Die Bedeutung von Lautbildungsstörungen in der ... - Spitta
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<strong>Die</strong> <strong>Bedeutung</strong> <strong>von</strong> Lautbildungsstörungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> zahnärztlichen Praxis - Teil II<br />
E<strong>in</strong>leitung<br />
<strong>von</strong> C. Runte 1 , B. Runte 1 , F. Bollmann 1 , A. Lamprecht-D<strong>in</strong>nesen 2 , E. Seifert 3<br />
Wird die Form des Ansatzrohres durch Gewebedefekte, Deformationen o<strong>der</strong> Fremdkörper verän<strong>der</strong>t, kann<br />
dies die Ausformung <strong>der</strong> Laute bee<strong>in</strong>trächtigen. Meistens liegt die Therapie e<strong>in</strong>er Lautbildungsstörung <strong>in</strong> den<br />
Händen e<strong>in</strong>es Phoniaters bzw. Logopäden. Wird bei <strong>der</strong> zahnärztlichen Untersuchung e<strong>in</strong>e Störung<br />
festgestellt, sollte <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei Sigmatismen auch an Zahnfehlstellungen o<strong>der</strong> Störungen durch<br />
Zahnersatz gedacht werden.<br />
Im ersten Teil wurden Grundlagen <strong>der</strong> Lautbildung und Möglichkeiten zur Untersuchung <strong>der</strong> Sprache<br />
vorgestellt. In diesem zweiten Teil sollen Ursachen für Lautbildungsstörungen im Bereich <strong>der</strong> Mundhöhle<br />
und die Möglichkeiten des Zahnarztes zur Therapie beschrieben werden.<br />
Überblick über beteiligte Berufsbil<strong>der</strong><br />
Vorrangig ist <strong>der</strong> Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie mit <strong>der</strong> Betreuung <strong>von</strong> Patienten mit<br />
Lautbildungsstörungen betraut. <strong>Die</strong> Facharztordnung des Phoniaters sieht Vermittlung, Erwerb und Nachweis<br />
e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ätiologie, Symptomatologie, Diagnostik,<br />
Differenzialdiagnostik, Prophylaxe, Therapie und Rehabilitation bei Stimmstörungen, Sprechstörungen,<br />
Sprachstörungen sowie k<strong>in</strong>dlichen Hörstörungen vor. Während lange Zeit die Bezeichnung Phoniatrie und<br />
Pädaudiologie als Teilgebietsbezeichnung zum Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde erworben<br />
werden konnte, handelt es sich heute um e<strong>in</strong>en eigenständigen Facharzttitel.<br />
Vom Phoniater deutlich zu unterscheiden ist <strong>der</strong> Phonetiker, <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Magisterstudiengang <strong>in</strong><br />
phy-siologischer, artikulatorischer, akus-tischer, perzeptiver und funktionaler Phonetik ausgebildet wird und<br />
sich beispielsweise mit akustischer Mensch-Computer-Interaktion beschäftigt (22).<br />
Demgegenüber umfasst die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er 3-jährigen Ausbildung erlernte Tätigkeit <strong>der</strong> Logopäd<strong>in</strong> bzw. des<br />
Logopäden unter an<strong>der</strong>em die Erfassung sprachlicher und stimmlicher Phänomene, die Entwicklung <strong>von</strong><br />
Therapiekonzepten und die Behandlung hör-, stimm- und sprachgestörter Patienten (23).<br />
Auf zahnärztlicher Seite s<strong>in</strong>d an erster Stelle die Fachgebiete <strong>der</strong> Kieferorthopädie und Prothetik mit <strong>der</strong><br />
Betreuung <strong>von</strong> Patienten mit Lautbildungsstörungen angesprochen.<br />
Um die Zusammenhänge zwischen <strong>der</strong> Mundhöhle und <strong>der</strong> Sprachfunktion zu beschreiben, sollen die<br />
Verän<strong>der</strong>ungen im Bereich des Ansatzrohres <strong>in</strong> Defekte, Deformationen und Fremdkörper e<strong>in</strong>geteilt werden.<br />
Defekte<br />
Unter den Gewebedefekten ist an erster Stelle die angeborene Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zu nennen<br />
(24-29). Sie führt <strong>in</strong> vielen Fällen zur velopharyngealen Insuffizienz. Werden <strong>in</strong> den vor<strong>der</strong>en<br />
Lautbildungszonen Verschlusslaute gebildet (z. B. "t" und "p"), so entweicht die Luft ungewollt durch die<br />
1
Nase. Stattdessen können dann nur nasale, pharyngeale und laryngeale Ersatzlaute gebildet werden. Bei den<br />
Vokalen wirkt die Nasenhöhle als zusätzlicher Resonanzraum, sodass die E<strong>in</strong>engung des Querschnittes des<br />
Ansatzrohres für die Anhebung <strong>der</strong> Frequenz des zweiten Formanten nicht o<strong>der</strong> nur schwer möglich ist. <strong>Die</strong><br />
Artikulation wird <strong>in</strong>sgesamt als hypernasal bezeichnet.<br />
Bei Defekten nach Tumorchirurgie im Oberkiefer ist die Obturatorprothese die Versorgung <strong>der</strong> ersten Wahl,<br />
um Verb<strong>in</strong>dungen zur Nasenhöhle zu schließen und damit die Mastikation, das Schlucken und die<br />
Aussprache gleichermaßen zu verbessern (29-31).<br />
Probleme bei <strong>der</strong> Versorgung <strong>von</strong> großen Defekten im Bereich des harten und weichen Gaumens können<br />
auftreten, wenn die Tuba auditiva durch den Obturator verlegt wird. Es kann dann zu Hörstörungen kommen,<br />
die wie<strong>der</strong>um die Kontrolle über die eigene Lautbildung erschweren. Der Valsalva-Test kann helfen, e<strong>in</strong>e<br />
mögliche Bee<strong>in</strong>trächtigung zu erkennen. Fragliche Schallleitungsstörungen können durch e<strong>in</strong>en Facharzt für<br />
Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde ohrmikroskopisch und audiometrisch leicht diagnostisch abgesichert<br />
werden.<br />
Der Zungenrücken hat entscheidende <strong>Bedeutung</strong> für den zweiten Formanten bei <strong>der</strong> Bildung <strong>der</strong> Vokale, die<br />
Zungenspitze ist die Grundlage für die Bildung des S-Lautes. Deshalb ist verständlich, dass die im Volumen<br />
o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Funktion verän<strong>der</strong>te Zunge zu schwersten Störungen <strong>der</strong> Sprachlautbildung führt (32). <strong>Die</strong><br />
partielle o<strong>der</strong> totale Glossektomie o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Funktionsverlust <strong>der</strong> Zunge stellen die sprachliche Rehabilitation<br />
<strong>der</strong> Patienten oft vor größere Probleme als oral-nasale Perforationen. Der französische Arzt Ambroise Paré<br />
(ref. <strong>in</strong>: Panconcelli-Calzia 1934) beschrieb 1561 e<strong>in</strong>e Zungenverletzung und e<strong>in</strong>en löffelförmigen<br />
Ersatzkörper, den <strong>der</strong> Patient um den Hals trug und zum Sprechen <strong>in</strong> den Mund nehmen konnte (33). Auch<br />
heute s<strong>in</strong>d ähnlich geformte Ersatzkörper als Interimsversorgung gebräuchlich (34). Natürlich lässt sich e<strong>in</strong><br />
solches Hilfsmittel auch im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Sprech- und Schluckhilfe an e<strong>in</strong>er Gaumenplatte befestigen (35).<br />
Aber nicht nur die ausgedehnten Gewebedefekte führen zu Störungen <strong>der</strong> Lautbildung. In E<strong>in</strong>zelfällen genügt<br />
e<strong>in</strong>e G<strong>in</strong>givektomie, um e<strong>in</strong>e Lautbildungsstörung auszulösen (36). <strong>Die</strong> Therapie ist <strong>in</strong> diesen Fällen<br />
vergleichsweise e<strong>in</strong>fach, oft genügt <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>er G<strong>in</strong>givaepithese. Ähnliche Situationen treten auf, wenn<br />
bei Zahnverlust im Oberkieferfrontzahnbereich nur die Zahnreihe, nicht aber <strong>der</strong> Alveolarfortsatz ersetzt<br />
wird. Demzufolge klagen viele Patienten nach entsprechenden Implatatversorgungen über Störungen <strong>der</strong><br />
S-Laut-Bildung (37, 38).<br />
Deformationen<br />
Dysgnathien stellen Deformationen des Ansatzrohres dar, d. h., die begrenzenden Strukturen s<strong>in</strong>d zwar<br />
vorhanden, aber nicht an ihrem physiologischen Platz. Der Zusammenhang zwischen Dysgnathien und<br />
Sigmatismen ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur umfangreich dokumentiert (Tab. 1, 2), wenn auch die kausale Verkettung<br />
zwischen Ursache und Auswirkung nicht unumstritten ist: Steht am Anfang die Deformation, aus <strong>der</strong> dann<br />
die sprachliche Fehlfunktion resultiert, o<strong>der</strong> ist e<strong>in</strong>e myodynamische Störung sowohl Ursache <strong>der</strong><br />
Deformation als auch <strong>der</strong> Lautbildungsstörung? <strong>Die</strong>se Frage ist nicht nur für die Therapie und Prognose <strong>der</strong><br />
Lautbildung, son<strong>der</strong>n auch für e<strong>in</strong>e geplante kieferorthopädische Behandlung h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong><br />
myofunktionellen Therapie <strong>von</strong> <strong>Bedeutung</strong>.<br />
2
Quelle n Anteil <strong>der</strong> Sigmatiker<br />
Barcz<strong>in</strong>ski (1932) (39) 205 30%<br />
Arnold u. Luchs<strong>in</strong>ger (1970) (40) 353 76%<br />
Frank u. Brauneis (1973) (41) 1044 54%<br />
Kozielski u. Chilla (1978) (42) a 267 36%<br />
Clausnitzer u. Clausnitzer (1989) (43) 535 39%<br />
Fiala (1989) (44) b 294 29%<br />
Clausnitzer u. Clausnitzer (1990) (45) 800 36%<br />
Tab. 1 Häufigkeit <strong>von</strong> Sigmatismus unter Patienten mit Dysgnathien<br />
Quelle n Anteil <strong>der</strong> Dysgnathien<br />
Me<strong>der</strong> u. Reichenbach (1925) (46) 35 85%<br />
Ueberhorst (1932) (47) 81 74%<br />
Arnold u. Luchs<strong>in</strong>ger (1970) (40) 546 49%<br />
Girolami-Boul<strong>in</strong>ier (1970) (48) 79 76%<br />
Kozielski u. Chilla (1978) (42) a 282 44%<br />
Tab. 2 Häufigkeit <strong>von</strong> Dysgnathien unter Patienten mit Sigmatismus<br />
a Unter den Dysgnathiepatienten ersche<strong>in</strong>en nur die mit den Diagnosen "Prognathie" und "offener Biss", zu den Patienten mit<br />
Sigmatismus werden hier auch diejenigen mit Schetismus o<strong>der</strong> beiden Lautbildungsstörungen h<strong>in</strong>zugerechnet.<br />
b Aus den verschiedenen Dysgnathieformen wurde hier nur <strong>der</strong> frontal offene Biss und unter den Sigmatismen nur <strong>der</strong> S. <strong>in</strong>terdentalis<br />
berücksichtigt.<br />
Fehlstellungen im natürlichen Gebiss s<strong>in</strong>d nicht unbed<strong>in</strong>gt mit Fehlstellungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Prothese o<strong>der</strong> bei fest<br />
sitzendem Zahnersatz zu vergleichen, da sich die Berührungsempf<strong>in</strong>dung und die Oberflächentextur <strong>in</strong> den<br />
beiden Situationen unterscheiden können. Beson<strong>der</strong>s betroffen bei Fehlstellungen - <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im<br />
Frontzahnbereich - ist wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> S-Laut. <strong>Die</strong>s mag überraschen, weil die oberen Schneidezähne selbst an<br />
<strong>der</strong> Entstehung des S-Geräusches nicht direkt beteiligt s<strong>in</strong>d, da <strong>der</strong> S-Kanal im Bereich des Alveolarfortsatzes<br />
gebildet wird (vgl. Teil 1). Allerd<strong>in</strong>gs wurde auch vermutet, dass labial aufgestellte Schneidezähne die<br />
Lippen nach ventral verlagern, somit das Ansatzrohr verlängern und auf diesem Wege die Lautbildung stören<br />
können (49). Man könnte auch vermuten, dass die Schneidezähne die S-Laut-Bildung vor allem dann stören,<br />
wenn sie zu weit palat<strong>in</strong>al, also im Bereich <strong>der</strong> Zungenspitze, platziert werden. E<strong>in</strong>e solche Position könnte<br />
bei Zahnersatz z. B. aus statischen Erwägungen gewählt werden. Demzufolge könnte man versucht se<strong>in</strong>, bei<br />
S-Laut-Bildungsstörungen zunächst palat<strong>in</strong>al Platz zu schaffen.<br />
Ritchie et al. (50) untersuchten bei 4 zahnlosen Patienten jeweils 6 unterschiedliche Prothesen und zusätzlich<br />
den zahnlosen Zustand mithilfe <strong>der</strong> Spektralanalyse. Beson<strong>der</strong>s schlecht wurde die Aufstellung mit extrem<br />
nach labial versetzten Schneidezähnen bewertet: <strong>Die</strong> Schallenergie war ger<strong>in</strong>ger und die Formantstrukturen<br />
erheblich verän<strong>der</strong>t. <strong>Die</strong> Position <strong>der</strong> oberen Schneidezähne sollte jedoch immer im Zusammenhang mit <strong>der</strong><br />
Position <strong>der</strong> unteren Schneidezähne betrachtet werden, da diese die Zungenspitze bei <strong>der</strong> S-Laut-Bildung<br />
3
nach vorne abstützen.<br />
Fremdkörper<br />
Fremdkörper <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mundhöhle s<strong>in</strong>d natürlich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die verschiedenen Arten <strong>von</strong> Zahnersatz und<br />
kieferorthopädischen Geräten. Zu <strong>der</strong> morphologischen Verän<strong>der</strong>ung des Vokaltraktes kommt <strong>in</strong> diesen<br />
Fällen die Störung <strong>der</strong> taktilen Sensation im Bereich <strong>der</strong> bedeckten Schleimhautareale h<strong>in</strong>zu.<br />
Der E<strong>in</strong>fluss kieferorthopädischer Geräte auf die Lautbildung wurde mehrfach untersucht (51" 56). E<strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>fluss <strong>von</strong> Oberkieferdehnplatten auf die Lautbildung tritt erwartungsgemäß bei den Lauten auf, <strong>der</strong>en<br />
Bildungszonen <strong>von</strong> den Dehnplatten bedeckt werden (57).<br />
E<strong>in</strong>e regelmäßige logopädische Unterstützung <strong>der</strong> kieferorthopädischen Behandlung wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> verfügbaren<br />
Literatur kontrovers diskutiert (51, 56).<br />
E<strong>in</strong>e gewöhnliche Totalprothese führt unvermeidlich zu e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>engung des Zungenraumes. <strong>Die</strong><br />
Gaumengewölbe <strong>von</strong> Totalprothesen weisen gegenüber bezahnten Oberkiefern oft Unterschiede auf (58),<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wird im Bereich des Alveolarfortsatzes sowohl anterior als auch posterior die konvexe<br />
Wölbung des Alveolarfortsatzes zuguns-ten e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>sgesamt konkaven Form verlassen.<br />
Tanaka (58) untersuchte auch die Adaptation <strong>der</strong> Lautbildung an neu e<strong>in</strong>geglie<strong>der</strong>ten Totalprothesen. Er<br />
erkannte, dass sich die Lautbildung <strong>in</strong>sgesamt bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Woche deutlich verbessert. Dabei kommen<br />
die konvexen Flächen den Patienten zugute. Der Vergleich <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Laute zeigte, dass <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong><br />
S-Laut nur wenig verbessert wird.<br />
Umfangreiche spektralanalytische Untersuchungen an Gaumenplatten <strong>von</strong> Totalprothesenträgern (59)<br />
ergaben, dass Gaumenplatten die Verteilung <strong>der</strong> Schallenergie beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> hochfrequenten Bereichen<br />
signifikant bee<strong>in</strong>flussen und die Harmonie <strong>der</strong> Laute <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wort stören. Bei Schichtstärken über 1 mm<br />
wurden die Effekte beson<strong>der</strong>s deutlich, vor allem <strong>der</strong> Vokal "i" war betroffen. Möglicherweise ist die<br />
fehlende Tastempf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> oberen Alveolarfortsätze dafür e<strong>in</strong>e Erklärung, denn die Zunge muss ja beim<br />
i-Laut <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bestimmte Position angehoben werden, um den Bereich des Schw<strong>in</strong>gungsbauches des zweiten<br />
Formanten e<strong>in</strong>zuengen. Ebenfalls wurde nachgewiesen, dass e<strong>in</strong> gutes Gehör e<strong>in</strong>e raschere Adaptation<br />
ermöglicht.<br />
Speziell bei Sängern ist neben spektralen Charakteristika auch das S<strong>in</strong>gstimmfeld, d. h. die Bandbreite an<br />
Frequenzen, mit denen die Stimmlippen schw<strong>in</strong>gen können, <strong>von</strong> <strong>Bedeutung</strong>. In eigenen Untersuchungen (60)<br />
konnte gezeigt werden, dass zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Fällen bei Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Kieferrelation und des<br />
Volumens <strong>der</strong> Gaumenplatte oberer Totalprothesen auch E<strong>in</strong>flüsse auf die Grundfrequenz <strong>der</strong> Stimmlippen<br />
messbar, diese aber nicht <strong>in</strong>ter<strong>in</strong>dividuell vergleichbar waren, sodass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Summe ke<strong>in</strong>e signifikanten<br />
Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Grundfrequenz und des S<strong>in</strong>gstimmfeldes auftraten. <strong>Die</strong> Schlussfolgerung ist nahe<br />
liegend, dass möglicherweise <strong>in</strong>dividuell erlernte Strategien zur Adaptation an Gaumenplatten existieren<br />
(61).<br />
<strong>Die</strong> Rugae palat<strong>in</strong>ae und die Papilla <strong>in</strong>cisiva sollen nach Me<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> meisten Autoren im vor<strong>der</strong>en Bereich<br />
<strong>der</strong> Gaumenplatten nachgeahmt werden (40, 62-66), wenngleich diese Ansicht nicht unbestritten ist (67).<br />
Modifikationen sehen e<strong>in</strong>e vergrößerte, rautenförmige Papille o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en dorsale Verlagerung auf dem<br />
Zahnersatz vor (68).<br />
Abb. 8 a zeigt den Fall e<strong>in</strong>es Patienten, <strong>der</strong> zunächst mit e<strong>in</strong>er Prothese ohne Gaumenfalten versorgt worden<br />
4
war. Bei <strong>der</strong> Kontrolluntersuchung gab er e<strong>in</strong> persistierendes, pfeifendes Geräusch bei <strong>der</strong> S-Laut-Bildung an.<br />
<strong>Die</strong> Palatographie zeigte e<strong>in</strong>en verengten S-Kanal. Nach dem Anlegen e<strong>in</strong>er Papille <strong>in</strong> Wachs normalisierte<br />
sich <strong>der</strong> S-Laut spontan, und das Palatogramm zeigte e<strong>in</strong>en S-Kanal <strong>in</strong> <strong>der</strong> Breite <strong>der</strong> mittleren oberen<br />
Schneidezähne (Abb. 8 b).<br />
Abb. 8 Palatographie bei e<strong>in</strong>em Totalprothesenträger<br />
Abb. 8a: Pfeifendes Beigeräusch bei <strong>der</strong> S-Laut-Bildung<br />
(Sigmatismus stridens). Zur besseren Darstellung <strong>der</strong><br />
l<strong>in</strong>guopalatalen Kontakte auf <strong>der</strong> Prothesenoberfläche wurde<br />
Z<strong>in</strong>nstearat verwendet. Der S-Kanal ist deutlich schmaler als<br />
die Breite <strong>der</strong> mittleren oberen Incisivi.<br />
Abb. 8b: Nach dem Auftragen e<strong>in</strong>er rautenförmigen Papille <strong>in</strong><br />
Wachs und e<strong>in</strong>er leichten lateralen Abdämmung ist die Breite des<br />
S-Kanals normalisiert, <strong>der</strong> Sigmatismus stridens war akkustisch<br />
ebenfalls nicht mehr nachweisbar. <strong>Die</strong> grün gestrichelten L<strong>in</strong>ien<br />
markieren den früheren Verlauf <strong>der</strong> Kontaktareale.<br />
Wenngleich es also h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Reproduktion <strong>der</strong> Gaumenfaltenmuster unterschiedliche Me<strong>in</strong>ungen gibt,<br />
sche<strong>in</strong>t doch das Anlegen <strong>von</strong> Gaumenfalten und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e e<strong>in</strong>er Papilla <strong>in</strong>cisiva für die Lautbildung<br />
vorteilhaft zu se<strong>in</strong>.<br />
Auch partieller Zahnersatz führt gelegentlich zu Lautbildungsstörungen. Der E<strong>in</strong>fluss <strong>von</strong> verschieden<br />
gestalteten Transversalbügeln auf die Sprache wurde <strong>von</strong> Plischka (66) untersucht. Dabei störte e<strong>in</strong> schmaler<br />
Transversalbügel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gaumenmitte beim Sprechen, Essen und Schlucken am wenigsten. E<strong>in</strong> ventraler<br />
Verb<strong>in</strong><strong>der</strong> störte am meisten beim Sprechen und e<strong>in</strong> dorsaler am meisten beim Essen und Schlucken.<br />
Campbell (69) (Abb. 9) ließ Patienten zwischen 3 Formen e<strong>in</strong>es "Major Connectors" die Wahl. Nur 8%<br />
entschieden sich für die totale Bedeckung des Gaumens, immerh<strong>in</strong> 33% für e<strong>in</strong>e r<strong>in</strong>gförmige skelettierte<br />
Platte, die absolute Mehrheit jedoch für e<strong>in</strong>en dorsal liegenden "Major Connector" (69).<br />
8 % 33 % 58 %<br />
Abb. 9: Gestaltungsmöglichkeiten e<strong>in</strong>es transversalen Verb<strong>in</strong><strong>der</strong>s<br />
im Oberkiefer nach Campell (1977)<br />
<strong>Die</strong> Prozentwerte geben an, welcher Anteil <strong>der</strong> Probanden die jeweilige Form <strong>der</strong><br />
oberen Teilprothese Bevorzugte.<br />
Brückenglie<strong>der</strong> wurden h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> phonetischen Funktion seltener untersucht. Yamamura et al. (70)<br />
publizierten e<strong>in</strong>e Fallstudie zu diesem Thema. E<strong>in</strong> Patient bekam 3 verschiedene Brückenprovisorien vor <strong>der</strong><br />
def<strong>in</strong>itiven Versorgung. H<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Lautbildung wurde <strong>der</strong> sattelförmige Pontic am besten bewertet<br />
5
(70). Also sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> Substanzgew<strong>in</strong>n im Bereich <strong>der</strong> l<strong>in</strong>guoalveolären Lautbildungszone <strong>der</strong> phonetischen<br />
Funktion nicht zw<strong>in</strong>gend zu schaden, son<strong>der</strong>n eher zu nutzen.<br />
Schlussfolgerungen<br />
Für die Beurteilung <strong>von</strong> Patienten <strong>in</strong> <strong>der</strong> zahnärztlichen Praxis ist festzuhalten:<br />
• Im Vorschulalter s<strong>in</strong>d Lautbildungsstörungen relativ häufig. Sche<strong>in</strong>en diese über das physiologische<br />
Maß h<strong>in</strong>auszugehen o<strong>der</strong> persistieren diese über das 5. Lebensjahr, ist e<strong>in</strong>e diagnostische Abklärung<br />
und ggf. Therapiee<strong>in</strong>leitung durch e<strong>in</strong>en Phoniater s<strong>in</strong>nvoll.<br />
• E<strong>in</strong> Zusammenhang zwischen Zahnfehlstellungen bzw. Zahnersatz und Lautbildungsstörungen<br />
(<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e des S-Lautes) ist nach dem heutigen Erkenntnisstand als gegeben anzusehen.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs müssen weitere pathogenetische Mechanismen mitberücksichtigt werden.<br />
• E<strong>in</strong>e Lautbildungsstörung als Folge zahnärztlicher Maßnahmen wird sich nur dann manifestieren,<br />
wenn die Fähigkeit des Patienten zur Adaptation überschritten wird.<br />
Als Konsequenzen für die zahnärztliche Behandlung folgt:<br />
• Patienten sollten über die möglichen Stimm- und Ausspracheverän<strong>der</strong>ungen nach E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ung <strong>von</strong><br />
Zahnersatz aufgeklärt werden.<br />
• Das Risiko e<strong>in</strong>er tatsächlichen Lautbildungsstörung wird durch ger<strong>in</strong>ge Schichtstärken im zentralen<br />
Bereich des harten Gaumens und konvexe Formen im Bereich <strong>der</strong> palat<strong>in</strong>alen Alveolarfortsätze im<br />
Oberkiefer verr<strong>in</strong>gert.<br />
• Das Anlegen e<strong>in</strong>es Gaumenfaltenmusters und e<strong>in</strong>er Papilla <strong>in</strong>cisiva verr<strong>in</strong>gert ebenfalls Störungen<br />
<strong>der</strong> Lautbildung.<br />
• Patienten sollten über Adaptationsvorgänge und die dafür benötigte Zeit <strong>in</strong>formiert se<strong>in</strong>. <strong>Die</strong><br />
Mehrzahl <strong>der</strong> Lautbildungsstörungen ist vorübergehend.<br />
• Bei persistierenden Lautbildungsstörungen, vor allem <strong>in</strong> Bezug auf den S-Laut, und wenn die<br />
betroffenen Patienten berichten, dass an<strong>der</strong>e Personen - nicht sie selbst - me<strong>in</strong>en, ihre Sprache sei<br />
gestört, ist an e<strong>in</strong>e Hochtonschwerhörigkeit zu denken. Es empfiehlt sich, diese Patienten e<strong>in</strong>em<br />
Phoniater vorzustellen.<br />
Korrespondenzadresse:<br />
Dr. C. Runte<br />
Polikl<strong>in</strong>ik für Zahnärztliche Prothetik<br />
Westfälische Wihelms-Universität<br />
Waldeyerstraße 30<br />
48149 Münster<br />
1 Polikl<strong>in</strong>ik für Zahnärztliche Prothetik, Münster<br />
2 Polikl<strong>in</strong>ik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster<br />
3 Polikl<strong>in</strong>ik für Phoniatrie, Inselspital, Bern<br />
The <strong>in</strong>correct Speech Sound Production <strong>in</strong> the dental Practice - Part 2<br />
The dental irregularities are classified <strong>in</strong>to defects or deformations of the dental structures. The <strong>in</strong>fluence of<br />
dentures or orthodontic apparatus is also discussed. Strategies for the management of a patient with disturbed<br />
sound production is described. Especially <strong>in</strong> patients with sigmatisms, orthodontic problems or problems<br />
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with dentures should be taken <strong>in</strong>to consi<strong>der</strong>ation.<br />
Key Words: Sigmatism - Speech Sound Distortion - Palatography<br />
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