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Cicero Ist der Islam böse? (Vorschau)

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Nº08<br />

AUGUST<br />

2014<br />

€ 8.50<br />

CHF 13<br />

Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €, Spanien: 9.50 € , Finnland: 12.80 €<br />

08<br />

4 196392 008505<br />

<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />

Isis, Hamas, Hisbollah: Gewalt im Namen des Propheten<br />

Amerikas Albtraum<br />

Francis Fukuyama und Roger<br />

Cohen über den Abstieg <strong>der</strong> USA<br />

In fremden Betten<br />

Der Hype um den<br />

Wohnungstausch im Netz<br />

„Sie verheimlichen es“<br />

Der Arzt Karl Lauterbach über<br />

Sucht und Krankheit in <strong>der</strong> Politik


is 24.08.2014 täglich 10 – 20 Uhr<br />

ab 25.08.2014 Mi – Mo 10 – 19 Uhr<br />

Dienstag geschlossen


ATTICUS<br />

N°-8<br />

DER ISLAMISCHE KRIEG<br />

Titelbild: Emiliano Ponzi/2 agenten; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

Mit Konflikten ist es wie mit Krankheiten.<br />

Es gibt grundsätzlich zwei<br />

Sorten. Die einen kann man heilen respektive<br />

lösen. Die an<strong>der</strong>en nur eindämmen,<br />

einigermaßen in den Griff kriegen, mit<br />

ihnen leben.<br />

Der Nahostkonflikt dürfte zur zweiten<br />

Kategorie gehören. US-Außenminister<br />

John Kerry hatte einen abermaligen<br />

An lauf genommen, den Konflikt zu<br />

lösen – vergebens. Nun fliegen wie<strong>der</strong><br />

Raketen und Kampfjets. Der Krieg ist<br />

zu rück in Israel und Gaza. Schon bevor er<br />

wie<strong>der</strong> aufflammte, hatte Isis den Kampf<br />

für ein großislamisches Reich eröffnet, das<br />

nicht nur Irak und Syrien umfassen soll,<br />

son<strong>der</strong>n auch Jordanien, Libanon, Palästina<br />

– und Israel.<br />

Al Qaida, Isis, Hamas, Hisbollah – <strong>der</strong><br />

heilige Krieg hat viele Namen und viele<br />

Krieger. <strong>Ist</strong> Allah ein Kriegsgott? Tobt in<br />

<strong>der</strong> arabischen Welt ein Dreißigjähriger<br />

Krieg, wie ihn das Christentum vor<br />

400 Jahren erlebt hat? Der renommierte<br />

Politologe und <strong>Islam</strong>kenner Gilles Kepel<br />

widmet sich in einem Essay dieser Frage<br />

( ab Seite 14 ). Der Buchautor Hamed<br />

Abdel Samad, über den eine Fatwa verhängt<br />

wurde, streitet im Gespräch mit<br />

<strong>der</strong> <strong>Islam</strong>wissenschaftlerin Lamya Kaddor<br />

( ab Seite 24 ). <strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank<br />

A. Meyer sieht eine ungleichzeitige Entwicklung<br />

in Religion und Weltanschauung,<br />

die zu Konflikten führt ( ab Seite 22 ).<br />

Ein Irak in Flammen, ein Israel im<br />

permanenten Ausnahmezustand, ein<br />

Russland, das sich die Krim einverleibt,<br />

und ein Deutschland, das ausgespäht wird:<br />

Kann es sein, dass die USA als Weltmacht<br />

scheitern? Roger Cohen, Kolumnist<br />

<strong>der</strong> New York Times, kommt in einem<br />

Exklusivbeitrag für <strong>Cicero</strong> zu einem<br />

an<strong>der</strong>en Befund. Der Politikwissenschaftler<br />

Francis Fukuyama sieht die Ursachen<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen Schwäche nicht im<br />

System selbst, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> enttäuschenden<br />

Regierung des Barack Obama<br />

( ab Seite 62 ). Im Übrigen hält es Fukuyama<br />

mit Winston Churchills Bonmot,<br />

wonach die Demokratie westlicher<br />

Prägung unter den schlechten Staatsformen<br />

immer noch die beste ist: „We<strong>der</strong><br />

das islamische Kalifat noch <strong>der</strong> russische<br />

Petrostaat scheinen mir Modelle zu sein.“<br />

Mit besten Grüßen<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Chefredakteur<br />

3<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


In Deutschland leben ca. 600.000 junge Witwen<br />

und Witwer. Fast 1 Million Kin<strong>der</strong> müssen den<br />

schmerzhaften Verlust eines Elternteils erleben.<br />

Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit<br />

einem professionellen und umfassenden Hilfsangebot<br />

Betroffene in dieser schwierigen Lebenssitu-<br />

Design: Marco Weißenberg | Konzeptlabor<br />

ation zu begleiten. Einen Schwerpunkt legen<br />

wir in die Betreuung trauern<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlicher<br />

mit dem Projekt, das uns beson<strong>der</strong>s<br />

am Herzen liegt: <strong>der</strong> Online-Beratungsstelle<br />

YoungWings.<br />

Jetzt spenden<br />

und helfen!<br />

www.nicolaidis-stiftung.de<br />

www.youngwings.de


INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

Malerei: Ahmed Alsoudani/ Courtesy: VW (Veneklasen/Werner), Berlin<br />

22<br />

TOTALITÄRE RELIGION<br />

Der <strong>Islam</strong> ist heillos verspätet. Eine<br />

freie Gesellschaft wird unter seiner<br />

Herrschaft kaum möglich sein<br />

Von FRANK A. MEYER<br />

14<br />

DIE BLUTSPUR DES PROPHETEN<br />

Von den Muslimbrü<strong>der</strong>n bis zu Isis: Der islamistische<br />

Terror ist auch eine Geschichte <strong>der</strong> Entzweiung<br />

von Sunniten und Schiiten. Die geopolitischen<br />

Erschütterungen sind gewaltig. Eine Analyse des<br />

tödlichen Konflikts im Mittleren Osten<br />

Von GILLES KEPEL<br />

24<br />

„KEIN ISLAM OHNE ISLAMISMUS“<br />

Hamed Abdel-Samad und Lamya Kaddor<br />

im Streitgespräch über Gewalt, aufgeklärte<br />

Muslime und die Quintessenz des Koran<br />

Von ALEXANDER KISSLER und ALEXANDER MARGUIER<br />

5<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />

30 NOCH MAL GANZ IN RUHE<br />

EU-Kommissar Günther<br />

Oettingers schwieriger<br />

Dauersprint zur Anerkennung<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

48 DER NETTE HERR EKMEL<br />

Intellektuell, gläubig, weltoffen:<br />

Ekmeleddin Ihsanoglu will<br />

Präsident <strong>der</strong> Türkei werden<br />

Von FRANK NORDHAUSEN<br />

76 DER GEFÜHLSSPITZEL<br />

Catalin Voss bringt <strong>der</strong><br />

Datenbrille Google Glass<br />

bei, Emotionen zu lesen<br />

Von PETRA SORGE<br />

32 POSTBOTIN GEGEN SCHNÜFFLER<br />

Sabrina Löhr ist die Grün<strong>der</strong>in<br />

von Posteo: ein E-Mail-Dienst, <strong>der</strong><br />

Überwachern den Spaß verdirbt<br />

Von JOHANNES GERNERT<br />

50 DIE PATRIOTIN<br />

Jesselyn Radack legt sich mit<br />

<strong>der</strong> US-Regierung an und<br />

verteidigt Whistleblower<br />

Von PETRA SORGE<br />

78 UNQUALIFIZIERTER<br />

UNTERNEHMER<br />

Als Hippie schuf Joseph Wilhelm<br />

Rapunzel, heute einer <strong>der</strong><br />

führenden Biohersteller Europas<br />

Von DANIELA SINGHAL<br />

34 „ICH SCANNE JEDEN<br />

AUTOMATISCH“<br />

Karl Lauterbach ist SPD-Politiker – und<br />

Arzt. Ein Interview über Krankheit,<br />

Sucht und Stress im Bundestag<br />

Von GEORG LÖWISCH UND<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

37 FRAU FRIED FRAGT SICH...<br />

… ob sie als emanzipiert gelten<br />

kann, obwohl sie nicht Rasen mäht<br />

Von AMELIE FRIED<br />

38 BETRIEBSRAT UND MANAGEMENT<br />

Die SPD muss sich an ihr Profil unter<br />

Gerhard Schrö<strong>der</strong> erinnern. Ein<br />

Zwischenruf des nie<strong>der</strong>sächsischen<br />

Ministerpräsidenten<br />

Von STEPHAN WEIL<br />

40 DER ABFRACKER<br />

Ein Mann bringt die CDU gegen<br />

Fracking auf und unterwirft die<br />

Erdgasfirmen. Die erstaunliche<br />

Geschichte des Andreas Mattfeldt<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

40<br />

Industrieschreck<br />

54 DIE ZAUDERNDE WELTMACHT<br />

Sind die USA außenpolitisch<br />

am Ende o<strong>der</strong> nehmen<br />

sie einen neuen Anlauf?<br />

Von ROGER COHEN<br />

60 USA: SELBSTBILD UND<br />

DEUTSCHE SICHT<br />

Zwei Nationen, zwei Ansichten – eine<br />

Umfrage im Auftrag von <strong>Cicero</strong><br />

62 „AMERIKAS SYSTEM HAT<br />

ZU VIELE KONTROLLEN“<br />

Der Politologe Francis Fukuyama<br />

im Interview über Kalifat,<br />

Petrostaat und Republik<br />

Von JUDITH HART<br />

64 „AMERIKA GEHÖRT VERNICHTET“<br />

Alexan<strong>der</strong> Dugin gilt<br />

als Philosoph des Kreml.<br />

Was denkt er wirklich?<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

66 IRANS ZWEITES GESICHT<br />

Einblicke in den verborgenen<br />

Alltag im Iran – ein Fotoessay<br />

Von HOSSEIN FATEMI<br />

60<br />

Supermacht<br />

80 „ES GIBT HIER KEINE<br />

GEEIGNETEN FRAUEN<br />

FÜR CEO-JOBS“<br />

Die Top-Headhunter<br />

Christina Virzí und<br />

Heiner Thorborg über<br />

versteckten Machismo und<br />

zurückhaltende Frauen<br />

Von LENA BERGMANN UND TIL KNIPPER<br />

84 DRECKIGE SAUBERMÄNNER<br />

Die Bösen waren<br />

immer die an<strong>der</strong>en.<br />

Jetzt häufen sich<br />

bei den Sparkassen Exzesse,<br />

Skandale und Affären<br />

Von MEIKE SCHREIBER<br />

80<br />

Talentjägerin<br />

Fotos: Kiên Hoàng Lê für <strong>Cicero</strong>, Tim Wegner für <strong>Cicero</strong>; Illustration: Sebastian Haslauer<br />

6<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


STIL<br />

SALON<br />

CICERO<br />

STANDARDS<br />

90 WINZERS GLÜCK<br />

Traumhafte Zweitkarriere: Der<br />

Jurist Horst Hummel macht in<br />

Ungarn vorzüglichen Wein<br />

Von KENO VERSECK<br />

92 DIE HOMESTORY<br />

Vom Matratzenlager zur<br />

neuen Form des Tourismus.<br />

Die Geschichte von Airbnb<br />

102 LICHT IM SCHACHT<br />

Judith Hermann, Meisterin <strong>der</strong> kleinen<br />

Form, legt ihren ersten Roman vor<br />

Von PETER HENNING<br />

104 HINFORT MIT DEM TAND!<br />

Der Intendant Markus Hinterhäuser<br />

wechselt von den Wiener Festwochen<br />

zu den Salzburger Festspielen<br />

Von AXEL BRÜGGEMANN<br />

3 ATTICUS<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

8 STADTGESPRÄCH<br />

10 FORUM<br />

12 IMPRESSUM<br />

130 POSTSCRIPTUM<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

Von JUDITH LUIG<br />

98 FERNSEHSERIE MIT<br />

NEBENWIRKUNGEN<br />

<strong>Ist</strong> „Breaking Bad“ mit<br />

schuld am Siegeszug von<br />

Crystal Meth? Ja und Nein<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE und<br />

CONSTANTIN MAGNIS<br />

100 WARUM ICH TRAGE,<br />

WAS ICH TRAGE<br />

Das Kostüm macht etwas mit dir<br />

Von HANNAH HERZSPRUNG<br />

98<br />

106 AUS DEM GRAS GERATEN<br />

Die Performance-Künstlerin Alevtina<br />

Kakhidze verbindet Politik mit Poesie<br />

Von KRISTINA V. KLOT<br />

108 DER FROMME BETRUG<br />

Kunst und Geld sind verschwistert,<br />

obwohl sie es oft leugnen<br />

Von RALF HANSELLE<br />

116 LITERATUREN<br />

Bücher von Walter Kirn, Sabine Adatepe,<br />

Oliver Bottini und Rüdiger Görner<br />

122 BIBLIOTHEKSPORTRÄT<br />

Der Humorist Herbert Feuerstein<br />

schätzt amerikanische Literatur<br />

Von BJÖRN EENBOOM<br />

126 HOPES WELT<br />

Geigen und an<strong>der</strong>e Mordinstrumente<br />

Emiliano Ponzi<br />

Was verbirgt die Burka?<br />

Was bewirkt die Burka?<br />

Emiliano Ponzi, Künstler<br />

aus Mailand, hat dieses<br />

Bild vor einigen Jahren<br />

angefertigt. Bisher wurde<br />

es nur auf Ausstellungen<br />

gezeigt. Für <strong>Cicero</strong> hat er<br />

die Burka farblich leicht<br />

bearbeitet. Aktuell ist<br />

diese leise, aber zugleich<br />

starke Arbeit ohnehin noch.<br />

Von DANIEL HOPE<br />

Illustrationen: Jens Bonnke, Emiliano Ponzi/2 agenten; Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong>, Alix Smith<br />

Drogenkoch<br />

128 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />

Mit Omas Reisestiefeln auf<br />

die letzte große Fahrt<br />

Von VERA LENGSFELD<br />

108<br />

Erfolgsmaler<br />

Ahmed Alsoudani<br />

2011 vertrat Ahmed Alsoudani<br />

auf <strong>der</strong> Biennale in<br />

Venedig den Irak, das Land,<br />

in dem er 1975 geboren<br />

wurde. Der Konflikt im<br />

Irak prägt sein Schaffen;<br />

Krieg, Korruption und<br />

Ausbeutung sind seine Themen.<br />

Ahmed Alsoudanis<br />

Arbeiten illustrieren unser<br />

Titelthema. Es sind Motive,<br />

in denen Gewalt und<br />

Macht, Zerstörung und<br />

Überleben in bizarrer Weise<br />

miteinan<strong>der</strong> verwachsen.<br />

7<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


CICERO<br />

Stadtgespräch<br />

Den Leuten im Bundespresseamt fällt die Decke auf den Kopf,<br />

das ZDF hat die FDP auf dem Gewissen – und in Berlin regiert ein Vogel<br />

Das Bundespresseamt informiert:<br />

Dachschaden<br />

Ornithokratie:<br />

Die Königin von Berlin<br />

Coverboy Kai:<br />

Diekmanns Son<strong>der</strong>heft<br />

In ereignisarmen Zeiten, volkstümlich<br />

auch als Sommerloch bekannt, kann<br />

einem schon mal die Decke auf den<br />

Kopf fallen – das gilt insbeson<strong>der</strong>e für<br />

Mitarbeiter des Bundespresseamts. Tatsächlich<br />

stürzten dort unlängst zehn<br />

Quadratmeter Gipsputz vom Plafond,<br />

verletzt wurde zum Glück niemand.<br />

Das zuständige Bundesamt für Raumwesen<br />

und Bauordnung nannte als Ursache<br />

lapidar schlechte Renovierungsarbeiten<br />

aus den neunziger Jahren; in<br />

politischen Hauptstadtkreisen kursiert<br />

dagegen eine ganz an<strong>der</strong>e Analyse des<br />

Ereignisses. Linkspartei-Chef Bernd<br />

Riexinger mutmaßte, <strong>der</strong> Gips habe sich<br />

gelöst, weil sich bei den Informationen<br />

des Presseamts über die Politik <strong>der</strong> Großen<br />

Koalition „die Balken durchgebogen“<br />

hätten. Gut möglich, dass Riexinger<br />

damit aber auch nur vom einen o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Dachschaden in den eigenen<br />

Reihen ablenken wollte. tz<br />

Seit sie zur „Leitart“ auf <strong>der</strong> Brache<br />

des ehemaligen Tempelhofer Flughafens<br />

gekürt wurde, hat die Feldlerche<br />

die Stadtentwicklungspolitik fest in <strong>der</strong><br />

Kralle. „Sie gibt den rechtlichen Rahmen<br />

vor“, sagt ein Ornithologe. An<strong>der</strong>e<br />

Vögel haben sich ihren Wünschen zu<br />

beugen, und die sind bei <strong>der</strong> Bodenbrüterin<br />

klar: keine Bäume. Deshalb müssen<br />

die Parkpfleger höheren Bewuchs<br />

im Wiesenmeer abmähen. Will die<br />

Stadt feldlerchische Län<strong>der</strong>eien selbst<br />

nutzen, muss sie sie ersetzen. Als man<br />

noch hoffte, das Tempelhofer Feld bebauen<br />

zu können, hatte man <strong>der</strong> Feldlerche<br />

deshalb für 375 000 Euro ein<br />

Ausweichterritorium vermacht. Die<br />

„Feldlerchenproblematik“ würde es laut<br />

Senatsverwaltung auch bei einer Bebauung<br />

des Flughafens Tegel geben. Denn<br />

dass die Feldlerche dort ebenfalls zur<br />

Leitart und Monarchin wird, gilt als sicher.<br />

Gut so, einer muss die Stadt ja<br />

regieren. vin<br />

Zum 50. Geburtstag ihres Chefredakteurs<br />

haben sich die Kollegen von<br />

<strong>der</strong> Bild ein beson<strong>der</strong>es Geschenk einfallen<br />

lassen: eine Kai-Diekmann-Son<strong>der</strong>edition,<br />

bestehend aus Titel-Entwürfen<br />

an<strong>der</strong>er Zeitungen und Magazine,<br />

die allesamt dem Jubilar gewidmet<br />

sind. Und offenbar hat Diekmann mehr<br />

Freunde in <strong>der</strong> Branche, als man vermuten<br />

könnte, denn fast alle haben sich<br />

an dem Spaß beteiligt – von Spiegel<br />

über Stern und Bunte bis hin zum Obdachlosenmagazin<br />

Hinz & Kunzt. Nur<br />

<strong>der</strong> FAZ und <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung<br />

war das Projekt offenbar nicht geheuer.<br />

So gratuliert also das Carnivoren-Leitmedium<br />

Beef dem König des<br />

deutschen Boulevards mit <strong>der</strong> Titelzeile<br />

„Die besten Enten <strong>der</strong> Welt“. Dagegen<br />

liest sich die Spiegel-Aufmachung<br />

„Haltet den Brandstifter“ unter<br />

einem Diekmann-Porträt mit brennendem<br />

Bart fast harmlos. mar<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

8<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Liberale Namenssuche:<br />

Keiner mag uns<br />

Ein neuer Name für die FDP? Warum<br />

nicht, schließlich hat sich ja auch die<br />

SED vor etlichen Jahren ganz erfolgreich<br />

in PDS umbenannt. Inzwischen<br />

jedoch dämmert vielen Liberalen, dass<br />

dieser Vorschlag ihrer stellvertretenden<br />

Vorsitzenden Marie-Agnes Strack-<br />

Zimmermann vor allem für Spott im<br />

Internet sorgt. Mal wird das Kürzel<br />

KMU vorgeschlagen („Keiner mag<br />

uns“), dann wie<strong>der</strong> wird zu FIW geraten<br />

(„Fähnchen im Wind“). FDP-Chef<br />

Christian Lindner geht denn auch auf<br />

Distanz zu einem möglichen Rebranding:<br />

„Die Umbenennung wäre eine<br />

oberflächliche Sache.“ Mit Blick auf den<br />

alten Koalitionspartner stichelt Lindner:<br />

„Die CDU hat ihren inneren Kern verloren.<br />

Der ist bei <strong>der</strong> FDP noch da, bei<br />

Merkel und <strong>der</strong> CDU nicht.“ Nun denn,<br />

die Union scheint es zu verkraften.<br />

Hilfe bei <strong>der</strong> Namenssuche leistete<br />

unaufgefor<strong>der</strong>t <strong>der</strong> baden-württembergische<br />

CDU-Landesvorsitzende Thomas<br />

Strobl: Im „Ländle“ nenne sich die<br />

FDP bis heute „FDP/DVP“. Da könne<br />

man doch schlicht auf die verpönte<br />

Buchstabenfolge FDP verzichten und<br />

sich mit DVP begnügen, sagt Strobl.<br />

Wäre ja keine schlechte Botschaft, immerhin<br />

steht DVP für Demokratische<br />

Volkspartei – und demokratisch wolle<br />

gewiss auch die neue FDP sein. Weniger<br />

konstruktiv klingt da schon <strong>der</strong><br />

Hinweis des ehemaligen SPD-Wahlkampfplaners<br />

Frank Strauss: „Ein guter<br />

Name kann kein schlechtes Produkt<br />

retten.“ tz<br />

Die Kanzlerin klärt auf:<br />

Schavans Schweigen<br />

Wir haben es dir nett gemacht“,<br />

kündigte die Bundeskanzlerin<br />

gleich zu Beginn <strong>der</strong> Abschiedsfeier<br />

von Annette Schavan an, die als neue<br />

Botschafterin am Vatikan künftig auf<br />

Berliner Eigentümlichkeiten verzichten<br />

muss. Wohl auch deshalb wurde zu Ehren<br />

<strong>der</strong> ehemaligen Bildungs- und Forschungsministerin<br />

ganz stilecht Currywurst<br />

mit Kartoffelsalat gereicht – und<br />

das ausgerechnet in <strong>der</strong> baden-württembergischen<br />

Landesvertretung am<br />

Tiergarten.<br />

Schavan wirkte angesichts dieser<br />

Nettigkeiten ernsthaft gerührt, zumal<br />

in <strong>der</strong> Hauptstadt kaum jemand so<br />

freundschaftlich verabschiedet wird,<br />

<strong>der</strong> unfreiwillig gehen muss. Auch Angela<br />

Merkel zeigte sich von ihrer persönlichen<br />

Seite und würdigte mit<br />

verschmitztem Grinsen Schavans Verschwiegenheit<br />

als <strong>der</strong>en größte Gabe.<br />

Die Belobigte lachte, die an<strong>der</strong>en Gäste<br />

(darunter EU-Kommissar Günther Oettinger,<br />

Bundestagspräsident Norbert<br />

Lammert und Unionsfraktionschef Volker<br />

Kau<strong>der</strong>) nicht alle. Annette Schavan<br />

wie<strong>der</strong>um verriet an diesem Abend,<br />

wer <strong>der</strong> Urheber <strong>der</strong> Freundschaft zwischen<br />

ihr und <strong>der</strong> Kanzlerin war: Helmut<br />

Kohl. 1996 habe er auf einem Parteitag<br />

die beiden Frauen rechts und<br />

links von sich platziert, um dann plötzlich<br />

mit seinen Armen weit auszuholen<br />

und Merkel und Schavan an seine Brust<br />

zu drücken. „Nun vertragt euch gefälligst“,<br />

sagte Kohl damals. „Auftrag ausgeführt“,<br />

stellte Schavan nun fest. vr<br />

Ursachenforschung:<br />

ZDF killed FDP<br />

Die Diskussion darüber, wer die<br />

Schuld am Untergang <strong>der</strong> FDP<br />

trägt, ist noch immer ein beliebter Partyspaß<br />

in <strong>der</strong> Hauptstadt. War’s Westerwelle,<br />

war’s Rösler? O<strong>der</strong> die schwarze<br />

Witwe Merkel, die dem Koalitionspartner<br />

keine Leihstimmen gönnte? Das<br />

ZDF war’s! Das zumindest legt jetzt<br />

eine Studie <strong>der</strong> Uni Mainz nahe.<br />

Der Sen<strong>der</strong> veröffentlichte erstmals<br />

noch drei Tage vor <strong>der</strong> Wahl eine<br />

letzte Umfrage. Diese sah die FDP mit<br />

5,5 Prozent im Bundestag. Ganz nah<br />

am mo<strong>der</strong>nen Wähler, <strong>der</strong> sich immer<br />

später entscheidet, wollte das ZDF so<br />

erscheinen. Ein umstrittener Tabubruch<br />

mit Folgen: „Die Schwarz-Gelb-Wähler<br />

reagieren auf die Umfrageergebnisse“,<br />

sagt <strong>der</strong> Politikwissenschaftler Thorsten<br />

Faas. In einem Experiment hat er<br />

den Teilnehmern verschiedene Umfrageszenarien<br />

präsentiert – die FDP kam<br />

dabei entwe<strong>der</strong> auf 4, 5, 6 o<strong>der</strong> 8 Prozent<br />

– und sie anschließend nach ihrem<br />

Wahlverhalten befragt. Der Einfluss auf<br />

taktische Wähler war signifikant: Je<br />

höher <strong>der</strong> vorgegebene Wert war, desto<br />

weniger Befragte gaben anschließend<br />

an, die FDP wählen zu wollen. „Der Effekt<br />

ist eindeutig“, sagt Faas. Daraus<br />

folgt: „Die letzte Umfrage des ZDF hat<br />

die Bundestagswahl mit entschieden.“<br />

Nach <strong>der</strong> Bayernwahl eine Woche zuvor<br />

bangten viele um Schwarz-Gelb<br />

und um die FDP. Die Demoskopen gaben<br />

Entwarnung. Bei <strong>der</strong> Wahl in Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

hatte dieser Effekt zuvor<br />

noch umgekehrt funktioniert. cse<br />

9<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

FORUM<br />

Es geht um die Deutsche Bank, Ursula von <strong>der</strong><br />

Leyen, Christian Wulff, Religionen und Kriege<br />

Zum Beitrag „Staatsmänner“ von Frank A. Meyer, Juli 2014<br />

Banker-Hetze<br />

Mit Verwun<strong>der</strong>ung lese ich, wie die Deutsche Bank dem Image Deutschlands<br />

schaden soll. Da gibt es ein Problem: Aus <strong>der</strong> ausländischen Presse, zum Beispiel<br />

The Economist, ist mir so was nicht bekannt. Auch beim Googeln findet man solche<br />

Kommentare nicht. Die Berichte dort sind nicht an<strong>der</strong>s als über jede beliebige<br />

Großbank. Deutschland-schädigend kaum. Die Herren Jain und Fitschen sind offenbar<br />

den 68ern nicht sympathisch, aber im Ausland stören sie nicht. Da ist <strong>der</strong><br />

Berliner Flughafen, also die Politik, eher am Pranger. Die Medien haben Bundespräsident<br />

Wulff gehetzt und zum Abschied gezwungen, jetzt soll gegen Banker<br />

gehetzt werden. Kann das sein, dass Herr Weber zurück nach Frankfurt will?<br />

Michael Novosad, Langenzenn<br />

Zum Beitrag „Die Stunde null“ von<br />

Georg Löwisch, Constantin Magnis,<br />

Alexan<strong>der</strong> Marguier, Christoph<br />

Schwennicke, Juli 2014<br />

Respektlos<br />

Es kann vermutlich nur <strong>der</strong> anbrechenden<br />

Saure-Gurken-Zeit geschuldet<br />

sein, dass ein ansonsten so<br />

gut gemachtes und von mir sehr geschätztes<br />

politisches Magazin wie<br />

<strong>der</strong> <strong>Cicero</strong> sich zu einem so reißerischen<br />

Titelbild („Uschi lädt durch“)<br />

hinreißen lässt und sich in <strong>der</strong> begleitenden<br />

Titelgeschichte in zum<br />

Teil überflüssigen Spekulationen<br />

über die Nachfolge von Angela Merkel<br />

ergeht.<br />

Der Respekt vor ihren Leistungen<br />

als Bundeskanzlerin sollte es<br />

dem <strong>Cicero</strong> gebieten, sich nicht zur<br />

Unzeit an – wie und von wem auch<br />

immer initiierten – Spekulationen<br />

über ihre Nachfolge zu beteiligen.<br />

Christian Puttkammer, Hamburg<br />

Fehlende Tiefenschärfe<br />

Müsste <strong>Cicero</strong> nur anhand <strong>der</strong> Titel<br />

meine Aufmerksamkeit finden, hätten<br />

Sie ein Problem.<br />

„Uschi“ wirkt auf mich schlicht<br />

nur zweidimensional, hat überhaupt<br />

keine Tiefe, wirkt wie in den Anfängen<br />

<strong>der</strong> Grafik, als noch ausgeschnitten<br />

wurde. Grob.<br />

Schade eigentlich, denn was<br />

hätte man aus diesem Motiv nicht<br />

alles machen können!<br />

Schlagschatten mit noch sanfter<br />

Zeichnung in den Schatten (sichtbare<br />

Magazine zum Nachladen …),<br />

Reflexion des Sonnenlichts auf den<br />

beiden „Wummen“, Zigarillo in<br />

Uschis „Maul“.<br />

Bernd Rösner, Bielefeld<br />

Zum Beitrag „Wulff“ von Alexan<strong>der</strong><br />

Marguier, Juli 2014<br />

Ahnungslos<br />

Wer als Politiker meint, es gäbe in<br />

Deutschland nicht genügend Zeitungen,<br />

und sich deshalb mit <strong>der</strong> Springer-Bande<br />

einlässt, um bekannt zu<br />

werden, darf sich nicht wun<strong>der</strong>n,<br />

wenn er irgendwann den Preis dafür<br />

zahlen muss. Deshalb hält sich mein<br />

Mitleid mit Herrn Wulff in äußerst<br />

engen Grenzen.<br />

Wenn man aber auch noch als<br />

Frührentner mit rund 200 000 Euro<br />

„Ehrensold“ im Jahr sein Schicksal<br />

beweint und im Titel des entsprechenden<br />

Buches einen Buchtitel von<br />

Günter Wallraff zitiert, dann beweist<br />

man damit, dass man nicht<br />

die entfernteste Spur einer Ahnung<br />

vom Schicksal <strong>der</strong> Menschen<br />

hat, um die es in „Ganz unten“ geht.<br />

Schon deshalb ist es mehr als gut,<br />

dass Herr Wulff nicht mehr für sich<br />

in Anspruch nehmen kann, (auch)<br />

diese Menschen zu repräsentieren.<br />

Dieter Thomashoff, Köln<br />

Exemplarisch<br />

Das ist <strong>der</strong> Grund, warum ich <strong>Cicero</strong><br />

lese. Nicht, weil ich ein Wulff-<br />

Fan bin, son<strong>der</strong>n weil in diesem<br />

Postscriptum exemplarisch vorgeführt<br />

wird, wie anspruchslos, selbstverliebt<br />

und vorhersehbar die Mainstream-Medien<br />

„argumentieren“.<br />

Gerhard Leuner, Halstenbek<br />

10<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


∆Wie wird Bildung groß und stark?<br />

Die Zahl <strong>der</strong> Hochschulabsolventen in Deutschland ist seit 2002 um 80 % gestiegen.<br />

Und das ist nur einer von vielen Gründen, warum es sich lohnt, Verantwortung zu<br />

übernehmen. Darum investiert die KfW in Bildungsprogramme – und ermöglicht je<strong>der</strong><br />

Generation, ihre Lebensbedingungen nachhaltig zu verbessern.<br />

Verän<strong>der</strong>ung fängt mit Verantwortung an. kfw.de/verantwortung


März 2013<br />

8 EUR / 12,50 CHF<br />

www.cicero.de<br />

IMPRESSUM<br />

<strong>Cicero</strong>-Ausgabe März 2013<br />

„ICH KANN ALLES<br />

AUSSER SCHWEISSEN“<br />

VERLEGER Michael Ringier<br />

CHEFREDAKTEUR Christoph Schwennicke<br />

STELLVERTRETER DES CHEFREDAKTEURS<br />

Alexan<strong>der</strong> Marguier<br />

REDAKTION<br />

TEXTCHEF Georg Löwisch<br />

CHEFIN VOM DIENST Kerstin Schröer<br />

RESSORTLEITER Lena Bergmann ( Stil ),<br />

Judith Hart ( Weltbühne ), Dr. Alexan<strong>der</strong> Kissler ( Salon ),<br />

Til Knipper ( Kapital ), Constantin Magnis<br />

( Reportagen ), Dr. Frauke Meyer-Gosau ( Literaturen )<br />

CICERO ONLINE Christoph Seils ( Leitung ),<br />

Petra Sorge, Timo Stein<br />

ASSISTENTIN DES CHEFREDAKTEURS<br />

Monika de Roche<br />

REDAKTIONSASSISTENTIN Sonja Vinco<br />

ART-DIREKTORIN Viola Schmieskors<br />

BILDREDAKTION Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

PRODUKTION Utz Zimmermann<br />

VERLAG<br />

GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />

Michael Voss<br />

VERTRIEB UND UNTERNEHMENSENTWICKLUNG<br />

Thorsten Thierhoff<br />

REDAKTIONSMARKETING Janne Schumacher<br />

NATIONALVERTRIEB/LESERSERVICE<br />

DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH<br />

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VERTRIEBSLOGISTIK Ingmar Sacher<br />

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HERSTELLUNG Michael Passen<br />

DRUCK/LITHO Neef+Stumme,<br />

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( verantw. für den Inhalt <strong>der</strong> Anzeigen )<br />

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ANZEIGENMARKETING Inga Müller<br />

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VERKAUFTE AUFLAGE 83 515 ( IVW Q2/2014 )<br />

LAE 2013 122 000 Entschei<strong>der</strong><br />

REICHWEITE 380 000 Leser ( AWA 2013 )<br />

CICERO ERSCHEINT IN DER<br />

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GRÜNDUNGSHERAUSGEBER<br />

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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in<br />

Onlinedienste und Internet und die Vervielfältigung<br />

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Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bil<strong>der</strong><br />

übernimmt <strong>der</strong> Verlag keine Haftung.<br />

Copyright © 2014, Ringier Publishing GmbH<br />

V.i.S.d.P.: Christoph Schwennicke<br />

Printed in Germany<br />

EINE PUBLIKATION DER RINGIER GRUPPE<br />

Winfried Kretschmann<br />

„Ich kann<br />

alles außer<br />

Schweißen“<br />

Deutschlands mächtigster<br />

Grüner – und was seine<br />

Partei von ihm lernen kann<br />

Benedikts<br />

Rückzug<br />

Was <strong>der</strong> neue Papst<br />

können muss<br />

Bisher unveröffentlichte Fotos<br />

Wie Elvis zum Star wurde<br />

In einem <strong>Cicero</strong>-<br />

Gespräch fragten wir<br />

2013 Baden-Württembergs<br />

grünen<br />

Ministerpräsidenten<br />

Winfried Kretschmann,<br />

wie viel<br />

Spießertum sich seine<br />

Partei leisten könne.<br />

Stundenlang vergleiche er in Baumärkten<br />

Bohrmaschinen, antwortete er.<br />

Wenn Heimwerken spießig sei, habe er<br />

damit kein Problem. Und: „Ich kann alles<br />

außer Schweißen.“ Der Satz kam auf den<br />

<strong>Cicero</strong>-Titel, machte die Runde und<br />

wurde im Stuttgarter Landtag zitiert. Zu<br />

Kretschmanns 65. Geburtstag<br />

schenkten ihm seine Minister einen<br />

Schweißkurs. In <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>-Kultur-Werkstatt<br />

in Nürtingen stieben die Funken.<br />

Das Produkt: ein Winfried-W als<br />

Stiftehalter für den Schreibtisch.<br />

SERVICE<br />

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,<br />

haben Sie Fragen zum Abo o<strong>der</strong> Anregungen und Kritik zu<br />

einer <strong>Cicero</strong>-Ausgabe? Ihr <strong>Cicero</strong>-Leserservice hilft Ihnen<br />

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20:00 Uhr und samstags von 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr.<br />

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D: 8,50 €, CH: 13,– CHF, A: 8,50 €<br />

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Regel am Folgetag erhältlich.<br />

12<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

Zum Beitrag „Demokratie, ein<br />

Auslaufmodell?“ von William J. Dobson,<br />

Juli 2014<br />

Christliche Zukunft<br />

Der Amerikaner Dobson erwähnt<br />

eingangs die Befürchtung Willy<br />

Brandts aus dem Jahre 1975, Westeuropa<br />

werde in 30 Jahren seine<br />

Demokratie aufgeben. Dazu passt<br />

die Wahlbeteiligung von nur<br />

43 Prozent bei den Europawahlen.<br />

Dobson hofft, das sei nur Protest<br />

gegen politischen Zynismus. Lei<strong>der</strong><br />

ein Irrtum. Wie <strong>der</strong> australische<br />

Historiker Christopher Clark<br />

feststellte, fehlt es den Europäern<br />

an Geschichtsbewusstsein, am Bewusstsein,<br />

dass sie nur als Christen<br />

Zukunft haben.<br />

Gerd Neubronner, Friedrichsdorf<br />

Zum Beitrag „Vergesst Interventionen“<br />

von Judith Hart, Juli 2014<br />

Fotos: Daniel Jüptner; Karikatur: Hauck & Bauer<br />

Überfällig<br />

Ihr Kommentar „Vergesst Interventionen“<br />

ist einer <strong>der</strong> wenigen<br />

– dafür aber wichtigen – und<br />

wohlbegründeten Texte über<br />

längst überfällige Schlussfolgerungen<br />

aus dem Scheitern einer Politik<br />

<strong>der</strong> „Regulierung“ mit militärischen<br />

Mitteln, die vor 25 Jahren<br />

in Afghanistan ihren Anfang nahm<br />

und von den westlichen Demokratien<br />

betrieben wurde und bis<br />

heute wird. Ich wende mich an Sie<br />

mit dem Hinweis, dass ich – Jahrgang<br />

1939 – Kriegsende und „Kalten<br />

Krieg“ als Gegenwart und<br />

DDR-Bürger erlebt habe. Damit<br />

will ich nicht sagen, dass ich mehr<br />

weiß, nur meine Betrachtungsweise<br />

könnte deshalb an<strong>der</strong>s sein.<br />

Wieland Becker, Berlin<br />

Zum Beitrag „Querulatoren“ von<br />

Christoph Schwennicke, Juli 2014<br />

Gelungener Auftritt<br />

Herrlich – <strong>der</strong> Artikel von Christoph<br />

Schwennicke über die Querulatoren.<br />

Ein gelungener Auftritt als<br />

führen<strong>der</strong> Querulator in <strong>der</strong> politischen<br />

Medienlandschaft.<br />

Stefan Leicht, Radolfzell<br />

Zum Beitrag „Der prekäre Frieden“ von<br />

Karl Feldmeyer und „Putin muss sich<br />

verkleiden“, Interview mit Herfried<br />

Münkler, Juni 2014<br />

Ewig gestrig<br />

Man kann sich kaum zwei gegensätzlichere<br />

Beiträge vorstellen als<br />

Karl Feldmeyers „Der prekäre Frieden“<br />

und die Aussagen von Herfried<br />

Münkler in „Putin muss sich<br />

verkleiden“. Während <strong>der</strong> von Ihnen<br />

als „Doyen <strong>der</strong> sicherheitspolitischen<br />

Berichterstattung“ gekennzeichnete<br />

Herr Feldmeyer nichts<br />

weiter ist als ein alter Kalter Krieger,<br />

<strong>der</strong> sich in die Zeiten vor dem<br />

Mauerfall zurücksehnt, in denen<br />

die deutsch-amerikanische Freundschaft<br />

das Kernstück einer scheinselbstständigen<br />

deutschen Außenpolitik<br />

war, stellt man bei Herfried<br />

Münkler ein echtes Verstehen <strong>der</strong><br />

europapolitischen Lage fest. Anstatt<br />

eines geradezu albernen Aufrufs<br />

zur Wie<strong>der</strong>einführung <strong>der</strong> Wehrpflicht<br />

steht hier die Einsicht, dass<br />

auch Russland Interessen hat, und<br />

dass die Begierde <strong>der</strong> USA nach einem<br />

neuen Kalten Krieg mit Russland<br />

von Deutschland keineswegs<br />

mitgetragen werden muss.<br />

Prof. Dr. Claus Priesner, München<br />

Zum Beitrag „Töten für den Terrorstaat“<br />

von William J. Dobson, Mai 2014<br />

Religionen und Kriege<br />

Mit Interesse habe ich den guten Artikel<br />

von W. J. Dobson über den Terror<br />

von Al Qaida gelesen. Die Destabilisierung<br />

<strong>der</strong> Region im Nahen<br />

Osten schreitet voran. Gefreut hat<br />

mich, dass in <strong>der</strong> Berichterstattung<br />

jetzt auch <strong>der</strong> religöse Gehalt des<br />

Konflikts gewürdigt wird. Von irgendwoher<br />

kommen ja die Ideen<br />

zum heiligen Krieg, zur Errichtung<br />

eines Kalifats. Kein Geringerer als<br />

Samuel Huntington in seinem Buch<br />

„Clash of Civilisations“ hat deutlich<br />

gemacht, dass unterschiedlich geprägte<br />

Kulturen, wenn sie aufeinan<strong>der</strong>treffen,<br />

Reibungen verursachen,<br />

also Konflikte. Das hat sich tausendfach<br />

bewahrheitet.<br />

Dieter Loest, Rot am See<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen<br />

senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />

13<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


TITEL<br />

<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />

DIE BLUTSPUR<br />

DES PROPHETEN<br />

Von GILLES KEPEL<br />

Von den Muslimbrü<strong>der</strong>n bis zu Isis:<br />

Der islamistische Terror verläuft an<br />

<strong>der</strong> Scheidelinie von Sunniten und Schiiten.<br />

Die Geschichte einer Entzweiung, die<br />

die Welt des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts vor ihre bisher<br />

größte Herausfor<strong>der</strong>ung stellt<br />

Malerei AHMED ALSOUDANI<br />

14<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Untitled, 2013


TITEL<br />

<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />

Der „<strong>Islam</strong>ische Staat“ marschiert. Die sunnitischen<br />

Dschihadisten von IS, die sich bisher<br />

Isis nannten, haben die Vororte von Bagdad<br />

in Angriff genommen. Leichen pflastern ihren<br />

Weg. Die vielen Morde an schiitischen „Apostaten“<br />

sind eine erstaunliche und erschreckende Folge jener<br />

großen Bewegung <strong>der</strong> arabischen Revolutionen, die im<br />

Frühling 2011 für so viel Begeisterung bei den Demokraten<br />

<strong>der</strong> ganzen Welt gesorgt haben. Vergessen wir<br />

aber nicht: Die IS-Gräuel finden in einer Zeit erdbebenartiger<br />

Verän<strong>der</strong>ungen des geopolitischen Gleichgewichts<br />

im Mittleren Osten statt, dessen Umrisse auf<br />

die beiden großen Weltkriege im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t zurückgehen.<br />

Zu den tektonischen Verschiebungen zählt<br />

die Gründung eines kurdischen Staates im Juni dieses<br />

Jahres. Seine Truppen haben die Kontrolle über die<br />

irakische Stadt Kirkuk übernommen, von wo aus Öl<br />

in die Türkei exportiert werden kann. Nun fehlt ihm<br />

nur noch ein Sitz bei den Vereinten Nationen. Der Kurdenstaat<br />

ist jedoch nur eine <strong>der</strong> vielen Verschiebungen.<br />

Man sollte sie alle zusammen betrachten.<br />

Zu ihnen zählt auch die Zersplitterung Syriens.<br />

Dort steht einem Gebiet an <strong>der</strong> Küste und rings um<br />

Damaskus, das vom Regime Baschar al Assads verwaltet<br />

wird, ein von den Rebellen dominiertes Hinterland<br />

gegenüber. Die jahrhun<strong>der</strong>tealte Konfiguration<br />

des Mittleren Ostens wird weiterhin umgeworfen<br />

durch die Spaltung des Irak in schiitische, kurdische<br />

und sunnitische Zonen mittels brutaler ethnisch-religiöser<br />

Säuberungen und die Entstehung eines sunnitischen<br />

„Dschihadistan“, das sich von Aleppo in Syrien<br />

bis Falludscha im Irak erstreckt.<br />

In diesem Kontext wäre ein Nuklearabkommen<br />

zwischen Amerika und dem Iran, wie es sich <strong>der</strong>zeit<br />

abzeichnet, eine heikle Sache. Die Ölmonarchien<br />

<strong>der</strong> Arabischen Halbinsel befürchten, in diesem Fall<br />

den Kürzeren zu ziehen und zusehen zu müssen, wie<br />

Obama sich mit Teheran versöhnt, gerade so wie Nixon<br />

es 1972 mit Peking tat. Und schließlich sind sich<br />

dieselben arabischen sunnitischen Län<strong>der</strong> innerhalb<br />

des Golf-Kooperationsrats uneins darüber, wie sie es<br />

mit den Muslimbrü<strong>der</strong>n halten wollen. Diese transnationale<br />

islamistische Organisation wird von Katar<br />

und dessen Sen<strong>der</strong> Al Dschasira, aber auch von<br />

Die islamische Zivilisation<br />

ist tief gespalten<br />

und kaum auf einen<br />

gemeinsamen Nenner<br />

zu bringen<br />

Erdogans Türkei unterstützt, während Saudi-Arabien<br />

sie bekämpft – aus Sorge, die aus dem Mittelstand rekrutierten<br />

lokalen Muslimbrü<strong>der</strong> würden die Dynastie<br />

in Riad stürzen.<br />

Der saudische Staat und seine Verbündeten finanzieren<br />

lieber in Kairo Marschall Sisi, <strong>der</strong> ein unerbittlicher<br />

Gegner <strong>der</strong> ägyptischen Muslimbrü<strong>der</strong> ist, mit<br />

einem Budget in Höhe von 13 Milliarden Dollar. Die<br />

gewaltige Summe ist das Zehnfache jenes Betrags, mit<br />

dem die Amerikaner Ägypten unterstützen. Dennoch<br />

wird diese Achse <strong>der</strong> „Rückkehr zur militärisch-konservativen<br />

Ordnung“, <strong>der</strong>en Schatzmeister in Riad sitzen,<br />

von Teheran beschuldigt, <strong>der</strong> größte Destabilisierungsfaktor<br />

<strong>der</strong> Region zu sein. Saudis und Ägypter,<br />

so lautet <strong>der</strong> iranische Vorwurf, unterstützten unter<br />

<strong>der</strong> Hand die Dschihadisten von IS, die sich zum Salafismus<br />

bekennen, <strong>der</strong> strengen sunnitischen Doktrin<br />

des saudischen Königreichs, <strong>der</strong> zufolge Schiiten als<br />

Apostaten den Tod verdienten.<br />

Fast immer, wenn <strong>der</strong> islamistische Terror sein<br />

Haupt erhebt, verläuft er an <strong>der</strong> Scheidelinie von Schiiten<br />

und Sunniten. Die Schiiten leiten sich vom arabischen<br />

Wort für Gruppe o<strong>der</strong> Fraktion ab. Sie waren<br />

eine Abspaltung von den Mehrheitsmuslimen. Sie<br />

folgten Ali, dem vierten Kalifen des <strong>Islam</strong>, dem Cousin<br />

und Schwiegersohn des Propheten. Nach dessen<br />

Ermordung im Jahr 661 hielten die Schiiten allein die<br />

Nachkommen Alis für legitime Kalifen. Später spalteten<br />

sich von ihnen die Alewiten ab. Die Sunniten hingegen<br />

knüpfen die Führung <strong>der</strong> muslimischen Gemeinschaft,<br />

<strong>der</strong> Umma, nicht an eine Abstammung aus <strong>der</strong><br />

Prophetenfamilie. Sie stehen in <strong>der</strong> Nachfolge jener<br />

vornehmen Familien <strong>der</strong> Aristokratie von Mekka, aus<br />

<strong>der</strong>en Reihen die ersten drei Kalifen hervorgegangen<br />

waren. Der Zwist zwischen den beiden Gruppierungen<br />

durchzieht die islamische Geschichte. Erst mit <strong>der</strong><br />

iranischen „<strong>Islam</strong>ischen Republik“ von 1979 aber erreichte<br />

dieser Gegensatz seine unermesslichen Tiefen.<br />

Um den Übergang von <strong>der</strong> etwas naiven Begeisterung<br />

für die „arabischen demokratischen Revolutionen“<br />

im Frühling 2011 zu den Massakern und den politisch-religiösen<br />

Rissen des Sommers 2014 zu verstehen,<br />

muss man sowohl die Fakten betrachten als auch die<br />

Art und Weise, wie man sich im Westen die arabischmuslimische<br />

Welt vorstellt. Unsere Eliten leiden unter<br />

zwei akademisch übertragbaren Krankheiten, die<br />

aus amerikanischen Universitäten stammen: dem Fukuyama-<br />

und dem Huntington-Syndrom.<br />

Die erste Erzählung, Fukuyamas „Ende <strong>der</strong> Geschichte“,<br />

strebt die universale Vorherrschaft <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Normen in einer unipolaren Welt an. Bestärkt<br />

durch den EU-Beitritt <strong>der</strong> meisten ehemaligen<br />

sozialistischen Län<strong>der</strong> aus Mitteleuropa, wurde diese<br />

große Erzählung aus Bequemlichkeit herangezogen,<br />

um den „Arabischen Frühling“ des Jahres 2011 zu<br />

analysieren. Die Metapher bezieht sich sowohl auf den<br />

„Prager Frühling“ von 1968 als auf den „Frühling <strong>der</strong><br />

16<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Der Arabische Frühling<br />

galt vielen als Wun<strong>der</strong>,<br />

als Gemeinschaft von<br />

Facebook-Freunden<br />

ganz ohne Dschihad<br />

von Facebook-Freunden in einer virtuellen, einer letztlich<br />

irrealen Welt den Frieden finden.<br />

Die Wirklichkeit hat sich gerächt: Während Ben<br />

Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten und Gaddafi in<br />

Libyen gestürzt wurden, wehrten sich die Regierungen<br />

im Jemen, in Bahrein und Syrien erfolgreich gegen<br />

die demokratische Welle. Auch die Arabische Halbinsel<br />

duldete keine soziopolitische Bewegung, die den<br />

Ölexport hätte gefährden können. Der Antagonismus<br />

zwischen sunnitischen und schiitischen Staaten, zwischen<br />

arabischen und iranischen Hegemonialbestrebungen<br />

siegte rasch über die Begeisterung <strong>der</strong> zivilen<br />

Gesellschaften und <strong>der</strong> Internetnutzer. Sogar in Län<strong>der</strong>n<br />

wie Tunesien o<strong>der</strong> Ägypten, in denen die Despoten<br />

abgesetzt wurden, endeten die ersten demokratischen<br />

Wahlen mit einem Erfolg <strong>der</strong> Muslimbrü<strong>der</strong>. Sie<br />

hatten die Revolution zwar nicht begonnen, aber ihre<br />

Wohltätigkeitsnetzwerke, Krankenstationen, Schulen,<br />

Moscheen und Essensverteilungen brachten die meisten<br />

neuen Wähler dazu, für sie zu stimmen.<br />

Untitled, 2013<br />

Untitled, 2013<br />

Völker“ von 1848, zwei Ereignisse, <strong>der</strong>en unmittelbare<br />

Folgen fatal waren: <strong>der</strong> Einmarsch russischer Panzer<br />

in die ehemalige Tschechoslowakei und <strong>der</strong> Triumph<br />

reaktionärer und autoritärer Mächte, von Napoleon III.<br />

bis Franz Josef I. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo, auf<br />

<strong>der</strong> Avenue Bourguiba in Tunis, auf den Fernsehbildschirmen<br />

und bei Youtube hat man deshalb nur die jungen<br />

Leute <strong>der</strong> Mittelklasse und <strong>der</strong> Generation 2.0 sehen<br />

wollen. Sie sollten eine strukturelle Verän<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> arabischen Welt belegen, aus <strong>der</strong> <strong>der</strong> Dschihad<br />

und <strong>der</strong> Niqab, Al Qaida, Hamas und Hisbollah wie<br />

durch ein postmo<strong>der</strong>nes Wun<strong>der</strong> verschwunden wären.<br />

Stattdessen sollte eine universelle Gemeinschaft<br />

Nun schlug die Stunde <strong>der</strong> entgegengesetzten<br />

großen Erzählung, wonach es einen<br />

„Kampf <strong>der</strong> Kulturen“ gebe. In <strong>der</strong> Nachfolge<br />

Samuel Huntingtons sah <strong>der</strong> Westen<br />

einen Kampf zwischen unserer jüdisch-christlichen<br />

Demokratie und ihrer unausrottbaren islamischen<br />

Theokratie. Die Wirklichkeit ist komplexer. Die angeblich<br />

antiwestlich gesinnte islamische Zivilisation<br />

ist in Wahrheit tief gespalten. Schiiten stehen gegen<br />

Sunniten, Araber gegen Iraner. Auch Türken, Kurden,<br />

Alawiten, Muslimbrü<strong>der</strong> und Salafisten sind kaum auf<br />

einen gemeinsamen Nenner zu bringen.<br />

Wer die Massaker im Irak und die territoriale Neuvermessung<br />

am Persischen Golf verstehen will, muss<br />

den politischen <strong>Islam</strong>ismus begreifen. Dessen aktuelle<br />

Ausprägung ergibt sich unmittelbar aus den Wi<strong>der</strong>sprüchen<br />

bei <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Muslimbrü<strong>der</strong> – ob es<br />

nun die Feindschaft mit dem Westen ist o<strong>der</strong> die mit<br />

ihm geschlossenen Kompromisse sind und die tiefen,<br />

selbstzerstörerischen inneren Konflikte.<br />

Als Geburtsstunde <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen islamistischen<br />

Bewegungen gilt das Jahr 1928. Damals gründete <strong>der</strong><br />

ägyptische Grundschullehrer Hasan al Banna den Verein<br />

<strong>der</strong> Muslimbrü<strong>der</strong>. Er tat es in Ismailia, am Ufer des<br />

Suezkanals, am Sitz <strong>der</strong> internationalen Kanalgesellschaft,<br />

einem Symbol <strong>der</strong> europäischen Kolonisation.<br />

Die Muslimbrü<strong>der</strong> wollten auf den Ruinen <strong>der</strong> kolonialen<br />

Herrschaft einen islamischen Staat gründen. Die<br />

weltlichen Parteien hingegen traten für einen unabhängigen<br />

Staat ein, dessen Regierung von <strong>der</strong> politischen<br />

Philosophie <strong>der</strong> Aufklärung inspiriert sein sollte. Wie<br />

auch die sozialistischen, kommunistischen und faschistischen<br />

Bewegungen verdankt die Bru<strong>der</strong>schaft ihre<br />

Verbreitung sozialen und wohltätigen Aktivitäten. Sie<br />

verbündete sich mit <strong>der</strong> ägyptischen Monarchie gegen<br />

die große nationalistisch-laizistische Partei.<br />

17<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Untitled, 2013


TITEL<br />

<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />

In <strong>der</strong> chaotischen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

verübt die Bru<strong>der</strong>schaft politische Morde. Ihr<br />

geistlicher Führer Hasan al Banna wird 1949 erschossen.<br />

Als Nasser mit seinen Freien Offizieren im Jahre<br />

1952 <strong>der</strong> Staatsstreich gelingt, stehen einige Muslimbrü<strong>der</strong><br />

ihnen nahe. Dennoch wird die Vereinigung<br />

1954 nach einem gegen Nasser gerichteten, den Brü<strong>der</strong>n<br />

angerechneten Attentat aufgelöst. Ihre Hauptführer<br />

werden erhängt und <strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong> leitenden<br />

Anhänger in ein Lager geschickt. An<strong>der</strong>en gelingt es,<br />

in die Königreiche des Öls zu fliehen, da diese die von<br />

Nasser mit sowjetischer Hilfe errichtete sozialistische<br />

Staatsform ablehnen.<br />

Aus dieser schwierigen Zeit stammt die Märtyrer-<br />

Legende <strong>der</strong> Muslimbrü<strong>der</strong>. Ihr Führer Sayyid Qutb<br />

begründet mit seiner eigenen Erfahrung im Staatsgefängnis,<br />

in dem Folter an <strong>der</strong> Tagesordnung war, seine<br />

Kritik am unabhängigen Staat, spricht ihm jeglichen<br />

muslimischen Charakter ab. Er ruft zu dessen Bekämpfung<br />

auf wie einstmals <strong>der</strong> Prophet. Mohammed wollte<br />

das sündige und götzendienerische Mekka zerstören,<br />

um aus den Ruinen den ursprünglichen islamischen<br />

Staat wie<strong>der</strong> aufzurichten. In seinem Manifest „Meilensteine“<br />

– dem „Was tun?“ <strong>der</strong> islamistischen Bewegung<br />

– for<strong>der</strong>t Sayyid Qutb den bewaffneten Kampf<br />

gegen die „ungläubigen“ Regierungen, die aus <strong>der</strong> Unabhängigkeitsbewegung<br />

entstanden sind. Nasser lässt<br />

ihn 1966 erhängen.<br />

Die furchtbare Nie<strong>der</strong>lage Ägyptens aber gegen<br />

Israel während des Sechstagekriegs im Juni 1967 ruiniert<br />

Nassers Ansehen. Die Muslimbrü<strong>der</strong> sehen darin<br />

ein Strafgericht Allahs über den sündigen Pharao,<br />

<strong>der</strong> Qutb verfolgen ließ. Nachfolger Sadat schenkt den<br />

Brü<strong>der</strong>n die Freiheit. Zugleich instrumentalisiert er<br />

sie, um die linken und weltlichen Aktivisten aus den<br />

Universitäten und Gewerkschaften vertreiben zu können.<br />

Sie verleihen dem „gläubigen Präsidenten“ eine<br />

ebenso wertvolle wie paradoxe Legitimität. Letztlich<br />

ist es ihre Unterstützung, die Sadat in die Lage versetzt,<br />

mit Israel ein Friedensabkommen zu schließen<br />

und den jüdischen Staat anzuerkennen – für die Muslimbrü<strong>der</strong><br />

eine teuflische Gräueltat. Die Unterzeichnung<br />

des Friedensvertrags lässt sie denn auch in den<br />

entschlossenen Wi<strong>der</strong>stand gegen Sadat eintreten. Eine<br />

ihr nahestehende radikale Gruppierung ermordet ihn<br />

im Oktober 1981. Danach prägt Gewalt die Beziehungen<br />

zwischen amtierenden Regierungen und islamistischen<br />

Organisationen. Man erkennt somit seit den Anfängen<br />

dieser Bewegung ihre Ambivalenz, das Ausmaß<br />

ihrer Kompromissbereitschaft mit den Feinden ihrer<br />

Feinde, selbst wenn das Endziel die Errichtung eines<br />

islamistischen Staates bleibt.<br />

Dennoch entsteht dieser nicht in Ägypten, wo Mubarak<br />

Nachfolger Sadats wird. Die islamische Revolution<br />

bricht stattdessen 1978 im Iran aus. Sie wird<br />

Ajatollah Chomeini an die Macht bringen. Diese Revolution<br />

ist nur im geringen Maße von <strong>der</strong> Doktrin <strong>der</strong><br />

Mohammed wollte<br />

das sündige Mekka zerstören,<br />

um den islamischen<br />

Staat aus Ruinen<br />

wie<strong>der</strong> aufzurichten<br />

Muslimbrü<strong>der</strong> beeinflusst und eher dem Schiismus zuzurechnen.<br />

Der Klerus spielt eine tragende Rolle. Seine<br />

Hierarchie funktioniert fast wie eine Revolutionspartei<br />

leninistischer Art, um den Schah zu stürzen und nach<br />

und nach alle Gegner <strong>der</strong> Theokratie zu eliminieren.<br />

Von Anfang an bedroht dieser schiitische radikale <strong>Islam</strong>,<br />

allen Hasstiraden gegen den „großen Satan“ in<br />

Übersee zum Trotz, eher die konservativen sunnitischen<br />

Regierungen <strong>der</strong> nahen Arabischen Halbinsel,<br />

vor allem die saudische Dynastie. Auf <strong>der</strong>en Bitte hin<br />

beginnt <strong>der</strong> sunnitische Führer Saddam Hussein, von<br />

westlichen Mächten umhegt, 1980 den Irak-Iran-Krieg,<br />

den „Ersten Golfkrieg“. Er dauert acht Jahre. Beide<br />

Län<strong>der</strong> bluten aus, die iranische Expansion wird gebremst,<br />

kann jedoch im Libanon mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong><br />

Hisbollah innerhalb <strong>der</strong> schiitischen Gemeinschaft Fuß<br />

fassen. Diese bewaffnete Bewegung wird zu Teherans<br />

Arm gegen die westlichen Interessen und gegen Israel.<br />

Während <strong>der</strong> Krieg zwischen dem sunnitisch<br />

regierten Bagdad und dem schiitischen<br />

Teheran in den achtziger Jahren<br />

kein Ende findet, entsteht in Afghanistan<br />

eine neue Front des <strong>Islam</strong>ismus. An Weihnachten 1979<br />

war die Rote Armee einmarschiert. Sunnitische afghanische<br />

Kämpfer, denen sich „internationale dschihadische<br />

Brigaden“ überwiegend aus Algerien, Ägypten, Saudi-<br />

Arabien und dem Pakistan anschließen, führen einen<br />

Guerillakrieg gegen die sowjetischen Truppen. Der afghanische<br />

Dschihad ist das symbolträchtigste Ereignis<br />

des bewaffneten <strong>Islam</strong>ismus am Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Der Rückzug <strong>der</strong> UdSSR Anfang 1989 verleiht<br />

ihm enormes Ansehen und kündigt nebenbei den Zusammenbruch<br />

<strong>der</strong> sowjetischen Welt an; die Berliner<br />

Mauer fällt am 9. November. Dieser neue <strong>Islam</strong>ismus<br />

wird von <strong>der</strong> CIA ausgestattet und von den sunnitischen<br />

Ölmonarchien <strong>der</strong> Golfregion finanziert.<br />

Letztere schlagen so zwei Fliegen mit einer<br />

Klappe: Sie helfen bei <strong>der</strong> Zerschlagung des Kommunismus<br />

und gebärden sich noch radikaler islamistisch<br />

als <strong>der</strong> revolutionäre Iran. Um sich als Herold <strong>der</strong> gekränkten<br />

islamischen Welt zu profilieren, wird Chomeini<br />

am 14. Februar 1989 die berühmte Fatwa gegen<br />

Salman Rushdie erlassen. Der Roman „Die satanischen<br />

19<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


TITEL<br />

<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />

Verse“ soll blasphemisch sein. Die Fatwa zieht die mediale<br />

Aufmerksamkeit auf sich und stellt das Ereignis<br />

des darauffolgenden Tages, den sowjetischen Rückzug,<br />

in den Schatten. Dennoch wird das Debakel <strong>der</strong> Invasoren<br />

die größere Langzeitwirkung haben und dem<br />

Dschihadismus Dynamik verleihen. In den USA gibt<br />

man sich <strong>der</strong> trügerischen Hoffnung hin, das Phänomen<br />

verschwinde, wenn <strong>der</strong> Geldstrom aus Washington<br />

erlischt. Doch die bärtigen „Freiheitskämpfer“ gegen<br />

die Sowjetunion werden sich zehn Jahre später in<br />

die Terroristen des 11. Septembers verwandelt haben<br />

und in genau jene Hand beißen, die sie gefüttert hatte.<br />

In den neunziger Jahren versuchen die ehemaligen<br />

Dschihadisten aus Afghanistan neue Fronten zu eröffnen<br />

– beson<strong>der</strong>s in Algerien, Bosnien, Ägypten.<br />

Aber obwohl <strong>der</strong> Bürgerkrieg in Algerien die Regierung<br />

beinahe zum Zusammensturz bringt und über<br />

100 000 Tote verursacht, können sie die Bevölkerung<br />

nicht auf ihre Seite ziehen. So entsteht eine Dschihad-Bewegung<br />

ohne geografische Verankerung, die<br />

die digitalen Kommunikationsverbindungen nutzt. Sie<br />

erstreckt sich von Afghanistan, wohin sich die wichtigsten<br />

arabischen Führer des Dschihads zurückgezogen<br />

haben, bis nach „Londonistan“, wie ihr Refugium<br />

in <strong>der</strong> britischen Hauptstadt genannt wird. Der Saudi<br />

Osama bin Laden und <strong>der</strong> Ägypter Aiman al Zawahiri<br />

erreichen eine zweifelhafte internationale Berühmtheit<br />

unter dem Namen Al Qaida („Die Basis“).<br />

Die Attentate vom 11. September seien geplant<br />

als Reaktion gegen das Unvermögen <strong>der</strong> Dschihadisten,<br />

die muslimischen Massen für sich zu mobilisieren,<br />

The Ruler, 2013<br />

erklärt Zawahiri in seinem Manifest „Ritter unter dem<br />

Banner des Propheten“. Der spektakuläre Charakter<br />

des Angriffs, <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Zeichensprache von Hollywood<br />

bedient, sichert ihm weltweite Wirkung und soll<br />

zeigen, dass Amerika ein Koloss auf tönernen Füßen<br />

sei, unfähig, die Verbündeten in <strong>der</strong> arabisch-muslimischen<br />

Welt zu verteidigen. Die Massen <strong>der</strong> Gläubigen<br />

sollen die USA nicht mehr fürchten, Mubarak und<br />

Konsorten stürzen und aus den Trümmern den islamischen<br />

Staat errichten.<br />

Gleichzeitig wird in <strong>der</strong> sunnitischen dschihadistischen<br />

Weltanschauung <strong>der</strong> Angriff gegen New York<br />

und Washington nach dem Sieg über die sowjetischen<br />

Truppen wie ein Remake <strong>der</strong> heiligen Geschichte<br />

des <strong>Islam</strong> erlebt: Die Ritter des Propheten und seiner<br />

Nachfolger besiegten hintereinan<strong>der</strong> die beiden Supermächte<br />

<strong>der</strong> damaligen Zeit, erst das Sassaniden-, dann<br />

das byzantinische Reich. Die Fantasie <strong>der</strong> Gläubigen<br />

wird <strong>der</strong>art stark angeregt, dass <strong>der</strong> 11. September für<br />

viele Berufungen verantwortlich ist und Al Qaida eine<br />

hohe Zahl von jungen islamistischen Rekruten weltweit<br />

sichern konnte – wenngleich er nirgends zur Errichtung<br />

eines islamistischen Staates beitrug.<br />

Die Kamikaze-Dimension des Angriffs, bei dem<br />

<strong>der</strong> Dschihadist sein Leben für den heiligen Terrorismus<br />

opfert, wurde innerislamisch kritisiert, vor allem<br />

von dem Saudi-Arabien treu ergebenen salafistischen<br />

Establishment. Der Schlüsselbegriff, um den so erbittert<br />

gerungen wird, ist <strong>der</strong> Dschihad. Er bezeichnet im<br />

<strong>Islam</strong> die religiöse Pflicht, den Glauben zu verbreiten.<br />

Der Prophet, <strong>der</strong> alle islamischen Tugenden vereint, war<br />

bezeichnen<strong>der</strong>weise beides, ein entschiedener Krieger<br />

und ein Staatsgrün<strong>der</strong>. Die heiligen Texte des <strong>Islam</strong> dokumentieren<br />

in großer Ausführlichkeit seine Schlachten<br />

und seine Unbarmherzigkeit gegenüber den Feinden,<br />

beson<strong>der</strong>s wenn diese als „Ungläubige“ o<strong>der</strong> „Apostaten“<br />

zum Tode verurteilt wurden. Die wörtliche Auslegung<br />

eines solchen Brachial-<strong>Islam</strong> liefert die Rechtfertigung<br />

für die Gewaltakte <strong>der</strong> Dschihadisten, vom<br />

Afghanistan <strong>der</strong> achtziger Jahre bis hin zum neu ausgerufenen<br />

„<strong>Islam</strong>ischen Kalifat“ von IS im Juli 2014.<br />

Auch die Attentate von Nairobi, Bali, Madrid, London,<br />

die die Welt zu Beginn des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts in<br />

Angst und Schrecken versetzen, finden in Saudi-Arabien<br />

keine Zustimmung: Der <strong>Islam</strong>, heißt es, verbiete<br />

den Selbstmord. Durch ihre Radikalität for<strong>der</strong>n die<br />

Terroristen die saudische Vormachtstellung über den<br />

sunnitischen <strong>Islam</strong>ismus heraus. So bedrohte Al Qaida<br />

zwischen 2003 und 2006 auf <strong>der</strong> Arabischen Halbinsel<br />

die Riad-Monarchie durch eine umfassende terroristische<br />

Kampagne. Die eindrücklichsten Selbstmordaktionen<br />

sind aber <strong>der</strong> palästinensischen Hamas und <strong>der</strong><br />

schiitischen libanesischen Hisbollah zuzuschreiben.<br />

Beide sind mit dem Iran verbunden und verbessern<br />

so die Position Teherans im Kampf um die muslimische<br />

Hegemonie gegenüber den sunnitischen Feinden<br />

aus den Ölmonarchien in <strong>der</strong> Golfregion.<br />

Malerei: Ahmed Alsoudani/ Courtesy: VW (Veneklasen/Werner), Berlin (Seiten 15 bis 20); Foto: DDP<br />

20<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


MILITANTER ISLAM<br />

MUSLIMBRÜDER<br />

Die Muslimbru<strong>der</strong>schaft ist die Mutterorganisation des<br />

politischen <strong>Islam</strong>. Von einer kleinen Gruppe um den<br />

Grundschullehrer Hasan al Banna 1928 in Ägypten<br />

gegründet, propagiert sie eine „Rückkehr zum <strong>Islam</strong>“.<br />

In kurzer Zeit wuchs die Bru<strong>der</strong>schaft zur Massenbewegung,<br />

die Wohlfahrtsorganisationen betreibt, aber<br />

auch versucht, Armee und Verwaltung zu infiltrieren.<br />

2012 gewann <strong>der</strong> Muslimbru<strong>der</strong> Mohammed al Mursi<br />

die Präsidentenwahl. Ein Jahr später setzte die Armee<br />

ihn ab. Wie schon oft in ihrer Geschichte werden die<br />

Muslimbrü<strong>der</strong> erneut brutal verfolgt.<br />

HAMAS<br />

Seit ihrem Wahlsieg 2006 regiert Hamas über den<br />

Ga zastreifen. 1987 von Achmed Yassin als Zweig <strong>der</strong><br />

Muslimbru<strong>der</strong>schaft und als Opposition gegen die<br />

säkulare PLO gegründet, setzte auch Hamas auf eine<br />

Kombination von Sozialleistungen und Gewalt. Ihre<br />

Charta ruft zur Vernichtung Israels auf – nach <strong>der</strong><br />

Unterzeichnung des Osloer Abkommens 1993 war sie<br />

für zahlreiche Selbstmordattentate in Israel verantwortlich.<br />

Nachdem Israel den Gazastreifen abgeriegelt<br />

hat, um weitere Attentate zu verhin<strong>der</strong>n, verlegt sie<br />

sich auf regelmäßigen Raketenbeschuss.<br />

HISBOLLAH<br />

Die „Partei Gottes“ sieht sich als eine <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Vertreterinnen <strong>der</strong> schiitischen Bevölkerung des Libanon.<br />

Sie wurde 1982 mit iranischer Unterstützung gegründet<br />

und ist zu einer Art Staat im Staat geworden. Hisbollah<br />

ist im Parlament und in <strong>der</strong> Regierung vertreten und<br />

unterhält auch die schlagkräftigste Miliz des Nahen<br />

und Mittleren Ostens, die zurzeit an <strong>der</strong> Seite Baschar<br />

al Assads in Syrien kämpft und ein gegen Israel gerichtetes<br />

Raketenarsenal im Süden Libanons unterhält.<br />

Hisbollah wird für zahlreiche Attentate auch außerhalb<br />

des Nahen Ostens verantwortlich gemacht.<br />

AL QAIDA<br />

„Die Basis“ ist seit den Anschlägen vom 11. September 2001<br />

die wohl bekannteste Terrororganisation. Von Osama<br />

bin Laden 1988 gegründet, richtete sie sich zunächst<br />

gegen die Präsenz von US-Truppen auf saudischem<br />

Boden. Später kam die Verteidigung des <strong>Islam</strong> mit einem<br />

Dschihad gegen „Ungläubige“ hinzu. Seit dem Tod bin<br />

Ladens am 2. Mai 2011 gilt <strong>der</strong> Ägypter Ayman al Zawahiri<br />

als Kopf einer Dachorganisation, unter <strong>der</strong> sich inzwischen<br />

zahlreiche regionale Dschihadisten-Gruppierungen<br />

wie „Al Qaida im Zweistromland“ im Irak o<strong>der</strong> „Al Qaida<br />

auf <strong>der</strong> Arabischen Halbinsel“ im Jemen gebildet haben.<br />

ISIS ODER IS<br />

Aus einer dieser „Untergruppierungen“, <strong>der</strong> „ Al-Qaida<br />

im Irak“, ging die dschihadistische Terrororganisation<br />

„<strong>Islam</strong>ischer Staat in Irak und Syrien“ hervor. Sie strebt<br />

die Errichtung eines islamischen Kalifats an, das den<br />

Irak und Syrien, aber auch Jordanien, Libanon und<br />

Israel/Palästina umfasst. Im syrischen Bürgerkrieg<br />

kämpft sie gegen Baschar al Assad, aber auch gegen<br />

die freie syrische Armee und Kurden im Norden des<br />

Landes. Im Irak eroberte sie jüngst weite Teile des sunnitischen<br />

Nordens mit <strong>der</strong> Stadt Mosul. Seit Mai 2010<br />

ist Abu Bakr al Baghdadi ihr Anführer.<br />

Die Reaktion <strong>der</strong> USA auf den 11. September bestand<br />

darin, zwei Jahre später in Saddam Husseins Irak<br />

einzumarschieren. Den Vorwand gaben eine vage Verbundenheit<br />

mit dem Dschihadismus ab und <strong>der</strong> Verdacht,<br />

<strong>der</strong> Diktator besitze Massenvernichtungswaffen.<br />

Die Besatzung Iraks diente <strong>der</strong> Regierung Bush, nach<br />

dem Tod Husseins einen schiitisch dominierten Staat<br />

zu errichten. Durch einen solchen Gegenpol wollte<br />

man das sunnitische Saudi-Arabien bestrafen, da 15<br />

<strong>der</strong> 19 Selbstmordattentäter vom 11. September aus<br />

diesem Land gekommen waren. Außerdem sollte <strong>der</strong><br />

Weltmarkt mit irakischem Öl versorgt werden. Schließlich<br />

sah man in einem proamerikanischen, prosperierenden<br />

schiitischen Staat ein Vorzeigemodell, das die<br />

iranischen Bürger ermuntern sollte, die Mullahs zu<br />

stürzen. Diese naive Wahrnehmung basierte auf <strong>der</strong><br />

Erfahrung mit <strong>der</strong> Übergangssituation im sowjetischen<br />

Osteuropa. Ein großes Chaos im Irak war das Resultat,<br />

die jüngsten Ausläufer sind die Mordaktionen von IS.<br />

Paradoxerweise stärkte also die amerikanische Sichtweise<br />

den Iran, den man einhegen wollte.<br />

Der „Arabische Frühling“ hat den Akteuren<br />

<strong>der</strong> zivilen Gesellschaft ermöglicht, sich für<br />

die Demokratie einzusetzen. Er gefährdet<br />

aber seit 2012 das geopolitische Gleichgewicht<br />

<strong>der</strong> Region, indem er die Län<strong>der</strong>, in denen er<br />

sich ereignet, schwächt und die Karten neu verteilt.<br />

Die sunnitischen Dschihadisten sehen sich als Kin<strong>der</strong><br />

bin Ladens, lassen sich aber in die Machtkämpfe in<br />

Syrien und Irak hineinziehen, während Al Qaida eine<br />

transnationale Organisation war. Sie gefährden Teheran<br />

durch den Druck, den sie auf Assad in Syrien und<br />

Maleki im Irak zu jenem Zeitpunkt ausüben, da die<br />

Verhandlungen zwischen Iran und den USA zu Ende<br />

gehen. Sollten diese erfolgreich abgeschlossen werden,<br />

sähen sich die sunnitischen Öl-Königreiche <strong>der</strong> Arabischen<br />

Halbinsel geschwächt. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

mussten die schiitischen <strong>Islam</strong>isten <strong>der</strong> libanesischen<br />

Hisbollah, die den Druck auf Israel konstant halten sollen,<br />

militärisch gegen die syrische sunnitische Revolution<br />

eingreifen. Damit wurde die Stellung Assads gesichert,<br />

<strong>der</strong> Druck auf Israel wie<strong>der</strong>um gelockert. Israel<br />

kann nun dank des syrischen Engagements <strong>der</strong> Hisbollah<br />

ungehin<strong>der</strong>t die Hamas bekämpfen.<br />

Momentan sind Muslime die Hauptopfer <strong>der</strong> islamistischen<br />

Terrorbewegungen. Europa aber wäre gut<br />

beraten, ernsthaft über eine zentrale Frage nachzudenken:<br />

Was bedeutet die Rückkehr vieler Tausen<strong>der</strong><br />

europäischer IS-Kämpfer in die europäischen Staaten?<br />

Übersetzung: Dorothée Pschera<br />

GILLES KEPEL ist Professor am Institut<br />

d’études politiques de Paris. Er widmet sich seit<br />

30 Jahren <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen muslimischen Welt und<br />

schrieb u. a. „Das Schwarzbuch des Dschihad“<br />

und „Die Spirale des Terrors“<br />

21<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


TITEL<br />

Kommentar<br />

TOTALITÄRE<br />

RELIGION<br />

Mo<strong>der</strong>ne Zivilisation<br />

bedeutet die freie<br />

Gesellschaft des christlichjüdischen<br />

Kulturkreises.<br />

Der <strong>Islam</strong> aber funktioniert<br />

wie eine reaktionäre<br />

Zeitmaschine<br />

Von<br />

FRANK A. MEYER<br />

Wie lautete er gleich wie<strong>der</strong>, jener Satz des byzantinischen<br />

Kaisers Manuel II. Palaiologos,<br />

den Papst Benedikt XVI. bei <strong>der</strong> ominösen<br />

Regensburger Vorlesung im September 2006 zitierte?<br />

„Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht<br />

hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes<br />

finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben,<br />

den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.“<br />

Für den damaligen Bischof von Rom wurde <strong>der</strong><br />

Auftritt zum PR-Desaster. Wie steht es heute mit dem<br />

acht Jahre alten Zitat, mit dem 600 Jahre alten Satz?<br />

Bewahrheitet sich die Aussage nicht tagtäglich?<br />

Der <strong>Islam</strong> wütet durch nahezu sämtliche Regionen,<br />

die er religiös bestimmt: Massaker unter Muslimen,<br />

Terror gegen An<strong>der</strong>sgläubige, Entführung von<br />

Mädchen, Erniedrigung von Frauen, Vernichtung von<br />

Kulturgut, Versklavung von Arbeitern.<br />

Die Liste ist endlos. Der <strong>Islam</strong> beherrscht die<br />

Nachrichten, noch immer und weiterhin.<br />

Der <strong>Islam</strong>?<br />

Unter Linken, Grünen und Linksliberalen gilt die<br />

Sprachregelung, dass <strong>der</strong>lei Schrecken, wie sie Tag und<br />

Nacht aus Allahs Hoheitsgebieten zu vermelden sind,<br />

nichts, aber auch gar nichts mit dem <strong>Islam</strong> zu tun haben,<br />

dass es sich vielmehr um <strong>Islam</strong>ismus handle, um<br />

Dschihadismus gar, welcher – zugegeben – das Böse<br />

sei, ganz im Gegensatz jedoch zum friedfertigen und<br />

wohltätigen <strong>Islam</strong>. Denn diese Religion sei gut.<br />

Es war Benedikts Fehler, dass er sich in Regensburg<br />

nicht an solchen Neusprech hielt. Es ist <strong>der</strong> Fehler<br />

<strong>der</strong> muslimischen <strong>Islam</strong>kritiker Necla Kelek und<br />

Hamed Abdel-Samad, wie es überhaupt <strong>der</strong> Fehler ist<br />

von allen, die in Mohammeds Verkündigung den Schoß<br />

erblicken, aus dem das Ungeheuer kroch und kreucht<br />

und kriechen wird.<br />

Könnte es sein, dass es so ist, wie es scheint?<br />

Könnte es sein, dass eine historisch heillos verspätete<br />

Religion die Gegenwart mit ihrer For<strong>der</strong>ung<br />

heimsucht, die Geschichte müsse zurückgedreht werden<br />

um mindestens 300 Jahre, nämlich in die Zeit vor<br />

<strong>der</strong> Aufklärung?<br />

Könnte es sein, dass <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> wie eine reaktionäre<br />

Zeitmaschine funktioniert?<br />

Der Koran-Komplex, zu dem die Scharia und die<br />

sogenannten Überlieferungen zu zählen sind, erhebt<br />

unverblümt Anspruch auf Macht sowohl über die Gesellschaft<br />

wie über den Gläubigen. Also die totale<br />

Macht über das menschliche Leben – totalitäre Macht,<br />

wie keine säkulare Despotie o<strong>der</strong> Diktatur sie je auszuüben<br />

imstande war.<br />

Aber so funktioniert nun einmal jede Religion mit<br />

politischem Herrschaftsanspruch: Sie sichert das gesellschaftliche<br />

Gefängnis hermetisch ab, bis hinein in die<br />

Seele des Menschen, so dass er seine Unterwerfung als<br />

Glaubensakt erfährt. Tief verschleierte Frauen, die erklären,<br />

sie stülpten sich Burka, Tschador o<strong>der</strong> Hidschab<br />

freiwillig über, liefern dazu das Sinnbild.<br />

Mo<strong>der</strong>ne Zivilisation dagegen bedeutet nichts an<strong>der</strong>es<br />

als die freie Gesellschaft des jüdisch-christlichen<br />

Kulturkreises. Was wie<strong>der</strong>um bedeutet: blühende Forschung<br />

und Wissenschaft und Literatur und Philosophie<br />

und Kunst und überhaupt die unbändige Lust an<br />

Verän<strong>der</strong>ung und Entwicklung.<br />

Das Resultat ist das, was Karl Popper, <strong>der</strong> größte<br />

Philosoph <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Demokratie, die „offene Gesellschaft“<br />

genannt hat. Popper meinte damit eine Gesellschaft,<br />

die sich nach dem Prinzip Versuch und Irrtum<br />

entwickelt – allein dieses Prinzip ist in den Augen<br />

islamischer Rechtgläubiger des Teufels.<br />

Doch exakt dieses Prinzip, seit den Frühzeiten <strong>der</strong><br />

Aufklärung sukzessive eingeübt – und nicht zuletzt gegen<br />

die katholische Kirche durchgesetzt –, begründet<br />

den gewaltigen Erfolg <strong>der</strong> westlichen Welt sowie ihre<br />

Distanz zur islamischen Kultur.<br />

So pflegt das Prinzenpack <strong>der</strong> arabischen Despotien<br />

zwar über iPhone zu kommunizieren – die eigene<br />

Kultur aber ist zu keiner vergleichbaren technischen<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

22<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Anzeige<br />

Leistung fähig. Auch inszenieren sich die Protz-Potentaten<br />

weltweit als Investoren – für die Arbeit zu<br />

Hause aber sind sie angewiesen auf die Fachkräfte aus<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft <strong>der</strong> Ungläubigen. Mit ihren Fonds, gesättigt<br />

durch Ausbeutung fossiler Energieträger, kaufen<br />

sie sich ein in westliche Unternehmen – verbieten<br />

ihren Frauen aber das Autofahren.<br />

Während die computergetriebene Börse die Abwicklung<br />

globaler Geschäfte in Nanosekunden ermöglicht,<br />

in <strong>der</strong> permanenten Gleichzeitigkeit, in <strong>der</strong> absoluten<br />

Jetztzeit, lebt <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> ein Bewusstsein, dessen<br />

historische Zeitzone Hun<strong>der</strong>te von Jahren zurückliegt.<br />

Für die Menschen dieses Kulturraums tief im Brunnen<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit bedeutet das: Behin<strong>der</strong>ung von<br />

Intelligenz, von Neugierde, von Ehrgeiz, von Eigenverantwortung<br />

– von Leben! Und zwar nicht nur für<br />

Frauen, denen ja schon das Kopftuch jedes spontane<br />

und neugierige Wechseln <strong>der</strong> Blickrichtung erschwert.<br />

Nein, auch Männer, zumal die jungen, werden in<br />

ihrer Entwicklung gehemmt durch die vom Koran gelehrte<br />

Selbstgewissheit: Es genügt, dass ich ein Mann<br />

bin! Konsequenz dieser jämmerlichen Macho-Identität<br />

ist die Unterdrückung <strong>der</strong> Frau – ein männliches Erziehungsrecht,<br />

das laut Koran-Sure 4,34 die körperliche<br />

Züchtigung einschließt.<br />

All die Dogmen sind bis heute gültig, und zwar so<br />

sehr gültig, dass die von westlichen Unternehmen hofierten<br />

arabischen Geschäftspartner nach ihrer Rückkehr<br />

von Meetings in Zürich, Frankfurt o<strong>der</strong> London<br />

Dschihadisten finanzieren: Saudi-Arabien und Katar<br />

betätigen sich seit Jahren als Mäzene <strong>der</strong> mör<strong>der</strong>ischen<br />

Feinde von Demokratie und Rechtsstaat.<br />

Wenn dies aber mit dem richtig verstandenen <strong>Islam</strong><br />

nichts zu tun hätte, wie es uns das Mantra <strong>der</strong><br />

deutschen Berufstoleranzler unablässig weiszumachen<br />

versucht, dann müsste es doch irgendwo und irgendwann<br />

muslimische Auflehnung gegen den Missbrauch<br />

ihrer Religion geben: Bewegungen von Tausenden und<br />

Zehntausenden, ja Millionen Gläubigen, die Massaker<br />

und Terror nicht weiter hinzunehmen gewillt sind –<br />

und diesem Unwillen auch Ausdruck verleihen.<br />

Wo sind sie?<br />

Wann immer in westlichen Demokratien politisches<br />

Unrecht geschieht, strömen Bürgerinnen und<br />

Bürger ins Freie und lehren ihre Eliten das Fürchten –<br />

sei es in Washington, Berlin o<strong>der</strong> Tel Aviv.<br />

Vergleichbar massenhafte Manifestationen von<br />

Muslimen gegen muslimische Macht – sie würden das<br />

Ankommen des <strong>Islam</strong> im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t bedeuten.<br />

Bundespräsident Christian Wulff hinterließ nach<br />

seiner kurzen Amtszeit einen einzigen bemerkenswerten<br />

Satz: „Der <strong>Islam</strong> gehört zu Deutschland.“<br />

Es war die Antwort auf die falsche Frage. Die richtige<br />

Frage lautet: „Gehört <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> in unsere Zeit?“<br />

FRANK A. MEYER ist Journalist und Gastgeber<br />

<strong>der</strong> politischen Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat


TITEL<br />

<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />

„KEIN ISLAM OHNE<br />

ISLAMISMUS“<br />

Religion des Friedens o<strong>der</strong><br />

Anstiftung zur Gewalt?<br />

Der <strong>Islam</strong>kritiker Hamed<br />

Abdel-Samad und die<br />

<strong>Islam</strong>wissenschaftlerin und<br />

Religionspädagogin Lamya<br />

Kaddor im Streitgespräch<br />

Mo<strong>der</strong>ation ALEXANDER KISSLER<br />

und ALEXANDER MARGUIER<br />

Herr Abdel-Samad, sind Sie eigentlich noch Muslim?<br />

Hamed Abdel-Samad: In einem konfessionellen<br />

Sinn gewiss nicht, kulturell schon eher. Ich habe mir<br />

den <strong>Islam</strong> nicht ausgesucht, aber er fließt gewissermaßen<br />

durch meine A<strong>der</strong>n. Ich bekomme ihn nicht los.<br />

<strong>Ist</strong> es denn überhaupt möglich, aus dem <strong>Islam</strong><br />

auszutreten?<br />

Lamya Kaddor: Das kommt auf die Perspektive an<br />

und wie man einen solchen Austritt versteht. Viele islamische<br />

Theologen bejahen dieses Recht, an<strong>der</strong>e lehnen<br />

es ab.<br />

Abdel-Samad: Das ist typisch für den <strong>Islam</strong>. Man<br />

findet immer jemanden, <strong>der</strong> haarklein begründet, warum<br />

eine Sache so und nicht an<strong>der</strong>s sein müsse – und<br />

man findet jemanden, <strong>der</strong> das Gegenteil ebenso islamisch<br />

begründet.<br />

Kaddor: In allen Religionen gibt es verschiedene<br />

Interpretationen. Das ist nichts Beson<strong>der</strong>es.<br />

Abdel-Samad: Nur <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> aber tritt mit dem<br />

Anspruch auf, er sei das letzte und endgültige Wort<br />

Gottes. Wenn Gott im Koran ein für alle Mal gesprochen<br />

haben soll, muss ich erwarten können, dass er<br />

sich eindeutig äußert. Das tut er aber nicht. Der Koran<br />

steckt voller innerer Wi<strong>der</strong>sprüche. Sie bilden<br />

den Keim für die blutigen innerislamischen Schlachten,<br />

die unmittelbar nach Mohammeds Tod begonnen<br />

haben. Ein Gott, <strong>der</strong> so etwas wollen kann, wäre ein<br />

Psychopath.<br />

Kaddor: Geht es auch ohne Polemik? Wir müssen<br />

uns schon die Mühe machen zu differenzieren. Der Koran<br />

for<strong>der</strong>t dazu auf, selbst nachzudenken.<br />

Abdel-Samad: Wenn mich mein Nachdenken aber<br />

dazu verleitet, den <strong>Islam</strong> verlassen zu wollen, hört <strong>der</strong><br />

Spaß sofort auf.<br />

Aber warum geschieht dieses eigenständige Nachdenken<br />

so selten? Gegenwärtig gewinnen weltweit<br />

jene Kräfte an Einfluss, die den Koran wörtlich und<br />

sehr rigide auslegen.<br />

Kaddor: Auch ich bin mit <strong>der</strong> Praxis des <strong>Islam</strong> in<br />

weiten Teilen <strong>der</strong> arabischen Welt ziemlich unzufrieden.<br />

In den letzten Jahrhun<strong>der</strong>ten hat sich <strong>der</strong> <strong>Islam</strong><br />

dort lei<strong>der</strong> eher zurückentwickelt.<br />

Abdel-Samad: Das gilt nicht nur für die letzten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>te. Sobald die Scharia herrscht, ist es vorbei<br />

mit Toleranz und Pluralität.<br />

Kaddor: Stopp! Es gibt gar nicht die eine Scharia,<br />

son<strong>der</strong>n sehr unterschiedliche Verständnisse und<br />

Umsetzungen.<br />

Abdel-Samad: Das mag stimmen, aber es schält<br />

sich doch eine gemeinsame Idee heraus. Egal, ob es<br />

sich um Schiiten o<strong>der</strong> Sunniten handelt, ob wir nach<br />

Iran o<strong>der</strong> Saudi-Arabien schauen, ob wir Boko Haram,<br />

Hamas, Hisbollah, die Schabab-Miliz o<strong>der</strong> Isis fragen:<br />

Überall bedeutet die Scharia, dass die Bevölkerung im<br />

Namen Gottes bevormundet wird und dass körperliche<br />

Strafen und ein auf den Mann zugeschnittenes Familienrecht<br />

eingeführt werden.<br />

Kaddor: Natürlich gibt es diese Auswüchse,<br />

und diese zu bekämpfen, ist ein Anliegen aller<br />

Für die im westfälischen Ahlen geborene Lamya<br />

Kaddor ist <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> spirituell überzeugend<br />

24<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


kämpferische Auseinan<strong>der</strong>setzungen in dessen Frühzeit,<br />

und Gott hat Mohammed tatsächlich erlaubt,<br />

Gewalt anzuwenden. Es ist aber immer Gewalt unter<br />

bestimmten Voraussetzungen und nach bestimmten<br />

Regeln. Die Abhandlungen <strong>der</strong> Religionsgelehrten<br />

sind voll davon. Blinde Gewalt gibt es selbst im<br />

Dschihad nicht.<br />

Abdel-Samad: Genau das ist <strong>der</strong> Kern des Problems.<br />

Der Koran verteufelt Gewalt nicht, son<strong>der</strong>n<br />

schafft lediglich Regeln <strong>der</strong> Gewaltanwendung.<br />

Fotos: Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong><br />

Der aus Ägypten stammende Politologe<br />

Hamed Abdel-Samad kritisiert die Scharia<br />

gesellschaftlichen Akteure. Wir tun uns aber keinen<br />

Gefallen, wenn wir die islamophobe Karte spielen<br />

und jede Fehlentwicklung dem <strong>Islam</strong> anlasten. Lei<strong>der</strong><br />

unterscheidest auch du nicht zwischen <strong>Islam</strong> und<br />

<strong>Islam</strong>ismus.<br />

Kann es da denn eine scharfe begriffliche Trennlinie<br />

geben?<br />

Abdel-Samad: Ich bezweifle es sehr stark. Derzeit<br />

sind, wenn ich es recht sehe, 57 Staaten Mitglied<br />

<strong>der</strong> <strong>Islam</strong>ischen Konferenz. Kein einziger ist eine islamismusfreie<br />

Zone. Es gibt eben lei<strong>der</strong> keinen <strong>Islam</strong><br />

ohne <strong>Islam</strong>ismus.<br />

Kaddor: Es ist auch keine beson<strong>der</strong>e Glanzleistung,<br />

aus einer Religion <strong>der</strong>en Gewaltpotenzial herauszufiltern<br />

und darauf eine recht simple Ideologie<br />

zu gründen.<br />

Abdel-Samad: Das Gewaltpotenzial ist das<br />

stärkste Angebot des <strong>Islam</strong>. Das Friedenspotenzial<br />

ist viel schwächer ausgeprägt.<br />

Kaddor: Du machst es dir schon wie<strong>der</strong> zu einfach.<br />

Wir müssen das Friedenspotenzial des <strong>Islam</strong> allein<br />

schon deshalb anerkennen, weil sich große Teile<br />

<strong>der</strong> Weltbevölkerung zu diesem Glauben aus spirituellen,<br />

nicht aus politischen o<strong>der</strong> sonstigen Gründen<br />

bekennen. Sie finden im <strong>Islam</strong> ein Menschen- und ein<br />

Gottesbild, das sie überzeugt, sie finden Trost und<br />

Hilfe in oft sehr schwierigen Situationen, eine Ethik<br />

des gelebten Miteinan<strong>der</strong>s.<br />

Der <strong>Islam</strong> hat keine beson<strong>der</strong>e Affinität zur Gewalt?<br />

Kaddor: Nein, aber er hat einen beson<strong>der</strong>s realistischen,<br />

ja pragmatischen Blick auf Gewalt. Es gab<br />

Derzeit erleben wir sehr starke innerislamische Gewalt<br />

zwischen Sunniten und Schiiten. Das Morden,<br />

so scheint es, will nicht enden. <strong>Ist</strong> eine solche Gewalt<br />

von Muslimen an Muslimen eigentlich vom Koran<br />

gedeckt?<br />

Abdel-Samad: Es gibt einen Vers im Koran, <strong>der</strong><br />

besagt: Wenn zwei Gemeinschaften unter euch gegeneinan<strong>der</strong><br />

kämpfen, dann kämpft gegen diejenige, die<br />

ungerecht ist, bis sie umkehrt.<br />

Kaddor: Es gibt aber auch einen Ausspruch des<br />

Propheten, wonach sich im Dschihad <strong>der</strong> Muslim gegen<br />

einen Nichtmuslim zur Wehr setzen kann. Ich möchte<br />

einen solchen Dschihad keineswegs rechtfertigen, aber<br />

auf den Unterschied hinweisen.<br />

Abdel-Samad: Der <strong>Islam</strong> gibt sich nur so lange<br />

friedlich, wie er in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit ist. In Mekka fand<br />

Mohammed freundliche Worte für Juden und Christen,<br />

in Medina, mit Staat und Armee im Rücken, rief<br />

er dazu auf, die Ungläubigen zu töten. Wer sich nur auf<br />

die friedliebenden Passagen im Koran beruft, macht<br />

es im Grunde nicht an<strong>der</strong>s als die Fundamentalisten,<br />

die zur Begründung ihres Anspruchs nur die Passagen<br />

aus Medina gelten lassen.<br />

Kaddor: Da muss ich wi<strong>der</strong>sprechen. Mein liberales<br />

Verständnis vom <strong>Islam</strong> geht nicht davon aus, dass<br />

ich die alleinige Wahrheit gepachtet habe. Ich werbe<br />

für mehr innerislamische Pluralität und muss darum<br />

tolerieren, dass es auch fundamentalistische Sichtweisen<br />

und Ausübungen gibt.<br />

Hoffen Sie, dass diese Fundamentalismen mittelfristig<br />

verschwinden?<br />

Kaddor: Das war meine Hoffnung für Ägypten, für<br />

Syrien, für Tunesien. Im Moment habe ich diese Hoffnung<br />

nicht. Oft ist es ein erbitterter Streit um Macht<br />

„Der Koran for<strong>der</strong>t<br />

dazu auf, selbst<br />

nachzudenken“<br />

Lamya Kaddor<br />

25<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


TITEL<br />

<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />

und um Territorien, weniger um Religion. Isis aber<br />

kämpft bereits gegen Christen und an<strong>der</strong>e Min<strong>der</strong>heiten,<br />

sodass ich befürchte, die nächste Stufe <strong>der</strong> Eskalation<br />

wird <strong>der</strong> konfessionelle Kampf sein bis aufs Blut.<br />

Abdel-Samad: Es ist ein Kampf um Identitäten,<br />

und Religion ist <strong>der</strong> Hauptmotor je<strong>der</strong> Identitätsbildung<br />

in diesen Regionen. Sie bestimmt die Art und<br />

Weise, wie über Politik, über Bildung, über Familie<br />

und Erziehung nachgedacht wird.<br />

Kaddor: Es gibt ja auch keinerlei funktionierende<br />

Zivilgesellschaft. Zudem haben die Menschen in Ägypten<br />

und Syrien momentan an<strong>der</strong>e Probleme, als wir sie<br />

hier verhandeln.<br />

HAMED ABDEL-SAMAD<br />

Im Juli 2014 gab <strong>der</strong> Autor ( u. a.<br />

„Der islamische Faschismus“,<br />

„Mein Abschied vom Himmel“)<br />

bekannt, dass er Deutschland<br />

nach 19 Jahren verlassen werde:<br />

„Deutschland wird immer<br />

ungemütlicher für Menschen<br />

wie mich. Das ist kein Vorwurf, son<strong>der</strong>n eine<br />

Warnung. Ja, ich bin müde geworden und kann<br />

den Druck nicht mehr aushalten.“ Im Sommer<br />

2013 erließ ein ägyptischer Geistlicher einen<br />

Mordaufruf nach einem islamkritischen Vortrag<br />

Abdel-Samads in Kairo. Er habe den Propheten<br />

beleidigt<br />

Umfragen deuten darauf hin, dass auch hierzulande<br />

junge Muslime sich zunehmend radikalisieren. Sind<br />

das Rückkopplungseffekte?<br />

Kaddor: Solche Effekte gibt es. Allerdings werden<br />

da nicht fromme Menschen plötzlich beson<strong>der</strong>s fromm,<br />

son<strong>der</strong>n Menschen in Identitätskrisen, oft in <strong>der</strong> späten<br />

Pubertät, suchen nach einem Halt in <strong>der</strong> Transzendenz.<br />

Die Botschaft <strong>der</strong> Salafisten fällt bei solchen Jugendlichen<br />

auf fruchtbaren Boden.<br />

In <strong>der</strong> Regel sind es junge Männer, die sich radikalisieren.<br />

<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> eine Machoreligion? Sie, Herr<br />

Abdel-Samad, haben in Ihrem Buch „<strong>Islam</strong>ischer Faschismus“<br />

vorgerechnet, dass einem Gotteskrieger<br />

5040 Frauen zur Belohnung im Paradies versprochen<br />

werden.<br />

Abdel-Samad: In <strong>der</strong> Tat. Der Koran schweigt sich<br />

dazu aus, in den Sprüchen des Propheten aber wird<br />

mehrfach <strong>der</strong> Märtyrerlohn von 72 Jungfrauen erwähnt.<br />

Jede Jungfrau hat wie<strong>der</strong>um 70 schöne Dienerinnen,<br />

ergibt summa summarum 5040 Frauen pro<br />

Märtyrer.<br />

Kaddor: Der <strong>Islam</strong> ist nun einmal eine patriarchalisch<br />

ausgerichtete Religion, das lässt sich nicht weginterpretieren.<br />

Gott sprach vor 1500 Jahren zu einer<br />

männlich dominierten Gesellschaft.<br />

Abdel-Samad: Vielleicht sollten wir sagen, ein<br />

Mann sprach zu Männern. Von Gott hätte ich erwartet,<br />

LAMYA KADDOR<br />

legte soeben gemeinsam mit<br />

Michael Rubinstein „So fremd<br />

und doch so nah – Juden und<br />

Muslime in Deutschland“ vor.<br />

Sie schrieb auch „Muslimisch,<br />

weiblich, deutsch! Mein Weg<br />

zu einem zeitgemäßen <strong>Islam</strong>“<br />

und gab, gemeinsam mit Rabeya Müller, einen<br />

„Koran für Kin<strong>der</strong> und Erwachsene“ heraus. Sie<br />

ist Gründungsmitglied und Erste Vorsitzende<br />

des Liberal-<strong>Islam</strong>ischen Bundes e. V. und<br />

lehrte am „Centrum für Religiöse Studien“ <strong>der</strong><br />

Westfälischen Wilhelms-Universität Münster<br />

dass er genügend Weitsicht besitzt, um nicht nur die<br />

damalige Gesellschaft, son<strong>der</strong>n die Menschheit als solche<br />

im Blick zu haben.<br />

Haben Sie, Frau Kaddor, ein Problem mit diesem<br />

Patriarchalismus?<br />

Kaddor: Aber natürlich! Ich muss einfach in Rechnung<br />

stellen, dass Gott immer in Kontexten spricht,<br />

und dass <strong>der</strong> damalige Kontext eben eine Gesellschaft<br />

<strong>der</strong> Zeltbewohner war, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mann das Sagen<br />

hatte. An<strong>der</strong>erseits hat <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> die Position <strong>der</strong> Frau<br />

gestärkt. Frauen durften nun erben und vererben, arbeiten<br />

und Geld besitzen.<br />

Abdel-Samad: Der Koran erlaubt den Männern,<br />

wi<strong>der</strong>spenstige Frauen zu schlagen. Sie sollen den<br />

Männern immer zur sexuellen Verfügung stehen, sie<br />

werden als sein „Saatfeld“ bezeichnet. Tut mir leid,<br />

aber <strong>der</strong> Gott des Korans fällt hinter Aristoteles und<br />

Platon zurück, die Jahrhun<strong>der</strong>te vor Mohammed viel<br />

vernünftiger und aufgeklärter argumentiert haben.<br />

Kaddor: Noch einmal zum Mitschreiben, lieber<br />

Hamed: Mohammed wäre gar nicht angenommen worden,<br />

wenn er einer sehr patriarchalisch geprägten Gesellschaft<br />

die gleichen Rechte und Pflichten von Männern<br />

und Frauen verkündet hätte. Ich wun<strong>der</strong>e mich<br />

doch sehr, dass du die Aussagen des Korans genauso<br />

wörtlich interpretierst wie deine Gegner, die <strong>Islam</strong>isten<br />

und Fundamentalisten. Und gleichzeitig als aufgeklärt<br />

gelten willst. Wer sagt mir persönlich denn, dass ich<br />

mich 100-prozentig und in jedem Detail an den Koran<br />

binden muss? Die Sklaverei etwa und auch die Vielehe<br />

sind für mich heute inakzeptabel. Ich trage auch,<br />

wie du siehst, kein Kopftuch. Der Koran ist und bleibt<br />

eine Offenbarung, die den Menschen konsequent dazu<br />

auffor<strong>der</strong>t, selbst nachzudenken. Es gibt kein zentrales<br />

Oberhaupt mit <strong>der</strong> Autorität, dir eine solche gedankliche<br />

Arbeit abzunehmen. Zahlreiche Verse sind heute<br />

einfach nicht mehr anwendbar und erfüllen ihren Sinn<br />

auch nicht. Man kann ein guter Moslem o<strong>der</strong> eine gute<br />

Muslima sein, wenn man vielleicht nur 50 Prozent <strong>der</strong><br />

koranischen Bestimmungen erfüllt.<br />

Fotos: Antje Berghäuser<br />

26<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


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TITEL<br />

<strong>Ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>böse</strong>?<br />

„Der Koran ist das<br />

stärkste Buch, das<br />

die Menschen hin<strong>der</strong>t,<br />

kritisch zu denken“<br />

Hamed Abdel-Samad<br />

Abdel-Samad: Das kannst du doch aber nur sagen,<br />

weil du in Europa aufgewachsen bist und in keiner<br />

islamischen Mehrheitsgesellschaft. Hier kannst du<br />

es dir erlauben, die Rosinen gewissermaßen aus einem<br />

versteinerten Kuchen herauszupicken. Ich bleibe dabei:<br />

Der Koran ist das stärkste Buch, das die Menschen<br />

daran hin<strong>der</strong>t, kritisch zu denken. Denn wer kritisch<br />

über den <strong>Islam</strong> nachdenkt, ist seines Lebens nicht mehr<br />

sicher. Ich weiß, wovon ich rede.<br />

Kaddor: Du argumentierst nach demselben Muster<br />

wie die Fundamentalisten. Für dich gibt es nur den<br />

100-prozentigen o<strong>der</strong> gar keinen Moslem. So ist es<br />

aber nicht.<br />

Abdel-Samad: Wenn ich den Koran ernst nehme,<br />

ist es sehr wohl so. Gott soll laut Koran auf jede Schulter<br />

jedes Gläubigen einen Engel gesetzt haben, einen<br />

rechts und einen links, die alles protokollieren, fast<br />

wie die Gestapo. Wer mit solchen Überzeugungen aufwächst,<br />

fühlt sich 24 Stunden am Tag überwacht. Wie<br />

soll da kritisches Denken entstehen? Wer Gott nicht<br />

folgt, schmort in <strong>der</strong> Hölle: Das ist die Quintessenz<br />

dieser Religion.<br />

Kaddor: Das ist die Quintessenz je<strong>der</strong> Religion.<br />

Jede Religion will dem Menschen eine verbindliche<br />

Richtlinie für sein Leben vorgeben. Die Bekämpfung<br />

von An<strong>der</strong>sgläubigen steht in keiner Religion an erster<br />

Stelle.<br />

Abdel-Samad: Darum muss jede Religion relativiert<br />

werden – beson<strong>der</strong>s aber die Vorstellung eines<br />

heiligen Textes, <strong>der</strong> von Gott gesprochen und niemals<br />

verfälscht worden sein soll.<br />

Kaddor: Ein solcher heiliger Text birgt Gefahren,<br />

aber er gibt auch jedem Einzelnen die große Gelegenheit,<br />

mit ihm verantwortungsvoll umzugehen. Ich versuche<br />

das, indem ich ihn kontextualisiere, ohne beliebig<br />

zu werden.<br />

Damit dürften Sie einem recht exklusiven Club<br />

angehören.<br />

Abdel-Samad: Es ist immer leichter, einen Text<br />

wortwörtlich zu befolgen, als ihn in verschiedene Kontexte<br />

zu setzen. Darum haben es aufgeklärte Muslime<br />

so schwer. Sie dringen einfach nicht durch. Durch die<br />

gesamte islamische Geschichte zieht sich das Bild eines<br />

Gottes, <strong>der</strong> bestraft, aber nicht infrage gestellt werden<br />

darf. Alle Diktatoren dieser Welt haben ihn sich zum<br />

Vorbild genommen.<br />

Kaddor: Wir sollten bei aller berechtigten Kritik<br />

an einem solchen Bild aber bitte nicht vergessen, dass<br />

in vielen Religionen Gott eine herausfor<strong>der</strong>nde Gestalt<br />

ist.<br />

Abdel-Samad: Ja, auch im Alten Testament, auch<br />

in hinduistischen Texten wird Gewalt propagiert. Das<br />

Problem ist deshalb nicht <strong>der</strong> Text an sich, son<strong>der</strong>n dessen<br />

Stellenwert innerhalb <strong>der</strong> Gemeinschaft. Wenn die<br />

Mehrheit <strong>der</strong> Gläubigen davon ausgeht, dieses Wort<br />

Gottes sei bindend für alle Zeiten, haben wir ein Problem.<br />

Eine solche Sichtweise ist Sprengstoff.<br />

Wird sich daran je etwas än<strong>der</strong>n?<br />

Kaddor: Ich stimme zu, dass weniger die Inhalte<br />

als die Vermittlung und das Verständnis problematisch<br />

sind. Deshalb engagiere ich mich in <strong>der</strong> Religionspädagogik<br />

für ein an<strong>der</strong>es Gottesbild, für einen Gott,<br />

<strong>der</strong> von den Menschen verlangt, gerecht und gut zu<br />

sein, sich um Arme, Unterdrückte, Witwen und Waisen<br />

zu kümmern, Sklaven freizukaufen und Mädchen<br />

und Frauen genauso zu lieben und zu respektieren<br />

wie Jungen und Männer. Das gibt <strong>der</strong> Koran nämlich<br />

auch her. Die Muslime müssen, wie im Judentum und<br />

im Christentum, das Bewusstsein für Pluralität entwickeln.<br />

Wir müssen eine Jugend heranziehen, die kritisch<br />

und mündig mit Religion umgeht. Das ist systematisch<br />

die ganzen letzten Jahrhun<strong>der</strong>te nicht gemacht<br />

worden, we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> islamischen noch in <strong>der</strong> westlichen<br />

Welt. Ohne religiöse Mündigkeit wird es aber keinen<br />

religiösen Frieden geben.<br />

Abdel-Samad: Das will ich gerne glauben. Doch es<br />

wäre schön, wenn auch die Menschen, die an den Koran<br />

nicht glauben, in Frieden leben könnten. Europa<br />

wäre nicht so weit gekommen, wie es gekommen ist,<br />

wenn Immanuel Kant und John Locke, Jean-Jacques<br />

Rousseau und Voltaire ihre Gedanken nicht hätten öffentlich<br />

äußern dürfen. Es muss eines Tages auch möglich<br />

sein, in <strong>der</strong> Öffentlichkeit und nicht nur in den eigenen<br />

vier Wänden den <strong>Islam</strong> zu kritisieren, sich zu<br />

ihm zu bekennen o<strong>der</strong> sich von ihm abzuwenden. Ich<br />

hoffe, ich werde es noch erleben.<br />

„Wir müssen endlich<br />

eine Jugend heranziehen,<br />

die mündig<br />

mit Religion umgeht“<br />

Lamya Kaddor<br />

28<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

„ Zu behaupten,<br />

wir würden alle krank<br />

werden und Drogen<br />

benötigen, um diesem<br />

gigantischen Druck<br />

standzuhalten, wäre<br />

schlicht unwahr “<br />

Karl Lauterbach, SPD-Fraktionsvize im Bundestag, zur Debatte um den<br />

Crystal-Meth-Konsum eines Parlamentskollegen, Interview auf Seite 34<br />

29<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

NOCH MAL GANZ IN RUHE<br />

Denken, sprechen, tacktacktack. Günther Oettinger war <strong>der</strong> ewige Sprinter <strong>der</strong> Politik.<br />

Nun bleibt er EU-Kommissar. Begegnung mit einem, <strong>der</strong> auf einmal langsam redet<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

Foto: Christian Kielmann/Imago<br />

Der Mann mit den scharf geschnittenen<br />

Zügen sitzt im abgeschiedenen<br />

Raum eines italienischen<br />

Restaurants zwischen Charité und Naturkundemuseum.<br />

Draußen prasselt und<br />

stürmt es, wie<strong>der</strong> einer <strong>der</strong> halben Weltuntergänge,<br />

die dieser Berliner Sommer<br />

jeden Tag inszeniert. Der Regen peitscht<br />

durch den Abend, <strong>der</strong> Mann am Tisch ist<br />

ganz ruhig. Er formt seine Sätze langsam.<br />

Wort für Wort. Er redet nicht wie Günther<br />

Oettinger. Aber er ist es.<br />

Was für ein Glück er gerade erlebt.<br />

„Ich bleibe sehr gerne in Brüssel und bin<br />

dankbar für die Unterstützung <strong>der</strong> Kanzlerin.“<br />

Vor vier Tagen hat Angela Merkel<br />

ihn erlöst, Montag früh, ein paar Minuten<br />

vor <strong>der</strong> Präsidiumssitzung in <strong>der</strong> CDU-<br />

Zentrale. „Sie hat mich gefragt, ob ich bereit<br />

bin, weitere fünf Jahre Kommissar zu<br />

bleiben. Ich habe gesagt: Ja, gerne.“ Er<br />

redet unglaublich langsam, viele Silben<br />

betont er weich. Es wirkt sogar, als liefen<br />

Denken und Sprechen synchron. Und das<br />

ist ja schon auffällig bei dem Mann, den<br />

sein alter Wi<strong>der</strong>sacher Erwin Teufel einst<br />

ein Maschinengewehr genannt hat.<br />

Etwas weniger martialisch könnte<br />

man sein Sprechsystem mit einer dieser<br />

elektronischen Schreibmaschinen vergleichen.<br />

Ins Display tippte man eine<br />

Zeile ein und konnte sie noch mal korrigieren.<br />

Ein Knopfdruck und die Maschine<br />

tackerte die Zeile aufs Papier.<br />

Tacktacktack. Manchmal hört sich Oettinger<br />

an diesem Abend noch so an, wenn<br />

er zusammengesetzte Begriffe benutzt.<br />

Einkommenssteuerdurchführungsgesetz.<br />

Ssssst. Eurorettungspolitik. Rrrrrt. Aber<br />

meist spricht er heute so sorgfältig, als<br />

schriebe er von Hand einen Brief.<br />

Mit 60 hat er nun fünf Jahre als EU-<br />

Kommissar vor sich. Er ist nicht mal mehr<br />

von Merkel abhängig. Im Gegenteil: Sie<br />

braucht ihn als letzten hochrangigen<br />

Vertreter des Wirtschaftsflügels <strong>der</strong> CDU.<br />

Der ewige Sprinter ist am Ziel. Er hat die<br />

Anerkennung, <strong>der</strong>etwegen er einst in die<br />

Politik gegangen ist.<br />

Im Kreis Ludwigsburg hatte er die<br />

ersten Erfolge. Er wurde Chef <strong>der</strong> Jungen<br />

Union in Ditzingen. Nebenan, in Gerlingen,<br />

war Rainer Wieland JU-Chef, heute<br />

Vizepräsident des EU-Parlaments. „Als<br />

er sich 1983 aufmachte, den Landtagswahlkreis<br />

zu holen, hat er wahnsinnig<br />

schnell gesprochen“, sagt Wieland. „Erheblich<br />

schneller als heute.“ Oettinger<br />

stand vorn, Wieland postierte sich am<br />

an<strong>der</strong>en Hallenende und wedelte mit den<br />

Armen, wenn eine Rede zu rasant wurde.<br />

DER KELLNER BRINGT Weißwein. Oettinger<br />

probiert. Er wirkt asketisch, schmale<br />

Figur, vorsichtiger Blick.<br />

Als er ein Junge war, engagierte seine<br />

Mutter eine Klavierlehrerin. Er erinnert<br />

sich, wie hart <strong>der</strong> Unterricht war. Aber er<br />

fand Freude in <strong>der</strong> Musik. Mozart, Czerny.<br />

„Es ist Abschalten vom Alltag pur“, sagt er.<br />

Der Mann am Klavier ist <strong>der</strong> Mittelpunkt,<br />

aber er bleibt dennoch für sich. So kann<br />

er sich sicher fühlen, ruhiger.<br />

So mag es auch gewesen sein, wenn<br />

er als Jurastudent in Tübingen unter seinen<br />

Verbindungsbrü<strong>der</strong>n war. Männerrituale,<br />

die ihm das Gefühl gaben, dazuzugehören.<br />

Die an<strong>der</strong>en johlten die<br />

Pauklie<strong>der</strong>, er saß am Klavier.<br />

1991 wurde er Chef <strong>der</strong> CDU-Fraktion<br />

im Landtag. Er machte sich auf,<br />

die Regierungszentrale zu erobern, die<br />

Villa Reitzenstein, in <strong>der</strong> Erwin Teufel<br />

saß. Nach dem ersten Jahr als Fraktionschef<br />

hatte sein Dienstwagen mehr<br />

als 100 000 Kilometer auf dem Tacho.<br />

Der Kampf dauerte 14 Jahre und war<br />

am Ende bitter. Heute Abend wird er<br />

auch das abhaken, nachher bei <strong>der</strong> Verabschiedung<br />

von Annette Schavan, mit<br />

<strong>der</strong> er 2004 brutal um Teufels Nachfolge<br />

rang. Die Versöhnung als politischer Akt.<br />

2005 war er endlich Ministerpräsident.<br />

Auf einem Parteitagsabend saß er<br />

am Klavier. In <strong>der</strong> Mitte. Für sich. Die<br />

Anspannung war einen Moment gemil<strong>der</strong>t.<br />

Seine Helfer soffen sich ins Lallen.<br />

Aber als er das Amt hatte, nach dem er<br />

sich fast an<strong>der</strong>thalb Jahrzehnte gesehnt<br />

hatte, konnte er damit nichts anfangen.<br />

Er fuhr immer weiter von Auftritt zu<br />

Auftritt. Seine Gegner stellten das Rastlose<br />

an ihm heraus, das Plastiklächeln<br />

und natürlich die Sprechgeschwindigkeit.<br />

Die Politik ist ein Sprechberuf, und<br />

Oettingers Tiefpunkt wurde eine Rede.<br />

Auf den früheren Ministerpräsidenten<br />

Hans Filbinger hielt er eine bizarre Traueransprache,<br />

die den Nationalsozialisten<br />

zum Nazigegner umdeutete. Er sagt heute,<br />

er sei nach einem Besuch <strong>der</strong> Familie angerührt<br />

gewesen. Merkel verlangte damals<br />

den Kotau. Privat lief es auch schlecht,<br />

seine Ehe zerbrach. Der Mann, <strong>der</strong> das<br />

Kin<strong>der</strong>land Baden-Württemberg ausgerufen<br />

hatte, hatte gar keine heile Familie.<br />

Merkel lotste ihn nach Brüssel. Eine<br />

Abschiebung. Doch das Amt, das er sich<br />

nicht erträumt hatte, wurde ein Traumjob.<br />

Kaum noch Angriffe aus <strong>der</strong> eigenen<br />

Partei. Keine Entourage, die an ihm<br />

zerrte. Ein Apparat, <strong>der</strong> seinen ungeheuren<br />

Wissensspeicher mit Details versorgte.<br />

In <strong>der</strong> Kommission wird er eine<br />

Schlüsselrolle spielen. Wenige dort sind<br />

das zweite Mal dabei. Die Wirtschaftskapitäne,<br />

die er bewun<strong>der</strong>t, hören ihm zu.<br />

Aber wofür steht er? <strong>Ist</strong> er nur<br />

Sprachrohr <strong>der</strong> Industrie? Was hat er<br />

selbst <strong>der</strong> Welt zu sagen? Er kann sich<br />

das jetzt überlegen. Ganz in Ruhe.<br />

GEORG LÖWISCH ist Textchef von <strong>Cicero</strong>.<br />

Den Weg von Günther Oettinger verfolgt er<br />

schon eine ganze Weile<br />

31<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

POSTBOTIN GEGEN SCHNÜFFLER<br />

Der NSA-Skandal hat in Deutschland bisher eigentlich kaum etwas verän<strong>der</strong>t. Nur<br />

Sabrina Löhrs Idee verfängt: Posteo, ein Mailservice, <strong>der</strong> es Überwachern schwer macht<br />

Von JOHANNES GERNERT<br />

Dass Edward Snowden nicht bloß<br />

Aufklärung, son<strong>der</strong>n auch Wirtschaftsför<strong>der</strong>ung<br />

betrieb, merkte<br />

Sabrina Löhr schon wenige Tage, nachdem<br />

sein Gesicht auf allen Nachrichtenseiten<br />

<strong>der</strong> Welt erschienen war. Damals,<br />

im Juni 2013, arbeiteten in Löhrs E-Mail-<br />

Firma Posteo in Berlin-Kreuzberg drei<br />

Leute auf 200 Quadratmetern. Zwei davon<br />

waren sie und ihr Mann. Heute sind<br />

es zwölf Angestellte auf 600 Quadratmetern.<br />

Posteo verwaltet 65 000 Postfächer.<br />

Sie sind jetzt nicht mehr nur ein<br />

E-Mail-Anbieter, <strong>der</strong> Daten beson<strong>der</strong>s<br />

sorgfältig schützt. Sie sind die Postboten<br />

<strong>der</strong> digitalen Welt, die sich gegen die<br />

Schnüffler profilieren. Kürzlich war Löhr<br />

bei einer Tagung des Internet Governance<br />

Forum, das für die UN über die<br />

Zukunft des Netzes nachdenkt. Auf den<br />

Tagungsunterlagen stand das Logo von<br />

Posteo neben dem des Konzerns Google.<br />

Der Grüne Christian Ströbele hat sie in<br />

einer Anfrage an die Bundesregierung<br />

erwähnt. Die Telekom hat zum ersten<br />

Mal einen Transparenzbericht veröffentlicht.<br />

Weil Posteo sie mit ihrem dazu getrieben<br />

hat, glaubt Sabrina Löhr. „Wir<br />

merken, dass man als kleiner Anbieter<br />

wirklich etwas erreichen kann“, sagt sie.<br />

Auch wenn Konkurrenten wie gmx o<strong>der</strong><br />

web.de mit jeweils 15 Millionen Nutzern<br />

viel größer sind.<br />

Als Edward Snowden mit den Journalisten<br />

Kontakt aufnahm, denen er<br />

seine NSA-Dokumente übergeben wollte,<br />

verwendete er eine Adresse des E-Mail-<br />

Anbieters Lavabit. Ein Dienst, <strong>der</strong> die<br />

Privatsphäre seiner Nutzer extra verschlüsselt.<br />

Wie Posteo – das realisierten<br />

sehr schnell sehr viele Menschen. In solchen<br />

Momenten entscheidet sich, ob eine<br />

Firma mit steilem Wachstum umgehen<br />

kann. Zum Glück hatte sie soeben ihre<br />

Website erneuert. Gerade rechtzeitig.<br />

Sabrina Löhr, 33 Jahre alt, ist keine<br />

Hosenanzugträgerin. Sie spricht überlegt,<br />

fast zögernd. Manchmal schließt sie beim<br />

Reden die Augen, bevor sie eine Frage<br />

beantworten kann. <strong>Ist</strong> Posteo ein politischer<br />

Mailanbieter? Immer wie<strong>der</strong> müsse<br />

sie sich bremsen, sagt Löhr. Und sich bewusst<br />

machen, dass sie ja Unternehmerin<br />

ist – keine Aktivistin wie früher. Ihren<br />

Mann hat sie in einer Ortsgruppe von<br />

Greenpeace kennengelernt. Aber ja, sie<br />

würden politische Arbeit machen. Die<br />

Konzerne, „die ihre Lobbyisten durch<br />

den Bundestag jagen“, täten es ja auch.<br />

ANFANGS WOLLTEN Sabrina Löhr und ihr<br />

Mann Patrick nur einen E-Mail-Service<br />

anbieten, <strong>der</strong> Ökostrom verwendet und<br />

auf nervige Werbung verzichtet. Einen<br />

Euro im Monat sollte er kosten. Bezahlt<br />

wurde in Euro und eben nicht in Daten,<br />

wie bei <strong>der</strong> Konkurrenz von Google. Den<br />

Namen Posteo dachte sich Löhr aus. Sie<br />

wollten etwas eingängiges, aber das Wort<br />

Mail vermeiden. Posteo sammelt so wenige<br />

Informationen wie möglich. Man<br />

muss keine Postadresse angeben und<br />

kann per Brief in bar zahlen.<br />

Löhr geht auch mit eigenen Daten<br />

sparsam um. Sie stammt aus <strong>der</strong> Nähe<br />

von Frankfurt. Ein kleiner Ort, 50 Kilometer<br />

vom Atomkraftwerk Biblis. Genauer<br />

wird sie nicht. Nach dem Abitur<br />

ging sie nach Berlin und schrieb PR-Texte<br />

für Agenturen. Für welche, sagt sie nicht.<br />

Auf dem Höhepunkt des Snowden-<br />

Ansturms beantwortete sie von früh<br />

bis nachts Mails <strong>der</strong> Kunden. Mittlerweile<br />

machen das Mitarbeiter in den<br />

hellen neuen Räumen mit <strong>der</strong> Dachterrasse<br />

in Berlin-Kreuzberg. In einer Post-<br />

Snowden-Welt, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Wunsch nach<br />

Anonymität nicht mehr verdächtig ist,<br />

son<strong>der</strong>n nachvollziehbar, sind sie eine<br />

Instanz geworden. Nicht nur in Tests<br />

des Computermagazins c’t schnitten sie<br />

besser ab als die meisten Wettbewerber.<br />

Löhr kann exakt erklären, wie sie<br />

den Transport <strong>der</strong> Mail o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Inhalt<br />

chiffriert. Perfect Forward Secrecy,<br />

Pretty Good Privacy. Posteo versuche,<br />

die Standards ständig zu heben. Trotzdem<br />

müssten die Nutzer auf ihre Rechner<br />

aufpassen. Die Inhalte von Mails können<br />

noch so gut verschlüsselt sein, wenn jemand<br />

auf den Computer zugreift und die<br />

Schlüssel klaut, nutze alles nichts, habe<br />

Snowden gesagt, sagt Sabrina Löhr.<br />

Als Klimaretter fingen sie und ihr<br />

Mann an, jetzt sind sie Datenschützer.<br />

<strong>Ist</strong> das die neue Lebensstilfrage des grünen<br />

Milieus? „Ich fürchte, ja. Ich habe<br />

das Gefühl, es bleibt einem nichts an<strong>der</strong>es<br />

übrig“, sagt Löhr. Doch sie merke an<br />

den Kunden, wie hoch die Schwelle sei,<br />

eine an<strong>der</strong>e Surfkultur zu entwickeln.<br />

Auf den Computern von Posteo gibt es<br />

we<strong>der</strong> Twitter noch Facebook, sie haben<br />

ihr eigenes Chat-Programm. Zu Hause,<br />

sagt Löhr, stehe ein Rechner, mit dem<br />

sie „rummülle“ und soziale Netzwerke<br />

o<strong>der</strong> Onlineshops nutze.<br />

Der Mail-Anbieter Lavabit, den<br />

Snowden noch nutzte, hat dichtgemacht.<br />

Nach einem aufreibenden Rechtsstreit<br />

glaubte sein Grün<strong>der</strong>, sein Sicherheitsversprechen<br />

nicht mehr einhalten zu können.<br />

Auch bei Posteo standen schon Polizeibeamte<br />

vor <strong>der</strong> Tür. Sie seien aus<br />

Bayern angereist und hätten Daten eines<br />

Kunden verlangt, die Posteo gar nicht<br />

erhebe, sagt Löhr. Die Beamten wollten<br />

das nicht einsehen. Sie hätten gedroht.<br />

Die Postbotin hat die Polizisten angezeigt.<br />

Das Verfahren läuft.<br />

JOHANNES GERNERT schreibt über die<br />

Höhen und Untiefen <strong>der</strong> digitalen Welt.<br />

Er hat fünf E-Mail-Accounts, manche nur<br />

zum Shoppen<br />

Foto: Steffen Jänicke für <strong>Cicero</strong><br />

32<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Interview<br />

„ICH SCANNE JEDEN<br />

AUTOMATISCH“<br />

Minister und Abgeordnete verheimlichen häufig ihre<br />

Gebrechen. Der Sozialdemokrat Karl Lauterbach ist Arzt –<br />

ihm vertrauen sie sich an. Manches entdeckt er auch so.<br />

Ein Gespräch über Krankheit, Drogen und Mitleid<br />

34<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Foto: Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong><br />

Herr Lauterbach, wann waren Sie zum<br />

letzten Mal krank?<br />

Karl Lauterbach: Vor vier Wochen<br />

war ich in Kasachstan, an einem Tag<br />

stürzte die Temperatur von 27 auf zwei<br />

Grad. Ich war zu dünn angezogen und<br />

bin fast erfroren. Das Ergebnis war eine<br />

Bronchitis.<br />

War das die schlimmste Krankheit in Ihrer<br />

Zeit im Bundestag?<br />

Nein, ich hatte schon so einiges. Eine<br />

herbe Bandscheibenverletzung, eine<br />

Knieoperation. Ich treibe gern Sport, und<br />

in Abständen von ein, zwei Jahren verletze<br />

ich mich.<br />

<strong>Ist</strong> es ungewöhnlich, dass ein Politiker<br />

zu Journalisten sagt: Dann und dann<br />

war ich krank?<br />

Es ist tatsächlich so, dass die allermeisten<br />

Politiker ihre Krankheiten verschweigen.<br />

In <strong>der</strong> Politik gehört es dazu,<br />

einen souveränen Eindruck zu erwecken.<br />

Zur Souveränität zählt die Gesundheit.<br />

Wenn es von jemandem heißt,<br />

er ist krank, hat er mit dieser son<strong>der</strong>baren<br />

Mischung aus Mitleid und Abwertung<br />

zu kämpfen.<br />

Woher wollen Sie wissen, dass Krankheiten<br />

verschwiegen werden?<br />

Ich bin ja Arzt und unterliege <strong>der</strong><br />

Schweigepflicht. Viele Abgeordnete und<br />

auch Minister verheimlichen ihre Krankheiten,<br />

aber sie vertrauen sich mir an. Sie<br />

wollen einen Rat haben, in welche Klinik<br />

o<strong>der</strong> zu welchem Arzt man gehen kann.<br />

Ich kenne mich recht gut aus, wer für welchen<br />

Krankheitsbereich prädestiniert ist.<br />

Und ich kann sagen, wo die Behandlung<br />

diskret läuft.<br />

Als <strong>der</strong> damalige Verteidigungsminister<br />

Peter Struck 2004 einen Schlaganfall<br />

erlitt, musste sein Pressesprecher<br />

Norbert Bicher für seinen Chef lügen.<br />

Horst Seehofer ist dagegen mit seiner<br />

Herzmuskelentzündung sehr offensiv<br />

umgegangen, Wolfgang Bosbach mit<br />

seiner Krebserkrankung auch. Hat sich<br />

etwas verän<strong>der</strong>t?<br />

Bosbach o<strong>der</strong> Seehofer gehen ja auch<br />

mit an<strong>der</strong>en Teilen ihres Privatlebens<br />

sehr offen um und pflegen einen sehr<br />

Karl Lauterbach<br />

hat Medizin studiert und wurde<br />

zweimal promoviert. Er ist<br />

Gründungsdirektor des Instituts<br />

für Gesundheitsökonomie<br />

und Klinische Epidemiologie an<br />

<strong>der</strong> Universität zu Köln. 2005<br />

wurde er vom Professor zum<br />

Politiker: Wahl in den Bundestag<br />

und dort Spezialist für<br />

Gesundheitspolitik. Inzwischen<br />

ist <strong>der</strong> 51 Jahre alte Arzt einer<br />

<strong>der</strong> Vizechefs <strong>der</strong> SPD-Fraktion<br />

klaren, ehrlichen Diskurs. Aber sie sind<br />

die Ausnahme. Gerade Krankheiten, die<br />

stigmatisiert sind, beispielsweise Depressionen,<br />

Suchtkrankheiten o<strong>der</strong> Krebserkrankungen<br />

werden eher verschwiegen.<br />

Die Politiker laden das lieber bei Ihnen<br />

ab.<br />

Das ist für mich keine Last, ich helfe<br />

sehr, sehr gern. Ich halte mich medizinisch<br />

fit, lese die wissenschaftliche Literatur<br />

und besuche Fortbildungen, um<br />

keine schlechten Ratschläge zu geben.<br />

Was sind typische Politikerkrankheiten?<br />

Es ist das breite Spektrum, das man<br />

auch in <strong>der</strong> Bevölkerung sieht. Abgeordnete<br />

leben auch in die Altersgruppen hinein,<br />

in denen chronische Erkrankungen<br />

häufiger vorkommen. Ich gehe mal<br />

von <strong>der</strong> Durchschnittsbevölkerung aus.<br />

Dann hätte bei <strong>der</strong> Altersverteilung, die<br />

wir im Bundestag haben, je<strong>der</strong> Zweite<br />

eine chronische Krankheit. Genau das<br />

ist auch mein Eindruck. Zuckerkrankheit,<br />

Bluthochdruck, eine Herzkrankheit.<br />

Sehr viele haben Arthrose und <strong>der</strong>gleichen.<br />

Bei den jüngeren Abgeordneten<br />

sind es oft Sportverletzungen.<br />

Stressinduzierte Krankheiten kommen<br />

Ihrer Erfahrung nach nicht häufiger vor?<br />

Nein. Ich bin jetzt wegen <strong>der</strong> Diskussion<br />

um Michael Hartmann immer wie<strong>der</strong><br />

angesprochen worden, ob <strong>der</strong> Job so<br />

stressig ist, dass man ihn nur unter Drogen<br />

durchhält.<br />

Der SPD-Abgeordnete, <strong>der</strong> im Verdacht<br />

steht, Crystal Meth genommen zu haben.<br />

Politiker stehen doch unter Druck.<br />

Der Stress ist nicht größer als bei<br />

Bankern o<strong>der</strong> Spitzenmanagern. Ich<br />

bin, was stressinduzierte Erkrankungen<br />

angeht, relativ sensibel, und es gibt<br />

nur wenige, die Anzeichen einer schweren<br />

Depression o<strong>der</strong> beispielsweise eines<br />

schweren Burnouts mitbringen. Daher<br />

glaube ich nicht, dass stressinduzierte Erkrankungen<br />

hier eine viel größere Rolle<br />

spielen als in an<strong>der</strong>en anspruchsvollen<br />

Berufen.<br />

Politik macht nicht zwangsläufig<br />

krank?<br />

Der Lebensstil ist schon gefährlich.<br />

Er verleitet dazu, schlecht zu essen und<br />

viel zu sitzen. Man hat lange Arbeitszeiten<br />

und wenig Zeit, einen Ausgleich zu<br />

finden. Dann die Reisen: stressreiche Abfertigung<br />

am Flughafen und dann wie<strong>der</strong><br />

Sitzen. Aber es wäre falsch zu glauben,<br />

alle Politiker befänden sich in einem brutalen<br />

Dauerstress. Ich habe mal fast ein<br />

Jahr in <strong>der</strong> Unfallchirurgie gearbeitet:<br />

Der Stress dort hat eine an<strong>der</strong>e Dimension<br />

als in <strong>der</strong> Spitzenpolitik hier.<br />

<strong>Ist</strong> Politik auch gefährlich, wenn Politiker<br />

Behandlungen aufschieben? Manfred<br />

Stolpe hat kürzlich offenbart, dass<br />

er 2004 seine Krebsdiagnose bekam. Er<br />

stand als Verkehrsminister wegen des<br />

Lkw-Maut-Systems Toll Collect unter<br />

Druck. Deshalb ließ er sich nicht gleich<br />

operieren.<br />

Dieser Fall ist <strong>der</strong> einzige, von dem<br />

ich je gehört habe, dass jemand aus politischen<br />

Gründen seine Krebsoperation<br />

verschiebt. Natürlich verschleppen<br />

Kranke auch in <strong>der</strong> Politik ihre Krankheit<br />

o<strong>der</strong> führen die Behandlung nicht<br />

konsequent fort. Aber das ist auch meine<br />

Erfahrung mit an<strong>der</strong>en Patienten in<br />

Führungspositionen.<br />

35<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Interview<br />

Haben Sie als Arzt den Eindruck, dass<br />

sich Politiker auch mal einen Nutzen<br />

davon versprechen, über ihre Krankheit<br />

zu erzählen, um einen weichen Teil ihrer<br />

Persönlichkeit herauszustellen?<br />

Nein, in <strong>der</strong> Politik hilft <strong>der</strong> weiche<br />

Teil nie. Nach dem Motto: Er ist<br />

mal krank gewesen, jetzt lernt er das<br />

wahre Leben kennen, dafür kann man<br />

sich nichts kaufen. Wir werden dafür bezahlt,<br />

souverän aufzutreten und unsere<br />

Arbeit zu tun.<br />

Lange kam in jedem Horst-Seehofer-<br />

Porträt die Geschichte seiner Herzmuskelentzündung<br />

vor.<br />

Dass er das instrumentalisiert, ist<br />

ihm oft unterstellt worden, aber es<br />

stimmt einfach nicht. Ich kenne Horst<br />

Seehofer sehr gut, wir sind per Du. Er<br />

ist offen mit <strong>der</strong> Krankheit umgegangen,<br />

weil das seine Art ist. Der Sturz kam ja<br />

aus vollem Lauf heraus – das muss einer<br />

erst mal verarbeiten. Und es ist gesund,<br />

darüber nachzudenken und zu reden.<br />

Vor kurzem wurde bekannt, dass Guido<br />

Westerwelle unter Leukämie leidet. Hat<br />

sich da Ihr Blick auf ihn verän<strong>der</strong>t?<br />

Nein. Ich habe Westerwelle immer<br />

als Menschen sehr geschätzt, allerdings<br />

politisch in je<strong>der</strong> Hinsicht abgelehnt. Er<br />

ist ein sympathischer Mensch, <strong>der</strong> sehr<br />

gut zuhört und sich kümmert. Mit <strong>der</strong><br />

politischen Person habe ich das nie übereinbekommen.<br />

Von daher tut es mir sehr<br />

leid, dass ihn dies erwischt hat, und ich<br />

wünsche ihm wirklich das Allerbeste.<br />

In an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n wird mit Gesundheit<br />

und Krankheit von Spitzenpolitikern<br />

streng umgegangen. Wer US-Präsident<br />

werden will, muss sich einem<br />

medizinischen Check stellen. Können<br />

Sie sich das für Deutschland vorstellen?<br />

Wie es in Amerika ist, wünsche ich<br />

es mir auf keinen Fall. Da wird öffentlich<br />

spekuliert, ob jemand zu alt ist o<strong>der</strong><br />

die eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Erkrankung ihn einschränkt.<br />

Als Hillary Clinton kürzlich zu<br />

Hause stürzte und sich am Kopf verletzte,<br />

wurde öffentlich darüber räsoniert, ob<br />

sie nicht doch ein Schädelhirntrauma<br />

gehabt hat – mit allen Konsequenzen.<br />

Ekelhaft. Eine solche Diskussion ist<br />

MANFRED STOLPE stand wegen<br />

<strong>der</strong> Lkw-Maut als Verkehrsminister<br />

2004 unter Druck. Sein Arzt diagnostizierte<br />

Krebs. Stolpe wollte<br />

nicht als Versager gelten und zog<br />

durch<br />

Als Ministerpräsidentin verschwieg<br />

HEIDE SIMONIS 2002, dass sie<br />

Brustkrebs hat. Sie ließ sich an<br />

einem Samstag operieren. Am<br />

Montag war sie wie<strong>der</strong> im Dienst<br />

Seinen Körper ignorierte CSU-Chef<br />

HORST SEEHOFER einfach.<br />

Im Januar 2002 kam er auf die<br />

Intensivstation. Die Diagnose:<br />

Herzmuskelentzündung<br />

unmenschlich. Ein Politiker hat ein Recht<br />

darauf, über seine medizinische Verfassung<br />

zu schweigen.<br />

Die CSU-Politikerin Christine Ha<strong>der</strong>thauer<br />

hat einen Schlaganfall gerade<br />

noch vermieden, danach darüber geredet<br />

und festgestellt: „Der Zeitgeist<br />

steht auf ständiges Funktionieren.“<br />

Liegt es nicht nahe, dass sich Politiker<br />

auch dopen, um zu funktionieren?<br />

Zu behaupten, wir würden alle<br />

krank werden und Drogen benötigen,<br />

um diesem gigantischen Druck standzuhalten,<br />

wäre schlicht unwahr. Natürlich<br />

sind die Spitzenpositionen zeitlich<br />

extrem belastend, und die Fallhöhe ist<br />

enorm. Aber wo wäre das an<strong>der</strong>s? <strong>Ist</strong><br />

das im Spitzensport an<strong>der</strong>s? <strong>Ist</strong> das im<br />

Management an<strong>der</strong>s? <strong>Ist</strong> das im Spitzenjournalismus<br />

an<strong>der</strong>s? Seien wir ehrlich:<br />

90 Prozent <strong>der</strong> Politiker sind keine Spitzenpolitiker,<br />

son<strong>der</strong>n einigermaßen gut<br />

versorgt.<br />

<strong>Ist</strong> Politik kein Extremsport?<br />

So stellen es Journalisten manchmal<br />

dar. Und auch ein paar Politiker, die eher<br />

eine ruhige Kugel schieben, haben ein Interesse<br />

an so einer Romantisierung. In<br />

Wahrheit ist <strong>der</strong> größte Stress von manchen<br />

Abgeordneten, dass die Partei sie<br />

wie<strong>der</strong> aufstellt. Das sind überschaubare<br />

Probleme.<br />

<strong>Ist</strong> die Alkoholikerquote höher als in an<strong>der</strong>en<br />

Bereichen?<br />

Glaube ich nicht. Man fällt ja schon<br />

auf, wenn man zum Essen den zweiten<br />

Wein bestellt. Dass zum Mittagessen jemand<br />

zwei Glas Wein trinkt, was früher<br />

in Bonn für viele die Untergrenze<br />

gewesen sein muss, das ist heute unüblich.<br />

Keiner will als <strong>der</strong>jenige gelten, <strong>der</strong><br />

ein Alkoholproblem hat. Es gibt Abgeordnete<br />

mit Alkoholproblemen, das ist<br />

ganz klar. Aber ab einer gewissen Ebene<br />

könnte ich mir vorstellen, dass <strong>der</strong> Politikerberuf<br />

sogar vor dem Alkoholismus<br />

schützen kann.<br />

Wie das denn?<br />

Man will zur Spitze gehören. Das<br />

schafft man als Alkoholiker nicht, weil<br />

man nicht immer funktioniert, wenn es<br />

Fotos: Markus Wächter/Caro Fotoagentur, David Maupilé/Laif, Michael Gottschalk/Photothek via Getty Images<br />

36<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

nötig ist. Und man steht unter strenger<br />

Beobachtung.<br />

Man würde die Droge Macht mit <strong>der</strong><br />

Droge Alkohol abschießen.<br />

Ob eine politische Position tatsächlich<br />

eine Droge ist, sei dahingestellt. Für<br />

den einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en sicherlich. Aber<br />

es ist auch ein großer Stressfaktor, wenn<br />

einer seine Vorstellungen nicht durchsetzen<br />

kann o<strong>der</strong> es nicht in eine wichtige<br />

Funktion schafft. Das ist Stress, <strong>der</strong> von<br />

innen kommt.<br />

Erkennen Sie es, wenn ein Kollege alkoholkrank<br />

ist?<br />

Wenn jemand ein ausgeprägtes Alkoholproblem<br />

hat, dann bemerkt man<br />

das als Arzt.<br />

Woran?<br />

Ich würde das jetzt ungern im Detail<br />

erläutern, sonst laufen Sie durch den<br />

Bundestag und versuchen sich in Dilettantendiagnosen.<br />

Aber es gibt klassische<br />

Symptome, die auf Alkoholismus<br />

hinweisen. Als Arzt haben Sie das Problem,<br />

dass Sie die Zeichen einer Erkrankung<br />

bereits sehen, ohne dass Sie danach<br />

suchen. Man scannt jeden automatisch,<br />

eigentlich traurig. Es gibt zum Beispiel<br />

tückische Verän<strong>der</strong>ungen unter den Augenli<strong>der</strong>n,<br />

an denen ich eine genetische<br />

Veranlagung für cholesterinbedingte zukünftige<br />

Herzinfarkte erkennen kann.<br />

Wenn ich jemandem in die Augen schaue<br />

und das sehe, dann überlege ich schon,<br />

ob ich den Kollegen darauf anspreche.<br />

Werden Sie eigentlich geschont von<br />

politischen Konkurrenten? Weil die sagen:<br />

Mit dem Doktor Lauterbach stell<br />

ich mich lieber gut, vielleicht hab ich<br />

auch mal ein Problem und brauche einen<br />

guten Ratschlag.<br />

Von welcher Schonung sprechen<br />

Sie? Ich werde lei<strong>der</strong> von niemandem<br />

geschont. Nicht mal von allen Kolleginnen<br />

und Kollegen in <strong>der</strong> SPD.<br />

FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… ob sie als emanzipiert gelten kann,<br />

obwohl sie nicht Rasen mäht<br />

Ich bin eine technische Null. Ob das bei mir frauenspezifisch o<strong>der</strong><br />

ameliespezifisch ist, weiß ich nicht. Wenn das Auto nicht anspringt,<br />

<strong>der</strong> Fernseher streikt o<strong>der</strong> ich meinen Computer nicht verstehe,<br />

frage ich meistens einen Mann. Nach meiner Erfahrung kennen sich<br />

Männer mit Technik in <strong>der</strong> Regel besser aus. Das laut zu sagen, traue<br />

ich mich kaum, Geschlechterklischees sind nämlich bäh. Wir Frauen<br />

können alles, und wenn wir’s noch nicht können, dann können wir’s<br />

lernen, so heißt es. Die Frage ist nur: Wollen wir auch alles lernen?<br />

Also: Ich nicht. Ich kann vieles gut. Kochen, einparken, Memory<br />

spielen, stricken. Wieso soll ich Sachen lernen, die mir keinen Spaß<br />

machen und für die ich nicht begabt bin? Solange das irgendwelche<br />

Sachen sind, kümmert es keinen, wenn ich mich verweigere. Verweigere<br />

ich aber Tätigkeiten, die eher Männern zugeschrieben werden,<br />

wird daraus ein Politikum. Ich darf mich zum Beispiel <strong>der</strong> Technik<br />

nicht verweigern, weil ich sonst 40 Jahre Frauenbewegung verrate.<br />

In meiner Ehe gibt es Männerarbeit und Frauenarbeit. Männerarbeit<br />

ist alles, was ich nicht gern mache o<strong>der</strong> nicht gut kann. Geräte<br />

reparieren, Rasen mähen, Schnee schippen. Frauenarbeit ist alles,<br />

was ich gern mache und gut kann. Kochen, Möbel umräumen, Reisen<br />

organisieren. So tun mein Mann und ich überwiegend Dinge, die wir<br />

können o<strong>der</strong> gerne tun. Bei uns findet Gleichberechtigung an<strong>der</strong>swo<br />

statt: Wir haben die Kin<strong>der</strong> gemeinsam aufgezogen und trotzdem<br />

unsere Berufe ausgeübt. Keiner ist finanziell vom an<strong>der</strong>en abhängig,<br />

keiner würde im Fall einer Trennung Unterhalt beanspruchen. Je<strong>der</strong><br />

von uns ist gleich wichtig, mal steckt <strong>der</strong> eine zurück, mal <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e.<br />

In unserer Ehe herrscht keine Gleichheit, son<strong>der</strong>n Gerechtigkeit.<br />

Gleichberechtigung ist nicht, wenn alle das Gleiche tun (müssen)<br />

o<strong>der</strong> gar die Rollen tauschen. Gleichberechtigung ist, wenn je<strong>der</strong><br />

seinen Neigungen und Begabungen entsprechend leben kann und die<br />

Aufgaben des Alltags gerecht verteilt sind. Ich jedenfalls verschwende<br />

meine Kraft nicht in ideologischen Scheingefechten. Wäre<br />

es nötig, könnte ich Rasen mähen und Schnee schippen, aber solange<br />

ein Mann im Haus ist, muss ich nicht. Emanzipiert bin ich trotzdem.<br />

Das Gespräch führten GEORG LÖWISCH<br />

und CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

AMELIE FRIED ist Fernsehmo<strong>der</strong>atorin und Bestsellerautorin.<br />

Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />

sonst an Fragen aufwirft<br />

37<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Zwischenruf<br />

BETRIEBSRAT UND MANAGEMENT<br />

Von STEPHAN WEIL<br />

Innovation und Gerechtigkeit! Den Älteren kommt dieser<br />

Slogan vielleicht noch bekannt vor: „Arbeit, Innovation<br />

und Gerechtigkeit“ – mit diesem Dreiklang gewann<br />

die SPD 1998 die Bundestagswahl. Und Gerhard Schrö<strong>der</strong><br />

wurde Bundeskanzler.<br />

15 Jahre später klang es ganz an<strong>der</strong>s: „Das Wir entscheidet“,<br />

hieß das Motto im Bundestagswahlkampf 2013,<br />

und die SPD landete zum zweiten Mal hintereinan<strong>der</strong> bei<br />

Mitte 20 Prozent <strong>der</strong> Wählerstimmen. Dass auch die Regierungsbeteiligung,<br />

<strong>der</strong> Mindestlohn und das Rentenpaket<br />

daran nichts Entscheidendes geän<strong>der</strong>t<br />

haben, zeigen die Wahlen zum Europäischen<br />

Parlament.<br />

Zwei unterschiedliche Slogans,<br />

zwei unterschiedliche Wahlergebnisse<br />

– so einfach ist es natürlich nicht.<br />

Wahlerfolge und -nie<strong>der</strong>lagen haben<br />

viele Gründe. Das politische Profil<br />

gehört jedoch zu den entscheidenden<br />

Faktoren. Da ist dann eben doch festzustellen,<br />

dass die SPD 1998 eine sehr<br />

klare Orientierung auf Wirtschaft und<br />

Zukunft hatte, 2013 dagegen an ein<br />

eher diffuses Gefühl <strong>der</strong> Zusammengehörigkeit<br />

appellierte.<br />

Aufmerken lässt auch ein an<strong>der</strong>er<br />

Vergleich. Die Wähler haben <strong>der</strong> SPD<br />

2013 Kompetenz beigemessen, allerdings<br />

vor allem bei Themen wie Gesundheit,<br />

Familie und soziale Gerechtigkeit. In Fragen <strong>der</strong><br />

Finanzen, <strong>der</strong> Wirtschaft und <strong>der</strong> Arbeit hatte dagegen die<br />

Union einen großen Vorsprung. Viele Menschen halten die<br />

SPD für einen guten Betriebsrat <strong>der</strong> Gesellschaft, trauen ihr<br />

aber das Management nicht zu. Das war 1998 ganz an<strong>der</strong>s;<br />

gerade bei Wirtschaft und Arbeit hatte die SPD ein ausgeprägtes<br />

Profil.<br />

Die Schlussfolgerung ist zwingend: Die SPD muss stärker<br />

eine innovative Wirtschaftspolitik und die Sorge <strong>der</strong><br />

Menschen um einen Arbeitsplatz in den Mittelpunkt ihrer<br />

Politik stellen, wenn sie wie<strong>der</strong> mehrheitsfähig werden will.<br />

Es reicht nicht aus, sich auf die sozial gerechte Verteilung<br />

dessen zu konzentrieren, was erwirtschaftet worden ist.<br />

Was kann die SPD anbieten? Eine eindimensionale Wirtschaftspolitik,<br />

die die Senkung von Steuern und sozialen<br />

Standards propagiert? Die SPD als bloßer Erfüllungsgehilfe<br />

<strong>der</strong> Wirtschaft? Das käme sie teuer zu stehen. Die Antwort<br />

ergibt sich vielmehr durch einen Blick auf die wachsenden<br />

Sorgen in immer mehr Unternehmen, für die gerade klassische<br />

Teile <strong>der</strong> sozialdemokratischen Programmatik viele<br />

Lösungen bieten.<br />

In unserer Gesellschaft geht die Zahl jüngerer Menschen<br />

zurück, <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Senioren wächst. Diese Entwicklung<br />

trifft auch die Unternehmen: Fachkräftemangel avanciert<br />

zum Wachstumsrisiko <strong>der</strong> deutschen Wirtschaft. Weniger<br />

junge Erwerbstätige und wachsende Anfor<strong>der</strong>ungen an <strong>der</strong>en<br />

Qualifikation verheißen eine schwierige Zukunft.<br />

Die Antwort auf diese Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

liegt nicht in weniger Staat,<br />

son<strong>der</strong>n in einem aktiven Staat: Bildung<br />

und Qualifizierung, Vereinbarkeit<br />

von Familie und Beruf, Zuwan<strong>der</strong>ung<br />

und Integration. Unsere<br />

Unternehmen werden dringend Talente<br />

benötigen, junge Frauen und<br />

junge Migranten eingeschlossen. Aus<br />

früheren Nischenthemen werden so<br />

zentrale Zukunftsthemen, aus sozialdemokratischen<br />

Zielen ökonomische<br />

For<strong>der</strong>ungen.<br />

Vor dem Hintergrund des demografischen<br />

Wandels zeigt sich, wie<br />

mo<strong>der</strong>n die Programmatik <strong>der</strong> SPD<br />

ist. Dass ein Staat in kluge Köpfe<br />

investieren muss, wird von Jahr zu<br />

Jahr deutlicher. Natürlich lässt sich<br />

eine mo<strong>der</strong>ne Wirtschaftspolitik nicht nur auf Bildung und<br />

Qualifizierung reduzieren. Eine leistungsfähige Infrastruktur,<br />

wettbewerbsfähige Standortkosten und an<strong>der</strong>e Faktoren<br />

gehören dazu. Gleichwohl: Die SPD hat als Partei <strong>der</strong><br />

Arbeit und als Partei <strong>der</strong> Bildung die Chance, ein authentisches<br />

Profil für die zentrale Herausfor<strong>der</strong>ung unserer Gesellschaft<br />

zu entwickeln.<br />

Sicher: Der Weg zurück zur Mehrheitsfähigkeit wird<br />

für die SPD nicht einfach, aber er ist gangbar. Er setzt eine<br />

selbstkritische Überprüfung bisheriger Schwerpunkte voraus,<br />

er kann aber an gute Erfahrungen anknüpfen. „Innovation<br />

und Gerechtigkeit“ – nicht die schlechtesten Leitplanken<br />

für den künftigen Kurs <strong>der</strong> SPD.<br />

STEPHAN WEIL ist Ministerpräsident von Nie<strong>der</strong>sachsen. Der<br />

Sozialdemokrat regiert seit 2013 mit einer rot-grünen Koalition<br />

Als die SPD auf ein starkes wirtschaftspolitisches Profil setzte,<br />

wurde Gerhard Schrö<strong>der</strong> Kanzler. Daran sollte sie sich erinnern<br />

Illustration: TV-yesterday<br />

38<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


VSF&P<br />

A<br />

UNG<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

GERN<br />

© Foto Schwennicke : Andrej Dallmann, © Foto Meyer: Antje Berghäuser, © Foto Merkel: Bundesregierung/Denzel<br />

Angela Merkel<br />

27. AUGUST<br />

ANGELA<br />

MERKEL<br />

Christoph Schwennicke<br />

Frank A. Meyer<br />

Auf dem Höhepunkt <strong>der</strong> Macht<br />

Welche Ziele hat unsere Kanzlerin in ihrer dritten Legislaturperiode,<br />

was sind die Wegmarken für die zweite Auflage <strong>der</strong> Großen Koalition<br />

und wie verän<strong>der</strong>t sich Deutschlands Rolle in <strong>der</strong> Welt?<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur Christoph Schwennicke und <strong>Cicero</strong>-Kolumnist<br />

Frank A. Meyer im Gespräch mit Angela Merkel.<br />

Mittwoch, 27. August 2014, 18:00 Uhr<br />

Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets unter:<br />

030 28 408 155<br />

In Kooperation mit<br />

dem Berliner Ensemble<br />

cicero.de


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

DER<br />

ABFRACKER<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

Fotos KIÊN HOÀNG LÊ<br />

Ein Mann treibt die Erdgasindustrie<br />

in die Defensive. In <strong>der</strong> CDU drückt<br />

er seine Kritik am Fracking durch.<br />

Geschichte über die Macht eines<br />

einzelnen Abgeordneten<br />

Oben: Gleich neben Langwedel<br />

in Nie<strong>der</strong>sachsen wird in einer<br />

Tiefe von 5000 Metern nach<br />

Erdgas gebohrt<br />

Rechts: Andreas Mattfeldt,<br />

CDU-Bundestagsabgeordneter,<br />

kämpft für strenge Regeln für<br />

die deutsche Erdgasför<strong>der</strong>ung<br />

Links: Mattfeldt inszeniert den<br />

Protest unübersehbar – an<br />

seinem Gartenzaun in Langwedel.<br />

Und in <strong>der</strong> Union in Berlin<br />

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<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Protestkreuze gegen Gasbohren.<br />

Der CDU-Mann Mattfeldt hat<br />

auch eines: „Die ketten sich an<br />

bei mir im Wahlkreis“<br />

Am Donnerstagnachmittag um 14.37 Uhr,<br />

die Sonne scheint ihm in den Nacken,<br />

lässt Sigmar Gabriel Dampf ab. Er war<br />

eine halbe Stunde artig, eingezwängt<br />

zwischen Sessel und Sitzungstisch, das<br />

Sakko über <strong>der</strong> Lehne. Er hat leise gesprochen, kurze<br />

Antworten, sonore Vizekanzlerstimme. Aber jetzt<br />

reicht es, jetzt muss sie raus, seine „ganz persönliche<br />

Einschätzung“, die dürfen <strong>der</strong> Mann mit <strong>der</strong> roten Krawatte<br />

links neben ihm und die an<strong>der</strong>en am Tisch schon<br />

noch hören. Es gehe nicht, die För<strong>der</strong>ung von Schiefergas<br />

auf ewig auszuschließen. „In diesem Land ist es inzwischen<br />

so, dass Menschen davor Angst haben, dass<br />

sie Krebs kriegen, wenn eine Stromleitung in Sicht ist.“<br />

Der SPD-Chef schaut in den kühl klimatisierten<br />

Raum im Paul-Löbe-Haus des Bundestags. Er hat gerade<br />

einen CDU-Spruch rausgehauen, so reden Unionspolitiker<br />

über Ökos. Aber an dem großen runden<br />

Tisch sitzt kein einziger Grüner. Der Wirtschaftsminister<br />

hat Abgeordnete des Koalitionspartners vor sich,<br />

30 Politiker von CDU und CSU. Sie sind ein wichtiger<br />

Grund dafür, dass Fracking, jene umstrittene Technik<br />

<strong>der</strong> Erdgasför<strong>der</strong>ung, in Deutschland gerade ziemlich<br />

tot ist. Und dass es nach <strong>der</strong> Sommerpause einen Gesetzentwurf<br />

geben wird, <strong>der</strong> den Erdgasunternehmen<br />

das Leben auch künftig schwer machen wird.<br />

Gabriel hat wenig zu gewinnen mit dem Fracking.<br />

Er hat auch wenig zu gewinnen gegen den Mann mit<br />

<strong>der</strong> roten Krawatte, <strong>der</strong> links neben ihm sitzt: Andreas<br />

Mattfeldt, 44 Jahre alt, CDU-Abgeordneter aus Nie<strong>der</strong>sachsen.<br />

Er hat um sich mehre dutzend Unionsabgeordnete<br />

geschart, die etwas gegen Fracking haben.<br />

Die „Mattfeldt-Gruppe“ heißt <strong>der</strong> Zusammenschluss<br />

im Bundestag. Es klingt unglaublich, doch letztlich<br />

hat dieser eine Abgeordnete die Erdgasunternehmen<br />

in Deutschland unterworfen. Der CDU hat er in einer<br />

Zukunftsfrage seine Linie aufgedrückt.<br />

MATTFELDT HAT EIN weiches Gesicht, mit einem lustigen<br />

Zug im linken Mundwinkel. Das Gesicht sagt:<br />

Tu mir nichts, dann tu ich dir nichts. Nur sein gera<strong>der</strong><br />

Blick kann Härte erzeugen, er sticht dann beinahe<br />

drohend geradeaus.<br />

Im Haushaltsausschuss beaufsichtigt Mattfeldt<br />

das Budget des Wirtschaftsministeriums. Wenn Gabriel<br />

Geld braucht, neue Stellen in irgendeinem Referat,<br />

führt <strong>der</strong> Weg über Mattfeldt. Dieser Umstand dürfte<br />

dazu beigetragen haben, dass sich <strong>der</strong> Minister an diesem<br />

Nachmittag Zeit genommen hat. In <strong>der</strong> vergangenen<br />

halben Stunde hat er ein Zugeständnis nach dem<br />

an<strong>der</strong>en gemacht. Eine Prüfung <strong>der</strong> Umweltverträglichkeit<br />

für alle Erdgasbohrungen. Ein Vetorecht <strong>der</strong><br />

Landratsämter. Und wenn es Schäden gibt, muss das<br />

Energieunternehmen nachweisen, dass es nicht schuld<br />

daran ist. Nur am Schluss gestattet sich Gabriel den<br />

kleinen Ausbruch zur Technologiefeindlichkeit: „Da<br />

habe ich einen prinzipiellen Wi<strong>der</strong>stand.“<br />

41<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

Mattfeldt richtet sich im Sessel auf. „Zunächst<br />

einmal herzlichen Dank für Ihre Ausführungen, Herr<br />

Minister.“ Blick auf Gabriel. Es hätten sich mehr als<br />

60 Kollegen von CDU und CSU für diese Sitzung angemeldet,<br />

über 100 machten sich ernste Gedanken über<br />

die Erdgasför<strong>der</strong>ung. Technologiefeindlich? Blick in<br />

die Runde. „Es ist hier niemand gegen eine sichere<br />

Erdgasför<strong>der</strong>ung.“ Blick zu Gabriel. „Ich bin allerdings<br />

nicht so gutgläubig <strong>der</strong> Industrie gegenüber, wie ich das<br />

vielleicht vor 15 Jahren war.“ Blick in die Runde. „Das<br />

darf ich auch in aller Deutlichkeit sagen!“<br />

FRACKING IST NICHT EBEN erst aus den USA nach<br />

Deutschland gekommen. In <strong>der</strong> Bundesrepublik wird<br />

schon seit Jahrzehnten gebohrt – und gefrackt. In Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

begannen Geologen in den fünfziger Jahren<br />

damit, systematisch nach Erdgas zu suchen. Wo<br />

sie fündig wurden, brachen Ingenieure mit ihren Maschinen<br />

tief ins Gestein hinein. Erdgas hat sich über<br />

Millionen von Jahren aus organischen Ablagerungen<br />

gebildet, aus Pflanzen, aus Algen. Die Ablagerungen<br />

haben sich in <strong>der</strong> Tiefe verän<strong>der</strong>t. Unter Druck und bestimmten<br />

Temperaturen entstand das sogenannte Muttergestein,<br />

in dessen Poren sich das Gas befand. Weil<br />

es leicht war, strömte es von dort nach oben und wurde<br />

erst von undurchlässigen Steinschichten gestoppt, sodass<br />

Lagerstätten entstanden. Das Gestein bohrten die<br />

Ingenieure an, sie gingen bis auf 5000 Meter unter die<br />

Erde und bahnten dem Rohstoff einen Weg.<br />

Das Gas strömte, die Firmen kassierten. War das<br />

Gestein zu dicht, pumpten die Ingenieure unter hohem<br />

Druck Wasser und Chemikalien in die Erde. Sie<br />

erzeugten Risse, in die sie Sand o<strong>der</strong> Keramikkügelchen<br />

nachschossen, um den Weg für das Gas offen zu<br />

halten. Die Methode wurde 1961 in Nie<strong>der</strong>sachsen das<br />

erste Mal eingesetzt, sie kam aus den USA und hieß<br />

Hydraulic Fracturing, o<strong>der</strong>: Fracking.<br />

Der Bedarf nach Erdgas stieg. Nach <strong>der</strong> Ölkrise<br />

setzte Deutschland in den Siebzigern mehr und mehr<br />

auf Gas. Die Gasheizung galt schnell als mo<strong>der</strong>n, sauber<br />

und günstig. Die Heizöllaster hielten vor immer<br />

weniger Häusern, die Öltanks wurden herausgerissen,<br />

um Platz im Haus zu schaffen, Familienväter richteten<br />

sich einen Hobbykeller ein. Deutschland importierte<br />

den Brennstoff, aber rund 10 Prozent des Verbrauchs<br />

wurden im Land geför<strong>der</strong>t. Die Bergämter vergaben<br />

Konzessionen, <strong>der</strong> Staat kassierte einen För<strong>der</strong>zins,<br />

vor allem in Nie<strong>der</strong>sachsen, denn 95 Prozent des deutschen<br />

Erdgases kommen von dort.<br />

1996 bekam auch Andreas Mattfeldt im nie<strong>der</strong>sächsischen<br />

Langwedel einen Gasanschluss. Er hat ein<br />

stattliches Haus, es ist Sommer, 20 Grad. Eine Woche<br />

nach dem Termin mit Gabriel spaziert Mattfeldt um<br />

den Klinkerbau und zeigt seinen Garten. Im Winter<br />

an Sonntagnachmittagen sitzt er mit seiner Frau und<br />

den zwei Töchtern im warmen Wohnzimmer bei Kaffee<br />

und Butterkuchen. Er habe sich lange nicht darum<br />

gekümmert, wo das Gas herkommt, sagt er. „Hauptsache<br />

ein warmer Arsch.“<br />

Mattfeldt ist eigentlich Industriekaufmann für<br />

Fleischwaren. Wurst, Schinken, Brotaufstriche. Nachdem<br />

er sich dafür engagiert hatte, das heruntergekommene<br />

Freibad zu retten, wählte ihn Langwedel zum<br />

Bürgermeister. Wenn er abends an einer Bohrstelle <strong>der</strong><br />

RWE Dea vorbeifuhr und in <strong>der</strong> Dunkelheit eine Gasfackel<br />

lo<strong>der</strong>n sah, war er stolz. Die sauberste Energiequelle,<br />

die es gibt, dachte er. Als Bürgermeister wurde<br />

er zu Festen <strong>der</strong> Gasfirmen eingeladen. Die Ingenieure<br />

und die Männer vom Bergamt saßen beim Bier.<br />

Im Oktober 2004 machte Mattfeldt Urlaub auf Sylt,<br />

als er aufgeregte Anrufe bekam. „Andreas, ein Erdbeben,<br />

hier hat es gerumst.“ Eine Magnitude von 4,5<br />

auf <strong>der</strong> Richter-Skala. Er dachte an die Bohrungen, er<br />

rief bei <strong>der</strong> RWE Dea an, beim Bergamt in Hannover.<br />

„Die haben mich als Vollpfosten abgetan, als Dussel.“<br />

Vielleicht war das <strong>der</strong> größte Fehler, den die Industrie<br />

machen konnte.<br />

IN DEN USA beschlossen die Firmen in dieser Zeit, Fracking<br />

verstärkt einzusetzen. Das Gas sollte direkt aus<br />

dem Muttergestein geholt werden, dort wo es entstanden<br />

war. Die Ingenieure bohrten ins Schiefergestein,<br />

sie nannten die neuen Methoden Superfracking, und<br />

die lohnten sich, denn die Energiepreise waren hoch.<br />

Die Branche boomte, die USA konnten ihre Gasimporte<br />

drastisch reduzieren. Aber es gab bald Streit. Das<br />

Wasser, das auf den Bohrplätzen nach oben kam, war<br />

giftig, manchmal radioaktiv. Die Firmen entsorgten<br />

Was tun die hinterm Zaun? Und was<br />

im Erdinnern? Lange kümmert das keinen.<br />

„Hauptsache, ein warmer Arsch“


zackige Linie, sie führt von <strong>der</strong> einen Wand übers Eck<br />

zur an<strong>der</strong>en. Ein Riss. Vom Rums. „Da fällt das Haus<br />

nicht zusammen“, sagt Mattfeldt. Aber bisher muss<br />

ein Geschädigter <strong>der</strong> Erdgasfirma nachweisen, dass sie<br />

schuld ist. „Die Eigentümer wollen das ersetzt wissen.“<br />

Das Bundesumweltamt warnte vor unwägbaren<br />

Gefahren des Fracking. Im Gesetz stand nichts, was<br />

die Technik verbot. Es gab jedoch auch keine Regelungen,<br />

auf die sich Industrie und Bergämter berufen<br />

konnten. Die Leute in den Gasfirmen und in den Bergämtern<br />

hielten lieber still, bis ein Gesetz die Dinge<br />

klären würde. Sie hofften auf die FDP, <strong>der</strong>en Chef<br />

Philipp Rösler ein passendes Gesetz versprach. Und<br />

auf die CDU, die für Technologiefreundlichkeit stand.<br />

Sie hofften auf Männer wie Michael Fuchs.<br />

Er hat das Dorf zu seiner Familie gemacht.<br />

Jetzt verteidigt er die Heimat. Mattfeldt<br />

rüstet sich für den nächsten Auftritt<br />

es nicht immer sauber. Eine Studie <strong>der</strong> Duke University<br />

fand Hinweise, dass das Trinkwasser in <strong>der</strong> Nähe<br />

von Bohrstellen mit Gas kontaminiert ist. „Don’t frack<br />

my mother“, sangen Sean Lennon und Yoko Ono. Das<br />

Dilemma zwischen Energiehoffnung und Umweltangst<br />

war ein Stoff für Hollywood. „Promised Land“ handelte<br />

davon, wie Fracking die USA spaltet, Matt Damon<br />

stellte den Film auf <strong>der</strong> Berlinale vor.<br />

Als im Münsterland und am Bodensee bekannt<br />

wurde, dass Gasfirmen die Gegend erkundeten, um<br />

dort die neuartigen Fracking-Methoden aus den USA<br />

einzusetzen, waren die Menschen beunruhigt. Die Ablehnung<br />

baute auf Kindheitswissen auf: Gas ist gefährlich.<br />

Explosiv, giftig, unsichtbar.<br />

Im August 2011, Mattfeldt saß inzwischen im Bundestag,<br />

suppte aus einem Rohr <strong>der</strong> RWE Dea Benzol,<br />

<strong>der</strong> Stoff ist krebserregend. Das Benzol war auf mehreren<br />

Kilometern durch die Leitung diffundiert.<br />

Im November 2012 saß Mattfeldt beim Essen in<br />

Berlin. Das Handy klingelte: „Andreas, hier haben die<br />

Wände gewackelt.“ Nur eine Magnitude von 2,8, aber<br />

in 2000 bis 4000 Metern Tiefe, das Epizentrum am<br />

Rande des Erdgasfelds in Mattfeldts Nachbarschaft.<br />

Er geht von seinem Garten ums Haus und durch<br />

einen Seiteneingang in die Waschküche. Er zeigt eine<br />

VON DEN BUNDESTAGSBÜROS in Berlin hat Fuchs eines<br />

<strong>der</strong> feinsten. Blick auf die Reichstagskuppel, Blick<br />

auf die Spree, Montagmorgen, 8.20 Uhr, ein herrlicher<br />

Tag, die Woche kann beginnen. Fuchs, 65 Jahre alt,<br />

sitzt am Tisch, zwei Referenten schauen ihm beim Reden<br />

zu. Er ist einer <strong>der</strong> Vizechefs <strong>der</strong> Unionsfraktion,<br />

zuständig für Energie und Wirtschaft. Klar, er hat sich<br />

mit Fracking beschäftigt, Technik ist für ihn etwas Tolles.<br />

Sein erstes Geld als Unternehmer verdiente er mit<br />

einem speziellen Schlüsselanhänger. Statt ihn zu suchen,<br />

pfeift man einfach, und er macht sich durch ein<br />

Piepsen bemerkbar. Im Bundestag hat er für die Kernenergie<br />

gestritten, er war <strong>der</strong> „Atom-Fuchs“. Heute<br />

muss er Angela Merkels Atomausstieg mittragen. Aber<br />

alles macht er nicht mit. „Nur mit Sonne und Wind –<br />

wer glaubt, nur dadurch könnten wir die Energiewende<br />

schaffen, <strong>der</strong> liegt falsch. Es darf bei neuen Energiequellen<br />

einfach keine Denkverbote geben.“<br />

Ein wenig ist es wie früher. Es gibt die Bürgerinitiativen,<br />

die Umweltverbände, die Grünen. Und Michael<br />

Fuchs von <strong>der</strong> CDU steht auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite.<br />

„Wir sollten schon genau unterscheiden: Was sind Sorgen,<br />

die wir ernst nehmen müssen; und was ist nur ein<br />

neues Betätigungsfeld für NGOs, die sich nicht mehr<br />

an <strong>der</strong> Kernkraft abarbeiten können.“ Wir gegen die,<br />

Grün gegen Schwarz.<br />

Andreas Mattfeldt sitzt im Wintergarten von Sigrid<br />

Meyer-Klein in Langwedel. Vertreter <strong>der</strong> Bürgerinitiativen<br />

<strong>der</strong> Gegend sind zu Besuch. Aus Thedinghausen<br />

ist Dettmar Frese da, CDU-Mitglied, Rentner<br />

und bis vor kurzem noch Geschäftsführer von Masterrind,<br />

einem Versand von Bullensamen. Natürlich<br />

ist das jetzt nicht das Thema. Im Wintergarten geht<br />

es um grundwasserführende Schichten, um porösen<br />

Beton in Bohrleitungen, um das unbekannte Gebiet<br />

im Innern <strong>der</strong> Erde. „Keiner weiß, wie die Dinge dort<br />

unten sind“, gruselt sich Sigrid Meyer-Klein.<br />

Draußen summt ein Rasenmäher, im Wintergarten<br />

ist es heimelig. Ein Farn, ein getöpferter Leuchtturm,<br />

an einer Fensterfront hängt eine Lichterkette<br />

mit Sonnen, Monden und Sternen. Auf <strong>der</strong> Tischdecke<br />

43<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

mit dem Herzmuster stehen Kekse und Ferrero Küsschen<br />

bereit. Wenn RWE Dea auf die Idee kommt, sich<br />

neue Bohrstellen zu suchen, würde die Initiative sofort<br />

ihre roten Holzkreuze aufstellen. Gerade erklärt<br />

Mattfeldt: „Ich hab zum Sigmar Gabriel gesagt: ‚Die<br />

ketten sich an bei mir im Wahlkreis.‘“<br />

Je konkreter in Berlin 2012 über das Frackinggesetz<br />

gesprochen wurde, desto aktiver wurde Andreas<br />

Mattfeldt. Er verschmolz die Interessen: Die CDU-Abgeordneten<br />

aus Nie<strong>der</strong>sachsen, in <strong>der</strong>en Wahlkreisen<br />

schon gebohrt wird, brachte er mit Kollegen aus Wahlkreisen<br />

zusammen, in denen Energieunternehmen die<br />

Suche nach Schiefergas planten. Andreas Jung, ein<br />

Umweltpolitiker vom Bodensee, alarmierte die badenwürttembergischen<br />

Abgeordneten. Die Gruppe wuchs.<br />

Mit einem Bekannten vom Brauerbund überlegte<br />

Mattfeldt, was man noch tun könnte. Irgendwann<br />

stand auf Seite eins <strong>der</strong> Bild, die Bierbrauer fürchteten<br />

um das Trinkwasser. „Reinheitsgebot in Gefahr!“ Umgehend<br />

war die Mattfeldt-Gruppe um ein paar Kollegen<br />

<strong>der</strong> CSU stärker. Sie war nicht mehr zu ignorieren.<br />

In Mattfeldts Welt werden die Wichtigen und<br />

Mächtigen von Berlin Kumpels und Nachbarn, als kämen<br />

sie aus dem Flecken Langwedel. Spricht er von an<strong>der</strong>en<br />

Politikern, nennt er sie beim Vornamen, egal, ob<br />

er sie wirklich duzt o<strong>der</strong> nicht. Der Peter, <strong>der</strong> Sigmar.<br />

Die hierarchische Sortierung in Minister und Staatssekretäre,<br />

in Vizes und Sprecher verwischt in dieser<br />

Welt, als wäre <strong>der</strong> Bundestag ein Gemein<strong>der</strong>at und Peter<br />

Altmaier <strong>der</strong> Vorzimmerchef <strong>der</strong> Landrätin.<br />

Mattfeldt ist wichtig, weil er sich wichtig macht.<br />

Dabei agiert er so, dass ihm niemand <strong>böse</strong> sein kann.<br />

Missbilligt er etwas, sagt er bloß: „Mein lieber Schneeschieber!“<br />

Er verteilt Broschüren seiner alten Firma,<br />

Weißwürste, Kochschinken, Landschinken, alles bio,<br />

abends schmaust er mit Kollegen.<br />

Er ist in Langwedel nur mit <strong>der</strong> Mutter aufgewachsen.<br />

Der Vater, ein Austauschschüler, hatte sich nach<br />

einem Abenteuer zu Silvester 1968 wie<strong>der</strong> nach Frankreich<br />

verzogen. In <strong>der</strong> Provinz <strong>der</strong> siebziger Jahre<br />

musste man ohne Vater Vorurteile überwinden. Der<br />

Junge machte das Dorf zu seiner Familie. Heute verteidigt<br />

er es.<br />

2013, Schwarz-Gelb regierte noch, legte Philipp<br />

Röslers Wirtschaftsministerium Entwürfe für ein Frackinggesetz<br />

vor. Darin gab es Regeln, aber sie hatten<br />

Hintertürchen. Das neuartige Fracking sollte verboten<br />

werden, solange nicht alle Risiken geklärt sind. Das<br />

hieß: Sobald sie als geklärt angesehen werden, ist es<br />

erlaubt. Mattfeldts Kollege Andreas Jung ist Rechtsanwalt.<br />

Er schaute sich die Halbsätze an, die aus dem<br />

Ministerium kamen und suchte harte Formulierungen.<br />

Mattfeldt wirbelte, Jung schloss die Hintertürchen.<br />

Kurz vor <strong>der</strong> Bundestagswahl brach die Regierung<br />

das Projekt ab. Nach <strong>der</strong> Wahl verhandelten Union<br />

und SPD. Andreas Mattfeldt hatte den Eindruck, dass<br />

die SPD-Län<strong>der</strong> gegen harte Regeln arbeiteten, „mein<br />

lieber Schneeschieber!“ In Nordrhein-Westfalen sind<br />

Kommunen an RWE beteiligt. In Nie<strong>der</strong>sachsen kassiert<br />

das Land im Jahr 600 Millionen Euro För<strong>der</strong>zins<br />

von den Erdgasunternehmen. In die Koalitionsvereinbarung<br />

wurde geschrieben, Fracking habe ein<br />

erhebliches Risikopotenzial. Doch die Formulierungen<br />

klangen weich. „Wissensdefizite“, „Dialog mit allen<br />

Beteiligten“. Es waren Hintertürchen.<br />

DIE GASUNTERNEHMEN kämpfen. Sie haben im Februar<br />

eine Hauptstadtrepräsentanz aufgemacht. Die<br />

Leiterin Susanne Funk hat bis 2013 für die CDU gearbeitet.<br />

Sie war die Mitarbeiterin eines Abgeordneten,<br />

<strong>der</strong> im Umweltausschuss das Frackinggesetz bearbeitete.<br />

Sie kennt sich mit Hintertürchen aus.<br />

Michael Fuchs hat ein Dutzend Kaffeebecher in<br />

seinem Regal, sie tragen Logos von ARD und ZDF.<br />

Die Sen<strong>der</strong> laden ihn ein, weil sie hoffen, dass <strong>der</strong><br />

Atom-Fuchs doch noch mal zuschlägt. Weil er die Augenbrauen<br />

so schön hochzieht, dass sie spitz werden<br />

wie Dachgiebel. Und weil er Politik in Geschichten<br />

verpacken kann.<br />

Fuchs war vor ein paar Jahren in Nowy Urengoi,<br />

50 Kilometer westlich vom Polarkreis. Im Winter<br />

50 Grad Minus, im Sommer die Mücken. 100 000 Menschen,<br />

die sibirisches Gas för<strong>der</strong>n. „Große Mengen des<br />

russischen Gases kommen daher, fast 40 Prozent des<br />

gesamten deutschen Gasverbrauchs werden aus Russland<br />

gedeckt.“ Fuchs erzählt ganz ruhig, gerade so, als<br />

ob sie noch schliefen in Nowy Urengoi. Die För<strong>der</strong>technik<br />

dort machte keinen guten Eindruck auf ihn.<br />

Gas ist giftig, gefährlich, explosiv.<br />

Die Bürgerinitiative tagt im Wintergarten<br />

von Sigrid Meyer-Klein ( vorn )


Ich lese wie<strong>der</strong> Zeitung.<br />

* Laut IVW I/2014.<br />

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Verrostet, verrottet, schmutzig. Die Referenten merken<br />

auf, gleich kommt’s. „Dann wird ihnen bewusst, wie<br />

verwundbar solche Infrastrukturen auch sind. Von <strong>der</strong><br />

Abhängigkeit von Putin ganz zu schweigen.“ Die Referenten<br />

sehen besorgt aus, fast als wäre Nowy Urengoi<br />

gerade in die Luft geflogen. Das gefällt ihnen nicht.<br />

„Das kann uns nicht gefallen“, ruft Fuchs. „Wir brauchen<br />

an<strong>der</strong>e Varianten für die Gasversorgung!“<br />

Während <strong>der</strong> Sommerpause werden Wirtschaftsund<br />

Umweltministerium Gesetzestexte schreiben. Gabriel<br />

hat nun angekündigt, das Fracking in Schiefergas<br />

bis 2021 zu verbieten. Soll er vielleicht gegen Hollywood<br />

antreten? Sich mit Mattfeldt herumärgern? Nur<br />

Erprobungsprojekte ohne wassergefährdende Stoffe<br />

will <strong>der</strong> Minister ermöglichen. Fracking wie bisher,<br />

also in tieferen Schichten, soll erlaubt bleiben, doch<br />

die Regeln werden scharf sein. Umkehrung <strong>der</strong> Beweislast<br />

bei Schäden. Vetorecht <strong>der</strong> Landratsämter.<br />

Verbot im Einzugsbereich von Mineralbrunnen, von<br />

Bierbrunnen, von Seen, aus denen Trinkwasser entnommen<br />

wird. Mattfeldt hätte obendrein noch gern,<br />

dass das Wasser aus den Lagerstätten nicht wie<strong>der</strong> in<br />

die Erde gepresst werden darf, son<strong>der</strong>n gefiltert und<br />

aufbereitet wird. Das wäre teuer für die Industrie.<br />

KURZ NACH 17 UHR, Mattfeldts BMW 530d tuckert<br />

durch einen Stau auf <strong>der</strong> A 27. Er hat ein neues rotes<br />

Holzkreuz von Sigrid Meyer-Klein im Kofferraum. Er<br />

hat in Bremen am Bahnhof gerade einen Referatsleiter<br />

aus Gabriels Wirtschaftsministerium abgesetzt. Mattfeldt<br />

hat ihn zu einer Ortsbegehung eingeladen, es ist<br />

<strong>der</strong> Beamte, <strong>der</strong> den Sommer über am Gesetzestext<br />

arbeiten wird, und <strong>der</strong> Abgeordnete hat ihm vorsorglich<br />

noch einmal aufgedröselt, wie genau er sich im<br />

Stellenplan des Ministeriums auskennt.<br />

Jetzt klingelt das Handy. Freisprechanlage.<br />

„Mensch Andreas, du stehst bestimmt gerade auf einem<br />

Bohrfeld.“ Eine Ex-Politikerin aus Berlin ist dran,<br />

sie ist auch in <strong>der</strong> CDU, nun arbeitet sie für eine Lobbyagentur.<br />

Sie bietet eine Information über Gabriels<br />

Haltung an. Wenn sie wüsste. Im Gegenzug bittet sie<br />

darum, dass Mattfeldt ihr den ersten Gesetzentwurf<br />

schickt, sobald er da ist. Es geht um Informationsvorsprünge,<br />

darum, die neueste Formulierung zu kennen,<br />

nur dann kann man rechtzeitig Hintertürchen suchen.<br />

„Du bist ein Traum“, sagt er. Doch er verspricht nichts.<br />

Er ist durch den Stau durch. Der BMW schießt<br />

über die Autobahn.<br />

In Verden an <strong>der</strong> Aller wartet Gernot Kalkoffen,<br />

Deutschlandchef von Exxon Mobil, größter Erdgasför<strong>der</strong>er<br />

im Land, den Branchenverband führt er auch an.<br />

Er steht in <strong>der</strong> Kantine eines Mittelständlers, Neonlicht,<br />

Pokale vom Betriebssport in den Regalen. Der CDU<br />

Wirtschaftsrat, Sektion Elbe-Weser, hat Kalkoffen eingeladen.<br />

Er ist eine elegante Erscheinung. Silberner<br />

Schnauzer, dunkelblaue Krawatte, dunkelblaues Jackett.<br />

Er verantwortet 13 Milliarden Euro Umsatz im<br />

„Es hat geknallt, Herr Kalkoffen, es hat<br />

gewumst“ – Exxon-Mobil-Chef Gernot<br />

Kalkoffen muss die Branche verteidigen<br />

Jahr, aber die CDU ist wichtig für ihn, da kommt er<br />

auch in eine Kantine in Verden an <strong>der</strong> Aller.<br />

„Ich freue mich auf die Diskussion mit Herrn Mattfeldt“,<br />

sagt Kalkoffen. „Ich freue mich, dass wir versuchen<br />

weiterzukommen, konstruktiv.“ Seine Stimme<br />

klingt angenehm wie aus einer teuren Stereoanlage.<br />

Mit einer Fernbedienung klickt er sich durch seine Präsentation:<br />

Die Tradition <strong>der</strong> Erdgasindustrie. Ihre wichtige<br />

Rolle im Energiemix. Eine Grafik zeigt, wie in<br />

den Neunzigern Fracking die deutsche Gasför<strong>der</strong>ung<br />

ansteigen ließ – und wie sie seit kurzem zurückgeht.<br />

„2011 haben wir den letzten Frac gemacht“, klagt Kalkoffen.<br />

„Wir kriegen seit Jahren keine Genehmigung<br />

mehr.“ An den Tischen sitzen 30 Gäste. Unternehmer,<br />

Wirtschaftsprüfer, Geschäftsführer. Jetzt ist Mattfeldt<br />

dran. Er streckt den Rücken durch. „Es hat geknallt,<br />

Herr Kalkoffen, es hat gewumst, Herr Kalkoffen, da<br />

haben die Wände gewackelt.“ Er hält ein Foto vom Riss<br />

in seiner Waschküche hoch, sein Beweisstück. „Ich bin<br />

auch Unternehmer“, ruft er. „Ich bin <strong>der</strong> Schlachter im<br />

Parlament. Wurst und Schinken kann ich!“<br />

Etwas weiter hinten sitzt Dettmar Frese von <strong>der</strong><br />

Bürgerinitiative aus Thedinghausen. CDU, das ist er,<br />

und Wirtschaft, das ist er auch, <strong>der</strong> ehemalige Geschäftsführer<br />

von Masterrind.<br />

Bullensamen und Schinken: die neuen Ökos. Und<br />

alle in <strong>der</strong> CDU.<br />

GEORG LÖWISCH ist Textchef<br />

von <strong>Cicero</strong>. Er schätzt im<br />

Winter seine Gasetagenheizung<br />

und im Sommer eisgekühltes<br />

Trinkwasser aus <strong>der</strong> Leitung<br />

Foto: Andrej Dallmann (Autor)<br />

46<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


WELTBÜHNE<br />

„ Barack Obama<br />

führt einen Krieg gegen<br />

Whistleblower “<br />

Jesselyn Radack, die zur Gruppe <strong>der</strong> Anwälte von Edward Snowden gehört,<br />

lässt sich nicht einschüchtern, Seite 50<br />

47<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

DER NETTE HERR EKMEL<br />

Ekmeleddin Ihsanoglu verkörpert den kosmopolitischen Geist des alten Osmanischen<br />

Reiches: Er ist religiös und propagiert einen säkularen Staat. Nun will er Präsident werden<br />

Von FRANK NORDHAUSEN<br />

Mit diesem Kandidaten hatte<br />

niemand gerechnet, und doch<br />

könnte sich seine Nominierung<br />

als clever erweisen. „Ich bin bereit.<br />

Wer ein Badehaus betritt, <strong>der</strong> schwitzt“,<br />

sagte Ekmeleddin Ihsanoglu, nachdem<br />

ihn die beiden größten Oppositionsparteien<br />

<strong>der</strong> Türkei zu ihrem Kandidaten<br />

für die erste Direktwahl des türkischen<br />

Staatspräsidenten am 10. August erkoren<br />

hatten. Von einem „machtvollen Coup,<br />

<strong>der</strong> das politische Zentrum aufwühlt“,<br />

schwärmte <strong>der</strong> liberale Kolumnist Yavuz<br />

Baydar.<br />

Tatsächlich durchbricht die Opposition<br />

aus sozialdemokratisch-kemalistischer<br />

CHP und nationalistischer MHP<br />

damit die Polarisierungsstrategie von<br />

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan<br />

und dessen islamisch-konservativer<br />

Regierungspartei AKP. Sie will mit einem<br />

liberal-konservativen Kandidaten<br />

die Wählermehrheit rechts <strong>der</strong> Mitte ansprechen,<br />

auf die Erdogan, <strong>der</strong> ins Amt<br />

des Präsidenten wechseln will, bislang<br />

stets zählen konnte.<br />

„Wer ist Ekmeleddin Ihsanoglu?“,<br />

fragte nicht nur die Zeitung Hürriyet<br />

Daily News. „Ekmel Bey“, Herr Ekmel,<br />

wie Ihsanoglu inzwischen liebevoll genannt<br />

wird, ist ein gottesfürchtiger Muslim,<br />

zugleich Anhänger des säkularen<br />

Staatsgrün<strong>der</strong>s Atatürk, ein dezenter,<br />

umfassend gebildeter Wissenschaftshistoriker<br />

und ehemaliger Diplomat, <strong>der</strong> neben<br />

Türkisch perfekt Arabisch, Englisch,<br />

Französisch und Farsi spricht. Er gilt als<br />

überparteilich und moralisch integer.<br />

Auf den ersten Blick kann Ihsanoglu,<br />

70, im direkten Vergleich mit dem<br />

polternden Politikstil des charismatischen<br />

Populisten Erdogan kaum bestehen.<br />

Setzt Letzterer doch darauf, dass<br />

die autoritätsfixierten Türken den Bullen<br />

mit dem meisten Testosteron wählen.<br />

Aber Ihsanoglus vermeintliche Schwäche<br />

könnte sich als Stärke erweisen.<br />

Der Herausfor<strong>der</strong>er hat sich bewusst<br />

für eine leise, jedoch nicht weniger wirksame<br />

Wahlkampfstrategie entschieden.<br />

Ihsanoglu besucht wichtige Multiplikatoren<br />

– Unternehmerverbände, Gewerkschaften,<br />

Verbände. Er gibt Pressekonferenzen<br />

und geht ins Fernsehen, wo er<br />

im populären Sen<strong>der</strong> CNN Türk einen<br />

ersten Achtungserfolg erzielte. Die halbe<br />

Türkei saß am Bildschirm, als er mit ruhiger<br />

Stimme die Regierung für ihre einseitige<br />

Parteinahme für die Muslimbrü<strong>der</strong><br />

in Ägypten und für <strong>Islam</strong>isten kritisierte,<br />

weil dies nicht im nationalen Interesse sei.<br />

Außenpolitisch möchte er den EU-Beitritt<br />

vorantreiben und betont gleichzeitig die<br />

Rolle <strong>der</strong> Türkei als Vermittler zwischen<br />

West und Ost. „Ich stehe für eine größere<br />

Vision. Ich stehe für bessere Beziehungen<br />

zwischen Nationen und Zivilisationen“,<br />

sagte er. Nach dem CNN-Interview sah<br />

ihn ein Umfrageinstitut erstmals nahe<br />

am Favoriten Erdogan: Beide lagen bei<br />

etwa 45 Prozent.<br />

AUFGEATMET HÄTTEN SIE, sagen viele<br />

Türken. Endlich ein Spitzenpolitiker,<br />

<strong>der</strong> die unselige Tradition des kompromisslosen<br />

Lagerdenkens durchkreuzt, indem<br />

er von „Gegensätzen“ und nicht von<br />

„Feinden“ spricht! Sein Name flößt kleinen<br />

Teehausbesitzern in Zentralanatolien<br />

Vertrauen ein, Kemalisten mag beruhigen,<br />

dass seine Frau Füsun, eine Apothekerin,<br />

zwar religiös ist, aber kein Kopftuch trägt.<br />

Als Kind eines türkischen <strong>Islam</strong>lehrers<br />

und einer frommen Mutter in Kairo<br />

aufgewachsen, sammelte <strong>der</strong> Universitätsprofessor<br />

jahrzehntelange Erfahrungen<br />

auf dem diplomatischen Parkett.<br />

2004 wurde er als erster Türke Chef<br />

<strong>der</strong> Organisation für <strong>Islam</strong>ische Zusammenarbeit<br />

im saudi-arabischen Dschidda.<br />

Dort setzte er sich bis Ende vergangenen<br />

Jahres für Menschenrechte, Gleichberechtigung<br />

von Frauen und Demokratie<br />

in <strong>der</strong> islamischen Welt ein. Der<br />

Ex-Diplomat ist ein entschiedener Gegner<br />

einer <strong>Islam</strong>isierung <strong>der</strong> Politik und<br />

bekennt sich zum säkularen Staat. „Politik<br />

sollte nicht mit Religion vermischt<br />

werden.“<br />

Mit seiner Vita bietet er Erdogans<br />

AKP keine wirklichen Angriffsflächen. In<br />

gewissem Sinn verkörpert „Ekmel Bey“<br />

den kosmopolitischen Geist des alten Osmanischen<br />

Reiches, den Erdogan so oft<br />

zitiert. Seine Rolle als Präsident sähe<br />

Ihsanoglu eher als die eines „Schiedsrichters“,<br />

<strong>der</strong> nicht in die direkte Regierungsarbeit<br />

eingreift. „Der Präsident sollte alle<br />

76 Millionen Menschen in <strong>der</strong> Türkei vertreten“,<br />

sagt er. „Er sollte ihr Kopf sein,<br />

ohne jemanden zu bevorzugen.“<br />

Letztlich geht es bei <strong>der</strong> Präsidentenwahl<br />

vor allem darum, ob es den Oppositionsparteien<br />

gelingt, einen Sieg<br />

Erdogans im ersten Wahlgang zu verhin<strong>der</strong>n.<br />

Das würde dessen Aussichten<br />

deutlich min<strong>der</strong>n, ein durch die direkte<br />

Wahl legitimierter „starker“ Präsident<br />

zu werden.<br />

Aber das größte Problem <strong>der</strong> Opposition<br />

ist es, ihre potenziellen Wähler zur<br />

Stimmabgabe zu motivieren. Viele halten<br />

die Wahl für bereits gelaufen. Deshalb<br />

ziehen türkische Kommentatoren<br />

den Vergleich mit dem biblischen Kampf<br />

von David gegen Goliath. Diese Geschichte<br />

lehrt, dass vermeintlich Schwächere<br />

ein Spiel gewinnen können, wenn<br />

sie die Regeln än<strong>der</strong>n. Es sieht so aus, als<br />

sei genau das Ihsanoglus Strategie.<br />

FRANK NORDHAUSEN lebt seit drei Jahren<br />

als Auslandskorrespondent in <strong>Ist</strong>anbul. Den<br />

Präsidentschaftswahlkampf beobachtet er<br />

mit Sorge um die türkische Demokratie<br />

Foto: Mahmoud Illean/Demotix/Corbis<br />

48<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

DIE PATRIOTIN<br />

Jesselyn Radack war Karrierejuristin. Als sie begann, das Recht zu verteidigen, wurde<br />

sie zur Gegnerin <strong>der</strong> US-Regierung. Heute kämpft sie für Snowden. Und gegen Obama<br />

Von PETRA SORGE<br />

Abends sind ihre Schmerzen am<br />

schlimmsten. Jetzt ist es 22 Uhr,<br />

Anhörungssaal des Deutschen<br />

Bundestags, NSA-Untersuchungsausschuss.<br />

Die Luft steht heiß und stickig<br />

im Raum, die Klimaanlage ist ausgefallen,<br />

die Fenster zur Spree sind mit dicken<br />

grauen Gardinen verhangen. In <strong>der</strong> Mitte<br />

des Raumes sitzt die Anwältin Jesselyn<br />

Radack. Seit fast elf Stunden befragt<br />

<strong>der</strong> NSA-Untersuchungsausschuss zwei<br />

ihrer Mandanten. Sie hat Multiple Sklerose,<br />

eine chronische Erkrankung des<br />

Nervensystems. Jeden Tag schluckt sie<br />

23 Tabletten. Radack nippt an einer Tasse<br />

abgestandenem Filterkaffee, sie lässt sich<br />

nichts anmerken. Sie lobt den Mut ihrer<br />

Mandanten, <strong>der</strong> beiden früheren NSA-<br />

Topagenten William Binney und Thomas<br />

Drake, die <strong>der</strong> Ausschuss als erste Zeugen<br />

geladen hat.<br />

Die Juristin, 43 Jahre alt und Mutter<br />

von drei Kin<strong>der</strong>n, arbeitet für die Organisation<br />

Government Accountability<br />

Project. Sie verteidigt Mitarbeiter <strong>der</strong><br />

US-Regierung, die Straftaten in den eigenen<br />

Reihen aufgedeckt haben – und gegen<br />

die als Verräter ermittelt wird. Keine<br />

Juristin hat auf diesem speziellen Gebiet<br />

so viel Erfahrung wie sie. Einst galt sie<br />

selbst als Terrorhelferin, weil sie den<br />

von Medien und Politik als „amerikanischen<br />

Talibankämpfer“ abgestempelten<br />

John Walker Lindh vor <strong>der</strong> Giftspritze<br />

bewahrt hatte. Damals war noch George<br />

W. Bush Präsident.<br />

Sie beugt sich zum Mikrofon auf <strong>der</strong><br />

Tischplatte und erklärt dem deutschen<br />

Untersuchungsausschuss: „Barack Obamas<br />

Regierung hat mehr Whistleblower<br />

auf Grundlage des Spionagegesetzes<br />

angeklagt als alle bisherigen US-Regierungen<br />

zusammen“ – acht an <strong>der</strong> Zahl.<br />

Obama versuche, auch Journalisten abzuhören,<br />

um undichte Stellen zu finden.<br />

Es ist die Nacht zum 4. Juli, dem amerikanischen<br />

Unabhängigkeitstag.<br />

Vor sechs Jahren war Obama für<br />

Radack noch ein Hoffnungsträger. Sie unterstützte<br />

seinen Wahlkampf, klopfte an<br />

Hun<strong>der</strong>te Türen, warb um jede Stimme.<br />

Heute sagt Radack, Obama führe „einen<br />

Krieg gegen Whistleblower“. Sie<br />

zieht das „s“ in „Whistleblower“ in die<br />

Länge, die deutschen Abgeordneten hören<br />

konzentriert zu.<br />

IN „OBAMAS KRIEG“ ist die dreifache<br />

Mutter eine wichtige Akteurin. Sie entzieht<br />

sich seinem Überwachungsapparat,<br />

verschleiert im Internet ihre Identität,<br />

verzichtet auf WLAN. Einige Dinge<br />

erfährt nicht einmal ihr Ehemann, <strong>der</strong><br />

bei <strong>der</strong> Weltbank arbeitet. „Methoden<br />

von Drogendealern“ nennt sie diese<br />

Vorsichtsmaßnahmen.<br />

Im Juni 2013 reiste Radack durch<br />

Israel. Edward Snowden hatte eine Woche<br />

zuvor die NSA-Affäre ins Rollen gebracht.<br />

Da klingelte ihr Handy. Julian Assange<br />

war am Apparat, <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Enthüllungsplattform Wikileaks: Snowden<br />

brauche einen Anwalt. Ob sie helfen<br />

könne? Radack sagte Ja. Sie flog nach<br />

London, traf Assange in <strong>der</strong> Botschaft<br />

Ecuadors. Dort schlossen sie den Anwaltsvertrag<br />

– Wikileaks hatte da schon<br />

die Interessenvertretung für Snowden<br />

übernommen. Assange hält Radacks juristische<br />

Fähigkeiten für „überragend“.<br />

Im Oktober flog Radack – unter<br />

strengster Geheimhaltung – erstmals<br />

nach Moskau, um ihren Klienten persönlich<br />

zu treffen. Als ihre Kin<strong>der</strong> fragten,<br />

wohin sie fliege, antwortete sie: „nach<br />

Minneapolis“.<br />

Sie erzählt das, während sie in einem<br />

Berliner Hotel ein Müsli löffelt. Es<br />

ist 7.30 Uhr, ihre liebste Tageszeit. Da<br />

fühlt sich Radack, die aufgrund ihrer<br />

Erkrankung stets gegen die Müdigkeit<br />

kämpft, fit. Morgens ist sie oft drei Stunden<br />

vor den Kollegen im Büro. Sie arbeitet<br />

bis 15 Uhr, schläft dann zwei Stunden.<br />

Danach widmet sie sich <strong>der</strong> Familie. Um<br />

zehn ist sie im Bett. Ihre Krankheit erfor<strong>der</strong>t<br />

Disziplin.<br />

Seitdem Radack Snowden vertritt,<br />

interessieren sich die Geheimdienste beson<strong>der</strong>s<br />

für sie. Einmal parkte vor ihrer<br />

Haustür ein schwarzer Wagen. Sie sprach<br />

den Fahrer an. Der behauptete, er warte<br />

auf ihren Nachbarn. Radack fragte, wie<br />

<strong>der</strong> heiße. Der Fahrer geriet ins Stocken.<br />

Es ist diese dreiste, entwaffnende<br />

Art, mit <strong>der</strong> Radack ihre Gegner lächerlich<br />

macht. Wenn es sein muss, twittert<br />

o<strong>der</strong> bloggt sie und knipst das Licht <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit an, das Agenten scheuen.<br />

Radack verkauft auch Nie<strong>der</strong>lagen<br />

als Erfolg. Etwa, wenn es um die Frage<br />

nach Snowdens weiterem Aufenthalt<br />

geht. Sie sagt: „Wir sind optimistisch,<br />

dass Snowden in Russland bleiben kann,<br />

ob unter Asyl o<strong>der</strong> einer an<strong>der</strong>en Vereinbarung.“<br />

Zwar würde er sich in freieren<br />

Län<strong>der</strong>n wie Brasilien, Deutschland<br />

o<strong>der</strong> Island wohler fühlen. „Aber am sichersten<br />

ist er in Russland, dem einzigen<br />

Staat, <strong>der</strong> willens und fähig ist, sich gegen<br />

die USA zu behaupten.“ In Amerika<br />

sieht Radack das Leben ihres Mandanten<br />

gefährdet: Hohe Regierungsbeamte<br />

hätten Morddrohungen gegen Snowden<br />

ausgesprochen.<br />

Jesselyn Radack war schon immer<br />

für an<strong>der</strong>e da. Sie wuchs in einer kaputten<br />

Familie in Columbia, Maryland, auf.<br />

Die Eltern geschieden, die Mutter alkoholabhängig,<br />

vom neuen Lebenspartner<br />

misshandelt. Ihr Mitgefühl für Menschen<br />

in Not reifte in dieser Zeit, da Radack<br />

sich selbst helfen musste. Mit einem Stipendium<br />

schaffte sie es an die Elite-Universität<br />

Brown in Rhode Island. Dort<br />

Foto: Michael Löwa für <strong>Cicero</strong><br />

50<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

zeigte sie drei betrunkene Footballspieler<br />

wegen sexueller Belästigung an. Die<br />

Polizei übergab den Fall dem Dekan.<br />

Der ließ die Täter mit Trainingsstunden<br />

davonkommen. Radack gründete eine<br />

Selbsthilfegruppe. Die Hochschule berief<br />

daraufhin eine Frauenbeauftragte.<br />

Mit 19 erhielt Radack die Diagnose<br />

Multiple Sklerose. Der Arzt gab ihr noch<br />

15 Jahre zu leben. Die Diagnose spornte<br />

sie an, etwas aus ihrem kurzen Leben<br />

zu machen. Sie promovierte, verteidigte<br />

zum Tode verurteilte Straftäter.<br />

1995 kam sie ins US-Justizministerium,<br />

in die Ethikabteilung. Sie hatte es<br />

geschafft: Erstmals hatte sie eine staatliche<br />

Krankenversicherung – die privaten<br />

hatten sie wegen ihrer Erkrankung stets<br />

abgelehnt. Der FBI-Chef lobte sie, <strong>der</strong><br />

Vize-Justizminister lud sie zum Essen ein.<br />

EINES MORGENS Ende 2001 kam <strong>der</strong><br />

Anruf, <strong>der</strong> ihr Leben verän<strong>der</strong>n sollte.<br />

Das FBI fragte nach einem US-Bürger,<br />

<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Seite von Taliban in Afghanistan<br />

aufgegriffen worden war – John<br />

Walker Lindh. Dürfe er ohne Anwalt<br />

verhört werden? Radack verneinte die<br />

Frage in einer E-Mail: Aussagen aus so<br />

einer Befragung hätten vor Gericht keinen<br />

Bestand.<br />

Das FBI vernahm ihn trotzdem –<br />

ohne Anwalt. Als später Fotos von Lindh<br />

Jesselyn Radack sagt, ein<br />

Spionagevorwurf mache<br />

„radioaktiv“<br />

auftauchten, sah man einen nackten, bärtigen<br />

Mann, mit Isolierband auf ein Brett<br />

gefesselt, Hände und Augen verbunden.<br />

Der „Strafgefangene 001“ war das erste<br />

bekannt gewordene Folteropfer im US-<br />

Krieg gegen den Terror. Lindhs erpresste<br />

Aussagen wurden vor Gericht verwendet<br />

– gegen Radacks Empfehlung. Der<br />

damalige Justizminister John Ashcroft<br />

wollte an Lindh ein Exempel statuieren:<br />

Er wollte die Todesstrafe um jeden Preis.<br />

Als <strong>der</strong> Staatsanwalt die Beweise für<br />

den Fall sammelte, kontaktierte er auch<br />

Radack. Er habe zwei E-Mails ans FBI<br />

vorliegen, ob das alle waren? Es fehlten<br />

aber genau jene Nachrichten, die belegten,<br />

dass Radack von einer Befragung<br />

ohne Anwalt abgeraten hatte. Sie ging<br />

zu ihrem Aktenordner, in dem sie jeden<br />

Vorgang ausgedruckt, beschriftet, abgeheftet<br />

hat. Radack kann pedantisch sein.<br />

Doch die E-Mails waren aus dem<br />

Ordner verschwunden. Die Ethikberaterin<br />

war entsetzt: Das Unterschlagen von<br />

Beweismitteln ist eine Straftat. Sie bat<br />

einen Systemadministrator, die E-Mails<br />

von <strong>der</strong> Festplatte zu sichern, schickte<br />

Kopien an ihre Chefs und kündigte.<br />

Das Justizministerium reagierte<br />

nicht. Radack rief einen Newsweek-Reporter<br />

an und faxte ihm die E-Mails. Danach<br />

ließ sie sich die Haare kurz schneiden,<br />

ihr Symbol für einen Neuanfang. Die<br />

Locken spendete sie einem Krebsprojekt.<br />

Die Geschichte machte Schlagzeilen:<br />

Radacks E-Mails bewiesen, dass das FBI<br />

wi<strong>der</strong>rechtlich gehandelt hatte. Das Gericht<br />

ließ die Terrorismusvorwürfe fallen.<br />

John Walker Lindh wurde zu 20 Jahren<br />

Haft verurteilt. Dass er nicht die Todesstrafe<br />

erhielt, ist allein Radacks Hartnäckigkeit<br />

zu verdanken.<br />

Als Radack ein an<strong>der</strong>es Leben gerettet<br />

hatte, begann man ihr eigenes zu<br />

zermahlen. Das Justizministerium ermittelte<br />

gegen sie und setzte ihren Namen<br />

auf eine Flugverbotsliste. Ihre neue<br />

Kanzlei trennte sich von ihr. Radack war<br />

jetzt arbeitslos, verschuldet, ausgebrannt.<br />

Ein Anrufer warnte sie vor einer geplanten<br />

Festnahme. Eine Fehlinformation.<br />

Trotzdem geriet Radack, hochschwanger,<br />

in Panik. Sie hatte eine Fehlgeburt.<br />

Radack sagt, ein Spionagevorwurf<br />

mache „radioaktiv“. Wen die Regierung<br />

verfolgt, dem versickert langsam das soziale<br />

Umfeld. Erst distanzieren sich Kollegen,<br />

dann wenden sich Freunde ab, schließlich<br />

zweifeln selbst Familienangehörige.<br />

Radack gibt nicht auf. Sie zerpflückte<br />

die Spionage-Anklage gegen Thomas<br />

Drake, den Mann, <strong>der</strong> an jenem Abend<br />

im Berliner NSA-Ausschuss neben ihr<br />

saß. Sie fräste sich erfolgreich durch die<br />

Akten des früheren NSA-Technikchefs<br />

William Binney, <strong>der</strong> duschte, als bewaffnete<br />

FBI-Beamte seine Wohnung stürmten.<br />

Sie verteidigte den Ex-NSA-Mann<br />

Kirk Wiebe, dessen Familie das FBI mit<br />

tagelangen Durchsuchungen zermürbte.<br />

Sie schraubte die Spionage-Vorwürfe gegen<br />

den CIA-Agenten John Kiriakou, <strong>der</strong><br />

das Waterboarding in Geheimgefängnissen<br />

aufdecken half, auf 30 Monate Haft<br />

herunter.<br />

An ihrem jüngsten Fall – Edward<br />

Snowden – feilt sie noch. Er möchte irgendwann<br />

in seine Heimat zurück. Aber<br />

das werde „kein Sprint, son<strong>der</strong>n ein<br />

Langstreckenlauf“, fürchtet Radack.<br />

PETRA SORGE war während des<br />

11. September 2001 für ein High-School-Jahr<br />

in den USA. Ihre Gastfamilie schickte einen<br />

Offizier in den Krieg gegen den Terror<br />

Foto: Michael Löwa für <strong>Cicero</strong><br />

52<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


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DIE ZAUDERNDE<br />

WELTMACHT<br />

Von ROGER COHEN<br />

Illustrationen SEBASTIAN HASLAUER


WELTBÜHNE<br />

Essay<br />

Der Irak steht in Flammen, in Syrien sind über<br />

150 000 Menschen gestorben, Russland annektiert<br />

die Krim, in Asien nehmen die Spannungen zu.<br />

Und Deutschland wird ausgespäht. Sind die USA an ihren<br />

eigenen weltpolitischen Ansprüchen gescheitert?<br />

55<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


WELTBÜHNE<br />

Essay<br />

Es ist kein gutes Jahr für die USA.<br />

Putins Annexion <strong>der</strong> Krim, <strong>der</strong> Vorstoß<br />

<strong>der</strong> Isis in weite Teile des Irak<br />

o<strong>der</strong> Chinas neue Entschlossenheit im<br />

Südchinesischen Meer vermitteln den<br />

Eindruck einer amerikanischen Sonnenfinsternis.<br />

Wenn es einen Begriff gibt,<br />

<strong>der</strong> mit Barack Obamas Präsidentschaft<br />

verbunden wird, dann ist es „Ausgabenkürzung“.<br />

Und wenn es einen Satz gibt,<br />

<strong>der</strong> seine Außenpolitik beschreibt, dann<br />

lautet er: „Keine dummen Sachen machen.“<br />

Dies steht in einem seltsamen Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zu einer Nation, die sich noch<br />

immer als Leuchtturm für die Menschheit<br />

betrachtet.<br />

Dass das Weiße Haus als geschwächt<br />

und <strong>der</strong> Kongress als paralysiert wahrgenommen<br />

werden, ist unbestreitbar. Wenn<br />

die amerikanische Regierung nicht arbeitsfähig<br />

ist, weil man sich nicht auf einen<br />

Haushalt einigen kann, dann nimmt<br />

die Welt davon Notiz. Wenn ein US-Präsident<br />

– wie im Fall des Einsatzes chemischer<br />

Waffen in Syrien – eine rote<br />

Linie zieht, nur um nicht zu reagieren,<br />

wenn sie überschritten wird, dann sind<br />

die Welt und beson<strong>der</strong>s die europäischen<br />

Alliierten, die sich auf einen Militäreinsatz<br />

vorbereitet haben, zutiefst irritiert.<br />

Putin konnte sich in Syrien auf ganzer Linie<br />

durchsetzen. Nur wenig später kam er<br />

offensichtlich zu <strong>der</strong> Überzeugung, dass<br />

er sich – zum ersten Mal seit 1945 – ungestraft<br />

ein Stück eines an<strong>der</strong>en souveränen<br />

Landes in Europa unter den Nagel<br />

reißen könnte. Die Annexion <strong>der</strong> Krim<br />

beweist, dass er damit recht hatte. Die<br />

Sanktionen <strong>der</strong> USA und Europas mögen<br />

Russland ein wenig gestört haben –<br />

faktisch unternahm <strong>der</strong> Westen nichts.<br />

IM NAHEN UND MITTLEREN OSTEN mündeten<br />

die Verheißungen des Arabischen<br />

Frühlings – den Obama spät und zögerlich<br />

unterstützte – in Enttäuschung. Das<br />

syrische Gift breitet sich aus. 13 Jahre<br />

nach dem Beginn des Einsatzes in Afghanistan<br />

– <strong>der</strong> die Basis Al Qaidas<br />

zerstören sollte – kontrollieren dschihadistische<br />

Fanatiker im „Kalifat“ des<br />

<strong>Islam</strong>ischen Staates Syrien und Irak wie<strong>der</strong><br />

eine Bastion <strong>der</strong> Gesetzlosigkeit und<br />

damit ein Territorium, das viel näher an<br />

Europa liegt als Afghanistan. Das alles<br />

riecht geradezu nach einer amerikanischen<br />

Nie<strong>der</strong>lage.<br />

Obama versprach eine „Hinwendung<br />

nach Asien“. Damit implizierte er,<br />

dass die transatlantischen Beziehungen<br />

nicht mehr so wichtig sind, er wollte das<br />

Kapitel des Traumas vom 11. September<br />

schließen, ohne dass Amerika einen klaren<br />

Sieg hätte verbuchen können. Zweimal<br />

schon gab es in diesem Jahr Zusammenstöße<br />

Chinas mit Vietnam und den<br />

Philippinen wegen ungeklärter gebietsansprüche,<br />

die Spannungen im Inselstreit<br />

zwischen China und Japan sind ebenfalls<br />

größer geworden. „Die Südchinesische<br />

See geht die USA gar nichts an“,<br />

erklärte jüngst ein chinesischer General.<br />

Washington schwieg. Dass Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel China besuchte, als<br />

die transatlantischen Beziehungen wegen<br />

eines Spionagefalls weiter beschädigt<br />

wurden, hat schon große Symbolkraft.<br />

Amerika schnüffelt nicht nur elektronisch<br />

Daten seines Verbündeten Deutschland<br />

aus, es rekrutiert sogar – so scheint<br />

es – Spione. Deutschland hingegen macht<br />

Geschäfte mit einem an deutscher Technologie<br />

interessierten China und hegt einige<br />

Sympathie für Russland. Die Welt<br />

hat sich offensichtlich verän<strong>der</strong>t.<br />

AUF JEDEN FALL HABEN sich die Amerikaner<br />

verän<strong>der</strong>t. Nach den Einsätzen in<br />

Afghanistan und Irak, die so viel Menschenleben<br />

und enorme finanzielle Ressourcen<br />

kosteten, sind sie kriegsmüde geworden.<br />

Sie interessieren sich mehr für<br />

den Mittleren Westen als den Nahen Osten.<br />

„Nation-Building“ ist in Washington<br />

fast so etwas wie ein Schimpfwort geworden.<br />

Zum Teufel mit den Problemen <strong>der</strong><br />

Welt, sagen sich viele Amerikaner und<br />

fragen sich: Haben wir uns in den Jahrzehnten<br />

<strong>der</strong> Pax Americana nicht schon<br />

genug darum gekümmert? Wenn China<br />

und Indien die aufstrebenden Mächte<br />

sind, dann sollen sie die Verantwortung<br />

für eine globale Ordnung übernehmen,<br />

so wie die USA sie nach 1945 von den<br />

Briten übernommen haben.<br />

Barack Obama, <strong>der</strong> als kühl und distanziert,<br />

praktisch denkend und eher zurückhaltend<br />

gilt, scheint wun<strong>der</strong>bar zu<br />

diesem Zeitgeist zu passen. Es mag vielleicht<br />

nicht stimmen, dass er den Abstieg<br />

managt. Aber ganz sicher stemmt er sich<br />

gegen eine Ausweitung. Er ist kein Entschei<strong>der</strong>.<br />

Er ist <strong>der</strong> Zau<strong>der</strong>er.<br />

Warum ist Obamas „Keine-dummen-<br />

Sachen“-Außenpolitik so unpopulär?<br />

Wenn Obama <strong>der</strong> gewissenhafte Interpret<br />

einer Rückbesinnung auf Amerika<br />

selbst ist, warum wird seine Außenpolitik<br />

dann abgelehnt? Weil es einen seltsamen<br />

Zwiespalt in <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Psyche gibt. Amerikaner wollen, dass<br />

ihre Truppen nach Hause kommen. Sie<br />

wollen, dass vor allem zu Hause in Arbeitsplätze,<br />

Ausbildung, Gesundheitsvorsorge<br />

und Infrastruktur investiert wird.<br />

Gleichzeitig haben sie das Gefühl, dass<br />

Obama die USA unter Wert verkauft. Sie<br />

wollen, dass er führt – und nicht lediglich<br />

Katalysator ihrer Ansichten ist.<br />

Es gab in Amerika we<strong>der</strong> eine Mehrheit<br />

für ein Eingreifen im Ersten noch<br />

im Zweiten Weltkrieg. Erst die jeweiligen<br />

US-Präsidenten überzeugten ihre<br />

56<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


WELTBÜHNE<br />

Essay<br />

Öffentlichkeit davon, dass eine Beteiligung<br />

wichtig wäre. Führung bedeutet<br />

eben auch: den Blick <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

auf die Welt und das, was man von ihr<br />

erwartet, zu än<strong>der</strong>n.<br />

Als Bürger einer Nation, die auf einer<br />

Idee beruht, sind Amerikaner von Natur<br />

aus optimistisch. Dass ihr Land weiterhin<br />

„<strong>der</strong> Welt ein Licht“ sei, ein Ort, auf den<br />

die Welt schaut, gehört nach wie vor zu<br />

den Grundüberzeugungen.<br />

Es mag sein, dass es für das multiethnische<br />

Syrien kein gutes Ende – und<br />

sicherlich keinen leichten Weg gibt. Es<br />

mag auch sein, dass die ägyptische Demokratie<br />

geradezu scheitern musste. Es<br />

mag auch sein, dass die Krim für Wladimir<br />

Putin wesentlich wichtiger ist als für<br />

Amerikaner. Ja, auch Afghanistan war<br />

vielleicht schon immer ein armes Land<br />

ohne starke zentrale Regierung – was<br />

we<strong>der</strong> die finanziellen Hilfen, die das<br />

Land erhalten hat, noch die Menschenleben,<br />

die <strong>der</strong> Einsatz gekostet hat, je än<strong>der</strong>n<br />

können. Trotzdem können Amerikaner<br />

nicht akzeptieren, dass man sich<br />

einfach zurückzieht und die Welt sich<br />

selbst überlässt.<br />

DIESE ZERRISSENHEIT IST gewiss nicht<br />

nur den Amerikanern selbst zu eigen.<br />

Man kennt es schon lange von Europäern,<br />

dass sie ihre Schmähreden gegen<br />

Amerika mit <strong>der</strong> Frage beenden, wie<br />

ihre Kin<strong>der</strong> es am besten an die amerikanischen<br />

Eliteuniversitäten Stanford<br />

o<strong>der</strong> Yale schaffen könnten. Dieser<br />

Tage scheint diese Ambivalenz noch<br />

ausgeprägter.<br />

Europäische Dinner-Gespräche<br />

scheinen sich vor allem um die neuesten<br />

Folgen <strong>der</strong> Fernsehserien „House of<br />

Cards“, „Game of Thrones“, „West Wing“<br />

o<strong>der</strong> „Breaking Bad“ zu drehen. Der Programmanbieter<br />

HBO ist zum Objekt <strong>der</strong><br />

Bewun<strong>der</strong>ung geworden und steht damit<br />

im genauen Gegensatz zum Antiamerikanismus,<br />

<strong>der</strong> sich auf politischer Ebene<br />

austobt. Ein französischer Diplomat erzählte<br />

kürzlich, dass Besucher, die er als<br />

Diplomat zu Terminen ins Weiße Haus<br />

begleite, fast immer fragten, ob sie nicht<br />

auch den West Wing sehen könnten.<br />

Europäer mögen sich darüber beklagen,<br />

dass Internetriesen wie Amazon,<br />

Facebook, Google, Twitter o<strong>der</strong><br />

WhatsApp ihre persönlichen Daten<br />

speichern o<strong>der</strong> Steueroasen nutzen.<br />

Aber sie sind trotzdem süchtig nach ihnen.<br />

Google, schrieb Mark Scott in <strong>der</strong><br />

New York Times, habe bei Suchanfragen<br />

einen Anteil von 85 Prozent in allen<br />

großen europäischen Ökonomien (inklusive<br />

Deutschland, Großbritannien und<br />

Frankreich). In den USA hingegen liegt<br />

er bei nur 65 Prozent. Amerikanische<br />

Technologie-Unternehmen betreiben sieben<br />

<strong>der</strong> zehn am häufigsten angeklickten<br />

Websites in Europa. Facebook hat inzwischen<br />

150 Millionen europäische Nutzer,<br />

doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren.<br />

Der Ärger über die Verletzung <strong>der</strong><br />

Privatsphäre und die Praktiken <strong>der</strong> NSA<br />

werden bei weitem aufgewogen von <strong>der</strong><br />

Sucht nach einem Cyber-Universum, das<br />

von amerikanischen Firmen und amerikanischer<br />

Kreativität beherrscht wird.<br />

Prinzipientreue beugt sich Bequemlichkeit<br />

und Vergnügen. In Europa wie auch<br />

an<strong>der</strong>swo.<br />

Die geostrategischen Verän<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> vergangenen Jahre mögen vielleicht<br />

nahelegen, dass die USA dem Römischen<br />

Imperium im Jahre 450 nach Christus<br />

ähneln. Doch die Anziehungskraft, die<br />

das Silicon Valley ausübt, lässt wohl eher<br />

auf das Jahr 100 nach Christus schließen,<br />

als Rom sich auf dem Höhepunkt<br />

seiner Macht befand. Amerikanische<br />

Soft Power funktioniert, und sie funktioniert<br />

gut. Europa absorbiert Amerikas<br />

Kultur mehr denn je, und das zu einem<br />

Zeitpunkt, da die USA ihre militärischen<br />

Kräfte aus Europa abgezogen haben und<br />

sich politisch wie strategisch auf an<strong>der</strong>e<br />

Regionen <strong>der</strong> Welt konzentrieren.<br />

Wie groß Amerikas Soft Power ist,<br />

habe ich während eines Besuchs in Vietnam<br />

erfahren, just an einem Ort, an<br />

dem vor 39 Jahren ein an<strong>der</strong>er amerikanischer<br />

Krieg ohne Sieg endete. An einem<br />

Ort, an dem man am wenigsten eine<br />

Wie<strong>der</strong>belebung des amerikanischen Optimismus<br />

o<strong>der</strong> die Bedeutung amerikanischer<br />

Macht spüren würde. Und doch ist<br />

die Anziehungskraft <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Idee in Vietnam allgegenwärtig – in den<br />

Wünschen und Vorstellungen einer neuen<br />

Mittelschicht, in den Geschäften und Restaurants,<br />

in den Einkaufsmeilen und in<br />

<strong>der</strong> Musik. Der Traum <strong>der</strong> Bewohner des<br />

exklusiven Viertels Phu My Hung in Ho-<br />

Chi-Minh-Stadt ist ein Haus mit Garten,<br />

ein Hightech-Grill, ein Jeep in <strong>der</strong> Garage<br />

und Domino’s Pizza o<strong>der</strong> Dunkin’<br />

Donuts an <strong>der</strong> nächsten Straßenecke. Offensichtlich<br />

ist es möglich, den Krieg zu<br />

verlieren, aber den Frieden zu gewinnen.<br />

Wer weiß, wie <strong>der</strong> Irak in 40 Jahren aussehen<br />

wird?<br />

Natürlich regiert in Vietnam nach<br />

dem Vorbild Chinas immer noch und<br />

allein die kommunistische Partei. Die<br />

Dinge funktionieren so, wie sie eben<br />

ohne ein System <strong>der</strong> Kontrolle funktionieren:<br />

mit wenig Transparenz und viel<br />

Korruption. Die Kategorisierung politischer<br />

Systeme ist aber in einer Welt, die<br />

von unsichtbaren Netzwerken bestimmt<br />

ist, die wie<strong>der</strong>um oft von amerikanischen<br />

Technologieunternehmen kontrolliert<br />

werden, vielleicht weniger wichtig.<br />

Ein Spaziergang in Phu My<br />

Hung offenbart ein bemerkenswertes<br />

58<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Anzeige<br />

Phänomen – von <strong>der</strong> Ausbreitung von<br />

Coffee Shops, die Eis-Latte verkaufen,<br />

abgesehen: die Menge an Schulen, die<br />

„Little Genius“ o<strong>der</strong> „Homework Center“<br />

heißen und Kin<strong>der</strong>n vietnamesischer<br />

Aufsteiger die Türen zu noch größerem<br />

Erfolg öffnen sollen.<br />

Bei „Little Genius“ beginnt <strong>der</strong> Weg<br />

zu akademischer Exzellenz schon im frühen<br />

Alter in einem Computerraum, <strong>der</strong><br />

für Dreijährige designt und bestens ausgerüstet<br />

ist. Englisch zu beherrschen und<br />

mit mo<strong>der</strong>ner Technologie umgehen zu<br />

können, ist eine zwingende Notwendigkeit<br />

für die globalen Wun<strong>der</strong>kin<strong>der</strong>, die<br />

in einem kommunistischen Staat mit kapitalistischem<br />

System und asiatischen<br />

Werten aufwachsen, in denen <strong>der</strong> Erfolg<br />

<strong>der</strong> jungen Generation an oberster Stelle<br />

steht. Für wohlhabende Vietnamesen ist<br />

das Ziel dieser Ausbildung klar: Zugang<br />

zu amerikanischen Colleges.<br />

So also funktioniert die Welt: Autokratische,<br />

hyperkapitalistische Systeme<br />

ohne das amerikanische Kontrollsystem<br />

produzieren asiatische Eliten, oft<br />

mit engen Beziehungen zur herrschenden<br />

Partei, <strong>der</strong>en Traum ein amerikanischer<br />

Lebensstil und eine amerikanische<br />

Ausbildung für ihre Kin<strong>der</strong> ist. Deren an<strong>der</strong>es<br />

Ziel ist es – angesichts <strong>der</strong> Willkürlichkeit<br />

in ihrem eigenen politischen<br />

System –, sich mithilfe des Erwerbs von<br />

Immobilien in den USA o<strong>der</strong> Großbritannien<br />

in ein System <strong>der</strong> Rechtsstaatlichkeit,<br />

wo Eigentumsrechte geschützt<br />

werden, einzukaufen. Dadurch wie<strong>der</strong>um<br />

werden die Preise für begehrte Objekte<br />

in diesen Län<strong>der</strong>n so in die Höhe<br />

getrieben, dass die dortigen Mittelklassen,<br />

<strong>der</strong>en Einkommen stagnieren o<strong>der</strong><br />

sogar fallen, sie sich nicht mehr leisten<br />

können.<br />

Dieses symbiotische System auf<br />

<strong>der</strong> „individuellen“ Ebene spiegelt sich<br />

auch auf globaler Ebene wi<strong>der</strong>: Amerikanische<br />

Schulden werden von asiatischen<br />

Regierungen, vor allem <strong>der</strong> chinesischen,<br />

aufgekauft, und Asiaten machen<br />

Gewinne durch Zugang zu Märkten und<br />

Konsumenten, die wie<strong>der</strong>um von US-<br />

Krediten leben.<br />

ES IST NICHT LEICHT, diese Welt des<br />

stillen Handels, <strong>der</strong> Schizophrenie, <strong>der</strong><br />

dschihadistischen Frühlinge, <strong>der</strong> subtilen<br />

Machtverschiebungen und des<br />

amerikanischen Rückzugs zu verstehen.<br />

Es wäre viel zu einfach – und falsch – zu<br />

behaupten, dass sich die USA im Nie<strong>der</strong>gang<br />

befänden. Ihre unerschöpfliche Fähigkeit<br />

zur Neuerfindung, die Möglichkeit<br />

einer Energieautonomie, die durch<br />

die För<strong>der</strong>ung von Schiefergas und -öl<br />

entstanden ist, die positive demografische<br />

Entwicklung, die technischen Fähigkeiten<br />

<strong>der</strong> USA und nicht zuletzt amerikanische<br />

Fernsehserien und <strong>der</strong> alte<br />

Mythos Hollywood, die einen Großteil<br />

<strong>der</strong> Welt in den Bann ziehen, zeugen vom<br />

Gegenteil.<br />

Vielleicht aber ist die Pax Americana<br />

im Nie<strong>der</strong>gang. Die mehr als 150 000 Toten<br />

des syrischen Bürgerkriegs ließen<br />

darauf schließen. Vielleicht schwindet<br />

Amerikas Bereitschaft, sich für eine Stabilisierung<br />

<strong>der</strong> Welt einzusetzen. Vielleicht<br />

ist aus diesem Grund die Welt<br />

heute sehr viel gefährlicher, als sie es<br />

für lange Zeit war. Vielleicht sollten die<br />

Europäer und an<strong>der</strong>e, die sich über amerikanische<br />

Kriege und amerikanische<br />

Spionageaktivitäten so empören, sehr<br />

vorsichtig damit sein, was sie sich wünschen.<br />

Vielleicht sollten die Philippinen,<br />

Vietnam o<strong>der</strong> Indonesien, die darauf vertrauen,<br />

dass Amerika als eine asiatische<br />

Macht ein Gegengewicht zum aufsteigenden<br />

China bilden könnte, doch nicht auf<br />

Washington zählen.<br />

Mit Chinas Aufstieg wird Asien zu<br />

einer gefährlichen Region, in <strong>der</strong> ein<br />

Funke einen größeren Konflikt auslösen<br />

kann. Und es wird noch gefährlicher,<br />

wenn sich die USA, die durch zwei Ozeane<br />

geschützt sind, aus <strong>der</strong> Weltpolitik<br />

zurückziehen.<br />

Obama hat recht, wenn er sagt, dass<br />

die USA Grenzen hätten. Zwei grausame<br />

Kriege haben Amerika diese Grenzen<br />

aufgezeigt – die USA greifen nur noch<br />

mit größter Zurückhaltung auf ihre<br />

Hard Power zurück. Doch aller Strahlund<br />

Durchsetzungskraft amerikanischer<br />

Soft Power zum Trotz – sie allein reicht<br />

nicht aus. Sie reicht deshalb nicht aus,<br />

weil Großbritannien nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg den Stab an Amerika übergeben<br />

konnte, aber heute niemand da ist,<br />

an den die USA den Stab weiterreichen<br />

könnten.<br />

Die Europäische Union steckt noch<br />

in <strong>der</strong> Krise: Man weiß nicht, wie und in<br />

welche Richtung sie sich weiterentwickelt,<br />

59<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014<br />

Das bewegt mich!<br />

Träume<br />

haben viel mit Ihrem Alltag zu<br />

tun. Sie sind Botschaften aus<br />

dem Unbewussten und eine<br />

Quelle <strong>der</strong> Selbsterkenntnis.<br />

Lernen Sie, die Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Nacht<br />

zu entschlüsseln – denn sie<br />

sind keine<br />

Schäume!<br />

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WELTBÜHNE<br />

Essay<br />

USA: SELBSTBILD UND DEUTSCHE SICHT *<br />

Sind die Vereinigten Staaten eine Nation im Nie<strong>der</strong>gang? Und welche globale<br />

Rolle sollten sie künftig spielen? Eine YouGov-Umfrage für <strong>Cicero</strong> in Deutschland<br />

und den USA zeigt unterschiedliche Einschätzungen in beiden Län<strong>der</strong>n<br />

Deutschland = schwarz<br />

59 52<br />

16<br />

Bereits<br />

hinter sich<br />

5 8<br />

Stimme überhaupt<br />

nicht zu<br />

13<br />

Stimme eher<br />

nicht zu<br />

USA = blau<br />

Stimme<br />

eher zu<br />

Stimme voll<br />

und ganz zu<br />

Weiß nicht/<br />

Keine Angabe<br />

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind weiterhin eine globale Supermacht.<br />

7 10<br />

Stimme überhaupt<br />

nicht zu<br />

17<br />

* Angaben in Prozent; vom Wert 100 abweichende Prozentsummen sind das Ergebnis von Rundungsdifferenzen.<br />

Deutschland: 1017 Befragte; USA: 1188 Befragte. Zeitraum: Juni/Juli 2014. Quelle: YouGov im Auftrag von <strong>Cicero</strong><br />

47<br />

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind weiterhin die Weltpolizei.<br />

16 12<br />

Stimme überhaupt<br />

nicht zu<br />

27<br />

19<br />

Wie bisher<br />

beibehalten<br />

22<br />

20<br />

Stimme eher<br />

nicht zu<br />

46<br />

34 32<br />

17<br />

Stimme eher<br />

nicht zu<br />

10<br />

22<br />

Noch<br />

vor sich<br />

17<br />

38<br />

33<br />

Stimme<br />

eher zu<br />

50<br />

36<br />

Stimme<br />

eher zu<br />

32<br />

18<br />

26<br />

26<br />

Stimme voll<br />

und ganz zu<br />

Stimme voll<br />

und ganz zu<br />

5<br />

8<br />

24<br />

11 7<br />

Ausdehnen Verringern Weiß nicht/<br />

Keine Angabe<br />

11<br />

12<br />

Weiß nicht/<br />

Keine Angabe<br />

Sollen die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Rolle als Weltpolizei<br />

wie bisher beibehalten, ausdehnen o<strong>der</strong> verringern?<br />

6<br />

Haben gerade ihre<br />

besten Zeiten<br />

Haben die Vereinigten Staaten von Amerika ihre besten Zeiten bereits hinter<br />

sich o<strong>der</strong> noch vor sich?<br />

45<br />

Weiß nicht/<br />

Keine Angabe<br />

13<br />

18<br />

10<br />

Weiß nicht/<br />

Keine Angabe<br />

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind weiterhin ein „weltweiter Leuchtturm“<br />

für Freiheit und Demokratie.<br />

3<br />

18<br />

24<br />

noch ist die Gefahr eines Auseinan<strong>der</strong>brechens<br />

nicht abgewendet. In <strong>der</strong> Haltung<br />

zu Russland ist man sich uneins, von<br />

wirtschaftlicher Erholung kann keine<br />

Rede sein, es fehlt <strong>der</strong> EU an einer ideologischen<br />

Leitlinie – und nicht zuletzt<br />

ist sie in einer gemeinsamen Währung<br />

gefangen, die Staaten unterschiedlicher<br />

Wirtschaftskraft aneinan<strong>der</strong> fesselt.<br />

Chinas Doktrin des Exzeptionalismus<br />

sieht das Land immer noch als „Friedensmacht“<br />

– wovon die Tibeter ganz<br />

gewiss ein Lied zu singen hätten –, das<br />

sich an die Vorgabe des Reformers Deng<br />

Xiaoping zu halten hat, „einen kühlen<br />

Kopf zu bewahren und nicht groß aufzufallen“,<br />

um eine volle wirtschaftliche<br />

Entwicklung bis zum Jahr 2050 nicht zu<br />

erschweren.<br />

Indien mag durch die Wahl Narendra<br />

Modis zum neuen Regierungschef aufgerüttelt<br />

sein, hat aber noch so viele Probleme<br />

im eigenen Land zu bewältigen,<br />

dass es sich außenpolitisch um nicht viel<br />

mehr als Pakistan kümmern wird.<br />

Russland ist ein Staat mit einem einzigen<br />

Standbein: Einkünfte aus Öl und<br />

Gas. Die Annexion <strong>der</strong> Krim und Putins<br />

Störmanöver in <strong>der</strong> Ostukraine verdecken<br />

lediglich die fundamentalen politischen<br />

und ökonomischen Schwächen<br />

des Landes.<br />

KURZUM: ES GIBT KEINEN ERSATZ für<br />

die USA als Garant dafür, dass, wie Abraham<br />

Lincoln es in seiner Gettysburg-<br />

Rede ausdrückte, „die Regierung des<br />

Volkes, durch das Volk und für das Volk<br />

nicht von <strong>der</strong> Erde verschwinden möge“.<br />

In jüngster Zeit haben die USA eher<br />

in kleinen Kategorien gedacht. Dafür<br />

musste ein Preis gezahlt werden – vom<br />

Kaukasus bis zum irakischen Mossul.<br />

Die Europäer östlich Deutschlands fühlen<br />

sich weniger sicher. Syrien und Irak<br />

sind eine einzige Katastrophe. Es ist gut<br />

vorstellbar, dass diese beiden Län<strong>der</strong><br />

nicht in ihren bisherigen Grenzen überleben<br />

werden. Geben die USA vor, sie<br />

hätten nichts mit diesen Entwicklungen<br />

zu schaffen, dann wird dies unweigerlich<br />

Rückschläge zur Folge haben.<br />

Präsident Franklin D. Roosevelt erinnerte<br />

die Amerikaner in seiner Stateof-the-Union-Rede<br />

vom 4. Januar 1939<br />

daran, dass Amerika in größeren Kategorien<br />

denken müsse: „Es mag eine Zeit<br />

60<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Foto: Picture Alliance/DPA<br />

kommen, da Sie sich darauf vorbereiten<br />

müssen, nicht nur Ihr Heim zu verteidigen,<br />

son<strong>der</strong>n die Grundlagen des Glaubens<br />

und <strong>der</strong> Menschlichkeit, auf denen<br />

Ihre Kirchen, Ihre Regierungen und<br />

Ihre Kultur begründet sind. Die Verteidigung<br />

<strong>der</strong> Religion, <strong>der</strong> Demokratie und<br />

des Vertrauens zwischen den Nationen –<br />

all das ist ein Kampf. Um eines zu retten,<br />

müssen wir uns nun entschließen, alle<br />

zu retten.“<br />

Die amerikanische Idee hat immer<br />

noch eine Anziehungskraft, die auf <strong>der</strong><br />

ganzen Welt zu spüren ist. Ohne Frage:<br />

Amerika wird seinem eigenen Ideal oft<br />

nicht gerecht – aber die Idee <strong>der</strong> Freiheit<br />

lebt fort. In seinen besten Zeiten<br />

ist Amerika offen und für Einwan<strong>der</strong>er<br />

enorm attraktiv. In seinen schlimmsten<br />

Zeiten ist es verschlossen und furchtsam.<br />

Im Augenblick changiert es zwischen<br />

diesen Polen. Es entwächst langsam<br />

dem Trauma des 11. September. Es<br />

ist entschlossen, dieses Kapitel hinter<br />

sich zu lassen, aber es ist unsicher, in welcher<br />

Rolle es die beste Balance zwischen<br />

Freiheit und Sicherheit, zwischen militärischer<br />

Überlegenheit und drängenden<br />

nationalen Erfor<strong>der</strong>nissen finden kann.<br />

Sicher ist: Die Schwarzmaler haben<br />

unrecht. Eine Serie von Rückschlägen<br />

mag besorgniserregend sein, aber sie<br />

markiert nicht den Anfang eines unaufhaltsamen<br />

Abstiegs. Die USA sind immer<br />

noch in <strong>der</strong> Lage, Großes zu leisten, weil<br />

sie über innere Kraft und eine Fähigkeit<br />

verfügen, die Fantasie vieler Menschen<br />

in <strong>der</strong> ganzen Welt zu beflügeln.<br />

Ein Pendel schwingt immer zu weit,<br />

nie im richtigen Maß. Obama, <strong>der</strong> Zau<strong>der</strong>er,<br />

war das Korrektiv zu Bush, dem<br />

Entschei<strong>der</strong>. Er war nie <strong>der</strong> Zauberer, den<br />

wir uns damals, 2008, gewünscht hatten,<br />

son<strong>der</strong>n ein nüchterner Mo<strong>der</strong>ator. Aber<br />

er ging zu weit in seiner Zurückhaltung.<br />

Er hat damit die Fähigkeiten seines Landes<br />

weit unter Wert verkauft und Zweifel<br />

an Amerikas Stärke gesät, die leicht<br />

auszunutzen waren. In Amerika aber<br />

schwingt das Pendel immer wie<strong>der</strong> auch<br />

zurück.<br />

ROGER COHEN ist<br />

britischer Journalist und<br />

einer <strong>der</strong> renommiertesten<br />

Kolumnisten <strong>der</strong><br />

New York Times<br />

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Abs. 2 Nr. 1 EGBGB. Zur Wahrung <strong>der</strong> Frist genügt bereits das rechtzeitige Absenden Ihres eindeutig erklärten Entschlusses,<br />

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WELTBÜHNE<br />

Interview<br />

„AMERIKAS SYSTEM<br />

HAT ZU VIELE KONTROLLEN“<br />

Sind die USA im<br />

Nie<strong>der</strong>gang begriffen?<br />

Und welchen<br />

Stellenwert hat die<br />

Demokratie in <strong>der</strong><br />

Welt überhaupt noch?<br />

Herr Fukuyama, unmittelbar nach dem<br />

Kalten Krieg haben Sie mit Ihrem Buch<br />

„Das Ende <strong>der</strong> Geschichte“ die erste<br />

Blaupause für ein neues Zeitalter vorgelegt.<br />

Müssen Sie Ihre damalige These,<br />

dass liberale Demokratie und Marktwirtschaft<br />

keine ideologischen Konkurrenten<br />

mehr haben, revidieren?<br />

Francis Fukuyama: Mir ging es in<br />

dem Buch um die Frage: Welche Gesellschaft<br />

werden wir nach dem Ende des<br />

Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses haben? Vor<br />

1989 haben die fortschrittlichsten Intellektuellen<br />

gedacht, dass in diesem Prozess<br />

alles auf eine Form von Sozialismus,<br />

Kommunismus und Marxismus hinauslaufen<br />

würde. Ich hingegen war <strong>der</strong><br />

Auffassung, dass am Ende dieses Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses<br />

eine Form von<br />

liberaler Demokratie und freier Marktwirtschaft<br />

stehen wird. Davon bin ich<br />

immer noch überzeugt. Es gibt nichts<br />

zu wi<strong>der</strong>rufen.<br />

Auch nicht angesichts einer neuen Konfrontation<br />

mit Russland, das sich als<br />

Gegenmodell zum „dekadenten Westen“<br />

sieht, o<strong>der</strong> des Erstarkens eines<br />

radikalen politischen <strong>Islam</strong>?<br />

Nein, ich halte an meiner These fest:<br />

We<strong>der</strong> das islamische Kalifat noch <strong>der</strong><br />

russische Petrostaat scheinen mir Modelle<br />

zu sein, die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaften<br />

entwickeln können.<br />

Wie steht es mit Chinas „autoritärem<br />

Kapitalismus“?<br />

China ist tatsächlich die größte Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

– ein autoritärer Staat,<br />

dem es offensichtlich gelingt, die Prozesse<br />

wirtschaftlicher Entwicklungen<br />

sehr gut zu steuern.<br />

Könnte China also ein ernsthafter Konkurrent<br />

für die liberale Demokratie sein?<br />

China betreibt wirtschaftliches<br />

Wachstum auf Kosten sozialer Werte.<br />

Es kombiniert eine autoritäre Regierung<br />

mit einer in Teilen marktwirtschaftlichen<br />

Ökonomie. Die Legitimität des<br />

Systems und die andauernde Herrschaft<br />

<strong>der</strong> Partei beruhen auf kontinuierlich hohen<br />

Wachstumsraten. Die wird es aber<br />

nicht ewig geben, was Chinas Entwicklung<br />

von einem Land mit einem mittleren<br />

Durchschnittseinkommen zu einem<br />

Land mit hohem Durchschnittseinkommen<br />

beträchtlich erschweren wird. Dieser<br />

Wachstumsprozess hat zu enormen<br />

Hypotheken geführt. Dazu gehört die<br />

unglaubliche Verschmutzung von Böden,<br />

Luft und Wasser. Sollten die Zeiten<br />

schlechter werden, wird die wachsende<br />

Mittelklasse das System des korrupten<br />

Paternalismus nicht akzeptieren. Seit<br />

Maos Zeiten verfügt China nicht mehr<br />

über ein universales Ideal, eine über die<br />

eigenen Grenzen hinaus reichende ideologische<br />

Anziehungskraft.<br />

Illustration: Sebastian Haslauer<br />

62<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Was wird dann aus dem „chinesischen<br />

Traum“?<br />

Die wachsende Ungleichheit in <strong>der</strong><br />

Gesellschaft und ein System, das jenen<br />

mit den richtigen politischen Verbindungen<br />

enorme Vorteile verschafft, zeigt,<br />

dass <strong>der</strong> „chinesische Traum“ nichts weiter<br />

ist als die Möglichkeit für ein paar<br />

wenige, in kürzester Zeit sehr reich zu<br />

werden. Mein Fazit lautet daher: Das chinesische<br />

Modell ist ein Konkurrent, aber<br />

es wird sich langfristig nicht durchsetzen.<br />

Gibt es denn gar keine Bedrohung <strong>der</strong><br />

liberalen Demokratie?<br />

Die Frage ist doch, ob es irgendwo<br />

ein an<strong>der</strong>es, besseres Modell gibt. Das<br />

kann ich nicht erkennen. Niemand in<br />

Europa o<strong>der</strong> den USA wird sich ernsthaft<br />

den Modellen zuwenden, die China,<br />

Russland o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Iran repräsentieren.<br />

Wenn man die Entwicklung Afghanistans<br />

und Iraks betrachtet, spielen die<br />

USA und <strong>der</strong> Westen nicht gerade eine<br />

rühmliche Rolle bei <strong>der</strong> Implementierung<br />

demokratischer Strukturen.<br />

Diese Fälle zeigen, dass es für Außenstehende<br />

extrem schwer ist, eine nationale<br />

Identität aufzubauen. Das muss<br />

tatsächlich von den Eliten in den entsprechenden<br />

Gesellschaften geleistet werden.<br />

Wenn sie dazu nicht bereit sind, wird es<br />

wahrscheinlich auch nicht geschehen.<br />

Allerdings muss ich auch sagen: Die Erwartung<br />

<strong>der</strong> Menschen an die Entwicklung<br />

von Institutionen ist unglaublich<br />

hoch. Man muss doch nur die Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Demokratie im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

in Europa betrachten: Es dauerte mehrere<br />

Generationen, bis sie wirklich etabliert<br />

war.<br />

Es gibt nicht wenige, die behaupten,<br />

dass Demokratie für manche Gesellschaften<br />

nicht geeignet ist – so seien<br />

<strong>Islam</strong> und Demokratie nicht miteinan<strong>der</strong><br />

vereinbar. Die Aufstände in <strong>der</strong> arabischen<br />

Welt seien schließlich in Bürgerkriege<br />

o<strong>der</strong> Diktaturen gemündet.<br />

Die Vorstellung, dass man in <strong>der</strong> arabischen<br />

Welt nur wenige Jahre nach dem<br />

Arabischen Frühling eine gefestigte Demokratie<br />

etablieren kann, ist lächerlich.<br />

Es hat mehrere Jahrzehnte gedauert, bis<br />

die Demokratie in Europa gefestigt war.<br />

Meiner Auffassung nach erfüllt <strong>der</strong> <strong>Islam</strong><br />

in Teilen die Rolle, die <strong>der</strong> Nationalismus<br />

im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t spielte – man kann<br />

Menschen auf unterschiedliche Art und<br />

Weise mobilisieren. In Europa wurde zu<br />

Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts die Demokratie<br />

durch Nationalismus umgelenkt<br />

und hat zu verheerenden Kriegen geführt.<br />

Heute spielt Religion in <strong>der</strong> muslimischen<br />

Welt in mancher Hinsicht eine<br />

ähnliche Rolle.<br />

Wenn die Demokratie das beste Modell<br />

ist, dann könnten es sich die Demokratien<br />

doch recht bequem machen …<br />

Nur weil man eine reiche Demokratie<br />

geworden ist, bedeutet das nicht, dass<br />

<strong>der</strong>en Institutionen auch weiterhin gut<br />

funktionieren. Einer Demokratie droht<br />

<strong>der</strong> Verfall, wenn zwei Komponenten zusammentreffen:<br />

geistige Unbeweglichkeit<br />

und die Vereinnahmung staatlicher Einrichtungen<br />

durch die Eliten.<br />

Erfüllen die Vereinigten Staaten noch<br />

die Standards einer liberalen Demokratie<br />

– o<strong>der</strong> ist die politische Ordnung <strong>der</strong><br />

USA anfällig geworden?<br />

Ich glaube nicht, dass Amerikas Demokratie<br />

brüchig geworden ist in dem<br />

Sinne, dass sie je<strong>der</strong>zeit kollabieren<br />

könnte. Allerdings ist die Leistungsfähigkeit<br />

<strong>der</strong> Regierung nicht beson<strong>der</strong>s<br />

gut – und sie wird schon seit einigen Jahrzehnten<br />

immer schlechter. Man betrachte<br />

nur einmal eine grundlegende Angelegenheit<br />

wie die Verabschiedung eines<br />

Haushalts – seit fast einem Jahrzehnt<br />

ist <strong>der</strong> Kongress nicht in <strong>der</strong> Lage, einen<br />

Haushalt zu verabschieden, weil er sich<br />

nicht einigen kann, wie eine langfristige<br />

Francis Fukuyama<br />

konstatierte vor 25 Jahren in<br />

einem Essay das „Ende <strong>der</strong><br />

Geschichte“, weil die „liberale<br />

Demokratie“ sich durchgesetzt<br />

habe. Als geläuterter Neocon<br />

plädierte er später für Interventionen<br />

mit Augenmaß und Verantwortung.<br />

Heute unterrichtet <strong>der</strong><br />

Politikwissenschaftler an <strong>der</strong><br />

Stanford University. Im Oktober<br />

erscheint sein Buch „Political Or<strong>der</strong><br />

and Political Decay: From the<br />

Industrial Revolution to the<br />

Globalization of Democracy“<br />

und zukunftsfähige Finanzpolitik aussehen<br />

könnte. Hier wird die grundlegende<br />

Pflicht einer Regierung nicht erfüllt.<br />

In dieser Hinsicht funktioniert die<br />

Demokratie nicht sehr gut. Das bedeutet<br />

aber nicht, dass eine soziale Revolution<br />

ausbricht.<br />

Häufig werden die Republikaner beziehungsweise<br />

die Tea Party hierfür verantwortlich<br />

gemacht. <strong>Ist</strong> die Tea Party<br />

durch ihre Politik <strong>der</strong> Verweigerung eine<br />

Gefahr für die Demokratie in den USA?<br />

Nein. Dass die Tea Party zu einer<br />

politischen Kraft geworden ist, ist <strong>der</strong><br />

Stärke <strong>der</strong> amerikanischen Demokratie<br />

geschuldet. Sie ist eine Graswurzelbewegung,<br />

die einen wichtigen Teil <strong>der</strong><br />

amerikanischen Wähler vertritt, und sie<br />

ist in <strong>der</strong> Lage, das politische System zu<br />

nutzen, um ihre Ansichten zu vertreten.<br />

Also kein Grund zur Sorge?<br />

Das Problem ist ein an<strong>der</strong>es. Ich<br />

nenne es: „Vetocracy“. Damit meine ich,<br />

dass wir so viele Ebenen des checks and<br />

balances, also <strong>der</strong> Kontrollen, in unserem<br />

System eingebaut haben, dass sie es<br />

gut organisierten Min<strong>der</strong>heiten einfach<br />

machen, Entscheidungen <strong>der</strong> Mehrheit zu<br />

blockieren. Die Teay Party vertritt vielleicht<br />

ein Drittel <strong>der</strong> Republikaner, was<br />

nicht mehr als 15 bis 20 Prozent aller<br />

Wähler ausmacht. Die Architektur unserer<br />

Institutionen aber ermöglicht es<br />

ihnen, das Repräsentantenhaus zu kontrollieren,<br />

was es wie<strong>der</strong>um unmöglich<br />

macht, Gesetze zu verabschieden. Das<br />

ist Teil eines größeren Problems: Wir haben<br />

so viele Veto-Möglichkeiten in unserem<br />

Gesetzgebungsverfahren, dass wir<br />

am Ende größtenteils gelähmt sind. Das<br />

führt zu schlechter Gesetzgebung und<br />

verhin<strong>der</strong>t, dass wir uns wichtigen Fragen<br />

zuwenden wie etwa <strong>der</strong> Waffenkontrolle<br />

und <strong>der</strong> Immigration.<br />

Würden Sie Amerika noch als Vorbild<br />

bezeichnen?<br />

Während die amerikanische Ökonomie<br />

ein Quell überragen<strong>der</strong> Innnovationen<br />

bleibt, ist die US-Regierung zurzeit<br />

kaum ein Hort <strong>der</strong> Inspiration für<br />

die Welt.<br />

Das Gespräch führte JUDITH HART<br />

63<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


WELTBÜHNE<br />

Russland<br />

„AMERIKA GEHÖRT<br />

VERNICHTET“<br />

Der Philosoph Alexan<strong>der</strong><br />

Dugin gilt als Einflüsterer<br />

<strong>der</strong> russischen Regierung.<br />

Aber was hat er eigentlich<br />

zu sagen? Eine Auslese<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

Um Alexan<strong>der</strong> Dugin zu beschreiben, sind<br />

schon etliche Begriffe bemüht worden,<br />

am häufigsten wohl „Eurasier“, „Nationalbolschewist“,<br />

„Esoteriker“, „Faschist“<br />

o<strong>der</strong> „Reaktionär“. Fest steht, dass man<br />

dem 1962 in Moskau geborenen Philosophen und Politologen<br />

mit den üblichen Kategorien aus dem ideologischen<br />

Werkzeugkasten kaum gerecht wird. Dafür<br />

sind viele seiner Aussagen zu wi<strong>der</strong>sprüchlich, die<br />

zwischen Kriegsrhetorik und pazifistischen Anwandlungen<br />

genauso oszillieren wie zwischen kühlen geopolitischen<br />

Analysen und apokalyptischen Prophezeiungen.<br />

Wer seine Schriften liest, könnte deshalb<br />

leicht den Eindruck gewinnen, dieser russische „Public<br />

Intellectual“ sei sich manchmal selbst nicht ganz<br />

geheuer und nehme deshalb ständig Renovierungsarbeiten<br />

am eigenen, noch unvollendeten Gedankengebäude<br />

vor, dessen Fundament freilich ein dezidierter<br />

Antiliberalismus ist.<br />

Dass Dugin seit einiger Zeit auch im Westen wie<strong>der</strong><br />

auf verstärktes Interesse stößt, hat einen einfachen<br />

Grund: Er gilt als eine Art ideologisches Mastermind<br />

hinter <strong>der</strong> russischen Einflussnahme in <strong>der</strong><br />

Ukrainekrise und als geistiger Vater <strong>der</strong> Krimannektion<br />

mit entsprechenden Kontakten in die höchsten<br />

Kreise <strong>der</strong> Moskauer Politik. Ob es sich bei Alexan<strong>der</strong><br />

Dugin tatsächlich um „Putin’s Brain“ handelt, wie die<br />

amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs vor einigen<br />

Wochen glauben machen wollte, muss zwar bezweifelt<br />

werden. Aber weites Gehör findet <strong>der</strong> politische<br />

Theoretiker in seinem Land allemal – ob als Kommentator<br />

o<strong>der</strong> Talkshowgast. Als Dugin unlängst in einem<br />

Interview dafür plädierte, die Unterstützer <strong>der</strong> „Kiewer<br />

Junta“ zu „töten, töten, töten“, war das allerdings<br />

selbst im nationalistisch gesinnten Russland ein Tabubruch<br />

– zumindest für einen prominenten Gelehrten.<br />

Die Lomonossow-Universität entzog dem intellektuellen<br />

Brandstifter denn auch prompt die Funktion des<br />

stellvertretenden Leiters eines Soziologie-Lehrstuhls.<br />

Ob er an <strong>der</strong> berühmten Moskauer Hochschule dennoch<br />

weiter als Professor lehrt, ist seither umstritten:<br />

Dugin behauptet, man habe ihn entlassen; die Uni-<br />

Leitung bestreitet es.<br />

Das Faszinosum Alexan<strong>der</strong> Dugins, <strong>der</strong> Anfang<br />

<strong>der</strong> neunziger Jahre die Nationalbolschewistische Partei<br />

Russlands mitbegründete und diese später wie<strong>der</strong><br />

verließ, ist seine Mischung aus profun<strong>der</strong> philosophischer<br />

Bildung und einem nachgerade martialischen<br />

Antiamerikanismus. Dass <strong>der</strong> Chefpropagandist des<br />

„eurasischen Projekts“ mit seinem rauschenden Bart<br />

und dem Habitus des Wan<strong>der</strong>predigers überdeutlich an<br />

Rasputin erinnert, vervollständigt dabei auch noch äußerlich<br />

seinen Nimbus als messianischer Großdenker<br />

wi<strong>der</strong> die Mo<strong>der</strong>ne. Wenn ein Mann vom Schlage Dugins<br />

„mit seinen Ideen in die Führungsetagen zentraler<br />

Machtorgane, wesentlicher Massenmedien und Curricula<br />

renommierter Bildungseinrichtungen“ vordringen<br />

könne, „ist es schlechter um die Zukunft des Landes<br />

bestellt, als man ohne dies hätte annehmen müssen“,<br />

urteilten bereits 2007 die Blätter für deutsche und internationale<br />

Politik. Worum also geht es ihm?<br />

EINEN GUTEN ÜBERBLICK liefert Alexan<strong>der</strong> Dugins<br />

auch auf Deutsch im neorechten Londoner Arktos-Verlag<br />

erschienenes Manifest „Die vierte politische Theorie“.<br />

Das Buch ist alles an<strong>der</strong>e als einfach zu lesen, was<br />

nicht nur an <strong>der</strong> stellenweise hanebüchenen Übersetzungsarbeit<br />

liegt, son<strong>der</strong>n vielmehr an dem doch eher<br />

schwer verdaulichen metaphysischen Grundrauschen.<br />

„Was ist die vierte politische Praxis?“, fragt Dugin beispielsweise.<br />

Wer darauf eine halbwegs nachvollziehbare<br />

Handlungsanleitung erwartet, muss mit folgen<strong>der</strong> Erklärung<br />

zurechtkommen: „Sie ist Anschauung. Was ist die<br />

Manifestation <strong>der</strong> vierten politischen Praxis? Sie ist ein<br />

Prinzip, das offenbart werden soll. In welcher Hinsicht<br />

64<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Dieser untergegangenen Trias setzt Dugin also<br />

seine „vierte politische Theorie“ entgegen. Sie entspricht<br />

dem Konzept einer radikalen konservativen<br />

Revolution, die von einem geradezu manischen Kulturpessimismus<br />

getragen wird: „Es existiert in <strong>der</strong> Welt<br />

ein Prozess objektiven Verfalls. Dieser ist nicht bloß<br />

das schikanöse Treiben von ,<strong>böse</strong>n Kräften‘; es sind<br />

die Kräfte <strong>der</strong> Freiheit, die Kräfte des Marktes, die die<br />

Menschheit auf den Weg des Verfalls führen.“ Konservative<br />

Revolutionäre, so Dugin, „wollen nicht nur die<br />

Zeit hinauszögern wie die Liberalkonservativen, o<strong>der</strong><br />

zur Vergangenheit zurückkehren wie die Traditionalisten,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Weltstruktur die Wurzeln des Bösen<br />

ausreißen, Zeit als eine destruktive Qualität <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit abschaffen und dadurch eine Art geheimer,<br />

paralleler und nicht offenkundiger Intention <strong>der</strong><br />

Gottheit selbst ausführen“.<br />

Foto: Action Press<br />

verwirklicht sich <strong>der</strong> Mythos im Ritual? Er wird zum<br />

theurgischen Fakt – es sei bemerkt, dass die neuplatonische<br />

Theurgie in <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>belebung <strong>der</strong> Statuen besteht.<br />

Was ist Aktivität als Mentalität? Es ist die Idee,<br />

dass Gedanken magisch sind, dass Gedanken die Realität<br />

verän<strong>der</strong>n können; es ist eine Suggestion, dass Gedanken<br />

die Realität als Fakt ersetzen.“<br />

Dugins geistiger Antagonist – und das wird dann<br />

doch recht bald deutlich – ist <strong>der</strong> amerikanische Politologe<br />

Francis Fukuyama, dessen Vorstellung vom „Ende<br />

<strong>der</strong> Geschichte“ dem Urheber <strong>der</strong> „vierten politischen<br />

Theorie“ als ungeheuerliche Anmaßung und Fehleinschätzung<br />

erscheint. Alexan<strong>der</strong> Dugin jedenfalls bestreitet<br />

vehement, dass mit dem Untergang <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

die freiheitliche Demokratie und damit auch die<br />

Kräfte des Marktes für immer und alle Zeiten obsiegt<br />

hätten. „Der Liberalismus“, so schreibt Dugin, „ist ein<br />

Überrest aus dem ,alten Jahr‘; er ist ein Residuum, ein<br />

zweifelhaftes Stück Vergangenheit, das nicht ordentlich<br />

entsorgt wurde. Seine Zeit ist vorbei, aber er will<br />

sich nicht für immer verabschieden.“ Faschismus und<br />

Kommunismus, die beiden an<strong>der</strong>en Großideologien<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, seien ohnehin längst auf Nimmerwie<strong>der</strong>sehen<br />

verschwunden.<br />

ALS EINE DER WURZELN DES BÖSEN hat Alexan<strong>der</strong> Dugin<br />

– das ist in diesen Sphären nicht beson<strong>der</strong>s überraschend<br />

– die Globalisierung ausgemacht mit den Vereinigten<br />

Staaten als <strong>der</strong>en Zentrum. „Amerikanische<br />

Werte geben vor, ,universale‘ zu sein. In <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

ist das eine neue Form <strong>der</strong> ideologischen Aggression<br />

gegen die Vielfalt <strong>der</strong> noch in <strong>der</strong> übrigen Welt<br />

existierenden Kulturen und Traditionen. Ich bin entschieden<br />

gegen westliche Werte, die im Wesentlichen<br />

mo<strong>der</strong>nistisch und postmo<strong>der</strong>nistisch sind.“ Alle, die<br />

seine Abscheu vor <strong>der</strong> Globalisierung teilen und wie er<br />

die weltweite „Dominanz des westlichen Lebensstils<br />

für den Grund des endgültigen Nie<strong>der</strong>gangs <strong>der</strong> Erde“<br />

halten, lädt Dugin folglich dazu ein, sich zusammenzuschließen:<br />

„Wir könnten sogar gemeinsame Verbündete<br />

innerhalb <strong>der</strong> Vereinigten Staaten selbst finden<br />

unter denen, die den Pfad <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />

Dekadenz vorziehen.“ Das Ceterum censeo<br />

des Moskauer Philosophen lautet denn auch wortwörtlich:<br />

„Das amerikanische Imperium gehört vernichtet.“<br />

Nur ist das mit dem Vernichten von Imperien leichter<br />

gesagt als getan. Deshalb flüchtet sich Dugin immer<br />

genau dort, wo seine Leser ein paar Konkretisierungen<br />

erwarten könnten, in esoterisch-verquaste Abhandlungen<br />

über allerlei „vormo<strong>der</strong>ne Inspirationsquellen“,<br />

über „den platonischen idealen Staat“, „die mittelalterliche<br />

hierarchische Gesellschaft“ o<strong>der</strong> „theologische<br />

Visionen des sozialen und politischen Systems“.<br />

Vielleicht ist ja genau das auch schon die Lösung jenes<br />

Rätsels in eigener Sache, das Alexan<strong>der</strong> Dugin<br />

im zweiten Kapitel seines Buches wie folgt formuliert:<br />

„Ich begreife kaum, warum gewisse Leute, die mit dem<br />

Konzept <strong>der</strong> vierten politischen Theorie konfrontiert<br />

werden, nicht sofort eine Flasche Sekt entkorken, tanzen<br />

und jubilieren und die Entdeckung neuer Möglichkeiten<br />

feiern.“<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

ist stellvertreten<strong>der</strong> Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

65<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


IRANS<br />

ZWEITES<br />

GESICHT


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

Das iranische Regime regelt auch noch die letzte Kleinigkeit<br />

des Alltags. Aber die Iraner wollen ihr Leben selbst<br />

bestimmen. Der Fotograf Hossein Fatemi zeigt Menschen,<br />

die sich kleine und große Freiheiten nehmen<br />

Schönheitsoperationen gehören im Iran zum Alltag.<br />

Am beliebtesten sind Nasenkorrekturen. Jährlich<br />

werden etwa 200 000 Nasen operiert. Das ist<br />

ein Weltrekord<br />

67<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Verboten sind Tattoos zwar nicht. Wenn <strong>der</strong> Staat will,<br />

findet er dennoch Gründe, sie mit Peitschenhieben<br />

und Gefängnisstrafen zu sanktionieren. Davon beirren<br />

lässt sich <strong>der</strong> Tätowierer Siavash dennoch nicht


Iranische Frauen investieren einiges in ihr Äußeres.<br />

Der regelmäßige Kosmetikstudiobesuch ist ein<br />

Muss. In den Schönheitssalons haben Männer<br />

we<strong>der</strong> Zutritt noch dürfen sie dort arbeiten


In <strong>der</strong> iranischen Öffentlichkeit wäre das<br />

undenkbar – und verboten: Männer und<br />

Frauen entspannen leicht bekleidet an einem<br />

privaten Pool in Teheran


Eine Freizeitbeschäftigung auf eigene<br />

Gefahr: Das Shisha-Rauchen ist Frauen<br />

verboten. Offizielle Begründung:<br />

Rauchen gefährdet die Gesundheit


Prostitution kann mit bis zu 100 Peitschenhieben<br />

und Gefängnis bestraft werden. Für diese Frau<br />

ist das keine Abschreckung – sie sieht keinen<br />

an<strong>der</strong>en Weg, um sich und ihre Kin<strong>der</strong> zu ernähren


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

Der Kampf <strong>der</strong> iranischen Behörden gegen alle Formen<br />

westlichen Lebensstils hat auch Hunde erreicht.<br />

Würde Shervin beim Gassigehen erwischt, wäre er seinen<br />

Hund los und müsste eine Geldstrafe zahlen<br />

Unser Bild vom Iran ist meist eindimensional:<br />

Männer tragen Bärte und sind Ayatollahs;<br />

Frauen werden hinter Ganzkörperverschleierungen<br />

gesteckt, und gemeinsam stützen sie<br />

die Hardliner.<br />

So einfach ist es – wie so häufig mit Klischees –<br />

aber nicht. Der Fotograf Hossein Fatemi, <strong>der</strong> im Iran<br />

geboren wurde und dort aufwuchs, zeigt, wie vielschichtig<br />

die iranische Gesellschaft tatsächlich ist.<br />

Mit seinen Bil<strong>der</strong>n lüftet er den Schleier. Dahinter<br />

wird eine komplexe Gesellschaft sichtbar.<br />

Es ist insbeson<strong>der</strong>e eine junge Gesellschaft –<br />

60 Prozent <strong>der</strong> 80-Millionen-Bevölkerung sind unter<br />

30 Jahre alt. Sie kennen nur das theokratische Regime,<br />

das nach <strong>der</strong> <strong>Islam</strong>ischen Revolution 1979 an<br />

die Macht kam. Dass ihr Land zuvor unter <strong>der</strong> Herrschaft<br />

des Schahs ein wichtiger und verlässlicher Verbündeter<br />

<strong>der</strong> Amerikaner war, wissen sie nur noch<br />

aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern.<br />

Seit drei Jahrzehnten reguliert das Mullah-Regime<br />

jedes noch so kleine Detail des tagtäglichen Lebens<br />

<strong>der</strong> Iraner. Mit allen Mitteln soll das islamische<br />

Recht durchgesetzt werden. Tugendwächter stellen<br />

dessen Einhaltung sicher, kontrollieren, ob das Kopftuch<br />

richtig sitzt und junge Paare sich angemessen<br />

verhalten und nicht etwa Händchen haltend durch<br />

die Straßen gehen.<br />

Ungeachtet dessen kann es die Jugend kaum<br />

erwarten, sich von <strong>der</strong> paternalistischen Unterdrückung<br />

<strong>der</strong> Mullahs zu befreien, um endlich jene Freiheiten<br />

zu genießen, die sie bereits durch das Internet<br />

und Satellitenfernsehen kennt. Im Privaten, hinter<br />

verschlossenen Türen, versucht die mehrheitlich säkulare<br />

Bevölkerung, ein freies, ungestörtes Leben zu<br />

führen – gekennzeichnet von Partys mit viel Alkohol<br />

und westlicher Musik, organisierter Prostitution und<br />

einer besorgniserregenden Ausbreitung harter Drogen<br />

wie Heroin. Stets Gefahr laufend, dafür schwer<br />

bestraft zu werden.<br />

Deutlicher kann eine Gesellschaft nicht geteilt sein.<br />

Auf <strong>der</strong> einen Seite die Staatsdiener, die tief beseelt<br />

sind von ihrer Treue zu Staat und Glauben. Auf <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Seite die große Mehrheit <strong>der</strong> Iraner, die versucht,<br />

einen schmalen Pfad durch das Dickicht religiöser<br />

Gesetze und religiösen Brauchtums zu schlagen.<br />

JUDITH HART<br />

Fotos: Hossein Fatemi/Panos/VISUM (Seiten 66 bis 74)<br />

74<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


KAPITAL<br />

„ Es gibt in Deutschland<br />

zurzeit keine Frau,<br />

die das Potenzial hätte,<br />

den Vorstandsvorsitz<br />

eines Dax-Konzerns zu<br />

übernehmen “<br />

Heiner Thorborg, einer <strong>der</strong> renommiertesten Personalberater Deutschlands, kritisiert im Interview<br />

die mangelhafte Frauenför<strong>der</strong>ung deutscher Unternehmen, Seite 80<br />

75<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

DER GEFÜHLSSPITZEL<br />

Was denkt mein Gegenüber gerade? Catalin Voss bringt <strong>der</strong> Datenbrille Google Glass<br />

bei, Emotionen zu messen. Zum Datenschutz sagt er: Macht euch mal locker<br />

Von PETRA SORGE<br />

Foto: Michael Löwa für <strong>Cicero</strong><br />

Bei Twitter nennt er sich MyHumbleSelf<br />

– „Mein bescheidenes Ich“.<br />

Meint Catalin Voss das ernst, o<strong>der</strong><br />

ist es Koketterie? Das weiß man bei dem<br />

19 Jahre alten Informatikstudenten nie<br />

so genau. Einerseits sackt er in seinem<br />

Stuhl auf dem Podium zusammen, wenn<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ator eines Wirtschaftskongresses<br />

in Wolfsburg ihn als „deutschen Mark<br />

Zuckerberg“ vorstellt.<br />

An<strong>der</strong>erseits entwirft er anschließend<br />

selbstbewusst ein Szenario, wie<br />

Technologie in den kommenden Jahren<br />

unsere Vorstellung von Privatheit verän<strong>der</strong>n<br />

wird. Und die Manager von Siemens,<br />

Volkswagen o<strong>der</strong> ThyssenKrupp im Publikum<br />

hören dem Rothaarigen im Karohemd<br />

genau zu. Seine Botschaft: Die<br />

Deutschen sollen sich beim Datenschutz<br />

mal ein bisschen locker machen.<br />

Voss studiert seit zwei Jahren in Kalifornien<br />

an <strong>der</strong> Stanford University, <strong>der</strong><br />

Ka<strong>der</strong>schmiede des Silicon Valley. Der<br />

Teenager berät den Verlag Axel Springer<br />

bei seiner Digitalstrategie. Parallel<br />

dazu hat er sein Start-up-Unternehmen<br />

„Sension“ aufgebaut. Mit seinen Partnern<br />

bringt er Computern bei, Emotionen<br />

zu lesen. Das Programm zerlegt Augen,<br />

Nase und Mund in bis zu hun<strong>der</strong>t<br />

Punkte und notiert kleinste Verän<strong>der</strong>ungen.<br />

Freude o<strong>der</strong> Trauer, Überraschung<br />

o<strong>der</strong> Wut: Was das Gegenüber fühlt, errechnen<br />

Voss’ Algorithmen. Das von<br />

„Sension“ entwickelte Programm läuft als<br />

App auf Google Glass, <strong>der</strong> neuen Datenbrille<br />

mit integrierter Kamera.<br />

Voss sagt, in Zukunft werde die<br />

Technik dem Körper noch näher kommen.<br />

Google bastelt bereits an einer Daten-Kontaktlinse.<br />

Voss’ Generation empfindet<br />

das Internet als Grundrecht. Sie<br />

erwartet sogar, dass Informationen von<br />

selbst zu ihr finden. Datensammeln findet<br />

Voss deshalb nicht schlimm, solange das<br />

Unternehmen und nicht Geheimdienste<br />

machen: „Diese beiden Dimensionen von<br />

Privatsphäre werden aber in <strong>der</strong> Diskussion<br />

oft vermischt.“<br />

Voss, <strong>der</strong> mit 13 Jahren Apps für die<br />

US-Armee programmierte, will auf <strong>der</strong><br />

guten Seite stehen. Er möchte mit seiner<br />

Software Autisten helfen, denen es<br />

an Einfühlungsvermögen fehlt. Stanford<br />

gibt dafür Forschungsgel<strong>der</strong>. Im Herbst<br />

sollen 35 autistische Kin<strong>der</strong> erstmals<br />

seine App für Google Glass testen.<br />

Jede Erfindung könne Menschen nützen<br />

o<strong>der</strong> schaden, sagt Voss. Er sieht die<br />

Verantwortung bei <strong>der</strong> Gesellschaft und<br />

nicht bei den Unternehmen: „Innovationen<br />

verlangen immer auch neue soziale<br />

Normen.“ Für Google Glass hieße<br />

das: Wer die Datenbrille auf <strong>der</strong> Nase<br />

hat, sollte an<strong>der</strong>e nicht heimlich filmen.<br />

Voss spielt auf einen Vorfall in San<br />

Francisco an, wo Barbesucher einer Frau<br />

die Google-Brille vom Kopf rissen. In Seattle<br />

erteilte ein Wirt den Brillenträgern<br />

sogar Hausverbot. 72 Prozent <strong>der</strong> Amerikaner<br />

misstrauen Google Glass. Der Konzern<br />

sah sich genötigt, Benimmregeln zu<br />

veröffentlichen. Erstes Gebot: „Don’t be<br />

a Glasshole“ – zu Deutsch etwa: Seien Sie<br />

kein Brillenarschloch.<br />

WIE VIEL ER VERDIENT, verrät Catalin<br />

Voss nicht. Seine eigene Privatsphäre<br />

weiß er zu schützen. Als Kind in einem<br />

Dorf bei Heidelberg baute er eine Alarmanlage<br />

aus Lego-Steinen, für sein Kin<strong>der</strong>zimmer<br />

entwickelte er eine Schlüsselkarte.<br />

Er ging auf ein Gymnasium für<br />

Hochbegabte, programmierte erste Apps<br />

fürs iPhone mit zwölf. Seine Erklärvideos<br />

wurden zur Nummer eins im deutschen<br />

iTunes-Store. Der Stiefvater, promovierter<br />

Physiker bei SAP, erfuhr von<br />

einem Kollegen, welche Reichweite sein<br />

Sohn da im Internet hatte.<br />

Mit 15 Jahren bewarb sich Catalin<br />

Voss um ein Praktikum im Silicon Valley.<br />

Steve Capps, <strong>der</strong> zusammen mit Steve<br />

Jobs den ersten Mac gebaut hatte, lud<br />

ihn ein. Voss sollte in acht Wochen ein<br />

Programm schreiben, mit dem man ohne<br />

Kreditkarte im Internet bezahlen kann.<br />

Er war mit „PayNearMe“ nach vier Wochen<br />

fertig.<br />

Der Mo<strong>der</strong>ator in Wolfsburg behauptet,<br />

Voss habe für Apple-Grün<strong>der</strong> Steve<br />

Jobs gearbeitet. Das stimmt nicht, die<br />

beiden waren nur mal Kaffee trinken.<br />

Doch Voss korrigiert das nicht. Er kennt<br />

das. Im Internet kursieren zahlreiche solcher<br />

Gerüchte über ihn: „Dann weiß wenigstens<br />

niemand, was wirklich stimmt.“<br />

Seine Art von Datenschutz.<br />

Nach dem Praktikum in Kalifornien<br />

hat sich Voss keine Pause gegönnt. War<br />

er zuvor wegen zwei Sechsen noch fast<br />

sitzen geblieben, legte er jetzt das Abi<br />

mit einem Durchschnitt von 1,1 ab. Die<br />

Aufnahme an <strong>der</strong> Stanford University:<br />

ein Klacks. Parallel sammelte er Kredite<br />

ein, gründete sein Start-up, gewann ein<br />

Stipendium.<br />

In seiner Freizeit legt Voss in Clubs<br />

als DJ auf, geht mit seiner mexikanischen<br />

Freundin aus o<strong>der</strong> liest „Calvin & Hobbes“.<br />

Voss hat alle Bände des amerikanischen<br />

Comics, in dem <strong>der</strong> sechsjährige<br />

Calvin mit seinem Tiger Hobbes Abenteuer<br />

besteht. Hobbes existiert als echter<br />

Tiger nur in Calvins Fantasie, für alle<br />

an<strong>der</strong>en ist er eine leblose Stoffpuppe.<br />

Ähnlich wie die neuesten Visionen aus<br />

dem Silicon Valley, die für viele Menschen<br />

noch nicht ganz in diese Welt passen.<br />

Für Catalin Voss schon.<br />

PETRA SORGE ist Redakteurin bei <strong>Cicero</strong><br />

Online und im Internet selbst schizophren:<br />

Sie hat Software zur Anonymisierung installiert,<br />

nutzt aber auch Google und Facebook<br />

77<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

UNQUALIFIZIERTER UNTERNEHMER<br />

Als Hippie ohne Berufsausbildung startete Joseph Wilhelm vor vier Jahrzehnten<br />

einen Naturkostladen. Heute ist Rapunzel einer <strong>der</strong> führenden Biohersteller in Europa<br />

Von DANIELA SINGHAL<br />

Manche Wünsche können Eltern<br />

ihren Kin<strong>der</strong>n einfach nicht abschlagen:<br />

Die Lust seiner Kin<strong>der</strong><br />

auf süßen Brotaufstrich brachte Joseph<br />

Wilhelm dazu, Haselnüsse in einer<br />

Waschtrommel zu rösten. In den siebziger<br />

Jahren sträubte er sich gegen weißen Industriezucker<br />

und erfand die biologische<br />

Alternative zu Nutella: Samba. Ein Verkaufsschlager<br />

<strong>der</strong> von Wilhelm gegründeten<br />

Biomarke Rapunzel. Das Müsli,<br />

das er damals in seinem Naturkostladen<br />

in Augsburg verkaufte, mischte Wilhelm<br />

in einer Badewanne.<br />

So begann seine Karriere mit ungewöhnlichen<br />

Methoden, wilden Locken,<br />

einem in Regenbogenfarben bemalten<br />

VW-Bus als Lieferwagen – und ohne Berufsausbildung.<br />

Heute ist die Rapunzel<br />

Naturkost GmbH mit 350 Mitarbeitern<br />

und einem Umsatz von 130 Millionen<br />

Euro einer <strong>der</strong> führenden Biohersteller<br />

in Europa.<br />

Die Nachfrage nach Bioprodukten in<br />

Deutschland war damals eher gering, die<br />

Skepsis umso größer. „Es ging uns nicht<br />

darum, große Geschäfte zu machen“,<br />

sagt <strong>der</strong> 60 Jahre alte Unternehmer. „Wir<br />

wollten gesund und verantwortungsvoll<br />

leben. Aber das, was wir essen wollten,<br />

gab es nicht zu kaufen.“<br />

Heute boomt die Branche: 2013 wurden<br />

laut dem Bund für Ökologische Lebensmittelwirtschaft<br />

7,55 Milliarden<br />

Euro mit Bioprodukten umgesetzt. Der<br />

Marktanteil von Bio beträgt in Deutschland<br />

3,9 Prozent.<br />

Ein umkämpfter Nischenmarkt, auf<br />

dem sich Wilhelm mit seinen Bioprodukten<br />

jetzt seit vier Jahrzehnten behauptet.<br />

Wie ein harter Geschäftsmann wirkt <strong>der</strong><br />

Rapunzel-Geschäftsführer aber immer<br />

noch nicht: Wilhelm trägt zum leuchtend<br />

blauen T-Shirt ein graues Sakko<br />

und Turnschuhe, im Gespräch lacht er<br />

viel. Während an<strong>der</strong>e Firmenchefs morgens<br />

joggen, mistet Wilhelm seinen Stall<br />

aus: 25 Rin<strong>der</strong> hält er auf seinem Hof<br />

im Allgäu, zehn Kilometer vom Rapunzel-Werk<br />

in Legau entfernt. Er verkauft<br />

Biofleisch und Stroh. „Ich brauche diese<br />

bodenständige Arbeit, den Kontakt zur<br />

Erde! Sie gibt mir Kraft für meine Aufgaben<br />

als Geschäftsführer.“<br />

IN DEN ANFANGSJAHREN von Rapunzel<br />

schleppte Joseph Wilhelm Kisten und Säcke,<br />

grub Beete um und melkte Kühe –<br />

erst im Schwäbischen, dann auf dem eigenen<br />

Hof im bayerischen Kimratshofen.<br />

Dort lebte er mit seiner Frau Jennifer Vermeulen<br />

und Freunden in einer Gemeinschaft:<br />

„Wir waren eine bunte Lebensund<br />

Arbeitsgemeinschaft, wir haben alles<br />

geteilt und sehr sparsam gelebt. So konnten<br />

wir wachsen“, sagt Wilhelm. Damals<br />

gab es im Allgäu keinen einzigen Biobauern.<br />

Die Ware wurde per Direktvertrieb<br />

ausgeliefert: „Unser Regenbogen kommt<br />

Euch bald wie<strong>der</strong> besuchen!“, hieß es im<br />

Schreiben an die Kunden.<br />

Heute sitzt <strong>der</strong> Biopionier in Besprechungen,<br />

reist durch Deutschland und<br />

die Welt, um mit Produzenten und Lieferanten<br />

zu sprechen und für die biologische<br />

Landwirtschaft und den fairen Handel<br />

zu werben.<br />

Das ist kein leichtes Unterfangen:<br />

Die Landwirte fürchten den Preisdruck<br />

in <strong>der</strong> Branche, Studien begegnen dem<br />

Bioboom kritisch, und die Verbraucher<br />

scheuen die höheren Preise – Wilhelm<br />

muss Überzeugungsarbeit leisten. „Ich<br />

bin selber in einem landwirtschaftlichen<br />

Betrieb groß geworden. Das hilft<br />

mir, wenn ich mit den Bauern spreche.<br />

Sie merken, dass ich ihre Ängste verstehe.“<br />

Wilhelm lässt nicht locker und<br />

zerstreut die Bedenken <strong>der</strong> Produzenten<br />

mit Absatzgarantien: So schaffte er<br />

es auch, ein ganzes Dorf in <strong>der</strong> Türkei<br />

davon zu überzeugen, auf den biologischen<br />

Anbau von Sultaninen umzustellen.<br />

Rapunzel hat mittlerweile ein eigenes<br />

Werk in <strong>der</strong> Türkei.<br />

„Daran habe ich anfangs natürlich<br />

nicht gedacht“, sagt Wilhelm. Mit 16 Jahren<br />

verließ er den elterlichen Hof. Sein<br />

Startkapital betrug 3000 Mark – das<br />

Hochzeitsgeschenk seiner Schwiegereltern.<br />

„Wir waren ein wenig naiv, aber<br />

auch sehr ehrgeizig“, sagt Wilhelm. Die<br />

Etiketten <strong>der</strong> Produkte malte das junge<br />

Unternehmer-Ehepaar per Hand. „Unsere<br />

Methoden waren oft ungewöhnlich,<br />

aber unsere Produkte von Anfang an zu<br />

100 Prozent bio.“<br />

Auch über sein Unternehmen hinaus<br />

setzt er sich für seine Vision einer<br />

besseren Welt ein: Regelmäßig läuft<br />

er Tausende von Kilometern durch die<br />

Republik, um für eine gentechnikfreie<br />

Welt zu werben. „Ich bin immer noch<br />

ein Idealist und glaube daran, dass alles<br />

gut werden kann!“<br />

DANIELA SINGHAL ist freie Autorin. Mit<br />

Joseph Wilhelm verbindet sie, dass sie auch<br />

den Jakobsweg gegangen ist<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

Was hat Deutschland,<br />

was an<strong>der</strong>e nicht haben?<br />

Den Mittelstand!<br />

<strong>Cicero</strong> stellt in je<strong>der</strong> Ausgabe<br />

einen mittelständischen<br />

Unternehmer vor.<br />

Die bisherigen Porträts<br />

finden Sie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

Foto: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />

78<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


KAPITAL<br />

Interview<br />

„ES GIBT HIER KEINE GEEIGNETEN<br />

FRAUEN FÜR CEO-JOBS“<br />

Die Headhunter<br />

Christina Virzí<br />

und Heiner<br />

Thorborg über<br />

Führungsstile<br />

in Konzernen,<br />

versteckten<br />

Machismo und<br />

mangelndes<br />

weibliches<br />

Selbstvertrauen<br />

Herr Thorborg, was macht Ihre Kollegin<br />

Christina Virzí zu einer guten<br />

Headhunterin?<br />

Heiner Thorborg: Ein guter Headhunter<br />

muss im Grunde seines Herzens<br />

Verkäufer sein. Wir suchen im Auftrag<br />

<strong>der</strong> Unternehmen die passenden Menschen<br />

für Führungspositionen. Um erfolgreich<br />

zu sein, müssen wir die Kandidaten<br />

und das Unternehmen davon<br />

überzeugen, dass sie füreinan<strong>der</strong> bestimmt<br />

sind. Und das kann Christina<br />

Virzí mindestens so gut wie ich.<br />

Frau Virzí, Sie sind auf die Vermittlung<br />

von Frauen in Toppositionen spezialisiert.<br />

<strong>Ist</strong> es da für Sie nicht problematisch,<br />

dass Sie mit Heiner Thorborg einen<br />

Mann vor <strong>der</strong> Nase sitzen haben?<br />

Christina Virzí: Das empfinde ich<br />

nicht so. Ich habe schon nach unserem<br />

ersten Gespräch gewusst, dass er mir ein<br />

Angebot machen wird. Bei ihm hat es einen<br />

Monat länger gedauert, aber dann<br />

hat er mir einen Job bei sich angeboten.<br />

Ich fand es spannend, dass er das Thema<br />

Frauen in Spitzenpositionen schon vor<br />

sieben Jahren gepusht hat, als es für viele<br />

noch gar keine Rolle gespielt hat.<br />

Thorborg: Es gibt zwischen uns<br />

höchstens eine Erfahrungshierarchie, da<br />

ich jetzt 35 Jahre in diesem Geschäft bin.<br />

Wir profitieren beide von <strong>der</strong> Zusammenarbeit.<br />

Geplant hatte ich das so nie. Ich<br />

wollte eigentlich irgendwann den Schlüssel<br />

umdrehen und sagen: Das war es.<br />

Sie haben bereits 2007 das Netzwerk<br />

„Generation CEO“ für weibliche Manager<br />

ins Leben gerufen.<br />

Thorborg: Es gab damals kaum<br />

Frauen in Führungspositionen deutscher<br />

Unternehmen, we<strong>der</strong> in den Aufsichtsräten<br />

noch in den Vorständen. Durch Gespräche<br />

mit Topmanagerinnen im Ausland<br />

ist die Idee für „Generation CEO“<br />

entstanden. Inzwischen sitzen viele <strong>der</strong><br />

140 Frauen in Aufsichts- und Beiräten<br />

und einige machen Superkarrieren. Jedes<br />

Jahr werden 20 neue Frauen in das<br />

Netzwerk aufgenommen.<br />

War es die logische Konsequenz, dann<br />

mit Female Factor auch eine auf Frauen<br />

spezialisierte Personalberatung zu<br />

gründen?<br />

Thorborg: Ich habe schon früher in<br />

meinem Berufsleben die Frauen vermisst.<br />

Ich dachte immer: Es kann doch nicht<br />

sein, dass ich von morgens bis abends<br />

nur Männer interviewe! In den neunziger<br />

Jahren gehörte die Deutsche Bahn<br />

zu meinen Kunden. Ich habe denen viele<br />

Führungskräfte vermittelt, 10 Prozent<br />

davon waren Frauen. Der damalige Vorstandsvorsitzende<br />

Heinz Dürr hat immer<br />

gesagt: „Super! Hast du noch mehr?“ Er<br />

hat sich dem stillschweigenden Einverständnis<br />

zwischen Unternehmen und<br />

Personalberatern verweigert, das damals<br />

lautete: Es gibt ohnehin keine Frauen,<br />

also suchen wir auch nicht nach ihnen.<br />

Hat sich das inzwischen geän<strong>der</strong>t?<br />

Thorborg: Die Kunden erwarten von<br />

Headhuntern, dass auch Kandidatinnen<br />

auf <strong>der</strong> Shortlist stehen. Bei vielen Unternehmen<br />

bleibt es aber immer noch beim<br />

Lippenbekenntnis. Wir arbeiten lieber<br />

mit den Unternehmen zusammen, die<br />

wirklich Frauen wollen. Da heißt es dann:<br />

„Suchen Sie nach einer qualifizierten Frau.<br />

Wenn Sie eine finden, sind wir Ihnen unendlich<br />

dankbar, damit sich endlich etwas<br />

bewegt.“<br />

Warum sind trotzdem von 17 Frauen,<br />

die in den vergangenen drei Jahren Vorstandsjobs<br />

in Dax-Unternehmen bekleideten,<br />

acht ihren Job schon wie<strong>der</strong> los?<br />

Thorborg: Diese Entwicklung hat<br />

dem ganzen Thema geschadet. Plötzlich<br />

ging es nur noch darum: Wer hat<br />

die meisten Frauen im Vorstand? Es<br />

war wie bei kleinen Jungs im Sandkasten<br />

– und wir sprechen hier von Dax-<br />

Unternehmen! Und dann kamen die mit<br />

Frauen an, die teilweise überhaupt nicht<br />

für diese Positionen qualifiziert waren.<br />

Wenn das Männer gewesen wären, hätte<br />

man mit denen gar nicht erst geredet. Bei<br />

den Lebensläufen.<br />

Virzí: Wir befinden uns allerdings<br />

auch in einer Übergangszeit. Die Männer,<br />

die über die Vergabe <strong>der</strong> Spitzenjobs<br />

entscheiden, haben meist noch nie<br />

mit einer Frau auf Augenhöhe gearbeitet.<br />

Sie haben mit Frauen nur in an<strong>der</strong>en<br />

Rollen zu tun gehabt, als Söhne, Ehemänner<br />

o<strong>der</strong> vielleicht als Väter. Diesen<br />

Männern fällt es enorm schwer, ehrlich<br />

zu überlegen: Was kann die Kandidatin<br />

denn eigentlich? Was hat sie bisher gemacht?<br />

Welche beruflichen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

hat sie gemeistert? Eigentlich<br />

denken sie nur: Wie schafft sie das mit<br />

den Kin<strong>der</strong>n?<br />

Was ist denn für Sie <strong>der</strong> größte Unterschied,<br />

wenn Sie eine Frau o<strong>der</strong> einen<br />

Mann interviewen?<br />

Virzí: Ich habe oft Frauen vor mir sitzen,<br />

die am Anfang sagen: „Ich möchte<br />

nach ganz oben.“ Doch es braucht nur<br />

zwei, drei Fragen von mir, und die Frau<br />

Fotos: Tim Wegner für <strong>Cicero</strong> (Seiten 81 bis 82)<br />

80<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


gesteht sich plötzlich ein, dass sie es eigentlich<br />

doch nicht will. Das gibt es bei<br />

Männern selten. Einer <strong>der</strong> größten Unterschiede<br />

bei <strong>der</strong> Arbeit mit Frauen und<br />

Männern ist die Zeit, die man für Gespräche<br />

braucht. Bei mir dauert ein Erstgespräch<br />

mit einer Frau bis zu zwei Stunden.<br />

Bei Männern maximal eine Stunde,<br />

sie kommen schneller zur Sache. Es müssen<br />

weniger emotionale Faktoren abgeklopft<br />

werden.<br />

Woran liegt das?<br />

Virzí: Frauen berücksichtigen an<strong>der</strong>e<br />

Dinge bei ihrer Entscheidung. Wenn ich<br />

einer Kandidatin eine Position in China<br />

anbiete, überlegt sie, ob sie Ärger mit ihrem<br />

pubertierenden Kind bekommt, das<br />

aus seinem vertrauten Umfeld gerissen<br />

wird. O<strong>der</strong> kürzlich sagte eine Kandidatin,<br />

sie müsse ihren Mann anrufen, ob er<br />

mit umziehen würde. Sie war sofort aus<br />

dem Rennen. Männer gehen automatisch<br />

davon aus: Meine Frau kommt mit.<br />

Nimmt diese bedingungslose Unterstützung<br />

für Männer nicht ab?<br />

Virzí: Ja, aber das führt dann eher<br />

zum umgedrehten Modell: Der Mann<br />

bleibt zu Hause – wir nennen ihn den<br />

Betamann – und die Frau macht Karriere.<br />

Dass beide Partner eine Topkarriere machen,<br />

das gibt es extrem selten.<br />

Erzählen Sie den Kandidatinnen, dass<br />

Sie selbst Mutter sind?<br />

Virzí: Wer in mein Büro kommt,<br />

kann es kaum übersehen. Aber es hilft<br />

auch, um Vertrauen aufzubauen.<br />

Im Englischen spricht man von <strong>der</strong><br />

„Confidence Gap“, was so viel heißt wie<br />

„Selbstbewusstseinsgefälle“. Stimmt<br />

es, dass Männer sich im Job über- und<br />

Frauen sich unterschätzen?<br />

Virzí: Das beobachte ich oft. Häufig<br />

bekomme ich von Frauen nebulöse Antworten,<br />

kein klares Ja. O<strong>der</strong> sie erzählen<br />

ihren Werdegang viel zu detailliert, was<br />

beson<strong>der</strong>s Männer nervt. Frauen versuchen<br />

mit <strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

zu beweisen, was sie in <strong>der</strong> Zukunft<br />

leisten können. So entstehen auch<br />

ihre Gehaltsvorstellungen.<br />

Heiner Thorborg<br />

ist einer <strong>der</strong> renommiertesten<br />

Headhunter Deutschlands. Wenn<br />

Deutschlands Topunternehmen<br />

ihre Vorstandsposten neu<br />

besetzen müssen, wenden sie<br />

sich an das Büro des 69-Jährigen<br />

in Frankfurt am Main<br />

Christina Virzí<br />

hat 2012 zusammen mit<br />

Thorborg die Personalberatung<br />

The Female Factor gegründet.<br />

Die 34-Jährige vermittelt<br />

Frauen mit einem Jahresgehalt<br />

von mehr als 200 000 Euro in<br />

Führungspositionen<br />

81<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


KAPITAL<br />

Interview<br />

„ Eine Quote<br />

bringt nichts,<br />

weil sie das<br />

Denken nicht<br />

verän<strong>der</strong>t “<br />

Heiner Thorborg<br />

Was heißt das konkret für die<br />

Gehaltsverhandlungen?<br />

Virzí: Frauen haben meistens keine<br />

genaue Vorstellung davon, was sie verdienen<br />

wollen. „Nicht weniger als das,<br />

was ich jetzt verdiene“, sagen Frauen oft,<br />

weil sie denken: „Ich muss doch erst einmal<br />

zeigen, was ich kann.“ Sie lassen sich<br />

für Geleistetes bezahlen, Männer lassen<br />

sich dafür bezahlen, was sie dem Unternehmen<br />

in Zukunft an Mehrwert bringen.<br />

Müssen Frauen for<strong>der</strong>n<strong>der</strong> auftreten?<br />

Thorborg: Wenn eine Frau im Gespräch<br />

mit Männern typisch männliches<br />

Verhalten an den Tag legt, zum Beispiel<br />

harte, kompetente Fragen stellt, kann das<br />

aber auch nach hinten losgehen. Dann<br />

fragen die Männer danach oft: „Was war<br />

denn das für eine? Da kann ich ja gleich<br />

einen Mann einstellen.“ Bei einem Mann<br />

hätten sie gedacht: „Guter Typ. Unternehmer.<br />

Der weiß, was er will. Mit dem<br />

sollten wir arbeiten.“<br />

Also können Frauen es nur falsch<br />

machen?<br />

Virzí: Das ist auch immer noch eine<br />

kulturelle Frage. Wir müssen Mädchen so<br />

erziehen, dass es für sie selbstverständlich<br />

ist, auch über Führungspositionen<br />

nachzudenken. Die meisten Frauen empfinden<br />

Konkurrenz, politische Spielchen<br />

und Wettbewerb noch immer als negativ.<br />

So darf jemand, <strong>der</strong> in die Vorstandsetage<br />

will, aber nicht denken.<br />

För<strong>der</strong>n sich Frauen denn gegenseitig?<br />

Virzí: Die meisten Frauen, die es bisher<br />

nach ganz oben geschafft haben, wurden<br />

von Männern geför<strong>der</strong>t. Gegenseitig<br />

betätigen sich Frauen bisher nur begrenzt<br />

als Türöffner. Sie scheitern in Vorstandsjobs<br />

aber auch häufiger daran, dass sie<br />

sich auf <strong>der</strong> Ebene darunter kein loyales<br />

Netzwerk aufbauen. Ich würde mich<br />

nach 100 Tagen fragen: Wer ist für mich,<br />

wer ist gegen mich? Wen tausche ich aus?<br />

Kann es einer Frau zum Verhängnis werden,<br />

wenn man sieht, dass sie mal wie<strong>der</strong><br />

zum Nachsträhnen müsste o<strong>der</strong> die<br />

Maniküre vernachlässigt hat?<br />

Thorborg: Das hängt vom Betrachter<br />

ab. Männer sind sehr streng, wenn bei<br />

Frauen ein Haar krumm sitzt. Ein Fleck<br />

auf <strong>der</strong> Krawatte eines Mannes stört dagegen<br />

niemanden.<br />

Virzí: Frauen müssen sehr gepflegt<br />

sein, und sie müssen wissen, wie sie sich<br />

anzuziehen haben. Aber sage ich Kandidatinnen<br />

dazu etwas? Das ist ein wun<strong>der</strong><br />

Punkt, weil Frauen da sehr emotional<br />

reagieren und sich manchmal<br />

zurückziehen.<br />

In den USA haben es schon mehrere<br />

Frauen an die Spitze großer Konzerne<br />

geschafft wie Anfang des Jahres<br />

Mary Barra, die neue Vorstandsvorsitzende<br />

bei General Motors. Wann sehen<br />

wir die erste Frau an <strong>der</strong> Spitze eines<br />

Dax-Konzerns?<br />

Thorborg: Es gibt in Deutschland<br />

zurzeit keine Frau, die das Potenzial<br />

hätte, den Vorstandsvorsitz eines Dax-<br />

Konzerns zu übernehmen. Und ich sage<br />

Ihnen auch warum: Frauen, die es bis in<br />

die Vorstände schaffen, besetzen dort<br />

meist die Posten Personal und Recht.<br />

Das sind nicht die optimalen Sprungbretter,<br />

um später auf dem CEO-Posten<br />

zu landen.<br />

Könnte eine Quotenregelung daran etwas<br />

än<strong>der</strong>n?<br />

Thorborg: Nein, eine Quote än<strong>der</strong>t<br />

das Denken nicht. Das hat man in Norwegen<br />

gesehen. Da hat <strong>der</strong> Gesetzgeber<br />

eine Quote für Aufsichtsräte in börsennotierten<br />

Unternehmen mit drakonischen<br />

Maßnahmen durchgesetzt. Die ist jetzt<br />

übererfüllt, aber in den Vorständen sitzen<br />

deswegen nicht mehr Frauen.<br />

Was muss dann passieren, damit sich<br />

das Klima für Frauen wirklich än<strong>der</strong>t?<br />

Thorborg: Dafür müssen die CEOs<br />

erst mal hart durchgreifen. Frauen müssen<br />

sich heute auf ihrem Weg nach oben<br />

noch immer so viele blöde Sprüche von<br />

Kollegen anhören. Es gibt so viel Mobbing<br />

im mittleren und oberen Management<br />

gegen Frauen, alles versteckt unter<br />

<strong>der</strong> Decke. Da müssen Sie als Chef auch<br />

mal ein Exempel statuieren. Und sagen:<br />

Für diesen Spruch bist du gefeuert. Habt<br />

ihr das alle gesehen? Wenn es an die eigene<br />

Brieftasche geht, sind Männer übrigens<br />

auch sehr lernfähig. Daher muss<br />

das Thema Frauenför<strong>der</strong>ung in die Zielvereinbarungen<br />

mit rein. Es müsste sich<br />

jemand in <strong>der</strong> Öffentlichkeit hinstellen<br />

und sagen: So geht das hier nicht weiter!<br />

Doch wer von den Dax-Unternehmen<br />

steht wirklich mit geballter Faust<br />

dahinter und sagt: Und wenn ihr nicht<br />

mitmacht, werdet ihr das spüren? Ich<br />

würde sagen, vielleicht ein Drittel.<br />

Gibt es in den Vorstandsetagen wirklich<br />

noch so viele Machos?<br />

Virzí: Das sind vor allem Ängste, die<br />

sich da äußern. Wenn zwischen neun<br />

Männern auf <strong>der</strong> Ebene unterm Vorstand<br />

eine Frau eingestellt wird und alle wissen,<br />

dass in fünf Jahren eine Vakanz im Vorstand<br />

entsteht und die Frau automatisch<br />

in <strong>der</strong> Pole Position steht, dann empfindet<br />

das je<strong>der</strong> einzelne Mann als unfair.<br />

Thorborg: Das heißt aber nicht, dass<br />

Männer ein Auslaufmodell sind. Es gibt<br />

diesen Spruch: „Mit den Lehman Sisters<br />

hätten wir uns die Finanzkrise erspart.“<br />

Frauen und Männer führen zwar unterschiedlich,<br />

aber das ist trotzdem etwas<br />

zu kurz gedacht. Optimal ist es, wenn<br />

ein Unternehmen im Management eine<br />

gute Mischung von Brothers und Sisters<br />

hinbekommt.<br />

Das Gespräch führten LENA BERGMANN<br />

und TIL KNIPPER<br />

82<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


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KAPITAL<br />

Report<br />

DRECKIGE<br />

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Die Bösen waren bisher immer die an<strong>der</strong>en.<br />

Jetzt häufen sich aber auch unter dem Dach<br />

<strong>der</strong> Sparkassen Exzesse, Skandale und Affären,<br />

die ihr Geschäftsmodell gefährden könnten<br />

Von MEIKE SCHREIBER<br />

Illustrationen OTTO<br />

84<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


85<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


KAPITAL<br />

Report<br />

Martin Mihalovits, <strong>der</strong> neue Chef<br />

<strong>der</strong> Sparkasse Miesbach-Tegernsee,<br />

rüstet ab. Die goldene<br />

abstrakte Skulptur ist verschwunden,<br />

ebenso die Landschaftsgemälde – Preziosen<br />

im Wert von mehreren Zehntausend<br />

Euro. Sie schmückten das Büro des<br />

Landrats, Mihalovits Vorgänger hatte sie<br />

dem zur Verfügung gestellt. Nun lagern<br />

sie im Keller <strong>der</strong> Sparkasse und sollen<br />

verkauft werden. „Solche Investitionen<br />

machen wir nicht mehr“, sagt Mihalovits,<br />

45 Jahre, blon<strong>der</strong> Scheitel, feste Stimme.<br />

Für ihn sind die Skulptur und die Bil<strong>der</strong><br />

keine Kunstwerke. Son<strong>der</strong>n Altlasten.<br />

Von denen gibt es viele im Landkreis<br />

Miesbach-Tegernsee, dem wohlhabenden<br />

Postkartenidyll am Fuße <strong>der</strong> bayerischen<br />

Alpen. Denn die lokale Sparkasse steht<br />

im Mittelpunkt eines Skandals, <strong>der</strong> die<br />

scheinbar heile Welt <strong>der</strong> öffentlich-rechtlichen<br />

Kreditinstitute erschüttert. Mihalovits<br />

Vorgänger Georg Bromme hat<br />

jahrelang Spenden und Sponsorengel<strong>der</strong><br />

ausgeschüttet, als gäbe es kein Morgen.<br />

Vereine, Kirchen, Politiker, Verwaltungsräte<br />

– je<strong>der</strong> bekam etwas ab, teils<br />

auch jenseits <strong>der</strong> Kreisgrenzen. Rund<br />

20 000 Euro für einen Schießstand in<br />

Tirol; mehr als 30 000 Euro für die Beerdigung<br />

eines ehemaligen Landrats; fast<br />

200 000 Euro für die Renovierung des<br />

Rathaus-Sitzungssaals einer Gemeinde<br />

des Landkreises sowie Tausende von<br />

Euro für Gelegenheitsgeschenke: Verwaltungsräte<br />

und Vorstände <strong>der</strong> Sparkassen<br />

wurden bedacht, mit Blumensträußen,<br />

Geschenkkörben, Weinpräsenten,<br />

manchmal auch hochwertigem Schreibgerät<br />

und Silberdosen. Ein Anlass fand<br />

sich immer: Geburtstag, Betriebsjubiläum,<br />

Geburt eines Kindes.<br />

Doch so breit Bromme das Geld auch<br />

streute, einer erhielt stets eine Extraportion:<br />

Jakob Kreidl, Landrat und damit<br />

qua Amt Verwaltungsratschef <strong>der</strong> Sparkasse.<br />

Für exakt 293 191,49 Euro, so steht<br />

es im Untersuchungsbericht des bayerischen<br />

Innenministeriums, hübschte die<br />

Sparkasse das Büro des CSU-Politikers<br />

in den Jahren 2008 bis 2010 auf, mit teuren<br />

Möbeln und kostspieligen Gemälden.<br />

Als die Sache an die Öffentlichkeit kam,<br />

wurde Kreidl abgewählt und Bromme<br />

diskret in den Ruhestand geschickt.<br />

Aber <strong>der</strong> Rufschaden bleibt. Und<br />

Bromme-Nachfolger Mihalovits muss<br />

Eigene Exzesse,<br />

Skandale und<br />

Affären haben<br />

die Sparkassen<br />

bisher geschickt<br />

unter den Teppich<br />

gekehrt<br />

dafür sorgen, dass alles wie<strong>der</strong> in Ordnung<br />

kommt. Seit 2011 gehört er dem<br />

Vorstand <strong>der</strong> Sparkasse an, spät genug,<br />

um nicht auch verantwortlich gemacht<br />

zu werden. 2012 übernahm er Brommes<br />

Posten und trat sofort die Flucht nach<br />

vorn an. Er hat den Bericht des Ministeriums<br />

auf die Internetseite <strong>der</strong> Sparkasse<br />

gestellt.<br />

JEDER KANN DORT nachlesen, wie<br />

Bromme mit dem Geld <strong>der</strong> Sparkassen<br />

um sich geschmissen hat. Dass er<br />

dem Landrat nicht nur das Büro für<br />

fast 300 000 Euro aufmöbelte, son<strong>der</strong>n<br />

auch die Party zu dessen 60. Geburtstag<br />

schmiss, die mehr als 100 000 Euro kostete,<br />

ein mobiles WC inklusive. Da fallen<br />

die vielen Reisen kaum noch ins Gewicht,<br />

darunter ein Tirol-Wochenende<br />

mit Landrat Kreidl, 16 Bürgermeistern<br />

des Kreises nebst Partnerinnen, Übernachtung<br />

im Fünf-Sterne-Hotel inklusive.<br />

„Größtmögliche Transparenz“, darum<br />

geht es Mihalovits jetzt.<br />

Transparenz ist in <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong><br />

Sparkassen bisher eher unüblich. Zwar<br />

sprengt <strong>der</strong> Fall Miesbach fast alle Grenzen;<br />

aber er ist das Ergebnis des eigenartigen<br />

Selbstverständnisses des öffentlich-rechtlichen<br />

Bankensektors: Mia san<br />

mia und niemandem verpflichtet – außer<br />

uns selbst.<br />

Spätestens seit <strong>der</strong> Finanzkrise haben<br />

Deutschlands Sparkassen Oberwasser.<br />

Publikumswirksam pflegen sie ihr<br />

Image von <strong>der</strong> lokalen Hausbank, <strong>der</strong>en<br />

Hauptzweck nicht das Erzielen von<br />

Gewinnen ist und die stattdessen das<br />

Allgemeinwohl im Auge hat. Keine Exzesse,<br />

saubere Bilanzen, zufriedene Kunden.<br />

Die Bösen, das sind immer die an<strong>der</strong>en,<br />

sei es die Deutsche Bank, die Wall<br />

Street o<strong>der</strong> die Aufsichtsbehörden. Dass<br />

die zum Sparkassensektor gehörenden<br />

Landesbanken am amerikanischen Häusermarkt<br />

Milliarden verzockten und mit<br />

Steuergeld gerettet werden mussten, haben<br />

die Sparkassen in <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Debatte geschickt wegmo<strong>der</strong>iert. Und<br />

genauso kehren sie die an<strong>der</strong>en Skandale,<br />

Eskapaden und Affären aus dem eigenen<br />

Lager unter den Teppich.<br />

„Die Sparkassen-Organisation hat<br />

ein massives Governance-Problem“,<br />

sagt Heinz Hilgert. Der frühere Bankmanager<br />

kennt sich aus im öffentlichrechtlichen<br />

Bankensektor. Mitte 2008,<br />

auf dem Höhepunkt <strong>der</strong> Krise, wurde er<br />

Chef <strong>der</strong> WestLB, bereits 2009 gab er auf,<br />

entnervt vom Kleinkrieg mit den Sparkassen,<br />

seinen Eigentümern. Er hält es<br />

für problematisch, dass Kommunen und<br />

Sparkassen „wechselseitig verflochten“<br />

und „voneinan<strong>der</strong> abhängig“ seien. Der<br />

Interessenkonflikt ist Teil des Systems:<br />

Ein Kassenloch beim Fußballverein, ein<br />

neuer Brunnen für den Dorfplatz? Da<br />

fragt <strong>der</strong> Bürgermeister schnell mal beim<br />

örtlichen Sparkassendirektor nach, ob<br />

dafür noch Geld in <strong>der</strong> Allgemeinwohlschatulle<br />

<strong>der</strong> Sparkasse ist. Man kennt<br />

sich, man hilft sich, heißt das Motto – und<br />

trifft sich ja auch regelmäßig bei den Sitzungen<br />

des Verwaltungsrats.<br />

In den Städten und Landkreisen haben<br />

sich die Sparkassen damit eine stabile<br />

Machtposition aufgebaut. Mit ihren<br />

244 000 Mitarbeitern gehören die 417 Institute<br />

zu den größten Arbeitgebern des<br />

86<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Landes. Insgesamt ist die Bilanzsumme<br />

aller Sparkassen fast so groß wie die <strong>der</strong><br />

Deutschen Bank.<br />

Dabei ginge es auch an<strong>der</strong>s. So könnten<br />

die Institute ihre Gewinne einfach an<br />

ihre Träger – Kommunen, Landkreise –<br />

ausschütten. Viele von ihnen sind hochverschuldet<br />

und brauchen dringend Geld.<br />

Demokratisch gewählte Instanzen – Gemein<strong>der</strong>at,<br />

Kreistag – könnten für alle<br />

sichtbar entscheiden, wie und wo das<br />

Geld verwendet wird. Aber das wollen<br />

die Sparkassen nicht, denn sie würden<br />

Einfluss verlieren. Und für ihr Leben<br />

gern treten Sparkassenchefs und<br />

Bürgermeister als Gönner auf, wenn sie<br />

Sportvereine, soziale o<strong>der</strong> kulturelle<br />

Einrichtungen unterstützen. Manchmal<br />

funktioniert das nach dem Gießkannenprinzip,<br />

häufig aber nach kaum nachvollziehbaren<br />

Kriterien. Fast immer gilt: Wer<br />

etwas bekommt, entscheiden die Sparkassenoberen<br />

und das Stadtoberhaupt<br />

hinter verschlossenen Türen. Öffentlich<br />

bekannte Regeln für die Spendenvergabe<br />

gibt es nicht. Um rund 500 Millionen<br />

Euro ging es allein 2013. Kritik<br />

an dem klandestinen Proze<strong>der</strong>e ficht<br />

den Deutschen Sparkassen- und Giroverband<br />

nicht an. „Das gemeinwohlorientierte<br />

Engagement unserer Institute<br />

kommt allen Menschen zugute“, kommentiert<br />

Georg Fahrenschon, <strong>der</strong> medienaffine<br />

Verbandspräsident, Ex-Finanzminister<br />

von Bayern.<br />

UND EIN BISSCHEN MIESBACH ist überall.<br />

Bei <strong>der</strong> Sparkasse Düsseldorf etwa<br />

erschlich sich <strong>der</strong> Unternehmer und<br />

Verona-Feldbusch-Gatte Franjo Pooth<br />

mit teuren Geschenken an die Sparkassen-Führung<br />

millionenschwere Kredite.<br />

Dann ging er krachend pleite. Die Sparkasse<br />

Flensburg in Schleswig-Holstein<br />

musste sogar gerettet werden. Ihr Chef<br />

hatte dem Sexkonzern Beate Uhse AG<br />

allzu freigiebig Kredit gewährt. Prominente<br />

Fälle, die für Schlagzeilen sorgen,<br />

aber wohl nur eine Auswahl <strong>der</strong><br />

Exzesse sind.<br />

In Duisburg etwa sollte <strong>der</strong> Sparkassenvorstandschef<br />

satte 65 Prozent seiner<br />

jährlichen Bezüge von 550 000 Euro als<br />

Pension erhalten, 30 000 Euro im Monat<br />

und mehr, als <strong>der</strong> Rheinische Sparkassenverband<br />

empfiehlt. So beschloss es im<br />

vergangenen Jahr <strong>der</strong> Verwaltungsrat, im<br />

Anzeige<br />

CICERO: PLAT T<br />

IN DIESEN EXKLUSIVEN<br />

HOTELS<br />

Brenners Park-Hotel & Spa<br />

Schillerstraße 4 / 6<br />

76530 Baden-Baden<br />

Telefon: 07221 90 00<br />

www.brenners.com<br />

» Ein Grandhotel und Kultur sind unmittelbar miteinan<strong>der</strong><br />

verbunden. Deshalb freue ich mich, mit <strong>Cicero</strong>, dem<br />

Magazin für politische Kultur, unseren Gästen eine beson<strong>der</strong>s<br />

hoch wertige Publikation anbieten zu können.«<br />

Frank Marrenbach, Geschäftsführen<strong>der</strong> Direktor<br />

Diese ausgewählten Hotels bieten <strong>Cicero</strong> als beson<strong>der</strong>en Service:<br />

Bad Doberan/Heiligendamm: Grand Hotel Heiligendamm · Bad Pyrmont: Steigenberger<br />

Hotel Baden-Baden: Brenners Park-Hotel & Spa · Baiersbronn: Hotel Traube Tonbach ·<br />

Bergisch Gladbach: Grandhotel Schloss Bensberg, Schlosshotel Lerbach · Berlin: Brandenburger<br />

Hof, Grand Hotel Esplanade, InterContinental Berlin, Kempinski Hotel Bristol, Hotel<br />

Maritim, The Mandala Hotel, The Mandala Suites, The Regent Berlin, The Ritz-Carlton Hotel,<br />

Savoy Berlin, Sofitel Berlin Kurfürstendamm · Binz/Rügen: Cerês Hotel · Dresden: Hotel<br />

Taschenbergpalais Kempinski · Celle: Fürstenhof Celle · Düsseldorf: InterContinental<br />

Düsseldorf, Hotel Nikko · Eisenach: Hotel auf <strong>der</strong> Wartburg · Ettlingen: Hotel-Restaurant<br />

Erbprinz · Frankfurt a. M.: Steigenberger Frankfurter Hof, Kempinski Hotel Gravenbruch ·<br />

Hamburg: Crowne Plaza Hamburg, Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten, Hotel Atlantic<br />

Kempinski, Madison Hotel Hamburg, Panorama Harburg, Renaissance Hamburg Hotel,<br />

Strandhotel Blankenese · Hannover: Crowne Plaza Hannover · Hinterzarten: Parkhotel<br />

Adler · Keitum/Sylt: Hotel Benen-Diken-Hof Köln: Excelsior Hotel Ernst · Königstein im<br />

Taunus: Falkenstein Grand Kempinski, Villa Rothschild Kempinski · Königswinter: Steigenberger<br />

Grandhotel Petersberg · Konstanz: Steigenberger Inselhotel Magdeburg: Herrenkrug<br />

Parkhotel, Hotel Ratswaage · Mainz: Atrium Hotel Mainz, Hyatt Regency Mainz · München:<br />

King’s Hotel First Class, Le Méridien, Hotel München Palace · Neuhardenberg: Hotel Schloss<br />

Neuhardenberg · Nürnberg: Le Méridien · Rottach-Egern: Park-Hotel Egerner Höfe, Hotel<br />

Bachmair am See, Seehotel Überfahrt · Stuttgart: Le Méridien, Hotel am Schlossgarten ·<br />

Wiesbaden: Nassauer Hof · ITALIEN Tirol bei Meran: Hotel Castel · ÖSTERREICH Wien: Das<br />

Triest · SCHWEIZ Interlaken: Victoria-Jungfrau Grand Hotel & Spa · Lugano: Splendide<br />

Royale · Luzern: Palace Luzern St. Moritz: Kulm Hotel, Suvretta House · Weggis: Post Hotel<br />

Weggis · Zermatt: Boutique Hotel Alex<br />

Möchten auch Sie zu diesem exklusiven Kreis gehören?<br />

Bitte sprechen Sie uns an. E-Mail: hotelservice@cicero.de<br />

REIZ<br />

<strong>Cicero</strong>-Hotel


KAPITAL<br />

Report<br />

Beisein des Duisburger Oberbürgermeisters.<br />

Erst als in <strong>der</strong> Stadt Kritik aufkam,<br />

kassierte die Politik die Entscheidung in<br />

diesem Sommer wie<strong>der</strong> ein.<br />

In Stendal in Sachsen-Anhalt pflegte<br />

<strong>der</strong> örtliche Sparkassenchef jahrelang<br />

und unter den Augen <strong>der</strong> Lokalpolitik<br />

seine Vorliebe für Autos. Mit skurrilen<br />

Folgen: Irgendwann war das Mini-Institut<br />

im Besitz von 40 Dienstfahrzeugen,<br />

darunter ein Oldtimer. Schließlich wurde<br />

<strong>der</strong> Vorstandschef, <strong>der</strong> zudem noch einen<br />

üppigen Weinkeller angelegt hatte,<br />

fristlos entlassen. Dagegen klagt er nun.<br />

In Görwihl in Baden-Württemberg<br />

durfte <strong>der</strong> Bürgermeister, zugleich Chef<br />

des Verwaltungsrats, eigenmächtig die<br />

Spenden verteilen. Bis auffiel, dass <strong>der</strong><br />

Spendenempfänger stets <strong>der</strong> gleiche war:<br />

das örtliche Rote Kreuz. Dessen Vorsitzen<strong>der</strong>:<br />

<strong>der</strong> Bürgermeister.<br />

Doch die Verquickung von Sparkassen<br />

und Lokalpolitik ist nur ein Problem.<br />

Ein an<strong>der</strong>es: „Die fehlende externe Kontrolle“,<br />

wie Kritiker Hilgert sagt. Externe<br />

Wirtschaftsprüfer sucht man bei Sparkassen<br />

zumeist vergeblich, den Bilanzcheck<br />

übernehmen Prüfer des regionalen<br />

Sparkassenverbands. Formal sind diese<br />

Prüfer zwar unabhängig, die mächtigen<br />

Präsidenten des Verbands aber werden<br />

wie<strong>der</strong>um von den Sparkassenvorständen<br />

auf ihre gut dotierten Posten gewählt.<br />

In Miesbach führte das dazu, dass<br />

we<strong>der</strong> die Tirolreise noch die über<br />

100 000 Euro teure Geburtstagssause<br />

für den Landrat im Prüfbericht <strong>der</strong><br />

Sparkasse auftauchten. Der bayerische<br />

Sparkassenverband möchte sich dazu<br />

nicht äußern.<br />

Der Sparkassenverband sagt zu <strong>der</strong><br />

Kritik: „Auch die besten Regeln werden<br />

menschliches Fehlverhalten nicht verhin<strong>der</strong>n<br />

können.“ Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verwaltungsräte<br />

seien zudem in großen Teilen<br />

demokratisch legitimiert, verfügten<br />

also auch über das beson<strong>der</strong>e Vertrauen<br />

<strong>der</strong> Bürgerinnen und Bürger vor Ort.<br />

Aber wie lange noch?<br />

Erst Anfang Juli meldete sich die Monopolkommission,<br />

das unabhängige Beratergremium<br />

<strong>der</strong> Bundesregierung für<br />

Wettbewerbsfragen, mit überraschend<br />

deutlicher Kritik an den Sparkassen<br />

zu Wort. Das Regionalprinzip, wonach<br />

sich Sparkassen über die Grenzen <strong>der</strong><br />

Kommunen hinweg keine Konkurrenz<br />

Die Schuld für<br />

die Krise <strong>der</strong><br />

Sparkassen<br />

sucht <strong>der</strong> Verband<br />

überall,<br />

nur nicht im<br />

eigenen Hause<br />

machen dürfen, sei wettbewerbsrechtlich<br />

bedenklich. Dieses in <strong>der</strong> Sparkassen-<br />

DNA verankerte Prinzip diene „primär<br />

dazu, das Geschäft einzelner Sparkassen<br />

gegen wettbewerbliche Vorstöße von an<strong>der</strong>en<br />

Sparkassen zu schützen und die<br />

Gruppe insgesamt gegen ihre Wettbewerber<br />

abzuschotten“. Schlimmer noch: Die<br />

Kommission for<strong>der</strong>t eine „Beteiligung<br />

Privater an <strong>der</strong> Sparkassengruppe“ – ein<br />

Tabu, seit sich vor Jahren einzelne Bürgermeister<br />

o<strong>der</strong> Landespolitiker vergeblich<br />

daran versucht hatten, ihre Institute<br />

zu verkaufen.<br />

DIE GESETZGEBUNG wird das unabhängige<br />

Gutachten nicht unmittelbar beeinflussen,<br />

bei <strong>der</strong> traditionell sparkassenkritischen<br />

EU-Kommission aber wird<br />

man die Studie ganz genau lesen. Kein<br />

Wun<strong>der</strong>, dass <strong>der</strong> Sparkassenverband sogleich<br />

zurückkeilte und das Gutachten<br />

als „rechtlich und ökonomisch falsch“<br />

bezeichnete. Klar ist aber: Für die Sparkassen<br />

sind die fetten Jahre vorbei. Zwar<br />

stieg <strong>der</strong> Gewinn <strong>der</strong> Gruppe 2013 noch<br />

leicht an auf rund 2,1 Milliarden Euro.<br />

Aber <strong>der</strong> für den Gesamtertrag wichtige<br />

Zinsüberschuss schrumpfte bereits zum<br />

dritten Mal in Folge.<br />

Die Schuld dafür sucht <strong>der</strong> Verband<br />

aber wie<strong>der</strong> überall, nur nicht im eigenen<br />

Hause. Aktueller Lieblingsgegner ist die<br />

Europäische Zentralbank mit ihrer Niedrigzinspolitik.<br />

Die trifft die Sparkassen<br />

beson<strong>der</strong>s heftig, weil sie vielerorts mehr<br />

Kundengel<strong>der</strong> annehmen, als sie Kredite<br />

vergeben können, vor allem in strukturschwachen<br />

Regionen. Diesen sogenannten<br />

Einlagenüberhang von gut 100 Milliarden<br />

Euro müssen sie am Kapitalmarkt<br />

anlegen – genau dort, wo ohne höhere Risiken<br />

nicht mehr viel zu holen ist.<br />

Karsten Junge, Bankenexperte <strong>der</strong><br />

Beratungsfirma Consileon, sagt: „Die<br />

Sparkassen hangeln sich nur noch so<br />

durch. Aber die digitalen Angreifer nehmen<br />

ihnen Marktanteile weg.“ Und das<br />

alles bei enorm schwerfälligen Entscheidungswegen,<br />

<strong>der</strong> teuren, viel zu dichten<br />

Filial- und Verbandsstruktur mit elf<br />

Regionalverbänden und ebenso vielen<br />

Sparkassenakademien. „Die Gewinne<br />

sinken, die Kosten steigen“, schreiben zudem<br />

die Analysten des nie<strong>der</strong>ländischen<br />

Researchhauses SNL in einer gerade erschienenen<br />

Studie über Deutschlands<br />

Sparkassen. Die Zahlen <strong>der</strong> untersuchten<br />

Häuser seien „ziemlich enttäuschend“.<br />

Noch dramatischer klingt die Prognose<br />

<strong>der</strong> Beratungsfirma 4P-Consulting.<br />

Sie glaubt, dass bis 2018 nur noch 35 Prozent<br />

<strong>der</strong> Sparkassen eine wettbewerbsfähige<br />

Kosten-Ertrags-Relation vorweisen<br />

können. Der Sparkassenverband sieht<br />

das ganz an<strong>der</strong>s – dabei waren es sogar<br />

einige Sparkassen, die die Studie in Auftrag<br />

gegeben haben.<br />

Auch Bankenexperte Junge zeichnet<br />

ein düsteres Zukunftsszenario.<br />

Wenn erst einmal die Konjunktur wie<strong>der</strong><br />

schwächele und die Kreditausfälle<br />

stiegen, „dann haben wir alle Zutaten<br />

für den perfekten Sturm zusammen“.<br />

MEIKE SCHREIBER berichtet<br />

schon seit Jahren über den<br />

Sparkassensektor und beobachtet<br />

in letzter Zeit eine zunehmende<br />

Wagenburgmentalität<br />

Foto: Privat<br />

88<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


STIL<br />

„ Denken blockiert<br />

einen auch beim<br />

Spielen, in <strong>der</strong> Freiheit,<br />

in diesem Moment,<br />

wo man alles zulassen<br />

soll. Kostüm, Maske,<br />

Perücke, das hilft “<br />

Die Schauspielerin Hannah Herzsprung in <strong>der</strong> Rubrik<br />

„Warum ich trage, was ich trage“, Seite 100<br />

89<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


STIL<br />

Porträt<br />

WINZERS GLÜCK<br />

Eine Zweitkarriere als Winzer ist ein typischer Männertraum. Der Medienanwalt<br />

Horst Hummel hat ihn umgesetzt. Und hat Erfolg mit seinen ungarischen Rotweinen<br />

Von KENO VERSECK<br />

Foto: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong><br />

Es kommt vor, dass <strong>der</strong> Berliner Medienanwalt<br />

Horst Hummel noch<br />

mit einem Mandanten telefoniert,<br />

während er in seinem Gutshaus in einem<br />

abgelegenen südungarischen Dorf,<br />

in einer grandios unaufgeräumten Küche<br />

voller Weinflaschen, frischer Kräutersträuße<br />

und Unmengen an Kochutensilien<br />

ein selbst erdachtes Sternemenü<br />

zubereitet. Zum Beispiel: „Gänseleber<br />

mit karamellisierten Birnenscheiben,<br />

Consommé vom Fasan mit Wurzelgemüsejulienne,<br />

Coq au vin vom ungarischen<br />

Dorfgockel, Käse“. „Auskocherei<br />

Hummel“ nennt er diese Bewirtung von<br />

Gästen, nach dem österreichischen Wort<br />

für Suppenküche.<br />

Hummel, 54 Jahre alt, ist im zweiten<br />

Hauptberuf autodidaktischer Winzer,<br />

<strong>der</strong> es mit einer Mischung aus Bodenständigkeit,<br />

Träumerei und Kreativität geschafft<br />

hat, in Ungarns kleinem Weingebiet<br />

Villány außergewöhnliche Weine<br />

zu erzeugen, vor allem Rot-, aber auch<br />

Weiß- und Roséweine. Fast alle gehören<br />

zur Spitzenklasse, wie Kritiker urteilen:<br />

Stuart Pigott („Planet Wein“, „Wein weit<br />

weg“) spricht von „pannonischer Pracht“,<br />

das Magazin Weinwisser lobt Hummels<br />

Weine als „eigen- und feinsinnig, mit<br />

Schliff und echter Vitalität“, und Captain<br />

Cork, eines <strong>der</strong> wichtigsten Wein-<br />

Portale im Netz, wählte Horst Hummel<br />

2011 zum „Winzer des Jahres“.<br />

Das ist viel für einen, <strong>der</strong> sich zwar<br />

schon als junger Mann für Wein interessierte,<br />

auch mal französische Weingüter<br />

bereiste, aber eigentlich nie Winzer<br />

werden wollte. Geboren 1960 in einer<br />

donauschwäbischen Familie – die Eltern<br />

waren nach dem Krieg aus dem serbischen<br />

Banat ausgewan<strong>der</strong>t –, wuchs<br />

Horst Hummel in einem schwäbischen<br />

Dorf auf und lebte ein geradlinig-handfestes<br />

Leben: Abitur und Zivildienst in<br />

Reutlingen, Jura-Studium in Tübingen,<br />

1992 Anstellung in einer bekannten<br />

Berliner Anwaltskanzlei für Urheberrecht.<br />

Seine Karriere war vielversprechend.<br />

Doch 1995 warf er sie hin. „Ich<br />

sollte Partner <strong>der</strong> Kanzlei werden“, erzählt<br />

Hummel. „Das hätte bedeutet,<br />

mich ganz <strong>der</strong> Arbeit zu widmen. Ich<br />

wollte aber ein gewisses Maß an Freiheit<br />

behalten.“<br />

Hummel arbeitete nur noch begrenzt<br />

als Anwalt, begann zu schreiben, Gedichte,<br />

Essays, und zu reisen, nach Serbien<br />

in die Gegend seiner Vorfahren, wo<br />

sein Urgroßvater Josef Müller, noch zu<br />

K.-u.-k.-Zeiten, Winzer gewesen war,<br />

auch nach Ungarn, wo er Weine entdeckte,<br />

<strong>der</strong>en Qualität ihn angesichts<br />

des eher zweifelhaften Rufes zeitgenössischer<br />

ungarischer Weinkultur verblüffte.<br />

1997 verkostete er in <strong>der</strong> mittelungarischen<br />

Donaukleinstadt Paks, dem<br />

Standort des einzigen ungarischen Atomkraftwerks,<br />

gerade einen Zweigelt, als<br />

ihn sein Gastgeber fragte, ob er nicht<br />

gleich den dazugehörigen Weinberg kaufen<br />

wolle. Hummel wollte nicht – aber <strong>der</strong><br />

Gedanke, selbst Wein zu machen, ließ<br />

ihn nun nicht mehr los.<br />

ER WÄLZTE MONATELANG Literatur über<br />

ungarischen Weinbau, unternahm Recherchereisen<br />

und war schließlich, im<br />

Frühjahr 1998, um fast alle Ersparnisse<br />

erleichtert, Besitzer von sieben Hektar<br />

Rebfläche in Villány, Ungarns bestem<br />

Weinbaugebiet. Villány ist ein Ort mit<br />

2500 Einwohnern, mit gerade einmal<br />

2000 Hektar Rebfläche. Vor dem Zweiten<br />

Weltkrieg gehörten manche <strong>der</strong> dortigen<br />

Rotweine zu den besten, die Europa<br />

zu bieten hatte. Dann kam <strong>der</strong> Kommunismus<br />

und mit ihm die Zeit von Stierblut<br />

und Mädchentraube – Weine, die<br />

genauso schmeckten wie ihr Name. Seit<br />

dem Ende <strong>der</strong> Diktatur vor einem Vierteljahrhun<strong>der</strong>t<br />

versucht eine neue Generation<br />

von Winzern, vor allem auch in<br />

Villány, an die Qualität von einst anzuknüpfen.<br />

Unter diesen neuen Winzern<br />

ist Horst Hummel zweifellos <strong>der</strong> Exot –<br />

nicht nur, weil er kein Ungar ist, immer<br />

noch als Anwalt arbeitet und zwischen<br />

Berlin und Villány pendelt.<br />

Er macht – natürlich – ausschließlich<br />

Terroir-Weine. Natürlich ist die so<br />

modische Philosophie des Terroir nicht<br />

erst mit ihm in Villány angekommen.<br />

Aber kaum jemand setzt sie so ernsthaft<br />

und konsequent um wie Hummel: Er beschneidet<br />

seine Reben radikal, verwendet<br />

keinen Kunstdünger, ist zertifizierter<br />

Bio-Weinbauer. Er benutzt keine Zuchthefen,<br />

son<strong>der</strong>n lässt seine Weine spontan<br />

vergären. Und: Sie reifen nur in alten, gebrauchten<br />

Eichenfässern, damit sie nicht<br />

aufdringlich nach Barrique schmecken.<br />

Den Wein „nicht auf Ästhetik trimmen,<br />

son<strong>der</strong>n ihm beim Werden helfen“, nennt<br />

Hummel das.<br />

Voriges Jahr wurde er als bisher einziger<br />

Nichtungar in den Villányer Weinorden,<br />

den kleinen Traditionsclub <strong>der</strong><br />

Villányer Winzer, aufgenommen.<br />

Auch Hummels Weine erhalten in<br />

Ungarn regelmäßig Auszeichnungen. Natürlich<br />

freut er sich über die vielen Goldund<br />

Silbermedaillen. In seinem Gutshaus<br />

in Villány o<strong>der</strong> auch in seiner Berliner<br />

Wohnung könnte er Wände mit Urkunden<br />

behängen. Er hängt lieber abstrakte<br />

Gemälde auf. „Weinwettbewerbe und<br />

Justiz haben eines gemeinsam“, sagt <strong>der</strong><br />

Winzer-Anwalt, „sie sind ein bisschen<br />

wie ein Lottospiel.“<br />

KENO VERSECK schreibt als freier Autor über<br />

Politik- und Wirtschaftsthemen in Ost europa.<br />

Er hofft, dass Wein bald wie<strong>der</strong> einen größeren<br />

ungarischen Wirtschaftsfaktor darstellt<br />

91<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


STIL<br />

Report<br />

DIE HOMESTORY<br />

Foto: Carlos Chavarria<br />

92<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Von JUDITH LUIG<br />

Am Anfang waren es drei Luftmatratzen,<br />

inzwischen kann man über die Website<br />

von Airbnb über 600 000 private<br />

Unterkünfte buchen. Das Start-up ist dabei,<br />

das Reiseverhalten zu verän<strong>der</strong>n, die<br />

Hotelindustrie fühlt sich bedroht<br />

Blick ins Atrium <strong>der</strong> Firmenzentrale von Airbnb<br />

in San Francisco. Hier arbeiten mehr als<br />

200 Angestellte auf fast 700 Quadratmetern<br />

93<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


STIL<br />

Report<br />

Der Gastgeber und sein Gast:<br />

Marco Giammatteo vermietet<br />

über Airbnb ein Zimmer seiner<br />

Wohnung in Rom. Besucher<br />

führt er regelmäßig zum kleinen<br />

Markt seines Bezirks Regola.<br />

Auch Kochen bedeutet Gastfreundschaft:<br />

Spontane Abendessen<br />

auf <strong>der</strong> Terrasse ergeben<br />

sich fast immer<br />

Stellen Sie sich vor, Sie fahren in den<br />

Urlaub und kommen nach Hause.<br />

Okay, nicht in Ihr Zuhause. Aber<br />

in das von jemand an<strong>der</strong>em, einem wildfremden<br />

Menschen, in dessen freiem Zimmer<br />

o<strong>der</strong> dessen Bett Sie schlafen. Vielleicht<br />

lädt er Sie am Abend zu einem Glas<br />

Wein auf seiner Couch ein und erzählt<br />

Ihnen etwas über das Viertel, in dem er<br />

lebt, vielleicht macht er Ihnen am nächsten<br />

Morgen Frühstück. Das ist das Konzept<br />

des Internet-Buchungsportals Airbnb.<br />

„Entdecke die Welt, mit je<strong>der</strong> Reise<br />

ein bisschen mehr“, mit diesem Satz<br />

wirbt Airbnb um Kunden. Kein Pauschaltourismus<br />

in <strong>der</strong> weltweiten Luxuskette,<br />

son<strong>der</strong>n radikal individuelles Reisen in<br />

Wohnungen, die so unterschiedlich sind<br />

wie die Menschen, die in ihnen leben.<br />

Statt Standards Überraschungen. Statt<br />

Personal Bewohner.<br />

Bei Airbnb kann man Stockbetten<br />

in Gemeinschaftszimmern schon von<br />

15 Euro an buchen, man findet ausgeklappte<br />

Sofas von Rio bis Rügen. Kontaktfreudige<br />

Gastgeber werden mit<br />

Alleinreisenden vernetzt, die ebenfalls Gesellschaft<br />

suchen. O<strong>der</strong> man bucht gleich<br />

eine ganze Unterkunft: Die Miniwohnung<br />

am Prenzlauer Berg ist für 38 Euro pro<br />

Nacht zu haben, für ein New Yorker Loft<br />

muss man mindestens 250 Dollar zahlen.<br />

Es gibt Landhäuser, Villen und Wohnwagen<br />

in allen preislichen Kategorien, mit<br />

o<strong>der</strong> ohne Gastgeberkontakt. Es kann allerdings<br />

vorkommen, dass man während<br />

eines Aufenthalts eine Katze füttern o<strong>der</strong><br />

Blumen gießen muss. Gemeinsam ist all<br />

den 600 000 Räumlichkeiten in aller Welt,<br />

die auf airbnb.com zur Miete angeboten<br />

werden, nur eins: Im Alltag werden sie<br />

von jemandem bewohnt.<br />

Utopien sind die Voraussetzung für<br />

den Erfolg von Start-up-Unternehmen.<br />

Sie gehören zur Grün<strong>der</strong>legende, die<br />

zur Inspiration von Kunden und Mitarbeitern<br />

erzählt wird. Im Fall des Buchungsportals<br />

geht sie so: Der Vermieter<br />

von Brian Chesky und Joe Gebbia<br />

erhöhte eines Tages die Miete dramatisch.<br />

Die beiden ehemaligen Design-Studenten<br />

konnten sich ihre WG in San Francisco<br />

nicht mehr leisten. Doch da sie wussten,<br />

dass gerade eine große Design-Messe anstand,<br />

bei <strong>der</strong> die Hotels <strong>der</strong> Stadt chronisch<br />

ausgebucht waren, kamen sie auf<br />

eine Idee: Sie kauften drei Luftmatratzen,<br />

legten sie auf dem Boden im Wohnzimmer<br />

aus und warben um Übernachtungsgäste<br />

mit einer Webseite, die ihr Freund<br />

Nathan Blecharczyk für sie baute.<br />

Die beiden hatten Leute in ihrem<br />

Alter erwartet, Studenten, Berufsanfänger,<br />

Mitte zwanzig vielleicht. Stattdessen<br />

94<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Fotos: Ailine Liefeld (5), Airbnb (2)<br />

kamen eine 35 Jahre alte Frau aus Boston,<br />

ein vierfacher Familienvater aus<br />

Utah und ein Mann, <strong>der</strong> aus Indien zur<br />

Messe angereist war. „Brian und Joe haben<br />

den dreien nicht nur eine Unterkunft<br />

gegeben“, erzählt Nathan Blecharczyk,<br />

„sie haben ihnen auch die Stadt gezeigt.<br />

Selbst die Messe besuchte man schließlich<br />

gemeinsam. Nach dem Wochenende<br />

hatten sich alle angefreundet.“<br />

Heute kann man die drei Grün<strong>der</strong><br />

in <strong>der</strong> Lobby <strong>der</strong> Zentrale von Airbnb<br />

auf einem Foto bewun<strong>der</strong>n. Als sie ihren<br />

ersten Gästen zum Abschied zugewunken<br />

hatten, wussten sie: „Hier steckt eine<br />

große Idee drin.“<br />

Die Grün<strong>der</strong> von Airbnb haben klug<br />

gewählt. Der Tourismus ist eine gigantische<br />

Industrie, die immer noch wächst.<br />

Europäer und Amerikaner sind längst<br />

überall, mehr und mehr reisen auch Chinesen<br />

und In<strong>der</strong> durch die Welt. Trotzdem<br />

– kaum jemand habe anfänglich an<br />

die Idee geglaubt, betonen die Grün<strong>der</strong><br />

gerne.<br />

Und dass man sich nie fragen dürfe,<br />

wie viel man verkaufe o<strong>der</strong> wie viel Geld<br />

man machen könne. Spricht man mit Mitarbeitern<br />

von Airbnb, hört man einen<br />

Satz immer wie<strong>der</strong>: „100 Menschen, die<br />

dich lieben, sind besser als eine Million<br />

Menschen, die dich mögen.“<br />

Die Anfänge dieser Liebesbeziehung<br />

waren bescheiden. Ursprünglich hieß die<br />

Seite „Airbedandbreakfast“: Luftmatratze<br />

und Frühstück, eine Anspielung<br />

darauf, dass man eine noch kostengünstigere<br />

Variante zu dem ohnehin eher preiswerten<br />

Konzept einer Pension – englisch<br />

Bed and Breakfast – sein wollte. Das Portal<br />

hatte drei Gastgeber, die Grün<strong>der</strong>-WG<br />

mitgerechnet. Viel mehr als ein Bett, ein<br />

Sofa o<strong>der</strong> eine Luftmatratze konnte man<br />

nicht erwarten.<br />

DOCH DIE GRÜNDER haben sich schnell<br />

eine Gemeinde geschaffen. Sie pendelten<br />

zwischen New York und San Francisco,<br />

trafen Menschen, schauten sich Wohnungen<br />

an, machten Fotos für die Webseite<br />

und hörten zu, welche Ideen die an<strong>der</strong>en<br />

hatten. „Iss dein eigenes Hundefutter“,<br />

sagt Blecharczyk und übersetzt es sicherheitshalber<br />

gleich: „Die Erlebnisse, die<br />

Airbnb einem ermöglicht, müssen wir natürlich<br />

in‐ und auswendig kennen. Deswegen<br />

bekommen unsere Mitarbeiter auch<br />

Die ehemaligen WG-Bewohner<br />

und Airbnb-Grün<strong>der</strong> Brian Chesky,<br />

Nathan Blecharczyk und Joe<br />

Gebbia ( von links ) müssen heute<br />

nicht mehr darüber nachdenken,<br />

wie sie ihre Miete zahlen können:<br />

Was mit drei Luftmatratzen im<br />

Apartment rechts begann, wurde<br />

zum riesigen Onlineportal für die<br />

Vermittlung von 600 000 privaten<br />

Zimmern und Wohnungen<br />

jedes Jahr einen Gutschein über 2000 US-<br />

Dollar, um mit Airbnb zu reisen.“<br />

Die Idee hat einen Nerv getroffen:<br />

Zu den drei Luftmatratzen in einer Wohnung<br />

in San Francisco sind innerhalb<br />

von sechs Jahren neben Hun<strong>der</strong>ttausenden<br />

von Wohnungen 17 000 Villen,<br />

4000 Hütten, 640 Schlösser, 1400 Hausboote<br />

und 300 Baumhäuser dazugekommen.<br />

Airbnb-Gastgeber sind in<br />

34 000 Städten in 190 Län<strong>der</strong>n zu Hause.<br />

Nur in Nordkorea und auf Kuba gibt es<br />

keine Listings – aus rechtlichen Gründen.<br />

Eine <strong>der</strong> exotischsten Unterkünfte<br />

ist die Villa des Ex-Fußballers Ronaldinho:<br />

Während <strong>der</strong> Weltmeisterschaft in<br />

Brasilien konnte man sie für 11 334 Euro<br />

pro Nacht bewohnen.<br />

„Der Tourismus ist nach dem Ableben<br />

von Faschismus, Kommunismus und<br />

in <strong>der</strong> Krise des Kapitalismus zu einer<br />

weltumspannenden Ideologie geworden,<br />

die Araber und Israeli ebenso eint wie<br />

Chinesen und Europäer“, schreibt <strong>der</strong><br />

Journalist Dirk Schümer in seinem gerade<br />

bei Hanser erschienenen Buch<br />

„Touristen sind immer die an<strong>der</strong>en“. Der<br />

Reisende suche gar nicht das große Abenteuer,<br />

son<strong>der</strong>n vielmehr „Authentizität,<br />

Überschaubarkeit, Idylle und Verdaulichkeit“.<br />

Schümer erwähnt Airbnb<br />

nicht, aber was er zur aktuell größten<br />

Sehnsucht <strong>der</strong> Reisenden erklärt, passt<br />

zum Versprechen von Airbnb. „Alle wollen<br />

abseits <strong>der</strong> ausgetretenen Pfade marschieren,<br />

obwohl sie doch auf dem breiten<br />

Trampelpfad unterwegs sind. Je<strong>der</strong><br />

möchte hinterher von einem Geheimtipp<br />

95<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


STIL<br />

Report<br />

erzählen, von <strong>der</strong> exklusiven Anteilnahme<br />

an einem authentischen Alltag<br />

Eingeborener.“ Das Kapitel, das Schümer<br />

den klassischen Übernachtungsmöglichkeiten<br />

von Reisenden widmet, überschreibt<br />

er übrigens mit: „Zu Gast bei<br />

Feinden – im Hotel.“<br />

Die Philosophie von Airbnb hingegen<br />

ist, dass man überall auf <strong>der</strong> Welt<br />

Freunde hat. Das Unternehmen ist Vorreiter<br />

<strong>der</strong> Sharing Economy, die glaubt,<br />

je mehr wir untereinan<strong>der</strong> unsere Güter<br />

teilen, desto mehr erhöht sich <strong>der</strong> allgemeine<br />

Wohlstand. Über Internet teilt die<br />

Mittelklasse längst alles Mögliche miteinan<strong>der</strong>:<br />

Autos, Rä<strong>der</strong>, Boote, Werkzeug,<br />

Bücher, ja sogar Klei<strong>der</strong>. Immer geht es<br />

bei Modellen <strong>der</strong> Sharing Economy darum,<br />

Kosten zu sparen und Ressourcen<br />

nicht ungenutzt zu lassen.<br />

Vor knapp einem Jahr ist das Unternehmen<br />

in sein viertes Zuhause in San<br />

Francisco gezogen. Die Eingangshalle<br />

wirkt gigantisch: Ein lichtdurchflutetes<br />

1<br />

2<br />

Alternativen zum Hotel auf<br />

Airbnb.com: Kingsize-Bett<br />

in einer Altbauwohnung in<br />

Krakau (1), Pariser Gemütlichkeit<br />

mit Schaukelstuhl (2),<br />

Platz für lange Abendessen<br />

und ein einladendes Bücherregal<br />

in Barcelona (3), die Villa von<br />

Ex-Fußballer Ronaldinho in<br />

Rio (4) und für Camping-Fans<br />

ein Airstream-Wohnwagen<br />

in Südspanien (5)<br />

Atrium mit viel Glas und Weiß. Auf den<br />

Zauber des privaten Wohnraums setzt<br />

Airbnb auch in seinen Arbeitsräumen:<br />

Die Meeting-Räume sind ausstaffiert mit<br />

leicht in die Jahre gekommenen Sofas, die<br />

das Äquivalent zum Tischfußball des ersten<br />

digitalen Booms sind. An den Wänden<br />

hängen Fotos von Bekannten und Mitarbeitern.<br />

Freitags gibt es Pizza und Bier<br />

und die Gäste sind alle irgendwie miteinan<strong>der</strong><br />

befreundet o<strong>der</strong> tun zumindest so<br />

als ob. Die Start-up-Szene in Silicon Valley<br />

pflegt ihr Stanford-Studenten-Image.<br />

Wer bei Airbnb anfangen will, muss 14 Interviews<br />

bestehen. Eine Frage daraus ist:<br />

„Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie glücklich<br />

bist du?“<br />

Lisa Dubost, Leiterin International<br />

Affairs, strahlt eine 10 aus, mindestens.<br />

Mit Begeisterung präsentiert sie die Konferenzräume:<br />

Küchen, Wohnzimmer, Arbeitszimmer,<br />

je<strong>der</strong> Raum präsentiert sich<br />

im eigenen Stil. Es gibt nordischen Minimalismus,<br />

französische Opulenz, tiefe<br />

amerikanische Le<strong>der</strong>sofas in einer dunklen<br />

Ostküstenbibliothek und dann wie<strong>der</strong><br />

filigrane italienische Designermöbel.<br />

„Modell für unsere Konferenzräume<br />

standen Wohnräume von Gastgebern“,<br />

erklärt Dubost. Einer <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> hat<br />

mal erzählt, wie Berliner Flohmärkte<br />

abgeklappert wurden, nur um ein Double<br />

des alten Sofas in einem <strong>der</strong> Berliner<br />

Listings zu finden. Natürlich hat Airbnb<br />

auch klassische Großraumbüros, doch<br />

für Besprechungen, Pausen und kreative<br />

3<br />

4<br />

5<br />

96<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Fotos: Airbnb (4), Leslie Williamson, Martin Lengemann (Autorin)<br />

„Der Reisende<br />

sucht nicht das große<br />

Abenteuer, son<strong>der</strong>n<br />

Authentizität, Überschaubarkeit,<br />

Idylle<br />

und Verdaulichkeit“<br />

Dirk Schümer, Autor<br />

Momente dienen nachgebaute Lieblingsräume<br />

aus aller Welt.<br />

Die Grün<strong>der</strong> verwendeten nicht nur<br />

Listings als Vorbil<strong>der</strong> für ihre neuen<br />

Büroräume. Gerade wird in „Dr Strangelove“<br />

ein potenzieller neuer Mitarbeiter<br />

interviewt, <strong>der</strong> Raum ist eine Nachbildung<br />

<strong>der</strong> Filmkulisse. Im „Nerds-Room“,<br />

einem Zimmer, das aussieht, als könnte<br />

man unter den Chaos-Schichten aus technischem<br />

Spielzeug und Klei<strong>der</strong>n einen<br />

Teenager ausgraben, treffen sich Techies<br />

zum Ideenaustausch.<br />

Im Prinzip hat man bei Airbnb<br />

schon immer in Wohnungen gearbeitet.<br />

Das erste Büro war die WG von<br />

Brian Chesky und Joe Gebbia, bestehend<br />

aus drei Schlafzimmern und einem<br />

Wohnzimmer. Da <strong>der</strong> Platz für die<br />

bald 18 Mitarbeiter knapp bemessen<br />

war, fanden Konferenzen im Treppenhaus<br />

statt, für Interviews schloss man<br />

sich im Bad ein.<br />

DAS ARBEITEN IN Wohnatmosphäre<br />

passt zur Start-up-Szene. Privates, Öffentliches<br />

und Berufliches zerfließen<br />

hier zu einem Vorgang. Im Silicon Valley<br />

sagt kaum jemand „Office“ zu seinem<br />

Arbeitsplatz. Überall ist vom „Campus“<br />

die Rede, so als sei man noch an<br />

<strong>der</strong> Universität. Das hat den positiven<br />

Effekt, dass Arbeitnehmer sich so fühlen,<br />

als lernten sie hier mehr als dass<br />

sie arbeiten.<br />

Bei Airbnb wird das Essen in verschiedenen<br />

Küchen und Restaurants zubereitet,<br />

es gibt zwar kein Bällebad wie<br />

bei Google, aber dafür Yoga. Reinigungen<br />

und Schuster arbeiten so eng mit <strong>der</strong><br />

Tech-Branche zusammen, dass die meisten<br />

Mitarbeiter in ihrem eigenen Zuhause<br />

nur noch schlafen. Der negative Effekt<br />

liegt auf <strong>der</strong> Hand: Die Mitarbeiter leben<br />

zunehmend isoliert. Das Geld, das<br />

sie verdienen, tragen sie nicht mehr in<br />

die Viertel, in denen sie leben. Wer kauft<br />

schon beim Bäcker um die Ecke, wenn er<br />

morgens im firmeneigenen Shuttle-Bus<br />

mit Brötchen versorgt wird?<br />

Auf <strong>der</strong> Webseite des Portals sammelt<br />

Airbnb begeisterte Geschichten<br />

von Gästen und Gastgebern. Je<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

teilnimmt, kann hier jeden beurteilen –<br />

Transparenz ist alles. So kann man sich<br />

als Benutzer ein ziemlich deutliches Bild<br />

davon machen, was einen als Reisen<strong>der</strong><br />

erwartet. Doch natürlich gibt es längst<br />

auch Schreckensgeschichten, die nur in<br />

<strong>der</strong> Presse auftauchen: Der Fall eines<br />

Gastgebers etwa, dem die Wohnung auseinan<strong>der</strong>genommen<br />

wurde, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> einer<br />

Filmcrew, die ein Apartment für den<br />

Dreh eines Softpornos gemietet hatte.<br />

Vermieter ärgern sich längst darüber,<br />

dass ihre Mieter aus den Wohnungen<br />

zusätzliches Geld machen, einigen<br />

wurde mit Kündigungen gedroht. Auch<br />

viele Hotels in den 34 000 Städten beäugen<br />

den Newcomer skeptisch. Auflagen<br />

und Abgaben, zum Beispiel die Mehrwertsteuer<br />

o<strong>der</strong> Hygieneanfor<strong>der</strong>ungen,<br />

die Hotels leisten, gelten nicht für die<br />

private Vermietung auf Zeit.<br />

In New York befürchtete <strong>der</strong> Generalstaatsanwalt<br />

jüngst einen Missbrauch<br />

von Sozialwohnungen und verklagte<br />

Airbnb auf die Herausgabe von Daten<br />

über die Vermieter. Airbnb gewann.<br />

Im Berliner Büro zeigt man sich<br />

nicht beunruhigt von eventuellen<br />

Maßnahmen <strong>der</strong> Hotelindustrie. „Wir<br />

nehmen den Hotels nichts weg“, sagt<br />

Christopher Ce<strong>der</strong>skog, <strong>der</strong> Regional<br />

Manager, „unsere Listings liegen nicht<br />

in den klassischen Touristenbezirken,<br />

und wir ermöglichen eine ganz an<strong>der</strong>e<br />

Art zu reisen. Wir sehen uns da nicht<br />

als Konkurrenz. Im Gegenteil: Wir bereichern<br />

den Tourismus.“<br />

100 Menschen, die sie lieben, hat<br />

Airbnb auf jeden Fall längst gewonnen.<br />

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97<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


STIL<br />

Pro und Contra<br />

FERNSEHSERIE MIT<br />

Trägt „Breaking Bad“ eine Mitschuld<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Das zuerst: „Breaking Bad“ hat Maßstäbe<br />

<strong>der</strong> Serienfilmkunst gesetzt. Die Dialoge,<br />

die Szenen, <strong>der</strong> Aufbau des Plots – die<br />

Geschichte um den Weg des krebskranken und<br />

insolventen Chemielehrers Walter White zum Crystal-<br />

Meth-Kocher und Drogenpaten Heisenberg ist ein Meisterwerk,<br />

weit mehr als nur unterhaltende Action, son<strong>der</strong>n<br />

gleichzeitig ein pathologisierendes Psychogramm<br />

<strong>der</strong> USA, ihrer Sozialsysteme, ein Vexierspiel von Gut<br />

und Böse, ein Lehrstück menschlicher Abgründe hinter<br />

den bie<strong>der</strong>en Fassaden des amerikanischen Spießbürgertums.<br />

Allein die Szene, in <strong>der</strong> Walter White als Gelegenheitsjobber<br />

einem schnöseligen Schüler an <strong>der</strong> Tankstelle<br />

die Glitzerfelgen putzen muss,<br />

verdient einen Filmpreis. Die Serie<br />

ist voller solcher Szenen.<br />

Aber gerade weil „Breaking<br />

Bad“ so großartig ist, ist es so<br />

gefährlich. Denn die Serie<br />

verherrlicht und verharmlost<br />

durch ihre Brillanz<br />

die Modedroge Crystal<br />

Meth, die in Europa<br />

auf dem Vormarsch<br />

ist und die jetzt über<br />

den Fall des SPD-Politikers<br />

Michael Hartmann<br />

auch den Bundestag<br />

erreicht hat.<br />

Der kristalline Stoff, den<br />

<strong>der</strong> Perfektionist White wie<br />

kein zweiter Drogenkocher herzustellen<br />

imstande ist, wird zum<br />

Lustobjekt. Die Ästhetisierung von<br />

Whites Kochkunst, die Hochachtung, ja die Ehrfurcht,<br />

die die Zwischenhändler diesen konkurrenzlos großen,<br />

glasscherbengleichen Kristallen entgegenbringen, die<br />

Coolness von Whites Kompagnon und einstigem Hängerschüler<br />

weckt die Lust, das Methamphetamin einmal<br />

auszuprobieren.<br />

„Breaking Bad“ ist weit davon entfernt, ein<br />

Aufklärungsfilm über die physisch und psychisch<br />

zerstörerische Wirkung dieser synthetischen<br />

Droge zu sein. „Breaking Bad“ ästhetisiert<br />

dieses Nervengift. Wer die Serie je mit Teenagern<br />

angeschaut hat, die gerade eine Lebensphase<br />

durchlaufen, in <strong>der</strong> sie Drogen ausprobieren<br />

wollen, kann zu keinem an<strong>der</strong>en Ergebnis kommen.<br />

Fasziniert-interessierte Fragen sind die unmittelbare<br />

Folge. Mindestens.<br />

Deshalb ist es nicht weit hergeholt zu sagen:<br />

„Breaking Bad“ hat den Siegeszug von Crsytal Meth<br />

vielleicht nicht begründet, ist nicht schuld daran. Aber<br />

die Serie hat dazu maßgeblich beigetragen, das Faszinosum<br />

einer Drogenwelt rund um Crystal Meth zu<br />

begründen. Die Gefahr besteht bei<br />

dem Sujet immer. Selbst bei einem<br />

Film wie „Wir Kin<strong>der</strong> vom Bahnhof<br />

Zoo“ war das so. Er war als<br />

Aufklärungs- und Abschreckungsfilm<br />

gedacht und hat<br />

dennoch teilweise das Gegenteil<br />

bewirkt.<br />

Kunst, auch Filmkunst,<br />

hat keine<br />

zwingend pädagogische<br />

Aufgabe. Sie<br />

ist keine moralische<br />

Anstalt, wie es das Theater<br />

des Gotthold Ephraim<br />

Lessing einmal sein<br />

wollte. Aber sie muss sich<br />

die Folgen ihres Tuns schon<br />

vorhalten lassen. Wenn sich Jugendliche<br />

aufgrund von Liedtexten<br />

okkulter Heavy-Metal-Bands umbringen,<br />

müssen sich die Musiker dieser Verantwortung<br />

stellen. Die Macher von „Breaking Bad“ müssen<br />

das auch. Von dem Vorwurf <strong>der</strong> Verherrlichung einer<br />

Modedroge kann man sie nicht freisprechen. So grandios<br />

das Ergebnis ihrer Arbeit auch sein mag.<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE ist Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

98<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


NEBENWIRKUNGEN<br />

am Siegeszug <strong>der</strong> Modedroge Crystal Meth?<br />

Von CONSTANTIN MAGNIS<br />

Illustrationen: Jens Bonnke<br />

Die Idee, dass ein Bundestagsabgeordneter<br />

Crystal-Meth-<br />

Konsument sein könnte, erschien<br />

mir bis vor kurzem noch<br />

genauso grotesk wie die Vorstellung, er könnte eine<br />

Sexaffäre mit einem tollwütigen Grizzlybären haben.<br />

Dass ich so dachte, liegt daran, dass ich alle fünf<br />

Staffeln von <strong>der</strong> Serie „Breaking Bad“ gesehen habe.<br />

Begeistert habe ich Walter Whites Weg vom Chemielehrer<br />

und fürsorglichen Familienvater zum skrupellosen<br />

Schwerverbrecher verfolgt.<br />

Was die Droge und ihre Folgen anbetrifft, wird<br />

uns nichts erspart: Wir sehen die Junkies so skelettartig,<br />

selbstmör<strong>der</strong>isch und seelenlos, als<br />

kämen sie direkt vom Set <strong>der</strong> Zombie-Serie<br />

„The Walking Dead“. Wir<br />

schauen zu, als Jesses Geliebte<br />

nach einer Überdosis an ihrem<br />

eigenen Erbrochenen erstickt.<br />

Wir erleben, wie Familien<br />

zerfallen, wie Crystal<br />

Meth zuliebe Helden<br />

verkrüppelt und Kin<strong>der</strong><br />

erschossen werden,<br />

wie – tatsächlich –<br />

Leichenteile über einer<br />

Vorstadt nie<strong>der</strong>regnen.<br />

Und mittendrin Walter<br />

White, <strong>der</strong> wohl deprimierendste<br />

Gangster <strong>der</strong><br />

Filmgeschichte. Er ist kein Vito<br />

Corleone, <strong>der</strong> auf prachtvollen<br />

Anwesen herrliche Familienfeste<br />

ausrichtet. Kein Tony Montana, <strong>der</strong><br />

in seiner Marmorvilla mit dem Gesicht im Koks versinkt.<br />

Kein Tony Soprano, <strong>der</strong> sich auf seiner Jacht<br />

mit nackten Flittchen vergnügt. Das hätte ja im Prinzip<br />

noch einen Reiz.<br />

Walter White aber ist ein schlecht angezogener,<br />

freudloser Spießer, <strong>der</strong> seine Seele verkauft hat, für<br />

Geld, das er in einer neonbeleuchteten Garage hortet.<br />

Nichts an seiner Existenz möchte man nachahmen, es<br />

sei denn, man steht auf nächtelange<br />

Chemieexperimente. Der alte Mann<br />

und das Meth: ein einziger Abturn.<br />

Nun kann man anführen, dass<br />

„Breaking Bad“ Crystal Meth überhaupt zum Thema<br />

gemacht hat. Dass <strong>der</strong> Kult um die Serie ihr Sujet –<br />

die Droge – glorifiziert. Aber wer das <strong>der</strong> Serie vorwirft,<br />

muss konsequenterweise finden, dass Shakespeare<br />

Meuchelmord und Inzest glorifiziert und Goethe<br />

den Pakt mit dem Teufel. Reiz und Schrecken des Bösen<br />

zu umschiffen, kann nicht Aufgabe <strong>der</strong> Kunst sein,<br />

im Gegenteil. Die Idee <strong>der</strong> Katharsis ist es ja, dass die<br />

Kunst den Menschen gefahrlos an die Abgründe <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit heranführt, auf dass<br />

die Erfahrung ihn läutere. Wer<br />

sich von „Breaking Bad“ nicht<br />

läutern lässt, dem war schon<br />

vorher nicht zu helfen.<br />

Wer Crystal Meth allerdings<br />

bisher für Teufelszeug<br />

hielt, konnte<br />

seit dem Fall des SPD-<br />

Politikers Hartmann<br />

dazulernen:<br />

Dass beson<strong>der</strong>s<br />

„Schüler, Sportler und<br />

Berufstätige“ die Droge<br />

gerne nähmen, „zur Leistungssteigerung“,<br />

wie die<br />

FAZ schrieb. Dass Meth unheimlich<br />

„gut in den Zeitgeist“<br />

passe, wie <strong>der</strong> Stern erfuhr. Dass<br />

„die Lust am Sex“ zunimmt, aber<br />

„Hunger und Durst verschwinden“,<br />

wie Bild wusste. Dass die Droge sei „wie eine unendliche<br />

Glücksspritze“, wie die Zeit schwärmt.<br />

Die beste Therapie dagegen, dieses Zeug endlich<br />

mal ausprobieren zu wollen, sind fünf Staffeln „Breaking<br />

Bad“.<br />

CONSTANTIN MAGNIS leitet das Reportage-Ressort von <strong>Cicero</strong><br />

99<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


STIL<br />

Klei<strong>der</strong>ordnung<br />

WARUM<br />

ich trage,<br />

WAS<br />

ich trage<br />

HANNAH HERZSPRUNG<br />

Wenn ich im Kostüm stecke, mit<br />

<strong>der</strong> Kulisse hinter mir, dann<br />

kann ich gar nicht an<strong>der</strong>s, als<br />

zu spielen. Dieses stundenlange Warten<br />

in <strong>der</strong> Maske – und dann gibt <strong>der</strong> Regisseur<br />

auf einmal die Bühne frei. Manchmal<br />

ist es so leise am Set, dass man eine<br />

Stecknadel fallen hören könnte.<br />

An<strong>der</strong>s ist es in den Proben, wenn<br />

man die Perücke schon aufhat, aber nur<br />

Jeans und T-Shirt trägt. Da soll man dann<br />

auf einmal 18. Jahrhun<strong>der</strong>t spielen, große<br />

Historie. Sehr schwierig. In solchen Fällen<br />

werfe ich mir schnell einen Rock über,<br />

und sofort spiele ich an<strong>der</strong>s.<br />

Das Kostüm macht etwas mit dir. Das<br />

geht mir ja schon im Alltag so. Die Hose<br />

am Morgen und das Kleid am Abend –<br />

das sind zwei verschiedene Ichs, weil ich<br />

eine ganze an<strong>der</strong>e Haltung bekomme.<br />

Beim Kostümfilm macht es natürlich beson<strong>der</strong>s<br />

viel Spaß, die großen Szenen, die<br />

Komparsen, die Reifröcke. Diese Inszenierung,<br />

diese Komposition! Fast ist es<br />

dann schade, wenn man wie<strong>der</strong> in die<br />

Wirklichkeit zurückmuss. Und manchmal<br />

frage ich mich, warum gibt sich eigentlich<br />

nicht je<strong>der</strong> viel mehr Mühe, dieser<br />

großen Schönheit wegen?<br />

Stilikone. Wenn jemand mich so<br />

nennt, muss ich schmunzeln. Ich mach<br />

doch auch nichts an<strong>der</strong>s als alle an<strong>der</strong>en.<br />

Ich zieh mich halt an. Auf dem roten<br />

Teppich ist das im weitesten Sinne<br />

„beruflich“. Die Kleidung wirkt wie ein<br />

Schutzschild, weil man unter beson<strong>der</strong>er<br />

Beobachtung steht.<br />

Ich werfe mir also ein Kleid über<br />

und muss mir keine Gedanken mehr machen.<br />

Denken blockiert einen auch beim<br />

Spielen, in <strong>der</strong> Freiheit, in diesem Moment,<br />

wo man alles zulassen soll. Kostüm,<br />

Maske, Perücke, das hilft. Und da<br />

Hannah Herzsprung, 32, ist<br />

Schauspielerin. Im Historiendrama<br />

„Die geliebten Schwestern“ von<br />

Dominik Graf entdeckt sie ihre<br />

Liebe für den Kostümfilm neu<br />

drunter stecke dann irgendwo ich. Ganz<br />

egal, ob ich historische o<strong>der</strong> fiktive Figuren<br />

spiele. Am Schluss ist es immer die<br />

Hannah. Ich gehe nie an eine Rolle und<br />

denke, ah, das hast du auch schon mal so<br />

erlebt, das kann ich spielen. Im Gegenteil,<br />

ich glaube eher, dass das blockiert.<br />

Und wenn zu viele Gedanken da sind,<br />

macht man sich bewusst, dass man nur<br />

spielt. Ich will mich davon frei machen.<br />

Auch davon zu überlegen, ob den an<strong>der</strong>en<br />

gefällt, was sie dann auf <strong>der</strong> großen<br />

Leinwand sehen. Sonst würde ich ja ständig<br />

versuchen, irgendwas richtig machen<br />

zu wollen. Du kannst aber nichts richtig<br />

und auch nichts falsch machen. Du<br />

kannst einfach nur machen.<br />

Aufgezeichnet von SARAH-MARIA DECKERT<br />

Foto: Serge Hoeltschi / 13 Photo<br />

100<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


SALON<br />

„ Hiermit erkläre<br />

ich den Sieg über die<br />

Elektrizität! “<br />

Die ukrainische Performance-Künstlerin Alevtina Kakhidze kämpft mit Humor gegen<br />

Stumpfsinn und Propaganda in ihrer Heimat, Porträt Seite 106<br />

101<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

LICHT IM SCHACHT<br />

Die Schriftstellerin Judith Hermann gilt als Meisterin <strong>der</strong> Kurzgeschichte. Ihrem ersten<br />

Roman gingen viele Zweifel und <strong>der</strong> Kampf gegen die eigene Schwerkraft voraus<br />

Von PETER HENNING<br />

Foto: Wolfgang Schmidt<br />

Die neue, ungewohnte Arbeit hat<br />

sie als „sehr viel anstrengen<strong>der</strong><br />

und haltloser empfunden“. Sagt<br />

die Berliner Schriftstellerin Judith Hermann<br />

über ihren ersten Roman „Aller<br />

Liebe Anfang“, <strong>der</strong> in diesem Monat<br />

erscheinen wird. Sie wirkt leicht<br />

angespannt, ja skrupulös in ihren Ausführungen,<br />

wie sie dasitzt am Tisch eines<br />

Cafés in Berlin-Charlottenburg und<br />

von ihrem Romandebut spricht. Jede ihrer<br />

Bewegungen erscheint bewusst und<br />

kontrolliert, ihr Lächeln beinahe scheu.<br />

„Nach einer gewissen Strecke des Weges<br />

habe ich den Anfang <strong>der</strong> Geschichte<br />

aus den Augen verloren, den Einstieg in<br />

den Schacht, bildlich gesehen. Und das<br />

Ende war noch lange nicht in Sicht: ein<br />

klaustrophobisches Gefühl.“<br />

Ungewohnte, zweiflerische Töne<br />

sind ein Kennzeichen dieser Autorin,<br />

die mit „Sommerhaus, später“, ihrem<br />

1998 erschienenen Band von Erzählungen,<br />

zum Star <strong>der</strong> jungen deutschen Literatur<br />

avancierte. Und fast en passant<br />

<strong>der</strong> Kurzgeschichte zu einer neuen Blüte<br />

verhalf.<br />

Judith Hermann machte mit ihren<br />

Geschichten eine hierzulande bis dahin<br />

allenfalls noch mit Nachkriegsautoren<br />

wie Böll, Borchert, Schnurre o<strong>der</strong> Siegfried<br />

Lenz assoziierte und sowohl bei<br />

Lesern als auch Verlegern ungeliebte<br />

Erzählform wie<strong>der</strong> salon- und feuilletonfähig.<br />

Die sogenannte „kleine Form“<br />

hatte plötzlich Konjunktur.<br />

Als <strong>der</strong> Frankfurter S. Fischer Verlag<br />

dann 2002 ihren zweiten Erzählungsband<br />

„Nichts als Gespenster“ ankündigte,<br />

waren die Erwartungen auf das<br />

Äußerste gespannt. Doch ihre langen,<br />

fein austarierten, zwischen <strong>der</strong> Lakonie<br />

eines Raymond Carver und <strong>der</strong> gelassenen<br />

Epik einer Alice Munroe oszillierenden<br />

Texte hielten dem Druck stand – und<br />

zementierten ihren Status als Meisterin<br />

<strong>der</strong> kleinen Form.<br />

„Ich habe gerne Kurzgeschichten geschrieben“,<br />

erläutert sie und fährt sich<br />

mit den Händen über das streng zu einem<br />

Knoten gefasste Haar. „Für die<br />

Dinge, über die ich schreiben wollte,<br />

hatte die Kurzgeschichte die richtige<br />

Form.“ Über ihren Zügen liegt Anspannung.<br />

„Doch“, fragt sie zwischendurch<br />

fast schroff, „was wird wohl die Kritik<br />

dazu sagen?“ Wenn sie aber kurz lacht,<br />

weicht die grüblerische Konzentriertheit<br />

so schnell, wie sie kam, mädchenhafter<br />

Leichtigkeit.<br />

DIE FOLGE WAR dann 2009 ein Band mit<br />

fünf Erzählungen („Alice“), <strong>der</strong> sich bei<br />

genauerer Betrachtung als finster-poetische<br />

Meditation über das Sterben und den<br />

Tod erwies, zugleich eine sachte Hinwendung<br />

zur Königsdisziplin, dem Roman.<br />

Dieser liegt weitere fünf Jahre später tatsächlich<br />

vor. Sie hat sich die Pause zwischen<br />

„Alice“ und dem neuen Buch, wie<br />

sie sagt, „bewusst gegönnt“, sich ins Private<br />

zurückgezogen und ihrem 15 Jahre<br />

alten Sohn gewidmet. Überhaupt agiert<br />

die Berlinerin nicht vorschnell. Sie nahm<br />

sich die Zeit, die sie braucht, las sämtliche<br />

Romane des Iren Dermot Healy und<br />

von Graham Greene und tauchte in die<br />

versunkene Welt des Russen Iwan Bunin<br />

ab. Bis das Gerüst ihres Romans im Kopf<br />

stand – und sie endlich schreiben konnte,<br />

langsam, tastend.<br />

Das Resultat dürfte Kritik wie Publikum<br />

spalten. Wer ihre melancholisch<br />

grundierten, uhrmacherhaft präzise gearbeiteten<br />

Geschichten mochte, wird<br />

„Aller Liebe Anfang“ lieben. Alle, die<br />

aber erwartet hatten, sie werde mit einem<br />

Roman daherkommen, <strong>der</strong> ihr bisheriges<br />

Erzählen erweitert, werden wohl<br />

enttäuscht sein.<br />

„Aller Liebe Anfang“ ist ein leises,<br />

ein bisweilen an die Grenze seiner<br />

Form stoßendes Buch, das erahnen<br />

lässt, welches innere Ringen die Verfasserin<br />

durchgestanden haben muss. „Ich<br />

hatte den Eindruck, das Schreiben fiele<br />

mir schwerer als sonst“, sagt Judith Hermann.<br />

„Das Schreiben eines Romans hat<br />

sich für mich so angefühlt, wie den Boden<br />

unter den Füßen aufzugeben, die<br />

Kontrolle abzugeben.“<br />

Der Roman entrollt die Geschichte<br />

seiner Hauptfigur Stella, die ihren späteren<br />

Mann Jason in einem Flugzeug kennenlernt,<br />

mit ihm ein Kind bekommt und<br />

ein Haus am Stadtrand bezieht. Das Leben<br />

<strong>der</strong> kleinen Familie verläuft unspektakulär<br />

und harmonisch. Stella arbeitet<br />

als Krankenpflegerin. Plötzlich aber verfolgt<br />

sie ein Stalker, <strong>der</strong> Alltag wird zum<br />

Spießrutenlauf.<br />

Hermann beschreibt detailliert den<br />

Einbruch des Schreckens in das vermeintliche<br />

Vorstadtidyll. Dort aber,<br />

wo <strong>der</strong> Horror auf den Leser übergehen<br />

müsste, um ihn wirklich zu packen,<br />

bleibt er manchmal im feinen Gespinst<br />

<strong>der</strong> Worte hängen, wird abgemil<strong>der</strong>t und<br />

um seine Wucht gebracht. Gleichwohl<br />

finden sich auch hier Sätze von kristalliner<br />

Schönheit – verdichtet zu einem Protokoll<br />

<strong>der</strong> Angst.<br />

„Ich habe vor dem Roman keine<br />

Angst gehabt“, sagt Judith Hermann<br />

und lächelt. „Wenn überhaupt, so vor<br />

<strong>der</strong> Möglichkeit des Scheiterns, die ja in<br />

je<strong>der</strong> Erzählform immerzu gegeben ist.“<br />

Gescheitert ist sie nicht. Mehr Mut aber<br />

zum Zupackenden, zum Direkten ist dieser<br />

großen Dezenten zu wünschen.<br />

PETER HENNING ist Schriftsteller, schrieb<br />

zuletzt den Roman „Ein deutscher Sommer“<br />

( 2013 ). Er lebt in Köln und wurde schon selbst<br />

einmal gestalkt<br />

103<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

HINFORT MIT DEM TAND!<br />

Den Wiener Festwochen verhalf Intendant Markus Hinterhäuser gerade zu einem<br />

Rekor<strong>der</strong>gebnis. Bald wird er auch die Salzburger Festspiele entschlacken<br />

Von AXEL BRÜGGEMANN<br />

Er weiß, wie es geht. Ein Gespräch? –<br />

„Natürlich.“ Am Telefon? – „Unter<br />

keinen Umständen!“ Eine Stunde? –<br />

„Viel zu kurz!“ In seinem Büro? – „Bloß<br />

nicht!“ Wenn Markus Hinterhäuser, <strong>der</strong><br />

Pianist und Kulturmanager, über Kunst<br />

redet, will er zuhören, nachdenken, sich<br />

einlassen. Also 21 Uhr in <strong>der</strong> China-Bar.<br />

Am Anfang <strong>der</strong> Wiener Burggasse<br />

stehen Cafés für Juppies. Nach einigen<br />

Hun<strong>der</strong>t Metern wird die Straße dunkler,<br />

dreckiger. Auf <strong>der</strong> linken Seite strahlt<br />

die Schaufensterauslage eines heruntergekommenen<br />

Lampenladens. „Was gibt<br />

es Trostloseres als Lampenläden?“, fragt<br />

Hinterhäuser. Im oberen Geschoss entdeckt<br />

er die Silhouette einer dunkelhaarigen<br />

Frau, die sich entkleidet. Wir<br />

schauen hinauf. Das Licht erlischt. „Das<br />

ist wie ein Bühnenbild von Christoph<br />

Marthaler“, sagt Hinterhäuser. Das beste<br />

Theater spielt für ihn nicht auf <strong>der</strong> Bühne,<br />

son<strong>der</strong>n in den schummrigen Straßen einer<br />

absurden Welt: „In einem früheren<br />

Leben wäre ich gern Flaneur geworden.“<br />

In <strong>der</strong> China-Bar spricht Hinterhäuser<br />

zunächst über Leonard Cohen: „Einer<br />

<strong>der</strong> größten Künstler aller Zeiten.“ Sechs<br />

Konzerte habe er gesehen, zu jedem<br />

wäre er auch zu Fuß gegangen. „Cohen<br />

hat zwei Arten, sich zu verabschieden“,<br />

erklärt er. „Entwe<strong>der</strong>: ‚Kommt heil nach<br />

Hause‘, o<strong>der</strong>, die Atheisten mögen es verzeihen,<br />

‚God bless you‘.“ Die zweite gefällt<br />

ihm besser.<br />

Die Wiener Festwochen hat Hinterhäuser<br />

als Intendant gerade hinter sich<br />

gebracht, 2016 tritt er bei den Salzburger<br />

Festspielen als Chef an. Bereits als<br />

Jürgen Flimm 2010 dort im Streit schied,<br />

wurde Konzertchef Hinterhäuser als<br />

Spitzenkandidat gehandelt. Aber die<br />

politischen Strippenzieher setzten ihn<br />

nicht auf die Liste. Sie wollten Anzug<br />

statt Jeans, Sponsoren statt kunstvoller<br />

Unsicherheit. Sie holten den Österreicher<br />

Alexan<strong>der</strong> Pereira aus Zürich statt den<br />

Salzburg-Bürger Markus Hinterhäuser.<br />

Das einzige Mal an diesem Abend<br />

verliert er die Kontrolle: „Damals wäre<br />

das schon eine bessere Wahl gewesen“,<br />

sagt er. Dann schaut er in sein Bierglas,<br />

schweigt und weiß, dass er solche Sätze<br />

eigentlich nicht sagen will. Zumal er es<br />

dem Kultur-Establishment gezeigt hat:<br />

Als Leiter <strong>der</strong> Wiener Festwochen verzeichnete<br />

er eine hohe Auslastung mit einem<br />

so gar nicht kulinarischen Programm,<br />

„Cosi fan tutte“ etwa in <strong>der</strong> Regie von<br />

Michael Haneke. Der südafrikanische<br />

Künstler William Kentridge bebil<strong>der</strong>te<br />

die „Winterreise“. 155 318 Zuschauer,<br />

95 Prozent Auslastung, 403 Journalisten<br />

aus 26 Län<strong>der</strong>n. Rekord!<br />

MARKUS HINTERHÄUSER besitzt die<br />

Frechheit, keinen Glamour zu versprechen.<br />

Er will, dass die Menschen<br />

nach Salzburg kommen, um Existenz<br />

zu spüren. „Wer empfindet heute noch<br />

Schmerz und Qual? Die ‚Kin<strong>der</strong>totenlie<strong>der</strong>‘<br />

von Gustav Mahler beschreiben das<br />

Schlimmste, was es gibt – und was passiert?<br />

Man unterhält sich darüber, ob die<br />

Sänger die Höhen getroffen haben.“ Will<br />

er etwa die Champagnerstände vor dem<br />

Festspielhaus schließen? „Ich werde den<br />

Teufel tun! Ich will ja nicht dogmatisch<br />

sein. Aber man sollte die Dinge, die man<br />

aufführt, in aller Konsequenz ernst nehmen.“<br />

Am liebsten wäre ihm, dass an solchen<br />

Abenden niemand mehr freiwillig<br />

Champagner trinken will.<br />

Kann Kunst eigentlich unsere Weltbil<strong>der</strong><br />

zerstören? „Ich glaube, dass mein<br />

Weltbild zu einem wesentlichen Teil<br />

durch Kunst entstanden ist“, antwortet<br />

Hinterhäuser, „die Zerstörung von Weltbil<strong>der</strong>n<br />

geschieht eher in unserem realen<br />

Leben. In <strong>der</strong> Kunst entwickeln sich<br />

Modelle. Das ist schon sehr existenziell.“<br />

Welch Unterschied zu Alexan<strong>der</strong> Pereira,<br />

<strong>der</strong> am liebsten über das Modestudium<br />

seiner jungen Freundin palavert und erklärt,<br />

wie er Anna Netrebko hinter den<br />

Kulissen das eiskalte Händchen hält.<br />

Seine Pläne für die weltweit größten<br />

Festspiele sind offen. Er träumt von einer<br />

Mozart-Werkstatt auf <strong>der</strong> Pernerinsel. Einem<br />

Ensemble, das den Salzburger Komponisten<br />

über Jahre hinweg vom Goldpapier<br />

befreit. Einem Opernlabor.<br />

Er bestellt einen Espresso. „Problematisch<br />

wird es, wenn das Theater meint,<br />

sich <strong>der</strong> Allgegenwärtigkeit <strong>der</strong> Pseudokultur<br />

anbie<strong>der</strong>n zu müssen. Aber ich bin<br />

<strong>der</strong> festen Überzeugung, dass eine großartige<br />

‚Missa Solemnis‘ diesen jämmerlichen<br />

Tand des Alltags mit einer einzigen<br />

Bewegung wegwischen kann!“<br />

Hinterhäuser weiß, dass gerade in<br />

Salzburg letztlich <strong>der</strong> finanzielle Erfolg<br />

zählt. Aber er hält daran fest, dass wir<br />

in einer Welt leben, „in <strong>der</strong> die Leute<br />

vielleicht mehr Fragezeichen vor sich her<br />

tragen, als manche Politiker und Theatermacher<br />

es wahrhaben wollen“. Die<br />

Zeit sei reif, daraus Kapital zu schlagen.<br />

„Zahlen, bitte.“<br />

Die Luft vor <strong>der</strong> China-Bar ist frisch<br />

geworden. Wir schlen<strong>der</strong>n die Burggasse<br />

hinauf. Vor einem Schaufenster bleibt<br />

Hinterhäuser stehen. In den Schaukästen<br />

ist eine senffarbene Bluse auf eine<br />

Pappe gespannt. „<strong>Ist</strong> das nicht verrückt“,<br />

sagt er, kramt sein Handy aus <strong>der</strong> Tasche<br />

und macht ein Foto. „Ich habe das schon<br />

so oft fotografiert – aber es ist zu schön.“<br />

Dann verabschieden wir uns: „God<br />

bless you.“<br />

AXEL BRÜGGEMANN ist Journalist,<br />

Buchautor, Mo<strong>der</strong>ator. Am 12. August wird er<br />

die Kino-Live-Übertragung des „Fliegenden<br />

Hollän<strong>der</strong>s“ aus Bayreuth mo<strong>der</strong>ieren<br />

Foto: Michael Herdlein<br />

104<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

AUS DEM GRAS GERATEN<br />

Die ukrainische Künstlerin Alevtina Kakhidze verbindet Politik mit Poesie. Ihre<br />

Stilmittel sind Suppe, Bleistift und Humor. Schon Oligarchen gingen ihr auf den Leim<br />

Von KRISTINA V. KLOT<br />

Als jüngst zur Eröffnung <strong>der</strong> „Manifesta<br />

10“ Kurator Kasper König<br />

<strong>der</strong> Ukrainerin Alevtina<br />

Kakhidze das Mikrofon überließ, war<br />

die Botschaft klar: Auch eine Künstlerin,<br />

die als Maidan-Aktivistin für die Unabhängigkeit<br />

ihrer Heimat eintritt, sollte<br />

in Sankt Petersburg in <strong>der</strong> ersten Reihe<br />

stehen. Kakhidzes knabenhafte Erscheinung<br />

mit <strong>der</strong> Bobfrisur über erstaunt<br />

blickenden Augen ließ weniger an eine<br />

Kunstaktivistin denken als an ein unerschrockenes<br />

großes Kind. Tags zuvor erst<br />

hatte sie ihre neue Performance „Victory<br />

over electricity“ angekündigt.<br />

Kakhidzes Fähigkeit, die Gegenwart<br />

poetisch zu reflektieren, zeigte sich zuletzt<br />

in ihrer Arbeit „TV Studios / Rooms<br />

without Doors“. Die Videoinstallation<br />

im Pinchuk Art Centre, einem Museum<br />

für Gegenwartskunst in Kiew, lief in einer<br />

surrealen Studiokulisse. Die Künstlerin<br />

trug sehr ernst absurde News vor:<br />

„Die Menschen haben aufgehört, Tomaten,<br />

Wassermelonen und Erdbeeren zu<br />

essen. Der Grund: Diese weisen eine rote<br />

Farbe auf, die an den Sozialismus erinnert.<br />

Ärzte warnen: Bitte essen Sie weiter<br />

Früchte, sie enthalten wichtige Vitamine!“<br />

O<strong>der</strong>: „In Berlin ist die Mitnahme<br />

von Hunden in <strong>der</strong> U-Bahn erlaubt, jetzt<br />

for<strong>der</strong>n Kiewer Bürger dieses Recht ein.<br />

Die Antwort des Bürgermeisters: Bei den<br />

Berliner Hunden handelt es sich um sozialisierte<br />

Wesen. Kiews Hunde sind noch<br />

nicht reif für die U-Bahn.“<br />

1973 im Osten <strong>der</strong> Ukraine als Tochter<br />

eines Georgiers geboren, wuchs Alevtina<br />

Kakhidze mit <strong>der</strong> russischen Sprache<br />

auf und lernte Ukrainisch erst mit<br />

22 Jahren, nachdem sie 1995 nach Kiew<br />

gezogen war. Als Jugendliche entdeckte<br />

sie den Science-Fiction-Autor Clifford<br />

D. Simak für sich. Als „Gegenpol zum<br />

sowjetischen Sachbuch“ hätten seine<br />

Erzählungen sie vor dem Stumpfsinn bewahrt.<br />

„Er schrieb Gras ein Bewusstsein<br />

zu und die Fähigkeit zum Denken – großartig!“<br />

1991 erlebte sie als 18-Jährige<br />

den Zusammenbruch <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

und den Beginn <strong>der</strong> postsozialistischen<br />

Ära <strong>der</strong> Ukraine.<br />

Kakhidze, die als Kunststudentin<br />

in Maastricht von 2004 bis 2006 erste<br />

Auslandserfahrungen sammelte, erinnert<br />

sich an einen Streit mit einem deutschen<br />

Freund: „Er erzählte mir als Erster von<br />

<strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> USA im Zweiten Weltkrieg.<br />

Bis dahin war ich überzeugt, dass die Sowjetunion<br />

den Krieg beendet hatte.“ Es<br />

war diese Erfahrung von Indoktrination,<br />

die ihren Anspruch begründete, sich nur<br />

noch aus erster Hand zu informieren.<br />

ALS KONSEQUENZ initiierte sie 2007 ihr<br />

privates Artist-in-Residence-Programm,<br />

bei dem sie im Sommer Künstler aus aller<br />

Welt einlädt, einige Wochen im Atelier<br />

ihres Hauses in einem Dorf nahe<br />

Kiew zu verbringen, „um uns mit ihrem<br />

Blick auf die Welt zu überraschen“.<br />

Im Dezember 2013, nachdem Ex-Präsident<br />

Janukowitsch das Assoziierungsabkommen<br />

mit <strong>der</strong> EU platzen ließ, organisierte<br />

die Künstlerin ein Happening auf<br />

dem Maidan und postierte neben einem<br />

Topf Suppe einen Sachverständigen für<br />

den EU-Vertrag, <strong>der</strong> Vorurteile über das<br />

Schriftstück ausräumen konnte.<br />

Zentrales Thema von Alevtina<br />

Kakhidze sind die neokapitalistischen<br />

Auswüchse, die in <strong>der</strong> Ukraine eine<br />

Min<strong>der</strong>heit einflussreicher Oligarchen<br />

hervorbrachten. An zwei von ihnen<br />

wandte sie sich 2008 in einem offenen<br />

Brief, <strong>der</strong> sie in <strong>der</strong> Ukraine berühmt<br />

machte. Darin bat sie die beiden, von ihrem<br />

Privatjet aus die Erde von oben zu<br />

zeichnen. Die Antwort kam 24 Monate<br />

später und enthielt die Einladung, die<br />

Zeichnung doch bitte selbst in einem bereitgestellten<br />

Jet anzufertigen. Kakhidze<br />

willigte ein, stieg ins Flugzeug und ließ<br />

die enttäuschte Presse hernach wissen,<br />

sie habe nicht gezeichnet, aber den Blick<br />

aus großer Höhe genossen.<br />

Einen Wechsel <strong>der</strong> Perspektive vollzog<br />

die Künstlerin auch, als sie bei sich<br />

und ihren Landsleuten neuartige Konsumgelüste<br />

wahrnahm. Ohnehin stets mit<br />

Block und Stift unterwegs, begann sie<br />

Dinge, die sie sich gerne kaufen würde,<br />

zu zeichnen und wähnte sich dadurch in<br />

ihrem Besitz. Bei <strong>der</strong> 7. Berlin-Biennale<br />

2012 trat sie als Sammlerin von 500 Werken<br />

auf, die nur auf Papier existieren:<br />

antike Lampen, Prada-Pumps, Objekte<br />

von Jeff Koons. Ihr Rat: „Wenn du etwas<br />

wirklich haben willst, kaufe es nicht,<br />

son<strong>der</strong>n bringe es aufs Papier. Nur wenn<br />

man sich vom Konsum fernhält, bleibt<br />

das ursprüngliche Begehren erhalten.“<br />

Um das Dilemma des Wahrheitsanspruchs<br />

drehte sich ihre für die „Manifesta<br />

10“ inszenierte Pressekonferenz<br />

„Victory over Electricity“. Als sie von einem<br />

Bühnenstück russischer Futuristen<br />

von 1913 erfuhr, dessen Titel „Victory<br />

over Sun“ auf den Siegeszug <strong>der</strong> Elektrizität<br />

anspielt, kam ihr <strong>der</strong> Gedanke:<br />

„Fernsehen, Internet und Skype haben<br />

uns nicht viel weiter gebracht.“ Noch<br />

immer treffe sie auf russische Intellektuelle,<br />

<strong>der</strong>en Ukraine-Kenntnisse auf<br />

solcherart vermittelter Propaganda beruhten.<br />

Da helfe nur ein radikales Gegenmittel:<br />

„Hiermit erkläre ich den Sieg<br />

über die Elektrizität und for<strong>der</strong>e das Gespräch<br />

eins zu eins!“ Sie vertraut nur <strong>der</strong><br />

Unmittelbarkeit.<br />

KRISTINA V. KLOT konnte in Sankt Petersburg<br />

an den Reaktionen <strong>der</strong> Besucher ablesen,<br />

dass die meisten Russen noch keinen Zugang<br />

zu zeitgenössischer Kunst haben<br />

Foto: Konstantin Chernichkin/n-ost für <strong>Cicero</strong><br />

106<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


SALON<br />

Reportage<br />

Wer im Kunstmarkt mitspielen will, <strong>der</strong> müsse Schizophrenien ertragen: Der Maler Jonas Burgert weiß, wovon er spricht<br />

108<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


DER<br />

FROMME<br />

BETRUG<br />

Kunst und Geld sind<br />

verschwistert, leugnen es<br />

aber gern. Die Geschichte<br />

einer Schizophrenie<br />

Von RALF HANSELLE<br />

Fotos THOMAS MEYER<br />

Manchmal wird <strong>der</strong> Riss sichtbar. Der Riss, <strong>der</strong> sich<br />

hier durch Pflastersteine hindurchzieht und durch<br />

die Klinkerfassade einer alten Kondensatorenfabrik.<br />

Zuweilen verläuft er auch quer über die Straße –<br />

durch Bordstein und Pfützen und zerplatzten Asphalt. Berlin<br />

hat sich an den Riss gewöhnt. Längst gehört er mit dazu;<br />

wie eine Narbe, die nur manchmal noch schmerzt. Die einstige<br />

Teilstadt, die immer noch wird, was sie nicht mehr ist,<br />

scheint sich provisorisch vernäht zu haben. Hier, an <strong>der</strong><br />

Leh<strong>der</strong>straße in Weißensee aber platzen alle Nähte wie<strong>der</strong><br />

auf. Hier wächst aus ihren Tiefen das Unkraut, und in <strong>der</strong><br />

Verfugung <strong>der</strong> Häuser sitzt trockenes Moos.<br />

Der Maler Jonas Burgert hat solch einen Riss bewohnbar<br />

gemacht, mitten zwischen Industriestümpfen und einer<br />

heruntergekommenen Kleinbürgersiedlung. Hier hat <strong>der</strong><br />

44‐Jährige sein Atelier. Früher produzierte in <strong>der</strong> Halle das<br />

VEB Isolierstoffwerk Hartgewebeplatten und Kopplungsgeneratoren.<br />

Jetzt hängen hier großformatige Bil<strong>der</strong> mit rätselhaften<br />

Motiven.<br />

Manchmal wirken sie wie Ansichten zu einem verschollenen<br />

Mythos, manchmal wie eine letzte Apokalypse von<br />

Hieronymus Bosch. Archaisch sind im Kern die Figuren,<br />

knallig und schrill aber viele <strong>der</strong> Farben.<br />

109<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


SALON<br />

Reportage<br />

Der Riss ist für Burgert das tägliche Leben: „Als Künstler<br />

muss ich stets einen Spagat beherrschen. Wenn ich mitspielen<br />

will, dann muss ich Schizophrenien ertragen.“ Burgert<br />

guckt schelmisch und spielt mit einer Zigarette. Sein<br />

blondes Haar fällt locker in die Stirn. Dann schwingt er sich<br />

auf zu einem nächsten Spagat: Reden über eine Arbeit, die<br />

in <strong>der</strong> Stille entsteht; erklären, was eigentlich nicht zu erklären<br />

ist. Changieren zwischen Maler und Marke.<br />

Jonas Burgert beherrscht diese Disziplinen souverän,<br />

trägt Dreitagebart und Pulli unter dunklem Sakko. Nicht<br />

gerade das Outfit von Best-Performern. Doch Jonas Burgert<br />

gehört jetzt zur Spitze. Zu denen, die es in <strong>der</strong> Kunst bis<br />

vor kurzem gar nicht gegeben hat: den „Shootingstars“, den<br />

„Hoffnungsträgern“, den „Supertalenten“. Selbst die Sprache<br />

hat auf sie reagiert. Die Kunstkritik hat umgeschaltet:<br />

von Ästhetik auf Ranking, von Diskurs auf eine Art Stadion-<br />

Slang. Gestern waren es Neo Rauch o<strong>der</strong> Tim Eitel, heute<br />

sind es Jorinde Voigt o<strong>der</strong> eben Jonas Burgert.<br />

Der Maler weiß den neuen Erfolg zu genießen: „Wenn<br />

Leute sagen, dass ihnen Erfolg nicht wichtig sei, dann glaube<br />

ich ihnen das in <strong>der</strong> Regel nicht.“ Burgert<br />

spricht mit schelmischer Freude. Je<strong>der</strong><br />

Satz eine klare Haltung. Der Ruhm habe<br />

ihn ruhiger gemacht. Er habe den großen<br />

Hype einmal durchlaufen: die wichtigen<br />

Magazine, die großen Museen. Nebenher<br />

hat <strong>der</strong> Meisterschüler von Dieter Hacker<br />

sogar Geld verdient. Manche sagen, dass<br />

es viel Geld gewesen sei. Doch dann fällt<br />

<strong>der</strong> Satz, <strong>der</strong> untypisch ist für Bestverdiener.<br />

Der Satz, den so nur Künstler sagen:<br />

„Selbst wenn mein ganzes Geschäft<br />

zusammenbräche, würde ich vermutlich<br />

trotzdem hier sitzen und glücklich sein.“<br />

Der mehrfache Kunstmillionär Gerhard<br />

Richter hat etwas ganz Ähnliches gesagt:<br />

Ihm sei das viele Geld eher unangenehm.<br />

Eigentlich fände er es sogar albern. Richters<br />

Kollege Erwin Wurm sprang dem Maler bei <strong>der</strong> Selbstbeschämung<br />

öffentlich bei. „Blödgesichter“ schimpft Wurm<br />

die großen Sammler und Investoren, die Leuten wie ihm<br />

die Sonnenseiten des Lebens finanzieren.<br />

Irgendwo muss die Wut wohl hin, die Wut über die verlorene<br />

Unschuld. Seit gut zehn Jahren schießen die Preise für<br />

Gegenwartskunst durch die Decke. Und die Kunst begehrt,<br />

nicht schuld daran zu sein. Die klammert sich lieber an innere<br />

Werte, an das Gute und Schöne bei aller Ware. Geld<br />

und Genius scheinen sich dabei mehr und mehr zu verhaken,<br />

spalten sich ab, reden sich schlecht: „Die Kunst ist das einzige<br />

Produkt, das im Kern nicht käuflich ist“, schwärmt etwa<br />

Jonas Burgert, während er die dritte Zigarette des Tages ansteckt.<br />

Jeden Ferrari könne man heute über Katalog erwerben,<br />

jede Luxusjacht könne man nachbauen. Kunst aber sei<br />

etwas Einmaliges. „Geist kann man nicht kaufen. Ein Bacon<br />

o<strong>der</strong> ein Pollock sind die letzten verbliebenen Statussymbole.“<br />

Wer dennoch kauft, <strong>der</strong> muss teuer bezahlen. Finanzkräftige<br />

Sammler legen für den „geilen Geist“ Millionen<br />

hin – wie Freier, die die letzte Jungfrau <strong>der</strong> Nacht umwerben,<br />

wie Kamele auf ihren Wegen durchs Nadelöhr. Erst<br />

jüngst wie<strong>der</strong> konnten sie Erfolge vermelden. Francis Bacons<br />

Triptychon „Three Studies of Lucien Freud“ erzielte<br />

bei einer Auktion in New York einen Erlös von 142 Millionen<br />

US-Dollar, ein „Balloon Dog“ von Jeff Koons hechelte<br />

für 58,4 Millionen Dollar hinterher. Wie<strong>der</strong> einmal zwei<br />

Weltrekorde. Wie<strong>der</strong> einmal <strong>der</strong> Sieg des Geldes. Die Spirale<br />

dreht sich immer weiter.<br />

AUCH JONAS BURGERT dreht sich in ihr mit. Das Doppelte<br />

<strong>der</strong> ursprünglichen Taxe erzielte im Juni 2013<br />

sein Bild „Fluchtversuch“ bei Christie’s in London, über<br />

130 000 Pfund. „Klar“, sagt er, „bei den Auktionen gewinnt<br />

am Ende immer <strong>der</strong> Stärkste. Am Markt zählt einzig<br />

das Bare.“ Dennoch sieht <strong>der</strong> Maler seine Arbeit vom<br />

Geld nicht bedroht. Seine Ideale, sagt er, seien nicht käuflich.<br />

Und dann erzählt Burgert eine kleine Geschichte; eine<br />

Geschichte vom Riss, den man als Künstler erträgt. Sie handelt<br />

von einem Sammler, <strong>der</strong> eines Tages zu ihm ins Atelier<br />

gekommen sei, mitten hierher zu den<br />

Ruinen und Brachen. Unsummen wollte<br />

<strong>der</strong> Sammler Burgert für eines seiner<br />

Seit zehn<br />

Jahren<br />

schießen die<br />

Preise für<br />

aktuelle Kunst<br />

durch die<br />

Decke<br />

Gemälde bezahlen. Und er – <strong>der</strong> Maler,<br />

<strong>der</strong> einfach nur „Bock hat auf gute Bil<strong>der</strong>“<br />

– er habe den großen Reibach lächelnd<br />

verschmäht. „Der Mann ist beinahe<br />

durchgedreht.“ Während Burgert<br />

all das erzählt, erwacht in seinem Gesicht<br />

wie<strong>der</strong> diese schelmische Freude.<br />

„Vielleicht sind wir Künstler die neuen<br />

Narren. Wir sind die Figuren, die alles<br />

dürfen.“<br />

Stefan Haupt wirkt nicht wie ein<br />

Mann für Narreteien; eher nüchtern<br />

und distinguiert. Dunkel <strong>der</strong> Anzug, gestreift<br />

die Krawatte. Haupt schaut aus<br />

dem Fenster seiner großen Anwaltskanzlei<br />

an Berlins Märkischem Ufer. Er blickt hinüber über<br />

die Spree. Alle Blicke scheinen hier von Geld zusammengehalten<br />

zu werden. Am an<strong>der</strong>en Ufer liegt die Finanzverwaltung<br />

von Berlin, nur ein Steinwurf ist es bis zur chinesischen<br />

Botschaft. Menschen, die an Flüssen wohnen, müssen<br />

sich um Wohlstand vermutlich nie wie<strong>der</strong> sorgen. Menschen<br />

an Flüssen genießen den Luxus.<br />

Haupt gibt es offen zu: Kunst, sagt er, sei reiner Luxus.<br />

Mit Kunst hole man sich etwas Schönes ins Leben.<br />

300 Werke zählt seine Sammlung des Schönen – darunter<br />

Arbeiten von Beuys, Balkenhol und Mathieu Mercier.<br />

Mal hängen sie gerahmt an kahlen Wänden, mal stehen sie<br />

als „Ready Mades“ sinnlos herum. Alle Ankäufe hat sich<br />

Haupt gut überlegt. Denn alle verhandeln den ganz großen<br />

Riss: das ambivalente Verhältnis von Kunst und Geld, den<br />

zwei Seiten <strong>der</strong>selben Medaille. Für Haupt ist dieses Sujet<br />

Provokation. Ein Tabu – wie Sex o<strong>der</strong> Tod. Als er angefangen<br />

habe, Kunst zu kaufen, habe er sich das Thema seiner<br />

Sammlung lange durch den Kopf gehen lassen. „‚Kunst<br />

110<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Stefan Haupt ist Anwalt und trug eine Sammlung zum Thema „Kunst und Geld“ zusammen: „Kunst bringt Schönes ins Leben“<br />

111<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


SALON<br />

Reportage<br />

Ben Kaufmann war Galerist in Berlin und leitet nun den „Neuen Aachener Kunstverein“. Er weiß: „Vieles wird heiterer geredet, als es ist“<br />

112<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


und Sex‘ kam für mich nicht infrage, ‚Kunst und Tod‘ fand<br />

ich zu groovy.“ Also sei das Geld geblieben. „Dabei“, sagt<br />

Haupt, „hat sich die Kunst jahrhun<strong>der</strong>telang gar nicht mit<br />

dem Geld beschäftigt. Die Künstler haben zur Finanzwelt<br />

geschwiegen.“<br />

JETZT SCHWEIGT AUCH HAUPT. Er sucht nach Worten.<br />

Manchmal schaut er auf ein Bild an <strong>der</strong> Wand. „Materie zum<br />

Nachdenken“ nennt er seine Kunst voller Respekt. Dann<br />

setzt er wie<strong>der</strong> an: „In den siebziger Jahren kam dann das<br />

Geld in die Kunst.“ Der Anwalt fällt in einen dozierenden<br />

Ton. Er scheint lange gegrübelt zu haben über die Geldkunst,<br />

über die Verschmelzung <strong>der</strong> scheinbaren Gegensätze. Vielleicht,<br />

sagt er, habe das mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems<br />

zu tun gehabt – <strong>der</strong> Loslösung des Goldes<br />

vom amerikanischen Dollar –, vielleicht aber auch mit<br />

den neuen Messen für Gegenwartskunst.<br />

Seit damals jedenfalls sei das Geld da. Es bestimmt,<br />

wie wir die Kunst bewerten. Es bestimmt, wie wir über die<br />

Kunst reden. Stefan Haupt redet von ihr zuweilen mit Skepsis.<br />

Er glaube nicht an Kapitalvermehrung<br />

durch die Kunst. „Klar gibt es Menschen,<br />

für die ist die Kunst eine Anlageform wie<br />

Aktien o<strong>der</strong> Immobilien.“ Doch im Kern<br />

sei <strong>der</strong> Markt zu intransparent, im Kern<br />

gebe es von <strong>der</strong> Kunstware viel zu viel.<br />

Dann dreht er sich um und schaut wie<strong>der</strong><br />

hinüber über den Fluss. In seinem Rücken<br />

wird ein Holzschnitt sichtbar. Haupts Silhouette<br />

hatte ihn zuvor verdeckt. Es ist<br />

ein überdimensionierter 50-Mark-Schein,<br />

ein Bild des deutschen Grafikers Hans Ticha.<br />

„Finanzprodukt“ heißt die unscheinbare<br />

braune Arbeit. Eine aufgeblasene<br />

Falschgeldnote. Doch das Bild führt alle<br />

Ambivalenzen in sich zusammen. Vielleicht<br />

sind Bild und Banknote längst dasselbe.<br />

Kunst ist Geld auf großem Format.<br />

Vor ein paar Jahren hat Stefan Haupt seiner Sammlung einen<br />

Namen gegeben. Sie heißt jetzt „30 Silberlinge“. Vermutlich<br />

ist das mehr als nur ein gewöhnlicher Titel. Es ist <strong>der</strong><br />

biblische Preis, für den Judas einst die Wahrheit verkaufte.<br />

Die meisten verkaufen die Wahrheit nie. Durchschnittlich<br />

14 192 Euro verdienen laut Künstlersozialkasse Bildende<br />

Künstler jährlich. In <strong>der</strong> Erzählung vom boomenden<br />

Kunstmarkt kommen diese Künstler nicht vor. Auf<br />

dem „Winner-takes-it-all-Markt“ bilden sie die schweigende<br />

Mehrheit. Kein Blick auf die Flüsse, kein Leben jenseits<br />

<strong>der</strong> Brachen. Ihren Galeristen geht es nicht besser. Laut einer<br />

Umfrage des Instituts für Strategieentwicklung erzielen<br />

fast ein Drittel <strong>der</strong> Galerien Berlins einen Jahresumsatz<br />

von weniger als 50 000 Euro. Die großen Gewinne erzielen<br />

nicht mal zwei Dutzend. Das ist <strong>der</strong> Alltag jenseits <strong>der</strong><br />

„Art Basel“-Seite <strong>der</strong> Kunst.<br />

„Wir reden gewöhnlich nicht über diese Realitäten“,<br />

meint Ben Kaufmann. „Die Normalität kommt in <strong>der</strong> Berichterstattung<br />

über Kunst gar nicht vor. Wir reden lieber<br />

Im Schnitt<br />

verdienen<br />

Künstler 14 000<br />

Euro jährlich<br />

über Superlative; über Geschichten, bei denen <strong>der</strong> Wahrheitsgehalt<br />

oft fraglich ist.“ Die Geschichte etwa von Ben<br />

Kaufmann. Und diese Geschichte, die geht so: Ein junger<br />

Galerist mit besten Kontakten, mit Messeeinladungen bis<br />

nach New York, ein Kunstvermittler, kultiviert und erfolgreich.<br />

Eines Tages schließt dieser Mann seine boomende<br />

Galerie. Plötzlich, unverhofft, fast über Nacht.<br />

Für einen Moment scheint <strong>der</strong> Szene <strong>der</strong> Atem zu stocken.<br />

Kaufmann dreht den Schlüssel im Türschloss und<br />

kehrt allen Bil<strong>der</strong>n den Rücken zu, den Arbeiten von Matthias<br />

Dornfeld, Maja Körner, Bernd Ribbeck. „Am Erfolg<br />

gescheitert“ schrieb damals Die Zeit über das Ende <strong>der</strong> Galerie<br />

an einer belebten Szenestraße im Osten Berlins. Das<br />

war vor fast drei Jahren. Jetzt sitzt <strong>der</strong> 41-jährige Kaufmann<br />

in <strong>der</strong> Lobby eines Hotels an <strong>der</strong>selben Straße und<br />

schaut hinüber zum einstigen Glück. „Ich traure dem nicht<br />

nach“, sagt <strong>der</strong> hochgewachsene, leicht schüchterne Mann.<br />

Er trägt eine rote Baseballkappe auf seinem Kopf und verrührt<br />

gedankenverloren einen Latte macchiato. „Der Entschluss,<br />

meine Galerie zu schließen, kam wirklich von innen<br />

heraus.“ Er hat es versucht. Er ist<br />

gescheitert. Viele sollten noch nach ihm<br />

schließen. Giti Nourbakhsch etwa o<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Berliner Platzhirsch Martin Klosterfelde.<br />

Etwas scheint faul zu sein am Finanzplatz<br />

Kunst. „Der ganze Apparat<br />

ist aufgebläht. Vieles wird heiterer geredet,<br />

als es ist.“ Kaufmann weiß genau,<br />

wovon er da spricht. Er musste selbst<br />

noch im Straucheln groß sein: Am Erfolg<br />

gescheitert. Nicht am Markt und<br />

nicht an den Finanzen. „Manches von<br />

dem, was damals über die Schließung<br />

meiner Galerie in den Medien zu lesen<br />

gewesen ist, hat einfach nicht ganz <strong>der</strong><br />

Wahrheit entsprochen.“<br />

Doch das ist halt damals gewesen;<br />

vor knapp drei Jahren. Jetzt gibt es neue<br />

Wahrheiten über Ben Kaufmann. Jetzt ist <strong>der</strong> Ex-Galerist<br />

zurück. Zurück bei den Bil<strong>der</strong>n und den Talenten. Bei <strong>der</strong><br />

Kunst, die mehr sein will als Konsum o<strong>der</strong> Luxus. Seit letztem<br />

Sommer leitet er den „Neuen Aachener Kunstverein“ –<br />

ein Haus, das auch jenseits <strong>der</strong> Kaiserstadt einen Namen<br />

besitzt. Von <strong>der</strong> Marktseite ist Kaufmann auf die Institutionsseite<br />

gewechselt. Doch auch die ist längst nicht mehr<br />

vom Geld zu trennen: „Natürlich haben Künstler ein großes<br />

Interesse, in Kunstvereinen auszustellen. Das schafft<br />

Reputation und Aufmerksamkeit – und letztlich steigert es<br />

auch die kommerzielle Nachfrage.“<br />

ER ZIEHT SICH die Baseballkappe von seinem Kopf. Und<br />

dann erzählt er von <strong>der</strong> Verquickung zweier scheinbar getrennter<br />

Systeme: von Sammlern, die sich in Kunstvereinen<br />

engagierten, von Galeristen, die Ausstellungsproduktionen<br />

und Kataloge finanzierten. „Die Grenze zwischen<br />

dem Markt und den Institutionen ist ziemlich diffus geworden.<br />

In gewisser Weise besteht ein Abhängigkeitssystem.<br />

113<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


SALON<br />

Reportage<br />

Der Kunstmarkt stecke voller Tabus: Claudia Zölsch kennt ihn gut, war selbst Künstlerin. Heute berät sie Künstler in Krisensituationen<br />

114<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


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VOM OSMANISCHEN REICH<br />

ZUR UKRAINE<br />

Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong> (Seiten 108 bis 114), Torsten Warmuth (Autor)<br />

Eine große Koalition.“ Jede Wand scheint eben auch ein<br />

Marktplatz zu sein und jede Vernissage ein mittlerer Preissprung.<br />

Ben Kaufmann schaut wie<strong>der</strong> hinaus auf die Straße.<br />

Ein paar Hun<strong>der</strong>t Meter von hier lag das Glück. „Von <strong>der</strong><br />

Kunst“, sagt er, „wird immer so etwas Gutes erwartet.“ Die<br />

Kunst solle moralisch und ehrlich sein. „Am Ende aber ist<br />

<strong>der</strong> Rücken <strong>der</strong> Kunst vermutlich gar nicht groß genug, um<br />

all diesen Erwartungen standzuhalten.“<br />

AUCH CLAUDIA ZÖLSCHS RÜCKEN war wohl ein bisschen<br />

zu klein. Auch sie hat die Freiheit <strong>der</strong> Kunst vielleicht überschätzt.<br />

„Der Übergang von <strong>der</strong> Akademie in den Markt<br />

wollte mir damals einfach nicht richtig gelingen.“ Damals,<br />

als sie noch Künstlerin war. Dabei ist eine von Zölschs Arbeiten<br />

sogar auf <strong>der</strong> Documenta zu sehen gewesen; eine<br />

Performance von ihr und ihrer einstigen Partnerin Brigitte<br />

Mayer. „Fürstin Gloria hat uns die Hand geschüttelt“, sagt<br />

Zölsch mit einer Mischung aus Stolz und Verachtung.<br />

Das alles ist ja auch lang genug her. Kassel in den achtziger<br />

Jahren. Ein paar Monate <strong>der</strong> Geschmack des Erfolgs.<br />

Dann kamen beide an Grenzen. Mayer ist später die vierte<br />

»Sean McMeekin argumentiert in dieser mutigen und brillanten<br />

Frau von Heiner Müller geworden. Heute besitzt sie eine Galerie<br />

in Beverly Hills. Claudia Zölsch ist nach Berlin gegan­<br />

war wie Deutschland. Mit einer Vielzahl von Quellen (…) belegt<br />

Studie, dass Russland ebenso verantwortlich für den Ausbruch<br />

er, dass die Russen ihre eigenen Ziele hatten – die Zerschlagung<br />

des österreichisch-ungarischen und des Osmanischen<br />

gen. Sie hat noch einmal studiert, hat neu begonnen. Heute<br />

leitet die 46-Jährige eine Coaching-Agentur für Künstler in<br />

Reichs.« Orlando Figes, Historiker in <strong>der</strong> Sunday Times<br />

Krisen. Künstler, die die Risse nicht mehr ertragen – die in<br />

<strong>der</strong> Kunst und die im Leben.<br />

EUROPAVERLAGBERLIN www.europa-verlag.com<br />

Dabei haben viele dieser Künstler noch immer ein großes<br />

Ziel vor Augen: Herauskommen aus <strong>der</strong> Hungerei. Das<br />

»Ein Film zum Nie<strong>der</strong>knien und Küssen.«<br />

aber sei harte Arbeit. Das sei ein extremer Druck. Manch­<br />

BERLINER ZEITUNG<br />

1_4_McMeekinII_<strong>Cicero</strong>.indd 1 08.07.2014 1<br />

mal kann sich Claudia Zölsch über den ganzen Zirkus richtig<br />

empören. Manchmal durchstreift ihren freundlichen<br />

Blick Wut: „Der Kunstmarkt“, sagt sie, „ist voller merkwürdiger<br />

Tabus: ‚Du sollst nicht über deine Arbeit reden!‘,<br />

‚Du sollst nicht gefallen wollen!‘, vor allem aber: ‚Du sollst<br />

nicht vor<strong>der</strong>gründig nach dem Geld gieren!‘“ Viele Künstler<br />

haben solche Sätze verinnerlicht. Für viele ist das Geld das<br />

Böse. Vielleicht, weil die ganze Welt heute nur noch vom<br />

Pekuniären redet. Jedes Gemälde ist längst ein Preisschild.<br />

Claudia Zölsch weiß, dass die Verteuflung des Geldes<br />

eigentlich Quatsch ist. Alles beruhe auf überkommenen<br />

Mythen. Das sage sie als Coach zu ihren Klienten. Doch<br />

man kann den Schleier nicht einfach wegziehen. „Das dürfen<br />

Sie auf gar keinen Fall! Der ganze Markt lebt von den<br />

Schizophrenien.“ Man kann den Riss nur ertragen lernen.<br />

Man kann ihn aushalten o<strong>der</strong> bewohnen. Manchmal kann<br />

man auch über ihn lachen. So wie Oscar Wilde in einem alten<br />

Bonmot: „Wenn Banker Banker treffen, reden sie über<br />

Kunst, wenn Künstler Künstler treffen, reden sie über Geld.“<br />

Vielleicht reden beide Gruppen aber auch längst vom Gleichen.<br />

Nur sagen, sagen dürfen sie das auf gar keinen Fall.<br />

RALF HANSELLE ist Kunstkritiker und wäre<br />

manchmal gerne Heiner Müller. Das Zusammenspiel<br />

von Kunst und Ökonomie verrät ihm viel über<br />

das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit in einer<br />

Gesellschaft<br />

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SALON<br />

Literaturen<br />

Neue Bücher, Texte, Themen<br />

Dokufiction<br />

Ein Rockefeller aus Bayern<br />

Der amerikanische Schriftsteller Walter Kirn erzählt die Geschichte<br />

eines deutschen Hochstaplers, dem auch er selbst aufgesessen war<br />

Vor fünf Jahren geisterte <strong>der</strong> Name<br />

Christian Karl Gerhartsreiter<br />

erstmals durch die Schlagzeilen.<br />

Der Hochstapler, dessen aberwitzige Betrügereien<br />

über Jahrzehnte unentdeckt<br />

blieben, war 2008 bei dem Versuch, seine<br />

eigene Tochter zu entführen, endlich aufgeflogen.<br />

Der 1962 geborene Gerhartsreiter<br />

stammte aus einer Kleinstadt in Bayern,<br />

wan<strong>der</strong>te als 17-Jähriger in die USA<br />

aus und wechselte von da an Namen und<br />

Identitäten wie an<strong>der</strong>e die Socken. Mit<br />

unfassbarer Überzeugungskraft mimte<br />

er den Filmregisseur, den Großindustriellen,<br />

den alteuropäischen Aristokraten<br />

o<strong>der</strong> den Banker. Nun jedoch erhärtete<br />

sich <strong>der</strong> Verdacht, dass sich hinter den<br />

tausend Masken ein Monster verbarg:<br />

1985 wurde in einem Vorort von Los Angeles<br />

<strong>der</strong> 25-jährige John Sohus ermordet,<br />

die Leiche war in drei Teile zerteilt und<br />

wenige Meter von einem Gartenhaus vergraben,<br />

in dem damals ein verarmter britischer<br />

Landadeliger namens Christopher<br />

Chichester alias Gerhartsreiter zur Untermiete<br />

wohnte. Knapp 30 Jahre nach<br />

<strong>der</strong> Tat lagen dem Gericht lediglich Indizienbeweise<br />

vor, aber sie reichten aus,<br />

um die Geschworenen zu überzeugen.<br />

Im Sommer 2013 wurde Gerhartsreiter<br />

des Mordes schuldig gesprochen und zu<br />

27 Jahren Haft verurteilt.<br />

Zu den aufmerksamsten Prozessbeobachtern<br />

gehörte auch <strong>der</strong> Journalist<br />

und Schriftsteller Walter Kirn. An <strong>der</strong><br />

Schuld des Angeklagten bestand für ihn<br />

Foto: John Tlumacki/The Boston Globe via Getty Images<br />

116<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


ereits zu Beginn <strong>der</strong> Verhandlung keinerlei<br />

Zweifel. Kopfzerbrechen bereitete<br />

ihm dagegen die Frage, wie Gerhartsreiter<br />

es angestellt haben mochte, jeden, <strong>der</strong><br />

ihm seit den Achtzigern begegnet war, zu<br />

täuschen. Die gesamte New Yorker Oberschicht<br />

ging ihm auf den Leim, selbst<br />

die Frauen, die Gerhartsreiter heiratete,<br />

wussten nicht, wer ihr Ehemann in Wahrheit<br />

war. Über zehn Jahre hinweg war<br />

auch Walter Kirn davon überzeugt gewesen,<br />

dass er und Gerhartsreiter, dessen<br />

richtigen Namen er erst seit kurzem<br />

kennt, in einem beson<strong>der</strong>s vertrauensvollen<br />

Verhältnis zueinan<strong>der</strong> standen.<br />

In „Blut will reden“, einem schillernden<br />

Paradestück amerikanischer Erzählkunst<br />

in <strong>der</strong> Tradition des New Journalism,<br />

sucht Kirn nun nach Antworten. Mit<br />

dramaturgischem Geschick wechselt er<br />

zwischen faktentreuer Gerichtsreportage<br />

und tragikomischer Gewissenserforschung.<br />

Mit sich selbst geht er dabei<br />

mindestens ebenso harsch und ironisch<br />

ins Gericht wie mit dem kaltblütig mordenden<br />

Hochstapler.<br />

Alles hatte für Kirn 1998 mit einer<br />

querschnittsgelähmten, inkontinenten<br />

Setterdame namens Shelby begonnen:<br />

Gerhartsreiter, damals besser bekannt<br />

als Clark Rockefeller, hatte den Hund<br />

per Internet adoptiert. Und Kirn, <strong>der</strong> zu<br />

jener Zeit noch nicht daran gewöhnt war,<br />

von George Clooney, dem Hauptdarsteller<br />

in <strong>der</strong> Hollywoodverfilmung seines<br />

2001 erschienenen Romans „Up in the<br />

Air“, zu Partys eingeladen zu werden,<br />

brannte darauf, den tierlieben Spross einer<br />

<strong>der</strong> reichsten Dynastien aller Zeiten<br />

kennenzulernen. Nur allzu bereitwillig<br />

übernahm <strong>der</strong> 36-Jährige die strapaziöse<br />

Aufgabe, den Hund samt Hun<strong>der</strong>ollstuhl<br />

von Montana quer durch die USA<br />

zum barmherzigen Herrchen nach New<br />

York zu transportieren. Was dann folgte,<br />

liest sich wie eine Parabel auf die eigentümliche<br />

Fähigkeit des Menschen, all das,<br />

was seinem Wunschdenken wi<strong>der</strong>spricht,<br />

aus <strong>der</strong> urteilsbildenden Wahrnehmung<br />

herauszufiltern: Das für einen Rockefeller<br />

auffällig stümperhaft blondierte Haar,<br />

die karge, durchschnittlich eingerichtete<br />

Wohnung, die Abwesenheit von Personal,<br />

das lächerlich geringe Honorar für<br />

den Hundetransport – all die Details, die<br />

Kirns Misstrauen hätten wecken müssen,<br />

übersah er entwe<strong>der</strong> o<strong>der</strong> nahm sie als<br />

Der Junge aus<br />

dem hinterwäldlerischen<br />

Nichts folgte<br />

seinem american<br />

dream und<br />

hatte Erfolg:<br />

Er gab den<br />

Leuten, wonach<br />

sie sich sehnten<br />

Belege für die neoaristokratische Exzentrik<br />

des neuen Freundes.<br />

Auch aus den tieferen Motiven hinter<br />

seiner Gutgläubigkeit macht Kirn keinen<br />

Hehl: Er, <strong>der</strong> begabte Junge aus bescheidenen<br />

Verhältnissen, hatte mehr als einmal<br />

erfahren, wo die soziale Stufenleiter<br />

für ihn endete; sei es durch seine Upperclass-Kommilitonen<br />

in Princeton und Oxford,<br />

die ihn wie ein vulgäres Kuriosum<br />

behandelten, sei es durch seine mühsam<br />

eroberten glamourösen Freundinnen, die<br />

ihn nach kurzer Zeit wie<strong>der</strong> verließen.<br />

Und nun zählte <strong>der</strong> Inbegriff eines vermögenden<br />

Snobs zu seinen engsten Bezugspersonen:<br />

Genugtuung und soziale<br />

Aufstiegschance in einem. Ärgerlich fand<br />

Kirn es dennoch, wenn er nach einem Restaurantbesuch<br />

die Rechnung übernehmen<br />

musste – <strong>der</strong> Mann, den er für einen<br />

Multimilliardär hielt, hatte in <strong>der</strong> Regel<br />

sein Portemonnaie vergessen.<br />

Doch nicht nur sich selbst, auch <strong>der</strong><br />

amerikanischen Gesellschaft hält Kirn<br />

gnadenlos den Spiegel vor: Mit Beginn<br />

<strong>der</strong> Reagan-Ära waren die Tage von<br />

Beatlemania und Flower-Power-Folklore<br />

gezählt. Dafür brach sich nun die<br />

kollektive Faszination für Status, Klassenzugehörigkeit<br />

und britisches Teegebäck<br />

Bahn, die Bestsellerlisten wurden<br />

plötzlich von Etikette-Ratgebern gestürmt.<br />

Gerhartsreiter erwies sich als<br />

vollkommen immun gegen die humoristischen<br />

Facetten dieses Trends. Er lernte<br />

sämtliche Benimm-Bibeln auswendig,<br />

trug nur noch Mokassins und trainierte<br />

sich eine dauerpikierte Sprechweise an.<br />

Der Junge aus dem hinterwäldlerischen<br />

Nichts arbeitete hart an seiner Variante<br />

des amerikanischen Traumes und hatte<br />

Erfolg, weil er seinem Umfeld gab, wonach<br />

es sich sehnte.<br />

Im Jahr 2008 ließen die echten Rockefellers<br />

offiziell verkünden, dass sie<br />

keineswegs mit dem gerade inhaftierten<br />

Gerhartsreiter verwandt seien. In Kirns<br />

Buch wird er dafür zum Repräsentanten<br />

eines viel ehrwürdigeren Geschlechts erklärt<br />

– <strong>der</strong> großen Dynastie skrupelloser<br />

Sozialaufsteiger und krimineller Verwandlungskünstler,<br />

die ihr Hoheitsgebiet<br />

vor allem in <strong>der</strong> angloamerikanischen Literatur<br />

haben. Die eigentliche DNA des<br />

falschen Rockefeller findet sich folglich<br />

in Werken von Herman Melville, Agatha<br />

Christie und, ganz beson<strong>der</strong>s auffällig, in<br />

Patricia Highsmiths Roman „Der talentierte<br />

Mister Ripley“. Dies könnte nach<br />

<strong>der</strong> unzulässigen Glorifizierung eines<br />

kaltblütigen Mör<strong>der</strong>s klingen. Tatsächlich<br />

jedoch handelt es sich um Kirns raffinierten<br />

und unsentimentalen Versuch,<br />

mit Gerhartsreiter endgültig abzurechnen.<br />

So lag dem Hochstapler einst sehr<br />

viel an seiner „literarischen Immunität“.<br />

Im Namen <strong>der</strong> Freundschaft appellierte<br />

er an den gutgläubigen Walter Kirn, niemals<br />

über ihn zu schreiben. Der Schriftsteller<br />

versprach schweren Herzens, sich<br />

daran zu halten. Dem Buch, durch welches<br />

<strong>der</strong> Autor jetzt auf so lesenswerte<br />

Weise wortbrüchig wurde, ist als Motto<br />

ein Satz aus Fitzgeralds „Der große<br />

Gatsby“ vorangestellt: „Ein Schriftsteller,<br />

<strong>der</strong> nicht schreibt, ist im Grunde<br />

ein Wahnsinniger.“ Dass Christian Karl<br />

Gerhartsreiter, <strong>der</strong> durch permanente<br />

Überarbeitung seiner selbst jede Persönlichkeit<br />

verloren hat, hier zur halbliterarischen<br />

Figur degradiert wird, scheint<br />

nur folgerichtig: So konnte <strong>der</strong> Schriftsteller<br />

Kirn wie<strong>der</strong> Herr über den Wahnsinn<br />

werden, <strong>der</strong> ihm in <strong>der</strong> Realität wi<strong>der</strong>fahren<br />

ist. Marianna Lie<strong>der</strong><br />

Walter Kirn<br />

„Blut will reden“<br />

Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch<br />

C. H. Beck, München 2014. 282 S., 19,95 €<br />

117<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


SALON<br />

Literaturen<br />

Literatur und Politik<br />

Die Saat <strong>der</strong> Utopie<br />

In einer Anthologie beschwören türkische Autorinnen und<br />

Autoren den demokratischen Geist vom Gezi-Park<br />

Ein Präsident mit erweiterten Vollmachten?<br />

Als <strong>der</strong> türkische Ministerpräsident<br />

kürzlich durchblicken<br />

ließ, wie er sich seine künftige Rolle in<br />

<strong>der</strong> Politik vorstellt, dürfte es vielen Türken<br />

kalt den Rücken heruntergelaufen<br />

sein. Da hatten sie vor einem Sommer<br />

im <strong>Ist</strong>anbuler Gezi-Park die erste türkische<br />

Republik gegründet, die diesen<br />

Namen verdiente. Und diese historische<br />

Leistung soll nun in eine Erdogan-Demokratur<br />

münden?<br />

Wer ermessen will, wie sehr sich die<br />

politische Stimmung am Bosporus wie<strong>der</strong><br />

gedreht hat, sollte zu <strong>der</strong> „Gezi“-Anthologie<br />

greifen, die die Übersetzerin<br />

und Autorin Sabine Adatepe zusammengestellt<br />

hat. 21 Autorinnen und Autoren,<br />

Schriftsteller wie Murat Uyurkulak, Publizistinnen<br />

wie Ayfer Tunç o<strong>der</strong> Künstlerinnen<br />

wie Janset Karavin beschwören<br />

darin noch einmal den „Geist von Gezi“:<br />

das Gefühl von Freiheit, Menschlichkeit<br />

und Solidarität.<br />

Vor <strong>der</strong> Kulisse von heute wirkt das<br />

kreative Chaos dieser Tage, das die Fotografien<br />

von Selen Özer Günday ins<br />

Gedächtnis rufen, allerdings, als wäre<br />

es mittlerweile Lichtjahre entfernt.<br />

Man merkt den Texten dieser literarischen<br />

Anthologie – die vom offenen<br />

Brief über die Erzählung bis hin zum Gedicht<br />

reicht – an, dass sie unter dem unmittelbaren<br />

Eindruck <strong>der</strong> turbulenten Ereignisse<br />

des vorigen Jahres geschrieben<br />

wurden. Immer wie<strong>der</strong> kreisen sie um die<br />

Personen, die Orte und Parolen <strong>der</strong> vom<br />

türkischen Staat mitsamt seinen Polizeikräften<br />

so massiv bekämpften 14-Tage-<br />

Republik. In ihren in <strong>der</strong> „Gezi-Anthologie“<br />

versammelten Texten werden etliche<br />

Autoren daher nun rundheraus politisch.<br />

So etwa <strong>der</strong> kurdische Publizist Burhan<br />

Sönmez – in den 21 Thesen seines Manifests<br />

„Ästhetik des Wi<strong>der</strong>stands“ preist<br />

er den „Geschmack von Aufstand“ und<br />

die „Saat <strong>der</strong> Utopie“.<br />

An<strong>der</strong>e kleiden für jene Tage typische<br />

Erlebnisse in den Mantel <strong>der</strong> schnell gestrickten<br />

Erzählung. Meist um zu zeigen,<br />

wie das brutale Vorgehen <strong>der</strong> Staatsmacht<br />

die unpolitischen Mittelschichten politisiert<br />

hat. Die Autorin Nermin Yıldırım<br />

beschreibt in dem Zehn-Tage-Protokoll<br />

„Das Gezi-Tagebuch einer Mutter“, wie<br />

eine Frau zur Sympathisantin <strong>der</strong> Bewegung<br />

wird: „Na, was mein Sohn abkriegt,<br />

nehm ich auch, kein Problem.“ Die romantische<br />

Emphase solcher Texte springt<br />

einen heute ein wenig seltsam an, wenn<br />

da <strong>der</strong> Lyriker Cevat Çapan in seinem<br />

Gedicht „Haydar Haydar“ die Demonstranten<br />

als „Glühwürmchen mit nie verlöschendem<br />

Feuer“ preist. Dennoch bewahrt<br />

die verdienstvolle Textsammlung<br />

damit etwas von dem Geist jener Tage.<br />

Gelegentlich übersteigt sogar ein<br />

Text den realen Anlass auf poetische<br />

Weise. So verpackt Oya Baydar, die<br />

Grande Dame <strong>der</strong> gesellschaftskritischen<br />

Literatur <strong>der</strong> Türkei, die Sehnsucht<br />

<strong>der</strong> Demonstranten nach Freiheit<br />

und Selbstbestimmung in das Gleichnis<br />

von dem Kater Tschapaul. Das „warme,<br />

weiche Etwas“, das die Protagonisten<br />

von Baydars gerade mal vier Seiten langer<br />

Erzählung im Park finden und aufpäppeln,<br />

taufen sie entsprechend dem<br />

Schmähwort Erdogans einen „çapulcu“,<br />

einen Marodeur. Am Ende sind sie traurig,<br />

als das eigensinnige Tier das tut, was<br />

sie alle wollen: seiner eigenen Wege gehen.<br />

Als Präsident dürfte Recep Tayyip<br />

Erdogan diesem Wunsch freilich auch<br />

künftig entgegenstehen. Ingo Arend<br />

Sabine Adatepe (Hg.)<br />

„Gezi. Eine literarische Anthologie“<br />

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe<br />

und Monika Demirel.<br />

Binooki, Berlin 2014. 128 S., 19,90 €<br />

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15. August – 14. September 2014<br />

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Krimi<br />

Im Rachen <strong>der</strong> Macht<br />

Echt gruselig: Ein Krimi erzählt, wie es bei<br />

Rüstungsgeschäften in unserer Wirklichkeit zugeht<br />

Im Juni dieses Jahres wurde ein gigantischer<br />

Rüstungsdeal zwischen<br />

deutschen Firmen und <strong>der</strong> Republik<br />

Algerien von <strong>der</strong> Bundesregierung abgesegnet.<br />

Der zuständige Minister, Sigmar<br />

Gabriel, sah keine Möglichkeit, die Verträge<br />

zu stoppen, die die vorige Regierung<br />

ausgehandelt hatte: Schließlich sei<br />

Algerien ja kein Bürgerkriegsland. Die<br />

Arabellion hat auf den Mittelmeerstaat<br />

nicht übergegriffen, die USA schätzen<br />

ihn im Kampf gegen den Terror – alles<br />

scheint im seit 1999 von <strong>der</strong> „Nationalen<br />

Befreiungsfront“ diktatorisch regierten<br />

Algerien zum Besten zu stehen.<br />

Dass es sich de facto ganz an<strong>der</strong>s verhält,<br />

liegt auf <strong>der</strong> Hand: Weshalb sollte<br />

<strong>der</strong> <strong>Islam</strong>ismus ausgerechnet um dieses<br />

an Gas und Öl reiche Land einen Bogen<br />

machen? Und weshalb sollte es gegen das<br />

Regime keine wachsende militante Opposition<br />

geben? Aber wer berichtet uns<br />

davon? Oliver Bottini, vielfach preisgekrönter<br />

deutscher Krimi-Autor, tut es in<br />

seinem grandios erzählten, superspannenden<br />

Roman „Ein paar Tage Licht“.<br />

Als die Romanhandlung im Oktober<br />

2012 beginnt, ist <strong>der</strong> Abgesandte eines<br />

deutschen Rüstungskonzerns, bewacht<br />

von einer Eskorte des algerischen Verteidigungsministeriums,<br />

gerade in <strong>der</strong><br />

malerischen Stadt Constantine eingetroffen;<br />

am nächsten Tag soll er die Arbeit<br />

in einer Panzerfabrik aufnehmen.<br />

Doch so weit kommt es nicht, er wird verschleppt<br />

– <strong>der</strong> Verdacht, dass die Entführer<br />

nicht <strong>der</strong> „Al Qaida im islamischen<br />

Maghreb“ angehören, wird sich erst später<br />

abzeichnen. Eine Spur dafür legt allerdings<br />

schon <strong>der</strong> Prolog des Romans,<br />

<strong>der</strong> am 27. September 1995 in Algier<br />

einsetzt. Er führt in die Zeit des Bürgerkriegs<br />

zurück, als <strong>der</strong> Vater des kleinen<br />

Djamel von Soldaten ins berüchtigte Gefängnis<br />

Serkadji geschafft wurde – nur<br />

seine Brille blieb im Hauseingang zurück,<br />

ein Erinnerungssymbol für die radikalisierte<br />

junge Generation.<br />

Doch nicht nur auf Geschichte und<br />

Gegenwart des innerlich heillos zerrissenen<br />

Algerien lenkt Bottini unsere Aufmerksamkeit.<br />

An<strong>der</strong>e wesentliche Schauplätze<br />

liegen in <strong>der</strong> Bundesrepublik: in<br />

Schwaben, wo die deutsche Waffenfirma<br />

des Entführten beheimatet ist, in <strong>der</strong> Gegend<br />

um Lüneburg, wo Djamels aus Algerien<br />

geflohener Großvater lebt, und in<br />

Berlin natürlich, wo in den Ministerien<br />

mit harten Bandagen um die Durchsetzung<br />

algerischer Waffenkäufe gekämpft<br />

wird. Dort ist auch die Zentrale angesiedelt,<br />

<strong>der</strong> gegenüber <strong>der</strong> BKA-Mann an<br />

<strong>der</strong> Botschaft in Algier, Ralf Eley, sich<br />

für seine Eigenmächtigkeit zu verantworten<br />

hat: Nachdem <strong>der</strong> deutsche Waffenspezialist<br />

verschwunden ist, nimmt<br />

Eley die Ermittlungen auf eigene Faust<br />

auf – jenseits <strong>der</strong> Augen-zu-Politik <strong>der</strong><br />

Regierung, jenseits ebenso <strong>der</strong> allseitigen<br />

geheimdienstlichen Aktivitäten. Dabei<br />

gerät auch seine Geliebte, die junge<br />

algerische Staatsanwältin Amel, in Gefahr,<br />

die selbst in die Ereignisse weit tiefer<br />

verwickelt ist, als Eley ahnen konnte.<br />

Am Ende besteht wenigstens Hoffnung<br />

für die Liebe. Doch haben etliche<br />

Menschen ihr Leben verloren – wegen<br />

<strong>der</strong> Gier nach Geld ebenso wie wegen<br />

des Kampfes um die Macht. Wir Leser<br />

aber nehmen einen tiefen Einblick in die<br />

teils nahtlose Verflechtung zwischen Politik<br />

und Wirtschaft. Was da schließlich<br />

bleibt: die Hoffnung auf die Wi<strong>der</strong>standskraft<br />

des moralisch handelnden Einzelnen.<br />

<strong>Ist</strong> das ermutigend? Ja, auch. FMG<br />

Oliver Bottini<br />

„Ein paar Tage Licht“<br />

DuMont, Köln 2014. 512 S., 19,99 €<br />

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www.fischerverlage.de<br />

»Ein großer amerikanischer Roman<br />

in <strong>der</strong> Gestalt eines monumentalen<br />

Sachbuchs.« The Times<br />

Der Bestseller aus den USA –<br />

Das epochale Buch<br />

zur Lage <strong>der</strong> Nation !<br />

Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Abwicklung begann – wann die<br />

Bürger Amerikas zum ersten Mal spürten, dass die Bande sich lösten. Dass <strong>der</strong><br />

Glaube an die gemeinsame Zukunft nicht mehr gültig ist. Mittels eindringlicher<br />

Portraits schafft George Packer eine einzigartige literarische Collage, die eine<br />

Nation in Auflösung zeigt. Ein Buch, das auch uns die wesentliche Frage stellt:<br />

In welcher Welt wollen wir leben?<br />

Aus dem Amerikanischen von Gregor Hens,<br />

512 Seiten, gebunden, € (D) 24,99


SALON<br />

Literaturen<br />

Rausch und Poesie<br />

Blau ist alles<br />

Sehnen hier<br />

Rüdiger Görner deutet<br />

Georg Trakl als Dichter<br />

<strong>der</strong> Entschleunigung.<br />

Mit toxischem Schaffen<br />

wehrte er sich gegen<br />

eine nervöse Zeit<br />

Die Sonne? Begraben im Wald. Der rote Wolf? Vom Engel<br />

gewürgt. Die blaue Taube? Mit zerschnittener Kehle<br />

am Boden. Aber das Kind? Blutend. So geht es zu in<br />

<strong>der</strong> dichterischen Welt des Georg Trakl, <strong>der</strong> vor hun<strong>der</strong>t Jahren<br />

aus einem sehr kurzen Leben schied, das stattfand im Wort,<br />

in <strong>der</strong> Farbe, <strong>der</strong> Melodie – und fast nirgends sonst. Darum ist<br />

Trakl Zeitgenosse <strong>der</strong> Trauernden und Träumenden bis heute.<br />

Natürlich „Tabu“ hieß <strong>der</strong> Film über ihn und seine Schwester<br />

Grete und <strong>der</strong>en engstes Verhältnis, und natürlich gab Lars<br />

Eidinger den Trakl mit jener „singenden Flamme im Herzen“,<br />

die ihn früh verbrannte, denn „mein ganzes Leben taugt nicht.<br />

Ich hab zu viel Ballast.“ Im Spielfilm tauschen Georg und Grete<br />

Zungenküsse unter Sommerregen, pressen den Leib aneinan<strong>der</strong>,<br />

suchen die „dunkle Liebe eines goldnen Geschlechts“. In<br />

Rüdiger Görners Buch, einer Studie, keiner Biografie, lautet<br />

<strong>der</strong> Befund: „Nichts beweist den vollzogenen Inzest, wohl aber<br />

den imaginierten.“ Generell seien die Spuren spärlich, „zu vieles<br />

in seinem kurzen Leben verweigert sich <strong>der</strong> Biografie und<br />

darstellen<strong>der</strong> Schlüssigkeit.“<br />

Das Schlüsselloch bleibt geschlossen. Die Scheinwerfer des<br />

Literaturwissenschaftlers sind gerichtet auf Trakls „toxisches<br />

Schaffen“. Die Frage lautet, wie es dem suchtkranken Dichter<br />

aus Salzburg gelang, eine Lyrik zu verfassen, „die ihrerseits<br />

bestimmte Gemüter süchtig machte und wohl auch machen<br />

sollte“. Auf welchen Pfeilern ruht die von Görner eindrücklich<br />

bewiesene „beispiellose Verfallsradikalität“? Schon in jungen<br />

Jahren war Trakls Dichten ein Dichten zum Ende hin, malte<br />

er „des Todes reine Bil<strong>der</strong>“.<br />

Zwei Antworten gibt <strong>der</strong> in London lehrende Görner: Trakl<br />

ließ sich anregen, ja, „wollte sich beeinflussen lassen“, von Verlaine,<br />

Rimbaud, Baudelaire und Nietzsche, die das „Einsamkeitsverhängnis“<br />

gerade so ausbuchstabiert hatten, wie ihm<br />

es sich auf die Seele legte. Wenn Trakl ganz Text war, dann<br />

war sein Ich nur als Kreuzungspunkt mannigfacher Textwelten<br />

momentweise zu haben – und dann zerstob es wie<strong>der</strong>, gab<br />

es „keine wirkliche Ausprägung einer Persönlichkeit (…), we<strong>der</strong><br />

im Werk noch im Leben“.<br />

Auch ein Sommer weiß wenig von <strong>der</strong> Heiterkeit: Georg<br />

Trakl am Strand von Venedig, im Jahr vor seinem Tod<br />

Zweitens sah Trakl den Dichter, wie er in „Hohenburg“<br />

schrieb, „ferne dem Getümmel <strong>der</strong> Zeit“. Rimbaud hatte zuvor<br />

gefragt, „warum eine mo<strong>der</strong>ne Welt, wenn solche Gifte erfunden<br />

werden?“ Trakl nahm in seinen Gedichten, diesen funkelnden<br />

Entgiftungen, die Mo<strong>der</strong>ne zu sich und wi<strong>der</strong>stand ihr<br />

zugleich. An diesem Bruch zerbrach er. Er setzte die ins Gedicht<br />

gerettete, aus den Formen des Spätbarock schöpfende<br />

Schönheit wi<strong>der</strong> das Schrille <strong>der</strong> Jetztzeit, entschleunigte, wo<br />

die Geschwindigkeit herrschte, war antinervös im Zeitalter <strong>der</strong><br />

Hysterie. Görner leitet die Ungleichzeitigkeit Trakls präzise<br />

aus den Gedichten ab und liefert so, trotz manch ausladen<strong>der</strong><br />

Textarbeit, eine erhellende Neuvermessung dieses Kontinents<br />

<strong>der</strong> Selbstentsagung.<br />

Schönheit als Wi<strong>der</strong>stand, unter des Himmels „blauer Glocke“<br />

wilden Vögeln folgen „nach jenen Län<strong>der</strong>n, schönen, an<strong>der</strong>n“,<br />

damit einmal endlich „dies trauervolle, müde Herz“<br />

die Freude des Grüns erblickt: Trakl fehlt. Er starb in seinem<br />

28. Jahr. Alexan<strong>der</strong> Kissler<br />

Rüdiger Görner<br />

„Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt<br />

<strong>der</strong> Extreme“<br />

Zsolnay, Wien 2014. 352 S., 24,90 €<br />

Foto: Forschungsinstitut Brenner-Archiv/Universität Innsbruck<br />

120<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


SEIT 110 JAHREN<br />

NICHTS ALS<br />

WASSER, WIND<br />

UND WELLEN.<br />

SPANNENDER GEHT’S NICHT.<br />

© Foto: Nico Krauss<br />

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SALON<br />

Bibliotheksporträt<br />

ZWAR NOCH AM LEBEN.<br />

DOCH LEIDER<br />

Der Humorist und Autor Herbert Feuerstein liebt die<br />

amerikanische Literatur, zerstritt sich einst mit Thomas Bernhard,<br />

erfand „Lechz“ und „Hechel“ und schreibt seine Autobiografie<br />

Von BJÖRN EENBOOM<br />

Eigentlich bleibt die Tür zur Bibliothek verschlossen. Hoch oben in einem<br />

vollbepackten Ärztehaus <strong>der</strong> Kölner Vorstadt residiert in einem nicht<br />

einsehbaren Penthouse <strong>der</strong> „am besten versteckte große Künstler des deutschen<br />

Humorgewerbes“, wie es die Süddeutsche Zeitung einmal formulierte.<br />

Herbert Feuerstein gilt als scheu. Er macht keine Homestorys. Ein Fotograf<br />

in den eigenen vier Wänden ist ein Fall für den Kammerjäger, gibt Feuerstein<br />

zu. Umso offener heißt er den Gast willkommen und kredenzt Pu-<br />

Erh-Tee auf <strong>der</strong> geräumigen Dachterrasse: „Das ist ein Schanghaier Snobtee.<br />

Man muss den ersten Aufguss weggießen und dann noch mal etwas warten.<br />

Für diese Teezeremonie habe ich aber gerade nicht das richtige Kostüm.“<br />

So bekannt, wie das Fernsehen ihn mit Sendungen wie „Schmidteinan<strong>der</strong>“,<br />

„Pssst“ o<strong>der</strong> „Was bin ich?“, oft an <strong>der</strong> Seite Harald Schmidts, auch<br />

machte, so wenig misst er dem medialen Ruhm Bedeutung bei. „Ich habe<br />

mich immer als Schreibenden gesehen. Nicht als Literaten, <strong>der</strong> sich ergießen<br />

kann, son<strong>der</strong>n als Handwerker, vom Journalismus geprägt.“<br />

Aufgewachsen in den vierziger Jahren in Salzburg, lernte Feuerstein<br />

rasch lesen. „Es gab eine fürchterliche Begegnung mit einem entsetzlichen<br />

Judenbuch, einem Hassbuch für Kin<strong>der</strong>. Tenor war die Parallele zur Tierwelt:<br />

So wie es Nutztiere und Schädlinge gibt, gibt es gute und schlechte Menschen.<br />

Meine Eltern waren Nazis, ich bin notgedrungen damit konfrontiert<br />

worden. Das führte zu einem lebenslangen Konflikt mit dem Vater.“ Das<br />

erste Buch, das Feuerstein begeistert in <strong>der</strong> Nachkriegszeit las, war Mark<br />

Twains „Die Abenteuer des Tom Sawyer“. Das Jugendabenteuer wurde <strong>der</strong><br />

Beginn einer tiefen Verbundenheit zur amerikanischen Literatur.<br />

In <strong>der</strong> väterlichen Bibliothek entdeckte er Alexandre Dumas. „Neben<br />

dem ‚Graf von Monte Christo‘ schrieb Dumas bizarre Geschichten. ‚Akte,<br />

die Sklavin Neros‘ blieb mir in Erinnerung. Es enthält Zeichnungen halb<br />

nackter Mädchen. Damit hat mich mein Vater erwischt und den Dumas<br />

weggesperrt. Ich habe aber den Schlüssel gefunden und mir das komplette<br />

Werk angelesen. Noch in <strong>der</strong> Vorpubertät!“, sagt Feuerstein fast triumphierend,<br />

erhebt sich, verschwindet in <strong>der</strong> Abstellkammer, kehrt mit einer Leiter<br />

123<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


zurück, steigt empor und greift zum Buch: „Nun näherte sich Sabina <strong>der</strong><br />

Herrin, die sich nicht mehr weigerte, son<strong>der</strong>n selbst die Klei<strong>der</strong> abzustreifen<br />

begann. Eine Hülle nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en sank zu ihren Füßen, bis sie nackt und<br />

errötend dastand wie eine schamhafte Venus …“ Lachend steigt er herab.<br />

In <strong>der</strong> linken Hälfte <strong>der</strong> Bücherwand steht englischsprachige Literatur.<br />

Kürzlich hat Feuerstein Sylvia Plaths „Die Glasglocke“ wie<strong>der</strong>entdeckt.<br />

Auch Biografien haben es ihm angetan. Wie jene über Emanuel Schikane<strong>der</strong>.<br />

„Die Faszination an Biografien wächst, wenn man älter wird. Man zieht Vergleiche<br />

und freut sich, wenn jemand noch mehr gelitten hat als man selber.<br />

Das Einzige, worum ich diese Leute beneide, ist, dass sie schon tot sind.“<br />

In <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Bibliothek befinden sich die Werke befreundeter Autoren,<br />

Romane von Else Buschheuer, Bernhard, Jelinek. Auf Thomas Bernhard<br />

traf Feuerstein früh. Nach <strong>der</strong> Schule führte ihn <strong>der</strong> Weg ans Mozarteum<br />

in Salzburg, wo er Klavier, Cembalo und Komposition studierte. Bernhard<br />

nahm Unterricht in Schauspielkunst und Dramaturgie: „Ich habe Bernhard<br />

auf <strong>der</strong> Bühne gesehen. Er spielte alte Männer. Da war er <strong>der</strong> Gütige, <strong>der</strong><br />

Märchenkönig. Ich habe ihn sehr vor Augen als Schauspieler.“<br />

Die Bekanntschaft zu Bernhard nahm aber ein jähes Ende. An Feuersteins<br />

Abschiedsabend, ehe er für die nächsten zehn Jahre in sein New<br />

Yorker Exil entschwand, parodierte er 1960 Bernhards Gedichte – in dessen<br />

Anwesenheit. Ein <strong>böse</strong>r Disput entstand, beim drauffolgenden Treffen<br />

in einem Café kam es zum Bruch. „Ich habe ihn dann zufällig wie<strong>der</strong>gesehen,<br />

auf <strong>der</strong> Kärntner Straße in Wien, drei Jahre vor seinem Tod. ‚Servus<br />

Feuerstein, was machst’n?‘, fragte Bernhard. ‚Ja, nix. Und du?‘, entgegnete<br />

ich. ‚Gar nix.‘ Das waren Bernhards letzte Worte.“<br />

Rechts im Bücherschrank befinden sich Bücher, die mit ihm zu tun haben.<br />

Aus seiner Zeit als Leiter beim Pardon-Verlag Bärmeier & Nikel o<strong>der</strong><br />

Auftragsbücher, etwa die deutsche Übersetzung von Yoko Onos „Grapefruit“,<br />

o<strong>der</strong>, mittig thronend, die legendären Mad-Magazine, die er als Chefredakteur<br />

bis 1992 betreute. Die von ihm geschaffenen sogenannten Inflektive<br />

wie „Lechz“, „Hechel“, „Würg“ wurden Bestandteil <strong>der</strong> Jugendkultur.<br />

Neben dem für Inflektive formulierten „Erikativ“ zu Ehren <strong>der</strong> Micky-<br />

Maus-Übersetzerin Erika Fuchs müsste es längst einen „Herbativ“ geben.<br />

Ganz ohne Fernsehen geht es nicht. Feuerstein holt eine Dichterlesung<br />

mit dem Autor Wolfgang Bauer. Die Künstler tourten mit dem Gedichtband<br />

„Das stille Schilf“, vor über 40 Jahren. In Berlin produzierte <strong>der</strong> Rias<br />

eine Aufnahme. Darauf zu sehen ist in Schwarz-Weiß ein schlaksiger, langhaariger<br />

Feuerstein, <strong>der</strong> die Lesung an einer kleinen Orgel furios begleitet.<br />

Der Tee ist getrunken, die Dachterrasse menschenleer. Feuerstein steckt,<br />

wie er sagen würde, knöcheltief in <strong>der</strong> Arbeit an seiner Autobiografie. „Die<br />

neun Leben des Herrn F.“ wird Anfang Oktober erscheinen. Ob dem leidenschaftlichen<br />

Hobbypiloten das Schreiben wohl so rasant von <strong>der</strong> Hand geht<br />

wie ein Aufstieg in die Lüfte? „Nein, ich bin immer kurz vor dem Absturz.“<br />

BJÖRN EENBOOM schätzt wie Herbert Feuerstein die amerikanische Literatur<br />

124<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Foto: Frank Schoepgens für <strong>Cicero</strong>


SALON<br />

Hopes Welt<br />

VON GEIGEN UND ANDEREN MORDINSTRUMENTEN<br />

Wie ich einmal über den Lüften begriff, dass die Liebe zur Musik<br />

immer neue Hin<strong>der</strong>nisse bewältigen muss<br />

Von DANIEL HOPE<br />

An<strong>der</strong>s als Sänger müssen Instrumentalisten<br />

nicht nur für sich selbst, son<strong>der</strong>n<br />

auch für ihr Instrument auf <strong>der</strong> Hut sein.<br />

Wir Geiger wissen davon ein Lied zu singen,<br />

denn gute Violinen sind ebenso empfindlich und<br />

zerbrechlich wie wertvoll. Eine Beinahe-Katastrophe<br />

erlebte Geigerkollege Philippe Quint, als<br />

er seine Stradivari in einem New Yorker Taxi<br />

liegen ließ. Einen halben Tag lang blieb das millionenschwere<br />

Instrument unbemerkt auf dem<br />

Rücksitz liegen, ehe es Quint unter Freudentränen<br />

bei dem Fahrer abholen konnte.<br />

Wie ihm zumute war, kann ich leicht nachfühlen.<br />

Auf Reisen bleibt mein Instrument stets<br />

in meiner unmittelbaren Nähe. Es ist für mich<br />

völlig selbstverständlich, die Geige bei Flügen<br />

mit in die Kabine zu nehmen, statt sie den ruppigen<br />

Transportbedingungen von Koffern auszusetzen.<br />

Seit einiger Zeit ist das jedoch nicht mehr<br />

so einfach. Zum einen wurden Höchstmaße für<br />

Handgepäckstücke festgelegt, denen Geigen<br />

kaum gerecht werden können. Welcher Geigenkasten<br />

kommt schon mit <strong>der</strong> zulässigen Maximallänge<br />

von 45 Zentimetern aus? Einzelne Fluggesellschaften<br />

sind dazu übergegangen, nicht mehr<br />

nur für dickleibige Celli, son<strong>der</strong>n auch für die<br />

deutlich schlankeren Violinen eigene Sitzplätze<br />

vorzuschreiben.<br />

Die Einreise nach Amerika wird immer wie<strong>der</strong><br />

zum Erlebnis. Nachdem mich jüngst die<br />

Dame am Schalter mit <strong>der</strong> Frage begrüßt hatte,<br />

warum ich denn hier sei, und ich erklärte, Konzerte<br />

spielen zu wollen, antwortete sie: „Ich habe<br />

auch Geige gespielt.“ Dann streichelte sie die<br />

Pistole an ihrer Hüfte: „Aber ich habe sie gegen<br />

diese Waffe eingetauscht.“<br />

Auch die verschärften Sicherheitsbestimmungen<br />

im Luftverkehr sind problematisch. Es<br />

kam schon vor, dass Ersatzsaiten o<strong>der</strong> Cellostachel<br />

als mögliche Mordinstrumente konfisziert<br />

wurden. Seit dem 1. April 2014 gibt es ein neues<br />

Problem: Geigenbögen, die häufig an <strong>der</strong> Spitze<br />

mit Elfenbein verstärkt sind, dürfen aufgrund<br />

strenger Artenschutzbestimmungen in den USA<br />

ab sofort we<strong>der</strong> ein- noch ausgeführt werden. Es<br />

sei denn, man besitzt ein kaum zu beschaffendes<br />

Dokument, das bezeugt, dass das Material vor<br />

den Handelsverboten verbaut wurde o<strong>der</strong> aber<br />

aus registrierten Altbeständen stammt.<br />

Um es noch komplizierter zu machen, sind<br />

neben Elfenbein auch Schildpatt und geschütztes<br />

Rio-Palisan<strong>der</strong> verboten, ein Tropenholz, das gelegentlich<br />

im Geigenbau vorkommt. Die Münchner<br />

Philharmoniker erlebten es während ihrer<br />

US-Tournee im Mai 2014, als sämtliche Bögen<br />

am Flughafen beschlagnahmt wurden. Erst nach<br />

Einschalten <strong>der</strong> deutschen Botschaft wurden die<br />

Instrumente freigegeben.<br />

Dass gütliches Einvernehmen manchmal<br />

dennoch möglich ist, habe ich neulich auf einer<br />

Reise nach Toronto erlebt. Nach längerer Diskussion<br />

gab ein Pilot von Air Canada endlich<br />

das Einverständnis, meine Geige in <strong>der</strong> Kabine<br />

zu behalten. Allerdings unter einer Bedingung:<br />

„Ich muss Sie bitten, während des Fluges nicht<br />

zu spielen!“<br />

DANIEL HOPE ist Violinist von Weltrang und schreibt<br />

jeden Monat in <strong>Cicero</strong>. Sein Memoirenband „Familienstücke“<br />

war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch<br />

„Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in <strong>der</strong> Musik“<br />

( Rowohlt ) und die CD „Spheres“. Er lebt in Wien<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

126<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Nehmt euch Zeit. Mut zur Muße!<br />

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SALON<br />

Foto: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong><br />

128<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


Die letzten 24 Stunden<br />

Mit Omas<br />

Reisestiefeln<br />

auf die letzte<br />

große Fahrt<br />

VERA<br />

LENGSFELD<br />

Vera Lengsfeld<br />

Sie wehrte sich gegen<br />

die Obrigkeit <strong>der</strong> DDR.<br />

1988 wurde sie verhaftet<br />

und in den Westen ab -<br />

geschoben. Von 1990 bis<br />

2005 saß sie im Bundestag,<br />

erst für Bündnis 90/Die<br />

Grünen, dann für die CDU.<br />

Heute ist sie Autorin<br />

Als ich von <strong>Cicero</strong> die Anfrage<br />

für diese Rubrik bekam,<br />

habe ich spontan gedacht:<br />

„Auweia, darüber<br />

hast du dir noch nie den<br />

Kopf zerbrochen.“ Doch dann fiel mir<br />

sofort wie<strong>der</strong> ein, warum ich mir über<br />

das definitive Ende während <strong>der</strong> zweiten<br />

Hälfte meines Lebens bisher keine Gedanken<br />

gemacht hatte. Weil nämlich das,<br />

was man einst Ars moriendi, die Kunst<br />

des Sterbens, genannt hat, für mich seit<br />

genau 34 Jahren feststeht. Damals war<br />

ich 28 Jahre alt, und meine Großmutter<br />

starb. Diese Großmutter hat in meiner<br />

ersten Lebenshälfte eine beson<strong>der</strong>s wichtige<br />

Rolle gespielt. Sie war für mich beinahe<br />

wichtiger als meine Eltern.<br />

In meiner Kindheit bin ich wegen<br />

<strong>der</strong> Berufstätigkeit <strong>der</strong> Eltern sehr oft<br />

bei meiner Großmutter in Thüringen gewesen.<br />

Ich habe später als Teenager und<br />

junge Frau engen Kontakt zu ihr gehalten.<br />

Auch als ich schon in Berlin lebte, bin<br />

ich in jeden Ferien zu ihr gefahren. Und<br />

wann immer ich es einrichten konnte,<br />

auch außerhalb <strong>der</strong> Ferienzeit. Diese<br />

thüringische Großmutter war seinerzeit<br />

die wichtigste Person in meinem Leben.<br />

Im Frühsommer 1980 war ich wie<br />

gewöhnlich bei ihr. Wir hängten gemeinsam<br />

die Wäsche auf. Da hielt sie plötzlich<br />

inne und sagte zu mir: „Du, Vera, guck<br />

mal auf meine Beine.“ Und da hab ich<br />

geguckt. Sie fragte: „Fällt dir was auf?“<br />

„Ja“, sagte ich, „deine Beine sind so geschwollen.“<br />

Darauf erwi<strong>der</strong>te sie: „Die<br />

alten Leute in meinem Dorf haben dazu<br />

immer gesagt, man hat sich die Reisestiefel<br />

angezogen. Und du siehst“, fuhr<br />

sie fort, „jetzt ist es bei mir auch so weit.<br />

Das sind meine Reisestiefel. Die Reise<br />

wird bald losgehen.“<br />

Natürlich habe ich protestiert: „Nein.<br />

Das ist Quatsch. Das ist Aberglauben.<br />

Das muss nicht sein.“ Sie aber hat dagegengehalten:<br />

„Gewöhn dich lieber beizeiten<br />

daran, Vera. Än<strong>der</strong>n kannst du ohnehin<br />

nichts. Dann fällt es dir nachher nicht<br />

so schwer, wenn es bei mir mit dem Sterben<br />

so weit ist.“<br />

Ich musste bald wie<strong>der</strong> weg. Meine<br />

Großmutter hat in diesem Sommer nacheinan<strong>der</strong><br />

alle ihre Enkelkin<strong>der</strong>, zu denen<br />

sie wie zu mir ein sehr gutes Verhältnis<br />

hatte, zu sich eingeladen, um<br />

sich von jedem einzelnen Enkelkind zu<br />

verabschieden und uns auf ihren bevorstehenden<br />

Tod vorzubereiten. Am Ende<br />

dieses Sommers hat sie sich schließlich<br />

ins eigene Bett gelegt und ist dort<br />

gestorben.<br />

Mein Großvater allerdings, ein tatkräftiger,<br />

energischer Mann, wollte diesen<br />

Tod nicht akzeptieren. Als sie sich<br />

auch von ihm verabschiedet hatte und<br />

hoch ins Schlafzimmer ging, um sich<br />

zum Sterben hinzulegen, ist mein Großvater<br />

sofort zum Telefon gestürzt, um<br />

das Krankenhaus anzurufen. Allerdings<br />

hatte sich das Telefon mit meiner Großmutter<br />

verbündet. Es funktionierte ausgerechnet<br />

in diesem so wichtigen Moment<br />

nicht.<br />

Da ist dann meine ebenfalls gerade<br />

anwesende Cousine in die Stadt gerannt,<br />

um im dortigen Krankenhaus Hilfe zu<br />

holen. Aber obwohl sie eine gut trainierte<br />

Sportlerin war, brauchte sie für<br />

den Weg mehr als 20 Minuten. Und bis<br />

man sich im Krankenhaus sortiert hatte<br />

und losfuhr, verging wie<strong>der</strong>um Zeit. Als<br />

<strong>der</strong> Krankenwagen schließlich am Haus<br />

meiner Großeltern ankam, war meine<br />

Großmutter gestorben.<br />

Damals habe ich mir fest vorgenommen:<br />

Genauso willst du es auch einmal<br />

machen. Genauso willst du auch einmal<br />

sterben. Und dieser Wunsch, es in <strong>der</strong><br />

Ars moriendi meiner Großmutter gleichzutun,<br />

hat seine Gültigkeit bis zum heutigen<br />

Tag nicht verloren.<br />

Aufgezeichnet von INGO LANGNER<br />

129<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


POSTSCRIPTUM<br />

N°-8<br />

DENKMAL<br />

Die Nationalmannschaft hat vier Wochen<br />

gebraucht, um dem deutschen<br />

Fußball in Brasilien ein Denkmal zu<br />

setzen. Über das sogenannte Freiheitsund<br />

Einheitsdenkmal wird seit nunmehr<br />

16 Jahren nachgedacht, und je konkreter<br />

die Planungen dafür werden, desto groteskere<br />

Formen nimmt dieses Vorhaben<br />

auf den ersten Blick an. Dass nach mehreren<br />

Anläufen und diversen Wettbewerbsverfahren<br />

ausgerechnet eine riesenhafte<br />

Wippe „an die friedliche Revolution im<br />

Herbst 1989 und an die Wie<strong>der</strong>gewinnung<br />

<strong>der</strong> staatlichen Einheit Deutschlands“<br />

( so <strong>der</strong> Wortlaut des entsprechenden Bundestagsbeschlusses<br />

) erinnern soll, stellt<br />

schon für sich genommen eine Denkwürdigkeit<br />

dar. Aber es sind eher Details, die<br />

aus dem Denkmalprojekt inzwischen ein<br />

vermeintliches Mahnmal <strong>der</strong> Ineffizienz<br />

verschlungener Kompetenzen unter beson<strong>der</strong>er<br />

Berücksichtigung diverser Partikularinteressen<br />

haben werden lassen.<br />

Vielleicht wäre es ja in Wahrheit gar<br />

kein schlechtes Zeichen, sollte die „Einheitsschaukel“<br />

auf dem Berliner Schlossplatz<br />

we<strong>der</strong> fristgerecht zum 25. Jahrestag<br />

<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung noch überhaupt je<br />

fertig gebaut werden. Und zwar weniger<br />

aus ästhetischen Gründen o<strong>der</strong> wegen einer<br />

drohenden Überfrachtung <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

mit Denkmälern aller Art. Son<strong>der</strong>n<br />

vielmehr, weil eine Leerstelle den demokratischen<br />

Entscheidungsprozess am Ende<br />

besser symbolisiert als jedes gut gemeinte<br />

Monument. Und ein Denkmal zur Erinnerung<br />

an die Wende ist ja – in welcher<br />

Form auch immer – zweifelsfrei zunächst<br />

einmal Ausdruck des Stolzes über die in<br />

Ostdeutschland erstrittene Demokratie.<br />

Demokratische Strukturen sind kompliziert,<br />

weil sie einen ständigen Interessenabgleich<br />

unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen<br />

erfor<strong>der</strong>n. Im Fall des<br />

Freiheits- und Einheitsdenkmals werden<br />

jetzt eben Einwände von Naturschützern<br />

( wegen einer dort ansässigen Fle<strong>der</strong>maus<br />

), von Behin<strong>der</strong>ten ( die Besucherrampe<br />

ist nicht rollstuhlgerecht ) und von<br />

Denkmalschützern ( am Sockel wie<strong>der</strong>entdeckte<br />

Mosaiken aus <strong>der</strong> Kaiserzeit )<br />

erhoben. In je<strong>der</strong> Diktatur würde solche<br />

Kritik ohne viel Fe<strong>der</strong>lesens beiseitegeschoben.<br />

In einer Demokratie ist genau<br />

dies nicht möglich. Das mag manchmal<br />

ärgerlich erscheinen, aber es ist letztlich<br />

ein hoher Wert.<br />

Ein nicht gebautes Freiheitsdenkmal<br />

wäre also keine Schande – besser eine<br />

symbolische Lücke als ein fauler Kompromiss.<br />

Darauf könnten wir stolz sein.<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

ist stellvertreten<strong>der</strong> Chefredakteur<br />

von <strong>Cicero</strong><br />

DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 28. AUGUST<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

130<br />

<strong>Cicero</strong> – 8. 2014


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