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Replik auf Grode: NS-Euthanasie und ‚Bioethik’ könnte auch sagen genealogischen und archäologischen) Perspektive zu fragen, ob sich Muster, Verwandtschaften oder ideologische Kontinuitäten aufweisen lassen, vielleicht auch Transformationen, die dennoch in der Geschichte wurzeln und im Verborgenen bestimmte alte Befindlichkeiten, Gedanken, Handlungsmotive und gesellschaftliche Praktiken in einem neuen Gewand mit sich führen. Insofern behaupte ich gerade nicht, es bestünde die Gefahr des Fortbestehens der terroristischen Gewalt des Nationalsozialismus. Die Problematik ist m.E. anders gelagert. BAUMAN versucht nachzuweisen, dass bestimmte Merkmale und Charakteristika der Moderne selbst die Normalität des Holocaust ausmachen, auch wenn er in anderer Hinsicht ein nicht relativierbares und einzigartiges historisches Ereignis ist und bleibt. Dabei scheint mir folgender Gedanke, der auch bei FOUCAULT auftaucht, zentral. Von seiner Grundintention war der Holocaust keineswegs ein Werk der Zerstörung. Er war, wie DÖRNER (1988) zeigt, Teil einer Strategie, die zum Ziel hatte, eine neue, bessere Gesellschaft herbeizuführen. Hierin konvergieren BAUMAN (1992) zufolge der Nationalsozialismus und der Kommunismus unter Stalin. „Die bessere Welt, effizienter, moralischer, schöner, der die Vernichtung diente, war der Kommunismus oder die rassisch reine, arische Welt, eine harmonische, konfliktfreie Welt, leicht zu lenken, geordnet, kontrollierbar. (...) Die beiden berüchtigtsten und extremsten Fälle des modernen Genozids waren nicht Verrat am Geist der Moderne, nicht Verirrung vom geraden Pfad des Zivilisationsprozesses – sie waren der konsequente, ungehemmte Ausdruck dieses Geistes“ (107 f.). Der Holocaust war inspiriert durch eine gleichermaßen politisch und medizinisch verfasste Vision des Heiles, der Befreiung der Gesellschaft von ihren Leiden, dem Streben nach Überlegenheit einer vollkommenen Gesellschaft. Das war die Vision. In seiner Durch- - 59 - Heilpädagogik online 03/ 03

Replik auf Grode: NS-Euthanasie und ‚Bioethik’ führung folgte der Holocaust insofern Grundprinzipen moderner Gesellschaft, als er bürokratisch geplant und verwaltet, auf technisch höchstmöglichem Niveau, formalisiert und effizient organisiert wurde, auf einer durchgeplanten Logistik beruhte, sich moderner Kommunikationstechniken bediente und den Akteuren durch Arbeitsteilung und Distanz zum Geschehen affektive und moralische Entlastung bot. Über die bisher genannten Aspekt hinaus ist auch das ökonomische Nutzenprinzip bedeutsam. Ökonomisch-utilitaristisches Denken gehört zu den Herzstücken der Moderne. Ökonomisierung bedeutet nicht nur Taxierung, quantifizierende und hierarchisierende Bewertung und Bilanzierung von Arbeit, Leistung, Produktivität und dergleichen mehr, sondern von Leben überhaupt. Wie SPECK (2003) in einer neuen Überblicksarbeit zeigt, durchziehen Ökonomisierungsprozesse die Geschichte Europas und Amerikas: vom Beginn der Industrialisierung und dem Aufkommen der ‚Sozialen Frage’ über die machtvolle biopolitische Bewegung der Eugeniker und die Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus bis in die gegenwärtigen sogenannten Bio- und Lebenswissenschaften hinein. Der ökonomische Nutzen spielte in den Argumenten der Sozialdarwinisten, Eugeniker und Rassenhygieniker ebenso eine zentrale Rolle wie bei den Nazis und in den gegenwärtigen ethischen Debatten, etwa im Kontext der modernen Medizin oder der Neugestaltung des Gesundheitswesens. Auch hier sind Ethik und Monetik mitunter aufs engste verquickt. Es gilt festzuhalten: Dies sind Faktoren, die keineswegs nur in einer Diktatur mit einer explizit rassistischen Ideologie und terroristischen Machtstrategien zum Tragen kommen können. Was den produktiven Pol angeht, die Anstrengungen der Gesellschaft, sich vom Leiden zu befreien, wende ich mich nun mit einigen Hinweisen Michel FOUCAULT zu. - 60 - Heilpädagogik online 03/ 03

Replik auf Gro<strong>de</strong>: NS-Euthanasie und ‚Bioethik’<br />

führung folgte <strong>de</strong>r Holocaust insofern Grundprinzipen mo<strong>de</strong>rner<br />

Gesellschaft, als er bürokratisch geplant und verwaltet, auf<br />

technisch höchstmöglichem Niveau, formalisiert und effizient<br />

organisiert wur<strong>de</strong>, auf einer durchgeplanten Logistik beruhte, sich<br />

mo<strong>de</strong>rner Kommunikationstechniken bediente und <strong>de</strong>n Akteuren<br />

durch Arbeitsteilung und Distanz zum Geschehen affektive und<br />

moralische Entlastung bot.<br />

Über die bisher genannten Aspekt hinaus ist auch das ökonomische<br />

Nutzenprinzip be<strong>de</strong>utsam. Ökonomisch-utilitaristisches Denken<br />

gehört zu <strong>de</strong>n Herzstücken <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne. Ökonomisierung be<strong>de</strong>utet<br />

nicht nur Taxierung, quantifizieren<strong>de</strong> und hierarchisieren<strong>de</strong><br />

Bewertung und Bilanzierung von Arbeit, Leistung, Produktivität und<br />

<strong>de</strong>rgleichen mehr, son<strong>de</strong>rn von Leben überhaupt. Wie SPECK<br />

(2003) in einer neuen Überblicksarbeit zeigt, durchziehen Ökonomisierungsprozesse<br />

die Geschichte Europas und Amerikas: vom<br />

Beginn <strong>de</strong>r Industrialisierung und <strong>de</strong>m Aufkommen <strong>de</strong>r ‚Sozialen<br />

Frage’ über die machtvolle biopolitische Bewegung <strong>de</strong>r Eugeniker<br />

und die Bevölkerungspolitik <strong>de</strong>s Nationalsozialismus bis in die<br />

gegenwärtigen sogenannten Bio- und Lebenswissenschaften hinein.<br />

Der ökonomische Nutzen spielte in <strong>de</strong>n Argumenten <strong>de</strong>r Sozialdarwinisten,<br />

Eugeniker und Rassenhygieniker ebenso eine zentrale<br />

Rolle wie bei <strong>de</strong>n Nazis und in <strong>de</strong>n gegenwärtigen ethischen<br />

Debatten, etwa im Kontext <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Medizin o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Neugestaltung <strong>de</strong>s Gesundheitswesens. Auch hier sind Ethik und<br />

Monetik mitunter aufs engste verquickt. Es gilt festzuhalten: Dies<br />

sind Faktoren, die keineswegs nur in einer Diktatur mit einer<br />

explizit rassistischen I<strong>de</strong>ologie und terroristischen Machtstrategien<br />

zum Tragen kommen können.<br />

Was <strong>de</strong>n produktiven Pol angeht, die Anstrengungen <strong>de</strong>r Gesellschaft,<br />

sich vom Lei<strong>de</strong>n zu befreien, wen<strong>de</strong> ich mich nun mit<br />

einigen Hinweisen Michel FOUCAULT zu.<br />

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