt<br />
er es.<br />
2013, Schwarz-Gelb regierte noch, legte Philipp<br />
Röslers Wirtschaftsministerium Entwürfe für ein Frackinggesetz<br />
vor. Darin gab es Regeln, aber sie hatten<br />
Hintertürchen. Das neuartige Fracking sollte verboten<br />
werden, solange nicht alle Risiken geklärt sind. Das<br />
hieß: Sobald sie als geklärt angesehen werden, ist es<br />
erlaubt. Mattfeldts Kollege Andreas Jung ist Rechtsanwalt.<br />
Er schaute sich die Halbsätze an, die aus dem<br />
Ministerium kamen und suchte harte Formulierungen.<br />
Mattfeldt wirbelte, Jung schloss die Hintertürchen.<br />
Kurz vor <strong>der</strong> Bundestagswahl brach die Regierung<br />
das Projekt ab. Nach <strong>der</strong> Wahl verhandelten Union<br />
und SPD. Andreas Mattfeldt hatte den Eindruck, dass<br />
die SPD-Län<strong>der</strong> gegen harte Regeln arbeiteten, „mein<br />
lieber Schneeschieber!“ In Nordrhein-Westfalen sind<br />
Kommunen an RWE beteiligt. In Nie<strong>der</strong>sachsen kassiert<br />
das Land im Jahr 600 Millionen Euro För<strong>der</strong>zins<br />
von den Erdgasunternehmen. In die Koalitionsvereinbarung<br />
wurde geschrieben, Fracking habe ein<br />
erhebliches Risikopotenzial. Doch die Formulierungen<br />
klangen weich. „Wissensdefizite“, „Dialog mit allen<br />
Beteiligten“. Es waren Hintertürchen.<br />
DIE GASUNTERNEHMEN kämpfen. Sie haben im Februar<br />
eine Hauptstadtrepräsentanz aufgemacht. Die<br />
Leiterin Susanne Funk hat bis 2013 für die CDU gearbeitet.<br />
Sie war die Mitarbeiterin eines Abgeordneten,<br />
<strong>der</strong> im Umweltausschuss das Frackinggesetz bearbeitete.<br />
Sie kennt sich mit Hintertürchen aus.<br />
Michael Fuchs hat ein Dutzend Kaffeebecher in<br />
seinem Regal, sie tragen Logos von ARD und ZDF.<br />
Die Sen<strong>der</strong> laden ihn ein, weil sie hoffen, dass <strong>der</strong><br />
Atom-Fuchs doch noch mal zuschlägt. Weil er die Augenbrauen<br />
so schön hochzieht, dass sie spitz werden<br />
wie Dachgiebel. Und weil er Politik in Geschichten<br />
verpacken kann.<br />
Fuchs war vor ein paar Jahren in Nowy Urengoi,<br />
50 Kilometer westlich vom Polarkreis. Im Winter<br />
50 Grad Minus, im Sommer die Mücken. 100 000 Menschen,<br />
die sibirisches Gas för<strong>der</strong>n. „Große Mengen des<br />
russischen Gases kommen daher, fast 40 Prozent des<br />
gesamten deutschen Gasverbrauchs werden aus Russland<br />
gedeckt.“ Fuchs erzählt ganz ruhig, gerade so, als<br />
ob sie noch schliefen in Nowy Urengoi. Die För<strong>der</strong>technik<br />
dort machte keinen guten Eindruck auf ihn.<br />
Gas ist giftig, gefährlich, explosiv.<br />
Die Bürgerinitiative tagt im Wintergarten<br />
von Sigrid Meyer-Klein ( vorn )
Ich lese wie<strong>der</strong> Zeitung.<br />
* Laut IVW I/2014.<br />
Apple, the Apple Logo, iPhone and iPad are Trademarks of Apple Inc., reg. in the U.S. and other countries. App Store is a Service mark of Apple Inc.<br />
Schon ab 20 Uhr die Ausgabe von morgen lesen.<br />
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Verrostet, verrottet, schmutzig. Die Referenten merken<br />
auf, gleich kommt’s. „Dann wird ihnen bewusst, wie<br />
verwundbar solche Infrastrukturen auch sind. Von <strong>der</strong><br />
Abhängigkeit von Putin ganz zu schweigen.“ Die Referenten<br />
sehen besorgt aus, fast als wäre Nowy Urengoi<br />
gerade in die Luft geflogen. Das gefällt ihnen nicht.<br />
„Das kann uns nicht gefallen“, ruft Fuchs. „Wir brauchen<br />
an<strong>der</strong>e Varianten für die Gasversorgung!“<br />
Während <strong>der</strong> Sommerpause werden Wirtschaftsund<br />
Umweltministerium Gesetzestexte schreiben. Gabriel<br />
hat nun angekündigt, das Fracking in Schiefergas<br />
bis 2021 zu verbieten. Soll er vielleicht gegen Hollywood<br />
antreten? Sich mit Mattfeldt herumärgern? Nur<br />
Erprobungsprojekte ohne wassergefährdende Stoffe<br />
will <strong>der</strong> Minister ermöglichen. Fracking wie bisher,<br />
also in tieferen Schichten, soll erlaubt bleiben, doch<br />
die Regeln werden scharf sein. Umkehrung <strong>der</strong> Beweislast<br />
bei Schäden. Vetorecht <strong>der</strong> Landratsämter.<br />
Verbot im Einzugsbereich von Mineralbrunnen, von<br />
Bierbrunnen, von Seen, aus denen Trinkwasser entnommen<br />
wird. Mattfeldt hätte obendrein noch gern,<br />
dass das Wasser aus den Lagerstätten nicht wie<strong>der</strong> in<br />
die Erde gepresst werden darf, son<strong>der</strong>n gefiltert und<br />
aufbereitet wird. Das wäre teuer für die Industrie.<br />
KURZ NACH 17 UHR, Mattfeldts BMW 530d tuckert<br />
durch einen Stau auf <strong>der</strong> A 27. Er hat ein neues rotes<br />
Holzkreuz von Sigrid Meyer-Klein im Kofferraum. Er<br />
hat in Bremen am Bahnhof gerade einen Referatsleiter<br />
aus Gabriels Wirtschaftsministerium abgesetzt. Mattfeldt<br />
hat ihn zu einer Ortsbegehung eingeladen, es ist<br />
<strong>der</strong> Beamte, <strong>der</strong> den Sommer über am Gesetzestext<br />
arbeiten wird, und <strong>der</strong> Abgeordnete hat ihm vorsorglich<br />
noch einmal aufgedröselt, wie genau er sich im<br />
Stellenplan des Ministeriums auskennt.<br />
Jetzt klingelt das Handy. Freisprechanlage.<br />
„Mensch Andreas, du stehst bestimmt gerade auf einem<br />
Bohrfeld.“ Eine Ex-Politikerin aus Berlin ist dran,<br />
sie ist auch in <strong>der</strong> CDU, nun arbeitet sie für eine Lobbyagentur.<br />
Sie bietet eine Information über Gabriels<br />
Haltung an. Wenn sie wüsste. Im Gegenzug bittet sie<br />
darum, dass Mattfeldt ihr den ersten Gesetzentwurf<br />
schickt, sobald er da ist. Es geht um Informationsvorsprünge,<br />
darum, die neueste Formulierung zu kennen,<br />
nur dann kann man rechtzeitig Hintertürchen suchen.<br />
„Du bist ein Traum“, sagt er. Doch er verspricht nichts.<br />
Er ist durch den Stau durch. Der BMW schießt<br />
über die Autobahn.<br />
In Verden an <strong>der</strong> Aller wartet Gernot Kalkoffen,<br />
Deutschlandchef von Exxon Mobil, größter Erdgasför<strong>der</strong>er<br />
im Land, den Branchenverband führt er auch an.<br />
Er steht in <strong>der</strong> Kantine eines Mittelständlers, Neonlicht,<br />
Pokale vom Betriebssport in den Regalen. Der CDU<br />
Wirtschaftsrat, Sektion Elbe-Weser, hat Kalkoffen eingeladen.<br />
Er ist eine elegante Erscheinung. Silberner<br />
Schnauzer, dunkelblaue Krawatte, dunkelblaues Jackett.<br />
Er verantwortet 13 Milliarden Euro Umsatz im<br />
„Es hat geknallt, Herr Kalkoffen, es hat<br />
gewumst“ – Exxon-Mobil-Chef Gernot<br />
Kalkoffen muss die Branche verteidigen<br />
Jahr, aber die CDU ist wichtig für ihn, da kommt er<br />
auch in eine Kantine in Verden an <strong>der</strong> Aller.<br />
„Ich freue mich auf die Diskussion mit Herrn Mattfeldt“,<br />
sagt Kalkoffen. „Ich freue mich, dass wir versuchen<br />
weiterzukommen, konstruktiv.“ Seine Stimme<br />
klingt angenehm wie aus einer teuren Stereoanlage.<br />
Mit einer Fernbedienung klickt er sich durch seine Präsentation:<br />
Die Tradition <strong>der</strong> Erdgasindustrie. Ihre wichtige<br />
Rolle im Energiemix. Eine Grafik zeigt, wie in<br />
den Neunzigern Fracking die deutsche Gasför<strong>der</strong>ung<br />
ansteigen ließ – und wie sie seit kurzem zurückgeht.<br />
„2011 haben wir den letzten Frac gemacht“, klagt Kalkoffen.<br />
„Wir kriegen seit Jahren keine Genehmigung<br />
mehr.“ An den Tischen sitzen 30 Gäste. Unternehmer,<br />
Wirtschaftsprüfer, Geschäftsführer. Jetzt ist Mattfeldt<br />
dran. Er streckt den Rücken durch. „Es hat geknallt,<br />
Herr Kalkoffen, es hat gewumst, Herr Kalkoffen, da<br />
haben die Wände gewackelt.“ Er hält ein Foto vom Riss<br />
in seiner Waschküche hoch, sein Beweisstück. „Ich bin<br />
auch Unternehmer“, ruft er. „Ich bin <strong>der</strong> Schlachter im<br />
Parlament. Wurst und Schinken kann ich!“<br />
Etwas weiter hinten sitzt Dettmar Frese von <strong>der</strong><br />
Bürgerinitiative aus Thedinghausen. CDU, das ist er,<br />
und Wirtschaft, das ist er auch, <strong>der</strong> ehemalige Geschäftsführer<br />
von Masterrind.<br />
Bullensamen und Schinken: die neuen Ökos. Und<br />
alle in <strong>der</strong> CDU.<br />
GEORG LÖWISCH ist Textchef<br />
von <strong>Cicero</strong>. Er schätzt im<br />
Winter seine Gasetagenheizung<br />
und im Sommer eisgekühltes<br />
Trinkwasser aus <strong>der</strong> Leitung<br />
Foto: Andrej Dallmann (Autor)<br />
46<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
WELTBÜHNE<br />
„ Barack Obama<br />
führt einen Krieg gegen<br />
Whistleblower “<br />
Jesselyn Radack, die zur Gruppe <strong>der</strong> Anwälte von Edward Snowden gehört,<br />
lässt sich nicht einschüchtern, Seite 50<br />
47<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
DER NETTE HERR EKMEL<br />
Ekmeleddin Ihsanoglu verkörpert den kosmopolitischen Geist des alten Osmanischen<br />
Reiches: Er ist religiös und propagiert einen säkularen Staat. Nun will er Präsident werden<br />
Von FRANK NORDHAUSEN<br />
Mit diesem Kandidaten hatte<br />
niemand gerechnet, und doch<br />
könnte sich seine Nominierung<br />
als clever erweisen. „Ich bin bereit.<br />
Wer ein Badehaus betritt, <strong>der</strong> schwitzt“,<br />
sagte Ekmeleddin Ihsanoglu, nachdem<br />
ihn die beiden größten Oppositionsparteien<br />
<strong>der</strong> Türkei zu ihrem Kandidaten<br />
für die erste Direktwahl des türkischen<br />
Staatspräsidenten am 10. August erkoren<br />
hatten. Von einem „machtvollen Coup,<br />
<strong>der</strong> das politische Zentrum aufwühlt“,<br />
schwärmte <strong>der</strong> liberale Kolumnist Yavuz<br />
Baydar.<br />
Tatsächlich durchbricht die Opposition<br />
aus sozialdemokratisch-kemalistischer<br />
CHP und nationalistischer MHP<br />
damit die Polarisierungsstrategie von<br />
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan<br />
und dessen islamisch-konservativer<br />
Regierungspartei AKP. Sie will mit einem<br />
liberal-konservativen Kandidaten<br />
die Wählermehrheit rechts <strong>der</strong> Mitte ansprechen,<br />
auf die Erdogan, <strong>der</strong> ins Amt<br />
des Präsidenten wechseln will, bislang<br />
stets zählen konnte.<br />
„Wer ist Ekmeleddin Ihsanoglu?“,<br />
fragte nicht nur die Zeitung Hürriyet<br />
Daily News. „Ekmel Bey“, Herr Ekmel,<br />
wie Ihsanoglu inzwischen liebevoll genannt<br />
wird, ist ein gottesfürchtiger Muslim,<br />
zugleich Anhänger des säkularen<br />
Staatsgrün<strong>der</strong>s Atatürk, ein dezenter,<br />
umfassend gebildeter Wissenschaftshistoriker<br />
und ehemaliger Diplomat, <strong>der</strong> neben<br />
Türkisch perfekt Arabisch, Englisch,<br />
Französisch und Farsi spricht. Er gilt als<br />
überparteilich und moralisch integer.<br />
Auf den ersten Blick kann Ihsanoglu,<br />
70, im direkten Vergleich mit dem<br />
polternden Politikstil des charismatischen<br />
Populisten Erdogan kaum bestehen.<br />
Setzt Letzterer doch darauf, dass<br />
die autoritätsfixierten Türken den Bullen<br />
mit dem meisten Testosteron wählen.<br />
Aber Ihsanoglus vermeintliche Schwäche<br />
könnte sich als Stärke erweisen.<br />
Der Herausfor<strong>der</strong>er hat sich bewusst<br />
für eine leise, jedoch nicht weniger wirksame<br />
Wahlkampfstrategie entschieden.<br />
Ihsanoglu besucht wichtige Multiplikatoren<br />
– Unternehmerverbände, Gewerkschaften,<br />
Verbände. Er gibt Pressekonferenzen<br />
und geht ins Fernsehen, wo er<br />
im populären Sen<strong>der</strong> CNN Türk einen<br />
ersten Achtungserfolg erzielte. Die halbe<br />
Türkei saß am Bildschirm, als er mit ruhiger<br />
Stimme die Regierung für ihre einseitige<br />
Parteinahme für die Muslimbrü<strong>der</strong><br />
in Ägypten und für <strong>Islam</strong>isten kritisierte,<br />
weil dies nicht im nationalen Interesse sei.<br />
Außenpolitisch möchte er den EU-Beitritt<br />
vorantreiben und betont gleichzeitig die<br />
Rolle <strong>der</strong> Türkei als Vermittler zwischen<br />
West und Ost. „Ich stehe für eine größere<br />
Vision. Ich stehe für bessere Beziehungen<br />
zwischen Nationen und Zivilisationen“,<br />
sagte er. Nach dem CNN-Interview sah<br />
ihn ein Umfrageinstitut erstmals nahe<br />
am Favoriten Erdogan: Beide lagen bei<br />
etwa 45 Prozent.<br />
AUFGEATMET HÄTTEN SIE, sagen viele<br />
Türken. Endlich ein Spitzenpolitiker,<br />
<strong>der</strong> die unselige Tradition des kompromisslosen<br />
Lagerdenkens durchkreuzt, indem<br />
er von „Gegensätzen“ und nicht von<br />
„Feinden“ spricht! Sein Name flößt kleinen<br />
Teehausbesitzern in Zentralanatolien<br />
Vertrauen ein, Kemalisten mag beruhigen,<br />
dass seine Frau Füsun, eine Apothekerin,<br />
zwar religiös ist, aber kein Kopftuch trägt.<br />
Als Kind eines türkischen <strong>Islam</strong>lehrers<br />
und einer frommen Mutter in Kairo<br />
aufgewachsen, sammelte <strong>der</strong> Universitätsprofessor<br />
jahrzehntelange Erfahrungen<br />
auf dem diplomatischen Parkett.<br />
2004 wurde er als erster Türke Chef<br />
<strong>der</strong> Organisation für <strong>Islam</strong>ische Zusammenarbeit<br />
im saudi-arabischen Dschidda.<br />
Dort setzte er sich bis Ende vergangenen<br />
Jahres für Menschenrechte, Gleichberechtigung<br />
von Frauen und Demokratie<br />
in <strong>der</strong> islamischen Welt ein. Der<br />
Ex-Diplomat ist ein entschiedener Gegner<br />
einer <strong>Islam</strong>isierung <strong>der</strong> Politik und<br />
bekennt sich zum säkularen Staat. „Politik<br />
sollte nicht mit Religion vermischt<br />
werden.“<br />
Mit seiner Vita bietet er Erdogans<br />
AKP keine wirklichen Angriffsflächen. In<br />
gewissem Sinn verkörpert „Ekmel Bey“<br />
den kosmopolitischen Geist des alten Osmanischen<br />
Reiches, den Erdogan so oft<br />
zitiert. Seine Rolle als Präsident sähe<br />
Ihsanoglu eher als die eines „Schiedsrichters“,<br />
<strong>der</strong> nicht in die direkte Regierungsarbeit<br />
eingreift. „Der Präsident sollte alle<br />
76 Millionen Menschen in <strong>der</strong> Türkei vertreten“,<br />
sagt er. „Er sollte ihr Kopf sein,<br />
ohne jemanden zu bevorzugen.“<br />
Letztlich geht es bei <strong>der</strong> Präsidentenwahl<br />
vor allem darum, ob es den Oppositionsparteien<br />
gelingt, einen Sieg<br />
Erdogans im ersten Wahlgang zu verhin<strong>der</strong>n.<br />
Das würde dessen Aussichten<br />
deutlich min<strong>der</strong>n, ein durch die direkte<br />
Wahl legitimierter „starker“ Präsident<br />
zu werden.<br />
Aber das größte Problem <strong>der</strong> Opposition<br />
ist es, ihre potenziellen Wähler zur<br />
Stimmabgabe zu motivieren. Viele halten<br />
die Wahl für bereits gelaufen. Deshalb<br />
ziehen türkische Kommentatoren<br />
den Vergleich mit dem biblischen Kampf<br />
von David gegen Goliath. Diese Geschichte<br />
lehrt, dass vermeintlich Schwächere<br />
ein Spiel gewinnen können, wenn<br />
sie die Regeln än<strong>der</strong>n. Es sieht so aus, als<br />
sei genau das Ihsanoglus Strategie.<br />
FRANK NORDHAUSEN lebt seit drei Jahren<br />
als Auslandskorrespondent in <strong>Ist</strong>anbul. Den<br />
Präsidentschaftswahlkampf beobachtet er<br />
mit Sorge um die türkische Demokratie<br />
Foto: Mahmoud Illean/Demotix/Corbis<br />
48<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
DIE PATRIOTIN<br />
Jesselyn Radack war Karrierejuristin. Als sie begann, das Recht zu verteidigen, wurde<br />
sie zur Gegnerin <strong>der</strong> US-Regierung. Heute kämpft sie für Snowden. Und gegen Obama<br />
Von PETRA SORGE<br />
Abends sind ihre Schmerzen am<br />
schlimmsten. Jetzt ist es 22 Uhr,<br />
Anhörungssaal des Deutschen<br />
Bundestags, NSA-Untersuchungsausschuss.<br />
Die Luft steht heiß und stickig<br />
im Raum, die Klimaanlage ist ausgefallen,<br />
die Fenster zur Spree sind mit dicken<br />
grauen Gardinen verhangen. In <strong>der</strong> Mitte<br />
des Raumes sitzt die Anwältin Jesselyn<br />
Radack. Seit fast elf Stunden befragt<br />
<strong>der</strong> NSA-Untersuchungsausschuss zwei<br />
ihrer Mandanten. Sie hat Multiple Sklerose,<br />
eine chronische Erkrankung des<br />
Nervensystems. Jeden Tag schluckt sie<br />
23 Tabletten. Radack nippt an einer Tasse<br />
abgestandenem Filterkaffee, sie lässt sich<br />
nichts anmerken. Sie lobt den Mut ihrer<br />
Mandanten, <strong>der</strong> beiden früheren NSA-<br />
Topagenten William Binney und Thomas<br />
Drake, die <strong>der</strong> Ausschuss als erste Zeugen<br />
geladen hat.<br />
Die Juristin, 43 Jahre alt und Mutter<br />
von drei Kin<strong>der</strong>n, arbeitet für die Organisation<br />
Government Accountability<br />
Project. Sie verteidigt Mitarbeiter <strong>der</strong><br />
US-Regierung, die Straftaten in den eigenen<br />
Reihen aufgedeckt haben – und gegen<br />
die als Verräter ermittelt wird. Keine<br />
Juristin hat auf diesem speziellen Gebiet<br />
so viel Erfahrung wie sie. Einst galt sie<br />
selbst als Terrorhelferin, weil sie den<br />
von Medien und Politik als „amerikanischen<br />
Talibankämpfer“ abgestempelten<br />
John Walker Lindh vor <strong>der</strong> Giftspritze<br />
bewahrt hatte. Damals war noch George<br />
W. Bush Präsident.<br />
Sie beugt sich zum Mikrofon auf <strong>der</strong><br />
Tischplatte und erklärt dem deutschen<br />
Untersuchungsausschuss: „Barack Obamas<br />
Regierung hat mehr Whistleblower<br />
auf Grundlage des Spionagegesetzes<br />
angeklagt als alle bisherigen US-Regierungen<br />
zusammen“ – acht an <strong>der</strong> Zahl.<br />
Obama versuche, auch Journalisten abzuhören,<br />
um undichte Stellen zu finden.<br />
Es ist die Nacht zum 4. Juli, dem amerikanischen<br />
Unabhängigkeitstag.<br />
Vor sechs Jahren war Obama für<br />
Radack noch ein Hoffnungsträger. Sie unterstützte<br />
seinen Wahlkampf, klopfte an<br />
Hun<strong>der</strong>te Türen, warb um jede Stimme.<br />
Heute sagt Radack, Obama führe „einen<br />
Krieg gegen Whistleblower“. Sie<br />
zieht das „s“ in „Whistleblower“ in die<br />
Länge, die deutschen Abgeordneten hören<br />
konzentriert zu.<br />
IN „OBAMAS KRIEG“ ist die dreifache<br />
Mutter eine wichtige Akteurin. Sie entzieht<br />
sich seinem Überwachungsapparat,<br />
verschleiert im Internet ihre Identität,<br />
verzichtet auf WLAN. Einige Dinge<br />
erfährt nicht einmal ihr Ehemann, <strong>der</strong><br />
bei <strong>der</strong> Weltbank arbeitet. „Methoden<br />
von Drogendealern“ nennt sie diese<br />
Vorsichtsmaßnahmen.<br />
Im Juni 2013 reiste Radack durch<br />
Israel. Edward Snowden hatte eine Woche<br />
zuvor die NSA-Affäre ins Rollen gebracht.<br />
Da klingelte ihr Handy. Julian Assange<br />
war am Apparat, <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Enthüllungsplattform Wikileaks: Snowden<br />
brauche einen Anwalt. Ob sie helfen<br />
könne? Radack sagte Ja. Sie flog nach<br />
London, traf Assange in <strong>der</strong> Botschaft<br />
Ecuadors. Dort schlossen sie den Anwaltsvertrag<br />
– Wikileaks hatte da schon<br />
die Interessenvertretung für Snowden<br />
übernommen. Assange hält Radacks juristische<br />
Fähigkeiten für „überragend“.<br />
Im Oktober flog Radack – unter<br />
strengster Geheimhaltung – erstmals<br />
nach Moskau, um ihren Klienten persönlich<br />
zu treffen. Als ihre Kin<strong>der</strong> fragten,<br />
wohin sie fliege, antwortete sie: „nach<br />
Minneapolis“.<br />
Sie erzählt das, während sie in einem<br />
Berliner Hotel ein Müsli löffelt. Es<br />
ist 7.30 Uhr, ihre liebste Tageszeit. Da<br />
fühlt sich Radack, die aufgrund ihrer<br />
Erkrankung stets gegen die Müdigkeit<br />
kämpft, fit. Morgens ist sie oft drei Stunden<br />
vor den Kollegen im Büro. Sie arbeitet<br />
bis 15 Uhr, schläft dann zwei Stunden.<br />
Danach widmet sie sich <strong>der</strong> Familie. Um<br />
zehn ist sie im Bett. Ihre Krankheit erfor<strong>der</strong>t<br />
Disziplin.<br />
Seitdem Radack Snowden vertritt,<br />
interessieren sich die Geheimdienste beson<strong>der</strong>s<br />
für sie. Einmal parkte vor ihrer<br />
Haustür ein schwarzer Wagen. Sie sprach<br />
den Fahrer an. Der behauptete, er warte<br />
auf ihren Nachbarn. Radack fragte, wie<br />
<strong>der</strong> heiße. Der Fahrer geriet ins Stocken.<br />
Es ist diese dreiste, entwaffnende<br />
Art, mit <strong>der</strong> Radack ihre Gegner lächerlich<br />
macht. Wenn es sein muss, twittert<br />
o<strong>der</strong> bloggt sie und knipst das Licht <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeit an, das Agenten scheuen.<br />
Radack verkauft auch Nie<strong>der</strong>lagen<br />
als Erfolg. Etwa, wenn es um die Frage<br />
nach Snowdens weiterem Aufenthalt<br />
geht. Sie sagt: „Wir sind optimistisch,<br />
dass Snowden in Russland bleiben kann,<br />
ob unter Asyl o<strong>der</strong> einer an<strong>der</strong>en Vereinbarung.“<br />
Zwar würde er sich in freieren<br />
Län<strong>der</strong>n wie Brasilien, Deutschland<br />
o<strong>der</strong> Island wohler fühlen. „Aber am sichersten<br />
ist er in Russland, dem einzigen<br />
Staat, <strong>der</strong> willens und fähig ist, sich gegen<br />
die USA zu behaupten.“ In Amerika<br />
sieht Radack das Leben ihres Mandanten<br />
gefährdet: Hohe Regierungsbeamte<br />
hätten Morddrohungen gegen Snowden<br />
ausgesprochen.<br />
Jesselyn Radack war schon immer<br />
für an<strong>der</strong>e da. Sie wuchs in einer kaputten<br />
Familie in Columbia, Maryland, auf.<br />
Die Eltern geschieden, die Mutter alkoholabhängig,<br />
vom neuen Lebenspartner<br />
misshandelt. Ihr Mitgefühl für Menschen<br />
in Not reifte in dieser Zeit, da Radack<br />
sich selbst helfen musste. Mit einem Stipendium<br />
schaffte sie es an die Elite-Universität<br />
Brown in Rhode Island. Dort<br />
Foto: Michael Löwa für <strong>Cicero</strong><br />
50<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
zeigte sie drei betrunkene Footballspieler<br />
wegen sexueller Belästigung an. Die<br />
Polizei übergab den Fall dem Dekan.<br />
Der ließ die Täter mit Trainingsstunden<br />
davonkommen. Radack gründete eine<br />
Selbsthilfegruppe. Die Hochschule berief<br />
daraufhin eine Frauenbeauftragte.<br />
Mit 19 erhielt Radack die Diagnose<br />
Multiple Sklerose. Der Arzt gab ihr noch<br />
15 Jahre zu leben. Die Diagnose spornte<br />
sie an, etwas aus ihrem kurzen Leben<br />
zu machen. Sie promovierte, verteidigte<br />
zum Tode verurteilte Straftäter.<br />
1995 kam sie ins US-Justizministerium,<br />
in die Ethikabteilung. Sie hatte es<br />
geschafft: Erstmals hatte sie eine staatliche<br />
Krankenversicherung – die privaten<br />
hatten sie wegen ihrer Erkrankung stets<br />
abgelehnt. Der FBI-Chef lobte sie, <strong>der</strong><br />
Vize-Justizminister lud sie zum Essen ein.<br />
EINES MORGENS Ende 2001 kam <strong>der</strong><br />
Anruf, <strong>der</strong> ihr Leben verän<strong>der</strong>n sollte.<br />
Das FBI fragte nach einem US-Bürger,<br />
<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Seite von Taliban in Afghanistan<br />
aufgegriffen worden war – John<br />
Walker Lindh. Dürfe er ohne Anwalt<br />
verhört werden? Radack verneinte die<br />
Frage in einer E-Mail: Aussagen aus so<br />
einer Befragung hätten vor Gericht keinen<br />
Bestand.<br />
Das FBI vernahm ihn trotzdem –<br />
ohne Anwalt. Als später Fotos von Lindh<br />
Jesselyn Radack sagt, ein<br />
Spionagevorwurf mache<br />
„radioaktiv“<br />
auftauchten, sah man einen nackten, bärtigen<br />
Mann, mit Isolierband auf ein Brett<br />
gefesselt, Hände und Augen verbunden.<br />
Der „Strafgefangene 001“ war das erste<br />
bekannt gewordene Folteropfer im US-<br />
Krieg gegen den Terror. Lindhs erpresste<br />
Aussagen wurden vor Gericht verwendet<br />
– gegen Radacks Empfehlung. Der<br />
damalige Justizminister John Ashcroft<br />
wollte an Lindh ein Exempel statuieren:<br />
Er wollte die Todesstrafe um jeden Preis.<br />
Als <strong>der</strong> Staatsanwalt die Beweise für<br />
den Fall sammelte, kontaktierte er auch<br />
Radack. Er habe zwei E-Mails ans FBI<br />
vorliegen, ob das alle waren? Es fehlten<br />
aber genau jene Nachrichten, die belegten,<br />
dass Radack von einer Befragung<br />
ohne Anwalt abgeraten hatte. Sie ging<br />
zu ihrem Aktenordner, in dem sie jeden<br />
Vorgang ausgedruckt, beschriftet, abgeheftet<br />
hat. Radack kann pedantisch sein.<br />
Doch die E-Mails waren aus dem<br />
Ordner verschwunden. Die Ethikberaterin<br />
war entsetzt: Das Unterschlagen von<br />
Beweismitteln ist eine Straftat. Sie bat<br />
einen Systemadministrator, die E-Mails<br />
von <strong>der</strong> Festplatte zu sichern, schickte<br />
Kopien an ihre Chefs und kündigte.<br />
Das Justizministerium reagierte<br />
nicht. Radack rief einen Newsweek-Reporter<br />
an und faxte ihm die E-Mails. Danach<br />
ließ sie sich die Haare kurz schneiden,<br />
ihr Symbol für einen Neuanfang. Die<br />
Locken spendete sie einem Krebsprojekt.<br />
Die Geschichte machte Schlagzeilen:<br />
Radacks E-Mails bewiesen, dass das FBI<br />
wi<strong>der</strong>rechtlich gehandelt hatte. Das Gericht<br />
ließ die Terrorismusvorwürfe fallen.<br />
John Walker Lindh wurde zu 20 Jahren<br />
Haft verurteilt. Dass er nicht die Todesstrafe<br />
erhielt, ist allein Radacks Hartnäckigkeit<br />
zu verdanken.<br />
Als Radack ein an<strong>der</strong>es Leben gerettet<br />
hatte, begann man ihr eigenes zu<br />
zermahlen. Das Justizministerium ermittelte<br />
gegen sie und setzte ihren Namen<br />
auf eine Flugverbotsliste. Ihre neue<br />
Kanzlei trennte sich von ihr. Radack war<br />
jetzt arbeitslos, verschuldet, ausgebrannt.<br />
Ein Anrufer warnte sie vor einer geplanten<br />
Festnahme. Eine Fehlinformation.<br />
Trotzdem geriet Radack, hochschwanger,<br />
in Panik. Sie hatte eine Fehlgeburt.<br />
Radack sagt, ein Spionagevorwurf<br />
mache „radioaktiv“. Wen die Regierung<br />
verfolgt, dem versickert langsam das soziale<br />
Umfeld. Erst distanzieren sich Kollegen,<br />
dann wenden sich Freunde ab, schließlich<br />
zweifeln selbst Familienangehörige.<br />
Radack gibt nicht auf. Sie zerpflückte<br />
die Spionage-Anklage gegen Thomas<br />
Drake, den Mann, <strong>der</strong> an jenem Abend<br />
im Berliner NSA-Ausschuss neben ihr<br />
saß. Sie fräste sich erfolgreich durch die<br />
Akten des früheren NSA-Technikchefs<br />
William Binney, <strong>der</strong> duschte, als bewaffnete<br />
FBI-Beamte seine Wohnung stürmten.<br />
Sie verteidigte den Ex-NSA-Mann<br />
Kirk Wiebe, dessen Familie das FBI mit<br />
tagelangen Durchsuchungen zermürbte.<br />
Sie schraubte die Spionage-Vorwürfe gegen<br />
den CIA-Agenten John Kiriakou, <strong>der</strong><br />
das Waterboarding in Geheimgefängnissen<br />
aufdecken half, auf 30 Monate Haft<br />
herunter.<br />
An ihrem jüngsten Fall – Edward<br />
Snowden – feilt sie noch. Er möchte irgendwann<br />
in seine Heimat zurück. Aber<br />
das werde „kein Sprint, son<strong>der</strong>n ein<br />
Langstreckenlauf“, fürchtet Radack.<br />
PETRA SORGE war während des<br />
11. September 2001 für ein High-School-Jahr<br />
in den USA. Ihre Gastfamilie schickte einen<br />
Offizier in den Krieg gegen den Terror<br />
Foto: Michael Löwa für <strong>Cicero</strong><br />
52<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
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DIE ZAUDERNDE<br />
WELTMACHT<br />
Von ROGER COHEN<br />
Illustrationen SEBASTIAN HASLAUER
WELTBÜHNE<br />
Essay<br />
Der Irak steht in Flammen, in Syrien sind über<br />
150 000 Menschen gestorben, Russland annektiert<br />
die Krim, in Asien nehmen die Spannungen zu.<br />
Und Deutschland wird ausgespäht. Sind die USA an ihren<br />
eigenen weltpolitischen Ansprüchen gescheitert?<br />
55<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
WELTBÜHNE<br />
Essay<br />
Es ist kein gutes Jahr für die USA.<br />
Putins Annexion <strong>der</strong> Krim, <strong>der</strong> Vorstoß<br />
<strong>der</strong> Isis in weite Teile des Irak<br />
o<strong>der</strong> Chinas neue Entschlossenheit im<br />
Südchinesischen Meer vermitteln den<br />
Eindruck einer amerikanischen Sonnenfinsternis.<br />
Wenn es einen Begriff gibt,<br />
<strong>der</strong> mit Barack Obamas Präsidentschaft<br />
verbunden wird, dann ist es „Ausgabenkürzung“.<br />
Und wenn es einen Satz gibt,<br />
<strong>der</strong> seine Außenpolitik beschreibt, dann<br />
lautet er: „Keine dummen Sachen machen.“<br />
Dies steht in einem seltsamen Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zu einer Nation, die sich noch<br />
immer als Leuchtturm für die Menschheit<br />
betrachtet.<br />
Dass das Weiße Haus als geschwächt<br />
und <strong>der</strong> Kongress als paralysiert wahrgenommen<br />
werden, ist unbestreitbar. Wenn<br />
die amerikanische Regierung nicht arbeitsfähig<br />
ist, weil man sich nicht auf einen<br />
Haushalt einigen kann, dann nimmt<br />
die Welt davon Notiz. Wenn ein US-Präsident<br />
– wie im Fall des Einsatzes chemischer<br />
Waffen in Syrien – eine rote<br />
Linie zieht, nur um nicht zu reagieren,<br />
wenn sie überschritten wird, dann sind<br />
die Welt und beson<strong>der</strong>s die europäischen<br />
Alliierten, die sich auf einen Militäreinsatz<br />
vorbereitet haben, zutiefst irritiert.<br />
Putin konnte sich in Syrien auf ganzer Linie<br />
durchsetzen. Nur wenig später kam er<br />
offensichtlich zu <strong>der</strong> Überzeugung, dass<br />
er sich – zum ersten Mal seit 1945 – ungestraft<br />
ein Stück eines an<strong>der</strong>en souveränen<br />
Landes in Europa unter den Nagel<br />
reißen könnte. Die Annexion <strong>der</strong> Krim<br />
beweist, dass er damit recht hatte. Die<br />
Sanktionen <strong>der</strong> USA und Europas mögen<br />
Russland ein wenig gestört haben –<br />
faktisch unternahm <strong>der</strong> Westen nichts.<br />
IM NAHEN UND MITTLEREN OSTEN mündeten<br />
die Verheißungen des Arabischen<br />
Frühlings – den Obama spät und zögerlich<br />
unterstützte – in Enttäuschung. Das<br />
syrische Gift breitet sich aus. 13 Jahre<br />
nach dem Beginn des Einsatzes in Afghanistan<br />
– <strong>der</strong> die Basis Al Qaidas<br />
zerstören sollte – kontrollieren dschihadistische<br />
Fanatiker im „Kalifat“ des<br />
<strong>Islam</strong>ischen Staates Syrien und Irak wie<strong>der</strong><br />
eine Bastion <strong>der</strong> Gesetzlosigkeit und<br />
damit ein Territorium, das viel näher an<br />
Europa liegt als Afghanistan. Das alles<br />
riecht geradezu nach einer amerikanischen<br />
Nie<strong>der</strong>lage.<br />
Obama versprach eine „Hinwendung<br />
nach Asien“. Damit implizierte er,<br />
dass die transatlantischen Beziehungen<br />
nicht mehr so wichtig sind, er wollte das<br />
Kapitel des Traumas vom 11. September<br />
schließen, ohne dass Amerika einen klaren<br />
Sieg hätte verbuchen können. Zweimal<br />
schon gab es in diesem Jahr Zusammenstöße<br />
Chinas mit Vietnam und den<br />
Philippinen wegen ungeklärter gebietsansprüche,<br />
die Spannungen im Inselstreit<br />
zwischen China und Japan sind ebenfalls<br />
größer geworden. „Die Südchinesische<br />
See geht die USA gar nichts an“,<br />
erklärte jüngst ein chinesischer General.<br />
Washington schwieg. Dass Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel China besuchte, als<br />
die transatlantischen Beziehungen wegen<br />
eines Spionagefalls weiter beschädigt<br />
wurden, hat schon große Symbolkraft.<br />
Amerika schnüffelt nicht nur elektronisch<br />
Daten seines Verbündeten Deutschland<br />
aus, es rekrutiert sogar – so scheint<br />
es – Spione. Deutschland hingegen macht<br />
Geschäfte mit einem an deutscher Technologie<br />
interessierten China und hegt einige<br />
Sympathie für Russland. Die Welt<br />
hat sich offensichtlich verän<strong>der</strong>t.<br />
AUF JEDEN FALL HABEN sich die Amerikaner<br />
verän<strong>der</strong>t. Nach den Einsätzen in<br />
Afghanistan und Irak, die so viel Menschenleben<br />
und enorme finanzielle Ressourcen<br />
kosteten, sind sie kriegsmüde geworden.<br />
Sie interessieren sich mehr für<br />
den Mittleren Westen als den Nahen Osten.<br />
„Nation-Building“ ist in Washington<br />
fast so etwas wie ein Schimpfwort geworden.<br />
Zum Teufel mit den Problemen <strong>der</strong><br />
Welt, sagen sich viele Amerikaner und<br />
fragen sich: Haben wir uns in den Jahrzehnten<br />
<strong>der</strong> Pax Americana nicht schon<br />
genug darum gekümmert? Wenn China<br />
und Indien die aufstrebenden Mächte<br />
sind, dann sollen sie die Verantwortung<br />
für eine globale Ordnung übernehmen,<br />
so wie die USA sie nach 1945 von den<br />
Briten übernommen haben.<br />
Barack Obama, <strong>der</strong> als kühl und distanziert,<br />
praktisch denkend und eher zurückhaltend<br />
gilt, scheint wun<strong>der</strong>bar zu<br />
diesem Zeitgeist zu passen. Es mag vielleicht<br />
nicht stimmen, dass er den Abstieg<br />
managt. Aber ganz sicher stemmt er sich<br />
gegen eine Ausweitung. Er ist kein Entschei<strong>der</strong>.<br />
Er ist <strong>der</strong> Zau<strong>der</strong>er.<br />
Warum ist Obamas „Keine-dummen-<br />
Sachen“-Außenpolitik so unpopulär?<br />
Wenn Obama <strong>der</strong> gewissenhafte Interpret<br />
einer Rückbesinnung auf Amerika<br />
selbst ist, warum wird seine Außenpolitik<br />
dann abgelehnt? Weil es einen seltsamen<br />
Zwiespalt in <strong>der</strong> amerikanischen<br />
Psyche gibt. Amerikaner wollen, dass<br />
ihre Truppen nach Hause kommen. Sie<br />
wollen, dass vor allem zu Hause in Arbeitsplätze,<br />
Ausbildung, Gesundheitsvorsorge<br />
und Infrastruktur investiert wird.<br />
Gleichzeitig haben sie das Gefühl, dass<br />
Obama die USA unter Wert verkauft. Sie<br />
wollen, dass er führt – und nicht lediglich<br />
Katalysator ihrer Ansichten ist.<br />
Es gab in Amerika we<strong>der</strong> eine Mehrheit<br />
für ein Eingreifen im Ersten noch<br />
im Zweiten Weltkrieg. Erst die jeweiligen<br />
US-Präsidenten überzeugten ihre<br />
56<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
WELTBÜHNE<br />
Essay<br />
Öffentlichkeit davon, dass eine Beteiligung<br />
wichtig wäre. Führung bedeutet<br />
eben auch: den Blick <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
auf die Welt und das, was man von ihr<br />
erwartet, zu än<strong>der</strong>n.<br />
Als Bürger einer Nation, die auf einer<br />
Idee beruht, sind Amerikaner von Natur<br />
aus optimistisch. Dass ihr Land weiterhin<br />
„<strong>der</strong> Welt ein Licht“ sei, ein Ort, auf den<br />
die Welt schaut, gehört nach wie vor zu<br />
den Grundüberzeugungen.<br />
Es mag sein, dass es für das multiethnische<br />
Syrien kein gutes Ende – und<br />
sicherlich keinen leichten Weg gibt. Es<br />
mag auch sein, dass die ägyptische Demokratie<br />
geradezu scheitern musste. Es<br />
mag auch sein, dass die Krim für Wladimir<br />
Putin wesentlich wichtiger ist als für<br />
Amerikaner. Ja, auch Afghanistan war<br />
vielleicht schon immer ein armes Land<br />
ohne starke zentrale Regierung – was<br />
we<strong>der</strong> die finanziellen Hilfen, die das<br />
Land erhalten hat, noch die Menschenleben,<br />
die <strong>der</strong> Einsatz gekostet hat, je än<strong>der</strong>n<br />
können. Trotzdem können Amerikaner<br />
nicht akzeptieren, dass man sich<br />
einfach zurückzieht und die Welt sich<br />
selbst überlässt.<br />
DIESE ZERRISSENHEIT IST gewiss nicht<br />
nur den Amerikanern selbst zu eigen.<br />
Man kennt es schon lange von Europäern,<br />
dass sie ihre Schmähreden gegen<br />
Amerika mit <strong>der</strong> Frage beenden, wie<br />
ihre Kin<strong>der</strong> es am besten an die amerikanischen<br />
Eliteuniversitäten Stanford<br />
o<strong>der</strong> Yale schaffen könnten. Dieser<br />
Tage scheint diese Ambivalenz noch<br />
ausgeprägter.<br />
Europäische Dinner-Gespräche<br />
scheinen sich vor allem um die neuesten<br />
Folgen <strong>der</strong> Fernsehserien „House of<br />
Cards“, „Game of Thrones“, „West Wing“<br />
o<strong>der</strong> „Breaking Bad“ zu drehen. Der Programmanbieter<br />
HBO ist zum Objekt <strong>der</strong><br />
Bewun<strong>der</strong>ung geworden und steht damit<br />
im genauen Gegensatz zum Antiamerikanismus,<br />
<strong>der</strong> sich auf politischer Ebene<br />
austobt. Ein französischer Diplomat erzählte<br />
kürzlich, dass Besucher, die er als<br />
Diplomat zu Terminen ins Weiße Haus<br />
begleite, fast immer fragten, ob sie nicht<br />
auch den West Wing sehen könnten.<br />
Europäer mögen sich darüber beklagen,<br />
dass Internetriesen wie Amazon,<br />
Facebook, Google, Twitter o<strong>der</strong><br />
WhatsApp ihre persönlichen Daten<br />
speichern o<strong>der</strong> Steueroasen nutzen.<br />
Aber sie sind trotzdem süchtig nach ihnen.<br />
Google, schrieb Mark Scott in <strong>der</strong><br />
New York Times, habe bei Suchanfragen<br />
einen Anteil von 85 Prozent in allen<br />
großen europäischen Ökonomien (inklusive<br />
Deutschland, Großbritannien und<br />
Frankreich). In den USA hingegen liegt<br />
er bei nur 65 Prozent. Amerikanische<br />
Technologie-Unternehmen betreiben sieben<br />
<strong>der</strong> zehn am häufigsten angeklickten<br />
Websites in Europa. Facebook hat inzwischen<br />
150 Millionen europäische Nutzer,<br />
doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren.<br />
Der Ärger über die Verletzung <strong>der</strong><br />
Privatsphäre und die Praktiken <strong>der</strong> NSA<br />
werden bei weitem aufgewogen von <strong>der</strong><br />
Sucht nach einem Cyber-Universum, das<br />
von amerikanischen Firmen und amerikanischer<br />
Kreativität beherrscht wird.<br />
Prinzipientreue beugt sich Bequemlichkeit<br />
und Vergnügen. In Europa wie auch<br />
an<strong>der</strong>swo.<br />
Die geostrategischen Verän<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> vergangenen Jahre mögen vielleicht<br />
nahelegen, dass die USA dem Römischen<br />
Imperium im Jahre 450 nach Christus<br />
ähneln. Doch die Anziehungskraft, die<br />
das Silicon Valley ausübt, lässt wohl eher<br />
auf das Jahr 100 nach Christus schließen,<br />
als Rom sich auf dem Höhepunkt<br />
seiner Macht befand. Amerikanische<br />
Soft Power funktioniert, und sie funktioniert<br />
gut. Europa absorbiert Amerikas<br />
Kultur mehr denn je, und das zu einem<br />
Zeitpunkt, da die USA ihre militärischen<br />
Kräfte aus Europa abgezogen haben und<br />
sich politisch wie strategisch auf an<strong>der</strong>e<br />
Regionen <strong>der</strong> Welt konzentrieren.<br />
Wie groß Amerikas Soft Power ist,<br />
habe ich während eines Besuchs in Vietnam<br />
erfahren, just an einem Ort, an<br />
dem vor 39 Jahren ein an<strong>der</strong>er amerikanischer<br />
Krieg ohne Sieg endete. An einem<br />
Ort, an dem man am wenigsten eine<br />
Wie<strong>der</strong>belebung des amerikanischen Optimismus<br />
o<strong>der</strong> die Bedeutung amerikanischer<br />
Macht spüren würde. Und doch ist<br />
die Anziehungskraft <strong>der</strong> amerikanischen<br />
Idee in Vietnam allgegenwärtig – in den<br />
Wünschen und Vorstellungen einer neuen<br />
Mittelschicht, in den Geschäften und Restaurants,<br />
in den Einkaufsmeilen und in<br />
<strong>der</strong> Musik. Der Traum <strong>der</strong> Bewohner des<br />
exklusiven Viertels Phu My Hung in Ho-<br />
Chi-Minh-Stadt ist ein Haus mit Garten,<br />
ein Hightech-Grill, ein Jeep in <strong>der</strong> Garage<br />
und Domino’s Pizza o<strong>der</strong> Dunkin’<br />
Donuts an <strong>der</strong> nächsten Straßenecke. Offensichtlich<br />
ist es möglich, den Krieg zu<br />
verlieren, aber den Frieden zu gewinnen.<br />
Wer weiß, wie <strong>der</strong> Irak in 40 Jahren aussehen<br />
wird?<br />
Natürlich regiert in Vietnam nach<br />
dem Vorbild Chinas immer noch und<br />
allein die kommunistische Partei. Die<br />
Dinge funktionieren so, wie sie eben<br />
ohne ein System <strong>der</strong> Kontrolle funktionieren:<br />
mit wenig Transparenz und viel<br />
Korruption. Die Kategorisierung politischer<br />
Systeme ist aber in einer Welt, die<br />
von unsichtbaren Netzwerken bestimmt<br />
ist, die wie<strong>der</strong>um oft von amerikanischen<br />
Technologieunternehmen kontrolliert<br />
werden, vielleicht weniger wichtig.<br />
Ein Spaziergang in Phu My<br />
Hung offenbart ein bemerkenswertes<br />
58<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Anzeige<br />
Phänomen – von <strong>der</strong> Ausbreitung von<br />
Coffee Shops, die Eis-Latte verkaufen,<br />
abgesehen: die Menge an Schulen, die<br />
„Little Genius“ o<strong>der</strong> „Homework Center“<br />
heißen und Kin<strong>der</strong>n vietnamesischer<br />
Aufsteiger die Türen zu noch größerem<br />
Erfolg öffnen sollen.<br />
Bei „Little Genius“ beginnt <strong>der</strong> Weg<br />
zu akademischer Exzellenz schon im frühen<br />
Alter in einem Computerraum, <strong>der</strong><br />
für Dreijährige designt und bestens ausgerüstet<br />
ist. Englisch zu beherrschen und<br />
mit mo<strong>der</strong>ner Technologie umgehen zu<br />
können, ist eine zwingende Notwendigkeit<br />
für die globalen Wun<strong>der</strong>kin<strong>der</strong>, die<br />
in einem kommunistischen Staat mit kapitalistischem<br />
System und asiatischen<br />
Werten aufwachsen, in denen <strong>der</strong> Erfolg<br />
<strong>der</strong> jungen Generation an oberster Stelle<br />
steht. Für wohlhabende Vietnamesen ist<br />
das Ziel dieser Ausbildung klar: Zugang<br />
zu amerikanischen Colleges.<br />
So also funktioniert die Welt: Autokratische,<br />
hyperkapitalistische Systeme<br />
ohne das amerikanische Kontrollsystem<br />
produzieren asiatische Eliten, oft<br />
mit engen Beziehungen zur herrschenden<br />
Partei, <strong>der</strong>en Traum ein amerikanischer<br />
Lebensstil und eine amerikanische<br />
Ausbildung für ihre Kin<strong>der</strong> ist. Deren an<strong>der</strong>es<br />
Ziel ist es – angesichts <strong>der</strong> Willkürlichkeit<br />
in ihrem eigenen politischen<br />
System –, sich mithilfe des Erwerbs von<br />
Immobilien in den USA o<strong>der</strong> Großbritannien<br />
in ein System <strong>der</strong> Rechtsstaatlichkeit,<br />
wo Eigentumsrechte geschützt<br />
werden, einzukaufen. Dadurch wie<strong>der</strong>um<br />
werden die Preise für begehrte Objekte<br />
in diesen Län<strong>der</strong>n so in die Höhe<br />
getrieben, dass die dortigen Mittelklassen,<br />
<strong>der</strong>en Einkommen stagnieren o<strong>der</strong><br />
sogar fallen, sie sich nicht mehr leisten<br />
können.<br />
Dieses symbiotische System auf<br />
<strong>der</strong> „individuellen“ Ebene spiegelt sich<br />
auch auf globaler Ebene wi<strong>der</strong>: Amerikanische<br />
Schulden werden von asiatischen<br />
Regierungen, vor allem <strong>der</strong> chinesischen,<br />
aufgekauft, und Asiaten machen<br />
Gewinne durch Zugang zu Märkten und<br />
Konsumenten, die wie<strong>der</strong>um von US-<br />
Krediten leben.<br />
ES IST NICHT LEICHT, diese Welt des<br />
stillen Handels, <strong>der</strong> Schizophrenie, <strong>der</strong><br />
dschihadistischen Frühlinge, <strong>der</strong> subtilen<br />
Machtverschiebungen und des<br />
amerikanischen Rückzugs zu verstehen.<br />
Es wäre viel zu einfach – und falsch – zu<br />
behaupten, dass sich die USA im Nie<strong>der</strong>gang<br />
befänden. Ihre unerschöpfliche Fähigkeit<br />
zur Neuerfindung, die Möglichkeit<br />
einer Energieautonomie, die durch<br />
die För<strong>der</strong>ung von Schiefergas und -öl<br />
entstanden ist, die positive demografische<br />
Entwicklung, die technischen Fähigkeiten<br />
<strong>der</strong> USA und nicht zuletzt amerikanische<br />
Fernsehserien und <strong>der</strong> alte<br />
Mythos Hollywood, die einen Großteil<br />
<strong>der</strong> Welt in den Bann ziehen, zeugen vom<br />
Gegenteil.<br />
Vielleicht aber ist die Pax Americana<br />
im Nie<strong>der</strong>gang. Die mehr als 150 000 Toten<br />
des syrischen Bürgerkriegs ließen<br />
darauf schließen. Vielleicht schwindet<br />
Amerikas Bereitschaft, sich für eine Stabilisierung<br />
<strong>der</strong> Welt einzusetzen. Vielleicht<br />
ist aus diesem Grund die Welt<br />
heute sehr viel gefährlicher, als sie es<br />
für lange Zeit war. Vielleicht sollten die<br />
Europäer und an<strong>der</strong>e, die sich über amerikanische<br />
Kriege und amerikanische<br />
Spionageaktivitäten so empören, sehr<br />
vorsichtig damit sein, was sie sich wünschen.<br />
Vielleicht sollten die Philippinen,<br />
Vietnam o<strong>der</strong> Indonesien, die darauf vertrauen,<br />
dass Amerika als eine asiatische<br />
Macht ein Gegengewicht zum aufsteigenden<br />
China bilden könnte, doch nicht auf<br />
Washington zählen.<br />
Mit Chinas Aufstieg wird Asien zu<br />
einer gefährlichen Region, in <strong>der</strong> ein<br />
Funke einen größeren Konflikt auslösen<br />
kann. Und es wird noch gefährlicher,<br />
wenn sich die USA, die durch zwei Ozeane<br />
geschützt sind, aus <strong>der</strong> Weltpolitik<br />
zurückziehen.<br />
Obama hat recht, wenn er sagt, dass<br />
die USA Grenzen hätten. Zwei grausame<br />
Kriege haben Amerika diese Grenzen<br />
aufgezeigt – die USA greifen nur noch<br />
mit größter Zurückhaltung auf ihre<br />
Hard Power zurück. Doch aller Strahlund<br />
Durchsetzungskraft amerikanischer<br />
Soft Power zum Trotz – sie allein reicht<br />
nicht aus. Sie reicht deshalb nicht aus,<br />
weil Großbritannien nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg den Stab an Amerika übergeben<br />
konnte, aber heute niemand da ist,<br />
an den die USA den Stab weiterreichen<br />
könnten.<br />
Die Europäische Union steckt noch<br />
in <strong>der</strong> Krise: Man weiß nicht, wie und in<br />
welche Richtung sie sich weiterentwickelt,<br />
59<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014<br />
Das bewegt mich!<br />
Träume<br />
haben viel mit Ihrem Alltag zu<br />
tun. Sie sind Botschaften aus<br />
dem Unbewussten und eine<br />
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Lernen Sie, die Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Nacht<br />
zu entschlüsseln – denn sie<br />
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WELTBÜHNE<br />
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USA: SELBSTBILD UND DEUTSCHE SICHT *<br />
Sind die Vereinigten Staaten eine Nation im Nie<strong>der</strong>gang? Und welche globale<br />
Rolle sollten sie künftig spielen? Eine YouGov-Umfrage für <strong>Cicero</strong> in Deutschland<br />
und den USA zeigt unterschiedliche Einschätzungen in beiden Län<strong>der</strong>n<br />
Deutschland = schwarz<br />
59 52<br />
16<br />
Bereits<br />
hinter sich<br />
5 8<br />
Stimme überhaupt<br />
nicht zu<br />
13<br />
Stimme eher<br />
nicht zu<br />
USA = blau<br />
Stimme<br />
eher zu<br />
Stimme voll<br />
und ganz zu<br />
Weiß nicht/<br />
Keine Angabe<br />
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind weiterhin eine globale Supermacht.<br />
7 10<br />
Stimme überhaupt<br />
nicht zu<br />
17<br />
* Angaben in Prozent; vom Wert 100 abweichende Prozentsummen sind das Ergebnis von Rundungsdifferenzen.<br />
Deutschland: 1017 Befragte; USA: 1188 Befragte. Zeitraum: Juni/Juli 2014. Quelle: YouGov im Auftrag von <strong>Cicero</strong><br />
47<br />
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind weiterhin die Weltpolizei.<br />
16 12<br />
Stimme überhaupt<br />
nicht zu<br />
27<br />
19<br />
Wie bisher<br />
beibehalten<br />
22<br />
20<br />
Stimme eher<br />
nicht zu<br />
46<br />
34 32<br />
17<br />
Stimme eher<br />
nicht zu<br />
10<br />
22<br />
Noch<br />
vor sich<br />
17<br />
38<br />
33<br />
Stimme<br />
eher zu<br />
50<br />
36<br />
Stimme<br />
eher zu<br />
32<br />
18<br />
26<br />
26<br />
Stimme voll<br />
und ganz zu<br />
Stimme voll<br />
und ganz zu<br />
5<br />
8<br />
24<br />
11 7<br />
Ausdehnen Verringern Weiß nicht/<br />
Keine Angabe<br />
11<br />
12<br />
Weiß nicht/<br />
Keine Angabe<br />
Sollen die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Rolle als Weltpolizei<br />
wie bisher beibehalten, ausdehnen o<strong>der</strong> verringern?<br />
6<br />
Haben gerade ihre<br />
besten Zeiten<br />
Haben die Vereinigten Staaten von Amerika ihre besten Zeiten bereits hinter<br />
sich o<strong>der</strong> noch vor sich?<br />
45<br />
Weiß nicht/<br />
Keine Angabe<br />
13<br />
18<br />
10<br />
Weiß nicht/<br />
Keine Angabe<br />
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind weiterhin ein „weltweiter Leuchtturm“<br />
für Freiheit und Demokratie.<br />
3<br />
18<br />
24<br />
noch ist die Gefahr eines Auseinan<strong>der</strong>brechens<br />
nicht abgewendet. In <strong>der</strong> Haltung<br />
zu Russland ist man sich uneins, von<br />
wirtschaftlicher Erholung kann keine<br />
Rede sein, es fehlt <strong>der</strong> EU an einer ideologischen<br />
Leitlinie – und nicht zuletzt<br />
ist sie in einer gemeinsamen Währung<br />
gefangen, die Staaten unterschiedlicher<br />
Wirtschaftskraft aneinan<strong>der</strong> fesselt.<br />
Chinas Doktrin des Exzeptionalismus<br />
sieht das Land immer noch als „Friedensmacht“<br />
– wovon die Tibeter ganz<br />
gewiss ein Lied zu singen hätten –, das<br />
sich an die Vorgabe des Reformers Deng<br />
Xiaoping zu halten hat, „einen kühlen<br />
Kopf zu bewahren und nicht groß aufzufallen“,<br />
um eine volle wirtschaftliche<br />
Entwicklung bis zum Jahr 2050 nicht zu<br />
erschweren.<br />
Indien mag durch die Wahl Narendra<br />
Modis zum neuen Regierungschef aufgerüttelt<br />
sein, hat aber noch so viele Probleme<br />
im eigenen Land zu bewältigen,<br />
dass es sich außenpolitisch um nicht viel<br />
mehr als Pakistan kümmern wird.<br />
Russland ist ein Staat mit einem einzigen<br />
Standbein: Einkünfte aus Öl und<br />
Gas. Die Annexion <strong>der</strong> Krim und Putins<br />
Störmanöver in <strong>der</strong> Ostukraine verdecken<br />
lediglich die fundamentalen politischen<br />
und ökonomischen Schwächen<br />
des Landes.<br />
KURZUM: ES GIBT KEINEN ERSATZ für<br />
die USA als Garant dafür, dass, wie Abraham<br />
Lincoln es in seiner Gettysburg-<br />
Rede ausdrückte, „die Regierung des<br />
Volkes, durch das Volk und für das Volk<br />
nicht von <strong>der</strong> Erde verschwinden möge“.<br />
In jüngster Zeit haben die USA eher<br />
in kleinen Kategorien gedacht. Dafür<br />
musste ein Preis gezahlt werden – vom<br />
Kaukasus bis zum irakischen Mossul.<br />
Die Europäer östlich Deutschlands fühlen<br />
sich weniger sicher. Syrien und Irak<br />
sind eine einzige Katastrophe. Es ist gut<br />
vorstellbar, dass diese beiden Län<strong>der</strong><br />
nicht in ihren bisherigen Grenzen überleben<br />
werden. Geben die USA vor, sie<br />
hätten nichts mit diesen Entwicklungen<br />
zu schaffen, dann wird dies unweigerlich<br />
Rückschläge zur Folge haben.<br />
Präsident Franklin D. Roosevelt erinnerte<br />
die Amerikaner in seiner Stateof-the-Union-Rede<br />
vom 4. Januar 1939<br />
daran, dass Amerika in größeren Kategorien<br />
denken müsse: „Es mag eine Zeit<br />
60<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Foto: Picture Alliance/DPA<br />
kommen, da Sie sich darauf vorbereiten<br />
müssen, nicht nur Ihr Heim zu verteidigen,<br />
son<strong>der</strong>n die Grundlagen des Glaubens<br />
und <strong>der</strong> Menschlichkeit, auf denen<br />
Ihre Kirchen, Ihre Regierungen und<br />
Ihre Kultur begründet sind. Die Verteidigung<br />
<strong>der</strong> Religion, <strong>der</strong> Demokratie und<br />
des Vertrauens zwischen den Nationen –<br />
all das ist ein Kampf. Um eines zu retten,<br />
müssen wir uns nun entschließen, alle<br />
zu retten.“<br />
Die amerikanische Idee hat immer<br />
noch eine Anziehungskraft, die auf <strong>der</strong><br />
ganzen Welt zu spüren ist. Ohne Frage:<br />
Amerika wird seinem eigenen Ideal oft<br />
nicht gerecht – aber die Idee <strong>der</strong> Freiheit<br />
lebt fort. In seinen besten Zeiten<br />
ist Amerika offen und für Einwan<strong>der</strong>er<br />
enorm attraktiv. In seinen schlimmsten<br />
Zeiten ist es verschlossen und furchtsam.<br />
Im Augenblick changiert es zwischen<br />
diesen Polen. Es entwächst langsam<br />
dem Trauma des 11. September. Es<br />
ist entschlossen, dieses Kapitel hinter<br />
sich zu lassen, aber es ist unsicher, in welcher<br />
Rolle es die beste Balance zwischen<br />
Freiheit und Sicherheit, zwischen militärischer<br />
Überlegenheit und drängenden<br />
nationalen Erfor<strong>der</strong>nissen finden kann.<br />
Sicher ist: Die Schwarzmaler haben<br />
unrecht. Eine Serie von Rückschlägen<br />
mag besorgniserregend sein, aber sie<br />
markiert nicht den Anfang eines unaufhaltsamen<br />
Abstiegs. Die USA sind immer<br />
noch in <strong>der</strong> Lage, Großes zu leisten, weil<br />
sie über innere Kraft und eine Fähigkeit<br />
verfügen, die Fantasie vieler Menschen<br />
in <strong>der</strong> ganzen Welt zu beflügeln.<br />
Ein Pendel schwingt immer zu weit,<br />
nie im richtigen Maß. Obama, <strong>der</strong> Zau<strong>der</strong>er,<br />
war das Korrektiv zu Bush, dem<br />
Entschei<strong>der</strong>. Er war nie <strong>der</strong> Zauberer, den<br />
wir uns damals, 2008, gewünscht hatten,<br />
son<strong>der</strong>n ein nüchterner Mo<strong>der</strong>ator. Aber<br />
er ging zu weit in seiner Zurückhaltung.<br />
Er hat damit die Fähigkeiten seines Landes<br />
weit unter Wert verkauft und Zweifel<br />
an Amerikas Stärke gesät, die leicht<br />
auszunutzen waren. In Amerika aber<br />
schwingt das Pendel immer wie<strong>der</strong> auch<br />
zurück.<br />
ROGER COHEN ist<br />
britischer Journalist und<br />
einer <strong>der</strong> renommiertesten<br />
Kolumnisten <strong>der</strong><br />
New York Times<br />
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WELTBÜHNE<br />
Interview<br />
„AMERIKAS SYSTEM<br />
HAT ZU VIELE KONTROLLEN“<br />
Sind die USA im<br />
Nie<strong>der</strong>gang begriffen?<br />
Und welchen<br />
Stellenwert hat die<br />
Demokratie in <strong>der</strong><br />
Welt überhaupt noch?<br />
Herr Fukuyama, unmittelbar nach dem<br />
Kalten Krieg haben Sie mit Ihrem Buch<br />
„Das Ende <strong>der</strong> Geschichte“ die erste<br />
Blaupause für ein neues Zeitalter vorgelegt.<br />
Müssen Sie Ihre damalige These,<br />
dass liberale Demokratie und Marktwirtschaft<br />
keine ideologischen Konkurrenten<br />
mehr haben, revidieren?<br />
Francis Fukuyama: Mir ging es in<br />
dem Buch um die Frage: Welche Gesellschaft<br />
werden wir nach dem Ende des<br />
Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses haben? Vor<br />
1989 haben die fortschrittlichsten Intellektuellen<br />
gedacht, dass in diesem Prozess<br />
alles auf eine Form von Sozialismus,<br />
Kommunismus und Marxismus hinauslaufen<br />
würde. Ich hingegen war <strong>der</strong><br />
Auffassung, dass am Ende dieses Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses<br />
eine Form von<br />
liberaler Demokratie und freier Marktwirtschaft<br />
stehen wird. Davon bin ich<br />
immer noch überzeugt. Es gibt nichts<br />
zu wi<strong>der</strong>rufen.<br />
Auch nicht angesichts einer neuen Konfrontation<br />
mit Russland, das sich als<br />
Gegenmodell zum „dekadenten Westen“<br />
sieht, o<strong>der</strong> des Erstarkens eines<br />
radikalen politischen <strong>Islam</strong>?<br />
Nein, ich halte an meiner These fest:<br />
We<strong>der</strong> das islamische Kalifat noch <strong>der</strong><br />
russische Petrostaat scheinen mir Modelle<br />
zu sein, die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaften<br />
entwickeln können.<br />
Wie steht es mit Chinas „autoritärem<br />
Kapitalismus“?<br />
China ist tatsächlich die größte Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
– ein autoritärer Staat,<br />
dem es offensichtlich gelingt, die Prozesse<br />
wirtschaftlicher Entwicklungen<br />
sehr gut zu steuern.<br />
Könnte China also ein ernsthafter Konkurrent<br />
für die liberale Demokratie sein?<br />
China betreibt wirtschaftliches<br />
Wachstum auf Kosten sozialer Werte.<br />
Es kombiniert eine autoritäre Regierung<br />
mit einer in Teilen marktwirtschaftlichen<br />
Ökonomie. Die Legitimität des<br />
Systems und die andauernde Herrschaft<br />
<strong>der</strong> Partei beruhen auf kontinuierlich hohen<br />
Wachstumsraten. Die wird es aber<br />
nicht ewig geben, was Chinas Entwicklung<br />
von einem Land mit einem mittleren<br />
Durchschnittseinkommen zu einem<br />
Land mit hohem Durchschnittseinkommen<br />
beträchtlich erschweren wird. Dieser<br />
Wachstumsprozess hat zu enormen<br />
Hypotheken geführt. Dazu gehört die<br />
unglaubliche Verschmutzung von Böden,<br />
Luft und Wasser. Sollten die Zeiten<br />
schlechter werden, wird die wachsende<br />
Mittelklasse das System des korrupten<br />
Paternalismus nicht akzeptieren. Seit<br />
Maos Zeiten verfügt China nicht mehr<br />
über ein universales Ideal, eine über die<br />
eigenen Grenzen hinaus reichende ideologische<br />
Anziehungskraft.<br />
Illustration: Sebastian Haslauer<br />
62<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Was wird dann aus dem „chinesischen<br />
Traum“?<br />
Die wachsende Ungleichheit in <strong>der</strong><br />
Gesellschaft und ein System, das jenen<br />
mit den richtigen politischen Verbindungen<br />
enorme Vorteile verschafft, zeigt,<br />
dass <strong>der</strong> „chinesische Traum“ nichts weiter<br />
ist als die Möglichkeit für ein paar<br />
wenige, in kürzester Zeit sehr reich zu<br />
werden. Mein Fazit lautet daher: Das chinesische<br />
Modell ist ein Konkurrent, aber<br />
es wird sich langfristig nicht durchsetzen.<br />
Gibt es denn gar keine Bedrohung <strong>der</strong><br />
liberalen Demokratie?<br />
Die Frage ist doch, ob es irgendwo<br />
ein an<strong>der</strong>es, besseres Modell gibt. Das<br />
kann ich nicht erkennen. Niemand in<br />
Europa o<strong>der</strong> den USA wird sich ernsthaft<br />
den Modellen zuwenden, die China,<br />
Russland o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Iran repräsentieren.<br />
Wenn man die Entwicklung Afghanistans<br />
und Iraks betrachtet, spielen die<br />
USA und <strong>der</strong> Westen nicht gerade eine<br />
rühmliche Rolle bei <strong>der</strong> Implementierung<br />
demokratischer Strukturen.<br />
Diese Fälle zeigen, dass es für Außenstehende<br />
extrem schwer ist, eine nationale<br />
Identität aufzubauen. Das muss<br />
tatsächlich von den Eliten in den entsprechenden<br />
Gesellschaften geleistet werden.<br />
Wenn sie dazu nicht bereit sind, wird es<br />
wahrscheinlich auch nicht geschehen.<br />
Allerdings muss ich auch sagen: Die Erwartung<br />
<strong>der</strong> Menschen an die Entwicklung<br />
von Institutionen ist unglaublich<br />
hoch. Man muss doch nur die Entwicklung<br />
<strong>der</strong> Demokratie im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
in Europa betrachten: Es dauerte mehrere<br />
Generationen, bis sie wirklich etabliert<br />
war.<br />
Es gibt nicht wenige, die behaupten,<br />
dass Demokratie für manche Gesellschaften<br />
nicht geeignet ist – so seien<br />
<strong>Islam</strong> und Demokratie nicht miteinan<strong>der</strong><br />
vereinbar. Die Aufstände in <strong>der</strong> arabischen<br />
Welt seien schließlich in Bürgerkriege<br />
o<strong>der</strong> Diktaturen gemündet.<br />
Die Vorstellung, dass man in <strong>der</strong> arabischen<br />
Welt nur wenige Jahre nach dem<br />
Arabischen Frühling eine gefestigte Demokratie<br />
etablieren kann, ist lächerlich.<br />
Es hat mehrere Jahrzehnte gedauert, bis<br />
die Demokratie in Europa gefestigt war.<br />
Meiner Auffassung nach erfüllt <strong>der</strong> <strong>Islam</strong><br />
in Teilen die Rolle, die <strong>der</strong> Nationalismus<br />
im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t spielte – man kann<br />
Menschen auf unterschiedliche Art und<br />
Weise mobilisieren. In Europa wurde zu<br />
Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts die Demokratie<br />
durch Nationalismus umgelenkt<br />
und hat zu verheerenden Kriegen geführt.<br />
Heute spielt Religion in <strong>der</strong> muslimischen<br />
Welt in mancher Hinsicht eine<br />
ähnliche Rolle.<br />
Wenn die Demokratie das beste Modell<br />
ist, dann könnten es sich die Demokratien<br />
doch recht bequem machen …<br />
Nur weil man eine reiche Demokratie<br />
geworden ist, bedeutet das nicht, dass<br />
<strong>der</strong>en Institutionen auch weiterhin gut<br />
funktionieren. Einer Demokratie droht<br />
<strong>der</strong> Verfall, wenn zwei Komponenten zusammentreffen:<br />
geistige Unbeweglichkeit<br />
und die Vereinnahmung staatlicher Einrichtungen<br />
durch die Eliten.<br />
Erfüllen die Vereinigten Staaten noch<br />
die Standards einer liberalen Demokratie<br />
– o<strong>der</strong> ist die politische Ordnung <strong>der</strong><br />
USA anfällig geworden?<br />
Ich glaube nicht, dass Amerikas Demokratie<br />
brüchig geworden ist in dem<br />
Sinne, dass sie je<strong>der</strong>zeit kollabieren<br />
könnte. Allerdings ist die Leistungsfähigkeit<br />
<strong>der</strong> Regierung nicht beson<strong>der</strong>s<br />
gut – und sie wird schon seit einigen Jahrzehnten<br />
immer schlechter. Man betrachte<br />
nur einmal eine grundlegende Angelegenheit<br />
wie die Verabschiedung eines<br />
Haushalts – seit fast einem Jahrzehnt<br />
ist <strong>der</strong> Kongress nicht in <strong>der</strong> Lage, einen<br />
Haushalt zu verabschieden, weil er sich<br />
nicht einigen kann, wie eine langfristige<br />
Francis Fukuyama<br />
konstatierte vor 25 Jahren in<br />
einem Essay das „Ende <strong>der</strong><br />
Geschichte“, weil die „liberale<br />
Demokratie“ sich durchgesetzt<br />
habe. Als geläuterter Neocon<br />
plädierte er später für Interventionen<br />
mit Augenmaß und Verantwortung.<br />
Heute unterrichtet <strong>der</strong><br />
Politikwissenschaftler an <strong>der</strong><br />
Stanford University. Im Oktober<br />
erscheint sein Buch „Political Or<strong>der</strong><br />
and Political Decay: From the<br />
Industrial Revolution to the<br />
Globalization of Democracy“<br />
und zukunftsfähige Finanzpolitik aussehen<br />
könnte. Hier wird die grundlegende<br />
Pflicht einer Regierung nicht erfüllt.<br />
In dieser Hinsicht funktioniert die<br />
Demokratie nicht sehr gut. Das bedeutet<br />
aber nicht, dass eine soziale Revolution<br />
ausbricht.<br />
Häufig werden die Republikaner beziehungsweise<br />
die Tea Party hierfür verantwortlich<br />
gemacht. <strong>Ist</strong> die Tea Party<br />
durch ihre Politik <strong>der</strong> Verweigerung eine<br />
Gefahr für die Demokratie in den USA?<br />
Nein. Dass die Tea Party zu einer<br />
politischen Kraft geworden ist, ist <strong>der</strong><br />
Stärke <strong>der</strong> amerikanischen Demokratie<br />
geschuldet. Sie ist eine Graswurzelbewegung,<br />
die einen wichtigen Teil <strong>der</strong><br />
amerikanischen Wähler vertritt, und sie<br />
ist in <strong>der</strong> Lage, das politische System zu<br />
nutzen, um ihre Ansichten zu vertreten.<br />
Also kein Grund zur Sorge?<br />
Das Problem ist ein an<strong>der</strong>es. Ich<br />
nenne es: „Vetocracy“. Damit meine ich,<br />
dass wir so viele Ebenen des checks and<br />
balances, also <strong>der</strong> Kontrollen, in unserem<br />
System eingebaut haben, dass sie es<br />
gut organisierten Min<strong>der</strong>heiten einfach<br />
machen, Entscheidungen <strong>der</strong> Mehrheit zu<br />
blockieren. Die Teay Party vertritt vielleicht<br />
ein Drittel <strong>der</strong> Republikaner, was<br />
nicht mehr als 15 bis 20 Prozent aller<br />
Wähler ausmacht. Die Architektur unserer<br />
Institutionen aber ermöglicht es<br />
ihnen, das Repräsentantenhaus zu kontrollieren,<br />
was es wie<strong>der</strong>um unmöglich<br />
macht, Gesetze zu verabschieden. Das<br />
ist Teil eines größeren Problems: Wir haben<br />
so viele Veto-Möglichkeiten in unserem<br />
Gesetzgebungsverfahren, dass wir<br />
am Ende größtenteils gelähmt sind. Das<br />
führt zu schlechter Gesetzgebung und<br />
verhin<strong>der</strong>t, dass wir uns wichtigen Fragen<br />
zuwenden wie etwa <strong>der</strong> Waffenkontrolle<br />
und <strong>der</strong> Immigration.<br />
Würden Sie Amerika noch als Vorbild<br />
bezeichnen?<br />
Während die amerikanische Ökonomie<br />
ein Quell überragen<strong>der</strong> Innnovationen<br />
bleibt, ist die US-Regierung zurzeit<br />
kaum ein Hort <strong>der</strong> Inspiration für<br />
die Welt.<br />
Das Gespräch führte JUDITH HART<br />
63<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
WELTBÜHNE<br />
Russland<br />
„AMERIKA GEHÖRT<br />
VERNICHTET“<br />
Der Philosoph Alexan<strong>der</strong><br />
Dugin gilt als Einflüsterer<br />
<strong>der</strong> russischen Regierung.<br />
Aber was hat er eigentlich<br />
zu sagen? Eine Auslese<br />
Von ALEXANDER MARGUIER<br />
Um Alexan<strong>der</strong> Dugin zu beschreiben, sind<br />
schon etliche Begriffe bemüht worden,<br />
am häufigsten wohl „Eurasier“, „Nationalbolschewist“,<br />
„Esoteriker“, „Faschist“<br />
o<strong>der</strong> „Reaktionär“. Fest steht, dass man<br />
dem 1962 in Moskau geborenen Philosophen und Politologen<br />
mit den üblichen Kategorien aus dem ideologischen<br />
Werkzeugkasten kaum gerecht wird. Dafür<br />
sind viele seiner Aussagen zu wi<strong>der</strong>sprüchlich, die<br />
zwischen Kriegsrhetorik und pazifistischen Anwandlungen<br />
genauso oszillieren wie zwischen kühlen geopolitischen<br />
Analysen und apokalyptischen Prophezeiungen.<br />
Wer seine Schriften liest, könnte deshalb<br />
leicht den Eindruck gewinnen, dieser russische „Public<br />
Intellectual“ sei sich manchmal selbst nicht ganz<br />
geheuer und nehme deshalb ständig Renovierungsarbeiten<br />
am eigenen, noch unvollendeten Gedankengebäude<br />
vor, dessen Fundament freilich ein dezidierter<br />
Antiliberalismus ist.<br />
Dass Dugin seit einiger Zeit auch im Westen wie<strong>der</strong><br />
auf verstärktes Interesse stößt, hat einen einfachen<br />
Grund: Er gilt als eine Art ideologisches Mastermind<br />
hinter <strong>der</strong> russischen Einflussnahme in <strong>der</strong><br />
Ukrainekrise und als geistiger Vater <strong>der</strong> Krimannektion<br />
mit entsprechenden Kontakten in die höchsten<br />
Kreise <strong>der</strong> Moskauer Politik. Ob es sich bei Alexan<strong>der</strong><br />
Dugin tatsächlich um „Putin’s Brain“ handelt, wie die<br />
amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs vor einigen<br />
Wochen glauben machen wollte, muss zwar bezweifelt<br />
werden. Aber weites Gehör findet <strong>der</strong> politische<br />
Theoretiker in seinem Land allemal – ob als Kommentator<br />
o<strong>der</strong> Talkshowgast. Als Dugin unlängst in einem<br />
Interview dafür plädierte, die Unterstützer <strong>der</strong> „Kiewer<br />
Junta“ zu „töten, töten, töten“, war das allerdings<br />
selbst im nationalistisch gesinnten Russland ein Tabubruch<br />
– zumindest für einen prominenten Gelehrten.<br />
Die Lomonossow-Universität entzog dem intellektuellen<br />
Brandstifter denn auch prompt die Funktion des<br />
stellvertretenden Leiters eines Soziologie-Lehrstuhls.<br />
Ob er an <strong>der</strong> berühmten Moskauer Hochschule dennoch<br />
weiter als Professor lehrt, ist seither umstritten:<br />
Dugin behauptet, man habe ihn entlassen; die Uni-<br />
Leitung bestreitet es.<br />
Das Faszinosum Alexan<strong>der</strong> Dugins, <strong>der</strong> Anfang<br />
<strong>der</strong> neunziger Jahre die Nationalbolschewistische Partei<br />
Russlands mitbegründete und diese später wie<strong>der</strong><br />
verließ, ist seine Mischung aus profun<strong>der</strong> philosophischer<br />
Bildung und einem nachgerade martialischen<br />
Antiamerikanismus. Dass <strong>der</strong> Chefpropagandist des<br />
„eurasischen Projekts“ mit seinem rauschenden Bart<br />
und dem Habitus des Wan<strong>der</strong>predigers überdeutlich an<br />
Rasputin erinnert, vervollständigt dabei auch noch äußerlich<br />
seinen Nimbus als messianischer Großdenker<br />
wi<strong>der</strong> die Mo<strong>der</strong>ne. Wenn ein Mann vom Schlage Dugins<br />
„mit seinen Ideen in die Führungsetagen zentraler<br />
Machtorgane, wesentlicher Massenmedien und Curricula<br />
renommierter Bildungseinrichtungen“ vordringen<br />
könne, „ist es schlechter um die Zukunft des Landes<br />
bestellt, als man ohne dies hätte annehmen müssen“,<br />
urteilten bereits 2007 die Blätter für deutsche und internationale<br />
Politik. Worum also geht es ihm?<br />
EINEN GUTEN ÜBERBLICK liefert Alexan<strong>der</strong> Dugins<br />
auch auf Deutsch im neorechten Londoner Arktos-Verlag<br />
erschienenes Manifest „Die vierte politische Theorie“.<br />
Das Buch ist alles an<strong>der</strong>e als einfach zu lesen, was<br />
nicht nur an <strong>der</strong> stellenweise hanebüchenen Übersetzungsarbeit<br />
liegt, son<strong>der</strong>n vielmehr an dem doch eher<br />
schwer verdaulichen metaphysischen Grundrauschen.<br />
„Was ist die vierte politische Praxis?“, fragt Dugin beispielsweise.<br />
Wer darauf eine halbwegs nachvollziehbare<br />
Handlungsanleitung erwartet, muss mit folgen<strong>der</strong> Erklärung<br />
zurechtkommen: „Sie ist Anschauung. Was ist die<br />
Manifestation <strong>der</strong> vierten politischen Praxis? Sie ist ein<br />
Prinzip, das offenbart werden soll. In welcher Hinsicht<br />
64<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Dieser untergegangenen Trias setzt Dugin also<br />
seine „vierte politische Theorie“ entgegen. Sie entspricht<br />
dem Konzept einer radikalen konservativen<br />
Revolution, die von einem geradezu manischen Kulturpessimismus<br />
getragen wird: „Es existiert in <strong>der</strong> Welt<br />
ein Prozess objektiven Verfalls. Dieser ist nicht bloß<br />
das schikanöse Treiben von ,<strong>böse</strong>n Kräften‘; es sind<br />
die Kräfte <strong>der</strong> Freiheit, die Kräfte des Marktes, die die<br />
Menschheit auf den Weg des Verfalls führen.“ Konservative<br />
Revolutionäre, so Dugin, „wollen nicht nur die<br />
Zeit hinauszögern wie die Liberalkonservativen, o<strong>der</strong><br />
zur Vergangenheit zurückkehren wie die Traditionalisten,<br />
son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Weltstruktur die Wurzeln des Bösen<br />
ausreißen, Zeit als eine destruktive Qualität <strong>der</strong><br />
Wirklichkeit abschaffen und dadurch eine Art geheimer,<br />
paralleler und nicht offenkundiger Intention <strong>der</strong><br />
Gottheit selbst ausführen“.<br />
Foto: Action Press<br />
verwirklicht sich <strong>der</strong> Mythos im Ritual? Er wird zum<br />
theurgischen Fakt – es sei bemerkt, dass die neuplatonische<br />
Theurgie in <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>belebung <strong>der</strong> Statuen besteht.<br />
Was ist Aktivität als Mentalität? Es ist die Idee,<br />
dass Gedanken magisch sind, dass Gedanken die Realität<br />
verän<strong>der</strong>n können; es ist eine Suggestion, dass Gedanken<br />
die Realität als Fakt ersetzen.“<br />
Dugins geistiger Antagonist – und das wird dann<br />
doch recht bald deutlich – ist <strong>der</strong> amerikanische Politologe<br />
Francis Fukuyama, dessen Vorstellung vom „Ende<br />
<strong>der</strong> Geschichte“ dem Urheber <strong>der</strong> „vierten politischen<br />
Theorie“ als ungeheuerliche Anmaßung und Fehleinschätzung<br />
erscheint. Alexan<strong>der</strong> Dugin jedenfalls bestreitet<br />
vehement, dass mit dem Untergang <strong>der</strong> Sowjetunion<br />
die freiheitliche Demokratie und damit auch die<br />
Kräfte des Marktes für immer und alle Zeiten obsiegt<br />
hätten. „Der Liberalismus“, so schreibt Dugin, „ist ein<br />
Überrest aus dem ,alten Jahr‘; er ist ein Residuum, ein<br />
zweifelhaftes Stück Vergangenheit, das nicht ordentlich<br />
entsorgt wurde. Seine Zeit ist vorbei, aber er will<br />
sich nicht für immer verabschieden.“ Faschismus und<br />
Kommunismus, die beiden an<strong>der</strong>en Großideologien<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, seien ohnehin längst auf Nimmerwie<strong>der</strong>sehen<br />
verschwunden.<br />
ALS EINE DER WURZELN DES BÖSEN hat Alexan<strong>der</strong> Dugin<br />
– das ist in diesen Sphären nicht beson<strong>der</strong>s überraschend<br />
– die Globalisierung ausgemacht mit den Vereinigten<br />
Staaten als <strong>der</strong>en Zentrum. „Amerikanische<br />
Werte geben vor, ,universale‘ zu sein. In <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />
ist das eine neue Form <strong>der</strong> ideologischen Aggression<br />
gegen die Vielfalt <strong>der</strong> noch in <strong>der</strong> übrigen Welt<br />
existierenden Kulturen und Traditionen. Ich bin entschieden<br />
gegen westliche Werte, die im Wesentlichen<br />
mo<strong>der</strong>nistisch und postmo<strong>der</strong>nistisch sind.“ Alle, die<br />
seine Abscheu vor <strong>der</strong> Globalisierung teilen und wie er<br />
die weltweite „Dominanz des westlichen Lebensstils<br />
für den Grund des endgültigen Nie<strong>der</strong>gangs <strong>der</strong> Erde“<br />
halten, lädt Dugin folglich dazu ein, sich zusammenzuschließen:<br />
„Wir könnten sogar gemeinsame Verbündete<br />
innerhalb <strong>der</strong> Vereinigten Staaten selbst finden<br />
unter denen, die den Pfad <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />
Dekadenz vorziehen.“ Das Ceterum censeo<br />
des Moskauer Philosophen lautet denn auch wortwörtlich:<br />
„Das amerikanische Imperium gehört vernichtet.“<br />
Nur ist das mit dem Vernichten von Imperien leichter<br />
gesagt als getan. Deshalb flüchtet sich Dugin immer<br />
genau dort, wo seine Leser ein paar Konkretisierungen<br />
erwarten könnten, in esoterisch-verquaste Abhandlungen<br />
über allerlei „vormo<strong>der</strong>ne Inspirationsquellen“,<br />
über „den platonischen idealen Staat“, „die mittelalterliche<br />
hierarchische Gesellschaft“ o<strong>der</strong> „theologische<br />
Visionen des sozialen und politischen Systems“.<br />
Vielleicht ist ja genau das auch schon die Lösung jenes<br />
Rätsels in eigener Sache, das Alexan<strong>der</strong> Dugin<br />
im zweiten Kapitel seines Buches wie folgt formuliert:<br />
„Ich begreife kaum, warum gewisse Leute, die mit dem<br />
Konzept <strong>der</strong> vierten politischen Theorie konfrontiert<br />
werden, nicht sofort eine Flasche Sekt entkorken, tanzen<br />
und jubilieren und die Entdeckung neuer Möglichkeiten<br />
feiern.“<br />
ALEXANDER MARGUIER<br />
ist stellvertreten<strong>der</strong> Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />
65<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
IRANS<br />
ZWEITES<br />
GESICHT
WELTBÜHNE<br />
Fotoessay<br />
Das iranische Regime regelt auch noch die letzte Kleinigkeit<br />
des Alltags. Aber die Iraner wollen ihr Leben selbst<br />
bestimmen. Der Fotograf Hossein Fatemi zeigt Menschen,<br />
die sich kleine und große Freiheiten nehmen<br />
Schönheitsoperationen gehören im Iran zum Alltag.<br />
Am beliebtesten sind Nasenkorrekturen. Jährlich<br />
werden etwa 200 000 Nasen operiert. Das ist<br />
ein Weltrekord<br />
67<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Verboten sind Tattoos zwar nicht. Wenn <strong>der</strong> Staat will,<br />
findet er dennoch Gründe, sie mit Peitschenhieben<br />
und Gefängnisstrafen zu sanktionieren. Davon beirren<br />
lässt sich <strong>der</strong> Tätowierer Siavash dennoch nicht
Iranische Frauen investieren einiges in ihr Äußeres.<br />
Der regelmäßige Kosmetikstudiobesuch ist ein<br />
Muss. In den Schönheitssalons haben Männer<br />
we<strong>der</strong> Zutritt noch dürfen sie dort arbeiten
In <strong>der</strong> iranischen Öffentlichkeit wäre das<br />
undenkbar – und verboten: Männer und<br />
Frauen entspannen leicht bekleidet an einem<br />
privaten Pool in Teheran
Eine Freizeitbeschäftigung auf eigene<br />
Gefahr: Das Shisha-Rauchen ist Frauen<br />
verboten. Offizielle Begründung:<br />
Rauchen gefährdet die Gesundheit
Prostitution kann mit bis zu 100 Peitschenhieben<br />
und Gefängnis bestraft werden. Für diese Frau<br />
ist das keine Abschreckung – sie sieht keinen<br />
an<strong>der</strong>en Weg, um sich und ihre Kin<strong>der</strong> zu ernähren
WELTBÜHNE<br />
Fotoessay<br />
Der Kampf <strong>der</strong> iranischen Behörden gegen alle Formen<br />
westlichen Lebensstils hat auch Hunde erreicht.<br />
Würde Shervin beim Gassigehen erwischt, wäre er seinen<br />
Hund los und müsste eine Geldstrafe zahlen<br />
Unser Bild vom Iran ist meist eindimensional:<br />
Männer tragen Bärte und sind Ayatollahs;<br />
Frauen werden hinter Ganzkörperverschleierungen<br />
gesteckt, und gemeinsam stützen sie<br />
die Hardliner.<br />
So einfach ist es – wie so häufig mit Klischees –<br />
aber nicht. Der Fotograf Hossein Fatemi, <strong>der</strong> im Iran<br />
geboren wurde und dort aufwuchs, zeigt, wie vielschichtig<br />
die iranische Gesellschaft tatsächlich ist.<br />
Mit seinen Bil<strong>der</strong>n lüftet er den Schleier. Dahinter<br />
wird eine komplexe Gesellschaft sichtbar.<br />
Es ist insbeson<strong>der</strong>e eine junge Gesellschaft –<br />
60 Prozent <strong>der</strong> 80-Millionen-Bevölkerung sind unter<br />
30 Jahre alt. Sie kennen nur das theokratische Regime,<br />
das nach <strong>der</strong> <strong>Islam</strong>ischen Revolution 1979 an<br />
die Macht kam. Dass ihr Land zuvor unter <strong>der</strong> Herrschaft<br />
des Schahs ein wichtiger und verlässlicher Verbündeter<br />
<strong>der</strong> Amerikaner war, wissen sie nur noch<br />
aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern.<br />
Seit drei Jahrzehnten reguliert das Mullah-Regime<br />
jedes noch so kleine Detail des tagtäglichen Lebens<br />
<strong>der</strong> Iraner. Mit allen Mitteln soll das islamische<br />
Recht durchgesetzt werden. Tugendwächter stellen<br />
dessen Einhaltung sicher, kontrollieren, ob das Kopftuch<br />
richtig sitzt und junge Paare sich angemessen<br />
verhalten und nicht etwa Händchen haltend durch<br />
die Straßen gehen.<br />
Ungeachtet dessen kann es die Jugend kaum<br />
erwarten, sich von <strong>der</strong> paternalistischen Unterdrückung<br />
<strong>der</strong> Mullahs zu befreien, um endlich jene Freiheiten<br />
zu genießen, die sie bereits durch das Internet<br />
und Satellitenfernsehen kennt. Im Privaten, hinter<br />
verschlossenen Türen, versucht die mehrheitlich säkulare<br />
Bevölkerung, ein freies, ungestörtes Leben zu<br />
führen – gekennzeichnet von Partys mit viel Alkohol<br />
und westlicher Musik, organisierter Prostitution und<br />
einer besorgniserregenden Ausbreitung harter Drogen<br />
wie Heroin. Stets Gefahr laufend, dafür schwer<br />
bestraft zu werden.<br />
Deutlicher kann eine Gesellschaft nicht geteilt sein.<br />
Auf <strong>der</strong> einen Seite die Staatsdiener, die tief beseelt<br />
sind von ihrer Treue zu Staat und Glauben. Auf <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Seite die große Mehrheit <strong>der</strong> Iraner, die versucht,<br />
einen schmalen Pfad durch das Dickicht religiöser<br />
Gesetze und religiösen Brauchtums zu schlagen.<br />
JUDITH HART<br />
Fotos: Hossein Fatemi/Panos/VISUM (Seiten 66 bis 74)<br />
74<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
KAPITAL<br />
„ Es gibt in Deutschland<br />
zurzeit keine Frau,<br />
die das Potenzial hätte,<br />
den Vorstandsvorsitz<br />
eines Dax-Konzerns zu<br />
übernehmen “<br />
Heiner Thorborg, einer <strong>der</strong> renommiertesten Personalberater Deutschlands, kritisiert im Interview<br />
die mangelhafte Frauenför<strong>der</strong>ung deutscher Unternehmen, Seite 80<br />
75<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
KAPITAL<br />
Porträt<br />
DER GEFÜHLSSPITZEL<br />
Was denkt mein Gegenüber gerade? Catalin Voss bringt <strong>der</strong> Datenbrille Google Glass<br />
bei, Emotionen zu messen. Zum Datenschutz sagt er: Macht euch mal locker<br />
Von PETRA SORGE<br />
Foto: Michael Löwa für <strong>Cicero</strong><br />
Bei Twitter nennt er sich MyHumbleSelf<br />
– „Mein bescheidenes Ich“.<br />
Meint Catalin Voss das ernst, o<strong>der</strong><br />
ist es Koketterie? Das weiß man bei dem<br />
19 Jahre alten Informatikstudenten nie<br />
so genau. Einerseits sackt er in seinem<br />
Stuhl auf dem Podium zusammen, wenn<br />
<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ator eines Wirtschaftskongresses<br />
in Wolfsburg ihn als „deutschen Mark<br />
Zuckerberg“ vorstellt.<br />
An<strong>der</strong>erseits entwirft er anschließend<br />
selbstbewusst ein Szenario, wie<br />
Technologie in den kommenden Jahren<br />
unsere Vorstellung von Privatheit verän<strong>der</strong>n<br />
wird. Und die Manager von Siemens,<br />
Volkswagen o<strong>der</strong> ThyssenKrupp im Publikum<br />
hören dem Rothaarigen im Karohemd<br />
genau zu. Seine Botschaft: Die<br />
Deutschen sollen sich beim Datenschutz<br />
mal ein bisschen locker machen.<br />
Voss studiert seit zwei Jahren in Kalifornien<br />
an <strong>der</strong> Stanford University, <strong>der</strong><br />
Ka<strong>der</strong>schmiede des Silicon Valley. Der<br />
Teenager berät den Verlag Axel Springer<br />
bei seiner Digitalstrategie. Parallel<br />
dazu hat er sein Start-up-Unternehmen<br />
„Sension“ aufgebaut. Mit seinen Partnern<br />
bringt er Computern bei, Emotionen<br />
zu lesen. Das Programm zerlegt Augen,<br />
Nase und Mund in bis zu hun<strong>der</strong>t<br />
Punkte und notiert kleinste Verän<strong>der</strong>ungen.<br />
Freude o<strong>der</strong> Trauer, Überraschung<br />
o<strong>der</strong> Wut: Was das Gegenüber fühlt, errechnen<br />
Voss’ Algorithmen. Das von<br />
„Sension“ entwickelte Programm läuft als<br />
App auf Google Glass, <strong>der</strong> neuen Datenbrille<br />
mit integrierter Kamera.<br />
Voss sagt, in Zukunft werde die<br />
Technik dem Körper noch näher kommen.<br />
Google bastelt bereits an einer Daten-Kontaktlinse.<br />
Voss’ Generation empfindet<br />
das Internet als Grundrecht. Sie<br />
erwartet sogar, dass Informationen von<br />
selbst zu ihr finden. Datensammeln findet<br />
Voss deshalb nicht schlimm, solange das<br />
Unternehmen und nicht Geheimdienste<br />
machen: „Diese beiden Dimensionen von<br />
Privatsphäre werden aber in <strong>der</strong> Diskussion<br />
oft vermischt.“<br />
Voss, <strong>der</strong> mit 13 Jahren Apps für die<br />
US-Armee programmierte, will auf <strong>der</strong><br />
guten Seite stehen. Er möchte mit seiner<br />
Software Autisten helfen, denen es<br />
an Einfühlungsvermögen fehlt. Stanford<br />
gibt dafür Forschungsgel<strong>der</strong>. Im Herbst<br />
sollen 35 autistische Kin<strong>der</strong> erstmals<br />
seine App für Google Glass testen.<br />
Jede Erfindung könne Menschen nützen<br />
o<strong>der</strong> schaden, sagt Voss. Er sieht die<br />
Verantwortung bei <strong>der</strong> Gesellschaft und<br />
nicht bei den Unternehmen: „Innovationen<br />
verlangen immer auch neue soziale<br />
Normen.“ Für Google Glass hieße<br />
das: Wer die Datenbrille auf <strong>der</strong> Nase<br />
hat, sollte an<strong>der</strong>e nicht heimlich filmen.<br />
Voss spielt auf einen Vorfall in San<br />
Francisco an, wo Barbesucher einer Frau<br />
die Google-Brille vom Kopf rissen. In Seattle<br />
erteilte ein Wirt den Brillenträgern<br />
sogar Hausverbot. 72 Prozent <strong>der</strong> Amerikaner<br />
misstrauen Google Glass. Der Konzern<br />
sah sich genötigt, Benimmregeln zu<br />
veröffentlichen. Erstes Gebot: „Don’t be<br />
a Glasshole“ – zu Deutsch etwa: Seien Sie<br />
kein Brillenarschloch.<br />
WIE VIEL ER VERDIENT, verrät Catalin<br />
Voss nicht. Seine eigene Privatsphäre<br />
weiß er zu schützen. Als Kind in einem<br />
Dorf bei Heidelberg baute er eine Alarmanlage<br />
aus Lego-Steinen, für sein Kin<strong>der</strong>zimmer<br />
entwickelte er eine Schlüsselkarte.<br />
Er ging auf ein Gymnasium für<br />
Hochbegabte, programmierte erste Apps<br />
fürs iPhone mit zwölf. Seine Erklärvideos<br />
wurden zur Nummer eins im deutschen<br />
iTunes-Store. Der Stiefvater, promovierter<br />
Physiker bei SAP, erfuhr von<br />
einem Kollegen, welche Reichweite sein<br />
Sohn da im Internet hatte.<br />
Mit 15 Jahren bewarb sich Catalin<br />
Voss um ein Praktikum im Silicon Valley.<br />
Steve Capps, <strong>der</strong> zusammen mit Steve<br />
Jobs den ersten Mac gebaut hatte, lud<br />
ihn ein. Voss sollte in acht Wochen ein<br />
Programm schreiben, mit dem man ohne<br />
Kreditkarte im Internet bezahlen kann.<br />
Er war mit „PayNearMe“ nach vier Wochen<br />
fertig.<br />
Der Mo<strong>der</strong>ator in Wolfsburg behauptet,<br />
Voss habe für Apple-Grün<strong>der</strong> Steve<br />
Jobs gearbeitet. Das stimmt nicht, die<br />
beiden waren nur mal Kaffee trinken.<br />
Doch Voss korrigiert das nicht. Er kennt<br />
das. Im Internet kursieren zahlreiche solcher<br />
Gerüchte über ihn: „Dann weiß wenigstens<br />
niemand, was wirklich stimmt.“<br />
Seine Art von Datenschutz.<br />
Nach dem Praktikum in Kalifornien<br />
hat sich Voss keine Pause gegönnt. War<br />
er zuvor wegen zwei Sechsen noch fast<br />
sitzen geblieben, legte er jetzt das Abi<br />
mit einem Durchschnitt von 1,1 ab. Die<br />
Aufnahme an <strong>der</strong> Stanford University:<br />
ein Klacks. Parallel sammelte er Kredite<br />
ein, gründete sein Start-up, gewann ein<br />
Stipendium.<br />
In seiner Freizeit legt Voss in Clubs<br />
als DJ auf, geht mit seiner mexikanischen<br />
Freundin aus o<strong>der</strong> liest „Calvin & Hobbes“.<br />
Voss hat alle Bände des amerikanischen<br />
Comics, in dem <strong>der</strong> sechsjährige<br />
Calvin mit seinem Tiger Hobbes Abenteuer<br />
besteht. Hobbes existiert als echter<br />
Tiger nur in Calvins Fantasie, für alle<br />
an<strong>der</strong>en ist er eine leblose Stoffpuppe.<br />
Ähnlich wie die neuesten Visionen aus<br />
dem Silicon Valley, die für viele Menschen<br />
noch nicht ganz in diese Welt passen.<br />
Für Catalin Voss schon.<br />
PETRA SORGE ist Redakteurin bei <strong>Cicero</strong><br />
Online und im Internet selbst schizophren:<br />
Sie hat Software zur Anonymisierung installiert,<br />
nutzt aber auch Google und Facebook<br />
77<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
KAPITAL<br />
Porträt<br />
UNQUALIFIZIERTER UNTERNEHMER<br />
Als Hippie ohne Berufsausbildung startete Joseph Wilhelm vor vier Jahrzehnten<br />
einen Naturkostladen. Heute ist Rapunzel einer <strong>der</strong> führenden Biohersteller in Europa<br />
Von DANIELA SINGHAL<br />
Manche Wünsche können Eltern<br />
ihren Kin<strong>der</strong>n einfach nicht abschlagen:<br />
Die Lust seiner Kin<strong>der</strong><br />
auf süßen Brotaufstrich brachte Joseph<br />
Wilhelm dazu, Haselnüsse in einer<br />
Waschtrommel zu rösten. In den siebziger<br />
Jahren sträubte er sich gegen weißen Industriezucker<br />
und erfand die biologische<br />
Alternative zu Nutella: Samba. Ein Verkaufsschlager<br />
<strong>der</strong> von Wilhelm gegründeten<br />
Biomarke Rapunzel. Das Müsli,<br />
das er damals in seinem Naturkostladen<br />
in Augsburg verkaufte, mischte Wilhelm<br />
in einer Badewanne.<br />
So begann seine Karriere mit ungewöhnlichen<br />
Methoden, wilden Locken,<br />
einem in Regenbogenfarben bemalten<br />
VW-Bus als Lieferwagen – und ohne Berufsausbildung.<br />
Heute ist die Rapunzel<br />
Naturkost GmbH mit 350 Mitarbeitern<br />
und einem Umsatz von 130 Millionen<br />
Euro einer <strong>der</strong> führenden Biohersteller<br />
in Europa.<br />
Die Nachfrage nach Bioprodukten in<br />
Deutschland war damals eher gering, die<br />
Skepsis umso größer. „Es ging uns nicht<br />
darum, große Geschäfte zu machen“,<br />
sagt <strong>der</strong> 60 Jahre alte Unternehmer. „Wir<br />
wollten gesund und verantwortungsvoll<br />
leben. Aber das, was wir essen wollten,<br />
gab es nicht zu kaufen.“<br />
Heute boomt die Branche: 2013 wurden<br />
laut dem Bund für Ökologische Lebensmittelwirtschaft<br />
7,55 Milliarden<br />
Euro mit Bioprodukten umgesetzt. Der<br />
Marktanteil von Bio beträgt in Deutschland<br />
3,9 Prozent.<br />
Ein umkämpfter Nischenmarkt, auf<br />
dem sich Wilhelm mit seinen Bioprodukten<br />
jetzt seit vier Jahrzehnten behauptet.<br />
Wie ein harter Geschäftsmann wirkt <strong>der</strong><br />
Rapunzel-Geschäftsführer aber immer<br />
noch nicht: Wilhelm trägt zum leuchtend<br />
blauen T-Shirt ein graues Sakko<br />
und Turnschuhe, im Gespräch lacht er<br />
viel. Während an<strong>der</strong>e Firmenchefs morgens<br />
joggen, mistet Wilhelm seinen Stall<br />
aus: 25 Rin<strong>der</strong> hält er auf seinem Hof<br />
im Allgäu, zehn Kilometer vom Rapunzel-Werk<br />
in Legau entfernt. Er verkauft<br />
Biofleisch und Stroh. „Ich brauche diese<br />
bodenständige Arbeit, den Kontakt zur<br />
Erde! Sie gibt mir Kraft für meine Aufgaben<br />
als Geschäftsführer.“<br />
IN DEN ANFANGSJAHREN von Rapunzel<br />
schleppte Joseph Wilhelm Kisten und Säcke,<br />
grub Beete um und melkte Kühe –<br />
erst im Schwäbischen, dann auf dem eigenen<br />
Hof im bayerischen Kimratshofen.<br />
Dort lebte er mit seiner Frau Jennifer Vermeulen<br />
und Freunden in einer Gemeinschaft:<br />
„Wir waren eine bunte Lebensund<br />
Arbeitsgemeinschaft, wir haben alles<br />
geteilt und sehr sparsam gelebt. So konnten<br />
wir wachsen“, sagt Wilhelm. Damals<br />
gab es im Allgäu keinen einzigen Biobauern.<br />
Die Ware wurde per Direktvertrieb<br />
ausgeliefert: „Unser Regenbogen kommt<br />
Euch bald wie<strong>der</strong> besuchen!“, hieß es im<br />
Schreiben an die Kunden.<br />
Heute sitzt <strong>der</strong> Biopionier in Besprechungen,<br />
reist durch Deutschland und<br />
die Welt, um mit Produzenten und Lieferanten<br />
zu sprechen und für die biologische<br />
Landwirtschaft und den fairen Handel<br />
zu werben.<br />
Das ist kein leichtes Unterfangen:<br />
Die Landwirte fürchten den Preisdruck<br />
in <strong>der</strong> Branche, Studien begegnen dem<br />
Bioboom kritisch, und die Verbraucher<br />
scheuen die höheren Preise – Wilhelm<br />
muss Überzeugungsarbeit leisten. „Ich<br />
bin selber in einem landwirtschaftlichen<br />
Betrieb groß geworden. Das hilft<br />
mir, wenn ich mit den Bauern spreche.<br />
Sie merken, dass ich ihre Ängste verstehe.“<br />
Wilhelm lässt nicht locker und<br />
zerstreut die Bedenken <strong>der</strong> Produzenten<br />
mit Absatzgarantien: So schaffte er<br />
es auch, ein ganzes Dorf in <strong>der</strong> Türkei<br />
davon zu überzeugen, auf den biologischen<br />
Anbau von Sultaninen umzustellen.<br />
Rapunzel hat mittlerweile ein eigenes<br />
Werk in <strong>der</strong> Türkei.<br />
„Daran habe ich anfangs natürlich<br />
nicht gedacht“, sagt Wilhelm. Mit 16 Jahren<br />
verließ er den elterlichen Hof. Sein<br />
Startkapital betrug 3000 Mark – das<br />
Hochzeitsgeschenk seiner Schwiegereltern.<br />
„Wir waren ein wenig naiv, aber<br />
auch sehr ehrgeizig“, sagt Wilhelm. Die<br />
Etiketten <strong>der</strong> Produkte malte das junge<br />
Unternehmer-Ehepaar per Hand. „Unsere<br />
Methoden waren oft ungewöhnlich,<br />
aber unsere Produkte von Anfang an zu<br />
100 Prozent bio.“<br />
Auch über sein Unternehmen hinaus<br />
setzt er sich für seine Vision einer<br />
besseren Welt ein: Regelmäßig läuft<br />
er Tausende von Kilometern durch die<br />
Republik, um für eine gentechnikfreie<br />
Welt zu werben. „Ich bin immer noch<br />
ein Idealist und glaube daran, dass alles<br />
gut werden kann!“<br />
DANIELA SINGHAL ist freie Autorin. Mit<br />
Joseph Wilhelm verbindet sie, dass sie auch<br />
den Jakobsweg gegangen ist<br />
MYTHOS<br />
MITTELSTAND<br />
Was hat Deutschland,<br />
was an<strong>der</strong>e nicht haben?<br />
Den Mittelstand!<br />
<strong>Cicero</strong> stellt in je<strong>der</strong> Ausgabe<br />
einen mittelständischen<br />
Unternehmer vor.<br />
Die bisherigen Porträts<br />
finden Sie unter:<br />
www.cicero.de/mittelstand<br />
Foto: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />
78<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
KAPITAL<br />
Interview<br />
„ES GIBT HIER KEINE GEEIGNETEN<br />
FRAUEN FÜR CEO-JOBS“<br />
Die Headhunter<br />
Christina Virzí<br />
und Heiner<br />
Thorborg über<br />
Führungsstile<br />
in Konzernen,<br />
versteckten<br />
Machismo und<br />
mangelndes<br />
weibliches<br />
Selbstvertrauen<br />
Herr Thorborg, was macht Ihre Kollegin<br />
Christina Virzí zu einer guten<br />
Headhunterin?<br />
Heiner Thorborg: Ein guter Headhunter<br />
muss im Grunde seines Herzens<br />
Verkäufer sein. Wir suchen im Auftrag<br />
<strong>der</strong> Unternehmen die passenden Menschen<br />
für Führungspositionen. Um erfolgreich<br />
zu sein, müssen wir die Kandidaten<br />
und das Unternehmen davon<br />
überzeugen, dass sie füreinan<strong>der</strong> bestimmt<br />
sind. Und das kann Christina<br />
Virzí mindestens so gut wie ich.<br />
Frau Virzí, Sie sind auf die Vermittlung<br />
von Frauen in Toppositionen spezialisiert.<br />
<strong>Ist</strong> es da für Sie nicht problematisch,<br />
dass Sie mit Heiner Thorborg einen<br />
Mann vor <strong>der</strong> Nase sitzen haben?<br />
Christina Virzí: Das empfinde ich<br />
nicht so. Ich habe schon nach unserem<br />
ersten Gespräch gewusst, dass er mir ein<br />
Angebot machen wird. Bei ihm hat es einen<br />
Monat länger gedauert, aber dann<br />
hat er mir einen Job bei sich angeboten.<br />
Ich fand es spannend, dass er das Thema<br />
Frauen in Spitzenpositionen schon vor<br />
sieben Jahren gepusht hat, als es für viele<br />
noch gar keine Rolle gespielt hat.<br />
Thorborg: Es gibt zwischen uns<br />
höchstens eine Erfahrungshierarchie, da<br />
ich jetzt 35 Jahre in diesem Geschäft bin.<br />
Wir profitieren beide von <strong>der</strong> Zusammenarbeit.<br />
Geplant hatte ich das so nie. Ich<br />
wollte eigentlich irgendwann den Schlüssel<br />
umdrehen und sagen: Das war es.<br />
Sie haben bereits 2007 das Netzwerk<br />
„Generation CEO“ für weibliche Manager<br />
ins Leben gerufen.<br />
Thorborg: Es gab damals kaum<br />
Frauen in Führungspositionen deutscher<br />
Unternehmen, we<strong>der</strong> in den Aufsichtsräten<br />
noch in den Vorständen. Durch Gespräche<br />
mit Topmanagerinnen im Ausland<br />
ist die Idee für „Generation CEO“<br />
entstanden. Inzwischen sitzen viele <strong>der</strong><br />
140 Frauen in Aufsichts- und Beiräten<br />
und einige machen Superkarrieren. Jedes<br />
Jahr werden 20 neue Frauen in das<br />
Netzwerk aufgenommen.<br />
War es die logische Konsequenz, dann<br />
mit Female Factor auch eine auf Frauen<br />
spezialisierte Personalberatung zu<br />
gründen?<br />
Thorborg: Ich habe schon früher in<br />
meinem Berufsleben die Frauen vermisst.<br />
Ich dachte immer: Es kann doch nicht<br />
sein, dass ich von morgens bis abends<br />
nur Männer interviewe! In den neunziger<br />
Jahren gehörte die Deutsche Bahn<br />
zu meinen Kunden. Ich habe denen viele<br />
Führungskräfte vermittelt, 10 Prozent<br />
davon waren Frauen. Der damalige Vorstandsvorsitzende<br />
Heinz Dürr hat immer<br />
gesagt: „Super! Hast du noch mehr?“ Er<br />
hat sich dem stillschweigenden Einverständnis<br />
zwischen Unternehmen und<br />
Personalberatern verweigert, das damals<br />
lautete: Es gibt ohnehin keine Frauen,<br />
also suchen wir auch nicht nach ihnen.<br />
Hat sich das inzwischen geän<strong>der</strong>t?<br />
Thorborg: Die Kunden erwarten von<br />
Headhuntern, dass auch Kandidatinnen<br />
auf <strong>der</strong> Shortlist stehen. Bei vielen Unternehmen<br />
bleibt es aber immer noch beim<br />
Lippenbekenntnis. Wir arbeiten lieber<br />
mit den Unternehmen zusammen, die<br />
wirklich Frauen wollen. Da heißt es dann:<br />
„Suchen Sie nach einer qualifizierten Frau.<br />
Wenn Sie eine finden, sind wir Ihnen unendlich<br />
dankbar, damit sich endlich etwas<br />
bewegt.“<br />
Warum sind trotzdem von 17 Frauen,<br />
die in den vergangenen drei Jahren Vorstandsjobs<br />
in Dax-Unternehmen bekleideten,<br />
acht ihren Job schon wie<strong>der</strong> los?<br />
Thorborg: Diese Entwicklung hat<br />
dem ganzen Thema geschadet. Plötzlich<br />
ging es nur noch darum: Wer hat<br />
die meisten Frauen im Vorstand? Es<br />
war wie bei kleinen Jungs im Sandkasten<br />
– und wir sprechen hier von Dax-<br />
Unternehmen! Und dann kamen die mit<br />
Frauen an, die teilweise überhaupt nicht<br />
für diese Positionen qualifiziert waren.<br />
Wenn das Männer gewesen wären, hätte<br />
man mit denen gar nicht erst geredet. Bei<br />
den Lebensläufen.<br />
Virzí: Wir befinden uns allerdings<br />
auch in einer Übergangszeit. Die Männer,<br />
die über die Vergabe <strong>der</strong> Spitzenjobs<br />
entscheiden, haben meist noch nie<br />
mit einer Frau auf Augenhöhe gearbeitet.<br />
Sie haben mit Frauen nur in an<strong>der</strong>en<br />
Rollen zu tun gehabt, als Söhne, Ehemänner<br />
o<strong>der</strong> vielleicht als Väter. Diesen<br />
Männern fällt es enorm schwer, ehrlich<br />
zu überlegen: Was kann die Kandidatin<br />
denn eigentlich? Was hat sie bisher gemacht?<br />
Welche beruflichen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
hat sie gemeistert? Eigentlich<br />
denken sie nur: Wie schafft sie das mit<br />
den Kin<strong>der</strong>n?<br />
Was ist denn für Sie <strong>der</strong> größte Unterschied,<br />
wenn Sie eine Frau o<strong>der</strong> einen<br />
Mann interviewen?<br />
Virzí: Ich habe oft Frauen vor mir sitzen,<br />
die am Anfang sagen: „Ich möchte<br />
nach ganz oben.“ Doch es braucht nur<br />
zwei, drei Fragen von mir, und die Frau<br />
Fotos: Tim Wegner für <strong>Cicero</strong> (Seiten 81 bis 82)<br />
80<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
gesteht sich plötzlich ein, dass sie es eigentlich<br />
doch nicht will. Das gibt es bei<br />
Männern selten. Einer <strong>der</strong> größten Unterschiede<br />
bei <strong>der</strong> Arbeit mit Frauen und<br />
Männern ist die Zeit, die man für Gespräche<br />
braucht. Bei mir dauert ein Erstgespräch<br />
mit einer Frau bis zu zwei Stunden.<br />
Bei Männern maximal eine Stunde,<br />
sie kommen schneller zur Sache. Es müssen<br />
weniger emotionale Faktoren abgeklopft<br />
werden.<br />
Woran liegt das?<br />
Virzí: Frauen berücksichtigen an<strong>der</strong>e<br />
Dinge bei ihrer Entscheidung. Wenn ich<br />
einer Kandidatin eine Position in China<br />
anbiete, überlegt sie, ob sie Ärger mit ihrem<br />
pubertierenden Kind bekommt, das<br />
aus seinem vertrauten Umfeld gerissen<br />
wird. O<strong>der</strong> kürzlich sagte eine Kandidatin,<br />
sie müsse ihren Mann anrufen, ob er<br />
mit umziehen würde. Sie war sofort aus<br />
dem Rennen. Männer gehen automatisch<br />
davon aus: Meine Frau kommt mit.<br />
Nimmt diese bedingungslose Unterstützung<br />
für Männer nicht ab?<br />
Virzí: Ja, aber das führt dann eher<br />
zum umgedrehten Modell: Der Mann<br />
bleibt zu Hause – wir nennen ihn den<br />
Betamann – und die Frau macht Karriere.<br />
Dass beide Partner eine Topkarriere machen,<br />
das gibt es extrem selten.<br />
Erzählen Sie den Kandidatinnen, dass<br />
Sie selbst Mutter sind?<br />
Virzí: Wer in mein Büro kommt,<br />
kann es kaum übersehen. Aber es hilft<br />
auch, um Vertrauen aufzubauen.<br />
Im Englischen spricht man von <strong>der</strong><br />
„Confidence Gap“, was so viel heißt wie<br />
„Selbstbewusstseinsgefälle“. Stimmt<br />
es, dass Männer sich im Job über- und<br />
Frauen sich unterschätzen?<br />
Virzí: Das beobachte ich oft. Häufig<br />
bekomme ich von Frauen nebulöse Antworten,<br />
kein klares Ja. O<strong>der</strong> sie erzählen<br />
ihren Werdegang viel zu detailliert, was<br />
beson<strong>der</strong>s Männer nervt. Frauen versuchen<br />
mit <strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
zu beweisen, was sie in <strong>der</strong> Zukunft<br />
leisten können. So entstehen auch<br />
ihre Gehaltsvorstellungen.<br />
Heiner Thorborg<br />
ist einer <strong>der</strong> renommiertesten<br />
Headhunter Deutschlands. Wenn<br />
Deutschlands Topunternehmen<br />
ihre Vorstandsposten neu<br />
besetzen müssen, wenden sie<br />
sich an das Büro des 69-Jährigen<br />
in Frankfurt am Main<br />
Christina Virzí<br />
hat 2012 zusammen mit<br />
Thorborg die Personalberatung<br />
The Female Factor gegründet.<br />
Die 34-Jährige vermittelt<br />
Frauen mit einem Jahresgehalt<br />
von mehr als 200 000 Euro in<br />
Führungspositionen<br />
81<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
KAPITAL<br />
Interview<br />
„ Eine Quote<br />
bringt nichts,<br />
weil sie das<br />
Denken nicht<br />
verän<strong>der</strong>t “<br />
Heiner Thorborg<br />
Was heißt das konkret für die<br />
Gehaltsverhandlungen?<br />
Virzí: Frauen haben meistens keine<br />
genaue Vorstellung davon, was sie verdienen<br />
wollen. „Nicht weniger als das,<br />
was ich jetzt verdiene“, sagen Frauen oft,<br />
weil sie denken: „Ich muss doch erst einmal<br />
zeigen, was ich kann.“ Sie lassen sich<br />
für Geleistetes bezahlen, Männer lassen<br />
sich dafür bezahlen, was sie dem Unternehmen<br />
in Zukunft an Mehrwert bringen.<br />
Müssen Frauen for<strong>der</strong>n<strong>der</strong> auftreten?<br />
Thorborg: Wenn eine Frau im Gespräch<br />
mit Männern typisch männliches<br />
Verhalten an den Tag legt, zum Beispiel<br />
harte, kompetente Fragen stellt, kann das<br />
aber auch nach hinten losgehen. Dann<br />
fragen die Männer danach oft: „Was war<br />
denn das für eine? Da kann ich ja gleich<br />
einen Mann einstellen.“ Bei einem Mann<br />
hätten sie gedacht: „Guter Typ. Unternehmer.<br />
Der weiß, was er will. Mit dem<br />
sollten wir arbeiten.“<br />
Also können Frauen es nur falsch<br />
machen?<br />
Virzí: Das ist auch immer noch eine<br />
kulturelle Frage. Wir müssen Mädchen so<br />
erziehen, dass es für sie selbstverständlich<br />
ist, auch über Führungspositionen<br />
nachzudenken. Die meisten Frauen empfinden<br />
Konkurrenz, politische Spielchen<br />
und Wettbewerb noch immer als negativ.<br />
So darf jemand, <strong>der</strong> in die Vorstandsetage<br />
will, aber nicht denken.<br />
För<strong>der</strong>n sich Frauen denn gegenseitig?<br />
Virzí: Die meisten Frauen, die es bisher<br />
nach ganz oben geschafft haben, wurden<br />
von Männern geför<strong>der</strong>t. Gegenseitig<br />
betätigen sich Frauen bisher nur begrenzt<br />
als Türöffner. Sie scheitern in Vorstandsjobs<br />
aber auch häufiger daran, dass sie<br />
sich auf <strong>der</strong> Ebene darunter kein loyales<br />
Netzwerk aufbauen. Ich würde mich<br />
nach 100 Tagen fragen: Wer ist für mich,<br />
wer ist gegen mich? Wen tausche ich aus?<br />
Kann es einer Frau zum Verhängnis werden,<br />
wenn man sieht, dass sie mal wie<strong>der</strong><br />
zum Nachsträhnen müsste o<strong>der</strong> die<br />
Maniküre vernachlässigt hat?<br />
Thorborg: Das hängt vom Betrachter<br />
ab. Männer sind sehr streng, wenn bei<br />
Frauen ein Haar krumm sitzt. Ein Fleck<br />
auf <strong>der</strong> Krawatte eines Mannes stört dagegen<br />
niemanden.<br />
Virzí: Frauen müssen sehr gepflegt<br />
sein, und sie müssen wissen, wie sie sich<br />
anzuziehen haben. Aber sage ich Kandidatinnen<br />
dazu etwas? Das ist ein wun<strong>der</strong><br />
Punkt, weil Frauen da sehr emotional<br />
reagieren und sich manchmal<br />
zurückziehen.<br />
In den USA haben es schon mehrere<br />
Frauen an die Spitze großer Konzerne<br />
geschafft wie Anfang des Jahres<br />
Mary Barra, die neue Vorstandsvorsitzende<br />
bei General Motors. Wann sehen<br />
wir die erste Frau an <strong>der</strong> Spitze eines<br />
Dax-Konzerns?<br />
Thorborg: Es gibt in Deutschland<br />
zurzeit keine Frau, die das Potenzial<br />
hätte, den Vorstandsvorsitz eines Dax-<br />
Konzerns zu übernehmen. Und ich sage<br />
Ihnen auch warum: Frauen, die es bis in<br />
die Vorstände schaffen, besetzen dort<br />
meist die Posten Personal und Recht.<br />
Das sind nicht die optimalen Sprungbretter,<br />
um später auf dem CEO-Posten<br />
zu landen.<br />
Könnte eine Quotenregelung daran etwas<br />
än<strong>der</strong>n?<br />
Thorborg: Nein, eine Quote än<strong>der</strong>t<br />
das Denken nicht. Das hat man in Norwegen<br />
gesehen. Da hat <strong>der</strong> Gesetzgeber<br />
eine Quote für Aufsichtsräte in börsennotierten<br />
Unternehmen mit drakonischen<br />
Maßnahmen durchgesetzt. Die ist jetzt<br />
übererfüllt, aber in den Vorständen sitzen<br />
deswegen nicht mehr Frauen.<br />
Was muss dann passieren, damit sich<br />
das Klima für Frauen wirklich än<strong>der</strong>t?<br />
Thorborg: Dafür müssen die CEOs<br />
erst mal hart durchgreifen. Frauen müssen<br />
sich heute auf ihrem Weg nach oben<br />
noch immer so viele blöde Sprüche von<br />
Kollegen anhören. Es gibt so viel Mobbing<br />
im mittleren und oberen Management<br />
gegen Frauen, alles versteckt unter<br />
<strong>der</strong> Decke. Da müssen Sie als Chef auch<br />
mal ein Exempel statuieren. Und sagen:<br />
Für diesen Spruch bist du gefeuert. Habt<br />
ihr das alle gesehen? Wenn es an die eigene<br />
Brieftasche geht, sind Männer übrigens<br />
auch sehr lernfähig. Daher muss<br />
das Thema Frauenför<strong>der</strong>ung in die Zielvereinbarungen<br />
mit rein. Es müsste sich<br />
jemand in <strong>der</strong> Öffentlichkeit hinstellen<br />
und sagen: So geht das hier nicht weiter!<br />
Doch wer von den Dax-Unternehmen<br />
steht wirklich mit geballter Faust<br />
dahinter und sagt: Und wenn ihr nicht<br />
mitmacht, werdet ihr das spüren? Ich<br />
würde sagen, vielleicht ein Drittel.<br />
Gibt es in den Vorstandsetagen wirklich<br />
noch so viele Machos?<br />
Virzí: Das sind vor allem Ängste, die<br />
sich da äußern. Wenn zwischen neun<br />
Männern auf <strong>der</strong> Ebene unterm Vorstand<br />
eine Frau eingestellt wird und alle wissen,<br />
dass in fünf Jahren eine Vakanz im Vorstand<br />
entsteht und die Frau automatisch<br />
in <strong>der</strong> Pole Position steht, dann empfindet<br />
das je<strong>der</strong> einzelne Mann als unfair.<br />
Thorborg: Das heißt aber nicht, dass<br />
Männer ein Auslaufmodell sind. Es gibt<br />
diesen Spruch: „Mit den Lehman Sisters<br />
hätten wir uns die Finanzkrise erspart.“<br />
Frauen und Männer führen zwar unterschiedlich,<br />
aber das ist trotzdem etwas<br />
zu kurz gedacht. Optimal ist es, wenn<br />
ein Unternehmen im Management eine<br />
gute Mischung von Brothers und Sisters<br />
hinbekommt.<br />
Das Gespräch führten LENA BERGMANN<br />
und TIL KNIPPER<br />
82<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
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KAPITAL<br />
Report<br />
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Die Bösen waren bisher immer die an<strong>der</strong>en.<br />
Jetzt häufen sich aber auch unter dem Dach<br />
<strong>der</strong> Sparkassen Exzesse, Skandale und Affären,<br />
die ihr Geschäftsmodell gefährden könnten<br />
Von MEIKE SCHREIBER<br />
Illustrationen OTTO<br />
84<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
85<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
KAPITAL<br />
Report<br />
Martin Mihalovits, <strong>der</strong> neue Chef<br />
<strong>der</strong> Sparkasse Miesbach-Tegernsee,<br />
rüstet ab. Die goldene<br />
abstrakte Skulptur ist verschwunden,<br />
ebenso die Landschaftsgemälde – Preziosen<br />
im Wert von mehreren Zehntausend<br />
Euro. Sie schmückten das Büro des<br />
Landrats, Mihalovits Vorgänger hatte sie<br />
dem zur Verfügung gestellt. Nun lagern<br />
sie im Keller <strong>der</strong> Sparkasse und sollen<br />
verkauft werden. „Solche Investitionen<br />
machen wir nicht mehr“, sagt Mihalovits,<br />
45 Jahre, blon<strong>der</strong> Scheitel, feste Stimme.<br />
Für ihn sind die Skulptur und die Bil<strong>der</strong><br />
keine Kunstwerke. Son<strong>der</strong>n Altlasten.<br />
Von denen gibt es viele im Landkreis<br />
Miesbach-Tegernsee, dem wohlhabenden<br />
Postkartenidyll am Fuße <strong>der</strong> bayerischen<br />
Alpen. Denn die lokale Sparkasse steht<br />
im Mittelpunkt eines Skandals, <strong>der</strong> die<br />
scheinbar heile Welt <strong>der</strong> öffentlich-rechtlichen<br />
Kreditinstitute erschüttert. Mihalovits<br />
Vorgänger Georg Bromme hat<br />
jahrelang Spenden und Sponsorengel<strong>der</strong><br />
ausgeschüttet, als gäbe es kein Morgen.<br />
Vereine, Kirchen, Politiker, Verwaltungsräte<br />
– je<strong>der</strong> bekam etwas ab, teils<br />
auch jenseits <strong>der</strong> Kreisgrenzen. Rund<br />
20 000 Euro für einen Schießstand in<br />
Tirol; mehr als 30 000 Euro für die Beerdigung<br />
eines ehemaligen Landrats; fast<br />
200 000 Euro für die Renovierung des<br />
Rathaus-Sitzungssaals einer Gemeinde<br />
des Landkreises sowie Tausende von<br />
Euro für Gelegenheitsgeschenke: Verwaltungsräte<br />
und Vorstände <strong>der</strong> Sparkassen<br />
wurden bedacht, mit Blumensträußen,<br />
Geschenkkörben, Weinpräsenten,<br />
manchmal auch hochwertigem Schreibgerät<br />
und Silberdosen. Ein Anlass fand<br />
sich immer: Geburtstag, Betriebsjubiläum,<br />
Geburt eines Kindes.<br />
Doch so breit Bromme das Geld auch<br />
streute, einer erhielt stets eine Extraportion:<br />
Jakob Kreidl, Landrat und damit<br />
qua Amt Verwaltungsratschef <strong>der</strong> Sparkasse.<br />
Für exakt 293 191,49 Euro, so steht<br />
es im Untersuchungsbericht des bayerischen<br />
Innenministeriums, hübschte die<br />
Sparkasse das Büro des CSU-Politikers<br />
in den Jahren 2008 bis 2010 auf, mit teuren<br />
Möbeln und kostspieligen Gemälden.<br />
Als die Sache an die Öffentlichkeit kam,<br />
wurde Kreidl abgewählt und Bromme<br />
diskret in den Ruhestand geschickt.<br />
Aber <strong>der</strong> Rufschaden bleibt. Und<br />
Bromme-Nachfolger Mihalovits muss<br />
Eigene Exzesse,<br />
Skandale und<br />
Affären haben<br />
die Sparkassen<br />
bisher geschickt<br />
unter den Teppich<br />
gekehrt<br />
dafür sorgen, dass alles wie<strong>der</strong> in Ordnung<br />
kommt. Seit 2011 gehört er dem<br />
Vorstand <strong>der</strong> Sparkasse an, spät genug,<br />
um nicht auch verantwortlich gemacht<br />
zu werden. 2012 übernahm er Brommes<br />
Posten und trat sofort die Flucht nach<br />
vorn an. Er hat den Bericht des Ministeriums<br />
auf die Internetseite <strong>der</strong> Sparkasse<br />
gestellt.<br />
JEDER KANN DORT nachlesen, wie<br />
Bromme mit dem Geld <strong>der</strong> Sparkassen<br />
um sich geschmissen hat. Dass er<br />
dem Landrat nicht nur das Büro für<br />
fast 300 000 Euro aufmöbelte, son<strong>der</strong>n<br />
auch die Party zu dessen 60. Geburtstag<br />
schmiss, die mehr als 100 000 Euro kostete,<br />
ein mobiles WC inklusive. Da fallen<br />
die vielen Reisen kaum noch ins Gewicht,<br />
darunter ein Tirol-Wochenende<br />
mit Landrat Kreidl, 16 Bürgermeistern<br />
des Kreises nebst Partnerinnen, Übernachtung<br />
im Fünf-Sterne-Hotel inklusive.<br />
„Größtmögliche Transparenz“, darum<br />
geht es Mihalovits jetzt.<br />
Transparenz ist in <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong><br />
Sparkassen bisher eher unüblich. Zwar<br />
sprengt <strong>der</strong> Fall Miesbach fast alle Grenzen;<br />
aber er ist das Ergebnis des eigenartigen<br />
Selbstverständnisses des öffentlich-rechtlichen<br />
Bankensektors: Mia san<br />
mia und niemandem verpflichtet – außer<br />
uns selbst.<br />
Spätestens seit <strong>der</strong> Finanzkrise haben<br />
Deutschlands Sparkassen Oberwasser.<br />
Publikumswirksam pflegen sie ihr<br />
Image von <strong>der</strong> lokalen Hausbank, <strong>der</strong>en<br />
Hauptzweck nicht das Erzielen von<br />
Gewinnen ist und die stattdessen das<br />
Allgemeinwohl im Auge hat. Keine Exzesse,<br />
saubere Bilanzen, zufriedene Kunden.<br />
Die Bösen, das sind immer die an<strong>der</strong>en,<br />
sei es die Deutsche Bank, die Wall<br />
Street o<strong>der</strong> die Aufsichtsbehörden. Dass<br />
die zum Sparkassensektor gehörenden<br />
Landesbanken am amerikanischen Häusermarkt<br />
Milliarden verzockten und mit<br />
Steuergeld gerettet werden mussten, haben<br />
die Sparkassen in <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Debatte geschickt wegmo<strong>der</strong>iert. Und<br />
genauso kehren sie die an<strong>der</strong>en Skandale,<br />
Eskapaden und Affären aus dem eigenen<br />
Lager unter den Teppich.<br />
„Die Sparkassen-Organisation hat<br />
ein massives Governance-Problem“,<br />
sagt Heinz Hilgert. Der frühere Bankmanager<br />
kennt sich aus im öffentlichrechtlichen<br />
Bankensektor. Mitte 2008,<br />
auf dem Höhepunkt <strong>der</strong> Krise, wurde er<br />
Chef <strong>der</strong> WestLB, bereits 2009 gab er auf,<br />
entnervt vom Kleinkrieg mit den Sparkassen,<br />
seinen Eigentümern. Er hält es<br />
für problematisch, dass Kommunen und<br />
Sparkassen „wechselseitig verflochten“<br />
und „voneinan<strong>der</strong> abhängig“ seien. Der<br />
Interessenkonflikt ist Teil des Systems:<br />
Ein Kassenloch beim Fußballverein, ein<br />
neuer Brunnen für den Dorfplatz? Da<br />
fragt <strong>der</strong> Bürgermeister schnell mal beim<br />
örtlichen Sparkassendirektor nach, ob<br />
dafür noch Geld in <strong>der</strong> Allgemeinwohlschatulle<br />
<strong>der</strong> Sparkasse ist. Man kennt<br />
sich, man hilft sich, heißt das Motto – und<br />
trifft sich ja auch regelmäßig bei den Sitzungen<br />
des Verwaltungsrats.<br />
In den Städten und Landkreisen haben<br />
sich die Sparkassen damit eine stabile<br />
Machtposition aufgebaut. Mit ihren<br />
244 000 Mitarbeitern gehören die 417 Institute<br />
zu den größten Arbeitgebern des<br />
86<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Landes. Insgesamt ist die Bilanzsumme<br />
aller Sparkassen fast so groß wie die <strong>der</strong><br />
Deutschen Bank.<br />
Dabei ginge es auch an<strong>der</strong>s. So könnten<br />
die Institute ihre Gewinne einfach an<br />
ihre Träger – Kommunen, Landkreise –<br />
ausschütten. Viele von ihnen sind hochverschuldet<br />
und brauchen dringend Geld.<br />
Demokratisch gewählte Instanzen – Gemein<strong>der</strong>at,<br />
Kreistag – könnten für alle<br />
sichtbar entscheiden, wie und wo das<br />
Geld verwendet wird. Aber das wollen<br />
die Sparkassen nicht, denn sie würden<br />
Einfluss verlieren. Und für ihr Leben<br />
gern treten Sparkassenchefs und<br />
Bürgermeister als Gönner auf, wenn sie<br />
Sportvereine, soziale o<strong>der</strong> kulturelle<br />
Einrichtungen unterstützen. Manchmal<br />
funktioniert das nach dem Gießkannenprinzip,<br />
häufig aber nach kaum nachvollziehbaren<br />
Kriterien. Fast immer gilt: Wer<br />
etwas bekommt, entscheiden die Sparkassenoberen<br />
und das Stadtoberhaupt<br />
hinter verschlossenen Türen. Öffentlich<br />
bekannte Regeln für die Spendenvergabe<br />
gibt es nicht. Um rund 500 Millionen<br />
Euro ging es allein 2013. Kritik<br />
an dem klandestinen Proze<strong>der</strong>e ficht<br />
den Deutschen Sparkassen- und Giroverband<br />
nicht an. „Das gemeinwohlorientierte<br />
Engagement unserer Institute<br />
kommt allen Menschen zugute“, kommentiert<br />
Georg Fahrenschon, <strong>der</strong> medienaffine<br />
Verbandspräsident, Ex-Finanzminister<br />
von Bayern.<br />
UND EIN BISSCHEN MIESBACH ist überall.<br />
Bei <strong>der</strong> Sparkasse Düsseldorf etwa<br />
erschlich sich <strong>der</strong> Unternehmer und<br />
Verona-Feldbusch-Gatte Franjo Pooth<br />
mit teuren Geschenken an die Sparkassen-Führung<br />
millionenschwere Kredite.<br />
Dann ging er krachend pleite. Die Sparkasse<br />
Flensburg in Schleswig-Holstein<br />
musste sogar gerettet werden. Ihr Chef<br />
hatte dem Sexkonzern Beate Uhse AG<br />
allzu freigiebig Kredit gewährt. Prominente<br />
Fälle, die für Schlagzeilen sorgen,<br />
aber wohl nur eine Auswahl <strong>der</strong><br />
Exzesse sind.<br />
In Duisburg etwa sollte <strong>der</strong> Sparkassenvorstandschef<br />
satte 65 Prozent seiner<br />
jährlichen Bezüge von 550 000 Euro als<br />
Pension erhalten, 30 000 Euro im Monat<br />
und mehr, als <strong>der</strong> Rheinische Sparkassenverband<br />
empfiehlt. So beschloss es im<br />
vergangenen Jahr <strong>der</strong> Verwaltungsrat, im<br />
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IN DIESEN EXKLUSIVEN<br />
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REIZ<br />
<strong>Cicero</strong>-Hotel
KAPITAL<br />
Report<br />
Beisein des Duisburger Oberbürgermeisters.<br />
Erst als in <strong>der</strong> Stadt Kritik aufkam,<br />
kassierte die Politik die Entscheidung in<br />
diesem Sommer wie<strong>der</strong> ein.<br />
In Stendal in Sachsen-Anhalt pflegte<br />
<strong>der</strong> örtliche Sparkassenchef jahrelang<br />
und unter den Augen <strong>der</strong> Lokalpolitik<br />
seine Vorliebe für Autos. Mit skurrilen<br />
Folgen: Irgendwann war das Mini-Institut<br />
im Besitz von 40 Dienstfahrzeugen,<br />
darunter ein Oldtimer. Schließlich wurde<br />
<strong>der</strong> Vorstandschef, <strong>der</strong> zudem noch einen<br />
üppigen Weinkeller angelegt hatte,<br />
fristlos entlassen. Dagegen klagt er nun.<br />
In Görwihl in Baden-Württemberg<br />
durfte <strong>der</strong> Bürgermeister, zugleich Chef<br />
des Verwaltungsrats, eigenmächtig die<br />
Spenden verteilen. Bis auffiel, dass <strong>der</strong><br />
Spendenempfänger stets <strong>der</strong> gleiche war:<br />
das örtliche Rote Kreuz. Dessen Vorsitzen<strong>der</strong>:<br />
<strong>der</strong> Bürgermeister.<br />
Doch die Verquickung von Sparkassen<br />
und Lokalpolitik ist nur ein Problem.<br />
Ein an<strong>der</strong>es: „Die fehlende externe Kontrolle“,<br />
wie Kritiker Hilgert sagt. Externe<br />
Wirtschaftsprüfer sucht man bei Sparkassen<br />
zumeist vergeblich, den Bilanzcheck<br />
übernehmen Prüfer des regionalen<br />
Sparkassenverbands. Formal sind diese<br />
Prüfer zwar unabhängig, die mächtigen<br />
Präsidenten des Verbands aber werden<br />
wie<strong>der</strong>um von den Sparkassenvorständen<br />
auf ihre gut dotierten Posten gewählt.<br />
In Miesbach führte das dazu, dass<br />
we<strong>der</strong> die Tirolreise noch die über<br />
100 000 Euro teure Geburtstagssause<br />
für den Landrat im Prüfbericht <strong>der</strong><br />
Sparkasse auftauchten. Der bayerische<br />
Sparkassenverband möchte sich dazu<br />
nicht äußern.<br />
Der Sparkassenverband sagt zu <strong>der</strong><br />
Kritik: „Auch die besten Regeln werden<br />
menschliches Fehlverhalten nicht verhin<strong>der</strong>n<br />
können.“ Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verwaltungsräte<br />
seien zudem in großen Teilen<br />
demokratisch legitimiert, verfügten<br />
also auch über das beson<strong>der</strong>e Vertrauen<br />
<strong>der</strong> Bürgerinnen und Bürger vor Ort.<br />
Aber wie lange noch?<br />
Erst Anfang Juli meldete sich die Monopolkommission,<br />
das unabhängige Beratergremium<br />
<strong>der</strong> Bundesregierung für<br />
Wettbewerbsfragen, mit überraschend<br />
deutlicher Kritik an den Sparkassen<br />
zu Wort. Das Regionalprinzip, wonach<br />
sich Sparkassen über die Grenzen <strong>der</strong><br />
Kommunen hinweg keine Konkurrenz<br />
Die Schuld für<br />
die Krise <strong>der</strong><br />
Sparkassen<br />
sucht <strong>der</strong> Verband<br />
überall,<br />
nur nicht im<br />
eigenen Hause<br />
machen dürfen, sei wettbewerbsrechtlich<br />
bedenklich. Dieses in <strong>der</strong> Sparkassen-<br />
DNA verankerte Prinzip diene „primär<br />
dazu, das Geschäft einzelner Sparkassen<br />
gegen wettbewerbliche Vorstöße von an<strong>der</strong>en<br />
Sparkassen zu schützen und die<br />
Gruppe insgesamt gegen ihre Wettbewerber<br />
abzuschotten“. Schlimmer noch: Die<br />
Kommission for<strong>der</strong>t eine „Beteiligung<br />
Privater an <strong>der</strong> Sparkassengruppe“ – ein<br />
Tabu, seit sich vor Jahren einzelne Bürgermeister<br />
o<strong>der</strong> Landespolitiker vergeblich<br />
daran versucht hatten, ihre Institute<br />
zu verkaufen.<br />
DIE GESETZGEBUNG wird das unabhängige<br />
Gutachten nicht unmittelbar beeinflussen,<br />
bei <strong>der</strong> traditionell sparkassenkritischen<br />
EU-Kommission aber wird<br />
man die Studie ganz genau lesen. Kein<br />
Wun<strong>der</strong>, dass <strong>der</strong> Sparkassenverband sogleich<br />
zurückkeilte und das Gutachten<br />
als „rechtlich und ökonomisch falsch“<br />
bezeichnete. Klar ist aber: Für die Sparkassen<br />
sind die fetten Jahre vorbei. Zwar<br />
stieg <strong>der</strong> Gewinn <strong>der</strong> Gruppe 2013 noch<br />
leicht an auf rund 2,1 Milliarden Euro.<br />
Aber <strong>der</strong> für den Gesamtertrag wichtige<br />
Zinsüberschuss schrumpfte bereits zum<br />
dritten Mal in Folge.<br />
Die Schuld dafür sucht <strong>der</strong> Verband<br />
aber wie<strong>der</strong> überall, nur nicht im eigenen<br />
Hause. Aktueller Lieblingsgegner ist die<br />
Europäische Zentralbank mit ihrer Niedrigzinspolitik.<br />
Die trifft die Sparkassen<br />
beson<strong>der</strong>s heftig, weil sie vielerorts mehr<br />
Kundengel<strong>der</strong> annehmen, als sie Kredite<br />
vergeben können, vor allem in strukturschwachen<br />
Regionen. Diesen sogenannten<br />
Einlagenüberhang von gut 100 Milliarden<br />
Euro müssen sie am Kapitalmarkt<br />
anlegen – genau dort, wo ohne höhere Risiken<br />
nicht mehr viel zu holen ist.<br />
Karsten Junge, Bankenexperte <strong>der</strong><br />
Beratungsfirma Consileon, sagt: „Die<br />
Sparkassen hangeln sich nur noch so<br />
durch. Aber die digitalen Angreifer nehmen<br />
ihnen Marktanteile weg.“ Und das<br />
alles bei enorm schwerfälligen Entscheidungswegen,<br />
<strong>der</strong> teuren, viel zu dichten<br />
Filial- und Verbandsstruktur mit elf<br />
Regionalverbänden und ebenso vielen<br />
Sparkassenakademien. „Die Gewinne<br />
sinken, die Kosten steigen“, schreiben zudem<br />
die Analysten des nie<strong>der</strong>ländischen<br />
Researchhauses SNL in einer gerade erschienenen<br />
Studie über Deutschlands<br />
Sparkassen. Die Zahlen <strong>der</strong> untersuchten<br />
Häuser seien „ziemlich enttäuschend“.<br />
Noch dramatischer klingt die Prognose<br />
<strong>der</strong> Beratungsfirma 4P-Consulting.<br />
Sie glaubt, dass bis 2018 nur noch 35 Prozent<br />
<strong>der</strong> Sparkassen eine wettbewerbsfähige<br />
Kosten-Ertrags-Relation vorweisen<br />
können. Der Sparkassenverband sieht<br />
das ganz an<strong>der</strong>s – dabei waren es sogar<br />
einige Sparkassen, die die Studie in Auftrag<br />
gegeben haben.<br />
Auch Bankenexperte Junge zeichnet<br />
ein düsteres Zukunftsszenario.<br />
Wenn erst einmal die Konjunktur wie<strong>der</strong><br />
schwächele und die Kreditausfälle<br />
stiegen, „dann haben wir alle Zutaten<br />
für den perfekten Sturm zusammen“.<br />
MEIKE SCHREIBER berichtet<br />
schon seit Jahren über den<br />
Sparkassensektor und beobachtet<br />
in letzter Zeit eine zunehmende<br />
Wagenburgmentalität<br />
Foto: Privat<br />
88<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
STIL<br />
„ Denken blockiert<br />
einen auch beim<br />
Spielen, in <strong>der</strong> Freiheit,<br />
in diesem Moment,<br />
wo man alles zulassen<br />
soll. Kostüm, Maske,<br />
Perücke, das hilft “<br />
Die Schauspielerin Hannah Herzsprung in <strong>der</strong> Rubrik<br />
„Warum ich trage, was ich trage“, Seite 100<br />
89<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
STIL<br />
Porträt<br />
WINZERS GLÜCK<br />
Eine Zweitkarriere als Winzer ist ein typischer Männertraum. Der Medienanwalt<br />
Horst Hummel hat ihn umgesetzt. Und hat Erfolg mit seinen ungarischen Rotweinen<br />
Von KENO VERSECK<br />
Foto: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong><br />
Es kommt vor, dass <strong>der</strong> Berliner Medienanwalt<br />
Horst Hummel noch<br />
mit einem Mandanten telefoniert,<br />
während er in seinem Gutshaus in einem<br />
abgelegenen südungarischen Dorf,<br />
in einer grandios unaufgeräumten Küche<br />
voller Weinflaschen, frischer Kräutersträuße<br />
und Unmengen an Kochutensilien<br />
ein selbst erdachtes Sternemenü<br />
zubereitet. Zum Beispiel: „Gänseleber<br />
mit karamellisierten Birnenscheiben,<br />
Consommé vom Fasan mit Wurzelgemüsejulienne,<br />
Coq au vin vom ungarischen<br />
Dorfgockel, Käse“. „Auskocherei<br />
Hummel“ nennt er diese Bewirtung von<br />
Gästen, nach dem österreichischen Wort<br />
für Suppenküche.<br />
Hummel, 54 Jahre alt, ist im zweiten<br />
Hauptberuf autodidaktischer Winzer,<br />
<strong>der</strong> es mit einer Mischung aus Bodenständigkeit,<br />
Träumerei und Kreativität geschafft<br />
hat, in Ungarns kleinem Weingebiet<br />
Villány außergewöhnliche Weine<br />
zu erzeugen, vor allem Rot-, aber auch<br />
Weiß- und Roséweine. Fast alle gehören<br />
zur Spitzenklasse, wie Kritiker urteilen:<br />
Stuart Pigott („Planet Wein“, „Wein weit<br />
weg“) spricht von „pannonischer Pracht“,<br />
das Magazin Weinwisser lobt Hummels<br />
Weine als „eigen- und feinsinnig, mit<br />
Schliff und echter Vitalität“, und Captain<br />
Cork, eines <strong>der</strong> wichtigsten Wein-<br />
Portale im Netz, wählte Horst Hummel<br />
2011 zum „Winzer des Jahres“.<br />
Das ist viel für einen, <strong>der</strong> sich zwar<br />
schon als junger Mann für Wein interessierte,<br />
auch mal französische Weingüter<br />
bereiste, aber eigentlich nie Winzer<br />
werden wollte. Geboren 1960 in einer<br />
donauschwäbischen Familie – die Eltern<br />
waren nach dem Krieg aus dem serbischen<br />
Banat ausgewan<strong>der</strong>t –, wuchs<br />
Horst Hummel in einem schwäbischen<br />
Dorf auf und lebte ein geradlinig-handfestes<br />
Leben: Abitur und Zivildienst in<br />
Reutlingen, Jura-Studium in Tübingen,<br />
1992 Anstellung in einer bekannten<br />
Berliner Anwaltskanzlei für Urheberrecht.<br />
Seine Karriere war vielversprechend.<br />
Doch 1995 warf er sie hin. „Ich<br />
sollte Partner <strong>der</strong> Kanzlei werden“, erzählt<br />
Hummel. „Das hätte bedeutet,<br />
mich ganz <strong>der</strong> Arbeit zu widmen. Ich<br />
wollte aber ein gewisses Maß an Freiheit<br />
behalten.“<br />
Hummel arbeitete nur noch begrenzt<br />
als Anwalt, begann zu schreiben, Gedichte,<br />
Essays, und zu reisen, nach Serbien<br />
in die Gegend seiner Vorfahren, wo<br />
sein Urgroßvater Josef Müller, noch zu<br />
K.-u.-k.-Zeiten, Winzer gewesen war,<br />
auch nach Ungarn, wo er Weine entdeckte,<br />
<strong>der</strong>en Qualität ihn angesichts<br />
des eher zweifelhaften Rufes zeitgenössischer<br />
ungarischer Weinkultur verblüffte.<br />
1997 verkostete er in <strong>der</strong> mittelungarischen<br />
Donaukleinstadt Paks, dem<br />
Standort des einzigen ungarischen Atomkraftwerks,<br />
gerade einen Zweigelt, als<br />
ihn sein Gastgeber fragte, ob er nicht<br />
gleich den dazugehörigen Weinberg kaufen<br />
wolle. Hummel wollte nicht – aber <strong>der</strong><br />
Gedanke, selbst Wein zu machen, ließ<br />
ihn nun nicht mehr los.<br />
ER WÄLZTE MONATELANG Literatur über<br />
ungarischen Weinbau, unternahm Recherchereisen<br />
und war schließlich, im<br />
Frühjahr 1998, um fast alle Ersparnisse<br />
erleichtert, Besitzer von sieben Hektar<br />
Rebfläche in Villány, Ungarns bestem<br />
Weinbaugebiet. Villány ist ein Ort mit<br />
2500 Einwohnern, mit gerade einmal<br />
2000 Hektar Rebfläche. Vor dem Zweiten<br />
Weltkrieg gehörten manche <strong>der</strong> dortigen<br />
Rotweine zu den besten, die Europa<br />
zu bieten hatte. Dann kam <strong>der</strong> Kommunismus<br />
und mit ihm die Zeit von Stierblut<br />
und Mädchentraube – Weine, die<br />
genauso schmeckten wie ihr Name. Seit<br />
dem Ende <strong>der</strong> Diktatur vor einem Vierteljahrhun<strong>der</strong>t<br />
versucht eine neue Generation<br />
von Winzern, vor allem auch in<br />
Villány, an die Qualität von einst anzuknüpfen.<br />
Unter diesen neuen Winzern<br />
ist Horst Hummel zweifellos <strong>der</strong> Exot –<br />
nicht nur, weil er kein Ungar ist, immer<br />
noch als Anwalt arbeitet und zwischen<br />
Berlin und Villány pendelt.<br />
Er macht – natürlich – ausschließlich<br />
Terroir-Weine. Natürlich ist die so<br />
modische Philosophie des Terroir nicht<br />
erst mit ihm in Villány angekommen.<br />
Aber kaum jemand setzt sie so ernsthaft<br />
und konsequent um wie Hummel: Er beschneidet<br />
seine Reben radikal, verwendet<br />
keinen Kunstdünger, ist zertifizierter<br />
Bio-Weinbauer. Er benutzt keine Zuchthefen,<br />
son<strong>der</strong>n lässt seine Weine spontan<br />
vergären. Und: Sie reifen nur in alten, gebrauchten<br />
Eichenfässern, damit sie nicht<br />
aufdringlich nach Barrique schmecken.<br />
Den Wein „nicht auf Ästhetik trimmen,<br />
son<strong>der</strong>n ihm beim Werden helfen“, nennt<br />
Hummel das.<br />
Voriges Jahr wurde er als bisher einziger<br />
Nichtungar in den Villányer Weinorden,<br />
den kleinen Traditionsclub <strong>der</strong><br />
Villányer Winzer, aufgenommen.<br />
Auch Hummels Weine erhalten in<br />
Ungarn regelmäßig Auszeichnungen. Natürlich<br />
freut er sich über die vielen Goldund<br />
Silbermedaillen. In seinem Gutshaus<br />
in Villány o<strong>der</strong> auch in seiner Berliner<br />
Wohnung könnte er Wände mit Urkunden<br />
behängen. Er hängt lieber abstrakte<br />
Gemälde auf. „Weinwettbewerbe und<br />
Justiz haben eines gemeinsam“, sagt <strong>der</strong><br />
Winzer-Anwalt, „sie sind ein bisschen<br />
wie ein Lottospiel.“<br />
KENO VERSECK schreibt als freier Autor über<br />
Politik- und Wirtschaftsthemen in Ost europa.<br />
Er hofft, dass Wein bald wie<strong>der</strong> einen größeren<br />
ungarischen Wirtschaftsfaktor darstellt<br />
91<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
STIL<br />
Report<br />
DIE HOMESTORY<br />
Foto: Carlos Chavarria<br />
92<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Von JUDITH LUIG<br />
Am Anfang waren es drei Luftmatratzen,<br />
inzwischen kann man über die Website<br />
von Airbnb über 600 000 private<br />
Unterkünfte buchen. Das Start-up ist dabei,<br />
das Reiseverhalten zu verän<strong>der</strong>n, die<br />
Hotelindustrie fühlt sich bedroht<br />
Blick ins Atrium <strong>der</strong> Firmenzentrale von Airbnb<br />
in San Francisco. Hier arbeiten mehr als<br />
200 Angestellte auf fast 700 Quadratmetern<br />
93<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
STIL<br />
Report<br />
Der Gastgeber und sein Gast:<br />
Marco Giammatteo vermietet<br />
über Airbnb ein Zimmer seiner<br />
Wohnung in Rom. Besucher<br />
führt er regelmäßig zum kleinen<br />
Markt seines Bezirks Regola.<br />
Auch Kochen bedeutet Gastfreundschaft:<br />
Spontane Abendessen<br />
auf <strong>der</strong> Terrasse ergeben<br />
sich fast immer<br />
Stellen Sie sich vor, Sie fahren in den<br />
Urlaub und kommen nach Hause.<br />
Okay, nicht in Ihr Zuhause. Aber<br />
in das von jemand an<strong>der</strong>em, einem wildfremden<br />
Menschen, in dessen freiem Zimmer<br />
o<strong>der</strong> dessen Bett Sie schlafen. Vielleicht<br />
lädt er Sie am Abend zu einem Glas<br />
Wein auf seiner Couch ein und erzählt<br />
Ihnen etwas über das Viertel, in dem er<br />
lebt, vielleicht macht er Ihnen am nächsten<br />
Morgen Frühstück. Das ist das Konzept<br />
des Internet-Buchungsportals Airbnb.<br />
„Entdecke die Welt, mit je<strong>der</strong> Reise<br />
ein bisschen mehr“, mit diesem Satz<br />
wirbt Airbnb um Kunden. Kein Pauschaltourismus<br />
in <strong>der</strong> weltweiten Luxuskette,<br />
son<strong>der</strong>n radikal individuelles Reisen in<br />
Wohnungen, die so unterschiedlich sind<br />
wie die Menschen, die in ihnen leben.<br />
Statt Standards Überraschungen. Statt<br />
Personal Bewohner.<br />
Bei Airbnb kann man Stockbetten<br />
in Gemeinschaftszimmern schon von<br />
15 Euro an buchen, man findet ausgeklappte<br />
Sofas von Rio bis Rügen. Kontaktfreudige<br />
Gastgeber werden mit<br />
Alleinreisenden vernetzt, die ebenfalls Gesellschaft<br />
suchen. O<strong>der</strong> man bucht gleich<br />
eine ganze Unterkunft: Die Miniwohnung<br />
am Prenzlauer Berg ist für 38 Euro pro<br />
Nacht zu haben, für ein New Yorker Loft<br />
muss man mindestens 250 Dollar zahlen.<br />
Es gibt Landhäuser, Villen und Wohnwagen<br />
in allen preislichen Kategorien, mit<br />
o<strong>der</strong> ohne Gastgeberkontakt. Es kann allerdings<br />
vorkommen, dass man während<br />
eines Aufenthalts eine Katze füttern o<strong>der</strong><br />
Blumen gießen muss. Gemeinsam ist all<br />
den 600 000 Räumlichkeiten in aller Welt,<br />
die auf airbnb.com zur Miete angeboten<br />
werden, nur eins: Im Alltag werden sie<br />
von jemandem bewohnt.<br />
Utopien sind die Voraussetzung für<br />
den Erfolg von Start-up-Unternehmen.<br />
Sie gehören zur Grün<strong>der</strong>legende, die<br />
zur Inspiration von Kunden und Mitarbeitern<br />
erzählt wird. Im Fall des Buchungsportals<br />
geht sie so: Der Vermieter<br />
von Brian Chesky und Joe Gebbia<br />
erhöhte eines Tages die Miete dramatisch.<br />
Die beiden ehemaligen Design-Studenten<br />
konnten sich ihre WG in San Francisco<br />
nicht mehr leisten. Doch da sie wussten,<br />
dass gerade eine große Design-Messe anstand,<br />
bei <strong>der</strong> die Hotels <strong>der</strong> Stadt chronisch<br />
ausgebucht waren, kamen sie auf<br />
eine Idee: Sie kauften drei Luftmatratzen,<br />
legten sie auf dem Boden im Wohnzimmer<br />
aus und warben um Übernachtungsgäste<br />
mit einer Webseite, die ihr Freund<br />
Nathan Blecharczyk für sie baute.<br />
Die beiden hatten Leute in ihrem<br />
Alter erwartet, Studenten, Berufsanfänger,<br />
Mitte zwanzig vielleicht. Stattdessen<br />
94<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Fotos: Ailine Liefeld (5), Airbnb (2)<br />
kamen eine 35 Jahre alte Frau aus Boston,<br />
ein vierfacher Familienvater aus<br />
Utah und ein Mann, <strong>der</strong> aus Indien zur<br />
Messe angereist war. „Brian und Joe haben<br />
den dreien nicht nur eine Unterkunft<br />
gegeben“, erzählt Nathan Blecharczyk,<br />
„sie haben ihnen auch die Stadt gezeigt.<br />
Selbst die Messe besuchte man schließlich<br />
gemeinsam. Nach dem Wochenende<br />
hatten sich alle angefreundet.“<br />
Heute kann man die drei Grün<strong>der</strong><br />
in <strong>der</strong> Lobby <strong>der</strong> Zentrale von Airbnb<br />
auf einem Foto bewun<strong>der</strong>n. Als sie ihren<br />
ersten Gästen zum Abschied zugewunken<br />
hatten, wussten sie: „Hier steckt eine<br />
große Idee drin.“<br />
Die Grün<strong>der</strong> von Airbnb haben klug<br />
gewählt. Der Tourismus ist eine gigantische<br />
Industrie, die immer noch wächst.<br />
Europäer und Amerikaner sind längst<br />
überall, mehr und mehr reisen auch Chinesen<br />
und In<strong>der</strong> durch die Welt. Trotzdem<br />
– kaum jemand habe anfänglich an<br />
die Idee geglaubt, betonen die Grün<strong>der</strong><br />
gerne.<br />
Und dass man sich nie fragen dürfe,<br />
wie viel man verkaufe o<strong>der</strong> wie viel Geld<br />
man machen könne. Spricht man mit Mitarbeitern<br />
von Airbnb, hört man einen<br />
Satz immer wie<strong>der</strong>: „100 Menschen, die<br />
dich lieben, sind besser als eine Million<br />
Menschen, die dich mögen.“<br />
Die Anfänge dieser Liebesbeziehung<br />
waren bescheiden. Ursprünglich hieß die<br />
Seite „Airbedandbreakfast“: Luftmatratze<br />
und Frühstück, eine Anspielung<br />
darauf, dass man eine noch kostengünstigere<br />
Variante zu dem ohnehin eher preiswerten<br />
Konzept einer Pension – englisch<br />
Bed and Breakfast – sein wollte. Das Portal<br />
hatte drei Gastgeber, die Grün<strong>der</strong>-WG<br />
mitgerechnet. Viel mehr als ein Bett, ein<br />
Sofa o<strong>der</strong> eine Luftmatratze konnte man<br />
nicht erwarten.<br />
DOCH DIE GRÜNDER haben sich schnell<br />
eine Gemeinde geschaffen. Sie pendelten<br />
zwischen New York und San Francisco,<br />
trafen Menschen, schauten sich Wohnungen<br />
an, machten Fotos für die Webseite<br />
und hörten zu, welche Ideen die an<strong>der</strong>en<br />
hatten. „Iss dein eigenes Hundefutter“,<br />
sagt Blecharczyk und übersetzt es sicherheitshalber<br />
gleich: „Die Erlebnisse, die<br />
Airbnb einem ermöglicht, müssen wir natürlich<br />
in‐ und auswendig kennen. Deswegen<br />
bekommen unsere Mitarbeiter auch<br />
Die ehemaligen WG-Bewohner<br />
und Airbnb-Grün<strong>der</strong> Brian Chesky,<br />
Nathan Blecharczyk und Joe<br />
Gebbia ( von links ) müssen heute<br />
nicht mehr darüber nachdenken,<br />
wie sie ihre Miete zahlen können:<br />
Was mit drei Luftmatratzen im<br />
Apartment rechts begann, wurde<br />
zum riesigen Onlineportal für die<br />
Vermittlung von 600 000 privaten<br />
Zimmern und Wohnungen<br />
jedes Jahr einen Gutschein über 2000 US-<br />
Dollar, um mit Airbnb zu reisen.“<br />
Die Idee hat einen Nerv getroffen:<br />
Zu den drei Luftmatratzen in einer Wohnung<br />
in San Francisco sind innerhalb<br />
von sechs Jahren neben Hun<strong>der</strong>ttausenden<br />
von Wohnungen 17 000 Villen,<br />
4000 Hütten, 640 Schlösser, 1400 Hausboote<br />
und 300 Baumhäuser dazugekommen.<br />
Airbnb-Gastgeber sind in<br />
34 000 Städten in 190 Län<strong>der</strong>n zu Hause.<br />
Nur in Nordkorea und auf Kuba gibt es<br />
keine Listings – aus rechtlichen Gründen.<br />
Eine <strong>der</strong> exotischsten Unterkünfte<br />
ist die Villa des Ex-Fußballers Ronaldinho:<br />
Während <strong>der</strong> Weltmeisterschaft in<br />
Brasilien konnte man sie für 11 334 Euro<br />
pro Nacht bewohnen.<br />
„Der Tourismus ist nach dem Ableben<br />
von Faschismus, Kommunismus und<br />
in <strong>der</strong> Krise des Kapitalismus zu einer<br />
weltumspannenden Ideologie geworden,<br />
die Araber und Israeli ebenso eint wie<br />
Chinesen und Europäer“, schreibt <strong>der</strong><br />
Journalist Dirk Schümer in seinem gerade<br />
bei Hanser erschienenen Buch<br />
„Touristen sind immer die an<strong>der</strong>en“. Der<br />
Reisende suche gar nicht das große Abenteuer,<br />
son<strong>der</strong>n vielmehr „Authentizität,<br />
Überschaubarkeit, Idylle und Verdaulichkeit“.<br />
Schümer erwähnt Airbnb<br />
nicht, aber was er zur aktuell größten<br />
Sehnsucht <strong>der</strong> Reisenden erklärt, passt<br />
zum Versprechen von Airbnb. „Alle wollen<br />
abseits <strong>der</strong> ausgetretenen Pfade marschieren,<br />
obwohl sie doch auf dem breiten<br />
Trampelpfad unterwegs sind. Je<strong>der</strong><br />
möchte hinterher von einem Geheimtipp<br />
95<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
STIL<br />
Report<br />
erzählen, von <strong>der</strong> exklusiven Anteilnahme<br />
an einem authentischen Alltag<br />
Eingeborener.“ Das Kapitel, das Schümer<br />
den klassischen Übernachtungsmöglichkeiten<br />
von Reisenden widmet, überschreibt<br />
er übrigens mit: „Zu Gast bei<br />
Feinden – im Hotel.“<br />
Die Philosophie von Airbnb hingegen<br />
ist, dass man überall auf <strong>der</strong> Welt<br />
Freunde hat. Das Unternehmen ist Vorreiter<br />
<strong>der</strong> Sharing Economy, die glaubt,<br />
je mehr wir untereinan<strong>der</strong> unsere Güter<br />
teilen, desto mehr erhöht sich <strong>der</strong> allgemeine<br />
Wohlstand. Über Internet teilt die<br />
Mittelklasse längst alles Mögliche miteinan<strong>der</strong>:<br />
Autos, Rä<strong>der</strong>, Boote, Werkzeug,<br />
Bücher, ja sogar Klei<strong>der</strong>. Immer geht es<br />
bei Modellen <strong>der</strong> Sharing Economy darum,<br />
Kosten zu sparen und Ressourcen<br />
nicht ungenutzt zu lassen.<br />
Vor knapp einem Jahr ist das Unternehmen<br />
in sein viertes Zuhause in San<br />
Francisco gezogen. Die Eingangshalle<br />
wirkt gigantisch: Ein lichtdurchflutetes<br />
1<br />
2<br />
Alternativen zum Hotel auf<br />
Airbnb.com: Kingsize-Bett<br />
in einer Altbauwohnung in<br />
Krakau (1), Pariser Gemütlichkeit<br />
mit Schaukelstuhl (2),<br />
Platz für lange Abendessen<br />
und ein einladendes Bücherregal<br />
in Barcelona (3), die Villa von<br />
Ex-Fußballer Ronaldinho in<br />
Rio (4) und für Camping-Fans<br />
ein Airstream-Wohnwagen<br />
in Südspanien (5)<br />
Atrium mit viel Glas und Weiß. Auf den<br />
Zauber des privaten Wohnraums setzt<br />
Airbnb auch in seinen Arbeitsräumen:<br />
Die Meeting-Räume sind ausstaffiert mit<br />
leicht in die Jahre gekommenen Sofas, die<br />
das Äquivalent zum Tischfußball des ersten<br />
digitalen Booms sind. An den Wänden<br />
hängen Fotos von Bekannten und Mitarbeitern.<br />
Freitags gibt es Pizza und Bier<br />
und die Gäste sind alle irgendwie miteinan<strong>der</strong><br />
befreundet o<strong>der</strong> tun zumindest so<br />
als ob. Die Start-up-Szene in Silicon Valley<br />
pflegt ihr Stanford-Studenten-Image.<br />
Wer bei Airbnb anfangen will, muss 14 Interviews<br />
bestehen. Eine Frage daraus ist:<br />
„Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie glücklich<br />
bist du?“<br />
Lisa Dubost, Leiterin International<br />
Affairs, strahlt eine 10 aus, mindestens.<br />
Mit Begeisterung präsentiert sie die Konferenzräume:<br />
Küchen, Wohnzimmer, Arbeitszimmer,<br />
je<strong>der</strong> Raum präsentiert sich<br />
im eigenen Stil. Es gibt nordischen Minimalismus,<br />
französische Opulenz, tiefe<br />
amerikanische Le<strong>der</strong>sofas in einer dunklen<br />
Ostküstenbibliothek und dann wie<strong>der</strong><br />
filigrane italienische Designermöbel.<br />
„Modell für unsere Konferenzräume<br />
standen Wohnräume von Gastgebern“,<br />
erklärt Dubost. Einer <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> hat<br />
mal erzählt, wie Berliner Flohmärkte<br />
abgeklappert wurden, nur um ein Double<br />
des alten Sofas in einem <strong>der</strong> Berliner<br />
Listings zu finden. Natürlich hat Airbnb<br />
auch klassische Großraumbüros, doch<br />
für Besprechungen, Pausen und kreative<br />
3<br />
4<br />
5<br />
96<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Fotos: Airbnb (4), Leslie Williamson, Martin Lengemann (Autorin)<br />
„Der Reisende<br />
sucht nicht das große<br />
Abenteuer, son<strong>der</strong>n<br />
Authentizität, Überschaubarkeit,<br />
Idylle<br />
und Verdaulichkeit“<br />
Dirk Schümer, Autor<br />
Momente dienen nachgebaute Lieblingsräume<br />
aus aller Welt.<br />
Die Grün<strong>der</strong> verwendeten nicht nur<br />
Listings als Vorbil<strong>der</strong> für ihre neuen<br />
Büroräume. Gerade wird in „Dr Strangelove“<br />
ein potenzieller neuer Mitarbeiter<br />
interviewt, <strong>der</strong> Raum ist eine Nachbildung<br />
<strong>der</strong> Filmkulisse. Im „Nerds-Room“,<br />
einem Zimmer, das aussieht, als könnte<br />
man unter den Chaos-Schichten aus technischem<br />
Spielzeug und Klei<strong>der</strong>n einen<br />
Teenager ausgraben, treffen sich Techies<br />
zum Ideenaustausch.<br />
Im Prinzip hat man bei Airbnb<br />
schon immer in Wohnungen gearbeitet.<br />
Das erste Büro war die WG von<br />
Brian Chesky und Joe Gebbia, bestehend<br />
aus drei Schlafzimmern und einem<br />
Wohnzimmer. Da <strong>der</strong> Platz für die<br />
bald 18 Mitarbeiter knapp bemessen<br />
war, fanden Konferenzen im Treppenhaus<br />
statt, für Interviews schloss man<br />
sich im Bad ein.<br />
DAS ARBEITEN IN Wohnatmosphäre<br />
passt zur Start-up-Szene. Privates, Öffentliches<br />
und Berufliches zerfließen<br />
hier zu einem Vorgang. Im Silicon Valley<br />
sagt kaum jemand „Office“ zu seinem<br />
Arbeitsplatz. Überall ist vom „Campus“<br />
die Rede, so als sei man noch an<br />
<strong>der</strong> Universität. Das hat den positiven<br />
Effekt, dass Arbeitnehmer sich so fühlen,<br />
als lernten sie hier mehr als dass<br />
sie arbeiten.<br />
Bei Airbnb wird das Essen in verschiedenen<br />
Küchen und Restaurants zubereitet,<br />
es gibt zwar kein Bällebad wie<br />
bei Google, aber dafür Yoga. Reinigungen<br />
und Schuster arbeiten so eng mit <strong>der</strong><br />
Tech-Branche zusammen, dass die meisten<br />
Mitarbeiter in ihrem eigenen Zuhause<br />
nur noch schlafen. Der negative Effekt<br />
liegt auf <strong>der</strong> Hand: Die Mitarbeiter leben<br />
zunehmend isoliert. Das Geld, das<br />
sie verdienen, tragen sie nicht mehr in<br />
die Viertel, in denen sie leben. Wer kauft<br />
schon beim Bäcker um die Ecke, wenn er<br />
morgens im firmeneigenen Shuttle-Bus<br />
mit Brötchen versorgt wird?<br />
Auf <strong>der</strong> Webseite des Portals sammelt<br />
Airbnb begeisterte Geschichten<br />
von Gästen und Gastgebern. Je<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
teilnimmt, kann hier jeden beurteilen –<br />
Transparenz ist alles. So kann man sich<br />
als Benutzer ein ziemlich deutliches Bild<br />
davon machen, was einen als Reisen<strong>der</strong><br />
erwartet. Doch natürlich gibt es längst<br />
auch Schreckensgeschichten, die nur in<br />
<strong>der</strong> Presse auftauchen: Der Fall eines<br />
Gastgebers etwa, dem die Wohnung auseinan<strong>der</strong>genommen<br />
wurde, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> einer<br />
Filmcrew, die ein Apartment für den<br />
Dreh eines Softpornos gemietet hatte.<br />
Vermieter ärgern sich längst darüber,<br />
dass ihre Mieter aus den Wohnungen<br />
zusätzliches Geld machen, einigen<br />
wurde mit Kündigungen gedroht. Auch<br />
viele Hotels in den 34 000 Städten beäugen<br />
den Newcomer skeptisch. Auflagen<br />
und Abgaben, zum Beispiel die Mehrwertsteuer<br />
o<strong>der</strong> Hygieneanfor<strong>der</strong>ungen,<br />
die Hotels leisten, gelten nicht für die<br />
private Vermietung auf Zeit.<br />
In New York befürchtete <strong>der</strong> Generalstaatsanwalt<br />
jüngst einen Missbrauch<br />
von Sozialwohnungen und verklagte<br />
Airbnb auf die Herausgabe von Daten<br />
über die Vermieter. Airbnb gewann.<br />
Im Berliner Büro zeigt man sich<br />
nicht beunruhigt von eventuellen<br />
Maßnahmen <strong>der</strong> Hotelindustrie. „Wir<br />
nehmen den Hotels nichts weg“, sagt<br />
Christopher Ce<strong>der</strong>skog, <strong>der</strong> Regional<br />
Manager, „unsere Listings liegen nicht<br />
in den klassischen Touristenbezirken,<br />
und wir ermöglichen eine ganz an<strong>der</strong>e<br />
Art zu reisen. Wir sehen uns da nicht<br />
als Konkurrenz. Im Gegenteil: Wir bereichern<br />
den Tourismus.“<br />
100 Menschen, die sie lieben, hat<br />
Airbnb auf jeden Fall längst gewonnen.<br />
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97<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
STIL<br />
Pro und Contra<br />
FERNSEHSERIE MIT<br />
Trägt „Breaking Bad“ eine Mitschuld<br />
Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
Das zuerst: „Breaking Bad“ hat Maßstäbe<br />
<strong>der</strong> Serienfilmkunst gesetzt. Die Dialoge,<br />
die Szenen, <strong>der</strong> Aufbau des Plots – die<br />
Geschichte um den Weg des krebskranken und<br />
insolventen Chemielehrers Walter White zum Crystal-<br />
Meth-Kocher und Drogenpaten Heisenberg ist ein Meisterwerk,<br />
weit mehr als nur unterhaltende Action, son<strong>der</strong>n<br />
gleichzeitig ein pathologisierendes Psychogramm<br />
<strong>der</strong> USA, ihrer Sozialsysteme, ein Vexierspiel von Gut<br />
und Böse, ein Lehrstück menschlicher Abgründe hinter<br />
den bie<strong>der</strong>en Fassaden des amerikanischen Spießbürgertums.<br />
Allein die Szene, in <strong>der</strong> Walter White als Gelegenheitsjobber<br />
einem schnöseligen Schüler an <strong>der</strong> Tankstelle<br />
die Glitzerfelgen putzen muss,<br />
verdient einen Filmpreis. Die Serie<br />
ist voller solcher Szenen.<br />
Aber gerade weil „Breaking<br />
Bad“ so großartig ist, ist es so<br />
gefährlich. Denn die Serie<br />
verherrlicht und verharmlost<br />
durch ihre Brillanz<br />
die Modedroge Crystal<br />
Meth, die in Europa<br />
auf dem Vormarsch<br />
ist und die jetzt über<br />
den Fall des SPD-Politikers<br />
Michael Hartmann<br />
auch den Bundestag<br />
erreicht hat.<br />
Der kristalline Stoff, den<br />
<strong>der</strong> Perfektionist White wie<br />
kein zweiter Drogenkocher herzustellen<br />
imstande ist, wird zum<br />
Lustobjekt. Die Ästhetisierung von<br />
Whites Kochkunst, die Hochachtung, ja die Ehrfurcht,<br />
die die Zwischenhändler diesen konkurrenzlos großen,<br />
glasscherbengleichen Kristallen entgegenbringen, die<br />
Coolness von Whites Kompagnon und einstigem Hängerschüler<br />
weckt die Lust, das Methamphetamin einmal<br />
auszuprobieren.<br />
„Breaking Bad“ ist weit davon entfernt, ein<br />
Aufklärungsfilm über die physisch und psychisch<br />
zerstörerische Wirkung dieser synthetischen<br />
Droge zu sein. „Breaking Bad“ ästhetisiert<br />
dieses Nervengift. Wer die Serie je mit Teenagern<br />
angeschaut hat, die gerade eine Lebensphase<br />
durchlaufen, in <strong>der</strong> sie Drogen ausprobieren<br />
wollen, kann zu keinem an<strong>der</strong>en Ergebnis kommen.<br />
Fasziniert-interessierte Fragen sind die unmittelbare<br />
Folge. Mindestens.<br />
Deshalb ist es nicht weit hergeholt zu sagen:<br />
„Breaking Bad“ hat den Siegeszug von Crsytal Meth<br />
vielleicht nicht begründet, ist nicht schuld daran. Aber<br />
die Serie hat dazu maßgeblich beigetragen, das Faszinosum<br />
einer Drogenwelt rund um Crystal Meth zu<br />
begründen. Die Gefahr besteht bei<br />
dem Sujet immer. Selbst bei einem<br />
Film wie „Wir Kin<strong>der</strong> vom Bahnhof<br />
Zoo“ war das so. Er war als<br />
Aufklärungs- und Abschreckungsfilm<br />
gedacht und hat<br />
dennoch teilweise das Gegenteil<br />
bewirkt.<br />
Kunst, auch Filmkunst,<br />
hat keine<br />
zwingend pädagogische<br />
Aufgabe. Sie<br />
ist keine moralische<br />
Anstalt, wie es das Theater<br />
des Gotthold Ephraim<br />
Lessing einmal sein<br />
wollte. Aber sie muss sich<br />
die Folgen ihres Tuns schon<br />
vorhalten lassen. Wenn sich Jugendliche<br />
aufgrund von Liedtexten<br />
okkulter Heavy-Metal-Bands umbringen,<br />
müssen sich die Musiker dieser Verantwortung<br />
stellen. Die Macher von „Breaking Bad“ müssen<br />
das auch. Von dem Vorwurf <strong>der</strong> Verherrlichung einer<br />
Modedroge kann man sie nicht freisprechen. So grandios<br />
das Ergebnis ihrer Arbeit auch sein mag.<br />
CHRISTOPH SCHWENNICKE ist Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />
98<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
NEBENWIRKUNGEN<br />
am Siegeszug <strong>der</strong> Modedroge Crystal Meth?<br />
Von CONSTANTIN MAGNIS<br />
Illustrationen: Jens Bonnke<br />
Die Idee, dass ein Bundestagsabgeordneter<br />
Crystal-Meth-<br />
Konsument sein könnte, erschien<br />
mir bis vor kurzem noch<br />
genauso grotesk wie die Vorstellung, er könnte eine<br />
Sexaffäre mit einem tollwütigen Grizzlybären haben.<br />
Dass ich so dachte, liegt daran, dass ich alle fünf<br />
Staffeln von <strong>der</strong> Serie „Breaking Bad“ gesehen habe.<br />
Begeistert habe ich Walter Whites Weg vom Chemielehrer<br />
und fürsorglichen Familienvater zum skrupellosen<br />
Schwerverbrecher verfolgt.<br />
Was die Droge und ihre Folgen anbetrifft, wird<br />
uns nichts erspart: Wir sehen die Junkies so skelettartig,<br />
selbstmör<strong>der</strong>isch und seelenlos, als<br />
kämen sie direkt vom Set <strong>der</strong> Zombie-Serie<br />
„The Walking Dead“. Wir<br />
schauen zu, als Jesses Geliebte<br />
nach einer Überdosis an ihrem<br />
eigenen Erbrochenen erstickt.<br />
Wir erleben, wie Familien<br />
zerfallen, wie Crystal<br />
Meth zuliebe Helden<br />
verkrüppelt und Kin<strong>der</strong><br />
erschossen werden,<br />
wie – tatsächlich –<br />
Leichenteile über einer<br />
Vorstadt nie<strong>der</strong>regnen.<br />
Und mittendrin Walter<br />
White, <strong>der</strong> wohl deprimierendste<br />
Gangster <strong>der</strong><br />
Filmgeschichte. Er ist kein Vito<br />
Corleone, <strong>der</strong> auf prachtvollen<br />
Anwesen herrliche Familienfeste<br />
ausrichtet. Kein Tony Montana, <strong>der</strong><br />
in seiner Marmorvilla mit dem Gesicht im Koks versinkt.<br />
Kein Tony Soprano, <strong>der</strong> sich auf seiner Jacht<br />
mit nackten Flittchen vergnügt. Das hätte ja im Prinzip<br />
noch einen Reiz.<br />
Walter White aber ist ein schlecht angezogener,<br />
freudloser Spießer, <strong>der</strong> seine Seele verkauft hat, für<br />
Geld, das er in einer neonbeleuchteten Garage hortet.<br />
Nichts an seiner Existenz möchte man nachahmen, es<br />
sei denn, man steht auf nächtelange<br />
Chemieexperimente. Der alte Mann<br />
und das Meth: ein einziger Abturn.<br />
Nun kann man anführen, dass<br />
„Breaking Bad“ Crystal Meth überhaupt zum Thema<br />
gemacht hat. Dass <strong>der</strong> Kult um die Serie ihr Sujet –<br />
die Droge – glorifiziert. Aber wer das <strong>der</strong> Serie vorwirft,<br />
muss konsequenterweise finden, dass Shakespeare<br />
Meuchelmord und Inzest glorifiziert und Goethe<br />
den Pakt mit dem Teufel. Reiz und Schrecken des Bösen<br />
zu umschiffen, kann nicht Aufgabe <strong>der</strong> Kunst sein,<br />
im Gegenteil. Die Idee <strong>der</strong> Katharsis ist es ja, dass die<br />
Kunst den Menschen gefahrlos an die Abgründe <strong>der</strong><br />
Wirklichkeit heranführt, auf dass<br />
die Erfahrung ihn läutere. Wer<br />
sich von „Breaking Bad“ nicht<br />
läutern lässt, dem war schon<br />
vorher nicht zu helfen.<br />
Wer Crystal Meth allerdings<br />
bisher für Teufelszeug<br />
hielt, konnte<br />
seit dem Fall des SPD-<br />
Politikers Hartmann<br />
dazulernen:<br />
Dass beson<strong>der</strong>s<br />
„Schüler, Sportler und<br />
Berufstätige“ die Droge<br />
gerne nähmen, „zur Leistungssteigerung“,<br />
wie die<br />
FAZ schrieb. Dass Meth unheimlich<br />
„gut in den Zeitgeist“<br />
passe, wie <strong>der</strong> Stern erfuhr. Dass<br />
„die Lust am Sex“ zunimmt, aber<br />
„Hunger und Durst verschwinden“,<br />
wie Bild wusste. Dass die Droge sei „wie eine unendliche<br />
Glücksspritze“, wie die Zeit schwärmt.<br />
Die beste Therapie dagegen, dieses Zeug endlich<br />
mal ausprobieren zu wollen, sind fünf Staffeln „Breaking<br />
Bad“.<br />
CONSTANTIN MAGNIS leitet das Reportage-Ressort von <strong>Cicero</strong><br />
99<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
STIL<br />
Klei<strong>der</strong>ordnung<br />
WARUM<br />
ich trage,<br />
WAS<br />
ich trage<br />
HANNAH HERZSPRUNG<br />
Wenn ich im Kostüm stecke, mit<br />
<strong>der</strong> Kulisse hinter mir, dann<br />
kann ich gar nicht an<strong>der</strong>s, als<br />
zu spielen. Dieses stundenlange Warten<br />
in <strong>der</strong> Maske – und dann gibt <strong>der</strong> Regisseur<br />
auf einmal die Bühne frei. Manchmal<br />
ist es so leise am Set, dass man eine<br />
Stecknadel fallen hören könnte.<br />
An<strong>der</strong>s ist es in den Proben, wenn<br />
man die Perücke schon aufhat, aber nur<br />
Jeans und T-Shirt trägt. Da soll man dann<br />
auf einmal 18. Jahrhun<strong>der</strong>t spielen, große<br />
Historie. Sehr schwierig. In solchen Fällen<br />
werfe ich mir schnell einen Rock über,<br />
und sofort spiele ich an<strong>der</strong>s.<br />
Das Kostüm macht etwas mit dir. Das<br />
geht mir ja schon im Alltag so. Die Hose<br />
am Morgen und das Kleid am Abend –<br />
das sind zwei verschiedene Ichs, weil ich<br />
eine ganze an<strong>der</strong>e Haltung bekomme.<br />
Beim Kostümfilm macht es natürlich beson<strong>der</strong>s<br />
viel Spaß, die großen Szenen, die<br />
Komparsen, die Reifröcke. Diese Inszenierung,<br />
diese Komposition! Fast ist es<br />
dann schade, wenn man wie<strong>der</strong> in die<br />
Wirklichkeit zurückmuss. Und manchmal<br />
frage ich mich, warum gibt sich eigentlich<br />
nicht je<strong>der</strong> viel mehr Mühe, dieser<br />
großen Schönheit wegen?<br />
Stilikone. Wenn jemand mich so<br />
nennt, muss ich schmunzeln. Ich mach<br />
doch auch nichts an<strong>der</strong>s als alle an<strong>der</strong>en.<br />
Ich zieh mich halt an. Auf dem roten<br />
Teppich ist das im weitesten Sinne<br />
„beruflich“. Die Kleidung wirkt wie ein<br />
Schutzschild, weil man unter beson<strong>der</strong>er<br />
Beobachtung steht.<br />
Ich werfe mir also ein Kleid über<br />
und muss mir keine Gedanken mehr machen.<br />
Denken blockiert einen auch beim<br />
Spielen, in <strong>der</strong> Freiheit, in diesem Moment,<br />
wo man alles zulassen soll. Kostüm,<br />
Maske, Perücke, das hilft. Und da<br />
Hannah Herzsprung, 32, ist<br />
Schauspielerin. Im Historiendrama<br />
„Die geliebten Schwestern“ von<br />
Dominik Graf entdeckt sie ihre<br />
Liebe für den Kostümfilm neu<br />
drunter stecke dann irgendwo ich. Ganz<br />
egal, ob ich historische o<strong>der</strong> fiktive Figuren<br />
spiele. Am Schluss ist es immer die<br />
Hannah. Ich gehe nie an eine Rolle und<br />
denke, ah, das hast du auch schon mal so<br />
erlebt, das kann ich spielen. Im Gegenteil,<br />
ich glaube eher, dass das blockiert.<br />
Und wenn zu viele Gedanken da sind,<br />
macht man sich bewusst, dass man nur<br />
spielt. Ich will mich davon frei machen.<br />
Auch davon zu überlegen, ob den an<strong>der</strong>en<br />
gefällt, was sie dann auf <strong>der</strong> großen<br />
Leinwand sehen. Sonst würde ich ja ständig<br />
versuchen, irgendwas richtig machen<br />
zu wollen. Du kannst aber nichts richtig<br />
und auch nichts falsch machen. Du<br />
kannst einfach nur machen.<br />
Aufgezeichnet von SARAH-MARIA DECKERT<br />
Foto: Serge Hoeltschi / 13 Photo<br />
100<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
SALON<br />
„ Hiermit erkläre<br />
ich den Sieg über die<br />
Elektrizität! “<br />
Die ukrainische Performance-Künstlerin Alevtina Kakhidze kämpft mit Humor gegen<br />
Stumpfsinn und Propaganda in ihrer Heimat, Porträt Seite 106<br />
101<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
LICHT IM SCHACHT<br />
Die Schriftstellerin Judith Hermann gilt als Meisterin <strong>der</strong> Kurzgeschichte. Ihrem ersten<br />
Roman gingen viele Zweifel und <strong>der</strong> Kampf gegen die eigene Schwerkraft voraus<br />
Von PETER HENNING<br />
Foto: Wolfgang Schmidt<br />
Die neue, ungewohnte Arbeit hat<br />
sie als „sehr viel anstrengen<strong>der</strong><br />
und haltloser empfunden“. Sagt<br />
die Berliner Schriftstellerin Judith Hermann<br />
über ihren ersten Roman „Aller<br />
Liebe Anfang“, <strong>der</strong> in diesem Monat<br />
erscheinen wird. Sie wirkt leicht<br />
angespannt, ja skrupulös in ihren Ausführungen,<br />
wie sie dasitzt am Tisch eines<br />
Cafés in Berlin-Charlottenburg und<br />
von ihrem Romandebut spricht. Jede ihrer<br />
Bewegungen erscheint bewusst und<br />
kontrolliert, ihr Lächeln beinahe scheu.<br />
„Nach einer gewissen Strecke des Weges<br />
habe ich den Anfang <strong>der</strong> Geschichte<br />
aus den Augen verloren, den Einstieg in<br />
den Schacht, bildlich gesehen. Und das<br />
Ende war noch lange nicht in Sicht: ein<br />
klaustrophobisches Gefühl.“<br />
Ungewohnte, zweiflerische Töne<br />
sind ein Kennzeichen dieser Autorin,<br />
die mit „Sommerhaus, später“, ihrem<br />
1998 erschienenen Band von Erzählungen,<br />
zum Star <strong>der</strong> jungen deutschen Literatur<br />
avancierte. Und fast en passant<br />
<strong>der</strong> Kurzgeschichte zu einer neuen Blüte<br />
verhalf.<br />
Judith Hermann machte mit ihren<br />
Geschichten eine hierzulande bis dahin<br />
allenfalls noch mit Nachkriegsautoren<br />
wie Böll, Borchert, Schnurre o<strong>der</strong> Siegfried<br />
Lenz assoziierte und sowohl bei<br />
Lesern als auch Verlegern ungeliebte<br />
Erzählform wie<strong>der</strong> salon- und feuilletonfähig.<br />
Die sogenannte „kleine Form“<br />
hatte plötzlich Konjunktur.<br />
Als <strong>der</strong> Frankfurter S. Fischer Verlag<br />
dann 2002 ihren zweiten Erzählungsband<br />
„Nichts als Gespenster“ ankündigte,<br />
waren die Erwartungen auf das<br />
Äußerste gespannt. Doch ihre langen,<br />
fein austarierten, zwischen <strong>der</strong> Lakonie<br />
eines Raymond Carver und <strong>der</strong> gelassenen<br />
Epik einer Alice Munroe oszillierenden<br />
Texte hielten dem Druck stand – und<br />
zementierten ihren Status als Meisterin<br />
<strong>der</strong> kleinen Form.<br />
„Ich habe gerne Kurzgeschichten geschrieben“,<br />
erläutert sie und fährt sich<br />
mit den Händen über das streng zu einem<br />
Knoten gefasste Haar. „Für die<br />
Dinge, über die ich schreiben wollte,<br />
hatte die Kurzgeschichte die richtige<br />
Form.“ Über ihren Zügen liegt Anspannung.<br />
„Doch“, fragt sie zwischendurch<br />
fast schroff, „was wird wohl die Kritik<br />
dazu sagen?“ Wenn sie aber kurz lacht,<br />
weicht die grüblerische Konzentriertheit<br />
so schnell, wie sie kam, mädchenhafter<br />
Leichtigkeit.<br />
DIE FOLGE WAR dann 2009 ein Band mit<br />
fünf Erzählungen („Alice“), <strong>der</strong> sich bei<br />
genauerer Betrachtung als finster-poetische<br />
Meditation über das Sterben und den<br />
Tod erwies, zugleich eine sachte Hinwendung<br />
zur Königsdisziplin, dem Roman.<br />
Dieser liegt weitere fünf Jahre später tatsächlich<br />
vor. Sie hat sich die Pause zwischen<br />
„Alice“ und dem neuen Buch, wie<br />
sie sagt, „bewusst gegönnt“, sich ins Private<br />
zurückgezogen und ihrem 15 Jahre<br />
alten Sohn gewidmet. Überhaupt agiert<br />
die Berlinerin nicht vorschnell. Sie nahm<br />
sich die Zeit, die sie braucht, las sämtliche<br />
Romane des Iren Dermot Healy und<br />
von Graham Greene und tauchte in die<br />
versunkene Welt des Russen Iwan Bunin<br />
ab. Bis das Gerüst ihres Romans im Kopf<br />
stand – und sie endlich schreiben konnte,<br />
langsam, tastend.<br />
Das Resultat dürfte Kritik wie Publikum<br />
spalten. Wer ihre melancholisch<br />
grundierten, uhrmacherhaft präzise gearbeiteten<br />
Geschichten mochte, wird<br />
„Aller Liebe Anfang“ lieben. Alle, die<br />
aber erwartet hatten, sie werde mit einem<br />
Roman daherkommen, <strong>der</strong> ihr bisheriges<br />
Erzählen erweitert, werden wohl<br />
enttäuscht sein.<br />
„Aller Liebe Anfang“ ist ein leises,<br />
ein bisweilen an die Grenze seiner<br />
Form stoßendes Buch, das erahnen<br />
lässt, welches innere Ringen die Verfasserin<br />
durchgestanden haben muss. „Ich<br />
hatte den Eindruck, das Schreiben fiele<br />
mir schwerer als sonst“, sagt Judith Hermann.<br />
„Das Schreiben eines Romans hat<br />
sich für mich so angefühlt, wie den Boden<br />
unter den Füßen aufzugeben, die<br />
Kontrolle abzugeben.“<br />
Der Roman entrollt die Geschichte<br />
seiner Hauptfigur Stella, die ihren späteren<br />
Mann Jason in einem Flugzeug kennenlernt,<br />
mit ihm ein Kind bekommt und<br />
ein Haus am Stadtrand bezieht. Das Leben<br />
<strong>der</strong> kleinen Familie verläuft unspektakulär<br />
und harmonisch. Stella arbeitet<br />
als Krankenpflegerin. Plötzlich aber verfolgt<br />
sie ein Stalker, <strong>der</strong> Alltag wird zum<br />
Spießrutenlauf.<br />
Hermann beschreibt detailliert den<br />
Einbruch des Schreckens in das vermeintliche<br />
Vorstadtidyll. Dort aber,<br />
wo <strong>der</strong> Horror auf den Leser übergehen<br />
müsste, um ihn wirklich zu packen,<br />
bleibt er manchmal im feinen Gespinst<br />
<strong>der</strong> Worte hängen, wird abgemil<strong>der</strong>t und<br />
um seine Wucht gebracht. Gleichwohl<br />
finden sich auch hier Sätze von kristalliner<br />
Schönheit – verdichtet zu einem Protokoll<br />
<strong>der</strong> Angst.<br />
„Ich habe vor dem Roman keine<br />
Angst gehabt“, sagt Judith Hermann<br />
und lächelt. „Wenn überhaupt, so vor<br />
<strong>der</strong> Möglichkeit des Scheiterns, die ja in<br />
je<strong>der</strong> Erzählform immerzu gegeben ist.“<br />
Gescheitert ist sie nicht. Mehr Mut aber<br />
zum Zupackenden, zum Direkten ist dieser<br />
großen Dezenten zu wünschen.<br />
PETER HENNING ist Schriftsteller, schrieb<br />
zuletzt den Roman „Ein deutscher Sommer“<br />
( 2013 ). Er lebt in Köln und wurde schon selbst<br />
einmal gestalkt<br />
103<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
HINFORT MIT DEM TAND!<br />
Den Wiener Festwochen verhalf Intendant Markus Hinterhäuser gerade zu einem<br />
Rekor<strong>der</strong>gebnis. Bald wird er auch die Salzburger Festspiele entschlacken<br />
Von AXEL BRÜGGEMANN<br />
Er weiß, wie es geht. Ein Gespräch? –<br />
„Natürlich.“ Am Telefon? – „Unter<br />
keinen Umständen!“ Eine Stunde? –<br />
„Viel zu kurz!“ In seinem Büro? – „Bloß<br />
nicht!“ Wenn Markus Hinterhäuser, <strong>der</strong><br />
Pianist und Kulturmanager, über Kunst<br />
redet, will er zuhören, nachdenken, sich<br />
einlassen. Also 21 Uhr in <strong>der</strong> China-Bar.<br />
Am Anfang <strong>der</strong> Wiener Burggasse<br />
stehen Cafés für Juppies. Nach einigen<br />
Hun<strong>der</strong>t Metern wird die Straße dunkler,<br />
dreckiger. Auf <strong>der</strong> linken Seite strahlt<br />
die Schaufensterauslage eines heruntergekommenen<br />
Lampenladens. „Was gibt<br />
es Trostloseres als Lampenläden?“, fragt<br />
Hinterhäuser. Im oberen Geschoss entdeckt<br />
er die Silhouette einer dunkelhaarigen<br />
Frau, die sich entkleidet. Wir<br />
schauen hinauf. Das Licht erlischt. „Das<br />
ist wie ein Bühnenbild von Christoph<br />
Marthaler“, sagt Hinterhäuser. Das beste<br />
Theater spielt für ihn nicht auf <strong>der</strong> Bühne,<br />
son<strong>der</strong>n in den schummrigen Straßen einer<br />
absurden Welt: „In einem früheren<br />
Leben wäre ich gern Flaneur geworden.“<br />
In <strong>der</strong> China-Bar spricht Hinterhäuser<br />
zunächst über Leonard Cohen: „Einer<br />
<strong>der</strong> größten Künstler aller Zeiten.“ Sechs<br />
Konzerte habe er gesehen, zu jedem<br />
wäre er auch zu Fuß gegangen. „Cohen<br />
hat zwei Arten, sich zu verabschieden“,<br />
erklärt er. „Entwe<strong>der</strong>: ‚Kommt heil nach<br />
Hause‘, o<strong>der</strong>, die Atheisten mögen es verzeihen,<br />
‚God bless you‘.“ Die zweite gefällt<br />
ihm besser.<br />
Die Wiener Festwochen hat Hinterhäuser<br />
als Intendant gerade hinter sich<br />
gebracht, 2016 tritt er bei den Salzburger<br />
Festspielen als Chef an. Bereits als<br />
Jürgen Flimm 2010 dort im Streit schied,<br />
wurde Konzertchef Hinterhäuser als<br />
Spitzenkandidat gehandelt. Aber die<br />
politischen Strippenzieher setzten ihn<br />
nicht auf die Liste. Sie wollten Anzug<br />
statt Jeans, Sponsoren statt kunstvoller<br />
Unsicherheit. Sie holten den Österreicher<br />
Alexan<strong>der</strong> Pereira aus Zürich statt den<br />
Salzburg-Bürger Markus Hinterhäuser.<br />
Das einzige Mal an diesem Abend<br />
verliert er die Kontrolle: „Damals wäre<br />
das schon eine bessere Wahl gewesen“,<br />
sagt er. Dann schaut er in sein Bierglas,<br />
schweigt und weiß, dass er solche Sätze<br />
eigentlich nicht sagen will. Zumal er es<br />
dem Kultur-Establishment gezeigt hat:<br />
Als Leiter <strong>der</strong> Wiener Festwochen verzeichnete<br />
er eine hohe Auslastung mit einem<br />
so gar nicht kulinarischen Programm,<br />
„Cosi fan tutte“ etwa in <strong>der</strong> Regie von<br />
Michael Haneke. Der südafrikanische<br />
Künstler William Kentridge bebil<strong>der</strong>te<br />
die „Winterreise“. 155 318 Zuschauer,<br />
95 Prozent Auslastung, 403 Journalisten<br />
aus 26 Län<strong>der</strong>n. Rekord!<br />
MARKUS HINTERHÄUSER besitzt die<br />
Frechheit, keinen Glamour zu versprechen.<br />
Er will, dass die Menschen<br />
nach Salzburg kommen, um Existenz<br />
zu spüren. „Wer empfindet heute noch<br />
Schmerz und Qual? Die ‚Kin<strong>der</strong>totenlie<strong>der</strong>‘<br />
von Gustav Mahler beschreiben das<br />
Schlimmste, was es gibt – und was passiert?<br />
Man unterhält sich darüber, ob die<br />
Sänger die Höhen getroffen haben.“ Will<br />
er etwa die Champagnerstände vor dem<br />
Festspielhaus schließen? „Ich werde den<br />
Teufel tun! Ich will ja nicht dogmatisch<br />
sein. Aber man sollte die Dinge, die man<br />
aufführt, in aller Konsequenz ernst nehmen.“<br />
Am liebsten wäre ihm, dass an solchen<br />
Abenden niemand mehr freiwillig<br />
Champagner trinken will.<br />
Kann Kunst eigentlich unsere Weltbil<strong>der</strong><br />
zerstören? „Ich glaube, dass mein<br />
Weltbild zu einem wesentlichen Teil<br />
durch Kunst entstanden ist“, antwortet<br />
Hinterhäuser, „die Zerstörung von Weltbil<strong>der</strong>n<br />
geschieht eher in unserem realen<br />
Leben. In <strong>der</strong> Kunst entwickeln sich<br />
Modelle. Das ist schon sehr existenziell.“<br />
Welch Unterschied zu Alexan<strong>der</strong> Pereira,<br />
<strong>der</strong> am liebsten über das Modestudium<br />
seiner jungen Freundin palavert und erklärt,<br />
wie er Anna Netrebko hinter den<br />
Kulissen das eiskalte Händchen hält.<br />
Seine Pläne für die weltweit größten<br />
Festspiele sind offen. Er träumt von einer<br />
Mozart-Werkstatt auf <strong>der</strong> Pernerinsel. Einem<br />
Ensemble, das den Salzburger Komponisten<br />
über Jahre hinweg vom Goldpapier<br />
befreit. Einem Opernlabor.<br />
Er bestellt einen Espresso. „Problematisch<br />
wird es, wenn das Theater meint,<br />
sich <strong>der</strong> Allgegenwärtigkeit <strong>der</strong> Pseudokultur<br />
anbie<strong>der</strong>n zu müssen. Aber ich bin<br />
<strong>der</strong> festen Überzeugung, dass eine großartige<br />
‚Missa Solemnis‘ diesen jämmerlichen<br />
Tand des Alltags mit einer einzigen<br />
Bewegung wegwischen kann!“<br />
Hinterhäuser weiß, dass gerade in<br />
Salzburg letztlich <strong>der</strong> finanzielle Erfolg<br />
zählt. Aber er hält daran fest, dass wir<br />
in einer Welt leben, „in <strong>der</strong> die Leute<br />
vielleicht mehr Fragezeichen vor sich her<br />
tragen, als manche Politiker und Theatermacher<br />
es wahrhaben wollen“. Die<br />
Zeit sei reif, daraus Kapital zu schlagen.<br />
„Zahlen, bitte.“<br />
Die Luft vor <strong>der</strong> China-Bar ist frisch<br />
geworden. Wir schlen<strong>der</strong>n die Burggasse<br />
hinauf. Vor einem Schaufenster bleibt<br />
Hinterhäuser stehen. In den Schaukästen<br />
ist eine senffarbene Bluse auf eine<br />
Pappe gespannt. „<strong>Ist</strong> das nicht verrückt“,<br />
sagt er, kramt sein Handy aus <strong>der</strong> Tasche<br />
und macht ein Foto. „Ich habe das schon<br />
so oft fotografiert – aber es ist zu schön.“<br />
Dann verabschieden wir uns: „God<br />
bless you.“<br />
AXEL BRÜGGEMANN ist Journalist,<br />
Buchautor, Mo<strong>der</strong>ator. Am 12. August wird er<br />
die Kino-Live-Übertragung des „Fliegenden<br />
Hollän<strong>der</strong>s“ aus Bayreuth mo<strong>der</strong>ieren<br />
Foto: Michael Herdlein<br />
104<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
AUS DEM GRAS GERATEN<br />
Die ukrainische Künstlerin Alevtina Kakhidze verbindet Politik mit Poesie. Ihre<br />
Stilmittel sind Suppe, Bleistift und Humor. Schon Oligarchen gingen ihr auf den Leim<br />
Von KRISTINA V. KLOT<br />
Als jüngst zur Eröffnung <strong>der</strong> „Manifesta<br />
10“ Kurator Kasper König<br />
<strong>der</strong> Ukrainerin Alevtina<br />
Kakhidze das Mikrofon überließ, war<br />
die Botschaft klar: Auch eine Künstlerin,<br />
die als Maidan-Aktivistin für die Unabhängigkeit<br />
ihrer Heimat eintritt, sollte<br />
in Sankt Petersburg in <strong>der</strong> ersten Reihe<br />
stehen. Kakhidzes knabenhafte Erscheinung<br />
mit <strong>der</strong> Bobfrisur über erstaunt<br />
blickenden Augen ließ weniger an eine<br />
Kunstaktivistin denken als an ein unerschrockenes<br />
großes Kind. Tags zuvor erst<br />
hatte sie ihre neue Performance „Victory<br />
over electricity“ angekündigt.<br />
Kakhidzes Fähigkeit, die Gegenwart<br />
poetisch zu reflektieren, zeigte sich zuletzt<br />
in ihrer Arbeit „TV Studios / Rooms<br />
without Doors“. Die Videoinstallation<br />
im Pinchuk Art Centre, einem Museum<br />
für Gegenwartskunst in Kiew, lief in einer<br />
surrealen Studiokulisse. Die Künstlerin<br />
trug sehr ernst absurde News vor:<br />
„Die Menschen haben aufgehört, Tomaten,<br />
Wassermelonen und Erdbeeren zu<br />
essen. Der Grund: Diese weisen eine rote<br />
Farbe auf, die an den Sozialismus erinnert.<br />
Ärzte warnen: Bitte essen Sie weiter<br />
Früchte, sie enthalten wichtige Vitamine!“<br />
O<strong>der</strong>: „In Berlin ist die Mitnahme<br />
von Hunden in <strong>der</strong> U-Bahn erlaubt, jetzt<br />
for<strong>der</strong>n Kiewer Bürger dieses Recht ein.<br />
Die Antwort des Bürgermeisters: Bei den<br />
Berliner Hunden handelt es sich um sozialisierte<br />
Wesen. Kiews Hunde sind noch<br />
nicht reif für die U-Bahn.“<br />
1973 im Osten <strong>der</strong> Ukraine als Tochter<br />
eines Georgiers geboren, wuchs Alevtina<br />
Kakhidze mit <strong>der</strong> russischen Sprache<br />
auf und lernte Ukrainisch erst mit<br />
22 Jahren, nachdem sie 1995 nach Kiew<br />
gezogen war. Als Jugendliche entdeckte<br />
sie den Science-Fiction-Autor Clifford<br />
D. Simak für sich. Als „Gegenpol zum<br />
sowjetischen Sachbuch“ hätten seine<br />
Erzählungen sie vor dem Stumpfsinn bewahrt.<br />
„Er schrieb Gras ein Bewusstsein<br />
zu und die Fähigkeit zum Denken – großartig!“<br />
1991 erlebte sie als 18-Jährige<br />
den Zusammenbruch <strong>der</strong> Sowjetunion<br />
und den Beginn <strong>der</strong> postsozialistischen<br />
Ära <strong>der</strong> Ukraine.<br />
Kakhidze, die als Kunststudentin<br />
in Maastricht von 2004 bis 2006 erste<br />
Auslandserfahrungen sammelte, erinnert<br />
sich an einen Streit mit einem deutschen<br />
Freund: „Er erzählte mir als Erster von<br />
<strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> USA im Zweiten Weltkrieg.<br />
Bis dahin war ich überzeugt, dass die Sowjetunion<br />
den Krieg beendet hatte.“ Es<br />
war diese Erfahrung von Indoktrination,<br />
die ihren Anspruch begründete, sich nur<br />
noch aus erster Hand zu informieren.<br />
ALS KONSEQUENZ initiierte sie 2007 ihr<br />
privates Artist-in-Residence-Programm,<br />
bei dem sie im Sommer Künstler aus aller<br />
Welt einlädt, einige Wochen im Atelier<br />
ihres Hauses in einem Dorf nahe<br />
Kiew zu verbringen, „um uns mit ihrem<br />
Blick auf die Welt zu überraschen“.<br />
Im Dezember 2013, nachdem Ex-Präsident<br />
Janukowitsch das Assoziierungsabkommen<br />
mit <strong>der</strong> EU platzen ließ, organisierte<br />
die Künstlerin ein Happening auf<br />
dem Maidan und postierte neben einem<br />
Topf Suppe einen Sachverständigen für<br />
den EU-Vertrag, <strong>der</strong> Vorurteile über das<br />
Schriftstück ausräumen konnte.<br />
Zentrales Thema von Alevtina<br />
Kakhidze sind die neokapitalistischen<br />
Auswüchse, die in <strong>der</strong> Ukraine eine<br />
Min<strong>der</strong>heit einflussreicher Oligarchen<br />
hervorbrachten. An zwei von ihnen<br />
wandte sie sich 2008 in einem offenen<br />
Brief, <strong>der</strong> sie in <strong>der</strong> Ukraine berühmt<br />
machte. Darin bat sie die beiden, von ihrem<br />
Privatjet aus die Erde von oben zu<br />
zeichnen. Die Antwort kam 24 Monate<br />
später und enthielt die Einladung, die<br />
Zeichnung doch bitte selbst in einem bereitgestellten<br />
Jet anzufertigen. Kakhidze<br />
willigte ein, stieg ins Flugzeug und ließ<br />
die enttäuschte Presse hernach wissen,<br />
sie habe nicht gezeichnet, aber den Blick<br />
aus großer Höhe genossen.<br />
Einen Wechsel <strong>der</strong> Perspektive vollzog<br />
die Künstlerin auch, als sie bei sich<br />
und ihren Landsleuten neuartige Konsumgelüste<br />
wahrnahm. Ohnehin stets mit<br />
Block und Stift unterwegs, begann sie<br />
Dinge, die sie sich gerne kaufen würde,<br />
zu zeichnen und wähnte sich dadurch in<br />
ihrem Besitz. Bei <strong>der</strong> 7. Berlin-Biennale<br />
2012 trat sie als Sammlerin von 500 Werken<br />
auf, die nur auf Papier existieren:<br />
antike Lampen, Prada-Pumps, Objekte<br />
von Jeff Koons. Ihr Rat: „Wenn du etwas<br />
wirklich haben willst, kaufe es nicht,<br />
son<strong>der</strong>n bringe es aufs Papier. Nur wenn<br />
man sich vom Konsum fernhält, bleibt<br />
das ursprüngliche Begehren erhalten.“<br />
Um das Dilemma des Wahrheitsanspruchs<br />
drehte sich ihre für die „Manifesta<br />
10“ inszenierte Pressekonferenz<br />
„Victory over Electricity“. Als sie von einem<br />
Bühnenstück russischer Futuristen<br />
von 1913 erfuhr, dessen Titel „Victory<br />
over Sun“ auf den Siegeszug <strong>der</strong> Elektrizität<br />
anspielt, kam ihr <strong>der</strong> Gedanke:<br />
„Fernsehen, Internet und Skype haben<br />
uns nicht viel weiter gebracht.“ Noch<br />
immer treffe sie auf russische Intellektuelle,<br />
<strong>der</strong>en Ukraine-Kenntnisse auf<br />
solcherart vermittelter Propaganda beruhten.<br />
Da helfe nur ein radikales Gegenmittel:<br />
„Hiermit erkläre ich den Sieg<br />
über die Elektrizität und for<strong>der</strong>e das Gespräch<br />
eins zu eins!“ Sie vertraut nur <strong>der</strong><br />
Unmittelbarkeit.<br />
KRISTINA V. KLOT konnte in Sankt Petersburg<br />
an den Reaktionen <strong>der</strong> Besucher ablesen,<br />
dass die meisten Russen noch keinen Zugang<br />
zu zeitgenössischer Kunst haben<br />
Foto: Konstantin Chernichkin/n-ost für <strong>Cicero</strong><br />
106<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
SALON<br />
Reportage<br />
Wer im Kunstmarkt mitspielen will, <strong>der</strong> müsse Schizophrenien ertragen: Der Maler Jonas Burgert weiß, wovon er spricht<br />
108<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
DER<br />
FROMME<br />
BETRUG<br />
Kunst und Geld sind<br />
verschwistert, leugnen es<br />
aber gern. Die Geschichte<br />
einer Schizophrenie<br />
Von RALF HANSELLE<br />
Fotos THOMAS MEYER<br />
Manchmal wird <strong>der</strong> Riss sichtbar. Der Riss, <strong>der</strong> sich<br />
hier durch Pflastersteine hindurchzieht und durch<br />
die Klinkerfassade einer alten Kondensatorenfabrik.<br />
Zuweilen verläuft er auch quer über die Straße –<br />
durch Bordstein und Pfützen und zerplatzten Asphalt. Berlin<br />
hat sich an den Riss gewöhnt. Längst gehört er mit dazu;<br />
wie eine Narbe, die nur manchmal noch schmerzt. Die einstige<br />
Teilstadt, die immer noch wird, was sie nicht mehr ist,<br />
scheint sich provisorisch vernäht zu haben. Hier, an <strong>der</strong><br />
Leh<strong>der</strong>straße in Weißensee aber platzen alle Nähte wie<strong>der</strong><br />
auf. Hier wächst aus ihren Tiefen das Unkraut, und in <strong>der</strong><br />
Verfugung <strong>der</strong> Häuser sitzt trockenes Moos.<br />
Der Maler Jonas Burgert hat solch einen Riss bewohnbar<br />
gemacht, mitten zwischen Industriestümpfen und einer<br />
heruntergekommenen Kleinbürgersiedlung. Hier hat <strong>der</strong><br />
44‐Jährige sein Atelier. Früher produzierte in <strong>der</strong> Halle das<br />
VEB Isolierstoffwerk Hartgewebeplatten und Kopplungsgeneratoren.<br />
Jetzt hängen hier großformatige Bil<strong>der</strong> mit rätselhaften<br />
Motiven.<br />
Manchmal wirken sie wie Ansichten zu einem verschollenen<br />
Mythos, manchmal wie eine letzte Apokalypse von<br />
Hieronymus Bosch. Archaisch sind im Kern die Figuren,<br />
knallig und schrill aber viele <strong>der</strong> Farben.<br />
109<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
SALON<br />
Reportage<br />
Der Riss ist für Burgert das tägliche Leben: „Als Künstler<br />
muss ich stets einen Spagat beherrschen. Wenn ich mitspielen<br />
will, dann muss ich Schizophrenien ertragen.“ Burgert<br />
guckt schelmisch und spielt mit einer Zigarette. Sein<br />
blondes Haar fällt locker in die Stirn. Dann schwingt er sich<br />
auf zu einem nächsten Spagat: Reden über eine Arbeit, die<br />
in <strong>der</strong> Stille entsteht; erklären, was eigentlich nicht zu erklären<br />
ist. Changieren zwischen Maler und Marke.<br />
Jonas Burgert beherrscht diese Disziplinen souverän,<br />
trägt Dreitagebart und Pulli unter dunklem Sakko. Nicht<br />
gerade das Outfit von Best-Performern. Doch Jonas Burgert<br />
gehört jetzt zur Spitze. Zu denen, die es in <strong>der</strong> Kunst bis<br />
vor kurzem gar nicht gegeben hat: den „Shootingstars“, den<br />
„Hoffnungsträgern“, den „Supertalenten“. Selbst die Sprache<br />
hat auf sie reagiert. Die Kunstkritik hat umgeschaltet:<br />
von Ästhetik auf Ranking, von Diskurs auf eine Art Stadion-<br />
Slang. Gestern waren es Neo Rauch o<strong>der</strong> Tim Eitel, heute<br />
sind es Jorinde Voigt o<strong>der</strong> eben Jonas Burgert.<br />
Der Maler weiß den neuen Erfolg zu genießen: „Wenn<br />
Leute sagen, dass ihnen Erfolg nicht wichtig sei, dann glaube<br />
ich ihnen das in <strong>der</strong> Regel nicht.“ Burgert<br />
spricht mit schelmischer Freude. Je<strong>der</strong><br />
Satz eine klare Haltung. Der Ruhm habe<br />
ihn ruhiger gemacht. Er habe den großen<br />
Hype einmal durchlaufen: die wichtigen<br />
Magazine, die großen Museen. Nebenher<br />
hat <strong>der</strong> Meisterschüler von Dieter Hacker<br />
sogar Geld verdient. Manche sagen, dass<br />
es viel Geld gewesen sei. Doch dann fällt<br />
<strong>der</strong> Satz, <strong>der</strong> untypisch ist für Bestverdiener.<br />
Der Satz, den so nur Künstler sagen:<br />
„Selbst wenn mein ganzes Geschäft<br />
zusammenbräche, würde ich vermutlich<br />
trotzdem hier sitzen und glücklich sein.“<br />
Der mehrfache Kunstmillionär Gerhard<br />
Richter hat etwas ganz Ähnliches gesagt:<br />
Ihm sei das viele Geld eher unangenehm.<br />
Eigentlich fände er es sogar albern. Richters<br />
Kollege Erwin Wurm sprang dem Maler bei <strong>der</strong> Selbstbeschämung<br />
öffentlich bei. „Blödgesichter“ schimpft Wurm<br />
die großen Sammler und Investoren, die Leuten wie ihm<br />
die Sonnenseiten des Lebens finanzieren.<br />
Irgendwo muss die Wut wohl hin, die Wut über die verlorene<br />
Unschuld. Seit gut zehn Jahren schießen die Preise für<br />
Gegenwartskunst durch die Decke. Und die Kunst begehrt,<br />
nicht schuld daran zu sein. Die klammert sich lieber an innere<br />
Werte, an das Gute und Schöne bei aller Ware. Geld<br />
und Genius scheinen sich dabei mehr und mehr zu verhaken,<br />
spalten sich ab, reden sich schlecht: „Die Kunst ist das einzige<br />
Produkt, das im Kern nicht käuflich ist“, schwärmt etwa<br />
Jonas Burgert, während er die dritte Zigarette des Tages ansteckt.<br />
Jeden Ferrari könne man heute über Katalog erwerben,<br />
jede Luxusjacht könne man nachbauen. Kunst aber sei<br />
etwas Einmaliges. „Geist kann man nicht kaufen. Ein Bacon<br />
o<strong>der</strong> ein Pollock sind die letzten verbliebenen Statussymbole.“<br />
Wer dennoch kauft, <strong>der</strong> muss teuer bezahlen. Finanzkräftige<br />
Sammler legen für den „geilen Geist“ Millionen<br />
hin – wie Freier, die die letzte Jungfrau <strong>der</strong> Nacht umwerben,<br />
wie Kamele auf ihren Wegen durchs Nadelöhr. Erst<br />
jüngst wie<strong>der</strong> konnten sie Erfolge vermelden. Francis Bacons<br />
Triptychon „Three Studies of Lucien Freud“ erzielte<br />
bei einer Auktion in New York einen Erlös von 142 Millionen<br />
US-Dollar, ein „Balloon Dog“ von Jeff Koons hechelte<br />
für 58,4 Millionen Dollar hinterher. Wie<strong>der</strong> einmal zwei<br />
Weltrekorde. Wie<strong>der</strong> einmal <strong>der</strong> Sieg des Geldes. Die Spirale<br />
dreht sich immer weiter.<br />
AUCH JONAS BURGERT dreht sich in ihr mit. Das Doppelte<br />
<strong>der</strong> ursprünglichen Taxe erzielte im Juni 2013<br />
sein Bild „Fluchtversuch“ bei Christie’s in London, über<br />
130 000 Pfund. „Klar“, sagt er, „bei den Auktionen gewinnt<br />
am Ende immer <strong>der</strong> Stärkste. Am Markt zählt einzig<br />
das Bare.“ Dennoch sieht <strong>der</strong> Maler seine Arbeit vom<br />
Geld nicht bedroht. Seine Ideale, sagt er, seien nicht käuflich.<br />
Und dann erzählt Burgert eine kleine Geschichte; eine<br />
Geschichte vom Riss, den man als Künstler erträgt. Sie handelt<br />
von einem Sammler, <strong>der</strong> eines Tages zu ihm ins Atelier<br />
gekommen sei, mitten hierher zu den<br />
Ruinen und Brachen. Unsummen wollte<br />
<strong>der</strong> Sammler Burgert für eines seiner<br />
Seit zehn<br />
Jahren<br />
schießen die<br />
Preise für<br />
aktuelle Kunst<br />
durch die<br />
Decke<br />
Gemälde bezahlen. Und er – <strong>der</strong> Maler,<br />
<strong>der</strong> einfach nur „Bock hat auf gute Bil<strong>der</strong>“<br />
– er habe den großen Reibach lächelnd<br />
verschmäht. „Der Mann ist beinahe<br />
durchgedreht.“ Während Burgert<br />
all das erzählt, erwacht in seinem Gesicht<br />
wie<strong>der</strong> diese schelmische Freude.<br />
„Vielleicht sind wir Künstler die neuen<br />
Narren. Wir sind die Figuren, die alles<br />
dürfen.“<br />
Stefan Haupt wirkt nicht wie ein<br />
Mann für Narreteien; eher nüchtern<br />
und distinguiert. Dunkel <strong>der</strong> Anzug, gestreift<br />
die Krawatte. Haupt schaut aus<br />
dem Fenster seiner großen Anwaltskanzlei<br />
an Berlins Märkischem Ufer. Er blickt hinüber über<br />
die Spree. Alle Blicke scheinen hier von Geld zusammengehalten<br />
zu werden. Am an<strong>der</strong>en Ufer liegt die Finanzverwaltung<br />
von Berlin, nur ein Steinwurf ist es bis zur chinesischen<br />
Botschaft. Menschen, die an Flüssen wohnen, müssen<br />
sich um Wohlstand vermutlich nie wie<strong>der</strong> sorgen. Menschen<br />
an Flüssen genießen den Luxus.<br />
Haupt gibt es offen zu: Kunst, sagt er, sei reiner Luxus.<br />
Mit Kunst hole man sich etwas Schönes ins Leben.<br />
300 Werke zählt seine Sammlung des Schönen – darunter<br />
Arbeiten von Beuys, Balkenhol und Mathieu Mercier.<br />
Mal hängen sie gerahmt an kahlen Wänden, mal stehen sie<br />
als „Ready Mades“ sinnlos herum. Alle Ankäufe hat sich<br />
Haupt gut überlegt. Denn alle verhandeln den ganz großen<br />
Riss: das ambivalente Verhältnis von Kunst und Geld, den<br />
zwei Seiten <strong>der</strong>selben Medaille. Für Haupt ist dieses Sujet<br />
Provokation. Ein Tabu – wie Sex o<strong>der</strong> Tod. Als er angefangen<br />
habe, Kunst zu kaufen, habe er sich das Thema seiner<br />
Sammlung lange durch den Kopf gehen lassen. „‚Kunst<br />
110<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Stefan Haupt ist Anwalt und trug eine Sammlung zum Thema „Kunst und Geld“ zusammen: „Kunst bringt Schönes ins Leben“<br />
111<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
SALON<br />
Reportage<br />
Ben Kaufmann war Galerist in Berlin und leitet nun den „Neuen Aachener Kunstverein“. Er weiß: „Vieles wird heiterer geredet, als es ist“<br />
112<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
und Sex‘ kam für mich nicht infrage, ‚Kunst und Tod‘ fand<br />
ich zu groovy.“ Also sei das Geld geblieben. „Dabei“, sagt<br />
Haupt, „hat sich die Kunst jahrhun<strong>der</strong>telang gar nicht mit<br />
dem Geld beschäftigt. Die Künstler haben zur Finanzwelt<br />
geschwiegen.“<br />
JETZT SCHWEIGT AUCH HAUPT. Er sucht nach Worten.<br />
Manchmal schaut er auf ein Bild an <strong>der</strong> Wand. „Materie zum<br />
Nachdenken“ nennt er seine Kunst voller Respekt. Dann<br />
setzt er wie<strong>der</strong> an: „In den siebziger Jahren kam dann das<br />
Geld in die Kunst.“ Der Anwalt fällt in einen dozierenden<br />
Ton. Er scheint lange gegrübelt zu haben über die Geldkunst,<br />
über die Verschmelzung <strong>der</strong> scheinbaren Gegensätze. Vielleicht,<br />
sagt er, habe das mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems<br />
zu tun gehabt – <strong>der</strong> Loslösung des Goldes<br />
vom amerikanischen Dollar –, vielleicht aber auch mit<br />
den neuen Messen für Gegenwartskunst.<br />
Seit damals jedenfalls sei das Geld da. Es bestimmt,<br />
wie wir die Kunst bewerten. Es bestimmt, wie wir über die<br />
Kunst reden. Stefan Haupt redet von ihr zuweilen mit Skepsis.<br />
Er glaube nicht an Kapitalvermehrung<br />
durch die Kunst. „Klar gibt es Menschen,<br />
für die ist die Kunst eine Anlageform wie<br />
Aktien o<strong>der</strong> Immobilien.“ Doch im Kern<br />
sei <strong>der</strong> Markt zu intransparent, im Kern<br />
gebe es von <strong>der</strong> Kunstware viel zu viel.<br />
Dann dreht er sich um und schaut wie<strong>der</strong><br />
hinüber über den Fluss. In seinem Rücken<br />
wird ein Holzschnitt sichtbar. Haupts Silhouette<br />
hatte ihn zuvor verdeckt. Es ist<br />
ein überdimensionierter 50-Mark-Schein,<br />
ein Bild des deutschen Grafikers Hans Ticha.<br />
„Finanzprodukt“ heißt die unscheinbare<br />
braune Arbeit. Eine aufgeblasene<br />
Falschgeldnote. Doch das Bild führt alle<br />
Ambivalenzen in sich zusammen. Vielleicht<br />
sind Bild und Banknote längst dasselbe.<br />
Kunst ist Geld auf großem Format.<br />
Vor ein paar Jahren hat Stefan Haupt seiner Sammlung einen<br />
Namen gegeben. Sie heißt jetzt „30 Silberlinge“. Vermutlich<br />
ist das mehr als nur ein gewöhnlicher Titel. Es ist <strong>der</strong><br />
biblische Preis, für den Judas einst die Wahrheit verkaufte.<br />
Die meisten verkaufen die Wahrheit nie. Durchschnittlich<br />
14 192 Euro verdienen laut Künstlersozialkasse Bildende<br />
Künstler jährlich. In <strong>der</strong> Erzählung vom boomenden<br />
Kunstmarkt kommen diese Künstler nicht vor. Auf<br />
dem „Winner-takes-it-all-Markt“ bilden sie die schweigende<br />
Mehrheit. Kein Blick auf die Flüsse, kein Leben jenseits<br />
<strong>der</strong> Brachen. Ihren Galeristen geht es nicht besser. Laut einer<br />
Umfrage des Instituts für Strategieentwicklung erzielen<br />
fast ein Drittel <strong>der</strong> Galerien Berlins einen Jahresumsatz<br />
von weniger als 50 000 Euro. Die großen Gewinne erzielen<br />
nicht mal zwei Dutzend. Das ist <strong>der</strong> Alltag jenseits <strong>der</strong><br />
„Art Basel“-Seite <strong>der</strong> Kunst.<br />
„Wir reden gewöhnlich nicht über diese Realitäten“,<br />
meint Ben Kaufmann. „Die Normalität kommt in <strong>der</strong> Berichterstattung<br />
über Kunst gar nicht vor. Wir reden lieber<br />
Im Schnitt<br />
verdienen<br />
Künstler 14 000<br />
Euro jährlich<br />
über Superlative; über Geschichten, bei denen <strong>der</strong> Wahrheitsgehalt<br />
oft fraglich ist.“ Die Geschichte etwa von Ben<br />
Kaufmann. Und diese Geschichte, die geht so: Ein junger<br />
Galerist mit besten Kontakten, mit Messeeinladungen bis<br />
nach New York, ein Kunstvermittler, kultiviert und erfolgreich.<br />
Eines Tages schließt dieser Mann seine boomende<br />
Galerie. Plötzlich, unverhofft, fast über Nacht.<br />
Für einen Moment scheint <strong>der</strong> Szene <strong>der</strong> Atem zu stocken.<br />
Kaufmann dreht den Schlüssel im Türschloss und<br />
kehrt allen Bil<strong>der</strong>n den Rücken zu, den Arbeiten von Matthias<br />
Dornfeld, Maja Körner, Bernd Ribbeck. „Am Erfolg<br />
gescheitert“ schrieb damals Die Zeit über das Ende <strong>der</strong> Galerie<br />
an einer belebten Szenestraße im Osten Berlins. Das<br />
war vor fast drei Jahren. Jetzt sitzt <strong>der</strong> 41-jährige Kaufmann<br />
in <strong>der</strong> Lobby eines Hotels an <strong>der</strong>selben Straße und<br />
schaut hinüber zum einstigen Glück. „Ich traure dem nicht<br />
nach“, sagt <strong>der</strong> hochgewachsene, leicht schüchterne Mann.<br />
Er trägt eine rote Baseballkappe auf seinem Kopf und verrührt<br />
gedankenverloren einen Latte macchiato. „Der Entschluss,<br />
meine Galerie zu schließen, kam wirklich von innen<br />
heraus.“ Er hat es versucht. Er ist<br />
gescheitert. Viele sollten noch nach ihm<br />
schließen. Giti Nourbakhsch etwa o<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Berliner Platzhirsch Martin Klosterfelde.<br />
Etwas scheint faul zu sein am Finanzplatz<br />
Kunst. „Der ganze Apparat<br />
ist aufgebläht. Vieles wird heiterer geredet,<br />
als es ist.“ Kaufmann weiß genau,<br />
wovon er da spricht. Er musste selbst<br />
noch im Straucheln groß sein: Am Erfolg<br />
gescheitert. Nicht am Markt und<br />
nicht an den Finanzen. „Manches von<br />
dem, was damals über die Schließung<br />
meiner Galerie in den Medien zu lesen<br />
gewesen ist, hat einfach nicht ganz <strong>der</strong><br />
Wahrheit entsprochen.“<br />
Doch das ist halt damals gewesen;<br />
vor knapp drei Jahren. Jetzt gibt es neue<br />
Wahrheiten über Ben Kaufmann. Jetzt ist <strong>der</strong> Ex-Galerist<br />
zurück. Zurück bei den Bil<strong>der</strong>n und den Talenten. Bei <strong>der</strong><br />
Kunst, die mehr sein will als Konsum o<strong>der</strong> Luxus. Seit letztem<br />
Sommer leitet er den „Neuen Aachener Kunstverein“ –<br />
ein Haus, das auch jenseits <strong>der</strong> Kaiserstadt einen Namen<br />
besitzt. Von <strong>der</strong> Marktseite ist Kaufmann auf die Institutionsseite<br />
gewechselt. Doch auch die ist längst nicht mehr<br />
vom Geld zu trennen: „Natürlich haben Künstler ein großes<br />
Interesse, in Kunstvereinen auszustellen. Das schafft<br />
Reputation und Aufmerksamkeit – und letztlich steigert es<br />
auch die kommerzielle Nachfrage.“<br />
ER ZIEHT SICH die Baseballkappe von seinem Kopf. Und<br />
dann erzählt er von <strong>der</strong> Verquickung zweier scheinbar getrennter<br />
Systeme: von Sammlern, die sich in Kunstvereinen<br />
engagierten, von Galeristen, die Ausstellungsproduktionen<br />
und Kataloge finanzierten. „Die Grenze zwischen<br />
dem Markt und den Institutionen ist ziemlich diffus geworden.<br />
In gewisser Weise besteht ein Abhängigkeitssystem.<br />
113<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
SALON<br />
Reportage<br />
Der Kunstmarkt stecke voller Tabus: Claudia Zölsch kennt ihn gut, war selbst Künstlerin. Heute berät sie Künstler in Krisensituationen<br />
114<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
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VOM OSMANISCHEN REICH<br />
ZUR UKRAINE<br />
Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong> (Seiten 108 bis 114), Torsten Warmuth (Autor)<br />
Eine große Koalition.“ Jede Wand scheint eben auch ein<br />
Marktplatz zu sein und jede Vernissage ein mittlerer Preissprung.<br />
Ben Kaufmann schaut wie<strong>der</strong> hinaus auf die Straße.<br />
Ein paar Hun<strong>der</strong>t Meter von hier lag das Glück. „Von <strong>der</strong><br />
Kunst“, sagt er, „wird immer so etwas Gutes erwartet.“ Die<br />
Kunst solle moralisch und ehrlich sein. „Am Ende aber ist<br />
<strong>der</strong> Rücken <strong>der</strong> Kunst vermutlich gar nicht groß genug, um<br />
all diesen Erwartungen standzuhalten.“<br />
AUCH CLAUDIA ZÖLSCHS RÜCKEN war wohl ein bisschen<br />
zu klein. Auch sie hat die Freiheit <strong>der</strong> Kunst vielleicht überschätzt.<br />
„Der Übergang von <strong>der</strong> Akademie in den Markt<br />
wollte mir damals einfach nicht richtig gelingen.“ Damals,<br />
als sie noch Künstlerin war. Dabei ist eine von Zölschs Arbeiten<br />
sogar auf <strong>der</strong> Documenta zu sehen gewesen; eine<br />
Performance von ihr und ihrer einstigen Partnerin Brigitte<br />
Mayer. „Fürstin Gloria hat uns die Hand geschüttelt“, sagt<br />
Zölsch mit einer Mischung aus Stolz und Verachtung.<br />
Das alles ist ja auch lang genug her. Kassel in den achtziger<br />
Jahren. Ein paar Monate <strong>der</strong> Geschmack des Erfolgs.<br />
Dann kamen beide an Grenzen. Mayer ist später die vierte<br />
»Sean McMeekin argumentiert in dieser mutigen und brillanten<br />
Frau von Heiner Müller geworden. Heute besitzt sie eine Galerie<br />
in Beverly Hills. Claudia Zölsch ist nach Berlin gegan<br />
war wie Deutschland. Mit einer Vielzahl von Quellen (…) belegt<br />
Studie, dass Russland ebenso verantwortlich für den Ausbruch<br />
er, dass die Russen ihre eigenen Ziele hatten – die Zerschlagung<br />
des österreichisch-ungarischen und des Osmanischen<br />
gen. Sie hat noch einmal studiert, hat neu begonnen. Heute<br />
leitet die 46-Jährige eine Coaching-Agentur für Künstler in<br />
Reichs.« Orlando Figes, Historiker in <strong>der</strong> Sunday Times<br />
Krisen. Künstler, die die Risse nicht mehr ertragen – die in<br />
<strong>der</strong> Kunst und die im Leben.<br />
EUROPAVERLAGBERLIN www.europa-verlag.com<br />
Dabei haben viele dieser Künstler noch immer ein großes<br />
Ziel vor Augen: Herauskommen aus <strong>der</strong> Hungerei. Das<br />
»Ein Film zum Nie<strong>der</strong>knien und Küssen.«<br />
aber sei harte Arbeit. Das sei ein extremer Druck. Manch<br />
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1_4_McMeekinII_<strong>Cicero</strong>.indd 1 08.07.2014 1<br />
mal kann sich Claudia Zölsch über den ganzen Zirkus richtig<br />
empören. Manchmal durchstreift ihren freundlichen<br />
Blick Wut: „Der Kunstmarkt“, sagt sie, „ist voller merkwürdiger<br />
Tabus: ‚Du sollst nicht über deine Arbeit reden!‘,<br />
‚Du sollst nicht gefallen wollen!‘, vor allem aber: ‚Du sollst<br />
nicht vor<strong>der</strong>gründig nach dem Geld gieren!‘“ Viele Künstler<br />
haben solche Sätze verinnerlicht. Für viele ist das Geld das<br />
Böse. Vielleicht, weil die ganze Welt heute nur noch vom<br />
Pekuniären redet. Jedes Gemälde ist längst ein Preisschild.<br />
Claudia Zölsch weiß, dass die Verteuflung des Geldes<br />
eigentlich Quatsch ist. Alles beruhe auf überkommenen<br />
Mythen. Das sage sie als Coach zu ihren Klienten. Doch<br />
man kann den Schleier nicht einfach wegziehen. „Das dürfen<br />
Sie auf gar keinen Fall! Der ganze Markt lebt von den<br />
Schizophrenien.“ Man kann den Riss nur ertragen lernen.<br />
Man kann ihn aushalten o<strong>der</strong> bewohnen. Manchmal kann<br />
man auch über ihn lachen. So wie Oscar Wilde in einem alten<br />
Bonmot: „Wenn Banker Banker treffen, reden sie über<br />
Kunst, wenn Künstler Künstler treffen, reden sie über Geld.“<br />
Vielleicht reden beide Gruppen aber auch längst vom Gleichen.<br />
Nur sagen, sagen dürfen sie das auf gar keinen Fall.<br />
RALF HANSELLE ist Kunstkritiker und wäre<br />
manchmal gerne Heiner Müller. Das Zusammenspiel<br />
von Kunst und Ökonomie verrät ihm viel über<br />
das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit in einer<br />
Gesellschaft<br />
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Dokufiction<br />
Ein Rockefeller aus Bayern<br />
Der amerikanische Schriftsteller Walter Kirn erzählt die Geschichte<br />
eines deutschen Hochstaplers, dem auch er selbst aufgesessen war<br />
Vor fünf Jahren geisterte <strong>der</strong> Name<br />
Christian Karl Gerhartsreiter<br />
erstmals durch die Schlagzeilen.<br />
Der Hochstapler, dessen aberwitzige Betrügereien<br />
über Jahrzehnte unentdeckt<br />
blieben, war 2008 bei dem Versuch, seine<br />
eigene Tochter zu entführen, endlich aufgeflogen.<br />
Der 1962 geborene Gerhartsreiter<br />
stammte aus einer Kleinstadt in Bayern,<br />
wan<strong>der</strong>te als 17-Jähriger in die USA<br />
aus und wechselte von da an Namen und<br />
Identitäten wie an<strong>der</strong>e die Socken. Mit<br />
unfassbarer Überzeugungskraft mimte<br />
er den Filmregisseur, den Großindustriellen,<br />
den alteuropäischen Aristokraten<br />
o<strong>der</strong> den Banker. Nun jedoch erhärtete<br />
sich <strong>der</strong> Verdacht, dass sich hinter den<br />
tausend Masken ein Monster verbarg:<br />
1985 wurde in einem Vorort von Los Angeles<br />
<strong>der</strong> 25-jährige John Sohus ermordet,<br />
die Leiche war in drei Teile zerteilt und<br />
wenige Meter von einem Gartenhaus vergraben,<br />
in dem damals ein verarmter britischer<br />
Landadeliger namens Christopher<br />
Chichester alias Gerhartsreiter zur Untermiete<br />
wohnte. Knapp 30 Jahre nach<br />
<strong>der</strong> Tat lagen dem Gericht lediglich Indizienbeweise<br />
vor, aber sie reichten aus,<br />
um die Geschworenen zu überzeugen.<br />
Im Sommer 2013 wurde Gerhartsreiter<br />
des Mordes schuldig gesprochen und zu<br />
27 Jahren Haft verurteilt.<br />
Zu den aufmerksamsten Prozessbeobachtern<br />
gehörte auch <strong>der</strong> Journalist<br />
und Schriftsteller Walter Kirn. An <strong>der</strong><br />
Schuld des Angeklagten bestand für ihn<br />
Foto: John Tlumacki/The Boston Globe via Getty Images<br />
116<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
ereits zu Beginn <strong>der</strong> Verhandlung keinerlei<br />
Zweifel. Kopfzerbrechen bereitete<br />
ihm dagegen die Frage, wie Gerhartsreiter<br />
es angestellt haben mochte, jeden, <strong>der</strong><br />
ihm seit den Achtzigern begegnet war, zu<br />
täuschen. Die gesamte New Yorker Oberschicht<br />
ging ihm auf den Leim, selbst<br />
die Frauen, die Gerhartsreiter heiratete,<br />
wussten nicht, wer ihr Ehemann in Wahrheit<br />
war. Über zehn Jahre hinweg war<br />
auch Walter Kirn davon überzeugt gewesen,<br />
dass er und Gerhartsreiter, dessen<br />
richtigen Namen er erst seit kurzem<br />
kennt, in einem beson<strong>der</strong>s vertrauensvollen<br />
Verhältnis zueinan<strong>der</strong> standen.<br />
In „Blut will reden“, einem schillernden<br />
Paradestück amerikanischer Erzählkunst<br />
in <strong>der</strong> Tradition des New Journalism,<br />
sucht Kirn nun nach Antworten. Mit<br />
dramaturgischem Geschick wechselt er<br />
zwischen faktentreuer Gerichtsreportage<br />
und tragikomischer Gewissenserforschung.<br />
Mit sich selbst geht er dabei<br />
mindestens ebenso harsch und ironisch<br />
ins Gericht wie mit dem kaltblütig mordenden<br />
Hochstapler.<br />
Alles hatte für Kirn 1998 mit einer<br />
querschnittsgelähmten, inkontinenten<br />
Setterdame namens Shelby begonnen:<br />
Gerhartsreiter, damals besser bekannt<br />
als Clark Rockefeller, hatte den Hund<br />
per Internet adoptiert. Und Kirn, <strong>der</strong> zu<br />
jener Zeit noch nicht daran gewöhnt war,<br />
von George Clooney, dem Hauptdarsteller<br />
in <strong>der</strong> Hollywoodverfilmung seines<br />
2001 erschienenen Romans „Up in the<br />
Air“, zu Partys eingeladen zu werden,<br />
brannte darauf, den tierlieben Spross einer<br />
<strong>der</strong> reichsten Dynastien aller Zeiten<br />
kennenzulernen. Nur allzu bereitwillig<br />
übernahm <strong>der</strong> 36-Jährige die strapaziöse<br />
Aufgabe, den Hund samt Hun<strong>der</strong>ollstuhl<br />
von Montana quer durch die USA<br />
zum barmherzigen Herrchen nach New<br />
York zu transportieren. Was dann folgte,<br />
liest sich wie eine Parabel auf die eigentümliche<br />
Fähigkeit des Menschen, all das,<br />
was seinem Wunschdenken wi<strong>der</strong>spricht,<br />
aus <strong>der</strong> urteilsbildenden Wahrnehmung<br />
herauszufiltern: Das für einen Rockefeller<br />
auffällig stümperhaft blondierte Haar,<br />
die karge, durchschnittlich eingerichtete<br />
Wohnung, die Abwesenheit von Personal,<br />
das lächerlich geringe Honorar für<br />
den Hundetransport – all die Details, die<br />
Kirns Misstrauen hätten wecken müssen,<br />
übersah er entwe<strong>der</strong> o<strong>der</strong> nahm sie als<br />
Der Junge aus<br />
dem hinterwäldlerischen<br />
Nichts folgte<br />
seinem american<br />
dream und<br />
hatte Erfolg:<br />
Er gab den<br />
Leuten, wonach<br />
sie sich sehnten<br />
Belege für die neoaristokratische Exzentrik<br />
des neuen Freundes.<br />
Auch aus den tieferen Motiven hinter<br />
seiner Gutgläubigkeit macht Kirn keinen<br />
Hehl: Er, <strong>der</strong> begabte Junge aus bescheidenen<br />
Verhältnissen, hatte mehr als einmal<br />
erfahren, wo die soziale Stufenleiter<br />
für ihn endete; sei es durch seine Upperclass-Kommilitonen<br />
in Princeton und Oxford,<br />
die ihn wie ein vulgäres Kuriosum<br />
behandelten, sei es durch seine mühsam<br />
eroberten glamourösen Freundinnen, die<br />
ihn nach kurzer Zeit wie<strong>der</strong> verließen.<br />
Und nun zählte <strong>der</strong> Inbegriff eines vermögenden<br />
Snobs zu seinen engsten Bezugspersonen:<br />
Genugtuung und soziale<br />
Aufstiegschance in einem. Ärgerlich fand<br />
Kirn es dennoch, wenn er nach einem Restaurantbesuch<br />
die Rechnung übernehmen<br />
musste – <strong>der</strong> Mann, den er für einen<br />
Multimilliardär hielt, hatte in <strong>der</strong> Regel<br />
sein Portemonnaie vergessen.<br />
Doch nicht nur sich selbst, auch <strong>der</strong><br />
amerikanischen Gesellschaft hält Kirn<br />
gnadenlos den Spiegel vor: Mit Beginn<br />
<strong>der</strong> Reagan-Ära waren die Tage von<br />
Beatlemania und Flower-Power-Folklore<br />
gezählt. Dafür brach sich nun die<br />
kollektive Faszination für Status, Klassenzugehörigkeit<br />
und britisches Teegebäck<br />
Bahn, die Bestsellerlisten wurden<br />
plötzlich von Etikette-Ratgebern gestürmt.<br />
Gerhartsreiter erwies sich als<br />
vollkommen immun gegen die humoristischen<br />
Facetten dieses Trends. Er lernte<br />
sämtliche Benimm-Bibeln auswendig,<br />
trug nur noch Mokassins und trainierte<br />
sich eine dauerpikierte Sprechweise an.<br />
Der Junge aus dem hinterwäldlerischen<br />
Nichts arbeitete hart an seiner Variante<br />
des amerikanischen Traumes und hatte<br />
Erfolg, weil er seinem Umfeld gab, wonach<br />
es sich sehnte.<br />
Im Jahr 2008 ließen die echten Rockefellers<br />
offiziell verkünden, dass sie<br />
keineswegs mit dem gerade inhaftierten<br />
Gerhartsreiter verwandt seien. In Kirns<br />
Buch wird er dafür zum Repräsentanten<br />
eines viel ehrwürdigeren Geschlechts erklärt<br />
– <strong>der</strong> großen Dynastie skrupelloser<br />
Sozialaufsteiger und krimineller Verwandlungskünstler,<br />
die ihr Hoheitsgebiet<br />
vor allem in <strong>der</strong> angloamerikanischen Literatur<br />
haben. Die eigentliche DNA des<br />
falschen Rockefeller findet sich folglich<br />
in Werken von Herman Melville, Agatha<br />
Christie und, ganz beson<strong>der</strong>s auffällig, in<br />
Patricia Highsmiths Roman „Der talentierte<br />
Mister Ripley“. Dies könnte nach<br />
<strong>der</strong> unzulässigen Glorifizierung eines<br />
kaltblütigen Mör<strong>der</strong>s klingen. Tatsächlich<br />
jedoch handelt es sich um Kirns raffinierten<br />
und unsentimentalen Versuch,<br />
mit Gerhartsreiter endgültig abzurechnen.<br />
So lag dem Hochstapler einst sehr<br />
viel an seiner „literarischen Immunität“.<br />
Im Namen <strong>der</strong> Freundschaft appellierte<br />
er an den gutgläubigen Walter Kirn, niemals<br />
über ihn zu schreiben. Der Schriftsteller<br />
versprach schweren Herzens, sich<br />
daran zu halten. Dem Buch, durch welches<br />
<strong>der</strong> Autor jetzt auf so lesenswerte<br />
Weise wortbrüchig wurde, ist als Motto<br />
ein Satz aus Fitzgeralds „Der große<br />
Gatsby“ vorangestellt: „Ein Schriftsteller,<br />
<strong>der</strong> nicht schreibt, ist im Grunde<br />
ein Wahnsinniger.“ Dass Christian Karl<br />
Gerhartsreiter, <strong>der</strong> durch permanente<br />
Überarbeitung seiner selbst jede Persönlichkeit<br />
verloren hat, hier zur halbliterarischen<br />
Figur degradiert wird, scheint<br />
nur folgerichtig: So konnte <strong>der</strong> Schriftsteller<br />
Kirn wie<strong>der</strong> Herr über den Wahnsinn<br />
werden, <strong>der</strong> ihm in <strong>der</strong> Realität wi<strong>der</strong>fahren<br />
ist. Marianna Lie<strong>der</strong><br />
Walter Kirn<br />
„Blut will reden“<br />
Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch<br />
C. H. Beck, München 2014. 282 S., 19,95 €<br />
117<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
SALON<br />
Literaturen<br />
Literatur und Politik<br />
Die Saat <strong>der</strong> Utopie<br />
In einer Anthologie beschwören türkische Autorinnen und<br />
Autoren den demokratischen Geist vom Gezi-Park<br />
Ein Präsident mit erweiterten Vollmachten?<br />
Als <strong>der</strong> türkische Ministerpräsident<br />
kürzlich durchblicken<br />
ließ, wie er sich seine künftige Rolle in<br />
<strong>der</strong> Politik vorstellt, dürfte es vielen Türken<br />
kalt den Rücken heruntergelaufen<br />
sein. Da hatten sie vor einem Sommer<br />
im <strong>Ist</strong>anbuler Gezi-Park die erste türkische<br />
Republik gegründet, die diesen<br />
Namen verdiente. Und diese historische<br />
Leistung soll nun in eine Erdogan-Demokratur<br />
münden?<br />
Wer ermessen will, wie sehr sich die<br />
politische Stimmung am Bosporus wie<strong>der</strong><br />
gedreht hat, sollte zu <strong>der</strong> „Gezi“-Anthologie<br />
greifen, die die Übersetzerin<br />
und Autorin Sabine Adatepe zusammengestellt<br />
hat. 21 Autorinnen und Autoren,<br />
Schriftsteller wie Murat Uyurkulak, Publizistinnen<br />
wie Ayfer Tunç o<strong>der</strong> Künstlerinnen<br />
wie Janset Karavin beschwören<br />
darin noch einmal den „Geist von Gezi“:<br />
das Gefühl von Freiheit, Menschlichkeit<br />
und Solidarität.<br />
Vor <strong>der</strong> Kulisse von heute wirkt das<br />
kreative Chaos dieser Tage, das die Fotografien<br />
von Selen Özer Günday ins<br />
Gedächtnis rufen, allerdings, als wäre<br />
es mittlerweile Lichtjahre entfernt.<br />
Man merkt den Texten dieser literarischen<br />
Anthologie – die vom offenen<br />
Brief über die Erzählung bis hin zum Gedicht<br />
reicht – an, dass sie unter dem unmittelbaren<br />
Eindruck <strong>der</strong> turbulenten Ereignisse<br />
des vorigen Jahres geschrieben<br />
wurden. Immer wie<strong>der</strong> kreisen sie um die<br />
Personen, die Orte und Parolen <strong>der</strong> vom<br />
türkischen Staat mitsamt seinen Polizeikräften<br />
so massiv bekämpften 14-Tage-<br />
Republik. In ihren in <strong>der</strong> „Gezi-Anthologie“<br />
versammelten Texten werden etliche<br />
Autoren daher nun rundheraus politisch.<br />
So etwa <strong>der</strong> kurdische Publizist Burhan<br />
Sönmez – in den 21 Thesen seines Manifests<br />
„Ästhetik des Wi<strong>der</strong>stands“ preist<br />
er den „Geschmack von Aufstand“ und<br />
die „Saat <strong>der</strong> Utopie“.<br />
An<strong>der</strong>e kleiden für jene Tage typische<br />
Erlebnisse in den Mantel <strong>der</strong> schnell gestrickten<br />
Erzählung. Meist um zu zeigen,<br />
wie das brutale Vorgehen <strong>der</strong> Staatsmacht<br />
die unpolitischen Mittelschichten politisiert<br />
hat. Die Autorin Nermin Yıldırım<br />
beschreibt in dem Zehn-Tage-Protokoll<br />
„Das Gezi-Tagebuch einer Mutter“, wie<br />
eine Frau zur Sympathisantin <strong>der</strong> Bewegung<br />
wird: „Na, was mein Sohn abkriegt,<br />
nehm ich auch, kein Problem.“ Die romantische<br />
Emphase solcher Texte springt<br />
einen heute ein wenig seltsam an, wenn<br />
da <strong>der</strong> Lyriker Cevat Çapan in seinem<br />
Gedicht „Haydar Haydar“ die Demonstranten<br />
als „Glühwürmchen mit nie verlöschendem<br />
Feuer“ preist. Dennoch bewahrt<br />
die verdienstvolle Textsammlung<br />
damit etwas von dem Geist jener Tage.<br />
Gelegentlich übersteigt sogar ein<br />
Text den realen Anlass auf poetische<br />
Weise. So verpackt Oya Baydar, die<br />
Grande Dame <strong>der</strong> gesellschaftskritischen<br />
Literatur <strong>der</strong> Türkei, die Sehnsucht<br />
<strong>der</strong> Demonstranten nach Freiheit<br />
und Selbstbestimmung in das Gleichnis<br />
von dem Kater Tschapaul. Das „warme,<br />
weiche Etwas“, das die Protagonisten<br />
von Baydars gerade mal vier Seiten langer<br />
Erzählung im Park finden und aufpäppeln,<br />
taufen sie entsprechend dem<br />
Schmähwort Erdogans einen „çapulcu“,<br />
einen Marodeur. Am Ende sind sie traurig,<br />
als das eigensinnige Tier das tut, was<br />
sie alle wollen: seiner eigenen Wege gehen.<br />
Als Präsident dürfte Recep Tayyip<br />
Erdogan diesem Wunsch freilich auch<br />
künftig entgegenstehen. Ingo Arend<br />
Sabine Adatepe (Hg.)<br />
„Gezi. Eine literarische Anthologie“<br />
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe<br />
und Monika Demirel.<br />
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Im Rachen <strong>der</strong> Macht<br />
Echt gruselig: Ein Krimi erzählt, wie es bei<br />
Rüstungsgeschäften in unserer Wirklichkeit zugeht<br />
Im Juni dieses Jahres wurde ein gigantischer<br />
Rüstungsdeal zwischen<br />
deutschen Firmen und <strong>der</strong> Republik<br />
Algerien von <strong>der</strong> Bundesregierung abgesegnet.<br />
Der zuständige Minister, Sigmar<br />
Gabriel, sah keine Möglichkeit, die Verträge<br />
zu stoppen, die die vorige Regierung<br />
ausgehandelt hatte: Schließlich sei<br />
Algerien ja kein Bürgerkriegsland. Die<br />
Arabellion hat auf den Mittelmeerstaat<br />
nicht übergegriffen, die USA schätzen<br />
ihn im Kampf gegen den Terror – alles<br />
scheint im seit 1999 von <strong>der</strong> „Nationalen<br />
Befreiungsfront“ diktatorisch regierten<br />
Algerien zum Besten zu stehen.<br />
Dass es sich de facto ganz an<strong>der</strong>s verhält,<br />
liegt auf <strong>der</strong> Hand: Weshalb sollte<br />
<strong>der</strong> <strong>Islam</strong>ismus ausgerechnet um dieses<br />
an Gas und Öl reiche Land einen Bogen<br />
machen? Und weshalb sollte es gegen das<br />
Regime keine wachsende militante Opposition<br />
geben? Aber wer berichtet uns<br />
davon? Oliver Bottini, vielfach preisgekrönter<br />
deutscher Krimi-Autor, tut es in<br />
seinem grandios erzählten, superspannenden<br />
Roman „Ein paar Tage Licht“.<br />
Als die Romanhandlung im Oktober<br />
2012 beginnt, ist <strong>der</strong> Abgesandte eines<br />
deutschen Rüstungskonzerns, bewacht<br />
von einer Eskorte des algerischen Verteidigungsministeriums,<br />
gerade in <strong>der</strong><br />
malerischen Stadt Constantine eingetroffen;<br />
am nächsten Tag soll er die Arbeit<br />
in einer Panzerfabrik aufnehmen.<br />
Doch so weit kommt es nicht, er wird verschleppt<br />
– <strong>der</strong> Verdacht, dass die Entführer<br />
nicht <strong>der</strong> „Al Qaida im islamischen<br />
Maghreb“ angehören, wird sich erst später<br />
abzeichnen. Eine Spur dafür legt allerdings<br />
schon <strong>der</strong> Prolog des Romans,<br />
<strong>der</strong> am 27. September 1995 in Algier<br />
einsetzt. Er führt in die Zeit des Bürgerkriegs<br />
zurück, als <strong>der</strong> Vater des kleinen<br />
Djamel von Soldaten ins berüchtigte Gefängnis<br />
Serkadji geschafft wurde – nur<br />
seine Brille blieb im Hauseingang zurück,<br />
ein Erinnerungssymbol für die radikalisierte<br />
junge Generation.<br />
Doch nicht nur auf Geschichte und<br />
Gegenwart des innerlich heillos zerrissenen<br />
Algerien lenkt Bottini unsere Aufmerksamkeit.<br />
An<strong>der</strong>e wesentliche Schauplätze<br />
liegen in <strong>der</strong> Bundesrepublik: in<br />
Schwaben, wo die deutsche Waffenfirma<br />
des Entführten beheimatet ist, in <strong>der</strong> Gegend<br />
um Lüneburg, wo Djamels aus Algerien<br />
geflohener Großvater lebt, und in<br />
Berlin natürlich, wo in den Ministerien<br />
mit harten Bandagen um die Durchsetzung<br />
algerischer Waffenkäufe gekämpft<br />
wird. Dort ist auch die Zentrale angesiedelt,<br />
<strong>der</strong> gegenüber <strong>der</strong> BKA-Mann an<br />
<strong>der</strong> Botschaft in Algier, Ralf Eley, sich<br />
für seine Eigenmächtigkeit zu verantworten<br />
hat: Nachdem <strong>der</strong> deutsche Waffenspezialist<br />
verschwunden ist, nimmt<br />
Eley die Ermittlungen auf eigene Faust<br />
auf – jenseits <strong>der</strong> Augen-zu-Politik <strong>der</strong><br />
Regierung, jenseits ebenso <strong>der</strong> allseitigen<br />
geheimdienstlichen Aktivitäten. Dabei<br />
gerät auch seine Geliebte, die junge<br />
algerische Staatsanwältin Amel, in Gefahr,<br />
die selbst in die Ereignisse weit tiefer<br />
verwickelt ist, als Eley ahnen konnte.<br />
Am Ende besteht wenigstens Hoffnung<br />
für die Liebe. Doch haben etliche<br />
Menschen ihr Leben verloren – wegen<br />
<strong>der</strong> Gier nach Geld ebenso wie wegen<br />
des Kampfes um die Macht. Wir Leser<br />
aber nehmen einen tiefen Einblick in die<br />
teils nahtlose Verflechtung zwischen Politik<br />
und Wirtschaft. Was da schließlich<br />
bleibt: die Hoffnung auf die Wi<strong>der</strong>standskraft<br />
des moralisch handelnden Einzelnen.<br />
<strong>Ist</strong> das ermutigend? Ja, auch. FMG<br />
Oliver Bottini<br />
„Ein paar Tage Licht“<br />
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»Ein großer amerikanischer Roman<br />
in <strong>der</strong> Gestalt eines monumentalen<br />
Sachbuchs.« The Times<br />
Der Bestseller aus den USA –<br />
Das epochale Buch<br />
zur Lage <strong>der</strong> Nation !<br />
Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Abwicklung begann – wann die<br />
Bürger Amerikas zum ersten Mal spürten, dass die Bande sich lösten. Dass <strong>der</strong><br />
Glaube an die gemeinsame Zukunft nicht mehr gültig ist. Mittels eindringlicher<br />
Portraits schafft George Packer eine einzigartige literarische Collage, die eine<br />
Nation in Auflösung zeigt. Ein Buch, das auch uns die wesentliche Frage stellt:<br />
In welcher Welt wollen wir leben?<br />
Aus dem Amerikanischen von Gregor Hens,<br />
512 Seiten, gebunden, € (D) 24,99
SALON<br />
Literaturen<br />
Rausch und Poesie<br />
Blau ist alles<br />
Sehnen hier<br />
Rüdiger Görner deutet<br />
Georg Trakl als Dichter<br />
<strong>der</strong> Entschleunigung.<br />
Mit toxischem Schaffen<br />
wehrte er sich gegen<br />
eine nervöse Zeit<br />
Die Sonne? Begraben im Wald. Der rote Wolf? Vom Engel<br />
gewürgt. Die blaue Taube? Mit zerschnittener Kehle<br />
am Boden. Aber das Kind? Blutend. So geht es zu in<br />
<strong>der</strong> dichterischen Welt des Georg Trakl, <strong>der</strong> vor hun<strong>der</strong>t Jahren<br />
aus einem sehr kurzen Leben schied, das stattfand im Wort,<br />
in <strong>der</strong> Farbe, <strong>der</strong> Melodie – und fast nirgends sonst. Darum ist<br />
Trakl Zeitgenosse <strong>der</strong> Trauernden und Träumenden bis heute.<br />
Natürlich „Tabu“ hieß <strong>der</strong> Film über ihn und seine Schwester<br />
Grete und <strong>der</strong>en engstes Verhältnis, und natürlich gab Lars<br />
Eidinger den Trakl mit jener „singenden Flamme im Herzen“,<br />
die ihn früh verbrannte, denn „mein ganzes Leben taugt nicht.<br />
Ich hab zu viel Ballast.“ Im Spielfilm tauschen Georg und Grete<br />
Zungenküsse unter Sommerregen, pressen den Leib aneinan<strong>der</strong>,<br />
suchen die „dunkle Liebe eines goldnen Geschlechts“. In<br />
Rüdiger Görners Buch, einer Studie, keiner Biografie, lautet<br />
<strong>der</strong> Befund: „Nichts beweist den vollzogenen Inzest, wohl aber<br />
den imaginierten.“ Generell seien die Spuren spärlich, „zu vieles<br />
in seinem kurzen Leben verweigert sich <strong>der</strong> Biografie und<br />
darstellen<strong>der</strong> Schlüssigkeit.“<br />
Das Schlüsselloch bleibt geschlossen. Die Scheinwerfer des<br />
Literaturwissenschaftlers sind gerichtet auf Trakls „toxisches<br />
Schaffen“. Die Frage lautet, wie es dem suchtkranken Dichter<br />
aus Salzburg gelang, eine Lyrik zu verfassen, „die ihrerseits<br />
bestimmte Gemüter süchtig machte und wohl auch machen<br />
sollte“. Auf welchen Pfeilern ruht die von Görner eindrücklich<br />
bewiesene „beispiellose Verfallsradikalität“? Schon in jungen<br />
Jahren war Trakls Dichten ein Dichten zum Ende hin, malte<br />
er „des Todes reine Bil<strong>der</strong>“.<br />
Zwei Antworten gibt <strong>der</strong> in London lehrende Görner: Trakl<br />
ließ sich anregen, ja, „wollte sich beeinflussen lassen“, von Verlaine,<br />
Rimbaud, Baudelaire und Nietzsche, die das „Einsamkeitsverhängnis“<br />
gerade so ausbuchstabiert hatten, wie ihm<br />
es sich auf die Seele legte. Wenn Trakl ganz Text war, dann<br />
war sein Ich nur als Kreuzungspunkt mannigfacher Textwelten<br />
momentweise zu haben – und dann zerstob es wie<strong>der</strong>, gab<br />
es „keine wirkliche Ausprägung einer Persönlichkeit (…), we<strong>der</strong><br />
im Werk noch im Leben“.<br />
Auch ein Sommer weiß wenig von <strong>der</strong> Heiterkeit: Georg<br />
Trakl am Strand von Venedig, im Jahr vor seinem Tod<br />
Zweitens sah Trakl den Dichter, wie er in „Hohenburg“<br />
schrieb, „ferne dem Getümmel <strong>der</strong> Zeit“. Rimbaud hatte zuvor<br />
gefragt, „warum eine mo<strong>der</strong>ne Welt, wenn solche Gifte erfunden<br />
werden?“ Trakl nahm in seinen Gedichten, diesen funkelnden<br />
Entgiftungen, die Mo<strong>der</strong>ne zu sich und wi<strong>der</strong>stand ihr<br />
zugleich. An diesem Bruch zerbrach er. Er setzte die ins Gedicht<br />
gerettete, aus den Formen des Spätbarock schöpfende<br />
Schönheit wi<strong>der</strong> das Schrille <strong>der</strong> Jetztzeit, entschleunigte, wo<br />
die Geschwindigkeit herrschte, war antinervös im Zeitalter <strong>der</strong><br />
Hysterie. Görner leitet die Ungleichzeitigkeit Trakls präzise<br />
aus den Gedichten ab und liefert so, trotz manch ausladen<strong>der</strong><br />
Textarbeit, eine erhellende Neuvermessung dieses Kontinents<br />
<strong>der</strong> Selbstentsagung.<br />
Schönheit als Wi<strong>der</strong>stand, unter des Himmels „blauer Glocke“<br />
wilden Vögeln folgen „nach jenen Län<strong>der</strong>n, schönen, an<strong>der</strong>n“,<br />
damit einmal endlich „dies trauervolle, müde Herz“<br />
die Freude des Grüns erblickt: Trakl fehlt. Er starb in seinem<br />
28. Jahr. Alexan<strong>der</strong> Kissler<br />
Rüdiger Görner<br />
„Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt<br />
<strong>der</strong> Extreme“<br />
Zsolnay, Wien 2014. 352 S., 24,90 €<br />
Foto: Forschungsinstitut Brenner-Archiv/Universität Innsbruck<br />
120<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
SEIT 110 JAHREN<br />
NICHTS ALS<br />
WASSER, WIND<br />
UND WELLEN.<br />
SPANNENDER GEHT’S NICHT.<br />
© Foto: Nico Krauss<br />
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SALON<br />
Bibliotheksporträt<br />
ZWAR NOCH AM LEBEN.<br />
DOCH LEIDER<br />
Der Humorist und Autor Herbert Feuerstein liebt die<br />
amerikanische Literatur, zerstritt sich einst mit Thomas Bernhard,<br />
erfand „Lechz“ und „Hechel“ und schreibt seine Autobiografie<br />
Von BJÖRN EENBOOM<br />
Eigentlich bleibt die Tür zur Bibliothek verschlossen. Hoch oben in einem<br />
vollbepackten Ärztehaus <strong>der</strong> Kölner Vorstadt residiert in einem nicht<br />
einsehbaren Penthouse <strong>der</strong> „am besten versteckte große Künstler des deutschen<br />
Humorgewerbes“, wie es die Süddeutsche Zeitung einmal formulierte.<br />
Herbert Feuerstein gilt als scheu. Er macht keine Homestorys. Ein Fotograf<br />
in den eigenen vier Wänden ist ein Fall für den Kammerjäger, gibt Feuerstein<br />
zu. Umso offener heißt er den Gast willkommen und kredenzt Pu-<br />
Erh-Tee auf <strong>der</strong> geräumigen Dachterrasse: „Das ist ein Schanghaier Snobtee.<br />
Man muss den ersten Aufguss weggießen und dann noch mal etwas warten.<br />
Für diese Teezeremonie habe ich aber gerade nicht das richtige Kostüm.“<br />
So bekannt, wie das Fernsehen ihn mit Sendungen wie „Schmidteinan<strong>der</strong>“,<br />
„Pssst“ o<strong>der</strong> „Was bin ich?“, oft an <strong>der</strong> Seite Harald Schmidts, auch<br />
machte, so wenig misst er dem medialen Ruhm Bedeutung bei. „Ich habe<br />
mich immer als Schreibenden gesehen. Nicht als Literaten, <strong>der</strong> sich ergießen<br />
kann, son<strong>der</strong>n als Handwerker, vom Journalismus geprägt.“<br />
Aufgewachsen in den vierziger Jahren in Salzburg, lernte Feuerstein<br />
rasch lesen. „Es gab eine fürchterliche Begegnung mit einem entsetzlichen<br />
Judenbuch, einem Hassbuch für Kin<strong>der</strong>. Tenor war die Parallele zur Tierwelt:<br />
So wie es Nutztiere und Schädlinge gibt, gibt es gute und schlechte Menschen.<br />
Meine Eltern waren Nazis, ich bin notgedrungen damit konfrontiert<br />
worden. Das führte zu einem lebenslangen Konflikt mit dem Vater.“ Das<br />
erste Buch, das Feuerstein begeistert in <strong>der</strong> Nachkriegszeit las, war Mark<br />
Twains „Die Abenteuer des Tom Sawyer“. Das Jugendabenteuer wurde <strong>der</strong><br />
Beginn einer tiefen Verbundenheit zur amerikanischen Literatur.<br />
In <strong>der</strong> väterlichen Bibliothek entdeckte er Alexandre Dumas. „Neben<br />
dem ‚Graf von Monte Christo‘ schrieb Dumas bizarre Geschichten. ‚Akte,<br />
die Sklavin Neros‘ blieb mir in Erinnerung. Es enthält Zeichnungen halb<br />
nackter Mädchen. Damit hat mich mein Vater erwischt und den Dumas<br />
weggesperrt. Ich habe aber den Schlüssel gefunden und mir das komplette<br />
Werk angelesen. Noch in <strong>der</strong> Vorpubertät!“, sagt Feuerstein fast triumphierend,<br />
erhebt sich, verschwindet in <strong>der</strong> Abstellkammer, kehrt mit einer Leiter<br />
123<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
zurück, steigt empor und greift zum Buch: „Nun näherte sich Sabina <strong>der</strong><br />
Herrin, die sich nicht mehr weigerte, son<strong>der</strong>n selbst die Klei<strong>der</strong> abzustreifen<br />
begann. Eine Hülle nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en sank zu ihren Füßen, bis sie nackt und<br />
errötend dastand wie eine schamhafte Venus …“ Lachend steigt er herab.<br />
In <strong>der</strong> linken Hälfte <strong>der</strong> Bücherwand steht englischsprachige Literatur.<br />
Kürzlich hat Feuerstein Sylvia Plaths „Die Glasglocke“ wie<strong>der</strong>entdeckt.<br />
Auch Biografien haben es ihm angetan. Wie jene über Emanuel Schikane<strong>der</strong>.<br />
„Die Faszination an Biografien wächst, wenn man älter wird. Man zieht Vergleiche<br />
und freut sich, wenn jemand noch mehr gelitten hat als man selber.<br />
Das Einzige, worum ich diese Leute beneide, ist, dass sie schon tot sind.“<br />
In <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Bibliothek befinden sich die Werke befreundeter Autoren,<br />
Romane von Else Buschheuer, Bernhard, Jelinek. Auf Thomas Bernhard<br />
traf Feuerstein früh. Nach <strong>der</strong> Schule führte ihn <strong>der</strong> Weg ans Mozarteum<br />
in Salzburg, wo er Klavier, Cembalo und Komposition studierte. Bernhard<br />
nahm Unterricht in Schauspielkunst und Dramaturgie: „Ich habe Bernhard<br />
auf <strong>der</strong> Bühne gesehen. Er spielte alte Männer. Da war er <strong>der</strong> Gütige, <strong>der</strong><br />
Märchenkönig. Ich habe ihn sehr vor Augen als Schauspieler.“<br />
Die Bekanntschaft zu Bernhard nahm aber ein jähes Ende. An Feuersteins<br />
Abschiedsabend, ehe er für die nächsten zehn Jahre in sein New<br />
Yorker Exil entschwand, parodierte er 1960 Bernhards Gedichte – in dessen<br />
Anwesenheit. Ein <strong>böse</strong>r Disput entstand, beim drauffolgenden Treffen<br />
in einem Café kam es zum Bruch. „Ich habe ihn dann zufällig wie<strong>der</strong>gesehen,<br />
auf <strong>der</strong> Kärntner Straße in Wien, drei Jahre vor seinem Tod. ‚Servus<br />
Feuerstein, was machst’n?‘, fragte Bernhard. ‚Ja, nix. Und du?‘, entgegnete<br />
ich. ‚Gar nix.‘ Das waren Bernhards letzte Worte.“<br />
Rechts im Bücherschrank befinden sich Bücher, die mit ihm zu tun haben.<br />
Aus seiner Zeit als Leiter beim Pardon-Verlag Bärmeier & Nikel o<strong>der</strong><br />
Auftragsbücher, etwa die deutsche Übersetzung von Yoko Onos „Grapefruit“,<br />
o<strong>der</strong>, mittig thronend, die legendären Mad-Magazine, die er als Chefredakteur<br />
bis 1992 betreute. Die von ihm geschaffenen sogenannten Inflektive<br />
wie „Lechz“, „Hechel“, „Würg“ wurden Bestandteil <strong>der</strong> Jugendkultur.<br />
Neben dem für Inflektive formulierten „Erikativ“ zu Ehren <strong>der</strong> Micky-<br />
Maus-Übersetzerin Erika Fuchs müsste es längst einen „Herbativ“ geben.<br />
Ganz ohne Fernsehen geht es nicht. Feuerstein holt eine Dichterlesung<br />
mit dem Autor Wolfgang Bauer. Die Künstler tourten mit dem Gedichtband<br />
„Das stille Schilf“, vor über 40 Jahren. In Berlin produzierte <strong>der</strong> Rias<br />
eine Aufnahme. Darauf zu sehen ist in Schwarz-Weiß ein schlaksiger, langhaariger<br />
Feuerstein, <strong>der</strong> die Lesung an einer kleinen Orgel furios begleitet.<br />
Der Tee ist getrunken, die Dachterrasse menschenleer. Feuerstein steckt,<br />
wie er sagen würde, knöcheltief in <strong>der</strong> Arbeit an seiner Autobiografie. „Die<br />
neun Leben des Herrn F.“ wird Anfang Oktober erscheinen. Ob dem leidenschaftlichen<br />
Hobbypiloten das Schreiben wohl so rasant von <strong>der</strong> Hand geht<br />
wie ein Aufstieg in die Lüfte? „Nein, ich bin immer kurz vor dem Absturz.“<br />
BJÖRN EENBOOM schätzt wie Herbert Feuerstein die amerikanische Literatur<br />
124<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Foto: Frank Schoepgens für <strong>Cicero</strong>
SALON<br />
Hopes Welt<br />
VON GEIGEN UND ANDEREN MORDINSTRUMENTEN<br />
Wie ich einmal über den Lüften begriff, dass die Liebe zur Musik<br />
immer neue Hin<strong>der</strong>nisse bewältigen muss<br />
Von DANIEL HOPE<br />
An<strong>der</strong>s als Sänger müssen Instrumentalisten<br />
nicht nur für sich selbst, son<strong>der</strong>n<br />
auch für ihr Instrument auf <strong>der</strong> Hut sein.<br />
Wir Geiger wissen davon ein Lied zu singen,<br />
denn gute Violinen sind ebenso empfindlich und<br />
zerbrechlich wie wertvoll. Eine Beinahe-Katastrophe<br />
erlebte Geigerkollege Philippe Quint, als<br />
er seine Stradivari in einem New Yorker Taxi<br />
liegen ließ. Einen halben Tag lang blieb das millionenschwere<br />
Instrument unbemerkt auf dem<br />
Rücksitz liegen, ehe es Quint unter Freudentränen<br />
bei dem Fahrer abholen konnte.<br />
Wie ihm zumute war, kann ich leicht nachfühlen.<br />
Auf Reisen bleibt mein Instrument stets<br />
in meiner unmittelbaren Nähe. Es ist für mich<br />
völlig selbstverständlich, die Geige bei Flügen<br />
mit in die Kabine zu nehmen, statt sie den ruppigen<br />
Transportbedingungen von Koffern auszusetzen.<br />
Seit einiger Zeit ist das jedoch nicht mehr<br />
so einfach. Zum einen wurden Höchstmaße für<br />
Handgepäckstücke festgelegt, denen Geigen<br />
kaum gerecht werden können. Welcher Geigenkasten<br />
kommt schon mit <strong>der</strong> zulässigen Maximallänge<br />
von 45 Zentimetern aus? Einzelne Fluggesellschaften<br />
sind dazu übergegangen, nicht mehr<br />
nur für dickleibige Celli, son<strong>der</strong>n auch für die<br />
deutlich schlankeren Violinen eigene Sitzplätze<br />
vorzuschreiben.<br />
Die Einreise nach Amerika wird immer wie<strong>der</strong><br />
zum Erlebnis. Nachdem mich jüngst die<br />
Dame am Schalter mit <strong>der</strong> Frage begrüßt hatte,<br />
warum ich denn hier sei, und ich erklärte, Konzerte<br />
spielen zu wollen, antwortete sie: „Ich habe<br />
auch Geige gespielt.“ Dann streichelte sie die<br />
Pistole an ihrer Hüfte: „Aber ich habe sie gegen<br />
diese Waffe eingetauscht.“<br />
Auch die verschärften Sicherheitsbestimmungen<br />
im Luftverkehr sind problematisch. Es<br />
kam schon vor, dass Ersatzsaiten o<strong>der</strong> Cellostachel<br />
als mögliche Mordinstrumente konfisziert<br />
wurden. Seit dem 1. April 2014 gibt es ein neues<br />
Problem: Geigenbögen, die häufig an <strong>der</strong> Spitze<br />
mit Elfenbein verstärkt sind, dürfen aufgrund<br />
strenger Artenschutzbestimmungen in den USA<br />
ab sofort we<strong>der</strong> ein- noch ausgeführt werden. Es<br />
sei denn, man besitzt ein kaum zu beschaffendes<br />
Dokument, das bezeugt, dass das Material vor<br />
den Handelsverboten verbaut wurde o<strong>der</strong> aber<br />
aus registrierten Altbeständen stammt.<br />
Um es noch komplizierter zu machen, sind<br />
neben Elfenbein auch Schildpatt und geschütztes<br />
Rio-Palisan<strong>der</strong> verboten, ein Tropenholz, das gelegentlich<br />
im Geigenbau vorkommt. Die Münchner<br />
Philharmoniker erlebten es während ihrer<br />
US-Tournee im Mai 2014, als sämtliche Bögen<br />
am Flughafen beschlagnahmt wurden. Erst nach<br />
Einschalten <strong>der</strong> deutschen Botschaft wurden die<br />
Instrumente freigegeben.<br />
Dass gütliches Einvernehmen manchmal<br />
dennoch möglich ist, habe ich neulich auf einer<br />
Reise nach Toronto erlebt. Nach längerer Diskussion<br />
gab ein Pilot von Air Canada endlich<br />
das Einverständnis, meine Geige in <strong>der</strong> Kabine<br />
zu behalten. Allerdings unter einer Bedingung:<br />
„Ich muss Sie bitten, während des Fluges nicht<br />
zu spielen!“<br />
DANIEL HOPE ist Violinist von Weltrang und schreibt<br />
jeden Monat in <strong>Cicero</strong>. Sein Memoirenband „Familienstücke“<br />
war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch<br />
„Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in <strong>der</strong> Musik“<br />
( Rowohlt ) und die CD „Spheres“. Er lebt in Wien<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
126<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Nehmt euch Zeit. Mut zur Muße!<br />
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Jetzt im Handel und im
SALON<br />
Foto: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong><br />
128<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
Die letzten 24 Stunden<br />
Mit Omas<br />
Reisestiefeln<br />
auf die letzte<br />
große Fahrt<br />
VERA<br />
LENGSFELD<br />
Vera Lengsfeld<br />
Sie wehrte sich gegen<br />
die Obrigkeit <strong>der</strong> DDR.<br />
1988 wurde sie verhaftet<br />
und in den Westen ab -<br />
geschoben. Von 1990 bis<br />
2005 saß sie im Bundestag,<br />
erst für Bündnis 90/Die<br />
Grünen, dann für die CDU.<br />
Heute ist sie Autorin<br />
Als ich von <strong>Cicero</strong> die Anfrage<br />
für diese Rubrik bekam,<br />
habe ich spontan gedacht:<br />
„Auweia, darüber<br />
hast du dir noch nie den<br />
Kopf zerbrochen.“ Doch dann fiel mir<br />
sofort wie<strong>der</strong> ein, warum ich mir über<br />
das definitive Ende während <strong>der</strong> zweiten<br />
Hälfte meines Lebens bisher keine Gedanken<br />
gemacht hatte. Weil nämlich das,<br />
was man einst Ars moriendi, die Kunst<br />
des Sterbens, genannt hat, für mich seit<br />
genau 34 Jahren feststeht. Damals war<br />
ich 28 Jahre alt, und meine Großmutter<br />
starb. Diese Großmutter hat in meiner<br />
ersten Lebenshälfte eine beson<strong>der</strong>s wichtige<br />
Rolle gespielt. Sie war für mich beinahe<br />
wichtiger als meine Eltern.<br />
In meiner Kindheit bin ich wegen<br />
<strong>der</strong> Berufstätigkeit <strong>der</strong> Eltern sehr oft<br />
bei meiner Großmutter in Thüringen gewesen.<br />
Ich habe später als Teenager und<br />
junge Frau engen Kontakt zu ihr gehalten.<br />
Auch als ich schon in Berlin lebte, bin<br />
ich in jeden Ferien zu ihr gefahren. Und<br />
wann immer ich es einrichten konnte,<br />
auch außerhalb <strong>der</strong> Ferienzeit. Diese<br />
thüringische Großmutter war seinerzeit<br />
die wichtigste Person in meinem Leben.<br />
Im Frühsommer 1980 war ich wie<br />
gewöhnlich bei ihr. Wir hängten gemeinsam<br />
die Wäsche auf. Da hielt sie plötzlich<br />
inne und sagte zu mir: „Du, Vera, guck<br />
mal auf meine Beine.“ Und da hab ich<br />
geguckt. Sie fragte: „Fällt dir was auf?“<br />
„Ja“, sagte ich, „deine Beine sind so geschwollen.“<br />
Darauf erwi<strong>der</strong>te sie: „Die<br />
alten Leute in meinem Dorf haben dazu<br />
immer gesagt, man hat sich die Reisestiefel<br />
angezogen. Und du siehst“, fuhr<br />
sie fort, „jetzt ist es bei mir auch so weit.<br />
Das sind meine Reisestiefel. Die Reise<br />
wird bald losgehen.“<br />
Natürlich habe ich protestiert: „Nein.<br />
Das ist Quatsch. Das ist Aberglauben.<br />
Das muss nicht sein.“ Sie aber hat dagegengehalten:<br />
„Gewöhn dich lieber beizeiten<br />
daran, Vera. Än<strong>der</strong>n kannst du ohnehin<br />
nichts. Dann fällt es dir nachher nicht<br />
so schwer, wenn es bei mir mit dem Sterben<br />
so weit ist.“<br />
Ich musste bald wie<strong>der</strong> weg. Meine<br />
Großmutter hat in diesem Sommer nacheinan<strong>der</strong><br />
alle ihre Enkelkin<strong>der</strong>, zu denen<br />
sie wie zu mir ein sehr gutes Verhältnis<br />
hatte, zu sich eingeladen, um<br />
sich von jedem einzelnen Enkelkind zu<br />
verabschieden und uns auf ihren bevorstehenden<br />
Tod vorzubereiten. Am Ende<br />
dieses Sommers hat sie sich schließlich<br />
ins eigene Bett gelegt und ist dort<br />
gestorben.<br />
Mein Großvater allerdings, ein tatkräftiger,<br />
energischer Mann, wollte diesen<br />
Tod nicht akzeptieren. Als sie sich<br />
auch von ihm verabschiedet hatte und<br />
hoch ins Schlafzimmer ging, um sich<br />
zum Sterben hinzulegen, ist mein Großvater<br />
sofort zum Telefon gestürzt, um<br />
das Krankenhaus anzurufen. Allerdings<br />
hatte sich das Telefon mit meiner Großmutter<br />
verbündet. Es funktionierte ausgerechnet<br />
in diesem so wichtigen Moment<br />
nicht.<br />
Da ist dann meine ebenfalls gerade<br />
anwesende Cousine in die Stadt gerannt,<br />
um im dortigen Krankenhaus Hilfe zu<br />
holen. Aber obwohl sie eine gut trainierte<br />
Sportlerin war, brauchte sie für<br />
den Weg mehr als 20 Minuten. Und bis<br />
man sich im Krankenhaus sortiert hatte<br />
und losfuhr, verging wie<strong>der</strong>um Zeit. Als<br />
<strong>der</strong> Krankenwagen schließlich am Haus<br />
meiner Großeltern ankam, war meine<br />
Großmutter gestorben.<br />
Damals habe ich mir fest vorgenommen:<br />
Genauso willst du es auch einmal<br />
machen. Genauso willst du auch einmal<br />
sterben. Und dieser Wunsch, es in <strong>der</strong><br />
Ars moriendi meiner Großmutter gleichzutun,<br />
hat seine Gültigkeit bis zum heutigen<br />
Tag nicht verloren.<br />
Aufgezeichnet von INGO LANGNER<br />
129<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
POSTSCRIPTUM<br />
N°-8<br />
DENKMAL<br />
Die Nationalmannschaft hat vier Wochen<br />
gebraucht, um dem deutschen<br />
Fußball in Brasilien ein Denkmal zu<br />
setzen. Über das sogenannte Freiheitsund<br />
Einheitsdenkmal wird seit nunmehr<br />
16 Jahren nachgedacht, und je konkreter<br />
die Planungen dafür werden, desto groteskere<br />
Formen nimmt dieses Vorhaben<br />
auf den ersten Blick an. Dass nach mehreren<br />
Anläufen und diversen Wettbewerbsverfahren<br />
ausgerechnet eine riesenhafte<br />
Wippe „an die friedliche Revolution im<br />
Herbst 1989 und an die Wie<strong>der</strong>gewinnung<br />
<strong>der</strong> staatlichen Einheit Deutschlands“<br />
( so <strong>der</strong> Wortlaut des entsprechenden Bundestagsbeschlusses<br />
) erinnern soll, stellt<br />
schon für sich genommen eine Denkwürdigkeit<br />
dar. Aber es sind eher Details, die<br />
aus dem Denkmalprojekt inzwischen ein<br />
vermeintliches Mahnmal <strong>der</strong> Ineffizienz<br />
verschlungener Kompetenzen unter beson<strong>der</strong>er<br />
Berücksichtigung diverser Partikularinteressen<br />
haben werden lassen.<br />
Vielleicht wäre es ja in Wahrheit gar<br />
kein schlechtes Zeichen, sollte die „Einheitsschaukel“<br />
auf dem Berliner Schlossplatz<br />
we<strong>der</strong> fristgerecht zum 25. Jahrestag<br />
<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung noch überhaupt je<br />
fertig gebaut werden. Und zwar weniger<br />
aus ästhetischen Gründen o<strong>der</strong> wegen einer<br />
drohenden Überfrachtung <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
mit Denkmälern aller Art. Son<strong>der</strong>n<br />
vielmehr, weil eine Leerstelle den demokratischen<br />
Entscheidungsprozess am Ende<br />
besser symbolisiert als jedes gut gemeinte<br />
Monument. Und ein Denkmal zur Erinnerung<br />
an die Wende ist ja – in welcher<br />
Form auch immer – zweifelsfrei zunächst<br />
einmal Ausdruck des Stolzes über die in<br />
Ostdeutschland erstrittene Demokratie.<br />
Demokratische Strukturen sind kompliziert,<br />
weil sie einen ständigen Interessenabgleich<br />
unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen<br />
erfor<strong>der</strong>n. Im Fall des<br />
Freiheits- und Einheitsdenkmals werden<br />
jetzt eben Einwände von Naturschützern<br />
( wegen einer dort ansässigen Fle<strong>der</strong>maus<br />
), von Behin<strong>der</strong>ten ( die Besucherrampe<br />
ist nicht rollstuhlgerecht ) und von<br />
Denkmalschützern ( am Sockel wie<strong>der</strong>entdeckte<br />
Mosaiken aus <strong>der</strong> Kaiserzeit )<br />
erhoben. In je<strong>der</strong> Diktatur würde solche<br />
Kritik ohne viel Fe<strong>der</strong>lesens beiseitegeschoben.<br />
In einer Demokratie ist genau<br />
dies nicht möglich. Das mag manchmal<br />
ärgerlich erscheinen, aber es ist letztlich<br />
ein hoher Wert.<br />
Ein nicht gebautes Freiheitsdenkmal<br />
wäre also keine Schande – besser eine<br />
symbolische Lücke als ein fauler Kompromiss.<br />
Darauf könnten wir stolz sein.<br />
ALEXANDER MARGUIER<br />
ist stellvertreten<strong>der</strong> Chefredakteur<br />
von <strong>Cicero</strong><br />
DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 28. AUGUST<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
130<br />
<strong>Cicero</strong> – 8. 2014
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AUF ZUR<br />
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DIE BESTEN REZEPTE FÜR SCHNITZEL UND ANDERE LECKEREIEN VOM KALB. AB SEITE 36.<br />
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