Heilpädagogik online 01/06

Heilpädagogik online 01/06 Heilpädagogik online 01/06

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16.07.2014 Aufrufe

Leserbriefe Walter Grode DIE GESELLSCHAFTLICHEN RAHMEN- BEDINGUNGEN ÄNDERN SICH Anmerkungen zum fachkritschen Diskurs in der Heil- und Sonderpädagogik Wird von außen her Kritik geübt, so ist dies erst einmal Anlass, sich (im eigenen Selbstverständlichen) zusammenzuschließen. Und über dieses Selbstverständliche braucht (ja darf) per se nicht diskutiert zu werden. Selbst um den Preis der eigenen gesellschaftlichen Isolation, sprich Unwirksamkeit. Dieser Reflex, der gemeinhin für totale Institutionen, wie das Militär gilt, scheint auch vielen zivilen Professionen nicht ganz fremd zu sein. Nimmt man das Forum von „Heilpädagogik-Online“ zum Maßstab, so scheint gar in der Heil- und Sonderpädagogik - genau wie unter Behinderten - geradezu ein Dogma zu bestehen, über vermeintliche fachliche Selbstverständlichkeiten nicht zu diskutieren. Diese Strategie mag in vielen Fällen richtig und zeitgemäß sein. Ändern sich jedoch - wie gegenwärtig spürbar - die grundlegenden gesellschaftlichen Voraussetzungen des eigenen Handeln, und wächst die Verachtung sozialer Minderheiten (HEITMEYER 2003), so sollte man sich darauf einstellen resp. auf den Diskurs einlassen. Deshalb möchte ich - auch auf die Gefahr hin, daß meine „außerfachlichen“ Anmerkungen das Gegenteil bewirken - einen spontanen Beitrag zum fachkritischen Gespräch in der Heil- und Sonderpädagogik leisten. Dekonstruktion, Integration und Reproduktionsmedizin Anhand von vier aktuellen Beispielen hat das Redaktionsteam (BARSCH/ BENDOKAT/ BRÜCK 2005) sehr überzeugend auf immer noch bestehenden Mangel an Diskussions- und Streitkultur - 89 - Heilpädagogik online 01/ 06

Leserbriefe innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik hingewiesen. Zu drei von ihnen möchte ich aus sozialwissenschaftlicher und persönlicher Perspektive mehrere zusätzliche Anmerkungen machen, um sodann (noch einmal) den Blick auf das Verhältnis (für Behindertenpädagogen und Behinderte gleichermaßen entscheidende Verhältnis) von Behinderung und Gesellschaft zu lenken. Paradigmenwechsel in der Heilpädagogik: „Behinderte gibt es nicht !“ Meine Skepsis gegenüber der Dekonstruktion von Behinderung mit Hilfe eines (zuvor selbst konstruierten) sozialen Modells habe ich bereits früherer Stelle geäußert (GRODE 2003a). Deshalb hat mich im letzten Jahr auch der Essay von Kai FELKENDORFF (2004) „Wer ist behindert?“ besonders gefreut. Er stellt das zum neuen Paradigma gewordene Verhältnis von Behinderung und Gesellschaft vom Kopf auf die Füße. Denn die (materielle) Basis für eine Beeinträchtigung resp. abweichende Funktion ist nun einmal eine, wie auch immer definierte (medizinisch diagnostizierbare) Behinderung. Der Einfluss der Gesellschaft, auf den insbesondere die Disabilty Studies - aber auch große Teile der Fachpädagogik - eine Behinderung einzig reduzieren möchten, ist m.E. dagegen eine abgeleitete Größe, der Überbau sozusagen, wie man in gesellschaftskritischeren Zeiten zu sagen pflegte. Doch trotz (oder sollte ich besser sagen, wegen?) seiner Brisanz rief Kai Felkendorffs Artikel (im Heilpädagogik online-Forum) keinerlei Reaktion hervor. Von dieser Verdrehung im Kopf, die der Autor richtig zu stellen versucht wird die Behindertenbewegung wohl nicht so schnell ablassen - denn was verbleibt (uns) Körperbehinderten anderes als Kopfgeburten? Doch diese Verkehrung von Basis und ideologischer Konstruktion ist vor allem deshalb geradezu tragisch, weil sie bereits zu einer falschen Frontstellung zwischen Behinderten und Nichtbe­ - 90 - Heilpädagogik online 01/ 06

Leserbriefe<br />

innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik hingewiesen. Zu drei von<br />

ihnen möchte ich aus sozialwissenschaftlicher und persönlicher Perspektive<br />

mehrere zusätzliche Anmerkungen machen, um sodann<br />

(noch einmal) den Blick auf das Verhältnis (für Behindertenpädagogen<br />

und Behinderte gleichermaßen entscheidende Verhältnis) von<br />

Behinderung und Gesellschaft zu lenken.<br />

Paradigmenwechsel in der Heilpädagogik: „Behinderte<br />

gibt es nicht !“<br />

Meine Skepsis gegenüber der Dekonstruktion von Behinderung mit<br />

Hilfe eines (zuvor selbst konstruierten) sozialen Modells habe ich<br />

bereits früherer Stelle geäußert (GRODE 2003a). Deshalb hat mich<br />

im letzten Jahr auch der Essay von Kai FELKENDORFF (2004) „Wer<br />

ist behindert?“ besonders gefreut. Er stellt das zum neuen Paradigma<br />

gewordene Verhältnis von Behinderung und Gesellschaft vom<br />

Kopf auf die Füße. Denn die (materielle) Basis für eine Beeinträchtigung<br />

resp. abweichende Funktion ist nun einmal eine, wie auch<br />

immer definierte (medizinisch diagnostizierbare) Behinderung. Der<br />

Einfluss der Gesellschaft, auf den insbesondere die Disabilty Studies<br />

- aber auch große Teile der Fachpädagogik - eine Behinderung<br />

einzig reduzieren möchten, ist m.E. dagegen eine abgeleitete Größe,<br />

der Überbau sozusagen, wie man in gesellschaftskritischeren<br />

Zeiten zu sagen pflegte. Doch trotz (oder sollte ich besser sagen,<br />

wegen?) seiner Brisanz rief Kai Felkendorffs Artikel (im Heilpädagogik<br />

<strong>online</strong>-Forum) keinerlei Reaktion hervor.<br />

Von dieser Verdrehung im Kopf, die der Autor richtig zu stellen versucht<br />

wird die Behindertenbewegung wohl nicht so schnell ablassen<br />

- denn was verbleibt (uns) Körperbehinderten anderes als Kopfgeburten?<br />

Doch diese Verkehrung von Basis und ideologischer Konstruktion<br />

ist vor allem deshalb geradezu tragisch, weil sie bereits<br />

zu einer falschen Frontstellung zwischen Behinderten und Nichtbe­<br />

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