Grabsteine für Schmetterlinge: Soziale Gefühlsregeln und ...
Grabsteine für Schmetterlinge: Soziale Gefühlsregeln und ...
Grabsteine für Schmetterlinge: Soziale Gefühlsregeln und ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Grabsteine</strong> für <strong>Schmetterlinge</strong><br />
<strong>Soziale</strong> Gefühlsregeln <strong>und</strong><br />
individuelle Verlusterfahrungen<br />
Prof. Dr. Birgitt Röttger-Rössler<br />
Freie Universität Berlin
Wie verändern sich soziale Gefühlsregeln?<br />
Pilotstudie: „Schmetterlingskinder“
Die Nachbarn, die Kollegen, die Familien haben das Kind<br />
nicht gesehen, sie haben es nicht gefühlt, nicht berührt,<br />
also existiert es nicht. Die Trauer wird uns<br />
abgesprochen. Dabei sind auch die Kinder, die wir nicht<br />
„vorzeigen“ können, unsere Kinder!
Totgeburt > 500g (vor 1994: 1000g)<br />
standesamtlich registriert<br />
Heute: Vor- <strong>und</strong> Nachname kann angegeben<br />
werden<br />
Früher: nur Alter <strong>und</strong> Geschlecht wurden<br />
registriert<br />
Die Körper Totgeborener werden als Leichname<br />
klassifiziert, deswegen müssen sie bestattet<br />
werden, zumindest anonym.
Fehlgeburten < 500g<br />
Nicht standesamtlich registriert<br />
Kein Namensrecht<br />
Die Körper werden nicht als Leichname<br />
klassifiziert, sondern als<br />
„medizinischer Abfall“, der in medizinisch<br />
korrekter Weise entsorgt werden muss<br />
Bis vor kurzem: kein Recht Fehlgeburten zu<br />
bestatten
Frühgeburt<br />
Kind, das mit klaren Lebenszeichen<br />
geboren wird (Atmung; Herzschlag,<br />
Nabelschnurpuls) <strong>und</strong> einem<br />
Körpergewicht von weniger als 2500g<br />
Zählt als soziale Person <strong>und</strong> hat Recht auf<br />
Eigennamen <strong>und</strong> Registrierung<br />
Körper werden juristisch als Leichname<br />
klassifiziert <strong>und</strong> müssen bestattet werden
Subjektive Erfahrungsberichte<br />
Narrative Struktur:<br />
I: Die Entdeckung der Schwangerschaft<br />
II: Die gemeinsame Zeit<br />
III: Die Erfahrung des „Tod-Gebens“<br />
IV: Die Zeit der Trauer
I: Die Entdeckung der Schwangerschaft<br />
(Beispiel 1)<br />
(…) am 16. Januar 2005 hielt ich einen positiven<br />
Schwangerschaftstest in der Hand, nachdem ich schon einige<br />
Tage lang ahnte, daß es geklappt haben könnte. Ich bin vor<br />
Glück im Viereck gehüpft, wir haben uns sehr gefreut.(…)Am<br />
1.2.2005 war die erste Untersuchung. Das Herzlein schlägt<br />
schon, alles bestens, laut Ultraschall ist das Kind 4 Tage<br />
jünger als ich annahm, dabei bin ich mir sicher, den Eisprung<br />
auf den Tag genau zu kennen. Naja, egal, ist ja sonst alles im<br />
Lot. Ich fühle mich ziemlich schwanger, mit Heißhunger, aber<br />
völlig ohne Übelkeit. Klasse - so gut wie man sich als<br />
Schwangere nur fühlen kann. Alles ist einfach perfekt! (…).
I: Die Entdeckung der Schwangerschaft:<br />
(Beispiel 2)<br />
Wir warteten bereits seit 3 Jahren auf unser Baby. 3<br />
Kinderwunschbehandlungen habe ich über mich ergehen<br />
lassen müssen <strong>und</strong> alle 3 waren ohne Erfolg. Am 27.01.2005<br />
machte ich nach langer Überlegung einen<br />
Schwangerschaftstest, der zu unserer riesigen Freude positiv<br />
ausfiel. (…) Am selben Abend saßen wir bei Frau Dr. X im<br />
Sprechzimmer, (…) sie hat dann sofort geschallt <strong>und</strong> meinte<br />
völlig nüchtern:“ ja, im Moment sind sie schwanger, aber ich<br />
sehe keine Herzaktion. Kommen sie am Mittwoch wieder,<br />
dann muss ich was sehen!“
II: Die gemeinsame Zeit
Brief an Pascal<br />
„Du warst unser absolutes Wunschkind! (…)<br />
Ich streichelte Dich oft durch die Bauchdecke <strong>und</strong><br />
sprach mit Dir. Ich konzentrierte mich auf jede Deiner<br />
Bewegungen <strong>und</strong> sagte oft: „Na, Kleiner, bist du aufgewacht?“<br />
Dann kamen manchmal deine Brüder <strong>und</strong> legten die Hände<br />
auf meinen Bauch, um Dich zu spüren, sie versuchten sogar<br />
Dich zu hören. Auch dein Papa war ein sehr stolzer<br />
„werdender Vater“! Kurzum: Wir waren alle sehr glücklich <strong>und</strong><br />
so voller Vorfreude. (…) Wir hatten dein Zimmer bereits<br />
eingerichtet <strong>und</strong> alles stand bereit…“
III: Die Erfahrung des „Tod-Gebens“
III: Die Erzählung von Sabine S.<br />
„Ende der 21. SSW hatte ich nachts einen Blasensprung. Es war<br />
Mittwoch, der 18. September 1991.Der Arzt machte mir kaum<br />
Hoffnung, doch da der Ultraschall zeigte, dass mein Kind lebte, war<br />
ich nicht bereit, auf die wehenhemmenden Mittel zu verzichten - was<br />
mir aber aufgr<strong>und</strong> der geringen Chancen angeboten wurde. Dennoch<br />
hoffte ich auf die vier, fünf Prozent Chance, die der Arzt noch für<br />
unser Baby ausgerechnet hatte.<br />
Am nächsten Tag (Donnerstag, 19. September) hatte ich trotz der<br />
Medikamente leichte Wehen, aber das Herz unseres Sohnes schlug<br />
sowohl morgens als auch abends beim CTG, auf der gesamten<br />
Station breitete sich allmählich Optimismus aus, "vielleicht geht es ja<br />
doch noch gut!". Besonders am Morgen herrschte helle Aufregung:<br />
Als eine Krankenschwester kam, um nach Herztönen zu suchen, war<br />
sie ganz aufgeregt, dass unser Kind noch lebte - womit offensichtlich<br />
niemand mehr gerechnet hatte: "Da sind ja noch Herztöne, das gibt's<br />
doch nicht, das sind doch Herztöne! (…)
Die Erzählung von Sabine S. (Fortsetzung)...<br />
Jörg war den ganzen Tag bei mir, (…) Dadurch, dass das<br />
Fruchtwasser fehlte, konnten wir auf meiner rechten Bauchseite<br />
deutlich unser Kind (seinen Rücken) <strong>und</strong> seine Bewegungen sehen<br />
<strong>und</strong> spüren. Das war schon ein merkwürdiges Gefühl, denn ich hatte<br />
erst seit ca. drei Wochen zarte Kindsbewegungen gespürt, war mir<br />
ihrer erst seit knapp zwei Wochen ganz sicher gewesen. (…)<br />
Am nächsten Morgen, Freitag, 20. September 1991, dem ersten Tag<br />
der 22. SSW, wurde ich untersucht, der Mutterm<strong>und</strong> war vollständig<br />
geöffnet, "die Geburt ist nicht mehr aufzuhalten, wir können nichts<br />
mehr tun". (…) Für unser Baby war es viel zu früh, um außerhalb<br />
meines Körpers irgendwelche Überlebenschancen zu haben - nach<br />
Herztönen wollte niemand mehr suchen, um es mir nicht noch<br />
schwerer zu machen. (…)
III: Die Erfahrung des „Tod-Gebens“<br />
“Das Schlimmste war, zu spüren wie das Baby<br />
sich bewegt <strong>und</strong> zu wissen, dass ich dabei war es<br />
zu töten. Es zu gebären, bedeutete es zu töten.<br />
Ja, so habe ich mich empf<strong>und</strong>en, als Tod-<br />
Gebende” (Maria)
IV: Die Zeit der Trauer
Die Berichte über die Zeit unmittelbar nach dem<br />
Verlust, zeigen, dass für die Eltern der<br />
körperliche, sensorische Zugang zu ihrem Kind<br />
sehr bedeutsam ist.<br />
“Es war wie ein Alptraum. Es gab nichts mehr,<br />
was auf meine Schwangerschaft <strong>und</strong> das Kind,<br />
das in mir gewachsen war hindeutete. Nichts,<br />
außer den Schmerzen meines Körpers <strong>und</strong><br />
meinen Erinnerungen <strong>und</strong> die wollte niemand<br />
hören.“
Typische Reaktionen des sozialen Umfeldes<br />
Du bist jung, du kannst noch ein anderes Kind<br />
haben.<br />
Wer weiß, wozu es gut ist.<br />
Vielleicht war ja etwas nicht in Ordnung mit dem<br />
Baby.<br />
Warum bist Du so deprimiert? Das Kind hat doch<br />
nie gelebt!<br />
Du hast es nie gesehen, Du hast es nicht<br />
gekannt, Du solltest da schnell drüber weg<br />
kommen.<br />
Sei nicht traurig, Du hast doch schon Kinder!
Es gibt keinen sozialen Raum für die Trauer um<br />
Tot- oder Frühgeborene.<br />
Die impliziten sozialen Gefühlsregeln schreiben<br />
ein schnelles Überwinden der Trauergefühle vor.<br />
Die Eltern können ihre Trauer nicht mit anderen<br />
teilen, sie können sie nicht kommunizieren, ihr<br />
keinen symbolischen Raum geben.<br />
Viele der trauernden Eltern empfinden sich selbst<br />
als „gestört“, als psychisch unzulänglich, weil sie<br />
nicht den sozialen Gefühlsregeln entsprechen<br />
können.
Doppelter Druck für die Eltern<br />
Frauen schämen sich, weil sie<br />
nicht fähig waren, ein ges<strong>und</strong>es Kind zu gebären;<br />
nicht fähig sind, wie gewohnt weiter zu machen.<br />
Männer müssen<br />
mit der Trauer ihrer Partnerin umgehen, von<br />
ihnen wird Unterstützung <strong>und</strong> Trost erwartet.<br />
Ihre Trauer wird gesellschaftlich komplett<br />
ignoriert.
Fazit:<br />
Die subjektiven Erfahrungen der<br />
„Sternenkindereltern“ stehen im Widerspruch zu<br />
den sozialen Gefühlsregeln.<br />
Diese Diskrepanz hat sie veranlasst, sich in<br />
Selbsthilfegruppen zu organisieren <strong>und</strong> zu<br />
artikulieren <strong>und</strong> sich somit den dominanten<br />
Gefühlsregeln zu widersetzen.
Errungenschaften der Selbsthilfegruppen<br />
Reformulierung der Bestattungsgesetze<br />
Reformulierng der standesamtlichen<br />
Registrierungsgesetze (Namens- <strong>und</strong><br />
Eintragungsrecht)<br />
Veränderung der Krankenhauspraktiken<br />
Veränderung der Bestattungspraktiken
Veränderung der Krankenhauspraxis<br />
In den meisten<br />
Krankenhäusern haben<br />
Eltern nun die Möglichkeit<br />
einige Zeit mit ihrem toten<br />
Kind zu verbringen, es<br />
anzusehen, zu berühren<br />
<strong>und</strong> auf würdige Weise<br />
aufzubahren.
„Ich weinte nicht, ich war nur unglaublich stolz auf<br />
diesen kleinen, w<strong>und</strong>erhübschen Jungen, auf Lukas,<br />
unseren Sohn. In der wenigen Zeit in der ich ihn bei<br />
uns haben durfte dachte ich nicht an den Abschied.<br />
Wir waren eine kleine Familie, eins in diesem<br />
Moment <strong>und</strong> glücklich zusammen. (Sara)“
Bestattungsplätze für Sternenkinder<br />
Landau<br />
Mainz
Düsseldorf<br />
Trier
Bestattungs- <strong>und</strong> Trauerrituale für<br />
Schmetterlingskinder<br />
erfahren zunehmende soziale Akzeptanz
Sternenkindereltern waren erfolgreich darin ihren<br />
Gefühlen sozialen Raum zu verschaffen <strong>und</strong><br />
damit die gesellschaftlichen Trauerregeln zu<br />
verändern.<br />
Die Motivation für ihr Handeln resultiert aus der<br />
Diskrepanz zwischen ihren subjektiven<br />
emotionalen Erfahrungen <strong>und</strong> den sozial<br />
vorgeschriebenen emotionalen Reaktions- <strong>und</strong><br />
Ausdrucksregeln.
Frage:<br />
Wodurch ist die wahrscheinlich stets vorhandene<br />
Spannung zwischen den sozialen Gefühlsregeln <strong>und</strong><br />
dem subjektiven Erleben in jüngerer Zeit so<br />
unerträglich geworden?<br />
Früh- <strong>und</strong> Totgeburten sind aufgr<strong>und</strong><br />
makro-sozialer Veränderungen<br />
zunehmend problematisch <strong>und</strong> schwer<br />
erträglich geworden.
Faktoren makro-sozialen Wandels<br />
Sinkende Geburtsraten verleihen dem einzelnen<br />
Kind <strong>und</strong> damit jeder Schwangerschaft größere<br />
Bedeutung<br />
Die moderne Reproduktionsmedizin ermöglicht<br />
den Frauen eine größere Kontrolle ihrer Fertilität.<br />
(Schwangerschaften werden geplant)<br />
Das höhere Lebensalter von einem Großteil der<br />
Erstgebärenden verringert das „biologische<br />
Zeitfenster“ für die Reproduktion <strong>und</strong> verleiht<br />
somit jeder Schwangerschaft mehr Bedeutung
Faktoren makro-sozialen Wandels<br />
Die neue Reproduktionsmedizin <strong>und</strong> perinatale<br />
Diagnostik nährt die Vorstellung, dass<br />
Schwangerschaften ein gr<strong>und</strong>sätzlich sicherer,<br />
erfolgreicher <strong>und</strong> bestimmbarer Prozess sind.<br />
De Frauenges<strong>und</strong>heitsbewegungen (inklusive der<br />
natürlichen Geburtsbewegung) betonen eine<br />
Ethik der indviduellen Verantwortlichkeit.<br />
Das moderne Konzept der Schwangerschaft<br />
als wählbares, kontrollierbares <strong>und</strong><br />
vorhersehbares Projekt unterstützt die<br />
Erwartungen des reproduktiven Erfolges
Es sollte aufgezeigt werden:<br />
Wie stark individuelles Erleben <strong>und</strong> Fühlen durch<br />
kulturelle <strong>und</strong> soziale Aspekte geprägt wird;<br />
Wie sehr Emotionsmodelle <strong>und</strong> Gefühlsregeln mit<br />
den sozialen Strukturen einer Gesellschaft<br />
verflochten sind;<br />
Wie Gefühlsregeln im Kontext sozialer<br />
Wandelprozesse durch die Akteure modifiziert<br />
werden.
Ende<br />
Ende