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Wahrnehmen (pdf) - Zentrum für soziale und interkulturelle Kompetenz

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1<br />

Version: 26.2.2003<br />

Das (natur-)wissenschaftliche westliche Denken hat im<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>ert in einem beispiellosen Vorgang seine eigenen<br />

Denk-Voraussetzungen zerstört. Was >Realität<<br />

Vorbemerkung<br />

ist, kann (natur-)wissenschaftlich nicht mehr gesagt werden, es wurde selbst die<br />

Hoffnung aufgegeben, dass es jemals wieder eine feste Basis des >Realen< geben<br />

wird. Dieser Vorgang eröffnet der Geschichtsschreibung neue Perspektiven.<br />

Wenn wissenschaftliche Bilder der >Realität< fragwürdig geworden sind, dann<br />

dürfen wir eigene Bilder von dem, was uns als >real< erscheint, für frühere Epochen<br />

nicht kritiklos voraussetzen. Die radikalste Konsequenz dieser Gedanken<br />

trifft den Vorgang der Wahrnehmung selbst, - jenen Prozess, mit dem wir Dinge<br />

wie Steine, Bäume, Computer, andere Menschen, Raum oder Zeit erfahren, <strong>und</strong><br />

mit dem wir das, was wir für die Außen-Welt halten, zur „sichtbaren“ Gewissheit<br />

erheben. Wir beginnen zu ahnen, dass der einfache Akt, auf einen Baum zu<br />

blicken <strong>und</strong> ihn als Baum zu SEHEN, ungelöste Rätsel birgt. Als Kind haben wir<br />

den Baum mit gänzlich anderen Augen betrachtet, - vielleicht schlummert tief in<br />

uns ein Wissen, das (im Prinzip) jederzeit aktiviert werden kann.<br />

Wird <strong>Wahrnehmen</strong> als flexibel erachtet, dann wird Geschichte zur Wahrnehmungs-Geschichte:<br />

was haben Menschen vor zwei, drei, fünf, zehn oder zwanzig<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten tatsächlich geSEHEN, wenn sie ihren Blick auf einen Baum gerichtet<br />

haben? War ein Baum vielleicht mit anderen Eindrücken verb<strong>und</strong>en, die<br />

damals als unumstößlich scheinende Gewissheiten galten? Können wir sie in<br />

Erfahrung bringen, in eigene Vorstellungen „übersetzen“ <strong>und</strong> auf diese Weise<br />

mehr „verstehen“, warum die Menschen dieser Zeit so sonderbar gelebt, gedacht<br />

<strong>und</strong> gehandelt haben?


2<br />

Kapitel 1<br />

Wahr-Nehmen<br />

<strong>Wahrnehmen</strong> ist ein stetiger Prozess, eine andauernde<br />

Aktivität. Ich sitze an einem Schreibtisch. Meine Unterarme<br />

berühren kühles Holz. In der rechten Hand halte ich<br />

Erlebnis-Felder<br />

eine glatte Füllfeder. Ich beobachte, wie sie über weißes Papier gleitet. Ich sehe<br />

unscharf die Schatten meiner Brille, Bücher am Tisch, der Rest ist in graues Dunkel<br />

gehüllt. Ohne hinzusehen, weiß ich, dass ich in einem Raum bin. Ich spüre<br />

seine Präsenz in alle Richtungen, auch hinter meinem Rücken. Wenn ich aufblicke,<br />

sehe ich durch ein Fenster auf die grünen Blätter eines hohen Baumes. Sie<br />

schwanken leicht im Wind. Das Papier, auf das ich eben geschrieben habe, verwischt<br />

sich im Blick, es bleibt aber beständig da. Der Raum, der mich umgibt,<br />

breitet sich bis zum Horizont aus. Sein <strong>Zentrum</strong> ist mein Leib, das „Medium“<br />

(wie es Merleau-Ponty genannt hat), in der sich der Bezug zur Welt vollzieht.<br />

Schließe ich die Augen, so werde ich anderes gewahr. Ich sehe Schatten <strong>und</strong><br />

Farben. Bilder huschen vorbei. Im Hintergr<strong>und</strong> erkenne ich die Konturen eines<br />

großen Gebäudes. Ich bin mit ihm sehr vertraut, weil ich jahrelang an ihm gewerkt<br />

habe: ganze Stockwerke wurden niedergelegt, das Gebäude zur Gänze<br />

mehrmals neu entworfen, schließlich mit wechselnder Farbe bemalt <strong>und</strong> bunten<br />

Details ausgeschmückt. Das Gebäude vor meinem inneren Auge enthält die<br />

Ordnung der Argumente, die ich in diesem Buch entfalten möchte. Jetzt stehe<br />

ich also beim Eingang <strong>und</strong> gehe hinein. Wird es mir gelingen, alle Etagen zu erreichen<br />

<strong>und</strong> die Zimmer zu durchschreiten? Jetzt wird mir bewusst, dass ich die<br />

ganze Zeit stillschweigend mit mir rede. Ich öffne die Augen, schreibe wieder<br />

<strong>und</strong> HÖRE zugleich, wie mein innerer Dialog weitergeht. Eine Stimme in mir<br />

kommentiert das, was ich zu Papier bringe. Ohne das Schreiben zu unterbrechen<br />

kann ich meine Aufmerksamkeit weiter wandern lassen. Ich spüre ein Kribbeln


3<br />

an den Fußsohlen <strong>und</strong> fühle die Lage meiner Füße unter dem Tisch. Ich merke<br />

die Anspannung der Unterschenkel, die auf den Sessel drücken, fühle, wie mein<br />

Bauch beim Atmen ruhig schwingt, bemerke eine angenehme Wärme an den<br />

Schultern <strong>und</strong> das leichte Zucken winziger Muskeln um die Augen, wenn die<br />

Lider flüchtig schlagen.<br />

Das Feld unserer Erfahrung ist in jedem Moment eine unmittelbare Einheit. Im<br />

Zeitpunkt des Erlebens ist alles eins. Ich bin „eine einzige, von sich selber untrennbare<br />

Erfahrung, ein einziger Zusammenhang des Lebens“, schreibt Merleau-Ponty<br />

mit Verweis auf Heidegger. 1 <strong>Wahrnehmen</strong> können wir verstehen als<br />

die Erfahrung der Präsenz von etwas, wie von Dingen, Personen, Räumen oder<br />

Gedanken. Das „von etwas“ bezeichnet die theoretische Annäherung an das<br />

Phänomen des <strong>Wahrnehmen</strong>s: ein theoretisch-reflektorisches Denken über<br />

<strong>Wahrnehmen</strong>. Dabei wird das Feld der Erfahrung im Denken in Teile zerlegt<br />

<strong>und</strong> als solche in Gedanken <strong>und</strong> Sprache vermittelt. Denken benötigt Unterschiede,<br />

die zugr<strong>und</strong>eliegende Einheit im Erleben bleibt dennoch gewahrt. Kein<br />

Denken über das Feld kann die Einheit des Feldes aufheben. Jede Einschränkung,<br />

jede Unterteilung, jeder Begriff meint nur Ausschnitte des Einen, das wir<br />

SIND.<br />

Das Leben zerfällt nicht in einzelne Bewusstseins-Akte oder Erlebnisse, die Welt<br />

nicht in getrennte Dinge. Im Hintergr<strong>und</strong> von dem, was als einzelnes Ereignis<br />

erscheint, z.B. die Erfahrung der Präsenz eines Objekts, schwingt ein ganzes<br />

Wahrnehmungs-Feld mit. Es ist andauernd DA. Auch die Zerlegung von Wahrnehmungen<br />

in einzelne „Sinne“ ist nur gedanklicher Natur, - in Widerspruch zu<br />

dem, wie <strong>Wahrnehmen</strong> sich im Erleben zeigt. Stets sind alle Sinne präsent. Jedes<br />

Ereignis spricht alle Sinne an. Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken, Tasten,<br />

... formen unaufhörlich gemeinsame Erlebnis-Felder, die wir erfahren, aber<br />

Mühe haben sie sprachlich angemessen auszudrücken.<br />

1 Merleau-Ponty 1965, 463; Heidegger 1927, 388.


4<br />

Jedes Erlebnis-Feld bildet eine Einheit. Wir erleben die Präsenz eines Gegenstandes,<br />

indem wir zugleich den gesamten Raum um diesen Gegenstand (mit allen<br />

„Sinnen“) erfahren. Auch Dinge, die man – so scheint es – aktuell nicht „sieht“,<br />

werden wahrgenommen, weil sie uns in ihrem Da-Sein auch ohne Hinzusehen<br />

präsent sind.<br />

Wenn ich schreibe, kann ich der Gegenwart des Baumes da draußen gewahr<br />

werden, auch wenn ich ihn nicht direkt ansehe. Er steht immer noch da, auch<br />

wenn mein Blick jetzt auf die Spitze der Füllfeder gerichtet ist <strong>und</strong> ihrem Fluss<br />

folgt. Ich kann den Baum vor meinem Fenster nicht wegzaubern, es fällt auch<br />

schwer, das Gefühl zu verlieren, er sei jetzt nicht DA. Wenn ich wieder hinschaue,<br />

werde ich ihn wieder sehen. In gleicher Weise kann ich mein Fühlen <strong>und</strong><br />

Denken nicht einfach abstreifen, wenn ich auf einen Gegenstand blicke. Wenn<br />

ich das nächste mal den Baum betrachte, werde ich Gedanken, Erinnerungen,<br />

Gefühle, Körper-Empfindungen, ... besitzen. Ich kann sie nicht weg-denken, sie<br />

sind ein untrennbarer Teil dessen, was ich erfahre, wenn ich den Baum in mein<br />

Gesichts-Feld rücke. Wir nehmen niemals einzelne Gegenstände, sondern immer<br />

gesamte Felder wahr.<br />

Die gr<strong>und</strong>legende Erfahrung des Menschen ist die Erfahrung<br />

der Präsenz seiner selbst, sein DA-SEIN. Er erfährt<br />

Der Leib<br />

dies im Gewahrsein eines lebendigen Körpers, seines Leibes:<br />

im Spüren eines inneren Durchflossen-Seins, ein Strömen, Pochen, Kribbeln,<br />

das Pulsieren des Körpers im Herzschlag, der Rhythmus des Ein- <strong>und</strong> Ausatmens,<br />

die Empfindung, hungrig <strong>und</strong> satt zu sein, warm <strong>und</strong> kalt, aufgeregt <strong>und</strong><br />

ruhig, Freude <strong>und</strong> Schmerzen, das Gefühl, die Füße zu setzen, die Hände zu bewegen,<br />

den Kopf zu drehen, die Wärme des Körpers zu spüren. Der Mensch ist<br />

vor allem ein leibliches Wesen. Seine Gr<strong>und</strong>-Erfahrung ist es, Leib zu SEIN. Alle<br />

geistigen <strong>und</strong> kognitiven Fähigkeiten beziehen sich stillschweigend auf den Leib


5<br />

<strong>und</strong> entspringen ihm. Der Mensch erfährt seine Existenz aus der Präsenz seines<br />

Leibes: mein Leib ist „stets bei mir <strong>und</strong> ständig für mich da.“ 2 Ich kann meinen<br />

Leib wahrnehmen. Die Eigen-Wahrnehmung des Leibes ist der Ausgangspunkt<br />

für <strong>Wahrnehmen</strong> schlechthin. Jede Wahrnehmung hat ihren Bezug zum wahrnehmenden<br />

Leib, dem fühlenden Körper, dem empfindenden Selbst. <strong>Wahrnehmen</strong><br />

ist ein leiblicher Vorgang. Der Leib ist das Medium zur Erfahrung der Welt<br />

<strong>und</strong> von sich selbst.<br />

Der Leib als Basis jedes <strong>Wahrnehmen</strong> gibt jedem Erfahrungs-Akt seine Prägung.<br />

Wesentliche Eigenschaften der Eigen-Erfahrung des Leibes sind Merkmale jeder<br />

Wahrnehmung schlechthin. Der Leib ist Voraussetzung <strong>und</strong> Teil jedes Erlebnis-<br />

Feldes. Jeder Wahrnehmungs-Raum „beherbergt“ den Leib, der stets eine Position<br />

(eine räumliche <strong>und</strong> zeitliche Situierung) einnimmt. Man kann den eigenen<br />

Leib nicht aus dem eigenen Wahrnehmungs-Feld abziehen. Der Leib IST.<br />

Im Bewusstsein hingegen ist der Leib, vor allem in seinen körperlichen Aspekten,<br />

die meiste Zeit nur unterschwellig präsent: man ist sich seiner nur am Rande<br />

gewahr. Der größte Teil des körperlichen Erlebens ist vorbewusst oder gänzlich<br />

unbewusst. Das Leben „funktioniert“ auch ohne volles Gewahrseins des Leibes.<br />

Konzentriert man sich auf den Leib, kann man nur Teil-Aspekte seiner umfassenden<br />

Einheit erfahren. Der Leib (der leibliche Körper) ist kein Gegenstand, wie<br />

Dinge ansonst. Man kann ihn nicht in die Hand nehmen, drehen, von allen Seiten<br />

berühren <strong>und</strong> betrachten. Man kann nicht seine Rück-Seite SEHEN, sondern<br />

nur ein Spiegel-Bild oder ein Foto, d.h. die Rückseite in einem eigenen Wahrnehmungs-Raum,<br />

der als Spiegel- oder Foto-Bild präsent ist. Den eigenen Leib<br />

kann man nicht (vollständig) beobachten: „um dazu imstande zu sein, bräuchte<br />

ich einen zweiten Leib, der wieder seinerseits nicht beobachtbar wäre.“ 3 Der Leib<br />

ist nicht voll durchsichtig. Er ist nicht ein-, sondern mehrdeutig. Seine Erfahrung<br />

macht Sinn, aber dieser ist nicht klar erfahrbar. Auch die Aufteilung in Körper<br />

2 Merleau-Ponty 1965, 114. Vgl. Zum folgenden ebenda 114 ff. <strong>und</strong> Stoller 1995, 53 ff.<br />

3 Merleau-Ponty 1965, 116.


6<br />

<strong>und</strong> Geist bleibt letztlich unbestimmt. Der Leib ist weder Gegenstand noch Bewusstsein<br />

allein. 4 Er umfasst beide <strong>und</strong> geht ihnen voraus. Die Einheit jeder Erfahrung<br />

bedingt die Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist im <strong>Wahrnehmen</strong> selbst: „Die<br />

äußere Wahrnehmung <strong>und</strong> die Wahrnehmung des eigenen Leibes variieren miteinander,<br />

weil sie nur zwei Seiten ein <strong>und</strong> desselben Aktes sind.“ 5 Jedes Wahrnehmungs-Ereignis<br />

ist (jedenfalls im Prinzip) unvollständig <strong>und</strong> mehrdeutig,<br />

nicht vollständig erkennbar <strong>und</strong> zum größten Teil unbewusst. Wir sind mehrdeutige<br />

Wesen, weil wir andauernd in mehrdeutigen Wahrnehmungs-Räumen<br />

SIND.<br />

<strong>Wahrnehmen</strong> ist mehr als das, wessen jemand in einem<br />

Vor-bewusst Augenblick bewusst ist. Das bewusste Erleben ist nur ein<br />

Ausschnitt aus dem Meer des tatsächlich wahrgenommenen.<br />

Nicht-gegenwärtige Wahrnehmungen können unbewusst genannt werden.<br />

Gelingt es, sie ins Bewusstsein zu heben, gelten sie als vorbewusst: die konzentrierte<br />

Aufmerksamkeit lässt sie bewusst werden. Die Fülle der vorbewussten<br />

Aspekte z.B. beim Sehen kann man sich leicht durch folgendes Experiment zugänglich<br />

machen. 6 Lesen Sie diesen Abschnitt zu Ende. Schließen sie dann die<br />

Augen <strong>und</strong> drehen Sie den Kopf ein wenig zur Seite, weg vom Buch. Öffnen Sie<br />

die Augen, aber nur für den Bruchteil einer Sek<strong>und</strong>e, einen Lidschlag lang. Machen<br />

Sie die Augen schnell wieder zu <strong>und</strong> versuchen Sie mit geschlossenen Augen<br />

sich zu erinnern, was Sie in diesem kleinen Moment erblickt haben.<br />

Mit etwas Übung kann es gelingen, ein inneres Bild festzuhalten <strong>und</strong> es mit geschlossenen<br />

Augen zu SEHEN. (Versuchen Sie es nochmals.) Man kann auch mit<br />

geschlossenen Augen die Aufmerksamkeit im Bild wandern lassen. Wir werden<br />

uns dann Details bewusst, die wir vorher nicht bemerkt haben.<br />

4 Ebenda, 234.<br />

5 241.<br />

6 Nach Norretranders 1994, 194f.


7<br />

Der Sinn der Übung ist folgender: Wir erfahren in einem Sek<strong>und</strong>enbruchteil viel<br />

mehr, als uns unmittelbar bewusst ist. Das bewusst Geschehene ist nur ein Teil<br />

dessen, was wir „tatsächlich“ sehen. Wir brauchen viele Sek<strong>und</strong>en, um ein Bild<br />

abzulesen, das wir in einem „Augen-Blick“ gesehen haben. Das Bewusstsein ist<br />

nicht imstande, das ganze Bild auf einmal zu erfassen. Wir befinden uns die<br />

ganze Zeit in einem Wahrnehmungs-Feld, wo wir mehr erfahren, als uns in jedem<br />

Moment bewusst ist. Das aktuelle SEHEN enthält mehr Informationen als<br />

ihr aktuell bewusster Inhalt. <strong>Wahrnehmen</strong> ist in jedem Moment mehr, als uns in<br />

jedem Moment bewusst ist.<br />

<strong>Wahrnehmen</strong> kann mit unterschiedlichen Graden von Bewusstheit begleitet sein.<br />

Das, was einem unbewusst zugänglich ist (z.B. Einzelheiten der Körper-Sprache<br />

eines Gegenübers, auf die unwillkürlich regiert wird), kann jemand anders erkennen<br />

(<strong>und</strong> kontrolliert einsetzen. Sich auf nonverbale Details zu spezialisieren,<br />

eröffnet Erlebnis-Felder eigener Art). Gleiches gilt für andere Phänomene. Darf<br />

ich Sie auf ein weiteres Selbst-Experiment einladen? 7 Schließen Sie das Buch<br />

<strong>und</strong> halten Sie dabei den Daumen auf diesen Absatz. Blicken Sie einige Sek<strong>und</strong>en<br />

aufmerksam auf den Umschlag. Prägen Sie sich einige Details ein <strong>und</strong> kehren<br />

Sie dann zum Text zurück. Machen Sie das jetzt.<br />

Wenn Sie auf den Umschlag geblickt haben: erinnern Sie sich jetzt nicht an die<br />

visuellen Details, sondern daran, woran Sie beim Betrachten gedacht haben.<br />

Schauen Sie kurz vom Buch auf <strong>und</strong> erinnern Sie sich, welche Gedanken Ihnen<br />

durch den Kopf gegangen sind, als Sie den Umschlag – oder etwas anderes –<br />

betrachtet haben.<br />

Haben Sie mit Ihrem Denken Ihre Wahrnehmung begleitet (oder gesteuert), z.B.:<br />

„Ich sehe jetzt diese Schrift. Sie ist so groß <strong>und</strong> hat diese Farbe“, usw. Oder haben<br />

Sie das Experiment kommentiert, z.B.: „Nicht schon wieder!“, „Ist interes-<br />

7 nach ebenda.


8<br />

sant,...“, „Was soll das?“. Oder haben Sie an etwas anderes gedacht: „ich habe<br />

Hunger“, „Wie lange werde ich wohl weiter lesen?“, ...<br />

Es scheint fast unmöglich, etwas zu betrachten, ohne einen inneren Dialog oder<br />

Kommentar abzugeben (ein Zustand, der durch Meditation eingeübt werden<br />

kann <strong>und</strong> Erfahrungs-Räume eigener Art öffnet). Gleichzeitig erfordert Das-sich<br />

klar- werden, was man gedacht hat, viel mehr Zeit als das ursprüngliche Denken<br />

selbst. Fast alle Wahrnehmungsprozesse (wie von >äußeren< Dingen oder >inneren<<br />

Gesprächen) laufen viel schneller ab, als wir brauchen, um ihre Details<br />

im nachhinein zu rekonstruieren. Es dauert viel länger, sich bewusst zumachen,<br />

was man wirklich gedacht hat als das Denken dieser Gedanken selbst. Wir erfahren<br />

die Phänomene, deren wir teilhaftig werden, in einer augenblicklichen Präsenz,<br />

blitzschnell, nur mit teilweisem Bewusstsein. Wir wissen nicht, warum wir<br />

von einer Aufmerksamkeit zur anderen wechseln (wiewohl wir Aufmerksamkeit<br />

bewusst steuern können.) Wir wissen nicht, wie ein Gedanke, der uns in den<br />

Sinn kommt, zu Ende gehen wird. 8 <strong>Wahrnehmen</strong>, aufmerksam betrachtet, ist ein<br />

spannendes Ereignis, jeder Augenblick mit neuem Inhalt gefüllt.<br />

Die Einheit von Erfahrungs-Feldern ist die Gr<strong>und</strong>lage<br />

jeder Wahrnehmung. Ein Baby kommt auf die Welt in der<br />

Atmosphären<br />

vollen Präsenz seines Leibes. Alles ist ungeteilter Leib, es<br />

gibt noch keinen Namen für irgend etwas, nichts hat feste Form, eine bestimmte<br />

Funktion oder seine Geschichte. 9 Objekte <strong>und</strong> Ereignisse werden vor allem als<br />

Gefühle erlebt. Alles hat seinen eigenen Gefühls-Ton. Ein Baby, das einen Gitterstab<br />

seines Kinderbettes SIEHT, erfährt kein >Objekt< (es hat noch keinen Begriff<br />

davon), sondern eine „Gefühls-Welle“, die seinen Leib durchströmt: der helle<br />

Glanz des Stabes erscheint wie ein Lied, das von einem vielstimmigen Orchester<br />

gespielt wird. Sehen, Hören <strong>und</strong> Fühlen sind Eins, >außen< <strong>und</strong> >innen< unge-<br />

8 Vgl. Linke 2001, 12.<br />

9 Das folgende nach Stern 2002, 21 ff.


9<br />

teilt, der Raum in jedem Augenblick, ein Ganzes, im nächsten vielleicht ein anderer.<br />

Alles IST Gegenwart, ohne Zeit erfüllt von leiblichem Fühlen. Ein Baby ist<br />

in seine Umwelt „eingetaucht“ wie ein Wassertropfen in eine Wolke, zugleich<br />

Wassertropfen <strong>und</strong> Wolke. >Ringsherum< gibt es keine unbelebten >DingeObjekt< gleichsam her. (Abbildung 1). Im Starren<br />

auf den hellen Fleck an der Wand besitzt der Raum, so hat es Daniel Stern formuliert,<br />

„ein <strong>Zentrum</strong>, das kontinuierlich näher kommt, wie ein Ton, der immer<br />

weiter ansteigt, ohne über den hörbaren Tonumfang hinauszugehen. Gleichzeitig<br />

gibt es um das <strong>Zentrum</strong> herum einen Raum, der sich langsam zurückzieht.<br />

Das <strong>Zentrum</strong>, das von den tanzenden Kräften belebt wird, scheint sich immer<br />

weiter auf [das Baby] zu zu bewegen, ohne [es] je zu erreichen. Darüber hinaus<br />

scheint der hervortretende Lichtfleck auf der zurückweichenden Wand sich von<br />

innen nach außen kontinuierlich zu erneuern.“ 10 >Objekte< <strong>und</strong> Ereignisse sind<br />

(nach dieser Deutung) näherkommende „Gefühls-Wellen“, im Leib erfahren, der<br />

noch ein Raum gemeinsam mit den >Objekten< IST.<br />

10 ebenda, 29.


10<br />

Abbildung 1: Ein >ObjektUmgebungen< als gefühlsdurchwobene, pulsierende Räume zu<br />

erfahren, bleibt dem Menschen ein ganzes Leben lang erhalten, auch wenn sie<br />

längst andere Wahrnehmungs-Arten erlernt haben. Gefühle, die im >Raum< wie<br />

Mächte oder Kraft-Ströme SIND, <strong>und</strong> als leibliche Erregungen erfahren werden,<br />

können wir Atmosphären nennen. 11 Die Fähigkeit, Atmosphären wahrzunehmen<br />

ist eine der Gr<strong>und</strong>fähigkeiten des Menschen, die er andauernd <strong>und</strong> stillschweigend<br />

praktiziert. Alles, was wir erfahren, hat seine Atmosphäre: jedes<br />

Ereignis, jeder Ort, jede Umgebung, jede Person, der wir begegnen. Atmosphäre<br />

bedeutet Ausstrahlung, Stimmung, Fluidum (atmos war im Griechischen ursprünglich<br />

Dampf, Dunst, Duft). Tatsächlich leben wir in einer atmosphärisch<br />

gestimmten Welt (die von den Wissenschaften kaum zur Kenntnis genommen<br />

wird). Wir sprechen im Alltag von der „heiteren Atmosphäre eines Frühlingsmorgens<br />

oder der bedrohlichen Atmosphäre eines Gewitterhimmels. Man redet<br />

von der lieblichen Atmosphäre eines Tales oder der anheimlichen Atmosphäre<br />

11 Vgl. Schmitz, Hermann: Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht <strong>und</strong> Phantasie;<br />

in: Benthien u.a. 2000, 42.


11<br />

eines Gartens. Beim Betreten eines Raumes kann man sich gleich von einer gemütlichen<br />

Atmosphäre umfangen fühlen, aber man kann auch in eine gespannte<br />

Atmosphäre hineingeraten. Von einem Menschen kann man sagen, dass er eine<br />

achtungsgebietende Atmosphäre ausstrahlt, von einem Mann oder einer Frau,<br />

dass sie eine erotische Atmosphäre umgibt.“ 12<br />

Menschen besitzen die Fähigkeit, Atmosphären wahrzunehmen, sie gleichsam<br />

zu „wittern“. Jedes Erlebnis besitzt seine atmosphärischen Qualitäten, ist mit<br />

einer besonderen Atmosphäre aufgeladen. (Welche Atmosphäre besitzt dieses<br />

Buch für Sie?) Wir wachsen in der Aura einer Familie auf, die zeitlebens prägend<br />

sein kann. Atmosphären schaffen Zugehörigkeit, Verbindung, Teilhabe. Jede<br />

Person hat ihre Atmosphäre. Sie ist kein Nebenaspekt, sondern charakterisiert<br />

ihr Wesen. Das Atmosphärische durchdringt eine Person in allen Zügen. Es<br />

taucht sie gleichsam in eine besondere, individuelle Farbe ein. 13 Wir erleben die<br />

Atmosphäre einer Person, so hat es Minkowski formuliert, wie „eine feine Wolke“,<br />

die „von ihr ausgeht“ <strong>und</strong> uns erreicht. 14 Wir SPÜREN Atmosphären.<br />

Jedes Wahrnehmungs-Feld ist von Atmosphären bestimmt: durch Ausstrahlungen,<br />

Stimmungen, Befindlichkeiten, Gefühle. Atmosphären haben mit dem Leib<br />

zu tun. Sie werden, wie Walter Benjamin über „Aura“ meint, „eingeatmet“, 15<br />

d.h. leiblich aufgenommen. Der Leib wird von Atmosphären durchweht. 16 Das<br />

Erleben von Atmosphären hat direkt mit der Ganzheit eines Wahrnehmungs-<br />

Feldes zu tun, sie weisen darauf hin: „Im Gespür für Atmosphären besitzen wir<br />

ein Organ des Erfassen dessen, was Mitwelt <strong>und</strong> Umwelt ganz unmittelbar <strong>und</strong><br />

12 Böhme 1995, 21.<br />

13 Tellenbach 1968, 48 f.<br />

14 E. Minkowski: Vers <strong>und</strong> cosmologie, Paris 1936, 119; zit. nach Tellenbach 1968, 48.<br />

15 Eine Aura „ist die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem<br />

Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgend,<br />

der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses<br />

Zweiges atmen.“, Benjamin 1977, 15.<br />

16 Böhme 1995, 27.


12<br />

einheitlich charakterisiert.“ 17 Als Ganzheits-Phänomen erscheint die >Existenz<<br />

von Atmosphären für alle Ansätze, die Subjekt <strong>und</strong> Objekt prinzipiell gegenüberstellen<br />

(sie nicht polar verstehen) als unlösbares Rätsel: soll man sie Objekten<br />

oder Umgebungen zuschreiben oder den Subjekten, die sie erfahren? Sind<br />

Atmosphären >objektive< Phänomene, Merkmale von >Dingeninnere<<br />

Empfindungen, losgelöst von Eigenschaften der Welt „da draußen“? Wo<br />

genau IST Atmosphäre „beheimatet“? Im >ObjektRaum< (wo im Raum?),<br />

im >Subjekt


13<br />

Geschmacksinns verschmilzt das Subjekt mit der in Duft <strong>und</strong> Geschmack sich präsentierenden<br />

Welt.“ 19<br />

Im Riechen zeigt sich die Welt >außen< mit dem >innen< eigenartig verwoben.<br />

„Zwischen dem Duftstrom, der uns durchdringt, <strong>und</strong> unseren Tiefen vollzieht<br />

sich ein Austausch, den, scheint’s nichts einschränken kann, ein Tausch zwischen<br />

mir <strong>und</strong> jenem unfasslichen Ding, den keine Macht zu hindern vermag.“ 20<br />

Gerüche polarisieren. Es gibt kaum neutrale Gerüche. Entweder es duftet oder es<br />

stinkt. Gerüche wirken direkt auf Gefühle. 21 Riechen ist augenblicklich, schnell<br />

<strong>und</strong> durchdringend. Man kann kaum weg-riechen. Riechen kann man wenig<br />

steuern. Man ist Gerüchen relativ hilflos ausgeliefert. Im Riechen erleben wir<br />

eine Welt, die die Subjekt-Objekt-Trennung scheinbar aufhebt. Riechen ist nicht<br />

abgrenzend. Wir riechen keine gesonderten Teile der Welt >außen


14<br />

in eine Atmosphäre ein. „Der Duft ist zugleich auch dieses Atmosphärische.“ 23<br />

Gerüche haben mit Bindungen zu tun. Manche Menschen kann man einfach<br />

nicht riechen. Der Geruch ist der intimste Eindruck, den wir von anderen gewinnen<br />

können: „Der Geruch eines Körpers, das ist der Körper selbst, den wir<br />

durch M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Nase einatmen, den wir mit einem Male in Besitz nehmen, in<br />

seiner geheimsten Substanz. Der Geruch in mir, das ist die Verschmelzung des<br />

Körpers des anderen mit meinem Körper.“ (Jean-Paul Sartre). 24<br />

Atmosphären sind wie feine Nebel. Man taucht in sie, betritt sie<br />

Hüllen<br />

wie eine Gegend oder einen Raum. In einer Atmosphäre ist man<br />

wie von einer Hülle umgeben. Stellen wir uns ein Baby vor, das<br />

alleine in seinem Bettchen liegt <strong>und</strong> weint. Die Mutter kommt, redet mit sanften<br />

Worten auf ihn ein, hebt es liebevoll hoch <strong>und</strong> drückt es sanft an sich. Das Baby<br />

erfährt ein komplexes Gemisch von Eindrücken, die sich wie eine Hülle um ihn<br />

legen: die Wortmelodie der Mutter, der Druck ihrer Umarmung, ihr eigenartiger<br />

Geruch <strong>und</strong> die Wärme, die von ihr ausgeht, der Blick ihrer glänzenden Augen,<br />

das Aufheben <strong>und</strong> Schweben durch die Luft, die neue Köperlage, usw. (Babys,<br />

die aufgehoben werden, werden körperlich ruhiger, geistig wacher <strong>und</strong> offener<br />

für das, was sie ringsum wahrnehmen.) 25<br />

Hüllen sind Grenzziehungen, die unterschiedliche Atmosphären markieren. Innerhalb<br />

<strong>und</strong> außerhalb einer Hülle ist die Atmosphäre verändert, der Raum ist<br />

ein anderer geworden. Der „Durchgang“ durch eine Hülle schafft eine neue Erfahrung,<br />

einen neuen Raum. Wenn wir einem Menschen näher kommen, erleben<br />

wir in unterschiedlichen Abständen Abstufungen seiner „Ausstrahlung“. Man<br />

kann sich Menschen vorstellen als Wesen, umgeben von einer Reihe von sich<br />

ausweitenden <strong>und</strong> zusammenziehenden Feldern, Hüllen oder Blasen. Sie bilden<br />

23 Tellenbach 1968, 46.<br />

24 Sartre, Jean-Paul: Baudelaire, Hamburg 190, 107; zit. Nach Guérer ; Aunk Le : Ist der<br />

moderne Mensch geruchsbehindert?; in: Brandes 1995, 44.<br />

25 Vgl. Stern 2002, 42 ff.


15<br />

hintereinander gelagerte Grenzen von Erfahrungs-Räumen. Ausgehend von der<br />

Grenze (Hülle) der Haut besitzt im Umgang mit anderen jeder Abstand seine<br />

eigene Bedeutung. Wer darf mir unter welchen Umständen wie nahe sein? Liegt<br />

die „angemessene“ Distanz bei zwei oder ein Metern? Welche Empfindungen<br />

treten bei 75, 50, 30 oder 10 Zentimetern Nähe auf? Wie FÜHLT es sich an, wenn<br />

jemand diese unsichtbaren Grenzen missachtet <strong>und</strong> unerlaubt in „meinen<br />

Raum“ eindringt?<br />

Es scheint, als ob wir den Raum um unseren Körper als Teil der eigenen Persönlichkeit<br />

erfahren. Das Erleben des anderen hat mit den Erleben von Hüllen-<br />

Feldern um den eigenen Leib zu tun. 26 Die intimste Zone im Abstand zu anderen<br />

reicht bis ca. 15 Zentimeter, die intime Distanz bis ca. 45 Zentimeter: man SPÜRT<br />

die Wärme <strong>und</strong> den Geruch einer Person. (Wird dies als unangenehm erlebt, wie<br />

bei Fremden in der U-Bahn, dann spannen wir die Muskeln an <strong>und</strong> richten den<br />

Blick ins Unendliche.) Die Hüllen von 45 bis 75 Zentimeter bezeichnen die<br />

„Greif-Länge“, von 75 bis 120 Zentimeter als „Arm-Länge“. Das ist die „persönliche<br />

Distanz“, „eine kleine beschützende Sphäre oder Blase ..., die ein Organismus<br />

zwischen sich <strong>und</strong> den anderen behauptet.“ 27 In diesen Raum ungestraft<br />

eindringen zu können, ist oft Zeichen eines hohen Status. (Jemanden zu berühren<br />

erhöht in der Regel den eigenen Status, der des Berührten sinkt. Sich selbst<br />

am Kopf anzufassen, ist statussenkend.) 28 Die Bedeutung, die wir uns <strong>und</strong> anderen<br />

geben, hängt auch davon ab, wie viel Raum wir einnehmen oder anderen<br />

gewähren. Personen mit viel Macht strahlen eine „Aura“ aus, die viel Raum in<br />

„Besitz nimmt“ (nach Edward Hall bei sehr mächtigen Menschen bis zu neun<br />

Metern). 29<br />

Jenseits der „personalen Distanz“ (um 120 Zentimeter) beginnt die „<strong>soziale</strong> Distanz“.<br />

Die Hülle hier markiert die „Schranke der Herrschaft“ (der körperlichen<br />

26 Das folgende nach Hall 1966.<br />

27 Ebenda, 124.<br />

28 Vgl. Johnstone, ..<br />

29 Hall 1966, 129.


16<br />

Herrschaft im eigentlichen Sinn), an jemanden anderen „Hand zu legen“ ist<br />

nicht leicht möglich. Man berührt einander nicht <strong>und</strong> erwartet nicht, berührt zu<br />

werden (ein Kennzeichen vieler gesellschaftlicher oder beruflicher Zusammenkünfte).<br />

Der Komplex der Hüllen um den Körper ist zutiefst von der eigenen Kultur geprägt.<br />

30 Auf stillschweigende Weise haben wir gelernt, eigene <strong>und</strong> fremde Hüllen<br />

um unsere Körper zu beachten, ohne darüber nachzudenken, <strong>und</strong> oft ohne<br />

darüber zu sprechen. (Statusfragen z.B. sind in der Regel ein Tabu. Sie kommen<br />

meist nur bei schweren Konflikten zur Sprache). Auf mittelalterlichen Bildern<br />

sehen wir selbst hochgestellte Persönlichkeiten auf Bänken sitzen, die Körper<br />

dicht aneinander gedrängt. Der direkte Körperkontakt, die Wärme <strong>und</strong> die Gerüche<br />

des anderen (moderne Hygiene war unbekannt) war den Menschen offenbar<br />

wohlvertraut. Stühle, die ihrem „Besitzer“ einen eigenen weiteren Raum zusprechen,<br />

verbreiten sich in Europa erst ab dem 16. Jahrh<strong>und</strong>ert. Sie dokumentieren<br />

einen neuen individuellen Raum. Im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert entsteht daraus das<br />

Konzept der Intimsphäre, das heute wiederum f<strong>und</strong>amental umgeformt wird.<br />

Der moderne Mensch lebt im Alltag ein anderes Leib-Raum-Gefühl. Er benötigt<br />

zu seinem Wohlbefinden einen weiten Raum um sich, der gleichsam sein persönlicher<br />

Besitz ist. (Autos sind auch deshalb so beliebt, weil sie einen privaten<br />

abgeschlossenen Raum bilden. Hoch-Status-Personen lassen sich in riesigen Limousinen<br />

kutschieren: eine Viel-Raum-Person wird bewegt.)<br />

Alle Räume um den Körper zielen auf sein erlebtes <strong>Zentrum</strong>:<br />

Selbst<br />

die Position des Leibes, der sich als Selbst empfindet. Das gespürte<br />

Sich-Selbst (das Leib-Selbst) ist das Erleben, ein eigener<br />

Körper, ein eigener Geist zu SEIN. Identität ruht auf einer leiblichen Basis: das<br />

Empfinden seiner selbst als eigenständiger Leib. Es bildet sich beim Kind in ei-<br />

30 Vgl. Hall 1966 mit vielen Beispielen


17<br />

nem langen Prozess unter Einwirkung seiner Bezugs-Personen, eingebettet in<br />

kulturelle Deutungen, was ein „richtiges“ Selbst zu sein hat. Die Entwicklung<br />

des Selbst-Empfinden beim Kind hat Daniel Stern im Detail beschrieben. 31 Stern<br />

unterscheidet vier markante Selbst-Empfindungen, die sich nach <strong>und</strong> nach bilden<br />

<strong>und</strong> wie Sedimente übereinander schichten. Am Anfang steht das „auftauchende<br />

Selbst“: das Baby lernt, leibliche Erfahrungen (wie die mütterliche Brust,<br />

Schaukeln <strong>und</strong> Streicheln, besänftigendes Zureden, Lichteindrücke ...) als „Gebilde“<br />

zu „begreifen“, die in ähnlicher Weise miteinander gekoppelt sind. Diese<br />

Erlebnisse sind nach Stern „amodaler Natur“, d.h. sie sind nicht in einzelne Sinnes-Modi<br />

aufgespalten, sondern werden (so vermutet er) in einer unbekannten<br />

Form erlebt, die es dem Baby ermöglicht, Erlebnisse übergangslos von einer Sinnes-Modalität<br />

in die andere zu „übersetzen“: ein Bild IST ein Laut, eine Farbe<br />

IST ein Gefühl, ein Gesicht einer Person, die den M<strong>und</strong> öffnet, IST der Impuls,<br />

selbst den M<strong>und</strong> zu öffnen, ...<br />

Im dritten oder vierten Monat hat sich nach Stern die Organisation des Selbst-<br />

Empfindens beim Baby so „verdichtet“, das man von einem „Kern-Selbst“ sprechen<br />

kann. Das Baby besitzt z.B. einen „motorischen Plan“ für viele Handlungen,<br />

die willkürlich (d.h. in einem rudimentären „Wissen“ um die eigene Urheberschaft)<br />

ausgeführt <strong>und</strong> zu gleichen oder ähnlichen Konsequenzen hin-geführt<br />

werden können. Damit wächst auch die Bewusstheit zeitlicher Abläufe. Erfahrungen<br />

können jetzt als „Ereignisse“ oder „Episoden“ erinnert werden (mehr<br />

dazu im nächsten Abschnitt). Zwischen den siebten <strong>und</strong> dem neunten Monat<br />

entsteht (so Stern) ein Empfinden für Gedanken <strong>und</strong> Gefühle. Das Baby wird<br />

sich erster „subjektiver“ Momente bewusst. Es erkennt an sich <strong>und</strong> anderen „innere<br />

Zustände“, - eine inter-subjektive Beziehungs-Fähigkeit erscheint. Mehr<br />

<strong>und</strong> mehr wird das Kind fähig andere nachzuahmen, beobachtetes Verhalten<br />

>innerlich< zu simulieren <strong>und</strong> die Vorstellungen in >äußere< Handlungen umzusetzen.<br />

Dies erfordert auch die Schaffung eines Selbst-Bildes: das Kind<br />

31 Stern 2000.


18<br />

„denkt“ sich als „fortbestehende Struktur“, die in Kontakt mit anderen Strukturen<br />

steht. Die Hülle des Selbst inter-agiert so mit anderen Hüllen, - eine Vorbedingung<br />

dafür, dass Sprechen ermöglicht <strong>und</strong> Sprache erworben werden kann.<br />

Die Empfindung des einen Leibes, der ich BIN, ist die Voraussetzung<br />

für die Wahrnehmung einzelner Objekte <strong>und</strong> einzelner<br />

Einheiten<br />

Personen: abgegrenzter Atmosphären, die sich in Hüllen verdichtet<br />

haben <strong>und</strong> von Hüllen „umwickelt“ sind. Für das Empfinden der Einheit<br />

des Leibes spielen (so die Modelle der sensorischen Integration) die „körpernahen“<br />

Sinne eine Hauptrolle: der Tast-Sinn (das taktile System), der Gleichgewichts-Sinn<br />

(das vestibuläre System) <strong>und</strong> der „Tiefen-Sinn“ des Leibes (die Tiefen-Sensibilität,<br />

die Eigenwahrnehmung des Leibes, des propriorezeptive System),<br />

das vor allem in den Muskeln <strong>und</strong> Gelenken Auskunft über Bewegungen<br />

<strong>und</strong> Stellungen von Körperorganen gibt. Die Gr<strong>und</strong>lage dieser drei „Gr<strong>und</strong>-<br />

Sinne“ ist nach Jean Ayres der Gleichgewichts-Sinn. Er bildet das „alles vereinende<br />

Bezugssystem [<strong>und</strong>] formt die Gr<strong>und</strong>bedingungen, die ein Mensch zur<br />

Schwerkraft <strong>und</strong> seiner physischen Umwelt hat“. 32 Erst ein entwickeltes Gleichgewichtssystem<br />

vermag nach diesem Ansatz die vielen sinnlichen Wahrnehmungen<br />

sinnvoll zu verbinden (sie sensorisch zu integrieren). <strong>Wahrnehmen</strong> beruht<br />

demnach auf der leib-körperlichen Voraussetzung eines Körperschemas,<br />

der den Leib als Gesamtheit erfahren lässt. 33 Diese Einheits-Leistung bildet die<br />

Gr<strong>und</strong>lage für das Erlernen von Objekten, von anderen Personen <strong>und</strong> des Raumes.<br />

Die Hülle des Leibes wird zur Bezugs-Erfahrung für die Einheit von Objekten<br />

<strong>und</strong> Personen. Ihr gemeinsames Merkmal ist ihr „Hüllen-Kleid“. Es hebt<br />

sie konturenförmig von ihrer Umgebung ab <strong>und</strong> macht sie zu eigenständigen<br />

„Wesen“, mit denen man in wachsender Bewusstheit <strong>und</strong> Selbstkontrolle in<br />

Kontakt treten kann.<br />

32 52.<br />

33 Vgl. dazu das Konzept des Körperschemas bei Merleau-Ponty 1965, 123 ff.


19<br />

Kinder dokumentieren diesen Prozess auch in der Art, wie sich ihr Zeichnen<br />

allmählich verändert. Am Anfang steht ein umgestaltetes Kritzeln, das kaum zu<br />

deuten ist. Die erste gestaltete Form, die im Gekritzel auftaucht, ist der Kreis: fast<br />

jedes Objekt, jede Person wird kreisr<strong>und</strong> gezeichnet (die bekannten Kopffüßler).<br />

Die R<strong>und</strong>heit steht nach Rudolf Arnheim nicht für einen Kreis (eine abstrakte<br />

geometrische Gestalt), „sondern für die allgemeinere Eigenschaft der ‚Dingheit’,<br />

- d.h. für die Festigkeit eines körperlichen Objekts, das sich vom neutralen<br />

Gr<strong>und</strong> abhebt.“ 34 Die Kinder zeichnen, was sie SEHEN: eine abgeschlossene<br />

Hülle, eine abgegrenzte Form. In diesem Stadium wird das Empfinden für die<br />

Einheit des Leibes manifest. Es bildet die Gr<strong>und</strong>lage für die Erfahrung der Abgeschlossenheit<br />

von Objekten <strong>und</strong> Personen. Das, was man am eigenen Leib erkennt,<br />

kann man auch in der Umgebung erleben. Ist die Einheits-Erfahrung des<br />

Körpers gestört, ist das Wahr-Nehmen f<strong>und</strong>amental erschüttert. Bizarre Wahrnehmungs-Felder<br />

erscheinen. Man erfährt wechselnde Atmosphären, aber keine<br />

festen Teile. Dinge <strong>und</strong> Personen besitzen keinen konstanten „Kern“, „Raum“<br />

<strong>und</strong> „Zeit“ sind nicht existent. (Selbst geringfügige Störungen dieser Art erschweren<br />

das Erlernen von Sprache <strong>und</strong> anderer kognitiver Fähigkeiten wie Lesen,<br />

Schreiben <strong>und</strong> Rechnen: das Kind ist „behindert“ <strong>und</strong> sozial „schwierig“).<br />

Verdichtete Hüllen, die sich zu einem „Etwas“ zusammenballen,<br />

das als abgegrenzte Einheit erfahren wird,<br />

Kristallisationen<br />

sind Kristallisationen. Das Atmosphärische hat sich<br />

„verdichtet“, es wird als umschlossenes Ganzes von einer Hülle „zusammengehalten“.<br />

Wichtige Kristallisationen sind der Leib (als empf<strong>und</strong>enes selbstständiges<br />

Selbst), Objekte, Personen, Tiere <strong>und</strong> andere Wesen. Ihre Basis liegt in der<br />

Empfindung des Leibes als abgegrenztes <strong>und</strong> einheitliches Selbst. Kristallisationen<br />

bedürfen der Wahrnehmung einer zusammenhängenden Hülle. Sie erschafft<br />

eine geschlossene Form. In der visuellen Vor-Stellung erscheint eine Gestalt: ein<br />

34 Arnheim 1978, 174.


20<br />

„Etwas“ mit Oberfläche <strong>und</strong> Kontur. Die Hülle IST die Grenze, die ein „Ding“<br />

von seiner „Um-Welt“ abhebt.<br />

Um Hüllen zu erkennen, muß man fähig sein, sich Hüllen vorstellen zu können,<br />

- auch dort, wo aktuell keine „Oberfläche“ zu sehen ist. Keine Hülle ist zur Gänze<br />

„sichtbar“. Die wichtigsten Hüllen sind die gefühlten <strong>und</strong> vorgestellten<br />

„Schichten“ um den Leib. Die Hülle des eigenen sichtbaren Körpers (begrenzt<br />

von der Haut) ist zum größten Teil unsichtbar. Der größte Teil des sichtbaren<br />

Körpers befindet sich nicht in unserem Sichtfeld. Die Empfindung des Leibes als<br />

abgegrenztes <strong>und</strong> einheitliches Selbst bedarf das Gewahrseins der „unsichtbaren“<br />

Rückseite des Körpers. Man SIEHT <strong>und</strong> SPÜRT gleichsam eine Hülle des<br />

eigenen Leibes, die wir selbst niemals sehen. Sie grenzt den >Innen-Raum< des<br />

Leibes vom >Außen-Raum< der Dinge ab. 35 Durch die Hülle bekommt der Leib<br />

einen Innen-Horizont, aus dem der Außen-Horizont des Raumes entsteht. (Beide<br />

Horizonte liegen in einem gemeinsamen Feld.)<br />

Ein Objekt kann als Gegen-Stand nur dann erfahren werden, wenn wir uns seiner<br />

Hülle, d.h. auch seiner „unsichtbaren“ Rückseite präsent sind. Das Sehen<br />

eines Gegenstandes schließt das Wissen um das Vorhandensein seiner aktuell<br />

unsichtbaren An-Sichten ein. Wir SEHEN einen Gegenstand, in dem wir ihn<br />

gleichsam „von außen“ von allen Seiten berühren. Wir SEHEN die Konturen der<br />

Hülle, die den Gegenstand vollständig umschließt. (Wir SEHEN Konturen, die<br />

in der Natur nirgendwo zu finden sind.) Die allumgrenzende Hülle macht einen<br />

Gegenstand zu einem Gegenstand, zu einer (abzählbaren) Einheit. Die Grenze<br />

erzeugt einen Innen-Horizont für das Objekt, in welchem andere Gegenstände<br />

(um das Objekt herum) selbst zum Horizont werden.<br />

Sehen ist ein doppelgesichtiger Akt. 36 „Um“ einen Gegenstand erfahren wir einen<br />

räumlichen Horizont, der ihn gleichsam „einbettet“ (ihm eine Hülle gibt).<br />

„Einen Gegenstand anblicken, heißt in ihm heimisch werden <strong>und</strong> von ihm aus<br />

35 Merleau-Ponty 1965, 28.<br />

36 Die folgenden Zitate aus ebenda, 92 f.


21<br />

alle anderen Dinge nach ihren ihm zugewandten Seiten erblicken ... So ist jedes<br />

Ding der Spiegel aller anderen:“ 37 Hüllen neben Hüllen, die „ein System, eine<br />

Welt bilden“. Wir SEHEN Gegenstände, indem wir Hüllen erfahren (sie gewissermaßen<br />

SPÜREN), die sich gegenseitig – nach allen Seiten hin – selbst „sehen“<br />

<strong>und</strong> eine jede, „gleichsam als Zuschauer [ihrer] verborgenen Anblicke <strong>und</strong> als<br />

Bürgen ihres beständigen Daseins, andere um sich versammelt.“ Die Empfindung<br />

der Leibs-Hülle findet seine Entsprechung in der Empfindung der Objekt-<br />

Hülle: „Wenn ich von einem Gegenstand sage, er liege auf dem Tisch, so versetze<br />

ich immer mich in Gedanken in diesen Gegenstand <strong>und</strong> in den Tisch <strong>und</strong><br />

wende auf beide einen Begriff an, der ursprünglich beheimatet ist in den Verhältnissen<br />

meines Leibes zu äußeren Gegenständen.“ 38<br />

Kristallisationen können auf viele Weisen gebildet werden. Jede Kultur entwickelt<br />

ihre Varianten. Dinge, Personen, Körper, oder Tiere sind keine >objektiven<<br />

Gegebenheiten, sondern kulturimmanente Gebilde. Wir besitzen keine<br />

kulturübergreifenden Kriterien, um zu sagen, wann <strong>und</strong> nach welchen Regeln<br />

sich eine Atmosphäre zu einer Hülle „zusammenzieht“. Wir müssen umgekehrt<br />

fragen, wie <strong>und</strong> nach welchen Einteilungen Menschen einer bestimmten Kultur<br />

Kristallisationen „zum Leben erwecken“, wie Objekte, Wesen <strong>und</strong> Personen erscheinen,<br />

welche Aspekte dabei in den Vordergr<strong>und</strong> treten <strong>und</strong> wie sie sich verändern.<br />

Kulturgeschichte als Wahrnehmungsgeschichte studiert die dominanten Muster,<br />

in der in einer Kultur Hüllen um den Leib <strong>und</strong> um Objekte „gelegt“ werden <strong>und</strong><br />

versucht, ihre Erkenntnisse so darzustellen, dass eigene Erfahrungs-Felder aktiviert<br />

werden. Das Fremdartige an der Wahrnehmung soll (so gut dies überhaupt<br />

möglich ist) zumindest in Anklängen „verstanden“ werden. (Das Hineinversetzen<br />

in eigen anmutende Atmosphären ist Teil der Forschungs-Strategie sowie<br />

der Methode, davon Bericht zu geben.)<br />

37 ????<br />

38 126.


22<br />

Werden in einer Kultur Hüllen auf andere Weise gebildet, als<br />

Objekte<br />

uns dies selbstverständlich erscheinen mag, dann ist jedes<br />

<strong>Wahrnehmen</strong> verwandelt. Im Mittelalter zum Beispiel konnten<br />

Dinge nicht naturwissenschaftlich verstanden werden (alle Konzepte waren<br />

noch nicht entwickelt). Dinge besaßen auch – so der breite Konsens – eine symbolhafte<br />

Seite. Die Hülle um die Dinge war keine rein räumliche Hülle in einem<br />

dreidimensionalen Koordinatensystem (wie bei Descartes), sondern eine mit<br />

Symbolen „behaftete“ Hülle. Die Dinge sahen einander, um die Wortwahl von<br />

Merleau-Ponty zu verwenden, nicht nur in ihrem räumlichen Abstand, sondern<br />

in ihrem symbolischen Zusammenhang an. Ein Ding warf gleichsam einen symbolischen<br />

Blick auf andere: bist Du mir ähnlich oder unähnlich, sympathisch o-<br />

der unsympathisch, stößt Du mich an oder ab? Das System der Dinge bildete so<br />

ein riesiges symbolisches Netz, in dem jedes Ding symbolisch auf viele andere<br />

verwies.<br />

Ein Beispiel sind Symbole aus dem religiösen Bereich. Die Farbe blau etwa wurde<br />

oft mit der Jungfrau Maria assoziiert. Ein blaues Objekt ist demnach mit einer<br />

Hülle „umwickelt“, die im Zusammenhang mit Maria („da oben im Himmel“)<br />

steht. Dieser Zusammenhang wurde nicht allegorisch oder als Metapher, sondern<br />

>faktisch< verstanden. Blau enthält eine „Kraft“, so glaubte man, die von<br />

Maria stammt <strong>und</strong> das Objekt „erfüllt“, es mit dieser Kraft gleichsam „auflädt“.<br />

Eine blaue Hülle schafft eine eigene (numinose) 39 Atmosphäre. Alles Blaue in der<br />

Natur wird so zum Zeichen für die Jungfrau selbst <strong>und</strong> Personen, die blaue<br />

Kleider tragen (wie blau gekleidete Nonnen heute), stehen unter dem besonderen<br />

Schutz der Gottes-Mutter. Ihre Macht vermittelt Geborgenheit, eine schützende<br />

Blase, an der die schädlichen Einflüsse des Bösen abprallen werden.<br />

Berichte dieser Art sind, wie ich in Kapitel ... argumentieren werde, nicht nur<br />

Ausdrücke eines „Glaubenssystems“, sondern Indizien für Wahrnehmungs-<br />

Prozesse selbst. Blau als Zeichen von Marias Kraft wird – folgt man dieser These<br />

39 Otto 1929. Mehr dazu im nächsten Kapitel.


23<br />

– nicht nur geglaubt, sondern vielmehr in ihrer Eigenschaft sinnlich-leiblich erfahren.<br />

Man SIEHT <strong>und</strong> SPÜRT gleichsam die Wirkungsmacht des himmlischen<br />

Blaus. Wahrnehmungen dieser Art erscheinen heute seltsam. Darf ich Sie auf ein<br />

weiteres Experiment einladen?<br />

Blicken Sie um sich <strong>und</strong> erk<strong>und</strong>en Sie, ob Sie etwas Blaues sehen. Nehmen Sie<br />

dieses Objekt ins Visier. Richten Sie ruhig <strong>und</strong> entspannt Ihren Blick darauf, als<br />

ob sie dieses Ding zum ersten mal wahrnehmen würden. Denken Sie jetzt an<br />

etwas „Heiliges“, vielleicht aus Ihrem persönlichen religiösen Hintergr<strong>und</strong> oder<br />

etwas, was Ihnen besonders wichtig ist, wie Ihre persönliche Freiheit, Menschenrechte<br />

oder das Wohl Ihrer Kinder. Stellen Sie sich vor, dass Blau das Symbol<br />

dieses Besonderen wäre. Blau verkörpere diese Qualität <strong>und</strong> genau das sei in<br />

ihrem Objekt enthalten: von ihm gehe eine „Strahlung“ aus, die man auf deutliche<br />

Weise SPÜREN kann. Malen Sie sich aus, das blaue Ding sei mit einer<br />

schwingenden Aura umgeben, einer vibrierenden Schicht, einem leuchtenden<br />

Schein. Legen Sie in Gedanken eine glänzende Hülle um das Objekt, um alle<br />

Seiten, auch um die unsichtbare Rückseite. Betrachten Sie den Gegenstand mit<br />

einem „weichen“ (wenig fokussierten) Blick. Nun „fließt“ die Farbe auch in den<br />

Raum um den Gegenstand: eine blaue „atmosphärische Raumfarbe“ erscheint. 40<br />

Denken Sie daran, wie kostbar diese „dichte“ Hülle ist. Wenn Sie das nächste<br />

mal das Ding berühren, werden Sie, so nehmen Sie sich vor, es sehr respektvoll<br />

tun. SPÜREN Sie das Besondere dieses blauen Objektes.<br />

Richten Sie anschließend Ihre Aufmerksamkeit auf Ihr ganzes Seh-Feld. Betrachten<br />

Sie alle Gegenstände etwas unscharf. Auch die Farben anderer Gegenstände<br />

erscheinen aurahaft. „Strahlen“ gehen von ihnen aus. Sie SPÜREN angenehme<br />

<strong>und</strong> unangenehme, fre<strong>und</strong>liche, bedrohende, ruhige, aufwühlende ...<br />

Farb-Kräfte im Raum, eigenartige Stimmungen, flimmernde Hüllen. 41 Angenommen,<br />

wir wären in der Lage ein solches Wahrnehmungs-Feld mit seinen<br />

40 Vgl. Merleau-Ponty 1965, 266; mehr dazu in Kapitel ..<br />

41 Vgl. damit das Konzept der „Ekstasen eines Dings“ bei Böhme 1995, 33.


24<br />

Atmosphären öfters <strong>und</strong> für längere Zeit zu erleben (<strong>und</strong> wichtige Personen<br />

würden uns im Handeln <strong>und</strong> Reden in dieser Sicht-Weise bestätigen): wie würden<br />

wir da unseren Körper erfahren? Wie würden wir mit anderen umgehen?<br />

Was hätte Bedeutung, wäre wichtig? Wonach müssten wir streben <strong>und</strong> was wäre<br />

ohne Belang?<br />

Die Formung des Leibes geschieht nicht nur im Kontakt mit<br />

Personen<br />

Dingen, sondern vor allem durch das Berühren <strong>und</strong> Berührtwerden<br />

durch andere Personen. Sie kommen einem Individuum nicht – gleichsam<br />

nachträglich – von >außen< zu, sondern sind schon da, bevor ein Leib sich<br />

als Individuum denken kann. Die Menschen sind keine isolierten >Dinge


25<br />

schafft eine in sich abgeschlossene Welt, eine „Hülle“, die zwei Leiber verbindet.<br />

Intensive Erfahrungen mit anderen sind oft mit Augen-Kontakten verb<strong>und</strong>en.<br />

Im verliebten Blick wird der Raum zwischen den Liebenden dicht. Blicke können<br />

töten, sagt ein Sprichwort, <strong>und</strong> manche halten selbst kurze gegenseitige Augen-<br />

Blicke nur schwer aus. Jemanden wirklich zu sehen (<strong>und</strong> ihn zu „verstehen“)<br />

bedeutet, seine Augen in Augenschein zu nehmen. Erfolgt dies in genügender<br />

Nähe, dann blicken wir unbewusst abwechselnd in das linke <strong>und</strong> das rechte Auge<br />

des Gegenüber, <strong>und</strong> der andere verhält sich auch auf diese Weise. (Macht er<br />

dies nicht, so wirkt er abwesend: er starrt durch mich hindurch). Im winzigen<br />

Hin- <strong>und</strong> Her der Augen (von einem Auge zum anderen) werden – so scheint es<br />

– „Kräfte“ auf- oder abgebaut. Sie entfalten sich im Raum zwischen Personen<br />

<strong>und</strong> geben ihm ihre atmosphärische Prägung. (Studieren Sie diesen Prozess, indem<br />

Sie in einen nahen Spiegel blicken. Sich selbst in die Augen zu sehen ist eine<br />

merkwürdige Erfahrung, die die Befindlichkeit schlagartig verändern kann: welches<br />

eigenartige Wesen SIEHT mich da an?)<br />

Im Hin- <strong>und</strong> Her-Werfen von Blicken demonstrieren wir unsere <strong>soziale</strong> Präsenz.<br />

Wir zeigen uns vor anderen, indem wir unsere Körper bewegen, ihn positionieren,<br />

Gesten machen (<strong>und</strong> sprechen) <strong>und</strong> auf bestimmte Art <strong>und</strong> Weise Blicke<br />

werfen. Der Status zwischen Personen wird auch durch das gegenseitige Sichanblicken<br />

festgelegt. (Jemanden voll anzustarren oder demonstrativ nicht hinzusehen<br />

bzw. den Blick durch eine dunkle Brille zu verweigern kann statuserhöhend<br />

sein.) 44 Das Sehen im Beisein von anderen ist ein aktiver <strong>soziale</strong>r Prozess,<br />

keine passive Aufnahme >äußerer< Signale. Im Austausch der Augen geben wir<br />

uns wechselseitig Existenz. Wir SEHEN Gesichter, die wir als Ausdruck lebendiger<br />

Leiber erfahren. „Indem mein Blick sich mit dem eines Anderen kreuzt,<br />

vollziehe ich die fremde Existenz in einer Art Reflexion nach.“ 45 Mein Leib hat<br />

44 Vgl. Johnstone<br />

45 Merleau-Ponty 1965, 403.


26<br />

im Sehen gleichsam einen anderen BERÜHRT, es erfährt seine „Ausstrahlung“,<br />

seine Atmosphäre, sein Im-Leben-Sein. Im Sehen kontaktieren sich Leiber.<br />

Das Erkennen eines anderen folgt den Merkmalen des Erkennens eines Dinges:<br />

wir SPÜREN Atmosphären <strong>und</strong> SEHEN Konturen, Schnittstellen der Hülle um<br />

den anderen. In der Erfahrung des anderen als ein anderer Leib unterscheiden<br />

wir Personen von Dingen, die kein Leib sind. (Würden wir Subjekt <strong>und</strong> Objekt<br />

strikt trennen, müssten wir andere Menschen als „Objekte“ begreifen.) 46 Ein<br />

Wahrnehmungs-Feld birgt immer zugleich die Natur-Welt der Dinge <strong>und</strong> die<br />

Sozial-Welt der Personen. Die Wahrnehmung eines Dinges ist in keiner Weise<br />

wichtiger oder f<strong>und</strong>amentaler als die Wahrnehmung einer Person. (Das Physikalische<br />

ist keine Gr<strong>und</strong>lage für das Soziale.) In der Einheit eines Wahrnehmungs-Feldes<br />

haben, wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen will, Merkmale<br />

der Hüllen-Bildung für Dinge mit denen von Personen zu tun. Kulturen unterscheiden<br />

sich auch danach, wie sie Personen von Dingen abgrenzen. (Autistischen<br />

Kindern scheint das Schwierigkeiten zu bereiten. Sie nehmen keinen Augenkontakt<br />

auf, begrüßen schon als Babys andere nicht mit einem Lächeln <strong>und</strong><br />

scheinen Körperkontakte als unangenehm zu erfahren. Sie zeigen keine Bereitschaft,<br />

fremdes Verhalten nachzuahmen, <strong>und</strong> lernen auch nicht, Gefühls-Signale<br />

auf Gesichtern sinnvoll zu deuten. 47 Autisten reagieren sensibel auf ihre Umgebung.<br />

Sie SPÜREN das Atmosphärische ungemein intensiv, können jedoch – so<br />

kann vermutet werden – ihre Quelle kaum in Dingen oder Personen orten <strong>und</strong><br />

diese voneinander klar trennen.)<br />

>Realitäten< sind Atmosphären <strong>und</strong> kristallisierte Gebilde. Den<br />

Wesen Prozess, „etwas“ als Objekt oder als Person zu erfahren, kann<br />

man Objektivikation <strong>und</strong> Personifikation nennen. Auf diese<br />

Weise können in einer Kultur Wesen vielerlei Art lebendig gemacht <strong>und</strong> er-lebt<br />

46 401.<br />

47 Vgl. Rollett <strong>und</strong> Kastner-Koller 2001, 26 ff.


27<br />

werden. Götter, Hexen, Dämonen, Feen <strong>und</strong> Geister sind kulturelle Personifikationen,<br />

die mit eigenen Begriffen belegt werden. Für jede Kultur kann die Frage<br />

aufgeworfen werden, ob <strong>und</strong> welche Wahrnehmungs-Prozesse die >Existenz<<br />

von (für uns vielleicht unsichtbaren) Wesen wie Götter oder Dämonen f<strong>und</strong>ieren.<br />

Hat sich vielleicht das Atmosphärische so „kristallisiert“, dass geisterhafte<br />

Wesen nebelartig dort „auftauchen“, wo eine nüchterne Person heute nur einen<br />

Nebel SIEHT? Im Mittelalter z.B. wurde berichtet, dass Menschen in Wolken<br />

„Ritter, Rosse <strong>und</strong> funkelnde Waffen“ SAHEN <strong>und</strong> „den Lärm marschierender<br />

Heere“ HÖRTEN. 48 Berichte dieser Art können Hinweise auf Wahrnehmungs-<br />

Prozesse sein. Im Gr<strong>und</strong>e genommen kann man fast alles personifizieren. Bäume,<br />

Pflanzen, Erscheinungen in der Natur, Gewitter, Regen, Hagel, der Blitz,<br />

aber auch andere – anscheinend abstraktere Gebilde – wie Nation, Staat, Rasse<br />

oder Volk oder (aktuell) „das Böse“, das vom „Guten“ militärisch bekämpft<br />

werden müsse. Personifikationen schaffen jene Wesen, die in einer Kultur >existent<<br />

SIND <strong>und</strong> mit denen sich jeder auseinander zusetzen hat. Jeder erfährt<br />

sie, spricht über sie, denkt an sie. Der kulturelle Prozess der Personifikation ist<br />

historisch variabel <strong>und</strong> in Zukunft offen. Es könnte sein, dass künftige Generationen<br />

Wesen erfahren, die für uns nur unbestimmte Atmosphären ohne eigene<br />

Namen sind.<br />

Jede Personifikation beruht darauf, dass Merkmale des eigenen Leibes einer anderen<br />

Hülle zugeordnet werden. Im Prozess des Personifizierens wird eine<br />

Hülle eingefangen <strong>und</strong> in Analogie zum Leib gesetzt. Man gibt dem, das als Gegenüber<br />

erscheint, Aspekte eigener Selbst-Erfahrungen mit. Das Erleben leiblicher<br />

Hüllen wird nicht nur „bei mir“, im natürlichen Mittelpunkt meines Lebens,<br />

sondern auch „da draußen“, bei einem anderen Wesen erfahren, das handelnd<br />

erscheint. Es besitzt Aspekte ähnlich meinen Leib, z. B. einen Körper, der<br />

sich bewegen kann oder einen eigenen Willen <strong>und</strong> eigene Absichten besitzt.<br />

48 Fumagalli 1999, 14.


28<br />

Welche Merkmale des Leibes einem „anderen“ gegeben werden, ist variabel <strong>und</strong><br />

wird im praktischen Tun erlernt. In einer Sklavengesellschaft gibt der Herr seinem<br />

Sklaven vielleicht die Eigenschaft lebendig <strong>und</strong> stark zu sein. Er kommt<br />

aber nicht auf die Idee ihm echte Empfindungen, überlegenswerte Gedanken,<br />

einen eigenen Willen oder gar eine unsterbliche Seele zuzusprechen. Das „Gegenüber“<br />

erscheint als „reduzierte“ Person: als „etwas“ mit weniger oder keinen<br />

Rechten, mit dem man im Extrem nach völliger Willkür verfahren <strong>und</strong> das wie<br />

ein lebloses Ding - ohne Schuldgefühle oder Gewissensbisse - zerlegt <strong>und</strong> zerstört<br />

werden kann.<br />

Personifikation <strong>und</strong> Depersonifikation sind graduelle Prozesse. In der Regel<br />

werden jene Personen am intensivsten personifiziert (als wahrhaft menschliche<br />

Lebewesen erachtet), die uns am ähnlichsten sind, - wie die eigenen Kinder, der<br />

Partner (die Partnerin) oder Mitglieder des eigenen „Stammes“. Die intensive<br />

Personifikation macht sie zu kostbaren Wesen. Im Umgang mit ihnen hat man<br />

vorsichtig <strong>und</strong> behutsam zu sein. Ihr Tod löst heftige Empfindungen aus. Im<br />

<strong>soziale</strong>n Raum entsteht ein „Loch“, das oft viele Jahre Trauer-Arbeit bedarf, um<br />

wieder „gefüllt“ zu sein.<br />

Am anderen Ende der Skala stehen Menschen, deren Tod absolut bedeutungslos<br />

ist, z.B. jene Menschen - so empfinden es viele - die genau in dieser St<strong>und</strong>e den<br />

Hungertod erleiden. Extreme Depersonifikationen treten im Krieg (der Tod des<br />

„anderen“ wird bejubelt oder als „Kollateral-Schäden“ versachlicht) 49 oder bei<br />

Rassisten auf, denen – wie das nationalsozialistische Beispiel eindrucksvoll zeigt<br />

– die industrielle Ermordung riesiger Menschenmassen mit kalter Bürokratie<br />

„gelingt“. Personen, die dazu „fähig“ sind, erfahren das, was sie vernichten, wie<br />

49 Erfolgswirksame Methoden der Depersonifikation beschreibt Dave Grossmann in<br />

seiner Studie On Killing über das US-Militär. (in den USA ein Bestseller, bis heute aber<br />

nicht ins Deutsche übersetzt.) Vgl. www.killology.com. In seinem Buch: Stop Teaching<br />

Our Kids to Kill, behauptet Grossmann, dass die andauernden Gewalt-Szenen im TV die<br />

Zuseher, vor allem Kinder <strong>und</strong> Jugendliche, im depersonifizierender Weise konditionieren:<br />

fünfzehn Jahre nach dem Einzug des Fernsehens haben sich in jeder Region der<br />

USA die Mordraten verdoppelt.


29<br />

Dinge oder Tiere. Es wird ohne Gefühle in Einzelbestandteile zerlegt oder wie<br />

ein Insekt zerquetscht (vgl. Kapitel ...) Zugleich erscheinen andere Wesen als ungemein<br />

wertvoll, wie der „Führer“ oder die eigenen Kinder. Man geht mit ihnen<br />

ehrfürchtig <strong>und</strong> liebevoll um.<br />

Personifikationen <strong>und</strong> Objektivikationen haben mit zwei Prozessen zu tun:<br />

(a) ob überhaupt eine Hülle erfahren wird (d.h. ob etwas Atmosphärisches<br />

sich zu einer abgegrenzten Einheit „verdichtet“) <strong>und</strong><br />

(b) welche Art von Hülle (z.B. wertlos oder kostbar) im handelnden Tun um<br />

diese Einheit gelegt wird.<br />

Darf ich dies anhand eines aufschlussreichen Experiments ein wenig verdeutlichen?<br />

(Ich hoffe, Sie kennen es noch nicht.)<br />

1. Werfen Sie eine kurzen (!) Blick auf Abbildung 2 (Seite 32). Was SEHEN Sie<br />

da?<br />

2. Wenn Sie auf Anhieb kein Lebewesen erkennen, dann:<br />

3. Blättern Sie weiter zu Abbildung 4 (Seite 51). Was SEHEN Sie hier?<br />

4. Geben Sie abschließend wieder zu Abbildung 2 (Seite 32) zurück.<br />

Was SEHEN Sie jetzt?<br />

Die meisten Menschen, das haben Tests ergeben, SEHEN beim ersten Blick auf<br />

Abbildung 2 kein Tier. Sie erfahren chaotische Flecken, vielleicht eine Landschaft,<br />

eine Mauer oder nur ein wirres Muster, das keinen Sinn ergibt. Manche<br />

erkennen mehrere Bilder zugleich, die sich verändern. Abbildung 2 ist mehrdeutig.<br />

Abbildung 4 unterscheidet sich von 2 durch Linien, die Flächen klar trennen.<br />

Man SIEHT deutlich ein umhülltes Wesen, die Konturen eines Tieres. Blickt man<br />

mit dieser Erfahrung noch einmal auf Abbildung 2, erfährt man ein neues Wahrnehmungs-Feld.<br />

Man hat anhand eines eindeutigen Bildes gelernt, wie die Flecken<br />

Sinn ergeben. Alle SEHEN jetzt das gleiche Tier. Man erfährt – wo früher<br />

kein Objekt <strong>und</strong> kein Wesen vorhanden war – eine Hülle. Ein Lebe-Wesen taucht


30<br />

auf. Figur <strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong> sind klar unterschieden. (Dieser Vorgang geht blitzschnell.<br />

Es dauert nicht länger als 300-500 Millisek<strong>und</strong>en, um eine Hülle zu erfahren:<br />

Bekanntes von Unbekannten zu unterscheiden, darauf zu reagieren <strong>und</strong><br />

zu wissen, was das Gesehene bedeutet.) Das Bild wird dreidimensional, weil<br />

man auch eine Rückseite des Wesens erfährt. (Der Effekt dauert mehrere Monate<br />

<strong>und</strong> kann bewusst nicht rückgängig gemacht werden.) 50<br />

Angenommen das Experiment ist erfolgreich verlaufen. Das „richtige“ Bild war<br />

Ihnen vorher nicht bekannt <strong>und</strong> Ihre Augen haben gelernt, in den zuerst ungeordneten<br />

Flecken eine Linie zu SEHEN, die wie von selbst als Kontur einer Hülle<br />

erfahren wird. Das Bild eines Tieres ist entstanden. Dieser Vorgang ist nichts<br />

Ungewöhnliches, Millionen ähnlicher Lern-Erfahrungen liegen hinter uns. Ein<br />

Baby lebt in einer kaum geordneten Welt, ein Chaos von Atmosphären ohne<br />

Grenzen <strong>und</strong> Hüllen. Nach <strong>und</strong> nach lernt es, bestimmte Atmosphären mit eigenen<br />

Hüllen „einzufangen“, sie als Abgegrenztes zu erfahren. Auf diese Weise<br />

bekommen Räume, Dinge, Personen <strong>und</strong> Wesen Form <strong>und</strong> Gestalt. Die Vielfalt<br />

dieser Lern-Prozesse erfolgt nicht – wie bei unserem Experiment – im Sehen alleine.<br />

Alle Sinne sind tangiert. Jedes „Ding“ muss H<strong>und</strong>erte male berührt, geschmeckt,<br />

gerochen werden. Entscheidend ist dabei der Einfluss anderer Personen.<br />

Sie erzählen dem Kind direkt (wie der Autor im Experiment zu Ihnen) oder<br />

stillschweigend, welche Hüllen für das Chaos der dauernd einströmenden Informationen<br />

„richtig“ sind, über welche man wie zu reden <strong>und</strong> wie man mit ihnen<br />

umzugehen hat. Über viele Jahre hindurch entsteht langsam die kulturell<br />

vertraute Welt, - freilich nicht aus rein geistigen Akten, sondern als Ergebnis lebendig-leiblichen<br />

Tuns. 51 >Realität< sind Atmosphären, die durch Hüllen unter-<br />

50 Bilder <strong>und</strong> Informationen nach Sekuler <strong>und</strong> Blake 1994, 15f.<br />

51 Die gängige Deutung des Experiments mit dem Tier ist die Behauptung, „im Geiste“<br />

würde eine riesige Mustersammlung existieren, aus der die Gestalt von „Dingen“ erkennbar<br />

wird. (Vgl. Maelicke 1990, 67) Wird „der Geist“ nicht als Instanz von Wahrnehmung<br />

verstanden, dann empfiehlt es sich auch, Begriffe wie Wahrnehmungs-Filter<br />

oder Konstruktionen zu vermeiden. Der Begriff Wahrnehmungs-Filter verleitet zu der<br />

Vorstellung, <strong>Wahrnehmen</strong> sei ein Vorgang, bei dem >objektive< Daten von >außen< ein


31<br />

gliedert sind. Ob <strong>und</strong> welche Hüllen zu formen sind, ist von Kultur zu Kultur<br />

verschieden. Die „Wesen“ einer Kultur sind „unsichtbare“ Nebel einer anderen.<br />

In jedem Fall sind „die Sinne“ entsprechend angepasst: das, was kollektiv als<br />

„wahr“ beschrieben, wird kollektiv als >wahr< erfahren. Ein sich selbst bestätigender<br />

Kreis hat sich geschlossen: die Wahrnehmungen bestätigen die kollektiven<br />

Überzeugungen, die den Wahrnehmungen zugr<strong>und</strong>e liegen.<br />

Atmosphären werden „gezähmt“, indem eine Hülle um eine<br />

Begriffe<br />

Zone gelegt wird: Räume, Dinge, Wesen oder Personen werden<br />

>realinneres< Sieb zu passieren hätten, d.h. dass es ein „Substrat“ einer Welt >außen< gäbe,<br />

die durch einen Prozess der Reduktion <strong>und</strong> Komprimierung von „Daten“ erkannt werden<br />

kann. Der Ausdruck Konstruktion suggeriert, <strong>Wahrnehmen</strong> sei eine rein mentale<br />

oder geistige Operation (unter Ausblendung leiblich-organischer Bezüge).


32<br />

rung. Kulturgeschichte als Wahrnehmungs-Geschichte untersucht den Wandel<br />

von Kategorien: welche Hüllen wurden auf welche Arten gebildet, welche Kategorien<br />

liegen ihnen zugr<strong>und</strong>e, mit welchen Namen <strong>und</strong> Begriffen wurden sie<br />

belegt?<br />

Kategorien sind Beschreibungen leiblicher Akte. Sie besitzen eine körperliche<br />

<strong>und</strong> eine geistige Seite. Wenn ich ein Buch sehe, es mit den Händen ergreife, aufschlage<br />

<strong>und</strong> darin zu lesen beginne, „weiß“ mein Körper „intuitiv“, wie mit diesem<br />

Gegenstand sinngemäß umzugehen ist. Der Gedanke „das ist ein Buch“ begleitet<br />

(unbewusst, vorbewusst oder bewusst) diesen Prozess. (Würde ich - in<br />

einer anderen kulturellen Prägung - Bücher als Teufelswerk „begreifen“, würde<br />

mein Körper im Ergreifen des Buches vielleicht mit Panik reagieren: ich hätte<br />

Herzklopfen, feuchte Hände oder würde ich mich schuldig fühlen <strong>und</strong> sorgsam<br />

darauf achten, bei dieser Tat nicht ertappt zu werden.)<br />

Abbildung 2: Was zeigt das Bild?<br />

Auch ohne ein Buch in den Händen zu halten, kann ich mir vorstellen ein Buch<br />

zu lesen. Vor-Stellungen sind gleichsam die Fortsetzungen von Wahrnehmungen<br />

ohne das Vorhandensein >äußerer< „greifbarer“ Hüllen. Die Verbindung<br />

mit dem Körper bleibt freilich erhalten. Alle Aspekte des >inneren< Raumes entspringen<br />

dem Leib <strong>und</strong> nehmen zumindest indirekt auf ihn Bezug.


Abstrakte Begriffe haben sich in ihrer Bedeutung aus dem Leib heraus, so könnte<br />

man sagen, ent-wickelt.<br />

33<br />

Metaphern des leiblichen Tuns in dem Satz:<br />

„Abstrakte Begriffe haben sich in ihrer Bedeutung aus dem Leib entwickelt.“<br />

Abstrakt kommt vom Lateinischen abstrahere „wegziehen“. Begriff bedeutet im<br />

Althochdeutschen zunächst ganz konkret „ergreifen, umgreifen“ (im Mittelhochdeutschen<br />

ist begrif „Umfang“ oder „Bezirk“, eine Hüllen-Metapher). Bei<br />

Bedeutung schwingt das Hin-Deuten mit, der Leib (althochdeutsch lib, mittelhochdeutsch<br />

lip) ist das Leben (wie heute in Leibrente oder Leibarzt) <strong>und</strong> Entwicklung<br />

eine Tätigkeit (wickili war im Althochdeutschen der Wickel, eine<br />

Flachs- oder Wollmenge zum Abspinnen.) 52<br />

Viele scheinbar körperferne Ausdrücke können auf einen konkret-leiblichen Ursprung<br />

zurückgeführt werden (Der lateinische Ausdruck concretus setzt aus con,<br />

„mit“, <strong>und</strong> crescere „wachsen“ zusammen. Urspring war im Althochdeutschen<br />

eine Quelle, der etwas „entspringt“) 53 Abstrakte Wörter waren ursprünglich Bezeichnungen<br />

für leibliche Vorgänge. Das Wort Analyse z.B. (im Griechischen<br />

analysein) bedeutet „zergliedern“, „auflösen“, eine Schöpfung aus ana, „hinauf“,<br />

„zurück“ <strong>und</strong> lysein „lösen“. Logik stammt von légein „lesen“, „zählen“, „sagen“<br />

<strong>und</strong> Vernunft (im Althochdeutschen firnumft) von „nehmen“. Verstand bedeutet<br />

vermutlich zuerst „vor einem Objekt stehen“: so konnte man es besser wahrnehmen.<br />

Konzept kommt vom Lateinischen conceptum, ursprünglich „schwanger<br />

werden“, eine Kombination aus con (das heisst „mit“) <strong>und</strong> capere, das ist „nehmen,<br />

fassen, empfangen“. Kategorie stammt vom Lateinischen categoria, dieses<br />

aus dem Griechischen, abgeleitet aus kategórein, das bedeutet ursprünglich „aus-<br />

52 Vgl. die entsprechenden Stichworte in Kluge 1999.<br />

53 Alle Hinweise aus Kluge 1999.


34<br />

sagen“ <strong>und</strong> „anklagen“. In diesem Wort ist eine räumliche Metapher enthalten.<br />

Kata ist „herab“, „hinab“ <strong>und</strong> agora der öffentliche Marktplatz, wo die Versammlungen<br />

abgehalten <strong>und</strong> in öffentliche Reden Personen angeklagt wurden.<br />

Viele Bezeichnungen für „geistige“ Prozesse sind ein Nachhall körperlicher Vorgänge.<br />

Bei einer Anwendung wird etwas gewendet (ana wenten im Althochdeutschen<br />

bedeutet „jemanden etwas zuwenden“). Suchen hat, so wird vermutet, mit<br />

dem Lateinischen sagire zu tun, das ist „spüren, wittern“, rechnen mit dem<br />

Gartengerät Rechen (im Mittelhochdeutschen reche), lesen mit „auflesen“, zählen<br />

mit „er-zählen“ <strong>und</strong> denken war vermutlich „erwägen“, im Sinne von feststellen,<br />

wie schwer ein Ding ist. Eine Linie (ein ideales geometrisches Objekt) war<br />

eine Leine, die beim Vermessen gestreckt wurde: so entstand die Strecke. Ein<br />

Kreis hat, so glaubt man, mit dem Althochdeutschen krizzon, „einritzen“, zu tun.<br />

Ein Kreis war ein auf den Boden eingeritzter Platz, auf dem z.B. gekämpft wurde.<br />

Ein Winkel war die Ecke, die durch zwei aufeinander stoßende Mauern gebildet<br />

wurde. So entstand ein Schlupf-Winkel, man konnte hineinschlüpfen. Der<br />

Zweck, um ein letztes Beispiel zu bringen, war eine Zwecke: in der Mitte einer<br />

Zielscheibe war ein Pflock „eingezwickt“: auf ihn zielte der Schütze. Der Zweck<br />

des Schießens (die >innere< Intention) war es, den Zweck zu treffen (das >äußere<<br />

Ziel).<br />

Die Rückführung abstrakter mentaler Begriffe auf konkretes leibliches Tun besitzt<br />

eine geschichtliche Dimension. Sie gibt Hinweise darauf, wie Menschen<br />

abstrakte Zusammenhänge konkret erlernen. Ein Beispiel ist das Zählen lernen.<br />

Ein Kind SIEHT einzelne Objekte (mit ihren Hüllen) in ihrer räumlichen Lage. Es<br />

berührt sie nacheinander <strong>und</strong> ihm wird gesagt, dass es sich um „eins, zwei,<br />

drei...“ Objekte handelt. Zählen bedeutet, Objekte räumlich zu SEHEN, sie zu<br />

BERÜHREN <strong>und</strong> laut mit ihnen zu sprechen (mit-zusprechen). Dabei wird eine<br />

räumliche Anordnung von Dingen zeitlich hintereinander mit allen Sinnen erfahren,<br />

die rhythmische Abfolge 1, 2, 3, ... sinnlich–leiblich erlebt. Die Zahl-<br />

Eigenschaft „klebt“ anfangs den Objekten wie eine gedachte Farbe gleichsam an.<br />

H<strong>und</strong>erte <strong>und</strong> tausender solcher leiblicher Prozesse bedarf es, bis die Zahlen ein


35<br />

eigenständiges Leben zu führen beginnen. Ein >innerer< Zahlen-Raum tut sich<br />

auf, in dem später Zahlen-Symbole „rein gedanklich“ manipuliert werden können.<br />

Dieser Raum ist vor allem visueller Natur. Man SIEHT >innerlich< Zahlen-<br />

Symbole wie Dinge in einem Raum, z.B. die natürlichen Zahlen 1, 2, 3, ... wie auf<br />

einer Kette aufgefädelt, die knapp vor dem Körper beginnt <strong>und</strong> wie ein Weg bis<br />

zum Horizont reicht.<br />

Gedankliches Rechnen ist wie ein >inneres< Wandern in der Landschaft der<br />

Zahlen. Kinder, die Schwierigkeiten haben, Objekte als Hüllen zu „begreifen“,<br />

sind nicht in der Lage, wirklich rechnen zu lernen. Der >äußere< Raum ist für sie<br />

instabil, Dinge besitzen keine eindeutige räumliche Position. Es gibt es keinen<br />

leiblichen Referenz-Raum, der metaphernhaft als geistiger Raum konstruiert<br />

werden kann. Ein >innerer< Zahlen-Raum kann sich nicht verfestigen. Die (automatisch<br />

erlernte) Er-Erzählung „Eins, zwei drei ...“ findet in >inneren< Welten<br />

statt, die sich immer wieder neu bilden <strong>und</strong> keine gleichbleibende Zahlen-Raum-<br />

Abstände besitzen. (Ähnliches gilt für Lesen, wo die räumliche Lage der Buchstaben<br />

entscheidend ist. )<br />

Erfahrene Mathematiker haben gelernt, ausgehend von der ersten „Zahlen-<br />

Landschaft“ der ganzen (natürlichen) Zahlen >innerlich< eine Vielzahl symbolischer<br />

Räume zu SEHEN, sie konstant zu halten <strong>und</strong> sich in ihnen mit großer<br />

Leichtigkeit zu „bewegen“. Der Mathematiker <strong>und</strong> Physiker Roger Penrose<br />

spricht von „visuellem Denken“, das fast ohne verbalen inneren Kommentar<br />

auskommt. Mathematiker SEHEN, so meint er, mathematische Zusammenhänge,<br />

d.h. sie erfahren die Präsenz >innerer< visueller Bilder. Ein bestimmtes Theorem<br />

kann allerdings nach Penrose von Person zu Person auf andere Art visuali-


36<br />

siert werden, - ohne das dies die Fähigkeit beeinträchtigt, sich sinnvoll über das<br />

Theorem austauschen zu können. 54<br />

Kulturen lernen in Analogie zu Lernprozessen von Kindern sich Zahlen zu erobern<br />

(falls sie es überhaupt lernen) <strong>und</strong> immer abstrakter mit ihnen umzugehen.<br />

Am Anfang des Zahlen-Verständnis steht ein Zahl-Gefühl (z.B. der Raum, den<br />

eine Herde von Pferden einnimmt, wenn sie nahe beieinander stehen) bzw. die<br />

Vorstellung, Zahlen seien direkt mit Dingen verb<strong>und</strong>en (manche Völker haben<br />

Begriffe wie „10 Boote“ zu einem Wort verschmolzen). Die Zahlen erscheinen als<br />

Eigenschaften der Dinge, bei manchen Völkern gibt es für verschiedene Dinge<br />

(z.B. für Lebendiges, r<strong>und</strong>e Dinge, Tage) besondere Zählreihen (wir sprechen<br />

heute noch von einem Joch Ochsen, ein Paar Schuhe, von Zwillingen <strong>und</strong> von<br />

einem Duett, obwohl jeder dieser Ausdrücke zwei bedeutet.) Ursprüngliche<br />

Zahlensysteme verwenden (das hat Karl Menninger in einer umfangreichen<br />

Kulturgeschichte der Zahl gezeigt) „haftende Zahlenreihen“: die Zahlwörter<br />

sind den Dingen wie Kletten angeheftet. 55 Sie liegen >in< einem eigenen Raum<br />

(den >inneren< Zahlen-Raum), der jedoch ohne Bezug zu konkreten Dingen<br />

>außen< nicht verstanden werden kann. (Näheres dazu in späteren Kapiteln).<br />

Zählen-Lernen ist ein Beispiel für abstraktes Lernen, direkt relevant<br />

für Wahr-Nehmen selbst: wir können drei Bäume als<br />

Metaphern<br />

drei Bäume SEHEN. Dieses Wissen wird stufenweise erworben.<br />

Es verbindet Erfahrungen des Leibes (man BERÜHRT nacheinander einzelne<br />

Dinge <strong>und</strong> HÖRT die ihnen beigefügten Zahl-Wörter) mit Erfahrungen in einem<br />

simulierten Raum (man SIEHT Zahl-Symbole auf einer vorgestellten Zahl-<br />

Geraden). Die Übertragung kann als Metapher bezeichnet werden. (Das griechische<br />

meta bedeutet „jenseits“ oder „hinüber“, phérein „tragen“): Wissen wird von<br />

54 Penrose 1989, 418ff., ähnlich bei Hadamard 1945 in seiner berühmten Studie über innere<br />

Prozesse bei kreativen Mathematikern.<br />

55 Menninger 1979, Bd. I, 17ff.


37<br />

einem Kontext in einen anderen transportiert, über den ursprünglichen Kontext<br />

hinaus in einen neuen. 56 Das menschliche Wahrnehmungs-System funktioniert<br />

im Prinzip metaphorisch: 57 Kenntnisse aus dem direkt leiblich-körperlichen Bereich<br />

werden in mittelbaren Bereiche „übersetzt“, bei denen der leibliche Bezug<br />

nur noch verdeckt erkennbar ist. Nach Lakoff <strong>und</strong> Johnson ist das Denken<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich von Metaphern geprägt. Denk- <strong>und</strong> Begriffs-Systeme sind durchwoben<br />

mit Metaphern, die letztlich auf den Leib verweisen.<br />

Denken ist gleichsam „verkörpert“ (the embodied mind). 58 Sätze wie „Es ist schwer,<br />

Gedanken in Worte zu fassen“ z.B. verweisen auf die Hüllen-Erfahrung von Objekten,<br />

Gedanken werden hier wie Objekte behandelt. 59 Abstrakte Aussagen<br />

weisen oft auf räumliche Sachverhalte hin, ein >innerer< Raum in Analogie zur<br />

Welt >außeninnerer< Raum räumlich strukturiert. Manchmal sind wir, so hören<br />

wir uns reden, überdurchschnittlich gut, haben Kontrolle über unsere Impulse,<br />

grübeln über ein Problem, stellen die Gefühle auf die Seite, sind einander nahe<br />

<strong>und</strong> bei guter Laune, eine Fre<strong>und</strong>schaft geht in Brüche <strong>und</strong> die Gedanken<br />

drehen sich im Kreise. Viele abstrakte Aussagen verweisen auf Bewegung <strong>und</strong><br />

Berührung, auf Erfahrungen des Körpers. Nach Merleau-Ponty besitzen Worte<br />

gestische Bedeutung: wie Gebärden drücken sie einen leiblichen Sinn aus. 60 Die<br />

gedachte <strong>und</strong> gesprochene Sprache ist nur eine andere Ausdrucksform von<br />

„Körper-Sprache“, eine Art des Leibes, in der Welt zu SEIN <strong>und</strong> sich anderen<br />

mitzuteilen.<br />

56 O’Hanlon 1995, 83. (falsches Zitat, Derks??)<br />

57 Lakoff <strong>und</strong> Johnson 1980, 3.<br />

58 Lakoff <strong>und</strong> Johnson 1999.<br />

59 dieselben 1980, 10ff.<br />

60 Merleau-Ponty 1965, 212ff.


38<br />

Räumliche Erfahrungen des Leibes sind tief in unser Denken eingegraben. Unbewusst<br />

nutzen wir andauernd räumlich orientierte Konzepte. Erfahrungen <strong>und</strong><br />

Erinnerungen werden gr<strong>und</strong>sätzlich in Szenen erlebt <strong>und</strong> wieder-aktiviert. Szenen<br />

sind Ereignisse, die durch räumliche <strong>und</strong> zeitliche Hüllen „abgeschlossen“<br />

sind (<strong>und</strong> sich räumlich <strong>und</strong> zeitlich mit anderen Szenen verbinden). Wenn wir<br />

einen Schmetterling in einem Garten SEHEN (oder uns daran erinnern oder uns<br />

dies vorstellen), dann wird die Hülle „Schmetterling“ IN die Hülle „Garten“<br />

platziert, dessen Außen-Grenzen wiederum IN der Hülle „Landschaft“ SIND,<br />

usw.: Hüllen in Hüllen in Hüllen, wie ineinandergeschachtelte Container. 61 Die<br />

Bewegung des Schmetterlings folgt der Metapher des Pfades, in der ein sich bewegendes<br />

Objekt gemeinsam mit dem Raum ringsherum in einer Richtung (mit<br />

einen Ausgangs- <strong>und</strong> einem Zieh-Punkt) erfahren wird. Die Metaphern von<br />

Container <strong>und</strong> Pfad drücken Gr<strong>und</strong>-Erfahrungen des Leibes aus. Sie führen zu<br />

den Kategorien von Struktur (die räumliche Beziehung von Hüllen in Hüllen)<br />

<strong>und</strong> Prozess (die Dynamik von Hüllen in Hüllen).<br />

Wie tief räumliche Metaphern unsere Denk-Strukturen<br />

durchdringen, kann an vielen Beispielen studiert werden.<br />

Ein eindrucksvoller Bef<strong>und</strong> liegt für <strong>soziale</strong> Katego-<br />

Soziale Hüllen<br />

risierungen vor, - wie wir Menschen nach Gruppen <strong>und</strong> Hierarchien ordnen. Die<br />

Sprache, in der wir dies ausdrücken, enthält viele räumliche Vorstellungen. Soziale<br />

Beziehungen werden in vielfältiger Weise in Analogie zu Beziehungen im<br />

Raum geschildert (Beispiele im Kasten).<br />

61 Vgl. Lakoff <strong>und</strong> Johnson 1999, 30ff.


39<br />

Sprache <strong>und</strong> <strong>soziale</strong> Codes<br />

Lesen Sie die folgenden Sätze <strong>und</strong> versuchen Sie, die zugehörigen Platzierungen<br />

zu visualisieren: welche Seh-Bilder werden unbewusst aktiviert?<br />

„Er ist der hochqualifizierteste Techniker in diesem Team.“ „Nach langen Verhandlungen<br />

haben sich der rechte <strong>und</strong> der linke Flügel dieser Partei einander angenähert.<br />

Ihre Positionen sind nun nicht allzu weit entfernt.“ „Er stellt sich außerhalb der Belegschaft.“<br />

„Dauernd brauchst du jemanden an deiner Seite.“ „Er nahm sich viel<br />

Platz, um sich entfalten zu können.“ „Zu Künstlern dieser Art habe ich keine Beziehung.“<br />

„Ein guter Patriot hilft seiner Heimat.“<br />

Gilt Sprache als eine Art „Spiegel“ unbewusster >innerer< Bilder, dann legt die<br />

These nahe, dass das Soziale gr<strong>und</strong>sätzlich als vorgestelltes Räumliches repräsentiert<br />

wird. Lucas Derks hat diesen Gedanken im sogenannten Sozialen-<br />

Panorama-Modell entwickelt. Es behauptet die >Existenz< >innerer< Landschaften,<br />

die als „<strong>soziale</strong>r Code“ dienen. Das Soziale wird demnach durch visuelle<br />

Bilder repräsentiert. Unbewusst SEHEN wir uns selbst <strong>und</strong> andere Personen<br />

bzw. Personen-Gruppen in fiktiven >inneren< Räumen. Was damit gemeint ist,<br />

kann am besten anhand einfacher Selbst-Versuche erk<strong>und</strong>et werden.<br />

Versuch 1: 62<br />

a) Schließen Sie die Augen <strong>und</strong> denken Sie an eine geliebte Person. Erk<strong>und</strong>en<br />

Sie, wo im Raum Sie diese Person spontan erleben: vorne, hinten, an der Seite? In<br />

welchem Abstand steht diese Person zu Ihnen?<br />

b) Denken Sie nun an eine neutrale Person, die Ihnen nicht sonderlich viel bedeutet:<br />

eine Nachbarin, die Verkäuferin vom Laden an der Ecke oder ein Mitarbeiter<br />

im Beruf, den Sie kaum kennen. Wo genau, in welchem Abstand „taucht“<br />

diese Person auf?<br />

62 nach Derks 2000, 20f.


40<br />

c) Experimentieren Sie damit, die neutrale Person nur sehr kurz an den Ort der<br />

geliebten Person zu stellen. In welcher Weise ändert sich dabei Ihr Gefühl der<br />

neutralen Person gegenüber? (Stellen Sie die neutrale Person wieder an ihren<br />

alten Platz, es sei denn, Sie haben vor, sich in diese Person zu verlieben.)<br />

Der Ort, an dem wir eine Person >innerlich< stellen, so scheint es, hat mit der<br />

Qualität der eigenen Beziehung zu dieser Person zu tun (location equals relation).<br />

Verallgemeinert man diesen Gedanken, dann kommen wir zu einer Vielzahl<br />

„<strong>soziale</strong>r Landschaften“. Sie enthalten die Vorstellungen einer Person über ihre<br />

<strong>soziale</strong>n Umwelten. Freilich geht es dabei nicht um flüchtige Erinnerungs-Bilder,<br />

die an verschiedenen >inneren< Orten erscheinen (z.B. Sie erinnern sich an Ihre<br />

letzte Begegnung mit der geliebten oder der neutralen Person). Das Ziel ist es<br />

vielmehr relativ stabile Bilder mit Allgemein-Charakter zu „entdecken“ (sie zu<br />

bewussten Bildern zu machen.)<br />

Ein Beispiel sind Vorstellungen folgender Art:<br />

Versuch 2:<br />

Schließen Sie die Augen <strong>und</strong> denken Sie an „alle Menschen dieser Erde“. Richten<br />

Sie Ihre Aufmerksamkeit auf jene visuellen Vorstellungen, die spontan, wie von<br />

selbst „kommen“, wenn sie an alle Menschen „denken“. Was SEHEN Sie dabei?<br />

Versuchen Sie ein stabiles Bild für das gesamte Seh-Feld zu erlangen. Wo in Ihrem<br />

>inneren< Raum stehen viele, wo wenige Menschen? Welche Bereiche sind<br />

besiedelt, welche leer? Zuletzt: wie weit ist die Person entfernt, die in diesem<br />

Bild jene Person oder Personengruppe mit der geringsten Distanz ist?


41<br />

Abbildung 3: Ein Soziales-Panorama-Bild 63<br />

Wenn es Ihnen gelungen ist, ein Panorama-Bild von „allen Menschen dieser<br />

Welt“ zu bekommen, dann können Sie damit auf vielfältige Weise experimentieren.<br />

Konzentrieren Sie sich z.B. auf jenen Ort, wo die Person oder die Personengruppe<br />

mit der kleinsten Distanz zu Ihnen sich befindet. Stellen Sie nun diese<br />

Menschen für eine Minute >innerlich< näher heran, dann weiter weg. In beiden<br />

Fällen treten in der Regel eigenartige, meist unangenehme Gefühle auf, mit größerer<br />

Nähe sind oft intensivere Empfindungen verb<strong>und</strong>en. Dies gibt einen Hinweis<br />

darauf, welche gr<strong>und</strong>legenden <strong>und</strong> allgemeinen „Lebens-Empfindungen“<br />

Personen besitzen können, deren Panorama „aller Menschen dieser Welt“ deutlich<br />

verschieden sind, z.B. die sich oft einsam oder sich andauernd von anderen<br />

belästigt fühlen.<br />

Interessant ist auch die vertikale Dimension im <strong>soziale</strong>n Code, z.B. ob wir uns<br />

andere als „höher“ oder „tiefer“ vorstellen. Definieren Sie von der Mitte ihrer<br />

Augen ausgehend eine horizontale Ebene. Personen, die im >inneren< Bild über<br />

63 Quelle: Derks 2000, 52.


42<br />

diesem Niveau (der horizontalen Ebene) auftauchen, sind „Hoch-Gestellte“, die<br />

im Gegenteil „tief-gestellt“. Dies kann man testen (es gilt für viele, aber nicht für<br />

alle Fälle), indem man an Personen denkt, die einen einschüchtern, in deren Gegenwart<br />

man sich gehemmt, fühlt, die einen „überwältigen“ oder in einer anderen<br />

Weise einschränken. Auch Personen, die man bew<strong>und</strong>ert, werden oft als<br />

„groß“, d.h. oberhalb des Horizonts der Augen, repräsentiert. Im Gegensatz dazu<br />

erscheinen Menschen, die man als lächerlich oder unbedeutend empfindet,<br />

meist unterhalb des Augen-Niveaus. (Denken Sie an verschiedene Personen <strong>und</strong><br />

finden Sie heraus, wie das bei Ihnen ist.)<br />

Soziale Panoramen sind keine rein geistigen Akte.<br />

Macht-Erfahrungen Sie haben mit dem Leib, mit dem Prozess von Kategorisierung<br />

selbst, mit räumlichen Metaphern <strong>und</strong><br />

direkt mit <strong>soziale</strong>r Wahrnehmung zu tun. Ein <strong>soziale</strong>s Panorama, das >in< einer<br />

Person fest etabliert ist, legt die Art, wie sie andere Menschen erfährt, welche<br />

Gedanken <strong>und</strong> Gefühle – wie von selbst – an andere gekoppelt sind, auf entscheidende<br />

Weise fest. Ein gr<strong>und</strong>legender Tatbestand z.B. ist der Über- <strong>und</strong> Unterordnung<br />

zu anderen. Ein Kind lernt, Atmosphären, die von oben kommen,<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich von solchen auf gleicher Ebene oder von unten zu unterscheiden.<br />

„Oben“ sind die Erwachsenen, die „Über-Legenen“. Der Blick geht jahreang in<br />

die Höhe: von dort kommen Nahrung, Trost, Liebe, Behütung <strong>und</strong> Tadel, körperliche<br />

Eingriffe <strong>und</strong> Strafe. Gute <strong>und</strong> schlechte Mächte „über-kommen“ ein<br />

Kind. Die Erinnerungen <strong>und</strong> Vorstellungen daran werden >innerlich< „oben“<br />

gespeichert, Autoritäten in >inneren< Räumen „oben“ platziert. (Die größte<br />

Autorität ist Gott, im Himmel „da oben“.)<br />

Die Kategorisierung machtvoller Personen als „über-legen“ hat mit ihrer hochgelegenen<br />

Positionierung in <strong>soziale</strong>n Panoramen zu tun. Sie sind dem Leib als<br />

machtvolle Eindrücke wie „eingebrannt“, in ihm „verkörpert“. Diese „Eindrücke“<br />

sind unmittelbar erfahrungs-relevant. Ein Kind SIEHT einen Erwachsenen<br />

<strong>und</strong> zugleich die (unbewußten) Erinnerungen <strong>und</strong> Kategorisierungen der


43<br />

von oben gekommenen Mächte. Die Erfahrung eines Erwachsenen IST das Erleben<br />

einer Macht „von oben“. Die Präsenz eines Erwachsenen wird von einem<br />

Kind als Präsenz einer Personifikation erlebt, die mit einer eigenen Hülle, ihrer<br />

eigenen Aura „überzogen“ ist. Sie drückt das aus, was dem Kind durch diese<br />

oder ähnliche Personen widerfahren ist, wie Schutz <strong>und</strong> Liebe oder Bedrohung<br />

<strong>und</strong> Gefahr. Die Qualität dieser Hülle wird unmittelbar erlebt: das Kind FÜHLT<br />

sich in Gegenwart dieser Person z.B. angenehm geborgen oder voller Angst.<br />

Blickt das Kind auf diesen Menschen, da SIEHT es ein lebendiges Wesen, das<br />

von einem <strong>soziale</strong>n Hülle-Kleid „umwickelt“ ist. Das Gewand verkörpert, wie<br />

der Erwachsene für das Kind >tatsächlich< IST.<br />

Soziales <strong>Wahrnehmen</strong> ist das Erleben <strong>soziale</strong>r Hüllen um Personifikationen. Die<br />

Art <strong>und</strong> die Qualität der Hülle einer Person hängt von ihrem Ort im <strong>soziale</strong>n<br />

Panorama ab: wo eine Person positioniert ist – oben, unten, nah, ferne, .... . Der<br />

Horizont, der von der Mitte der eigenen Augen ausgeht, legt das vertikale Über<strong>und</strong><br />

Unterordnungs-Niveau von Personen in <strong>soziale</strong>n Panoramen fest. Personen<br />

oberhalb dieses Niveaus erscheinen „groß“, sie wirken mächtig, in Extremfall<br />

bedrohend. Personen unterhalb sind „klein“. Sie wirken ohnmächtig, unbedeutend,<br />

im Extremfall unterwürfig oder lachhaft. Die vertikale Positionierung bestimmt<br />

gleichsam das Volumen der <strong>soziale</strong>n Hülle: wie groß oder wie klein sie<br />

ist bzw. wieviel Raum sie in einem <strong>soziale</strong>n Panorama beansprucht.<br />

Denken Sie an eine Person, die in ihrem <strong>soziale</strong>n Panorama einen hohen Rang<br />

einnimmt, z.B. eine erfolgreiche Sportlerin, ein bekannter Wirtschaftsboss, ein<br />

beliebter Politiker, ein umschwärmter Popstar oder jemand, den man dauernd in<br />

den Medien sieht. Wie erlebt man die >reale< Präsenz einer solchen Person? Was<br />

geschieht, wenn mir eine solche Person zufällig über den Weg läuft, z.B. bei einem<br />

Spaziergang? Wie reagiert der Leib?<br />

Versetzen wir uns in eine solche Szene. Ich treffe überraschend auf eine Person,<br />

die in meinen inneren Bildern sehr groß ist. Tatsächlich ist diese Person in der in<br />

Zentimetern gemessenen Größe kleiner als ich selbst. Mein inneres großes Bild<br />

läßt mir diese Person – plötzlich vor mir aufgetaucht – >tatsächlich< riesig er-


44<br />

scheinen. Ich SEHE die Hülle einer Riesin oder eines Riesen. Augenblicklich reagiert<br />

mein Körper. Mich überfällt Unbehagen, ich fühle mich klein. Vielleicht<br />

ducke ich mich <strong>und</strong> will schnell weggehen oder ich handle wie aus Zwang, einen<br />

guten Eindruck <strong>und</strong> auf mich aufmerksam machen zu wollen, - <strong>und</strong> ich mache<br />

irgendeine seltsame Geste oder eine spontane Bemerkung. Laut klopft mein<br />

Herz, mein Atem ist kurz. Ich erfahre die unvergleichliche Aura einer besonderen<br />

Person. Ihre Atmosphäre ist körperlich erlebbar. Schnelle Gedanken durchzucken<br />

meinen Geist. Ein eigenes Fluidum hat von mir Besitz ergriffen. Ein besonderer<br />

Moment ist entstanden. Körper <strong>und</strong> Geist, Kategorisierung („diese Person<br />

ist ein Mitglied der auserwählten Gruppe der ....“), Panorama-Bild <strong>und</strong><br />

räumliche Metapher („einer von denen da oben“) bilden eine Einheit. „Über“-<br />

wältigt stockt mein Schritt. Ich weiß nicht recht, was ich tun soll, …<br />

Minuten später ist der Spuk vorbei. Erleichtert oder bedauernd setze ich meinen<br />

Weg fort, die Gedanken noch am Erleben hängend. Vielleicht ärgere ich mich<br />

oder schäme mich über meine Reaktion. Im Geiste spiele ich die Szene mehrmals<br />

durch, jedesmal mit einem anderen, „besseren“ Ablauf. Vorne SEHE ich für den<br />

Bruchteil einer Sek<strong>und</strong>e einen Bettler an der Straße sitzen. Mein Blick reißt ab<br />

<strong>und</strong> geht durch ihn durch. Wie von selbst weiche ich aus <strong>und</strong> schlendere teilnahmslos<br />

vorbei. Diese Personifikation mit ihrer dünnen Hülle (viel kleiner als<br />

der Körper selbst) findet keine Beachtung. Atmung <strong>und</strong> Körper, Gedanken <strong>und</strong><br />

Geist erleben ein „Nichts“, ich SEHE den Bettler kaum. Meine Aufmerksamkeit<br />

richtet sich auf das, was vor mir liegt: werde ich pünktlich zum vereinbarten<br />

Treffen kommen?<br />

Soziale Systeme beziehen ihre Stabilität (auch) aus millionenfachen (unbewusst)<br />

koordinierten Wahrnehmungen: <strong>soziale</strong> Panoramen, Kategorisierungen (z.B. in<br />

Form von Vorurteilen), körperliche Reaktionen <strong>und</strong> kognitive Abläufe greifen<br />

ineinander. Sie schaffen einen <strong>soziale</strong>n Verb<strong>und</strong>, der auch ein gegenseitig gestützter<br />

Wahrnehmungs-Raum ist: eine gesellschaftliche Atmosphäre entsteht,<br />

ein Komplex wechselseitig gebildeter <strong>soziale</strong>r Hüllen. Macht ist auch ein Wahrnehmungs-Problem:<br />

die Menschen umkleiden einander in ihren Personifikatio-


45<br />

nen mit jenen <strong>soziale</strong>n Hüllen, die dem Macht-Erhalt dienen. Sozialer <strong>und</strong> gesellschaftlicher<br />

Wandel (Gruppen <strong>und</strong> Schichten gewinnen an Einfluss, andere<br />

bauen ab) ist immer auch von neuen <strong>soziale</strong>n Wahrnehmungen begleitet. Kollektiv<br />

geteilte <strong>soziale</strong> Hüllen färben sich um. Man erfährt andere - sei es im direkten<br />

Kontakt oder indirekt über Medien - leiblich auf neue Weise: Körper <strong>und</strong><br />

Geist produzieren neue Sensationen, Gefühle <strong>und</strong> Gedanken bilden sich um.<br />

Kulturgeschichten <strong>soziale</strong>r Beziehungen studieren diese Prozesse in der Vergangenheit,<br />

- <strong>und</strong> vermögen so mithelfen, sich eigener <strong>soziale</strong>r Wahrnehmungen in<br />

der Gegenwart mehr bewusst zu werden. Dies schafft die Chance sich selbst <strong>und</strong><br />

andere neu zu entdecken, in dem man mit Wahrnehmung direkt experimentiert,<br />

z.B. indem man (schrittweise) lernt, den eigenen Körper (<strong>und</strong> damit den <strong>soziale</strong>n<br />

Status) bewusster einzusetzen 64 oder eigene <strong>soziale</strong> Panorama-Bilder gezielt zu<br />

verändern. 65<br />

Wenn wir uns an etwas erinnern, wie an die Begegnung<br />

Ereignisse<br />

mit der prominenten Persönlichkeit oder dem unscheinbaren<br />

Bettler, dann vollbringen wir eine bemerkenswerte<br />

Leistung. Aus der Fülle ungemein reicher, parallel ablaufender Vorgänge, werden<br />

wenige herausgenommen <strong>und</strong> zu einem einfachen Handlungsstrang verflochten,<br />

der in sich stimmig erscheint <strong>und</strong> Sinn ergibt.<br />

Diese Fähigkeit entfalten wir andauernd. 66 Während ich beispielsweise heute<br />

Nacht dabei war, diesen Abschnitt zu schreiben, höre ich weit entfernt mein<br />

Handy piepsen. Überrascht schrecke ich auf. Eine innere Stimme sagt: Wo liegt<br />

das Handy? Was habe ich am Abend gemacht? Ich husche aus dem Zimmer,<br />

sorgsam bedacht leise zu sein. Ich will meine Frau <strong>und</strong> die Kinder nicht aufwecken.<br />

Für den Bruchteil von Sek<strong>und</strong>en SEHE ich sie in ihren Betten liegen <strong>und</strong><br />

64 Viele Anregungen finden sich in Johnstone 2000.<br />

65 Viele Anregungen finden sich in Derks 2000.<br />

66 Das folgende nach Stern 2002, 81ff.


46<br />

friedlich schlafen. Ich steure auf den Handyton zu, <strong>und</strong> finde es zwei Zimmer<br />

weiter, vergraben in einem Stapel Zeitungen. Während ich es freischaufle, merke<br />

ich, dass ich in der linken Hand die Füllfeder halte. Es war mir nicht bewusst, sie<br />

überhaupt mitgenommen zu haben. Soll ich die Kappe aufschrauben oder das<br />

Handy sofort ergreifen? Ich SEHE mich, wie ich mich später mit der Füllfeder<br />

plagen werde, weil die Tinte eingetrocknet ist. Missmutig greife ich zum Handy.<br />

Ich HÖRE die Stimme von Peter, meinem Fre<strong>und</strong>. Schlagartig bin ich in guter<br />

Stimmung. Ich freue mich, dass er sagt, wir könnten uns morgen schon zwei<br />

St<strong>und</strong>en früher als ursprünglich geplant treffen. Während ich mit ihm rede, SE-<br />

HE ich vor meinem geistigen Auge, wie ich morgen im Cafehaus sitzen werde.<br />

Die Tür geht auf. Peter kommt eben herein <strong>und</strong> blickt fragend um sich. Jetzt haben<br />

sich unsere Augen getroffen. Wir lachen uns an. Im nächsten Moment fällt<br />

mir eine andere Szene ein. Damals ist Peter genau an demselben Platz gesessen<br />

<strong>und</strong> ich bin bei der Tür hereingekommen. Draußen hat es heftig geregnet <strong>und</strong><br />

ich stehe da wie ein begossener Pudel, das Wasser läuft an mir herab. Ich mache<br />

mit Peter am Telefon einen Scherz über den Wetterbericht für morgen <strong>und</strong> starre<br />

zugleich auf das Muster am Teppich, auf dem ich stehe. Es erinnert mich an ein<br />

Bild, das in meiner Kindheit im Wohnzimmer meiner Eltern gehangen ist. Ich<br />

merke, dass ich in einem anderen Zimmer bin, als dort, wo ich das Handy aufgehoben<br />

habe. Wo mag meine Füllfeder sein? Ich HÖRE mich lauter telefonieren.<br />

„Leise!“, sagt eine innere Stimme. Ich darf meine Kinder nicht wecken.<br />

Während ich dies denke, SEHE ich mich im Kinderzimmer oben an der Decke<br />

schweben. Dort unten liegen die Kinder. Ich freue mich über den friedfertigen<br />

Rhythmus, den sie verströmen. Jetzt ist das Gespräch beendet. Was habe ich zuletzt<br />

gesagt? Ich erinnere mich, dass ich dann fröstelnd in einem Schrank warme<br />

Socken hervorgekramt habe, während ich innerlich mindestens fünf Themen<br />

auflistete, die ich morgen mit Peter besprechen will. Wie ich in mein Schreibzimmer<br />

gekommen bin, weiß ich auch nicht mehr. Mein Handy fand sich in der<br />

Hosentasche <strong>und</strong> meine Füllfeder zu meiner Verblüffung in der Brusttasche


47<br />

meines Hemdes. Sie ist ja sogar zugeschraubt, freue ich mich, <strong>und</strong> schreibe weiter.<br />

Abläufe dieser Art enthüllen überraschende Momente. Das Bewusstsein<br />

schwirrt, so scheint es, fast immer in einem riesigen Feld von Szenen <strong>und</strong> Episoden<br />

umher. Ort <strong>und</strong> Zeit werden blitzschnell gewechselt. Wir tauchen gleichsam<br />

„in den Strom der Zeit“ an einer Stelle ein, verweilen dort, um im nächsten Augenblick<br />

unvermittelt an einer anderen Stelle im „Fluss“ „oben“ (in Vergangenem)<br />

oder „unten“ (in Künftigem) aufzutauchen. Wir SIND regelmäßig in mehreren<br />

Zeit-Rahmen zugleich zu Hause: „Jetzt“ (wie beim Telefonieren oder bei<br />

den schlafenden Kindern), „morgen“ (wie beim verabredeten Treffen mit meinem<br />

Fre<strong>und</strong>) oder „früher“ (wie damals, als ich tropfnass bei der Tür ins Cafehaus<br />

gestürmt bin.)<br />

Wir erleben die Zeit nicht gleichmäßig fließend, sondern sprunghaft, mit Brüchen<br />

<strong>und</strong> Lücken. Die erlebte Wirklichkeit ist der gegenwärtige Augenblick, unermesslich<br />

reich an Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühlen, Gedanken,<br />

Handlungen. Das meiste was wir erleben, ereignet sich simultan: Wir spüren<br />

<strong>und</strong> empfinden in gleichen Augenblick, während wir wahrnehmen, denken,<br />

handeln. Im Feld unserer Präsenz gibt es keine Unterbrechung. Auf mehreren<br />

Bühnen gibt es gleichzeitig etwas zu erfahren. Der Geist hüpft leicht von Bühne<br />

zu Bühne. Raum- <strong>und</strong> Zeitschranken werden mühelos mit großer Geschwindigkeit<br />

überw<strong>und</strong>en, Erinnerungen <strong>und</strong> Phantasien rasch ein- <strong>und</strong> ausgeblendet.<br />

Das blitzartige Durcheinander der vielen Vorgänge auf<br />

Raumzeit<br />

den simultanen Bühnen erleben wir im Regelfall nicht als<br />

verwirrendes oder angstauslösendes Chaos. Es erfährt<br />

seine Glättung durch die andauernde Präsenz des Leibes, der sich als (mehr oder<br />

weniger) stabiles <strong>Zentrum</strong> jedes Erfahrens erfährt. Der Leib macht dies auf zweierlei<br />

Art:<br />

(1) durch die Bündelung unterschiedlicher Vorgänge


48<br />

a) zu einer Szene, d.h. ihrer Umkleidung mit einer räumlichen Hülle, <strong>und</strong><br />

b) zu einer Episode, d.h. ihrer Umkleidung mit einer zeitlichen Hülle.<br />

Jedes Erlebnis, jede Erinnerung, jede Erwartung besitzt ihre eigene räumliche<br />

Hülle: den Ort, der sie umschließt <strong>und</strong> ihre Lage festlegt. Wenn mir meine<br />

schlummernden Kinder in den Sinn kommen, dann SEHE ich mich im Zimmer<br />

(in der Hülle des Zimmers), - ein Container, der Hüllen, wie Objekte <strong>und</strong> Personen,<br />

umschließt. Auch das zeitliche Moment, die Dauer einer Episode, kann als<br />

Hülle verstanden werden: um ein Hintereinander unterschiedlicher Momente<br />

„legt“ sich eine zeitliche Hülle, die sie zu einer Einheit werden lässt (z.B. jene<br />

Sequenz, als ich triefend vor Nässe in das Cafehaus hineingeströmt bin <strong>und</strong> ü-<br />

berrascht war, meinem Fre<strong>und</strong> zu begegnen.)<br />

(2) durch die Bündelung<br />

a) aller erlebten Szenen auf eine Szene, d.h. ihrer Umkleidung mit der äußersten<br />

räumlichen Hülle, der Hülle des Raumes<br />

b) aller erlebten Episoden auf eine Episode, d.h. ihrer Umkleidung mit der<br />

äußersten zeitlichen Hülle, der Hülle der Zeit.<br />

Diese Leistung muss sich der Leib aktiv über viele Jahre schrittweise erarbeiten.<br />

Sechs Monate alte Babys erleben nach Daniel Stern die parallel ablaufenden Einzel-Erfahrungen<br />

als gleichzeitige Ereignisse, die jede in ihrem eigenen Zeit-<br />

Rahmen „ablaufen“. Die Zeit (die es in diesem Stadium noch gar nicht gibt) ist<br />

aufgesplittert in eine Vielzahl eigener Zeiten, die alle in gewisser Weise Gegenwart<br />

SIND. Es gibt keinen verbindenden Zeit-Rahmen, in dem einzelne Erfahrungs-Momente<br />

als zusammenhängende Ich-Geschichten eingeb<strong>und</strong>en sind.<br />

Auch der Raum zerfällt in eine Vielheit sprudelnder Räume (Stern spricht von<br />

Raumzeitströmen), ohne feste Struktur, ohne stabile Hüllen des Ortes für Objekte,<br />

Wesen <strong>und</strong> Personen. 67<br />

67 Vgl. ebenda 78ff.


49<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit als vereinheitlichte Orientierungs-Rahmen entspringen einem<br />

Leib, der sich in hohem Maße als vereinheitlicht erfährt. Die Qualität der Hülle<br />

um den Leib entscheidet über die Qualität der Hüllen um Objekte <strong>und</strong> andere<br />

Personen <strong>und</strong> damit auch über die Qualität der Hüllen „Raum“ <strong>und</strong> „Zeit“. Ein<br />

„verdichteter Leib“ (mit einer „starken“ Hülle, Zeichen einer gefestigten Identität)<br />

„macht“ den Raum um sich herum stabil. Man erfährt den Raum nicht als<br />

Chaos, sondern als Kontinuum, weil es eine kontinuierliche Mitte gibt. Stillschweigend<br />

(<strong>und</strong> wie selbstverständlich) sind die wechselhaften Atmosphären<br />

in ein Raum-Ganzes eingeb<strong>und</strong>en. Sie beziehen sich auf einen Horizont des<br />

Raumes, als letzter Hülle dessen, was „um uns herum“ IST.<br />

Der Leib „fixiert“ so die Umgebung. Die (verdichteten) Objekt-Hüllen „gleiten“<br />

bei jeder Bewegung gleichmäßig an ihm vorbei. Wenn er sich bewegt, dann<br />

SIEHT er, dass Objekte auf ihn mit unterschiedlicher, aber stetig-gleitender Bewegung<br />

„zukommen“ <strong>und</strong> an ihm vorbei – in den Bereich der „unsichtbaren“<br />

Rückseite „weg-fließen“ (siehe den Kasten). Die Hüllen-Objekte „dort hinten“<br />

behalten ihre Präsenz, auch wenn man sie aktuell nicht sehen kann. Sie SIND in<br />

der Hülle des allgegenwärtigen Horizonts, der der Raum IST. Die Struktur des<br />

Raumes entsteht aus der Hülle eines Leibes, der sich als Einheit erfährt <strong>und</strong> allen<br />

Dingen ihre Einheit – <strong>und</strong> damit ihren räumlichen Bezug verleiht.<br />

Das Erleben der Zeit folgt analogen Momenten. Ein verdichteter Leib (eine vereinheitlichte<br />

Identität) bezieht alle sprunghaften Zeit-Erfahrungen, alle unterschiedlichen<br />

Zeit-Rahmen stillschweigend auf seine augenblickliche Präsenz.<br />

Das stets gegenwärtige Selbst „umfasst“ alle Arten von Zeit. „Alles“, so hat es<br />

Merleau-Ponty formuliert, „verweist mich so auf das Präsenzfeld zurück als das<br />

Feld der originären Erfahrung, wo die Zeit mit ihren Dimensionen leibhaft erscheint.“<br />

68 Die zeitlichen Parameter Vergangenheit <strong>und</strong> Zukunft sind in Form<br />

von Verweisen in der aktuellen, gegenwärtigen Erfahrung eingeb<strong>und</strong>en. 69 Alle<br />

68 Merleau-Ponty 1965, 473.<br />

69 Vgl. Stoller 1995, 84.


50<br />

wechselhaften <strong>und</strong> gleichzeitigen Zeit-Erfahrungen beziehen sich so auf ein (unbewusstes)<br />

Zeit-Ganzes, den Horizont der Zeit, der gleichsam dem Leib „entströmt“.<br />

Die Hülle des Leibes „macht“ die Hülle (den Horizont) der Zeit. Seine<br />

Einheit ist ein Spiegel der Einheit des Leibes. Der Leib als Subjekt IST Zeit: „Wir<br />

müssen die Zeit als Subjekt, das Subjekt als Zeit begreifen.“ 70 Wir leben nicht<br />

„in“ der Zeit (in dem Sinn, das Zeit unabhängig von Menschen „verläuft“).<br />

Vielmehr eignet sich das Subjekt die Zeit an. Es er-lebt sie <strong>und</strong> „macht“ sie so.<br />

Zeit IST, weil wir SIND. Die Zeit ist eine Folge der menschlichen Existenz. Das<br />

Subjekt verweist auf die Zeit, die Zeit auf das Subjekt, sie fallen „mit dem Zusammenhang<br />

eines Lebens in eins.“ 71<br />

„Wenn wir uns im Raum fortbewegen, ist es für uns Erwachsene selbstverständlich,<br />

dass wir alle Dinge unserer Umgebung in Form eines scheinbaren<br />

visuellen Fließens wahrnehmen. Wenn Sie zum Beispiel ein Zimmer betreten<br />

<strong>und</strong> zu jemanden am anderen Ende des Raumes hinübergehen, werden sich<br />

zwischen Ihnen <strong>und</strong> der anderen Person alle Menschen, Tiere <strong>und</strong> Lampen links<br />

von Ihnen scheinbar in Ihre Richtung bewegen <strong>und</strong> links an Ihnen vorübergleiten,<br />

<strong>und</strong> alle Dinge rechts von Ihnen <strong>und</strong> dem anderen bewegen sich scheinbar<br />

auf Sie zu <strong>und</strong> gleiten rechts an Ihnen vorüber. In visueller Hinsicht entstehen<br />

beim Vorwärtsgehen zwei breite Raumströme rechts <strong>und</strong> links von Ihnen, die<br />

sich in Ihrem Zielpunkt teilen <strong>und</strong> an beiden Seiten um Sie herumfließen. Die<br />

Person, auf die Sie zusteuern, ist nicht Bestandteil dieses visuellen Flusses. Sie<br />

ist der ruhende Punkt, so wie der Fluchtpunkt in einem Gemälde mit traditioneller<br />

perspektivischer Darstellung. Ihre Bewegungen geben dem Raum um Sie<br />

herum eine kohärente Struktur.“ 72<br />

70 Merleau-Ponty 1965, 480.<br />

71 ebenda.<br />

72 Stern 2002, 79.


51<br />

Das Gefühl für ein Fließen der Zeit entsteht analog zum<br />

Gefühl für ein Fließen des Raumes. Für beide Aspekte ist<br />

Geschichten<br />

eine Hüllen-Bildung entscheidend. Der stetige Raum entspricht<br />

festen Objekt-Hüllen, die sich in eine räumliche Positionierung präsentieren.<br />

Objekte <strong>und</strong> Raum sind gleichzeitig präsent. Dieser Raum ist atmosphärischer<br />

Natur. Die fluktuierenden Atmosphären „in“ ihm prägen die Hüllen der<br />

Objekte, die in jedem Fall ihre Atmosphären entfalten. Raum, Atmosphären <strong>und</strong><br />

Objekt-Hüllen sind die Gr<strong>und</strong>bestandteile unseres Erlebens der sogenannten<br />

physikalischen Welt.<br />

Abbildung 4: das Tier<br />

Wie der Raum bedarf auch die stetige Zeit zu ihrer >Existenz< das Vorhandensein<br />

verdichteter Hüllen, in diesem Fall um Ereignisse, die als Epsioden zusammengefasst<br />

<strong>und</strong> zu einer Einheit geformt werden. Dieser Prozess geschieht automatisch<br />

<strong>und</strong> unbewusst. Beinahe augenblicklich wird die ungeheure Fülle des<br />

gegenwärtigen Erlebens (die gleichzeitige Präsenz unterschiedlicher Orte <strong>und</strong><br />

Zeit) zu Episoden verdichtet. Fast alles, was eben noch präsent gewesen war,<br />

„sinkt“ ins Unbewusste „herab“ (eine eigenartige räumliche Metapher). Das, was<br />

man als chaotisches oder wirres Erlebnis-Muster beschreiben könnte, wird vom<br />

selbst-identen Leib augenblicklich „gebannt“, in eine einfache, scheinbar stimmige<br />

Geschichte „umgegossen“. Eine Episode, eine Gegebenheit, ein Ereignis ist<br />

entstanden. Unterschiedlichste Erlebnis-Momente aus verschiedenen Orten <strong>und</strong><br />

Zeit-Rahmen haben sich (wie in meinem Bericht vom nächtlichen Telefon-


52<br />

Gespräch) zu einem roten Faden verdichtet, zu einer Geschichte „kristallisiert“<br />

(z.B. zu der Geschichte „als ich nächstens von meinem Fre<strong>und</strong> Peter angerufen<br />

wurde“). Die Zeit, die diese Geschichte umfasst, hat mit dem aktuellen Erlebnis<br />

nur wenig gemein. Sie erscheint als glatter, stetig verlaufender Prozeß. Alle Lücken<br />

im aktuellen Erleben sind (wie von selbst) mit „Wissen“ gefüllt. Einzelne<br />

Erfahrungen (jede an ihrem eigenem Ort <strong>und</strong> zu ihrer Zeit) werden wie Perlen<br />

auf einer Kette in einer zeitliche Reihenfolge verknüpft. Ein geschlossener Ablauf<br />

wird manifest, der als Einheit (als umhüllte Episode) Sinn macht <strong>und</strong> Sinn<br />

ergibt. 73<br />

Menschen sind sinnschaffende Wesen. Sie geben sich <strong>und</strong> anderen Bedeutung,<br />

indem sie das, was sie erfahren, in Geschichten verwandeln. Der Leib ist ein Geschichten-erzeugendes<br />

Wesen. Der Sinn jedes Lebens steckt in den Erzählungen,<br />

die jede Person über ihr Leben verfasst. Wenn ich jemanden frage: „Was hast Du<br />

gestern gemacht?“, dann kommt als Antwort nicht das, was gestern WAR: nämlich<br />

eine unendliche Anzahl parallel ablaufender Vorgänge, die in vielem nicht<br />

zusammenpassen, sondern eine kristallisierte Geschichte, eine kondensierte Story:<br />

„Gestern habe ich ....“. Der vereinheitlichte Leib wählt aus unzähligen Möglichkeiten<br />

diejenigen Momente aus, die es ihm ermöglichen, konkrete Geschichten<br />

seiner selbst zu verfassen. Der Leib erschafft die Zeit, weil er als Autor seiner<br />

selbst seine Selbst-Erfahrungen als abgeschlossene Handlungen begreift. Er umgibt<br />

sie mit einer zeitlichen Hülle <strong>und</strong> fixiert sie in Form von Geschichten. Auf<br />

diese Weise wird die eigene Vergangenheit selbst zur Geschichte, zur eigenen<br />

Lebens-Geschichte. Sie legt fest, was man erfahren hat <strong>und</strong> somit heute IST. I-<br />

dentität formt sich im Erzählen. 74 Wir erzählen uns selbst, in unzähligen Selbst-<br />

Gesprächen, <strong>und</strong> anderen, wer wir sind, wer wir zu sein glauben oder gern wären<br />

- in Konfrontation mit den Geschichten anderer über uns, die uns ihren<br />

73 Vgl. Stern 2002, 83.<br />

74 Vgl. Krauss.


53<br />

Stempel aufdrücken (wollen), wer wir in den Augen anderer sind <strong>und</strong> zu sein<br />

haben.<br />

Identität ist ein Prozess bzw. das (vorübergehende) Resultat eines Prozesses, in<br />

dem (ausdrücklich oder stillschweigend) Geschichten <strong>und</strong> Selbst-<br />

Beschreibungen geformt <strong>und</strong> mit anderen ausgetauscht werden. Dieser Prozess<br />

ist niemals zu Ende <strong>und</strong> nach vorne offen. Identität kann im Prinzip in der Zukunft<br />

neu geformt werden. Viele Psychotherapien zielen auf neue Identitätsmerkmale,<br />

indem sie die Betroffenen veranlassen, ihre eigenen Lebens-<br />

Geschichten, die sie für wahr hielten, gezielt zu verändern, - <strong>und</strong> damit ihre Vorstellung<br />

vom Ich <strong>und</strong> vor allem ihre <strong>soziale</strong>n Wahrnehmungen neu zu gestalten.<br />

Ähnliche Vorgänge treffen eine Kultur als ganze. Gesellschaften können sich<br />

wandeln, wenn neue Geschichten in den Umlauf gebracht werden (z.B. solche,<br />

die vorher verboten gewesen sind) <strong>und</strong> den öffentlichen Raum in Beschlag nehmen.<br />

(Die Literatur des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts hat ein ganzes Kompendium vormals<br />

verbotener Erzählungen hoffähig gemacht, die unsere Kultur nachhaltig verändert<br />

haben, z.B. Geschichten über die Befreiung der Frau oder der homosexuellen<br />

Liebe, kritische Berichte über die heile Familie <strong>und</strong> Darstellungen der Sexualität<br />

bis hin zur Pornographie. Diese Erzählungen haben unsere Kultur wirksam<br />

gewandelt, - auch in ihren Bildern, was am menschlichen Körper in welcher<br />

Weise beschrieben <strong>und</strong> reflektiert werden darf. Sie weisen auf neue Beziehungen<br />

des Einzelnen zur Gesellschaft, - <strong>und</strong> damit auch der Art, wie wir kulturell I-<br />

dentität erfahren <strong>und</strong> dabei – meist unerkannt – unsere Art verändern, uns selbst<br />

<strong>und</strong> andere wahrzunehmen.) 75<br />

75 Vgl. Müller-Funk 2002, 145ff.


54<br />

Die Ordnung der Welt in Raum <strong>und</strong> Zeit ist Ausdruck<br />

der Qualität der Hülle um den menschlichen Leib. Neue<br />

Innen-Welten<br />

Leib-Hüllen verwandeln „die Sinne“ auf faktische Art:<br />

anderes wird für-wahr-genommen. Schritt für Schritt lernt ein Kind, die Fülle<br />

seiner Erfahrungen zu ordnen <strong>und</strong> immer wieder neu zu gestalten. Wie Jahresringe<br />

um einen Baum „wächst“ seine Hülle um den Leib. Ursprüngliche Leib-<br />

Selbst-Erfahrungen werden durch neue angereichert, bleiben allerdings als potentielle<br />

Möglichkeit (auch eines Regresses) erhalten. Ein Kind kann sein scheinbares<br />

Chaos (so mag es einem Erwachsenen vorkommen) erst dann durch Geschichten<br />

„bannen“, wenn seine Leib-Hülle eine bestimmte „Stärke“ erreicht hat:<br />

es hat gelernt, Sprache sinnvoll zu verwenden, sich selbst als ein Ich zu empfinden<br />

<strong>und</strong> sich selbst „Ich“ zu nennen.<br />

Jede neue Hülle geht mit einer neuen Selbst-Empfindung einher. Der Leib erfährt<br />

sich auf neue Weise. Dabei wandeln sich alle Pole, wie Selbstbehauptung<br />

<strong>und</strong> Integration, Autonomie <strong>und</strong> Bezogenheit oder Inneres <strong>und</strong> Äußeres. Diese<br />

Zwillings-Begriffe sind keine Gegensätze, sondern Aspekte eines (identen) Leibes.<br />

„Innen“ <strong>und</strong> „außen“ sind keine getrennten Räume, sondern Bereiche in<br />

einem Feld: „Inneres <strong>und</strong> Äußeres sind untrennbar. Die Welt ist gänzlich innen,<br />

ich bin gänzlich außer mir.“ 76<br />

Die Entwicklung eines Kindes kann als Entfaltung seiner Fähigkeit, immer neue<br />

„Innen“ <strong>und</strong> „Außen“ zu erfahren, verstanden werden. Jede Entwicklungsstufe<br />

markiert ihr eigenes Feld mit den ihm zukommenden Polen des „Innen“ <strong>und</strong> des<br />

„Außen“. Im erwähnten Modell von Daniel Stern folgen auf das „auftauchende<br />

Selbst“ das „Kern-Selbst“, das „subjektive Selbst“ <strong>und</strong> schließlich das „verbale<br />

Selbst“. Im verbalen Selbst beginnt das Kind sein Leben als Geschichten zu begreifen,<br />

ein Modus, den es zeitlebens behalten wird <strong>und</strong> später – von reiferen<br />

Versionen des Selbsts – sich zu einer „Lebens-Geschichte“ – in einer deutlicheren<br />

Vorstellung der Zeit -verdichtet wird.<br />

76 Merleau-Ponty 1965, 464.


55<br />

Im subjektiven Selbst entdeckt das Kind seine Eltern (oder andere Personen) als<br />

psychisches Wesen. 77 Die Mutter deutet z.B. mit dem Finger auf einen entfernten<br />

Gegenstand <strong>und</strong> das Kind folgt ihrem Blick, d.h. einer imaginierten Linie, die die<br />

Mutter von ihren Augen über den Finger zum Objekt gezogen hat. Neun Monate<br />

alte Babys SEHEN dieser Linie nach, fassen das Ziel ins Auge <strong>und</strong> blicken zur<br />

Mutter zurück, um an ihrem Gesichtsausdruck abzulesen, ob sie „richtig“ gesehen<br />

haben. Bald danach fangen die Babys an, selbst auf Gegenstände zu zeigen<br />

<strong>und</strong> erk<strong>und</strong>en, ob die Mutter ihrer Aufmerksamkeit folgt. In ähnlicher Weise<br />

stimmen Babys ihre Gefühle auf die Mutter ein, indem sie aktiv das für sie riesige<br />

Gefühls-Gesicht der Mutter erk<strong>und</strong>en. Welchen Ausdruck macht sie, wenn<br />

etwas Überraschendes geschieht? Blickt sie erschreckt <strong>und</strong> muss ich, so könnte<br />

das Baby vorsprachlich „denken“, mich selbst ängstigen? Oder bleibt sie gelassen<br />

<strong>und</strong> ich kann ruhig weiteratmen?<br />

Auch die Mutter schwingt sich wie von selbst auf die „Gefühls-Welle“ des Kindes<br />

ein. Sie macht z.B. das Gebrabbel des Babys nach oder nickt mit dem Kopf<br />

genau in dem Rhythmus, in dem das Baby mit dem Oberkörper hin <strong>und</strong> her<br />

schwingt, oder passt ihren Gesichtsaudruck an den des Kindes an. (Stern hat<br />

Mütter beim Spiel mit ihren Kindern gefilmt <strong>und</strong> entdeckt, dass sie – meist ohne<br />

sich dessen bewusst zu sein – ihr Verhalten alle 65 Sek<strong>und</strong>en an die Gefühls-<br />

Äußerungen ihrer Kinder anpassen.)<br />

In diesem Prozess lernen Kinder andere Menschen mit wechselnden „psychischen“<br />

Hüllen zu begreifen, - sie schreiben ihnen (ohne das sprachlich „denken“<br />

zu können) Gefühle, Absichten, Aufmerksamkeiten <strong>und</strong> Gedanken zu. Das Entdecken<br />

dieser Aspekte bei anderen ist das Entdecken dieser Aspekte an sich<br />

selbst. Das Kind lernt andere „psychologisch“ zu deuten <strong>und</strong> sich gleichzeitig<br />

seiner eigenen „psychologischen“ Anteile bewusst zu werden. Die „Innen-<br />

Aspekte“ an anderen Menschen werden wie eine neue Schicht dem eigenen<br />

Kern-Selbst beigegeben, das sich zum subjektivem Selbst wandelt. Das Kind<br />

77 Das folgende nach Stern 2000, 179ff <strong>und</strong> 2002, 89ff.


56<br />

erfährt sich intuitiv als „innerlich“, weil ihm andere eine „Innen-Deutung“ nahelegen.<br />

Das „Innere“ wächst zugleich in einer personalen (die Einzigartig jedes<br />

Kindes) <strong>und</strong> in einer <strong>soziale</strong>n Dimension, weil es in der Bezogenheit auf andere<br />

Menschen entsteht. Die Personalisierung des Kindes (seine Absichten, seine Gefühle,<br />

sein Ich, seine Individualität) entspricht einer neuen <strong>soziale</strong>n Fähigkeit, -<br />

nämlich subjektive Aspekte beim anderen zu erkennen <strong>und</strong> auf sie zu reagieren.<br />

Das Selbst wird „innerlicher“ (es entdeckt eine neue Schicht „in“ sich) <strong>und</strong><br />

zugleich „äußerlicher“ (es entdeckt neue Aspekte an seiner Umwelt). „Außen“<br />

<strong>und</strong> „innen“ formen sich um. „Innen“ wachsen private, psychische Landschaften,<br />

die von anderen getrennt sind, die man anderen verbergen <strong>und</strong> mit anderen<br />

(eingeübt durch Tausende Versuche) teilen kann (Stern spricht von einer impliziten<br />

„Theorie von berührungsfähigen getrennten Innerlichkeiten“). 78<br />

Jede neue Schicht des Selbst wandelt die Welt auf buchstäbliche<br />

Weise. Neue Phänomene treten auf, die vorher<br />

Parallel-Welten<br />

unbekannt gewesen sind. Nach einer Übergangszeit<br />

(nach Stern sind die Übergangsphasen kritisch für die psychische Ges<strong>und</strong>heit<br />

des Kindes) verfestigt sich das Wahr-Nehmen auf einem neuen Niveau. Die Welt<br />

erscheint jetzt – verglichen mit der vorhergehenden Phase – als stabiler <strong>und</strong> fester.<br />

Sie besitzt gleichbleibendere Formen, weil die einströmenden Atmosphären<br />

gleichsam auf eine dickere „Außen-Haut“ des Selbst prallen (die Schichten des<br />

Selbst, die sich das Kind aneignet, stellen wir uns wie die Schalen einer Zwiebel<br />

vor.) Der Leib zieht so auf jeder Stufe seiner Entwicklung (die freilich nicht linear<br />

verlaufen muss <strong>und</strong> in jeder Phase von Regression bedroht ist) eine deutlichere<br />

Grenze zu „dem da draußen“. „Innen“ <strong>und</strong> „außen“ werden neu festgelegt <strong>und</strong><br />

markanter unterschieden. Das Kind wächst zugleich nach „innen“ <strong>und</strong> nach<br />

„außen“. Autonomie <strong>und</strong> Selbst-Bezogenheit (seine „Innerlichkeit“) <strong>und</strong> Lenkbarkeit<br />

<strong>und</strong> Fremd-Bezogenheit (seine „Äußerlichkeit“ ) nehmen zu.<br />

78 Stern 2000, 179.


57<br />

Ring für Ring, Schritt für Schritt stößt so ein Kind in seinem Reifen neue Türen<br />

zu unbekannten Landschaften auf. Vertraut gewordene Räume verblassen. Sie<br />

tauchen in einen Nebel des Vergessens <strong>und</strong> sinken dann in eine Grauzone des<br />

Unbewussten herab, zu der später kein direkter Zugriff möglich scheint. Viele<br />

Erwachsene haben die Erinnerung an die seltsamen Plätze ihres Kind-Seins fast<br />

vollständig verloren. Unterschwellig bleiben sie freilich das ganze Leben präsent.<br />

Sie sind die Basis für das, was Erwachsene SIND, - der Nährboden aus dem<br />

sich gegenwärtige Wahrnehmungs-Räume entfaltet haben. Hinter allen Kulissen<br />

schimmert die Kindheit durch. Ihre heimliche Präsenz fasziniert <strong>und</strong> beunruhigt<br />

zugleich. Sie zeigt sich z.B. in der Sehnsucht nach einer – so meint man – unmittelbaren<br />

Ganzheit <strong>und</strong> der Angst vor dem Hinabfallen in – so meint man – bodenlose<br />

Räume, - anziehende <strong>und</strong> abstoßende Kräfte, die andauernd auszubalancieren<br />

sind.<br />

Vergangene Erfahrungs-Räume des Menschen, die Wurzeln seiner Kindheit,<br />

sind Potential <strong>und</strong> Bedrohung zugleich. Sie sind nicht nur ausgeblichene Geschichten,<br />

sondern schlummernder Teil der Gegenwart JETZT. Ihre bruchstückhafte<br />

Schimmer färben den Strom des <strong>Wahrnehmen</strong>s, der letztlich eine ungeteilte<br />

(amodale) Erfahrung IST. Sprache kann diesen Fluss nur zaghaft berühren.<br />

Erleben <strong>und</strong> Sprechen (über das Erleben) sind durch Abgründe getrennt. Im<br />

Sprechen mit anderen <strong>und</strong> im Selbst-Sprechen mit uns geben wir nur unzulängliche<br />

Karten des Flusslaufs der Erfahrung wider. Diese Diskrepanz besitzt für<br />

jeden von uns seine eigene Geschichte. Sie tritt beim Kind erstmals dann auf,<br />

wenn es bewusst zu sprechen lernt <strong>und</strong> sein Erleben anderen als Geschichte erzählen<br />

kann.<br />

Sprechen erfordert die Fähigkeit, „innere“ Landschaften zu kreieren, über die<br />

man sich dann austauschen kann. Ein Kernbereich ist die Simulation seiner<br />

selbst, d.h. dass das Kind über ein Bild seiner selbst (als getrennte Person, unterschieden<br />

von anderen) verfolgt. Ein Anhaltspunkt für die Entwicklung dieser


58<br />

Fähigkeit ist das Verhalten eine Kleinkinds vor einem Spiegel. 79 Sehr kleine Kinder<br />

SEHEN sich offenbar im Spiegel nicht. Ihr eigenes Spiegel-Bild wird, so kann<br />

vermutet werden, als Bild eines anderen Kindes verstanden. Malt man ihnen<br />

unbemerkt einen roten Punkt auf die Stirn <strong>und</strong> lässt sie in den Spiegel schauen,<br />

dann deuten sie aufgeregt auf das seltsame Gesicht im Spiegel da. Mit ungefähr<br />

achtzehn Monaten löst dasselbe Spiegel-Bild eine andere Reaktion aus: die Kinder<br />

tasten sofort nach dem roten Punkt im eigenen Gesicht. Das Spiegel-Bild<br />

wird jetzt, so die Vermutung, als Bild ihrer selbst erfahren, d.h. es steht in Beziehung<br />

zu einem Bild, das sich Kinder augenscheinlich von sich selbst machen.<br />

Sich selbst im Spiegel zu SEHEN ist Ausdruck eines verstärkten Selbst-<br />

Empfindens. Das Selbst „denkt“ sich als verfestigtes „Etwas“ in Ähnlichkeit zu<br />

kondensierten Hüllen-Objekten. Es kann sich seine eigene körperliche Selbst-<br />

Form visuell vor-stellen <strong>und</strong> gleichsam von außen betrachten. Es tritt gleichsam<br />

aus dem körperlichen Leib-<strong>Zentrum</strong> heraus <strong>und</strong> SIEHT sich innerlich von einem<br />

Standpunkt außerhalb des Körpers, wie aus den Augen einer anderen Person.<br />

Die Position, die der Spiegel einnimmt, entspricht dieser fiktiven Stelle: das<br />

Spiegel-Bild kann als Außen-Bild des inneren Körper-Bildes verstanden werden.<br />

Das Selbst wird in dieser Entwicklung „objektiver“. Es kann sich selbst „von außen“<br />

SEHEN <strong>und</strong> begrifflich als eigene Kategorie „denken“: die Kinder beginnen<br />

sich als „Ich“ zu benennen. Der Positions-Wechsel in Bezug auf das Selbst weist<br />

auf eine höhere Fähigkeit zur Simulation hin. Das neue „objektiviertere“ Selbst<br />

kann nun innerlich manipuliert werden. Die Kinder imaginieren sich erdachte<br />

Situationen, die sie sich als eigenes Erleben ausdenken (z.B. indem sie ihr Selbst<br />

in eine Puppe projizieren <strong>und</strong> diese fiktive Handlungen ausführen lassen.)<br />

Im Spielen gehen Kinder über ihre unmittelbare Erfahrung hinaus. Spielen ist<br />

das Einüben in Simulationen. Die Kinder entwerfen für ein <strong>und</strong> dasselbe Geschehen<br />

mehrere Versionen, zwischen denen sie hin <strong>und</strong> her pendeln (eine Vorstufe<br />

zu der gleichzeitigen Präsenz mehrer innerer Bühnen beim Erwachsenen).<br />

79 Vgl. Stern 2000, 235ff. <strong>und</strong> 2002, 118ff.


59<br />

In diesen Simulationen tauchen Symbole auf, wie die Puppe, die das Kind selbst<br />

meint. Die Fähigkeit mit Symbolen umzugehen <strong>und</strong> mit ihnen spielerisch zu<br />

jonglieren, macht den Erwerb des Symbol-Systems der Sprache möglich.<br />

Die erhöhte Subjektivität (das verbale Selbst) steigert zugleich die <strong>soziale</strong> Bezogenheit:<br />

Mutter <strong>und</strong> Kinder tauschen Worte aus, neue Arten von Beziehungen<br />

entstehen. Das Kind erlernt schließlich Geschichten seiner selbst zu erzählen <strong>und</strong><br />

Geschichten über sich zu hören. Die Personen in diesen Geschichten sind psychologische<br />

Wesen, sie besitzen Ziele <strong>und</strong> Absichten. Ihr Handeln fußt auf „inneren“<br />

Gründen. Das, was es zu berichten gibt, tritt als Ereignis zu Tage: eine<br />

Fülle von Begebenheiten wird in einen einfachen Ablauf mit Anfang, Mitte <strong>und</strong><br />

Ende gebracht <strong>und</strong> auf handelnde Personen zurückgeführt. Auf diese Weise entsteht<br />

die eigene Vergangenheit: ein Netz von geordneten Ereignis-Hüllen, die<br />

insgesamt die (vorgestellte) Hülle der eigenen Lebens-Zeit ausmachen.<br />

Das verbale Selbst lebt in einem dichten (amodalen) Wahrnehmungs-Strom, den<br />

es (fast andauernd) mit Worten kommentiert. Das Mit-Reden (nach außen sowie<br />

innerlich, - in inneren Zwiegesprächen <strong>und</strong> Dialogen) fördert <strong>und</strong> hindert das<br />

unmittelbare Erleben zugleich. Es begünstigt die bewusste Präsenz jener Aspekte,<br />

die nur in Sprache verständlich sind (wie sprachliche Mitteilungen anderer),<br />

blendet jedoch viele Erfahrungen des Leibes vollends aus, die keiner Sprach-<br />

Struktur zugänglich sind <strong>und</strong> namenlos bleiben müssen.<br />

Unsere Kenntnis der Welt ist viel umfangreicher als das, was wir über die Welt<br />

erzählen vermögen. Sprache verändert <strong>und</strong> beschränkt das unmittelbare Empfinden<br />

des Leibes. Alle leiblichen Erfahrungen bleiben >existent


60<br />

besitzt das Kind kein Bewusstsein, dass es sich (auch) um ein visuelles Erleben<br />

handelt. Ein Erwachsener, der zu ihm sagt: „Oh, sieh nach, das gelbe Sonnenlicht“<br />

verankert die nicht nach Sinnen untergliederte Erfahrungen in ein „Sehen“.<br />

Die Sprache bricht auf diese Weise das unmittelbare Erleben auf. Das „gelbe<br />

Sonnenlicht“ wird zur offiziellen Version, die zugr<strong>und</strong>eliegende Schicht des<br />

nicht nach Sinnen untergliederten Erlebens „taucht unter“, - <strong>und</strong> kommt nur<br />

noch bei besonderen Anlässen zum Vorschein. Gleichzeitig wird durch das Wort<br />

„Sonnenlicht“ die spezifische Erfahrung abgeschwächt, - weil jedes Wort sich<br />

auf verallgemeinerte Erfahrungen bezieht. (Um zu wissen, was „Sonnenlicht“<br />

ist, muss man diese Erfahrung oft gemacht haben.) Ähnliche Probleme treten in<br />

der Beschreibung innerer Zustände wie Affekte oder Gefühle auf, die oft kaum<br />

in Worte zu kleiden sind. Wie sollen wir tiefe Angst oder heftiges sexuelles Begehren<br />

sprachlich angemessen wiedergeben?<br />

Eine weitere Spaltung tritt später auf, wenn Kinder lernen, dass es unklug ist, all<br />

ihr „Denken“ nach außen zu tragen. Die innere Welt bekommt so mehr <strong>und</strong><br />

mehr privatere „Regionen“, die man nur mit wenigen, manches vielleicht mit<br />

gar keinem Menschen mehr teilt. Inneres Erleben <strong>und</strong> sprachliche Weitergabe an<br />

andere gehen auseinander. „Empfinden“ <strong>und</strong> „Sagen“ können als Zwiespalt erfahren<br />

werden, der sich u.a. als „Widerspruch“ von verbalen <strong>und</strong> nonverbalen<br />

Botschaften (die sogenannte Körper-Sprache) zeigen kann. Das Selbst steht damit<br />

vor der Aufgabe, all diese vielen Welten, die der Leib gleichzeitig bewohnt,<br />

auf dynamische Weise auszubalancieren <strong>und</strong> so eine gewisse Stabilität zu gewährleisten.<br />

Der Leib ordnet das scheinbare Chaos der Welt, die<br />

Kulturelle<br />

Horizonte<br />

gleichzeitige Präsenz verschiedener „Bühnen“: ein Selbst<br />

mit einem Raum <strong>und</strong> einer Zeit entsteht. Gleichzeitig<br />

fügen sich die individuellen Selbste (mit ihren Räumen<br />

<strong>und</strong> ihren Zeiten) in ein <strong>soziale</strong>s Miteinander: eine Ordnung der Leiber, die jedem<br />

<strong>Wahrnehmen</strong> seine <strong>soziale</strong> <strong>und</strong> kulturelle Note verleiht. <strong>Wahrnehmen</strong> ist


61<br />

nie rein individuell, sondern immer auch inter-subjektiv. Das Soziale ist kein<br />

Gegenstand, sondern eine Dimension des individuellen Seins. 81 Alle Aspekte des<br />

individuellen <strong>Wahrnehmen</strong>s (die wir anhand des Lernens kleiner Kinder kurz<br />

angedeutet haben) beziehen sich auf <strong>soziale</strong> Wahrnehmungs-Felder, die das<br />

„Selbstverständliche“ einer <strong>soziale</strong>n Schicht oder einer Kultur beinhalten. Ihre<br />

Momente treten „öffentlich“ oder „heimlich“ auf; erstere z.B. in Macht-<br />

Diskursen, in ausgeübten Herrschafts-Formen oder in sozial verbindlichen Regeln;<br />

letztere z.B. in stillschweigenden Welt-Bildern, in tabuisierten Vor-<br />

Stellungen (die vor-bewusst präsent sind, über die man aber nicht spricht) oder<br />

in gängigen Metaphern, die nicht in Frage gestellt werden. Ihre Gesamtheit kann<br />

als kultureller Hintergr<strong>und</strong>, als kulturelles Feld oder als kultureller Horizont<br />

bezeichnet werden: „der Horizont bezeichnet all das, was miterfahren wird,<br />

wenn etwas als solches erfahren wird. 82<br />

Im folgenden versuche ich (bruchstückhaft) zehn kulturelle Horizonte in der<br />

Geschichte des europäischen Abendlandes mit einfachen Bildern festzuhalten.<br />

Ihre Unterschiede ergeben sich vor allem darin, wie stillschweigend Hüllen – in<br />

Analogie zu der empf<strong>und</strong>enen Hülle des Leibes – gebildet werden:<br />

• die Hülle von dem, was Götter oder Gott genannt wird.<br />

• die Hülle der Dinge: wie sich Atmosphärisches zu einem Objekt kristallisiert<br />

(der Vorgang der Objektivikation) <strong>und</strong> welche Verbindungen zwischen<br />

den Objekten (welche Ordnung der Dinge) dadurch entstehen.<br />

• die Hülle von dem, was als Szene erscheint, <strong>und</strong> des Raumes als letzter<br />

Hülle aller Szenen.<br />

• die Hülle der Wesen: wie sich Atmosphärisches zu einer Person kristallisiert<br />

(der Vorgang der Personifikation) <strong>und</strong> welche Verbindungen zwischen<br />

den Personen (welche <strong>soziale</strong> Ordnung) dadurch entstehen.<br />

81 Vgl. Merleau-Ponty 1965, 414ff.<br />

82 Waldenfelds 2000, 68. Der Begriff Horizont spielt auch in der Phänomenologie von<br />

Husserl eine große Rolle. Als Einführung vgl. Moran 2001, 161ff.


62<br />

• die Hülle von den, was als Episode erscheint, <strong>und</strong> der Zeit als letzter<br />

Hülle aller Episoden.<br />

Der Bezug zu all dem ist die Hülle des Leibes, der als (abgegrenztes) Selbst empf<strong>und</strong>en<br />

wird. Für jeden kulturellen Horizont ist der innere Zusammenhang der<br />

genannten Hüllen zu untersuchen, z.B. die Frage ob <strong>und</strong> nach welchen gemeinsamen<br />

Merkmalen Objekte <strong>und</strong> Personen „geformt“ werden. Dabei geht es nicht<br />

nur um eine Geschichte von Kategorien, wie sie sich z.B. in der Geschichte der<br />

Philosophie manifestiert. Unser Untersuchungsgegenstand ist tiefliegender, z.B.<br />

die Frage, welche „Wesen“ sich in einer Kultur so „verdichtet“ haben, dass man<br />

sie im Alltag >tatsächlich< wahrnehmen kann. Zu Beantwortung dieser Frage<br />

muss auch geklärt werden, nach welchen Kriterien in einer Kultur nach „innen“<br />

<strong>und</strong> „außen“ unterschieden wird (d.h. es müssen auch die Selbstverständlichkeiten<br />

der eigenen Unterscheidung in Frage bzw. vorläufig zur Seite gestellt<br />

werden).<br />

Dabei geht, um das nochmals festzuhalten, die Existenz (<strong>und</strong> die Begrifflichkeit)<br />

des Leibes jeder Unterscheidung nach innen <strong>und</strong> außen voraus. Ein kultureller<br />

Horizont wird in dieser Arbeit als ein Feld verstanden, in dem Innen- <strong>und</strong> Außen-Welten<br />

„angesiedelt“ sind. (Wenn es ein „Innen“ gibt, muss es auch ein<br />

„Außen“ geben, weil das „Innere“ immer das Innere von etwas ist, was sich im<br />

Äußeren befindet.) 83 Die Unterscheidung nach innen <strong>und</strong> außen begründet eine<br />

„Grenze“ zwischen ihnen (die Grenze setzt ein Worin voraus, in dem sie „gelegt“<br />

werden kann: das gemeinsame Feld, das „innen“ <strong>und</strong> „außen“ umfasst.)<br />

Zu fragen ist also, wie im Terrain eines kulturellen Feldes diese Grenze verläuft<br />

(als konkrete Grenze ist sie keine a-historische Selbstverständlichkeit) <strong>und</strong> wie<br />

sie sich historisch verlagert. Im Überblick über die zehn kulturellen Horizonte<br />

ergibt sich ein bemerkenswerter Trend: die schrittweise Verlagerung der Grenze<br />

von „außen“ nach „innen“: Phänomene, die zuerst als „außen“ verstanden werden,<br />

werden nach <strong>und</strong> nach ins „Innere“ verlegt (d.h. als menschliche Simulatio-<br />

83 Vgl. Brodbeck 2002, 139ff.


63<br />

nen „erkannt“). Freilich ändert sich durch die „Verlagerung“ das gesamte Feld<br />

der Wahrnehmung zur Gänze: die Hülle, die das Selbst im Innern nach Außen<br />

zieht, wird energetisch <strong>und</strong>urchlässiger (die Hülle des Leibes wird gleichsam<br />

dichter) <strong>und</strong> zugleich von den Informationen her durchlässiger: das Selbst wird<br />

individueller – es kann sich in größerer Unabhängigkeit von >äußeren< Kräften<br />

stabilisieren - <strong>und</strong> sozial-bezogener zugleich: es kann mit mehr Personen kommunizieren<br />

<strong>und</strong> in <strong>soziale</strong>n Austausch treten. (Eine systematische Darstellung<br />

dieses Entwicklungs-Modells findet sich im Anhang.)

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