Ausgabe siebzehn · März bis Mai 2013 · kostenlos ... - Sissy

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08.07.2014 Aufrufe

Ausgabe siebzehn · März bis Mai 2013 · kostenlos s Mauerwerk: Versunkener Stummfilmpianist s Verkappte Künstlerin: Barbiepuppen zur Verwaltung s Geblähte Zeit: Zum Sterben ein hart gekochtes Ei s Kinderwunschklinik: „Du“ als Druckmittel s Mythos Casablanca: Altern ist so Bäh! s Vage Porno-Definition: Abhängen in Unterhose s Beatfähiges Alter: Schreiben ohne Führerschein s Fortbildung: Arschverkäufer, Aschenbach, armer Wurm s Familienbetrieb: Tanz im Paillettenfummel s Wochenschauaufnahmen: Groteske Diva s Landung in Washington: Fast wie eine Puffmutter s Kampf an der Moralfront: „Emphatisches Vermögen von Kindern“ s Flashback: Neues aus Nahost s Wohltemperiert: Identitätskonzept auf dem Prüfstein

<strong>Ausgabe</strong> <strong>siebzehn</strong> <strong>·</strong> <strong>März</strong> <strong>bis</strong> <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> <strong>·</strong> <strong>kostenlos</strong><br />

s Mauerwerk: Versunkener Stummfilmpianist s Verkappte Künstlerin: Barbiepuppen zur Verwaltung s Geblähte Zeit: Zum Sterben ein hart<br />

gekochtes Ei s Kinderwunschklinik: „Du“ als Druckmittel s Mythos Casablanca: Altern ist so Bäh! s Vage Porno-Definition: Abhängen in<br />

Unterhose s Beatfähiges Alter: Schreiben ohne Führerschein s Fortbildung: Arschverkäufer, Aschenbach, armer Wurm s Familienbetrieb:<br />

Tanz im Paillettenfummel s Wochenschauaufnahmen: Groteske Diva s Landung in Washington: Fast wie eine Puffmutter s Kampf an der<br />

Moralfront: „Emphatisches Vermögen von Kindern“ s Flashback: Neues aus Nahost s Wohltemperiert: Identitätskonzept auf dem Prüfstein


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<strong>Sissy</strong> <strong>siebzehn</strong><br />

NEU!<br />

JETZT<br />

ERHÄLTLICH!<br />

Eine „Umarmung der Wirklichkeit“ machte Ben Walters in seinem<br />

vielbeachteten Guardian-Artikel „New-Wave Queer Cinema: Gay<br />

Experience in all its Complexity“ (Oktober 2012) in einigen neuen<br />

queeren Kinofilmen aus. Andrew Haighs Weekend, Ira Sachs’ Keep<br />

The Lights On und die Filme von Travis Mathews hätten sich von<br />

den „großen Themen“ und dem metaphorischen Erzählen nichtheterosexueller<br />

Erfahrungen verabschiedet und wären sozusagen<br />

im genauen Blick auf die queere Normalität gelandet. Auch in den<br />

deutschen Medien wurde der Versuch aufgegriffen, eine erste Charakterisierung<br />

der neuen „Welle“ vorzunehmen – Daniel Sander auf<br />

Spiegel Online freute sich mit, dass schwule Geschichten endlich<br />

außerhalb des „Ghettos“ erzählt werden, wohingegen Carsten Moll in<br />

seiner Filmgazette-Kritik von Keep The Lights<br />

On diese Filme als weißes, schwules Mittelschichts-Phänomen<br />

abtat, aus dem windige<br />

Geschäftsleute flugs schon wieder ein Markt-<br />

Label machen.<br />

NEW WAVE QUEER CINEMA? Was soll das<br />

schon wieder sein? Ein Kino, das lockerer,<br />

leichter, sinnlicher, unproblematischer nichtheterosexuelle<br />

Geschichten erzählt als die<br />

Coming-Out-Dramen („Wann sagt sie, dass sie<br />

es ist?“) oder romantische Komödien („Ist er es<br />

auch?“) der letzten zwanzig Jahre? Oder gibt<br />

es nur die Sehnsucht danach, seitdem die großen<br />

Kämpfe um Anerkennung und angemessene<br />

Repräsentanz halbwegs durchgestanden<br />

sind? Angesichts von Travis Mathews’ erstem<br />

Spiefilm I Want Your Love (Seite 10) und David<br />

Lamberts Cannes-Erfolg Jenseits der Mauern Travis Mathews bei den Dreharbeiten zu „I Want Your Love“<br />

(Seite 6) kann das in der SISSY mal wieder diskutiert<br />

werden. Wo dagegen bleibt der <strong>Mai</strong>nstream-Film mit nichtheterosexuellem<br />

Konflikt, zumal der deutsche, seit Sommersturm (der<br />

war 2004!)? Fragt SISSY und wird ihrerseits in diesem Heft bei Freier<br />

Fall fündig (Seite 12). Und wo beschäftigt sich das Queer Cinema mit<br />

Milieus außerhalb der schwulen weißen Mittelschicht? Da gibt es z.B.<br />

gerade eine Mehrzahl an Filmen zu sehen, die im Israel-Palästina-<br />

Konflikt angesiedelt sind. Und außerdem – auch das noch! – gab’s mal<br />

wieder Berlinale, auf der u.a. zwei deutsche Frauen in einem Dokumentarspielfilm<br />

(!) miteinander ein Kind zeugen wollten. So viel<br />

Queerfilmstoff war selten.<br />

edition salzgeber<br />

www.m-maenner.de<br />

Her damit!<br />

Available in the iTunes-Store.<br />

iPhone and iPad is © Apple Inc. All rights reserved<br />

titel: Cine Qua non<br />

Titelbild: Charles Laughton in „Sturm über Washington“ von Otto Preminger (Seite 36)<br />

Wenn Sie SISSY <strong>kostenlos</strong> abonnieren möchten: E-<strong>Mai</strong>l an abo@sissymag.de<br />

3


mein dvd-regal<br />

Vaginal Davis, Künstlerin, Kuratorin und Gastgeberin der monatlichen Reihe „Rising Stars, Falling Stars – We must have Music!“ des Arsenal Instituts für Film und Videokunst, Berlin<br />

Richard Gersch<br />

4 5


kino<br />

kino<br />

»In der Liebe<br />

wird man zur<br />

Kinofigur«<br />

von Christoph Meyring<br />

Eine Begegnung mit Filmemacher David Lambert, ein<br />

Gespräch über sein formal klassisches, aber in vielen<br />

Momenten in improvisatorische Leichtigkeit abhebendes<br />

Liebesdrama „Jenseits der Mauern“.<br />

s „Ich weiß nicht, ob mein Film pessimistisch oder optimistisch<br />

ist“, sagt der belgische Drehbuchautor und Regisseur David Lambert,<br />

ein eher ruhiger und unaufgeregter 39-Jähriger, im Interview<br />

am Rande des Filmfests Hamburg 2012, in dessen Programm sein<br />

erster abendfüllender Spielfilm Jenseits der Mauern (Hors les murs,<br />

2012) zu sehen war. Ihre viel beachtete Uraufführung erlebte die belgisch-kanadisch-französische<br />

Koproduktion bereits einige Monate<br />

zuvor im Rahmen der „Semaine de la Critique“, einer Nebensektion<br />

der Internationalen Filmfestspiele von Cannes, in der ausschließlich<br />

Debütfilme gezeigt werden und in der Vergangenheit schon solche<br />

Regiegrößen wie Bernardo Bertolucci, Ken Loach, Wong Kar Wai,<br />

François Ozon und Alejandro Gonzalez Iñarritu mit ihren Erstlingen<br />

vertreten waren: kein schlechtes Omen und für Lambert ein<br />

Grund, sich zumindest hinsichtlich seiner Karriereaussichten für<br />

den Optimismus zu entscheiden. Auch deshalb, weil sein Film von<br />

einigen Beobachtern an der Côte d’Azur in eine Reihe mit Andrew<br />

Haighs Weekend (2011, SISSY zwölf) und Ira Sachs’ Keep The Lights<br />

On (2012, SISSY fünfzehn) gestellt wurde und somit zu einem Vorreiter<br />

der vom britischen „Guardian“ ausgerufenen „New Wave Queer<br />

Cinema“ geadelt wurde, „die“, so formuliert Spiegel Online, „klassische<br />

Coming-Out-Geschichten als mittlerweile auserzählt annimmt<br />

und sich unaufgeregt mit der schwulen Gegenwart beschäftigt“. „Ja“,<br />

bestätigt Lambert, „Jenseits der Mauern wurde schon in Cannes mit<br />

diesen Filmen verglichen, obwohl ich beide zu diesem Zeitpunkt noch<br />

nicht gesehen hatte. Insofern stellt der Film sich nicht von sich aus in<br />

diese Reihe, aber ich sehe auch die Ähnlichkeiten und glaube auch,<br />

dass hier etwas Neues entsteht. Schwulsein ist hier nicht mehr das<br />

Thema, es geht nicht darum, Identität zu erzählen − aber es ist notwendiger<br />

Bestandteil dessen, was erzählt wird, es gehört unbedingt<br />

zur Geschichte dazu. Das ist eine neue Entwicklung in der Form und<br />

in den Inhalten, wie wir ‚unsere Geschichten‘ erzählen.“<br />

Die Geschichte, die Jenseits der Mauern erzählt, ist eine Liebesgeschichte<br />

zwischen zwei Männern, „die zwar − wie jede Liebesgeschichte<br />

− ihre Eigenheiten hat, einen eigenen Ton, eine eigene Art<br />

der Kommunikation etc., und die sicher auch deswegen eigen ist, weil<br />

sie sich zwischen zwei Männern ereignet, die sich jedoch so ähnlich<br />

genauso gut zwischen zwei Frauen oder zwischen einer Frau und<br />

einem Mann abspielen könnte“: Eines Abends nimmt der Barkeeper<br />

Ilir einen jungen Mann, der sich fast <strong>bis</strong> zur Besinnungslosigkeit<br />

betrunken hat, kurzerhand mit in seine Wohnung und lässt ihn in<br />

seinem Bett übernachten. Paulo, so dessen Name, verschwindet am<br />

Edition Salzgeber<br />

6 7


kino<br />

kino<br />

nächsten Tag zwar gleich nach dem Frühstück, doch die beiden treffen<br />

sich danach noch häufiger wieder und beginnen, sich ineinander<br />

zu verlieben. Als Paolos Freundin davon Wind bekommt, muss er<br />

ihre Wohnung sofort verlassen und steht wenig später mit Sack und<br />

Pack vor Ilirs Wohnungstür. Ilir ist davon zunächst wenig begeistert,<br />

nimmt den Obdachlosen aber dennoch auf: Eine Romanze nimmt<br />

ihren Lauf, zärtlich, leidenschaftlich und verspielt. An dem Tag, an<br />

dem die beiden beschließen, für immer zusammen zu bleiben, verlässt<br />

Ilir die Stadt für ein paar Tage wegen eines Jobs. Rätselhafter<br />

Weise kehrt er nicht wieder zurück. Es dauert lange, <strong>bis</strong> Paulo den<br />

Grund dafür erfährt – und das nächste Wiedersehen findet im Besucherraum<br />

eines Gefängnisses statt. Der Kampf um die Beziehung<br />

scheint aussichtslos. Als Ilir entlassen wird, trifft er einen deutlich<br />

veränderten Paulo wieder, der nun mit einem anderen Mann zusammenlebt.<br />

Dennoch verbringen sie eine letzte Nacht zusammen in<br />

einem Hotelzimmer, die zeigen muss, was von ihren Gefühlen für<br />

einander noch übrig ist.<br />

Lambert präsentiert diesen Plot in einer klassischen Drei-Akt-<br />

Struktur: Verlieben, Trennung und kurzes Wiedersehen. „Diese sehr<br />

klare und schlichte Struktur habe ich gewählt, weil ich mich als Autor<br />

immer noch am Anfang fühle, außerdem erschien sie mir ganz einfach<br />

sehr geeignet zu sein, um genau das zu erzählen, was ich erzählen<br />

wollte. Eine Kritikerin hat Jenseits der Mauern deshalb mit Jacques<br />

Demys Musicalfilm Die Regenschirme von Cherbourg (Les parapluies<br />

de Cherbourg, 1964) verglichen, mit Catherine Deneuve und Nino<br />

Castelnuovo in den Hauptrollen – den ich auch noch in einer anderen<br />

Hinsicht sehr beeindruckend finde, weil er nämlich den Algerienkrieg,<br />

über den zu sprechen in Frankreich immer noch ein großes<br />

Tabu darstellt, umso eindringlicher betont, je mehr er ihn in den Hintergrund<br />

drängt. Etwas Ähnliches habe ich mit der grausamen Realität<br />

des Gefängnisses, die Ilir erleiden muss, versucht, auch sie wird in<br />

Jenseits der Mauern nur angedeutet, aber nie direkt gezeigt.“<br />

Zu der Gefängnisthematik hat Lambert sogar einen persönlichen<br />

Bezug, denn einen seiner Freunde konnte er zeitweilig nur sehr selten<br />

sehen, da dieser gerade eine längere Haftstrafe verbüßte. „Zu<br />

dieser Zeit“, erinnert sich der Regisseur, „habe ich mich sehr darüber<br />

geärgert, wie diese Besuchssituationen gewöhnlich im Kino dargestellt<br />

werden, nämlich als glückliche Wiedersehensszenen, bei denen<br />

unglaublich viel ausgetauscht wird. In Wirklichkeit ist das ganz<br />

anders, man kann sich in diesen Situationen eben nicht wirklich ausdrücken,<br />

es gibt viele Momente des Schweigens, viele Missverständnisse.<br />

In meinem Film sollte sich dies unbedingt widerspiegeln. Auch<br />

die Tatsachen, dass ein solcher Besuch nur 30 Minuten dauert, und<br />

dass man vorher, weil die Haftanstalt vom eigenen Wohnort mitunter<br />

sehr weit entfernt liegt, oft stundenlang mit dem Auto, dem Bus oder<br />

der Bahn unterwegs ist, sollten sichtbar und spürbar werden.“<br />

Obwohl die Handlung filmsprachlich sehr komplex konzipiert ist,<br />

da spätere Szenen auf frühere inhaltlich und formal bezogen werden,<br />

ihnen also quasi zu antworten scheinen, Symbole und Metaphern<br />

dabei ständig variiert werden, wirken die Dialoge oft sehr spontan<br />

Edition Salzgeber<br />

und improvisiert. Das liegt sicherlich am Können der beiden wirklich brillant agierenden<br />

Hauptdarsteller Matila Malliarakis (Paulo) und Guillaume Gouix (Ilir), die übrigens zunächst<br />

beide für die Rolle Paulos gecastet wurden, andererseits aber auch an der Art und Weise, wie<br />

Lambert mit ihnen gearbeitet hat: „Ich habe ihnen gesagt, dass die Dialoge nicht von Shakespeare<br />

sind. Sie konnten verändert, angepasst, ergänzt oder ignoriert werden. Ich verstehe<br />

mein Team nicht als eine Gruppe von Ausführenden, sie sollen kreativ sein, sich einbringen.<br />

Nur in bestimmten Szenen, wo ich etwas ganz Bestimmtes einfangen wollte, war alles festgelegt:<br />

die Momente im Besucherraum des Gefängnisses zum Beispiel.“<br />

Festgelegt auf einen bestimmten Typus scheinen zunächst auch die beiden Hauptfiguren<br />

zu sein: Während Ilir eher die selbstsichere, sehr virile Rolle eines Beschützers und großen<br />

Bruders spielt, wirkt Paulo sehr kindlich, verloren und anlehnungsbedürftig. Doch im Verlauf<br />

der Geschichte werden die Positionen immer wieder vertauscht, Dominanz verwandelt<br />

sich in Unterlegenheit, Schwäche in Stärke. „Diese Dynamiken deutlich herauszuarbeiten“,<br />

erklärt Lambert, „war mir sehr wichtig, denn sie gehören einfach zu Liebesbeziehungen dazu,<br />

sie liegen in der Natur der Sache: Mal begehrt der eine Partner den anderen mehr, woraus letzterem<br />

eine gewisse Überlegenheit erwächst, mal ist es umgekehrt.“ Diese Entwicklungen und<br />

Umschwünge zeigen sich bei beiden Figuren am Ende des Films am deutlichsten, wenn Ilir<br />

durch seinen Gefängnisaufenthalt mitgenommen und gezeichnet erscheint und Paulo sich die<br />

fast schon kühl und überheblich wirkende Attitüde eines Dandys zugelegt hat. Diese Attitüde<br />

spiegelt sich auch in seinem neuen Kleidungsstil wider, der, das gibt Lambert lachend zu, „an<br />

dieser Stelle ein wenig dick aufgetragen ist.“<br />

Trotz des Realismus des Schauspiels und der Dialoge und trotz des dramatischen und<br />

<strong>bis</strong>weilen auch vor dem Melodramatischen nicht zurückschreckenden Verlaufs der Liebesgeschichte<br />

kommen im Film immer wieder auch Witz und Ironie zum Zuge, „weil ich es mag“,<br />

so Lambert, „Genres und verschiedene Stimmungen zu mixen. Wenn es mir selbst zu dramatisch<br />

oder melodramatisch wird, dann muss ich einen Witz oder ein melodramatisches<br />

Element einbauen, um dem etwas entgegenzusetzen und es dadurch zu relativieren bzw.<br />

eine Distanz dazu zu schaffen. Ich mag Filme, die einen innerhalb von zwei oder drei Minuten<br />

sowohl zum Weinen als auch zum Lachen bringen können, denn ich glaube, so ist das<br />

Leben, das macht die Magie des Lebens aus. Im günstigsten Fall haben auch die Darsteller<br />

ein Gefühl dafür, wann ein komischer Moment nötig ist, um die allgemeine Dramatik etwas<br />

aufzulockern.“<br />

Frédérique Jaeger (critic.de) schrieb nach der Vorführung des Films beim Festival von<br />

Karlovy Vary: „Manchmal geht es einem mit Filmen wie mit Menschen: Wenn sie den einen<br />

richtigen Satz sagen, die eine Szene präsentieren und dabei ihre Haltung en passant offenbaren,<br />

dann schmelzen wir dahin. Jenseits der Mauern ist so ein Fall.“ Und der Film präsentiert<br />

nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Szenen, deren visuelle Originalität und Poesie<br />

einem nachhaltig im Gedächtnis bleiben und die schlagartig einen bestimmten Charakterzug<br />

oder eine bestimmte Gefühlslage erhellen. „Eine wichtige Szene in der Phase des Verliebens“,<br />

auf die der Regisseur selbst hinweist, „findet in einem Kino statt: Ilir betrachtet den in einen<br />

Film versunkenen Stummfilmpianisten Paulo, dessen Gesicht genau wie sein eigenes allein<br />

durch das Flackerlicht auf der Leinwand aus dem Dunkel des Kinosaals herauspräpariert wird<br />

und der so für ihn quasi zum Teil eines Films wird. Das ist mir sehr wichtig: zu zeigen, dass<br />

das Leben, die Beziehungen, Identitäten immer auch Fiktionen brauchen. Man macht sich für<br />

andere und für sich zu einer Kinofigur, man tritt ins Licht und aus dem Licht heraus, man<br />

will eine Figur werden, man probiert Kostüme aus, so wie Paulo im letzten Drittel. Auf der<br />

anderen Seite versucht der Film ja auch, die Beziehung, die Geschichte zu reflektieren. Beim<br />

ersten Kuss gibt es einen Zoom auf die Lippen der beiden, beim letzten einen Zoom von beiden<br />

weg. Das klang im Buch furchtbar konstruiert, und mein Kameramann hat aufgestöhnt und<br />

die Augen verdreht, als er das gelesen hat, aber tatsächlich funktioniert das im Film sehr gut,<br />

weil man sich in diesem Moment buchstäblich ein Bild davon macht, was sich in der Beziehung<br />

der beiden verändert.“<br />

Die Mauern, von denen der Titel des Films spricht, tauchen darin materiell wir immateriell<br />

in vielfältiger Form immer wieder auf, als reale Gefängnismauern, als soziale und psychologische<br />

Barrieren, als Hindernisse der Beziehung. Sie bilden somit eine Art Leitmotiv. Ob<br />

es denn nun eine Möglichkeit gibt, hinter die Mauern des anderen zu gelangen, zum Beispiel<br />

durch die Liebe? „Gute Frage. Ich glaube, jeder von uns hat mit diesen Mauern zu tun, mit<br />

den eigenen und mit denen, die die anderen um sich gezogen haben oder die um sie gezogen<br />

wurden. Liebe ist sicher immer der Versuch, diese Mauern zu überwinden − oder deren Existenz<br />

zumindest vergessen zu machen, was vielleicht nur eine gewisse Zeit lang funktioniert.<br />

Vielleicht schaffen es manche aber auch, die Mauern nicht zu leugnen und trotzdem irgendwie<br />

mit ihnen klarzukommen. Ich weiß wirklich nicht, ob ich in dieser Hinsicht optimistisch<br />

oder pessimistisch sein soll, und daher weiß ich tatsächlich auch nicht, ob mein Film pessimistisch<br />

oder optimistisch ist.“<br />

s<br />

Jenseits der Mauern<br />

von David Lambert<br />

BE/CA/FR 2012, 98 Minuten,<br />

französische OF mit deutschen UT<br />

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />

Im Kino in der Gay-Filmnacht im <strong>März</strong>,<br />

www.Gay-Filmnacht.de<br />

Kinostart: 28. <strong>März</strong> <strong>2013</strong><br />

8 9


kino<br />

kino<br />

Das Zeigen ist politisch.<br />

Das Nicht-Zeigen auch.<br />

Von Enrico Ippolito<br />

I Want Your Love<br />

von Travis Mathews<br />

US 2012, 71 Minuten,<br />

englische OF mit deutschen UT<br />

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />

Im Kino in der Gay-Filmnacht im April,<br />

www.Gay-Filmnacht.de<br />

Ja, in diesem Film gibt es echten Sex zu sehen, eine Pornofirma hat ihn produziert. Doch im Kern ist<br />

„I Want Your Love“ eine ganz kleine, alltägliche Geschichte über ein Wochenende und eine Party, in der<br />

sich Männer von ihren Freunden verabschieden, neue Männer kennen lernen oder ihre Beziehungen neu<br />

gestalten. Die großen Fragen, die dabei nebenher behandelt werden, grundieren diese Begegnungen, ohne<br />

sie zu erdrücken. Travis Mathews’ erster Spielfilm steht für ein neues, sinnliches, lässiges queeres Kino.<br />

Edition Salzgeber<br />

s Alles begann mit dem Kurzfilm I Want Your Love. Ein Film über<br />

zwei Männer, die Wein trinken, über das Leben philosophieren und<br />

am Ende miteinander schlafen. Sanft, zärtlich und mit einer gewissen<br />

Unsicherheit. Die Kamera hält drauf, zeigt erigierte Penisse, haarige<br />

Ärsche und einen Samenerguss.<br />

Kaum ein anderer Regisseur benutzt explizite Sexszenen wie Travis<br />

Mathews. Für ihn entsteht dadurch ein ungeheures Potential für<br />

die Story- und Plot-Entwicklung und gleichzeitig tragen die Szenen<br />

auch zur Definition eines Charakter bei.<br />

Mathews legte zwei Jahre nach dem Kurz- seinen Langfilm mit<br />

dem gleichen Namen nach. Die Hauptfigur Jesse (Jesse Metzger),<br />

ein Künstler, hat jahrelang in San Francisco gelebt und dort ein sehr<br />

lässiges Leben geführt. I Want Your Love, der Spielfilm, beginnt<br />

mit Jesses letztem Wochenende in der Stadt, bevor er wieder in den<br />

mittleren Westen zu seinem Vater zieht. Er muss sich von allen verabschieden:<br />

seinen Mitbewohnern, seinen Freunden und von seinem<br />

Ex. Das sorgt für einige emotionale Verwirrungen. Leicht, intim und<br />

nah beschreibt Mathews diesen Abschied. Der amerikanische Filmemacher<br />

beherrscht perfekt die Inszenierung einer zunächst banal<br />

wirkenden Geschichte.<br />

Der 37-jährige Travis Mathews scheint vor allem Filme über sein<br />

Umfeld zu drehen, über Menschen, die er kennt. Er selbst lebt in San<br />

Francisco. 2009 erschien seine Internet-Doku-Reihe In Their Room<br />

über schwule Männer, ihr Schlafzimmer und ihr Sexleben. Die Folgen<br />

San Francisco und Berlin wurden auf Filmfestivals rauf und runter<br />

gespielt, mittlerweile ist auch die Episode London fertig. Mathews<br />

gewann den Preis für den „Besten erotischen Film“, Good Vibrations.<br />

2010 veröffentlichte die Pornofirma NakedSword seinen ersten Kurzfilm<br />

I Want Your Love.<br />

Travis Mathews ist „eine neue Stimme, die dem Queer Cinema<br />

eine dringend benötigte Injektion emotionaler Intimität verpasst“,<br />

ist Shortbus-Regisseur John Cameron Mitchell überzeugt. Intimität.<br />

Immer wieder werden die Filme von Mathews mit diesem<br />

Begriff beschrieben.<br />

Doch seine Filme bieten mehr. Mathews’ Darstellung ist vieles,<br />

aber niemals entschuldigend. Sexuelle Orientierungen interessieren<br />

ihn nur marginal. Er verliert sich nicht in Repräsentationsfragen und<br />

vor allem nicht in Dramen, die um das Thema der schwulen Identität<br />

kreisen. Für ihn ist das reine Erzählen einer Liebesgeschichte schon<br />

politisch genug. „Verpflichtet zu sein, eine historische Geschichte<br />

über Aktivismus, Aids oder Coming-Out zu machen, ist sehr defensiv“,<br />

meint Mathews. Er entscheidet sich bewusst gegen diesen Weg<br />

und zeigt hingegen die alltäglichen Hürden, die diese Männer mit<br />

sich selbst, mit One-Night-Stands und in Beziehungen haben. Alltägliche<br />

Probleme also, mit denen sich jede_r Zuschauer_in identifizieren<br />

kann. Und hier spielt auch wieder die Intimität eine Rolle. Denn<br />

genau durch diese Nähe schafft Mathews das hohe Identifikationspotenzial.<br />

Seine Figuren sind nie platt, sondern dreidimensional. Sie dürfen<br />

Fehler machen, sie dürfen widersprüchlich sein und auch mal seltsam.<br />

Wenn Ben, Jesses Ex-Freund, auf der Abschiedsparty mit Brontez<br />

vögelt, ist das erst mal irritierend. Gleiches gilt für Jesse selbst, der<br />

anstatt auf seiner Abschiedsparty beim Nachbarn Keith in Unterhose<br />

abhängt. Als dieser unerwartet nach Hause kommt und die zwei sich<br />

näher kommen, bricht Jesse den Sex ab.<br />

Es sind diese Widersprüche, dieses Negieren eines romantischen<br />

Moments, die I Want Your Love dynamisch gestalten. Mit der<br />

Debatte um den Identifikationswert kommt auch die Diskussion um<br />

Authentizität. Mathews spielt damit bewusst. Seine Darsteller haben<br />

den gleichen Vornamen wie die Figuren, die sie spielen. Mathews<br />

will keine Welt kreieren, in die die/der Zuschauer_in flüchten kann.<br />

Er will Filme drehen, die bewegen, mit Figuren, die verständlich<br />

rezipiert werden können. Es geht ihm nicht um Eskapismus, sondern<br />

halt um das „Authentische“.<br />

Und noch ein Label haftet dem amerikanischen Filmemacher<br />

an. Er habe den „Indie-Porno“ erfunden, heißt es. Das ist natürlich<br />

Schwachsinn, schon allein weil Mathews’ Filme keine Pornos sind –<br />

noch nicht mal annähernd. Die Definition der Pornografie ist vage,<br />

mittlerweile gar fast unformulierbar und vor allem eins: subjektiv.<br />

Wenn aber Pornografie das reine Ziel hat, den meistens männlichen<br />

Zuschauer zum Orgasmus zu bringen, gilt I Want Your Love nicht als<br />

Porno. Denn Travis Mathews arbeitet genau gegen die gängigen Konventionen<br />

des klassischen pornografischen Films; seine Werke erzählen<br />

eine Geschichte und arbeiten nicht auf den Höhepunkt hin, auch<br />

wenn sie roh und explizit sind.<br />

Seine Sexszenen sind oft verstörend, nicht im Sinne eines Affronts,<br />

sondern weil sie gerade so ungewöhnlich intim, so nah und so authentisch<br />

sind. Wenn die Männer Sex haben, sagt das etwas über sie, ihren<br />

Charakter, ihre Welt aus. Wie das Paar, das sich für einen Dreier entscheidet,<br />

dabei unsicher und zugleich leicht hysterisch ist. Oder wie<br />

Jesse, der sich nicht ficken lassen kann und bei einem One-Night-<br />

Stand nicht kommt. Oder halt sein Ex, der auf Jesses Abschiedsparty<br />

mit einem Freund von Jesse schläft – und beide sich regelrecht diese<br />

Freiheit erkämpfen.<br />

Mathews’ Blick ist niemals der eines Voyeurs – im Gegenteil.<br />

Der Close-Up auf Schwänze und Körperöffnungen lässt ihn kalt.<br />

Es geht ihm nicht darum, sein Publikum zu erregen. Und auch der<br />

Money Shot, der zwingende Höhepunkt eines jeden Pornos und<br />

auch des Mannes, interessiert ihn nicht. Er wählt einen eher spielerischen<br />

Zugang. Mathews lässt seine Figuren während des Sex mal<br />

eine Pause einlegen, in der sie miteinander reden, was trinken, ganz<br />

aufhören oder danach weiter ficken. Sexualität ist divers, das scheint<br />

uns Mathews ständig vor Augen zu halten. Es gibt nicht nur eine Art,<br />

miteinander zu schlafen, sondern viele verschiedene. Mal zärtlich,<br />

mal lieblos, mal rau, mal hart, mal alles zusammen. Der Filmemacher<br />

durchleuchtet das ganze Spektrum – und das mit einer Unaufdringlichkeit,<br />

die einmalig ist.<br />

Gleichzeitig beweist Travis Mathews in seinem Film I Want Your<br />

Love auch ein Gespür für Vielfältigkeit außerhalb des sexuellen Konstrukts.<br />

Seine Figuren können nicht unterschiedlicher sein, was Race,<br />

Körper und Machtstrukturen angeht. Er hebt diese Mechanismen<br />

auf. Jede Körperform ist willkommen, Menschen mit verschiedener<br />

Herkunft treffen aufeinander. Und so wenig, wie er sexuelle Identität<br />

thematisiert, spricht er von Körperschemata oder Herkunft – und ist<br />

doch genau mit diesem Verschweigen politisch. Mathews verschweigt<br />

nicht aus Angst, sondern eher aus fast schon utopistischen Gründen.<br />

Er kreiert eine Welt in seinen Filmen, in welcher Probleme der sexuellen<br />

Identität, des eigenen Körpers und der eigenen Herkunft keine<br />

Rolle spielen oder längst schon verarbeitet sind. Mathews muss sich<br />

nicht an Klischees abarbeiten, nicht den moralischen Zeigefinger<br />

erheben und auch nicht auf Missstände aufmerksam machen. Gerade<br />

mit seiner intimen Darstellungsweise hebelt er das alles aus, es geht<br />

ihm um die kleinen und doch großen Problem des Alltags. Schwul,<br />

les<strong>bis</strong>ch, <strong>bis</strong>exuell, dick, dünn, schwarz, weiß – das alles spielt keine<br />

Rolle, sondern es geht um etwas Universelleres: um Liebe, um Zuneigung,<br />

um eine ungewisse Zukunft und eben nicht darum, wer oder<br />

was ich bin.<br />

Mit dieser Haltung, mit diesem Film gilt Travis Mathews zu<br />

Recht als einer der Wegbereiter einer neuen Welle des queeren<br />

Kinos, ohne sich an Genredefinitionen abzuarbeiten. Seine Filme<br />

haben schon längst eine Ebene erreicht, auf der Fragen nach Identitätszuschreibungen<br />

keinen Sinn mehr ergeben. Auf der aber auch<br />

sexuelle Identität nicht problembehaftet sein muss oder nicht mehr<br />

ist. Auf der seine Figuren schon längst über diese Themen hinaus<br />

sind. Auf der seine Charaktere ein Potential haben und sich nicht<br />

durch Herkunfts- und Orientierungszuschreibungen definieren lassen.<br />

Und genau das ist queer, das ist radikal, das ist anders. Auf eine<br />

leise Art.<br />

s<br />

10<br />

11


kino<br />

kino<br />

Edition Salzgeber<br />

Provinzbullen<br />

(oder: Dahinter, daneben und drauf)<br />

von Paul Schulz<br />

„Freier Fall“, der gerade auf der Berlinale die „Perspektive“ eröffnete und im <strong>Mai</strong> in die Gay-Filmnacht und<br />

auch sonst ins Kino kommt, ist der beste deutsche queere Film seit „Sommersturm“. Unser Autor macht<br />

sich Gedanken darüber, warum es nicht mehr davon gibt.<br />

s Große Momente der Filmgeschichte: Nathan Lane als Michelle<br />

Pfeiffers Nachbar in Frankie and Johnny, Rupert Everett als Julia<br />

Roberts bester, genervter Freund auf einer Hochzeit, Matthew Broderick<br />

in Das Kuckucksei, Niels Bormann in Mondlkalb, Beautiful<br />

Thing. Die, in denen ich mich selbst auf der Leinwand entdecke. Das<br />

ist meistens irgendwo hinter, wenn ich Glück habe neben und, in ganz<br />

seltenen Fällen, auf dem Hauptdarsteller. Auch deswegen gehe ich ins<br />

Kino, immer noch. Seit 30 Jahren.<br />

Die ersten 12 davon, <strong>bis</strong> Coming out, sah ich überhaupt niemanden,<br />

der wie ich war. Es gab schon Homosexuelle: bei Visconti oder<br />

Pasolini oder John Schlesinger, aber die hatten mit meinem jungen,<br />

schwulen Leben in der ostdeutschen Provinz ungefähr so viel zu<br />

tun wie Robert Preston in Victor/Victoria: nüscht. Trotzdem war ich<br />

dankbar für ihre Existenz. Harvey Fierstein hat diesen Effekt in The<br />

Celluloid Closet mal so zusammengefasst: „I like the sissy. Is it used<br />

in negative ways? Yeah, but … I’d rather have negative than nothing.“<br />

Ich gewöhnte mich daran, dass man als Homosexueller im Film im<br />

Wesentlichen drei Möglichkeiten hatte: Arschverkäufer, Aschenbach<br />

oder armer Wurm. Dann kam das New Queer Cinema und eröffnete<br />

neue Möglichkeiten: Arschverkäufer, Aidskranker oder Araki. Ich<br />

war hingerissen. Bis ich nach einigen Jahren merkte, dass mir was<br />

fehlte: ich. Da war ich genervt. Und bin es noch. Kleinlich, oder? Welches<br />

Recht habe ich schließlich, von dem großen leuchtenden Viereck<br />

vor mir zu erwarten, gerade mich abzubilden? Jedes.<br />

Weil, immer wenn ich mich sehe, und das ist so gut wie nie, durchfährt<br />

mich ein unendliches Gefühl der Erleichterung: Es gibt mich.<br />

Im Licht, da oben. Und alle können es sehen.<br />

Dieses Gefühl ist nicht besonders. Jede Minderheit (Frauen, Farbige,<br />

Fette) kennt es, musste und muss sich einen Umgang damit erarbeiten,<br />

hat damit zu kämpfen. Frauen sind nicht nur Huren oder Heilige,<br />

sondern eben auch Marge Gunderson, Farbige nicht nur Beverly<br />

Hills Cops oder Sklaven, sondern auch Precious, Fette nicht nur Annie<br />

12 13


kino<br />

kino<br />

Edition Salzgeber (3)<br />

Wilkes sondern auch Melissa McCarthy in Mike & Molly. Normalität<br />

ist inzwischen fast normal. Für Homos ist der Anspruch nur relativ<br />

neu: Sie sind immer noch vor allem Stricher, Feingeister oder Comic<br />

Relief. Bei jeder Diskussion über Homosexualität im Kino, bei der ich<br />

verlange, so was wie gewöhnliche Homosexuelle sehen zu wollen,<br />

schlagen mir von queerer Seite Variationen zweier alter Denkmuster<br />

entgegen, die noch mehr nerven als die alten Bilder, und ungefähr<br />

so klingen: „Sei froh, dass es uns im Kino überhaupt gibt“, oder: „Sei<br />

froh, dass die nicht wissen, wie langweilig wir wirklich sind.“ Was das<br />

Heteronormierteste ist, was man so sagen kann, weil es sich eben an<br />

angenommenen heterosexuellen Sehgewohnheiten orientiert und das<br />

Außergewöhnliche liefern will, um zu gefallen. In den letzten Jahren<br />

kommt der „James-Franco-Effekt“ hinzu: Heterosexuelle Filmemacher,<br />

die die Belastbarkeit ihrer eigenen Toleranzgrenzen testen,<br />

indem sie sexuell explizite Homofilme drehen, in denen sie schwule<br />

Sexualität nicht zeigen, sondern ausstellen, danach auf Filmfestivals<br />

mit ihrem minimalen Erkenntnisgewinn protzen und von mir Dankbarkeit<br />

für die durch sie hergestellte Sichtbarkeit meiner Leute oder<br />

ein Lob für ihren „queeren“ Wagemut erwarten. Sorry James, not<br />

gonna happen.<br />

So richtig schwierig wird es aber erst, wenn ich immer mal wieder<br />

mitbekomme, wie filmmächtige Queerlinge selbst mit Filmen umgehen,<br />

die einen eher durchschnittlichen schwulen Lebensentwurf<br />

anbieten: Wieland Speck sagte in einem Interview vor der diesjährigen<br />

Berlinale, so was wie Freier Fall, ein wunderbarer, deutscher Film<br />

über zwei schwule Polizisten, könne jetzt überall laufen und bräuchte<br />

eine Einladung zum Panorama deswegen nicht. Echt? Wo sind denn<br />

die offensichtlich im Dutzend vorhandenen und überall gespielten<br />

Filme über schwules Leben in Deutschland? Hab ich was verpasst?<br />

Gab es seit Sommersturm, der immerhin neun Jahre auf dem schmalen<br />

Buckel hat, auch nur einen einzigen schwulen <strong>Mai</strong>nstreamerfolg<br />

im deutschen Kino? Den Teddy hat mit W Imie … <strong>2013</strong> ein poetisches<br />

Meisterwerk über einen polnischen Priester gewonnen, das mit meiner<br />

eigenen Lebensrealität und der der allermeisten schwulen Kinozuschauer<br />

ungefähr so viel zu tun haben dürfte wie jeder Film über<br />

einen schwulen Priester: nüscht. Haben wir es wirklich so satt oder<br />

haben wir einfach nur solche Angst davor, das, was wir in der breiten<br />

Masse sind, im Kino zu sehen? Böse Frage, ich weiß.<br />

Deutsche Produzenten und Redakteure könnten jetzt antworten,<br />

dass schwule Durchschnittlichkeit doch niemand sehen will oder,<br />

dass die echt durch ist. Und tun das oft. Ich halte mal die Zuschauerzahlen<br />

von Brokeback Mountain, Aimee und Jaguar und The Kids Are<br />

All Right und die Kritiken für Weekend dagegen. Vielleicht muss man<br />

nur angstfrei eine queere Geschichte erzählen, vor deren Allgemeingültigkeit<br />

man nicht davonrennt, sondern die man voraussetzt, und<br />

hat dann Erfolg?<br />

Diesen Versuch unternimmt der eben schon erwähnte Freier Fall.<br />

Und bekommt etwas hin, was ich eben seit Sommersturm nicht im<br />

deutschen Homo-Kino gesehen habe: Er traut sich an die ganz großen<br />

Brocken und jongliert publikumswirksam mit ihnen.<br />

Das sieht so aus: Hanno Koffler spielt Marc, einen Polizisten,<br />

der mit seiner schwangeren Freundin Bettina (Katharina Schüttler)<br />

gerade ins Haus neben seinen Eltern gezogen ist, irgendwo in der<br />

deutschen Provinz. Er lernt bei einer Fortbildung den Kollegen Kay<br />

(Max Riemelt) kennen. Der kifft und fährt einen dicken Jeep und<br />

kann schneller laufen als Marc. Beim gemeinsamen Training passiert<br />

ein erster, zufälliger Kuss, dann nichts. Marc fährt nach Hause,<br />

schläft mit Bettina, lässt sich von seiner spießigen Mutter (Maren<br />

Kroymann) bekochen, geht zum Dienst. In der zweiten Runde der<br />

Fortbildung trifft er Kay wieder, der ihn während eines gemeinsamen<br />

Waldlaufs nochmal küsst und mehr macht, woraufhin Marc ihm wegrennt.<br />

Wieder geht es nach Hause. Und es passiert nichts, außer, dass<br />

Marc grübelt. Bis Kay sich in seinen Zug versetzen lässt. Und etwas<br />

anfängt, von dem man weiß, dass es kein gutes Ende nehmen kann.<br />

Obwohl Freier Fall so was wie ein Happy-End hat, wenn auch kein<br />

herkömmliches.<br />

Und im Mauerwerk die Haustüren:<br />

massiv, Plastik, wie ein luftdichter<br />

Deckel für all die Lügen und<br />

Geheimnisse, die hinter ihnen lauern<br />

Drehbuchautor Karsten Dahlem war Tom Tykwers Regieassistent<br />

bei Drei, es ist sein erstes Drehbuch. Regisseur Stephan Lacant<br />

hat noch nie vorher einen Langfilm gedreht. Beides merkt man nicht.<br />

Die Szenen und Bilder sitzen, die Handlung nimmt in eleganten Bahnen<br />

ihren Lauf, 100 Minuten sind schnell um, weil hier drei Schauspieler<br />

(Koffler, Riemelt, Schütler) auf der Höhe ihrer Kunst zu sehen<br />

sind, die darin besteht, dass man die Kunst nicht sieht, sondern echte<br />

Menschen. Ein Regisseur weiß, was er zeigen, und ein Autor, was<br />

er erzählen will. Ein Freund und ich sitzen atemlos im Großstadt-<br />

Kino und gruseln uns vor den Insignien unserer Herkunft: einstöckige<br />

Einfamilienhäuser mit einem Stück Rasen dahinter, davor<br />

mit Wicken umrankte Carports. Und im Mauerwerk die Haustü-<br />

ren: massiv, Plastik, wie ein luftdichter Deckel für all die Lügen und<br />

Geheimnisse, die hinter ihnen lauern.<br />

Von denen es im Laufe des Films immer mehr gibt, <strong>bis</strong> Bettina mit<br />

Kind geht und Marc begreift, wer er ist und was das heißt. Dazwischen<br />

gibt es die eindringlichsten Sexszenen zwischen zwei Männern,<br />

die mir im deutschen Kino je begegnet sind. Weder Koffler<br />

noch Riemelt scheuen sich davor, ihre Körper zu blanken, schauspielerischen<br />

Instrumenten zu machen, an denen voyeuristische Augen<br />

schlicht abrutschen, weil sie viel mehr als nur Nacktheit erzählen.<br />

Glück ist schwierig und gelingt nur in Momenten, wenn man sich<br />

nicht sehr darum bemüht.<br />

Nichts davon drängt sich einem auf, weder Dahlem noch Lacant<br />

verraten ihre Figuren ans Publikum und das Ensemble weiß, dass alle<br />

gebraucht werden, um die Geschichte zu erzählen. Selbst Kroymann,<br />

die ihre Rolle als homophobe Mutter als offensichtliche Karikatur<br />

hätte anlegen können, spielt auch nur eine Frau, der ihr Lebensentwurf<br />

entgleitet und die nicht weiß, was werden soll. Niemand ist das<br />

Arschloch, aber alle sind im Arsch. Klischees werden gezeigt, aber<br />

schnell umschifft oder als solche ausgestellt. Es darf gelacht und<br />

geflennt und mitgelitten werden.<br />

Kino eben. Für den Kopf und den Bauch und den Schritt. Freier<br />

Fall ist ein Film, der das ganz Außergewöhnliche in komplett gewöhnlichen<br />

Existenzen findet, die Momente, an denen sich Leben drehen.<br />

Und der dann in der Lage ist, einfach zu beobachten, wie sich Menschen<br />

in solchen Situationen verhalten.<br />

Hanno Koffler ist kein Neuling, was schwule Rollen anbelangt.<br />

Vielleicht deswegen gelingt ihm mit Marc die vollständigste vielleicht<br />

schwule Figur seit langer Zeit. Es ist einfach nur eine große Freude,<br />

was er hier macht und wie er das tut. Freier Fall ist sein Film, auch<br />

wenn es vielleicht Riemelt sein wird, der mehr Aufmerksamkeit<br />

bekommt, weil er das bekanntere Gesicht ist. Die beiden Schauspieler<br />

sind seit Jahren befreundet, was dazu beigetragen haben dürfte, dass<br />

ihre gemeinsamen Szenen eine leichte, ganz und gar realistische Intimität<br />

haben. Was die heißt, bleibt dankenswerter Weise offen. Man<br />

kann Freier Fall als Coming-Out-Drama sehen, macht den Film damit<br />

aber vielleicht kleiner, als er ist. Der erste der vorschlägt, Marc könnte<br />

schwul sein, ist weit in der zweiten Stunde des Films Kay, während<br />

eines Wutanfalls, um den Geliebten zu einer Entscheidung zu zwingen,<br />

die dieser verweigert. Als wenig später Bettina wissen will, ob<br />

Marc schwul ist, verneint der das und bekommt ein halb gefluchtes<br />

„Was <strong>bis</strong>t du dann?“ zur Antwort. Eine Frage, die er sich selbst in den<br />

verbleibenden Filmminuten beantwortet, aber nicht notwendiger<br />

Weise dem Zuschauer.<br />

Der Film nimmt nicht vor der komplexen Gefühlslage reiß aus,<br />

die hier erzählt wird, sondern lässt seinem Publikum Raum, um sich<br />

selbst einen Reim auf das Gesehene zu machen. Ich erzähle das sofort<br />

jedem, der es hören will.<br />

Das Resultat: Noch während der Berlinale streite ich mich mit<br />

einer Freundin, die den Film noch nicht gesehen hat, per Facebook-<br />

Chat darüber, ob sie reingehen soll oder nicht. „Zwei Bullen in der<br />

deutschen Provinz, und einer hilft dem anderem aus dem Schrank.<br />

Na Hilfe! Wie oft soll ich das denn noch sehen? Das ist doch garantiert<br />

wieder so Kram für’s geneigte Heteropublikum ohne jeden queeren<br />

Ansatz und die fassen sich nicht an. Stimmt’s?“ „Wirklich nicht. Guck<br />

ihn doch einfach.“ „Ich will das überhaupt nicht sehen. Bewegungskino!<br />

Aber kannst du mir Karten für den Franco besorgen?“ Ich sitze<br />

mit knirschenden Zähnen im Büro. „Nein, kann ich nicht.“ „Wieso<br />

denn nicht?“ „Da hätten wir also einen Film, der eine Annäherung<br />

an deutsche, schwule Realität versucht, mit tollem Buch, großartigen<br />

Schauspielern, feiner Regie, realistischen Sexszenen und einer Reihe<br />

spannender Fragen an seine Figuren und sein Publikum. Und einen<br />

heterosexuellen Hollywoodstar, der Schwule beim Blasen filmt, sich<br />

dabei von Travis Mathews helfen lassen muss und zwischendurch mit<br />

seinem Hauptdarsteller darüber diskutiert, wie freaky schwuler Sex<br />

doch ist, aber dass man bestimmt ein besserer Mensch wird, wenn<br />

man es aushält, sich das anzusehen. Während er das dann tut, macht<br />

er ein Gesicht, als ob er einer Augen-Operation beiwohnt.“ „Klingt<br />

doch aufregend.“ „Wir brechen die Diskussion an dieser Stelle ab.“<br />

Es ist so: Es mag auch <strong>2013</strong> noch merkwürdig sein, queere Figuren<br />

im Kino zu sehen, die noch mehr zu tun haben, als queer zu sein,<br />

weil sie in einer Welt leben, die großen Teilen Deutschlands aufs Haar<br />

gleicht. Aber vielleicht, und das ist meine Vermutung, wartet das Publikum<br />

auf genau solche Figuren, weil es die Bodenhaftung braucht,<br />

die sie vermitteln, um sich den komplexen Fragen zu stellen, die<br />

queeres Leben heute bereit hält. Freier Fall unterbreitet genau dieses<br />

Angebot. Es nicht anzunehmen, wäre dämlich.<br />

s<br />

Freier Fall<br />

von Stephan Lacant<br />

DE <strong>2013</strong>, 100 Minuten, deutsche OF<br />

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />

Im Kino in der Gay-Filmnacht im <strong>Mai</strong>,<br />

www.Gay-Filmnacht.de<br />

Kinostart: 23. <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

www.freierfall-film.de<br />

14 15


kino<br />

kino<br />

Bei Anruf Sex<br />

von <strong>Mai</strong>ke Schultz<br />

In „A Perfect Ending“ zeigt Nicole Conn einmal mehr das sexuelle Erwachen einer reifen Frau. Am 29. <strong>März</strong><br />

läuft die Liebesgeschichte mit einem Callgirl in der L-Filmnacht.<br />

s Um es gleich vorwegzunehmen: A Perfect Ending ist kein Film<br />

über Sexarbeit. Oder besser gesagt über Frauen, die gegen Geld mit<br />

Frauen schlafen. Ein hoch interessantes Tabuthema, das sich auch auf<br />

der soeben zu Ende gegangenen Berlinale großer Beliebtheit erfreute:<br />

Concussion heißt der dort gezeigte Film über eine les<strong>bis</strong>che Ehefrau<br />

und Mutter, die nach einer Gehirnerschütterung beginnt, sich für<br />

andere Frauen zu prostituieren.<br />

Doch weder in Stacie Passons Regiedebüt Concussion (bei der<br />

Teddy-Verleihung gewann sie damit den Special Jury Award) noch in<br />

A Perfect Ending, dem neuen Film von Nicole Conn, geht es darum,<br />

diese Tätigkeit moralisch zu hinterfragen. Sie inszenieren keine<br />

Milieu studie oder die in einem solchen Beziehungsgeflecht angelegten<br />

Konflikte, wie es etwa Steven Soderbergh in Girlfriend Experience<br />

tut. Vielmehr erzählt Conn jene Geschichte, die sie in all ihren Filmen<br />

erzählt: Von der Reise einer Frau zu ihrer sexuellen Identität.<br />

Conns Arbeiten Claire of the Moon (1992) und Elena Undone<br />

(2010) gehören zu den Klassikern im DVD-Regal les<strong>bis</strong>cher Haushalte.<br />

Es sind Selbstfindungstrips, die durch das Zusammenspiel<br />

16<br />

bildschöner Hauptfiguren, genüsslich ausgekosteter Klischees und<br />

einer unangestrengten Balance zwischen Drama, Komödie und<br />

sexy Romanze funktionieren. Ihr Spannungsfeld ziehen sie aus dem<br />

Mythos des ersten Mals: Reife, zuvor hetero-orientierte Frauen erleben<br />

ihr sexuelles Erwachen in einer gleichgeschlechtlichen Begegnung.<br />

In Claire of the Moon war es die männerliebende Satirikerin, die<br />

das Appartement bei einer Tagung mit einer völlig gegensätzlichen<br />

Sexualtherapeutin teilt und – nach endlosen philosophischen Debatten<br />

– deren Anziehung erliegt; in Elena Undone verfiel die Gattin<br />

eines homophoben Pfarrers einer les<strong>bis</strong>chen Schriftstellerin (und lieferte<br />

mit dreieinhalb Minuten den längsten Kuss der Filmgeschichte).<br />

Dabei geht die Initiative stets von den Unerfahrenen aus: Nicht bloß<br />

neugierig, sondern lebens- und liebeshungrig wagen sie den Ausbruch<br />

aus einem gewohnheits- und fremdbestimmten Dasein.<br />

Mit der Darstellung dieser Routine beginnt auch A Perfect Ending.<br />

Wir sehen Rebecca (Barbara Niven), reiche Unternehmergattin und<br />

Charity Lady, wie sie ihrem Ehemann die Krawatte bindet und die<br />

pro-fun media<br />

Papiere hinterher trägt. Diese Aufnahmen schneidet Conn gegen Szenen<br />

aus dem Alltag von Paris (Jessica Clark): Als Domina führt sie<br />

Kunden am Halsband umher. Sie ist ein Callgirl, doch eines macht<br />

spätestens die zärtlich-schrullige Darstellung ihrer Zuhälterin (eine<br />

operierte All-American-Blondine im pinken Salon, die Aufträge ihrer<br />

Escort-Damen mit Hilfe optisch passender Barbiepuppen verwaltet)<br />

deutlich: Sie macht den Job freiwillig und gern.<br />

Ein Mix aus Langeweile, sexueller Frustration und der Überredungskunst<br />

eines befreundeten Lesbenpaares treibt Rebecca in die<br />

Arme der jungen Paris, die spontan für eine verhinderte Kollegin einspringt.<br />

Es braucht freilich einige Fluchten aus dem Hotelzimmer, <strong>bis</strong><br />

sich die Luxus-Hausfrau auf das neue Abenteuer einlassen kann, das<br />

sie alsbald süchtig zurücklässt und die eigentliche Geschäftsbeziehung<br />

verdrängt.<br />

Eine Menge Probleme treiben die beiden außerhalb des Bettes um<br />

und wohl auch in dieses hinein. Rebecca ist zwanghafte Perfektionistin<br />

(„Vergiss nicht das Atmen“, sagen ihre Kinder) und vernachlässigt<br />

darüber doch ihre Tochter; Paris indes trauert um eine verlorene<br />

Liebe und leidet unter Schuldgefühlen, die sie in düsteren Skizzen auf<br />

Papier bannt.<br />

Verstärkt wird der Fokus auf die verkappte Künstlerin durch<br />

immer wieder kehrende Traumsequenzen, in denen sich Paris in<br />

einer Art White Cube räkelt, und die Conn ebenso eifrig einsetzt wie<br />

Nahaufnahmen unwichtiger Details, etwa das Ornamentmuster einer<br />

Blumenvase. Leider bringt weder das eine noch das andere Stilmittel<br />

einem die Figuren näher, was vor allem daran liegt, dass Jessica<br />

Clarks schauspielerisches Talent sich auf einen Gesichtsausdruck<br />

beschränkt. Fans der HBO-Serie True Blood werden das britische,<br />

offen les<strong>bis</strong>che Model als attraktive Vampirgöttin Lilith aus der fünften<br />

Staffel wiedererkennen. Allerdings bestand ihre Rolle dort darin,<br />

schweigend, nackt und blutverschmiert andere Vampire zu betören.<br />

Immerhin, letzteres gelingt ihr auch in A Perfect Ending, wenn auch<br />

nicht durch ihren Sprechpart.<br />

Die Handschrift der Regisseurin ist dabei nicht nur thematisch<br />

unverkennbar. Was in A Perfect Ending der White Cube als Kunstgriff<br />

darstellt, bildete schon in Elena Undone die Konstante eines Liebesgurus,<br />

der Paare als lebende Beweise für Seelenverwandtschaft interviewt.<br />

In beiden Filmen fällt ein fast identisch formulierter Satz: „Verwechsle<br />

nie körperliche Leidenschaft mit emotionaler Nähe“, warnen<br />

sich die Protagonistinnen gegenseitig. Und doch bleibt es nie beim<br />

rein sexuellen Experiment, bringt dieses doch die ersehnte Erfüllung.<br />

„Mein ganzes Leben habe ich darauf gewartet“, sagt Rebecca<br />

am Ende.<br />

So wie Elena Undone sich mit dem Ausruf „I’m done with it!“ (Ich<br />

bin fertig damit) befreite, spielt auch Conns aktueller Filmtitel mit<br />

mehreren Bedeutungsebenen. Das „Happy Ending“, wie man es von<br />

Massagen mit Orgasmus-Finale kennt, spielt dabei ebenso hinein wie<br />

der Wunsch nach dem glücklichen Abschluss eines Lebens. Ein Erlebnis,<br />

das sich für kein Geld der Welt erkaufen lässt.<br />

s<br />

A Perfect Ending<br />

von Nicole Conn<br />

US 2012, 106 Minuten,<br />

englische OF mit deutschen UT<br />

Pro-FUn Media, www.pro-fun.de<br />

Im Kino in der L-Filmnacht im <strong>März</strong>,<br />

www.L-Filmnacht.de<br />

17


kino<br />

kino<br />

„Lipstikka“ von Jonathan Sagall<br />

Auf der Flucht<br />

von Malte Göbel<br />

Gleich drei Filme mit palästinensich-israelischem Hintergrund<br />

kommen in den nächsten Monaten in die Kinos: Das<br />

Drama „Lipstikka“ erzählt die Geschichte zweier Frauen,<br />

die einst gemeinsam aus Palästina flüchteten und sich<br />

nun wiedertreffen. „Out in The Dark“ handelt von einem<br />

palästinensisch-israelischen schwulen Liebespaar und der<br />

Dokumentarfilm „Invisible Men“ begleitet drei schwule Araber/<br />

Palästinenser auf dem Weg ins Exil.<br />

Edition Salzgeber<br />

s „Es hätte auch alles ganz anders kommen können“, ist der erste<br />

Satz in Lipstikka. Aus dem Off erzählt Lara, dass ihr Ehemann fremdgeht.<br />

Dass Lara dabei ganz andere Probleme hat, wird schnell klar –<br />

aber nicht, welche. Memory Fools ist der Untertitel von Lipstikka (was<br />

übrigens finnisch für Liebstöckel ist, sich aber auf einen wiederholt<br />

auftauchenden Lippenstift bezieht): Erinnerung ist trügerisch. Erinnerung<br />

an ihre Freundin und Geliebte Inam, mit der Lara in Ramallah<br />

(Palästina) aufwuchs, dann in London zusammenlebte und Sprachkurse<br />

besuchte, die dann aus ihrem Leben verschwand. Und auf einmal<br />

wieder auftaucht, in Laras neuer Lebensrealität mit Kind und<br />

Ehemann im gesichtslosen Londoner Vorort. Inam steht eines Morgens<br />

einfach vor Laras Tür, „Was willst Du hier?“, fragt Lara, lässt sie<br />

aber herein in die helle Wohnung, in ihre fast schon sterile Idylle.<br />

In Flashbacks erzählt der Film von der gemeinsamen Vergangenheit,<br />

doch die Rückblicke auf die erste Zeit in London und die<br />

Jugend in Palästina verstärken die Unklarheit. Wer liebte jetzt wen?<br />

Wie eng waren die Frauen? Was trieb sie auseinander? Die Ebenen<br />

verschwimmen. Zeigen die Rückblicke eine absolute Wahrheit oder<br />

eine gefühlte, konstruierte, zurechtgelogene? Die Erinnerung ist trügerisch,<br />

und so wird das Psycho-Drama fast zu einem Thriller. Vor<br />

dreizehn Jahren büxten Inam und Lara als Teenager aus, um in Israel<br />

in den neuesten Mel-Gibson-Film zu gehen – trotz elterlichen Verbots<br />

und Ausgangssperre. Auf dem Rückweg griffen zwei Soldaten sie auf.<br />

Ein Flirtversuch endet in einer Vergewaltigung, so zumindest eine<br />

der angebotenen Deutungen.<br />

Lipstikka lief unter dem Titel Odem vor zwei Jahren auf der Berlinale<br />

und wurde in der Kritik als tiefgründig und filmisch ambitioniert<br />

gewürdigt. Einen Skandal hatte der Film schon hinter sich:<br />

Regisseur Jonathan Sagall hatte die Geschichte eigentlich vor Shoah-<br />

Hintergrund erzählen wollen, mit den beiden Frauen als Überlebenden<br />

des Holocaust – basierend auf der Geschichte seiner Mutter.<br />

Der Regisseur machte aus den Jüdinnen aber Palästinenserinnen –<br />

und sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die israelische Besatzung der<br />

Palästinensergebiete mit dem Holocaust gleichzusetzen. Er wollte<br />

aber politisch sein: „Für uns ist der Nahost-Konflikt Alltag. Als Israeli<br />

wollte ich die menschliche Seite unserer direkten Nachbarn beleuchten.<br />

Und am besten ging das durch zwei junge Mädchen, die nichts<br />

mit dem Konflikt zu tun haben.“ Erst der politische Konflikt macht<br />

aus der Boy-meets-Girl-Situation nach dem Kino-Besuch ein Trauma.<br />

Ähnlich Out in the Dark: Eine klassische Boy-meets-Boy-<br />

Geschichte wird zum Drama. In einem Club in Tel Aviv kommen der<br />

Psychologie-Student Nimr aus Ramallah und der Rechtsanwalt Roy<br />

ins Gespräch, sie treffen sich wieder – und verlieben sich. Doch dann<br />

erpresst der Mossad Nimr: Wenn er seine Einreisegenehmigung für<br />

Israel behalten will, soll er seinen Bruder ausspionieren, der aktiv in<br />

18<br />

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kino<br />

kino<br />

gm-films<br />

pro-fun media<br />

„Invisible Men“ von Yariv Mozer<br />

„Out In The Dark“ von Michael Mayer<br />

einer militanten Palästinenser-Organisation ist. Nimr lehnt ab und<br />

kann Roy nicht mehr treffen. Dann wird Nimr in Ramallah geoutet<br />

und muss vor seinem Bruder flüchten. Er schlägt sich nach Tel Aviv<br />

durch und zieht bei Roy ein. Doch dann verhaftet die israelische<br />

Armee Nimrs Bruder und sucht nun auch Nimr …<br />

Die Geschichte von Israel als sicherem Ort für schwule Palästinenser<br />

wurde schon oft erzählt und hat es mit The Bubble von Eytan<br />

Fox schon vor Jahren ins <strong>Mai</strong>nstream-Kino geschafft. Out in the Dark<br />

erzählt die gleiche Geschichte ohne große Schnörkel, fast erwartbar.<br />

Um so erstaunlicher, dass der Film trotzdem berührt und gefangen<br />

nimmt. Vielleicht liegt das auch an den Bildern. Wo Lipstikka hell<br />

und kühl war, scheint Out in the Dark in warmen Farbtönen, man ist<br />

bei Partys oder im Wohnzimmer von Ramallah direkt dabei. Und die<br />

Figuren haben Ambivalenzen: Nimr verschweigt Roy die Sache mit<br />

seinem Bruder, Roy fürchtet um seine Stellung als Anwalt, die er erstmal<br />

nicht für Nimr aufs Spiel setzen möchte.<br />

Nachfühlbar auch in Deutschland ist die Frage des Andersseins<br />

als Schwuler – wenn auch Nimr als schwuler Palästinenser in Tel<br />

Aviv doppelt Minderheit ist. Oder nicht? „Als ich anfing in Tel Aviv<br />

auszugehen, dachte ich, die anderen Leute würden mich nur schwer<br />

akzeptieren“, erzählt Nimr an einer Stelle. „Aber dann habe ich herausgefunden,<br />

dass das Schwulen egal ist.“ Roy antwortet lakonisch:<br />

„Ein Schwanz ist halt ein Schwanz.“ Er meint das positiv, in der<br />

Schwulenszene sind alle gleich. Aber andersrum gilt: Wenn es nur um<br />

Schwänze geht, ist es egal, dass Nimr in Tel Aviv Hilfe braucht. Er<br />

hat im Film keine anderen Freunde, die ihm helfen. Nimrs Tragödie<br />

müsste eigentlich die Solidarität anderer Schwuler hervorrufen. Tut<br />

sie aber nicht. Irrt Nimr also? Ist der Gegensatz zwischen Palästinensern<br />

und Israelis stärker als schwule Solidarität?<br />

Eine Antwort darauf gibt der Dokumentarfilm The Invisible Men.<br />

Er begleitet drei schwule Palästinenser bzw. israelische Araber, die<br />

weder in Palästina noch in Israel bleiben können und in Europa Asyl<br />

beantragen. Hier ist klar: Ein schwules Leben in Palästina, ein palästinensisches<br />

schwules Leben in Israel ist nicht möglich. „Jede Woche<br />

flüchten Dutzende von schwulen Palästinensern nach Israel, wo sie<br />

sich wieder verstecken müssen, nicht als Homosexuelle, sondern als<br />

Palästinenser. Aus Sicherheitsgründen ist es weiterhin israelische Politik,<br />

sie sofort wieder in die Besetzten Gebiete abzuschieben, wo der<br />

sichere Tod auf sie wartet“, beginnt der Film, während im Hintergrund<br />

schnelle Fußtritte und ein Keuchen zu hören sind – hier ist jemand auf<br />

der Flucht. Es ist Louie, der seit zehn Jahren in Tel Aviv lebt, ab und<br />

zu von der Polizei aufgegriffen und in den besetzten Gebieten wieder<br />

ausgesetzt wird, um dann irgendwie wieder nach Tel Aviv zurück zu<br />

kommen. Louie hat Freunde, die ihn abholen, die es in Out in the Dark<br />

nicht gibt. Und Louie will eigentlich nicht fort, er kann sich ein Leben<br />

woanders nicht vorstellen. Obwohl er Narben im Gesicht hat, weil sein<br />

Vater ihn mit einem Messer angriff, als er sich outete. Und obwohl er<br />

einen Davidstern als Tarnung um den Hals tragen muss.<br />

Der Film begleitet Louie zu Hilfsorganisationen, die ihm ein<br />

Schreiben ausstellen, falls die Polizei ihn wieder aufgreift, mit der<br />

Information, dass er mit dem Tode bedroht wird, mit Nummern von<br />

Anwälten. Doch mehr können sie nicht tun: Es gibt kein Asyl in Israel<br />

für schwule Palästinenser. Und anders als in Deutschland können sie<br />

sich auch nicht durch Heirat eine Aufenthaltsgenehmigung verschaffen:<br />

Es gibt in Israel keine Zivilehe.<br />

Ähnlich wie Louie geht es auch Abdu und Faris. Sie sind auf der<br />

Flucht, weil ihre Eltern sie herausgeworfen haben und sie in Israel<br />

nicht willkommen sind. The Invisible Men zeigt das Schicksal der drei<br />

Männer eindrücklich, auch anders als in Out in The Dark. Dort verstecken<br />

sich Palästinenser auf einem Dach, haben es sich freundlich<br />

hergerichtet mit Möbeln und gespannten Tüchern. Als Louie auf der<br />

Flucht ist, schläft er auf einer dreckigen Matratze neben einem Haufen<br />

Sperrmüll, Fliegen krabbeln über seine Beine. Insofern gehören<br />

die beiden Filme zusammen: So ist die Romanze, und so ist es wirklich.<br />

Als sich am Ende Louie, Abdel und Faris in einem Bergdorf in<br />

Europa treffen, atmet man auf.<br />

Gleichzeitig ist das auch nicht das ganze Bild, sondern sei nur<br />

ein Teil des israelischen „Pinkwashing“, wie Aktivist_innen vor Ort<br />

bemängeln. Je stärker palästinensische Schwule als verfolgt dargestellt<br />

werden, desto besser steht Israel da. Dabei sei auch die Situation<br />

in Palästina komplex, große Städte wie Ramallah oder Nablus<br />

seien toleranter. Dem könnte man entgegnen, dass Israel in keinem<br />

der Filme wirklich gut wegkommt. Um die Kritik aufzunehmen,<br />

müsste ein nächster Film mal die Situation von Schwulen und Lesben<br />

betrachten, die in Palästina leben können – falls es sie gibt. s<br />

Lipstikka<br />

von Jonathan Sagall<br />

US/IL 2011, 90 Minuten,<br />

englische OF mit deutschen UT<br />

Edition Salzgeber,<br />

www.salzgeber.de<br />

Im Kino in der L-Filmnacht<br />

im April, www.L-Filmnacht.de<br />

Out in The Dark<br />

von Michael Mayer<br />

IL/US 2012, 96 Minuten,<br />

deutsche SF / OmU<br />

Pro-Fun Media,<br />

www.pro-fun.de<br />

Im Kino ab 9. <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

Invisible Men<br />

von Yariv Mozer<br />

IL/NL 2012, 69 Minuten,<br />

ara<strong>bis</strong>ch-englisch-hebräische OF<br />

mit deutschen UT<br />

GM-Films, www.gmfilms.de<br />

Im Kino ab 26. <strong>März</strong> <strong>2013</strong><br />

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kino<br />

kino<br />

Go for Gold<br />

von Tania Witte<br />

Zwei Frauen beschließen, gemeinsam ein Kind zu zeugen. Einen „dokumentarischen Spielfilm“ nennt Anne<br />

Zohra Berrached ihre aus dokumentarischen und inszenierten Elementen kunstvoll verzahnte Nahaufnahme<br />

eines les<strong>bis</strong>chen Paares, das an einer rechtlichen Unklarheit und am inneren und äußeren Druck verzweifelt,<br />

den ihr einfacher und naheliegender Wunsch auslöst. Auf der Berlinale wurde „Zwei Mütter“ mit dem Preis<br />

der Perspektive Deutsches Kino, „Dialogue en perspective“, ausgezeichnet.<br />

Zwei Mütter<br />

von Anne Zohra Berrached<br />

DE <strong>2013</strong>, 75 Minuten, deutsche OF<br />

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />

Im Kino in der L-Filmnacht im <strong>Mai</strong>,<br />

www.L-Filmnacht.de<br />

Kinostart: Ende <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />

www.zweimuetter.de<br />

Edition Salzgeber<br />

s Ein Paar beim Sex. Echt und nah und glaubwürdig. Könnte so oder<br />

so ähnlich hier oder da stattfinden. Und dann, währenddessen, die<br />

Frage: Was wäre, wenn aus dieser Liebe ein Kind entstehen würde?<br />

Namenssuche und die unvermeidliche Zigarette danach. Auch das<br />

könnte, so oder so ähnlich, gerade nebenan stattfinden. Dass die<br />

Geliebten zwei Frauen sind, nimmt der Situation die Schwerelosigkeit.<br />

Aber doch: Wir leben in Deutschland, <strong>2013</strong>, was spricht dagegen,<br />

diese Liebe mit einem Kind zu besiegeln? Nichts, finden Katja (Sabine<br />

Wolf) und Isabella (Karina Plachetka) und beschließen, den Traum<br />

wahr werden zu lassen.<br />

In ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm Zwei Mütter folgen<br />

Regisseurin Anne Zohra Berrached und ihr Team den beiden Frauen<br />

auf dem Weg zur Wunscherfüllung. Die Handlung ist frei erfunden,<br />

basiert aber auf Fakten – so wahr, wie sie nur sein können. Isas Telefonmarathon<br />

mit Ärzten, Beratungszentren und Kinderwunschkliniken<br />

ist beklemmend real und ihr schwant, dass der Kinderwunsch zu<br />

einem alltagsfüllenden Projekt werden könnte.<br />

Als ihre Partnerin Katja einen Arzt findet, der die Befruchtung<br />

vornehmen würde, stellt sich heraus, dass eine Enddreißigerin ohne<br />

Ausbildung und mit Minijob und die Filialleiterin einer Videothek<br />

sich schon wegen ihrer Einkommensverhältnisse keine Chancen<br />

ausrechnen dürfen. Der Anwalt, den sie auf Wunsch des Arztes im<br />

Vorfeld aufsuchen müssen, erklärt ihnen nämlich unmissverständlich,<br />

dass sie ein Einkommen von mindestens 3.500 Euro pro Partnerin<br />

nachweisen müssen, um von seinem Mandanten inseminiert<br />

zu werden.<br />

„Aber ich fühle mich ungerecht behandelt!“, sagt Isa.<br />

„Dafür bin ich der falsche Ansprechpartner“, erwidert der<br />

Anwalt, der sich selbst spielt und ja irgendwie auch nichts dafür<br />

kann. Weil es vor dem Gesetz eben so ist, dass der Mensch, der den<br />

Samen in die Frau bringt, der Vater ist. Also, theoretisch. Es sei denn,<br />

die Frau ist mit einem Mann verheiratet, dann ist der Ehemann der<br />

Vater. Immer, und egal, wie nachdrücklich und einvernehmlich<br />

beide Ehepartner widersprechen mögen. Aus diesem Grund tun sich<br />

die Kliniken so schwer damit, Frauenpaare zu befruchten. Denn,<br />

auch das rein theoretisch, das werdende Kind und die werdenden<br />

Mütter könnten den Arzt auf Unterhalt verklagen. So sieht es aus.<br />

Folglich gibt es eine künstliche Befruchtung nur für heterosexuelle,<br />

verheiratete Paare oder Lesben, die es sich leisten können. Pech für<br />

Isa und Katja.<br />

Und weiter.<br />

Gerade mal eine Handvoll Ärzte gibt es in Deutschland, die Frauenpaare<br />

befruchten – einer davon erklärt sich bereit, Isa zu inseminieren.<br />

Ein Happy End zeichnet sich ab. Doch viele Monate und ebenso<br />

viele Befruchtungen später ist das Konto geplündert, eine Schwangerschaft<br />

aber noch immer nicht in Sicht. Immerhin hatte dieser Arzt<br />

die beiden vorgewarnt: In 70 <strong>bis</strong> 80 Prozent der Fälle verläuft eine<br />

Insemination erfolglos. Auch bei heterosexuellen Paaren besteht bei<br />

Sex am perfekten Tag lediglich eine 25- <strong>bis</strong> 27-prozentige Chance auf<br />

eine erfolgreiche Befruchtung.<br />

Wo Katjas Kräfte schwinden und sie ans Aufgeben denkt, sucht<br />

Isa ver<strong>bis</strong>sen weiter nach neuen, kostengünstigen Möglichkeiten.<br />

Im Internet trifft sie auf jemanden, der Inseminationssets für den<br />

les<strong>bis</strong>chen Hausgebrauch verkauft. Und wieder: Hoffnung. In einem<br />

Privathaus erklärt ein fremder, heterosexueller Mann den beiden<br />

Frauen, wie sie sich das Sperma einzuführen haben, damit alles seinen<br />

Lauf nimmt, und gibt zudem Ratschläge, auf welcher Internetseite<br />

sich Spender finden lassen. Eine Szene, wie sie in dieser Skurrilität<br />

nur das Leben schreiben kann – und nicht zufällig spielt sich auch<br />

dieser Protagonist selbst.<br />

Und wieder findet Katja, wann immer sie nach Hause kommt, ihre<br />

Frau vor dem Computer kauernd, wo sie Vor- und Nachteile jedes einzelnen<br />

Spenders abwägt. Isas fast neurotischer Eifer schleicht sich in<br />

die Beziehung der beiden. Dennoch geht Katja den Weg weiter mit<br />

– aus Liebe und obgleich sich ihr Zweifel aufdrängen. Zweifel ob des<br />

Geldes, Zweifel auch ob ihrer eigenen Rolle in dem Familienmodell.<br />

„Du <strong>bis</strong>t die Mutter, und dann kommt noch ein zweiter dazu, das ist<br />

der Vater, und was bin ich denn dann?“, wird sie Isa wenig später<br />

fragen. Eine Antwort bleibt aus, weil der nächste Spender schon auf<br />

Begutachtung wartet.<br />

Sie treffen die Männer im Sushiladen und im Fastfoodrestaurant<br />

und begegnen den Abgründen, die hinter den Anzeigen lauern.<br />

Sperma gegen Sex ist die Offensichtlichste. Angesichts der Realität<br />

rückt Isa Stück für Stück von den gemeinsam festgesetzten Regeln<br />

ab – dass sie das Angebot, mit einem Spender zu schlafen, überhaupt<br />

ernsthaft erwägt, zeigt nicht nur ihre Verzweiflung, sondern auch<br />

eine Rücksichtslosigkeit, die Katja überrascht. Für Isa wird der Kinderwunsch<br />

zur Obsession, zum einzig möglichen Fokus, zum Egotrip,<br />

dem zu opfern sie alles bereit ist. Auch ihre Partnerschaft. Aus dem<br />

gemeinsamen Wunsch wird eine Stolperfalle für die Beziehung.<br />

Der letzte Spender, den sie treffen, nennt sich „Go for Gold“ und<br />

hat nach eigener Aussage in drei Jahren 20 Kinder gezeugt. Isa setzt<br />

sich ein weiteres Mal über die getroffenen Abmachungen hinweg<br />

und sichert ihm zu, das Kind sehen zu dürfen. Katja spritzt Isa das<br />

Sperma. Was folgt, ist eine Szene eindringlicher Traurigkeit: Isa will<br />

unbedingt einen Orgasmus, weil das die Fruchtbarkeit steigert und<br />

Katja, überfordert und gedemütigt, zieht sich zurück. Während Isa<br />

beseelt masturbiert, steht Katja in der Küche und raucht.<br />

Und so sind die Gefühle des Liebespaares<br />

und die Veränderungen in ihrer Beziehung<br />

das eigentlich Spannende an dem Film<br />

Berrached verwebt Realität und Fiktion zu einem dokumentarischen<br />

Spielfilm – sie nimmt Gesetzeslage, Statistiken und Prognosen,<br />

vermischt sie mit Wunschbildern und lässt ihre Protagonistinnen<br />

mehr als einmal an der Wirklichkeit scheitern. Das Drehbuch fußt<br />

auf Gesprächen mit und Erfahrungsberichten von les<strong>bis</strong>chen Paaren<br />

und das macht die Geschichte in weiten Teilen so schmerzhaft real.<br />

Zwei Mütter balanciert auf der Grenze zwischen den Genres – die<br />

Farben, die Kameraarbeit, die Protagonist_innen, die sich teils selbst<br />

spielen, teils Schauspieler_innen sind, die Art der Dialogführung –<br />

alles, wirklich alles atmet Dokumentationscharakter. Das ist sicherlich<br />

nicht nur gewollt, sondern vor allem dem Budget geschuldet; ihr<br />

Ziel erreicht Berrached dadurch erst recht. Der Film öffnet den Blick,<br />

ohne den Zeigefinger allzu großräumig zu schwenken. Ohne ein<br />

Übermaß an Klischees zu bemühen entsteht eine feine Nähe zu den<br />

beiden Protagonistinnen, die von Sabine Wolf und Karina Plachetka<br />

pur und überzeugend dargestellt werden.<br />

Und so sind denn auch die Gefühle des Liebespaares und die Veränderungen<br />

in ihrer Beziehung das eigentlich Spannende an dem<br />

Film. Der leidvolle Weg, auf dem das „Wir“ sich wieder in „Du“ und<br />

„Ich“ aufspaltet und das „Du“ sogar zum Druckmittel wird … Es ist<br />

kein Zufall, dass Isa sich immer wieder verspricht: „Ich will“, sagt<br />

sie dann und korrigiert sich rasch: „Ich meine wir. Wir wollen!“ Und<br />

erinnert ihre Frau mit dem Totschlagargument: „Du wolltest das<br />

doch auch.“ Am Ende bleibt Entfremdung, Einsamkeit, Stille.<br />

Zwei Mütter ist ein Film, der Menschen(paaren), die sich vergeblich<br />

ein Kind wünschen, schmerzlich vertraut vorkommen<br />

wird. Bestenfalls verblassen Diskussionen darüber, was „natürlich“<br />

bedeutet und was „normal“ und die Zuschauenden kommen zu dem<br />

Schluss, dass Liebe und der Wunsch, sie weiterzugeben, diese Kategorien<br />

nicht braucht. Das schafft Raum für die andere Ebene: die<br />

Geschichte von unkontrollierbarem Sehnen, von Liebe und dem Verlust<br />

der Zweisamkeit – gefangen in einem Film, in dem der Anfang<br />

über das Ende stolpert.<br />

s<br />

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kino<br />

kino<br />

Aufgeladen mit Zeit<br />

von Gunther Geltinger<br />

Drei Männer aus drei Generationen treffen in Nanouk Leopolds bewegend stillstehender Adaption des<br />

Romans „Oben ist es still“ von Gerband Bakker in einem Hof in der niederländischen Provinz aufeinander.<br />

Der gleichnamige Spielfilm mit dem überraschend im Dezember verstorbenen Jeroen Willems in einer<br />

seiner letzten großen Rollen war auf der diesjährigen Berlinale zu sehen und startet Ende <strong>Mai</strong> / Anfang Juni<br />

deutschlandweit in den Kinos.<br />

Edition Salzgeber / Victor Arnolds<br />

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kino<br />

kino<br />

Edition Salzgeber / Victor Arnolds<br />

Edition Salzgeber / Victor Arnolds<br />

s Schilf und Gras, so weit das Auge reicht. Ein paar Schafe, Gräben<br />

mit dunklem Wasser, ein Deich. Dort ein Horizont, unbedeutend, weil<br />

die Landschaft dahinter vermutlich genauso leer ist wie die davor.<br />

Helmers Blick schweift, ohne zu suchen. Er ist ein großer Mann in<br />

der Mitte des Lebens, das seinem Gesicht markante Züge verliehen<br />

und ihm das dichte schwarze Haar nicht genommen hat. Trotz seines<br />

kräftigen Körpers bricht er auf der steilen Treppe fast zusammen, als<br />

er den kranken Vater hinaufschleppt, über die Schultern gelegt wie<br />

ein totes Stück Vieh. Er schafft ihn zum Sterben nach oben, in das<br />

Stockwerk, wo Helmer zuvor selbst gewohnt hat. Die alte, stehengebliebene<br />

Standuhr kommt mit.<br />

Die Geräusche des Umzugs im Haus, das Rumpeln und Renovieren,<br />

dominieren die ersten Filmminuten und erzählen all das, was<br />

Vater und Sohn, die sich noch nie viel zu sagen hatten, nicht miteinander<br />

ausmachen: den Überdruss, die Langeweile, die Angst vor dem<br />

Tod, der gleichzeitig, als durch den Zimmertausch endlich Bewegung<br />

in das Haus kommt, zum Weg wird, eine Perspektive – Tapetenwechsel.<br />

Und doch bleibt es merkwürdig still auf diesen Bildern, es ist die<br />

Stille des Wartens, der geblähten Zeit. Helmer räumt auf. Doch wie<br />

er energisch alte Erinnerungsstücke und blühende Zimmerpflanzen<br />

auf den Misthaufen wirft, wirkt sein Trotz hilflos, verzweifelt; dieses<br />

Haus lässt sich nicht mehr modernisieren, die alten Geister wohnen<br />

tief im Gemäuer. Ein Ölgemälde mit Schafen, alte Fotos an der<br />

Wand des Zimmers, wo einst der Bruder wohnte, das vergilbte Bild<br />

einer Schöpfmühle, die für die beiden Brüder einmal eine Bedeutung<br />

gehabt haben muss, all die Gegenstände, die einst zu nahestehenden<br />

Menschen gehörten und diese noch immer verkörpern, heute sind sie<br />

seelenlos, Avatare aus einer versunkenen Welt, ohne Geschichte, die<br />

sie erzählen könnten, weil sie nur noch Vergangenheit sind, kondensiert<br />

zu Staub und Stille.<br />

Zu Beginn seines gleichnamigen Romans beschreibt Gerbrand<br />

Bakker diesen Blick, der sich im Erinnern aus dem Jetzt rückwärts<br />

richtet und dabei, gespiegelt von einem Ding oder Menschen, der<br />

uferlosen Gegenwart eine Richtung verleiht, Grenze oder Horizont;<br />

es ist das Gesetz des biographischen Erzählens. In der Romanszene<br />

steht Helmer vor dem Wohnhaus, als an einem Sommertag zwei Jungen<br />

mit entblößtem Oberkörper in einem Kanu auf einem der Kanäle<br />

vorbeifahren, die, gespeist vom Ijsselmeer, das Waterland durchziehen.<br />

Sie betrachten den Hof, der „zeitlos“ sei, sagt der eine, „der<br />

könnte von heute sein, aber genauso gut von 1967 oder 1930.“ Die<br />

Esel, die auf der Koppel stehen, nennt der andere „altmodisch“. Dabei<br />

sieht er Helmer vorm Haus, „einen Bauern schon recht fortgeschrittenen<br />

Alters in einem verschossenen blauen Overall (…), der an der<br />

Seitenmauer eines Bauernhofs stand, im Schatten, und dort nichts zu<br />

tun hatte, außer zu beobachten, reglos, mit angehaltenem Atem“, so<br />

beschreibt der Ich-Erzähler, was der rotblonde Junge wahrnimmt;<br />

es ist der von den Augen des anderen zurückgeworfene und so erst<br />

mit Leben gefüllte Blick Helmers auf sich selbst, die unüberbrückbare<br />

Kluft zwischen dem Damals und dem Heute, zwischen dem Jungen<br />

und dem Alten, zwischen Begehren und Erstarren, Bewegung und<br />

Stillstand. Die Jugendlichen ziehen mit sonnenverbrannten Schultern<br />

weiter, Helmer, immer noch an der Mauer, bleibt zurück. „Der<br />

Rest des Nachmittags“, heißt es im Roman, „war unwirklich und leer.“<br />

Die Natur geht verschwenderisch mit dem<br />

Leben um, doch sie geizt mit dem Glück<br />

Dieser gebrochene und gespiegelte Blick auf die Hauptfigur ist das<br />

einzige, was die niederländische Regisseurin Nanouk Leopold direkt<br />

aus Bakkers Roman übernimmt, in dem die Vergangenheitserzählung<br />

mehr als die Hälfte der Geschichte beansprucht. Ihrer Biographien<br />

fast gewaltsam entrissen und in ein ewiges Jetzt gesperrt, wo nur<br />

die Gegenstände lose Eckpunkte eines früheren Lebens markieren,<br />

bewältigen die Protagonisten im Film ihren Arbeitsalltag auf dem<br />

Bauernhof, ihre schwerfälligen Bewegungen stemmen sich gegen die<br />

Zeitlast, die sie zu erdrücken scheint; auch Ada, die Nachbarin, hat<br />

sich längst dem Trott ergeben, und ihre Kinder tragen nicht wirklich<br />

eine Hoffnung: Wie sie ganz im Hier und Jetzt spielen, die Esel strei-<br />

cheln oder ungeduldig auf die Geburt der Lämmer warten, wissen sie<br />

noch nicht, was auch ihnen später einmal bevorsteht.<br />

Aber Helmer weiß es. Das Lamm wird tot geboren, er wirft es zu<br />

den anderen Kadavern unter das Blech; die Natur geht verschwenderisch<br />

mit dem Leben um, doch sie geizt mit dem Glück. Als Helmer<br />

den Vater wäscht und neu ankleidet, breitet der seine mageren weißen<br />

Arme aus, hängt für einen Moment im Bild wie ein Kreuz. Ich will sterben,<br />

sagt er, und Helmer: Jetzt, wo du so schön sauber <strong>bis</strong>t? Im Baum<br />

vor dem Fenster sitzt seit einigen Tagen eine Nebelkrähe, das Gefieder<br />

des Todesvogels, der auf den Vater wartet, ist mehr weiß als schwarz.<br />

Dann liegt Helmer auf seinem Bett in seinem neuen Zimmer, untätig,<br />

wie selbst zum Sterben bereit. Die Kamera wandert an ihm herab<br />

zum Unterleib, die Körpermitte vital, lebenshungrig, eingezwängt<br />

zwischen Sehnsucht und Verweigerung; nach dem Duschen stellt er<br />

sich nackt vor den Spiegel. Während er onaniert, ist sein Blick starr<br />

geradeaus gerichtet. Bloß nicht nach unten schauen, nicht sehen, was<br />

da pulst und sich aufbäumt.<br />

Der Milchfahrer aber, auch schon jenseits der Lebenshälfte, mit<br />

grauem Bart und Bauch, hat es an Helmer gesehen, obwohl der sich<br />

stets in den Stall verdrückt, wenn der andere die tägliche Milchration<br />

in seinen Tanklaster pumpt. Er habe ihn die letzten Male vermisst,<br />

sagt er zu Helmer, als er ihm schließlich doch noch in der<br />

Milchkammer begegnet. Die Sympathiebekundung, seine fragenden,<br />

einladenden Blicke fallen ins Leere; er habe mit seinem kranken<br />

Vater zu tun, weist Helmer ihn zurück und ist dabei so unglücklich<br />

über diese Abfuhr, so wütend auf sich selbst. Im Smalltalk, der<br />

Liebesgeständnis sein will und es nicht kann und darf, erzählt der<br />

Milchfahrer vom unerwarteten Tod seines Kollegen Arie, der kurz<br />

vor der Rente an einem Herzanfall starb, und auf der Beerdigung,<br />

wo alle Bauern der Gegend zusammenkommen, versucht die Nachbarin<br />

Ada vergeblich, das Gespräch zwischen den beiden in Gang zu<br />

bringen; auch sie hat längst gesehen, was Helmer so grimmig zu verdrängen<br />

versucht.<br />

Seine fehlgegangene Sehnsucht bekommt dann der Vater zu spüren:<br />

Die Griffe, die ihn im Bett aufsetzen, gleichen hilflosen Liebkosungen,<br />

irgendwann irrgelaufen und zu Ruppigkeit und Grobheit verzerrt<br />

drängen sie hin zum Vater und fliehen gleichzeitig vor seinem<br />

ausgemergelten, dem Tode geweihten Körper, dem Piss im Bett, der<br />

schlaffen, an den Armen und Beinen entzündeten Haut. In diesen<br />

fast zärtlichen Einstellungen, nahen Kamerablicken, die den Alten,<br />

weil der Sohn es nicht kann, fast zu streicheln scheinen, gewinnt der<br />

überkommene Vaterleib eine eigentümliche Anmut, auch etwas Trotziges,<br />

Rebellisches; da ist ein im Leben zu kurz gekommener Mann im<br />

Körper eines Greises, der jetzt gehalten, geliebt, vielleicht sogar noch<br />

einmal begehrt werden will.<br />

Schon in ihrem letzten Film Brownian Movements setzt Nanouk<br />

Leopold die Körper der Entstellten auf eine ästhetische, den Ekel<br />

entmachtende Art in Szene: die Großnasigen, Fettleibigen und Ganzkörperbehaarten,<br />

die sich die junge Ärztin, gespielt von Sandra Hüller,<br />

als Liebhaber aussucht, obwohl oder gerade weil der Mann, mit<br />

dem sie eine glückliche Ehe führt, so schön ist, dass sein Anblick fast<br />

schmerzt. Später wird Helmer, zusammengekrümmt auf dem Boden<br />

wie ein Kind, eine hervorgetretene Ader an der Totenhand des Vaters<br />

streicheln, eine scheue, staunende, in ihrer Unschuld noch gänzlich<br />

offene Berührung, ähnlich wie auch Sandra Hüller in Brownian<br />

Movements staunend über ihre eigene unerklärliche Begierde in die<br />

Kamera lächelt, während sich der monströse Leib ihres übergewichtigen<br />

Liebhabers auf ihren zarten, hellen Körper senkt.<br />

Schmerzhaft, ja fast unerträglich zart und hell auch das Gesicht<br />

des Knechts Henk, den Helmer sich eines Tages als Arbeitskraft auf<br />

den Hof holt. Bei Bakker trägt er die zentrale Geschichte, er ist die<br />

Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Leben und<br />

Tod. Leopold aber drängt ihn in den Hofalltag wie einst Pasolini in<br />

Teorema den geheimnisvollen Gast in die bürgerliche Familie, wo<br />

er alle verführt, vom Vater <strong>bis</strong> zur Dienstmagd, allein um des Verführens<br />

willen, die Geliebten aber wirft er zurück auf ihre nackte<br />

Existenz, ihre Sehnsüchte und Ängste. Henk ist schön und jung,<br />

unerhört jung, zu jung, um schon eine Vergangenheit zu haben. Er<br />

ist das geballte Leben, das kommen muss, die Veränderung, ohne die<br />

der Vater nicht sterben und Helmer nicht zu fühlen beginnen kann.<br />

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kino<br />

kino<br />

Er taucht auf ohne Herkunft und Geschichte, doch aufgeladen<br />

mit Zeit, wie die Dinge im Haus, wie das Bild der<br />

Schöpfmühle, unter dem er fortan schläft, im hergerichteten<br />

Zimmer von Helmers verstorbenem Bruder. Henk<br />

setzt das stehen gebliebene Pendel der Uhr wieder in<br />

Bewegung, und Helmer kann es nicht verhindern, dass<br />

der Junge ihn rührt.<br />

Wie er im Bad an Henks Sachen schnüffelt, seinem<br />

Haargel, dem After-Shave, und dabei brummende Laute<br />

von sich gibt, verächtliche oder wohlige, hat Helmer<br />

plötzlich selbst etwas von einem Vater, der sich über die<br />

jugendliche Naivität seines Sohnes lustig macht, und<br />

auch etwas von der Geziertheit eines verschmähten Liebhabers.<br />

Jetzt ist da plötzlich Henk mit seinen jungen,<br />

anpackenden Händen auf der einen, der immer magerer<br />

werdende, zusehends verschwindende Körper des Vaters<br />

auf der anderen Seite. Ein Blick Helmers, vom Fenster<br />

aus zum Hof, wo Henk arbeitet, und zurück zum Bett,<br />

in dem der Vater liegt, verbindet die beiden und hält sie<br />

gleichzeitig voneinander fern, eifersüchtig und misstrauisch.<br />

Henk verkörpert das Begehren, das zurückgewiesen<br />

werden muss, weil er keine andere Aufgabe hat, als<br />

für Helmer das neue Leben zu sein, der Luftzug in der<br />

Glut eines fast erloschenen Feuers. Ein kräftiger Junge,<br />

sagt der Milchfahrer lächelnd, für den der Knecht ebenso<br />

Katalysator ist; an ihm, durch ihn erkennt er, dass Helmer<br />

noch oder jetzt wieder in Schwingung ist, angestoßen<br />

durch Henks Kraft.<br />

Das nächste Lamm wird lebend geboren. Auf den<br />

Kacheln der Abfüllkammer bleiben Milchreste zurück.<br />

Helmer und der Fahrer kommen sich bei den alltäglichen<br />

Verrichtungen an der Melkmaschine körperlich näher,<br />

ohne dass tatsächlich Nähe entsteht. Doch sie spüren<br />

beide, dass etwas ins Rollen gekommen und nicht mehr<br />

aufzuhalten ist. Lange saugt das Kalb am Finger des<br />

Knechts, während Helmer im Hintergrund zuschaut,<br />

vielleicht die erotischste Szene dieses Films, in dem die<br />

Männer mit ihren Körpern so hilflos umgehen, während<br />

sie ihr Vieh routiniert-zärtlich anfassen, als wären Kuh,<br />

Schaf und Esel alte, ein wenig lästig gewordene Geliebte.<br />

Dann verkündet der Milchfahrer plötzlich, dass er die<br />

Gegend verlässt. Die erste körperliche Berührung zwischen<br />

Helmer und ihm ist der Handschlag zum Abschied.<br />

Im Stall legt Helmer sich ins Stroh und presst sich das<br />

Lämmchen an die Brust. Henk aber, der nachts plötzlich<br />

zu ihm ins Bett steigt, weist er zurück, um den Jungen,<br />

der sich weinend abwendet, dann doch noch in die Arme<br />

zu schließen, während Henk ihm übers Gesicht streichelt,<br />

vorsichtig, zaghaft, als könnte der starke Körper<br />

des Mannes, wenn er ihn zu fest, zu fordernd berührt, in<br />

seinen jugendlichen Händen zerbrechen, so, wie die Zeit<br />

in der Redewendung zwischen den Fingern zerrinnt.<br />

Von diesen Händen erzählt Helmer dem todkranken<br />

Vater, dessen eigene Hände, so der Sohn, nur zum Schlagen<br />

nützlich waren. Die Nebelkrähe erschießt Henk<br />

nicht, obwohl er das Gewehr auf sie richtet. Stattdessen<br />

verlässt er den Hof, so unangekündigt wie er gekommen<br />

ist. Was er jetzt machen wolle, fragt Helmer ihn noch.<br />

Mal sehen, erwidert Henk; glücklich werden vielleicht –<br />

doch das sagt nur sein Blick, bevor er davonradelt.<br />

Vierzehn Lämmer auf zehn Mutterschafe hat dieser<br />

Frühling gebracht. Der Vater brachte es auf zwei Söhne;<br />

der eine, den er mehr liebte, wie beide, Vater und Sohn,<br />

wissen, ertrank, der andere übernahm gezwungenermaßen<br />

den Hof, den er leidenschaftslos führt. Keine Enkel,<br />

keine Zukunft; eine schlechte Ausbeute für ein so langes<br />

Leben, insgesamt. Zum Sterben wenigstens soll Helmer<br />

ihm noch ein hart gekochtes Ei bringen. Der Vater<br />

hat Hunger. In der nächsten Szene ist das Wohnzimmer<br />

ungewöhnlich hell, man hat das Gefühl, in einem anderen<br />

Haus zu sein, eine Einstellung wie nach einem Zeitsprung.<br />

Oben ist es jetzt still.<br />

Man kann in Nanouk Leopolds Romanadaption den<br />

Geschichtenreichtum der literarischen Vorlage vermissen,<br />

die ineinander verschränkten Schichtungen von Vergangenheit<br />

und Gegenwart, die zentrale Erzählung um<br />

Helmers geliebten Zwillingsbruder, dem Henk, der junge<br />

Knecht, so sehr gleicht und dessen Namen er sogar trägt.<br />

Man kann es für unglaubwürdig halten, dass in diesem<br />

gottverlassenen, nur von Bauern besiedelten Landstrich<br />

alle Männer, die auftreten, schwul sind, und daran scheitern,<br />

die gestörte Vater-Sohn-Beziehung als psychologische<br />

Folie für das verhinderte Coming-Out eines in die<br />

Jahre gekommenen Mannes sehen zu wollen. Man kann<br />

den Film unterm Mikroskop der detail- und personenreichen<br />

Romanhandlung betrachten und wird sich im weitwinkligen<br />

Panorama der Bilder verloren fühlen. Kein<br />

Roman und kein am romanhaften Erzählen orientiertes<br />

Drehbuch führt hier die Figuren, sondern die Zufälle<br />

eines Schicksals, aus dem Nirgendwo irgendwohin.<br />

Der Milchfahrer ist zurückgekommen, zur Beerdigung<br />

des Vaters. Hat Helmer ihn doch noch angerufen?<br />

Er trägt Wunden im Gesicht, die ihm wehtun. Woher<br />

stammen sie? Das Leben selbst hat sie geschlagen, könnte<br />

die Antwort sein, die der Film nicht mehr gibt. Es kennt<br />

alle Fragen und kontert unerbittlich. Jeroen Willems, der<br />

so kraftvolle, so lebendige Darsteller des Helmer, starb<br />

wenige Wochen nach Abschluss der Dreharbeiten an<br />

einem Herzanfall. Er wurde nur fünfzig Jahre alt, acht<br />

Jahre jünger als im Film Arie, der Kollege des Milchfahrers,<br />

von dem wir nichts kennen als seinen Namen und<br />

die Umstände seines Todes, ein schmaler, verschwindend<br />

kleiner Ausschnitt eines menschlichen Daseins wie ein<br />

zitternder Schilfhalm in der weiten, leeren, horizontschweren<br />

Landschaft der Zeit.<br />

s<br />

Gunther Geltingers langerwarteter zweiter Roman „Moor“<br />

erscheint, wie schon die Taschenbuchausgabe seines ersten,<br />

„Mensch Engel“, bei Suhrkamp (September <strong>2013</strong>).<br />

Sämtliche Romane von Gerbrand Bakker sind in deutscher<br />

Übersetzung ebenfalls bei Suhrkamp erschienen, darunter<br />

natürlich auch „Oben ist es still“.<br />

Oben ist es still<br />

von Nanouk Leopold<br />

NL/DE <strong>2013</strong>, 93 Minuten,<br />

deutsche SF, niederländische OF mit<br />

deutschen UT<br />

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />

Im Kino im <strong>Mai</strong>/Juni <strong>2013</strong><br />

Let’s talk about<br />

age, baby<br />

von Biru David Binder<br />

Als Ort mit einer klassischen Infrastruktur zur operativen Geschlechtsangleichung<br />

war Casablanca lange Zeit ein Mythos. Der Dokumentarfilm „I Am a Woman Now“<br />

befragt fünf Transfrauen, was sie dort und damit erlebt haben.<br />

s Das Leben ist schön! Um diese alltägliche<br />

Ungeheuerlichkeit aus Angst vor ihrem<br />

Entschwinden prophylaktisch auszubalancieren,<br />

schrieb ich den ersten Absatz zum<br />

Dokumentarfilm von Michiel van Erp, die,<br />

wie ich beim ersten Lesen des Filmtitels in<br />

mir aufschreien hörte, i-di-otischer-wei-se I<br />

Am a Woman Now heißt. Die erste Einleitung<br />

ist gemein, ein <strong>bis</strong>schen amüsiert. Sie geht so,<br />

die erste Einleitung:<br />

Ein Dokumentarfilmtitel wie I Am a<br />

Woman Now scheint vortrefflich gewählt,<br />

changierend zwischen der Absurdität, die<br />

eigene geschlechtliche Identität zu verzeitlichen<br />

(„now“), und dem Glück derer, die sie<br />

sich als Zeit, die ihre, erkämpften. Das „jetzt“<br />

zieht eine scheinbare Grenze zwischen aller<br />

Zeit zuvor, als Mädchen, als Kind, zum Beispiel.<br />

Weiß mensch, dass es in I Am a Woman<br />

Now um die Lebensgeschichte von fünf<br />

Transfrauen geht, die eine vor Jahrzehnten<br />

unternommene Reise zu einem mittlerweile<br />

verstorbenen Genitalchirurgen aus Casablanca<br />

verbindet, dann kräuseln sich die<br />

Fußnägel in der gedanklichen Verlängerung<br />

von „pussy = woman“. Einige Trans* dürften<br />

an dieser Stelle vermeintlicher Kausalität<br />

müde lächeln <strong>bis</strong> zynisch auflachen. Einige<br />

supermegalo-natürliche Frauen wie Männer<br />

und alle anderen Geschlechter hoffentlich<br />

ebenso. Allen denen, die bei dieser Gleichung<br />

heftig mit dem Kopf nicken, kann nach allen<br />

Regeln der Wahrscheinlichkeit sowieso<br />

nicht geholfen werden. Dream on!<br />

Das Einzige, was den Verfasser jetzt noch<br />

retten kann, ist ein zweites Sichten des Films<br />

selbst. Jedenfalls nicht das Sichten solcher<br />

Paradoxa in Filmkritiken wie der in „Variety“<br />

verbrochenen, die I Am a Woman Now<br />

einerseits transrespektlos und glänzend in<br />

Ignoranz beschreiben („Michiel van Erp’s<br />

affecting look at five European men [?] who<br />

were reborn as women“), während es ihrem<br />

Autor andererseits nicht gelang, das Alleinstellungsmerkmal<br />

dieses Dokumentarfilms<br />

zu verpassen. Und dieses Alleinstellungsmerkmal,<br />

es ist schmutzig. Und eklig. Und<br />

transhumanoid, genannt: Altern. Let’s talk<br />

about age, baby! Irgendwie ist das fies, weil,<br />

come on, niemand denkt ernsthaft daran,<br />

jemals alt zu SEIN. Altern, ja, on a distant<br />

foggy future shore some day, perhaps, possibly,<br />

maybe. Rather NOT.<br />

Denn: Altern ist so Bäh! April Ashley, eine<br />

der fünf Portraitierten, drückt das mit sehr<br />

viel mehr noblesse aus, das Ergebnis scheint<br />

dasselbe (Bäh!), sich zu verunsichtbaren, der<br />

zentrale Inhalt. Das Medium, der alternde<br />

neue Visionen<br />

Körper, ist dabei die Botschaft. Nicht mehr<br />

sichtbar zu werden, ist jedoch nicht die Botschaft,<br />

sondern das, was darin hinein gelesen<br />

wird (von wem? mit welcher Funktion?) und<br />

das, womit sich die meisten Menschen abfinden<br />

(und so begonnen haben, zu altern).<br />

April Ashley beschreibt das Unsichtbarwerden<br />

bei einem Glas, ich wünsche es<br />

ihr, Champagner, und wird flugs auf meine<br />

Who’sAtBiru’sWishpartyFORSURE-Liste 1<br />

geschrieben, und müsste ich sie selbst die<br />

Tür hineintragen. Mhm. Oder besser: alle<br />

fünf, Jean Lessenich, Corinne van Tongerloo,<br />

Marie-Pierre Pruvot, April Ashley und<br />

Colette Berends!<br />

Und, was machen alternde Frauen in I<br />

Am a Woman Now so? Zum Beispiel im See<br />

herumschwimmen. Cool. Oder eine windige<br />

Bootstour mit einer Freundin. Oder spazieren<br />

mit dem Hund im Park. Mhm. Dr. Burou,<br />

Trans* und geschlechtsangleichende Operationen<br />

habe ich vergessen. Was für schöne<br />

Frauen! Wenn, dann beim Altern mit so viel<br />

Style, Charme und Power, bitte. Bleibt nur<br />

zu hoffen, dass die weniger selbstbewussten<br />

Statements generationenbedingt abgegeben<br />

wurden. Und die offene Ansprache eines<br />

nach wie vor Trans* diskriminierenden<br />

Arbeitsmarktes und einer Trans* diskriminierenden<br />

Lebenswelt zu merklichen positiven<br />

Veränderungen auf ebensolchen führt.<br />

Die vor nicht allzu langer Zeit in britischen<br />

Medien geführte Debatte (siehe<br />

hierzu Patrick Barkhams „Guardian“-Artikel<br />

„Voices from the trans community: ‚There<br />

will always be prejudice‘“) lässt keine Zweifel<br />

offen, dass eine ach so zeitgemäße „Toleranz“<br />

im Sinne von Duldung, nicht von<br />

Respekt und Inklusion, die Tagesordnung<br />

darstellt, mit der Trans* sich heutzutage<br />

glücklich schätzen dürfen. Hach ja, die lieben<br />

„richtigen“ Frauen und Männer, die liebe<br />

„richtige“ Demokratie.<br />

s<br />

I Am A Woman Now<br />

von Michiel van Erp<br />

NL 2011, 80 Minuten, dänisch-englisch-französisch-deutsche<br />

OF<br />

mit deutschen UT<br />

Neue Visionen FIlmverleih,<br />

www.neuevisionen.de<br />

Im Kino ab 18. April <strong>2013</strong><br />

1 Ich bilde mir ein, einer der wenigen Männer zu sein, der<br />

mühelos innerhalb von Sekunden mindestens acht Ladies<br />

aufzählen kann, die ihn maßgeblich positiv, quasi vorbildlich,<br />

beeinflusst haben und ergo bei der Party ihre Tanzbeine<br />

schwängen, könnte mensch sich seine Gäste für eine<br />

Party aussuchen, gleich aus welcher Ecke dieses Planeten.<br />

Nur bei Gentlemen, das ist schwieriger … Ich bin jetzt bei<br />

rund zehn auf der Liste angekommen, die Hürde ist hoch,<br />

sie sollten doch bitte, so wie alle Eingeladenen, nach Möglichkeit<br />

noch leben. Ich denke seit über einem Jahr darüber<br />

nach. Mageres Ergebnis? Damit abfinden? Niemals! La vie<br />

est belle.<br />

28 29


wir verreisen<br />

wir verreisen<br />

Wohltemperierte<br />

Anordnung<br />

von André Wendler<br />

Wenig Außergewöhnliches sah unser Reporter im queeren Programm der diesjährigen Berlinale, so fern es<br />

nicht in der Form der Filme schon angelegt war. Eine Vorschau auf (vielleicht) kommende Attraktionen.<br />

„Zwei Mütter“ von Anne Zohra Berrached<br />

Edition Salzgeber<br />

s Es gehört wohl zum queeren Kino dazu, dass es sich regelmäßig<br />

und absichtlich zwischen alle Stühle setzt. Die schönsten Beispiele<br />

der diesjährigen Berlinale zeigten einmal mehr, wie die Hybriden, die<br />

dabei entstehen, formal und inhaltlich zentrale queere Fragen ausbuchstabieren<br />

können. Zwei Mütter (siehe Seite 22) von Anne Zohra<br />

Berrached ist eine Hybride aus Spiel- und Dokumentarfilm über ein<br />

les<strong>bis</strong>ches Pärchen, das alle Schwierigkeiten durchleben muss, die<br />

sich bei einem Kinderwunsch einstellen. Die Regisseurin hat das<br />

Drehbuch aus eigenen Recherchen und Gesprächen mit betroffenen<br />

Paaren entwickelt. Im Film werden die beiden Frauen Katja und<br />

Isabelle von zwei Schauspielerinnen dargestellt. Die meisten Personen,<br />

auf die sie treffen, spielen aber sich selbst: eine Apothekerin, ein<br />

Arzt, der künstliche Befruchtungen vornimmt, ein Anwalt, mögliche<br />

Samenspender usw. Oft geht es dabei um die tausend Formen kleinlicher<br />

täglicher Diskriminierung, die mich nicht gewundert, aber doch<br />

traurig gemacht haben. Irgendwann bekommt der Film aber noch<br />

einen anderen Ton. Während nämlich für eine der beiden Frauen<br />

der Kinderwunsch über allem anderen steht, kommen der anderen<br />

Zweifel. Sie merkt, dass ihre Konzeption einer les<strong>bis</strong>chen Beziehung<br />

herausgefordert wird, wenn sich ihre Konfiguration ändert: Ein<br />

Samenspender, der womöglich das Kind sehen will, das Kind selber<br />

verändern alles. So wie der Film keine „ordentliche“ Dokumentation<br />

und auch kein „richtiger“ Spielfilm ist, so bohrt die Frage, was les<strong>bis</strong>ches<br />

Zusammenleben ist und wann es zu einer heteronormativen<br />

Familie geworden sein könnte. Und ob das überhaupt ein Problem ist<br />

oder sein muss. Das alles erzählt der Film jedenfalls nicht nur über<br />

seine Geschichte, sondern vor allem über seine eigene Experimentalanordnung.<br />

Ein ganz anderes, aber mindestens ebenso gelungenes Beispiel<br />

ist Will You Still Love Me Tomorrow. Der Regisseur Arvin Chen ist ein<br />

Kind taiwanesischer Eltern und in den USA geboren und aufgewachsen.<br />

Seit einigen Jahren lebt und arbeitet er in Taiwan. In seinem<br />

Film, den man vielleicht am ehesten als Romantic Comedy bezeichnen<br />

könnte, geht es die ganze Zeit um alle (un)möglichen Mischbeziehungen.<br />

Ein schwuler Mann heiratet, bekommt ein Kind und verliebt<br />

sich irgendwann wieder in einen Mann. Ein anderer Schwuler<br />

ist mit einer Lesbe verheiratet. Diverse Heterosexuelle haben Eheprobleme,<br />

die dann von einer schwulen Clique in einer Schwulenbar<br />

gelöst werden sollen. Das Ganze wird von einer wunderbaren<br />

Wärme zusammengehalten. Egal nämlich, wer hier wen begehrt,<br />

liebt oder mag: Der Film zeichnet alle diese komplexen und komplizierten<br />

Fälle mit einer wirklich zu Herzen gehenden Menschenfreundlichkeit<br />

nach. Die Liebe von Eheleuten, Freunden, Eltern und<br />

Kindern, Großeltern, Kollegen, besten Freunden, ja selbst die Verbindung<br />

zum liebsten Seifenopernstar werden alle mit dem gleichen<br />

Respekt vor menschlichen Beziehungen behandelt. Filmisch könnte<br />

man das alles kaum in schrilleren Farben zeichnen. Da fliegen die<br />

Menschen vor Liebesglück durch die Straße, ein Augenoptiker wird<br />

irgendwie zu einer Art Mary Poppins. Aus einer Karaoke-Bar wird<br />

eine große Showbühne und die Parapluies de Cherbourg haben einen<br />

Wiederauftritt, vor dem sich keiner verstecken muss. Ich vermute,<br />

dass kein europäischer Regisseur das so hinbekommen hätte, weil<br />

Slapstickhumor dieser Art hierzulande gerade nicht hoch im Kurs<br />

steht. Der Film holt mich aber über seinen Soundtrack oder seine<br />

Filmzitate immer wieder ab und bittet mich mit der selben Freundlichkeit<br />

in seine Welt, die irgendwo zwischen Asien, Amerika und<br />

Europa liegt, mit der er alle seine Protagonist_innen behandelt.<br />

Offensichtlich – und das wäre für mich das Queere daran – entsteht<br />

in der Begegnung dieser unterschiedlichen (Film)kulturen etwas<br />

Wundervolles, das überrascht, ohne zu verschrecken.<br />

Eine andere Gruppe von Filmen versucht nicht so sehr im inhaltlichen<br />

und formalen Experiment unsere bekannten Identitätskonzepte<br />

herauszufordern, sondern fragt nach ihrer Herkunft und Geschichte.<br />

Dem filmischen Zwang zur Konkretion folgend, geht das immer über<br />

die Beschreibung von Einzelgeschichten, so wie etwa in Fifi az khoshhali<br />

zooze mikeshad, einem Dokumentarfilm von Mitra Farahani über<br />

den iranischen Künstler Bahman Mohassess, der seine große Zeit<br />

noch während der Schahregierung erlebte. Mohassess, von dem viele<br />

glaubten, er sei gar nicht mehr am Leben, wird von der Regisseurin<br />

in Rom gefunden, und der Film gibt ihm viel Zeit, über sich und seine<br />

Kunst im Iran zu sprechen, seine Werke zu kommentieren und einfach<br />

seine Lebensweisheiten zum Besten zu geben, von denen er mehr<br />

als genug zu teilen hat. Irgendwann stecken zwischen all den Gedichten,<br />

die er rezitiert und seinen ungezählten Anekdoten auch einige<br />

Überlegungen dazu, was es für ihn heißt, schwul zu sein. Homoehe?<br />

Der reinste Teufel für ihn. „Wissen Sie, was das beste an der Homosexualität<br />

früher war? Dass sie verboten war!“ Tuntige Männer? Bloß<br />

nicht! Mohassess hat immer Wert darauf gelegt, dass seine Jungs<br />

verlobt waren. Abgesehen davon, dass das alles unglaublich skurril<br />

ist, frage ich mich während des Films, ob es nicht einen notwendigen<br />

Zusammenhang gibt zwischen seiner fast unüberschaubaren Kunstproduktion,<br />

dieser grenzenlosen Kreativität und seinen teilweise<br />

etwas abseitigen Identitätsvorstellungen. Kann man so eine Kunst<br />

nur dann schaffen, wenn man seinen Begehrenshaushalt jenseits der<br />

landläufigen Konzepte eingerichtet hat?<br />

Eine ähnliche Konstellation, wenn auch mit anderem Ausgang,<br />

gibt es im Gewinnerfilm des Teddy-Awards für den besten Dokumentarfilm.<br />

Bambi von Sébastien Lifshitz ist das selbsterzählte Porträt<br />

der 1935 in Algerien als Jean-Pierre geborenen Marie-Pierre Pruvot,<br />

die sich irgendwann entschloss, kein Junge mehr sein zu wollen. Ihr<br />

Weg führte sie in Pariser Kabarett Carrousel, wo sie jahrelang ein<br />

gefeierter Revuestar war. Später studierte sie und fand ihren Weg<br />

als gewöhnliche Lehrerin in der französischen Provinz, nicht jedoch<br />

ohne die Angst, als Protagonistin ihrer früheren Karriere entdeckt<br />

zu werden. Was für Mohassess Lebensprogramm ist, wird für Pruvot<br />

nur ein dankbarer Umweg, der sie an den Ort führt, an dem sie sich<br />

wohl fühlt.<br />

Der persönliche Nachdruck, mit dem diese Lebensgeschichten<br />

erzählt werden und der es für mich leicht macht, meine eigenen Identitätskonzepte<br />

mit ihnen auf den Prüfstein zu legen, fehlt vielleicht an<br />

einer Stelle, an der er unbedingt notwendig gewesen wäre. Im zweiten<br />

Jahr in Folge lief dieses Jahr ein Dokumentarfilm über queeres Leben<br />

in der DDR. Schon die Sprachfassung des Titels zeigt die gegenwärtigen<br />

Interessenlagen an diesem Thema an. Out in Ost-Berlin – Lesben<br />

und Schwule in der DDR hat zwar viele interessante Geschichten und<br />

Personen zu erzählen, nimmt aber keine_n von ihnen ernst genug, um<br />

sie aus ihrer Slideshow-Ästhetik und ihrer historisch recht einfachen<br />

Dramaturgie herauszuheben. Abgesehen davon, dass er zum Teil die<br />

gleichen Personen wie der letztjährige Unter Männern von Ringo<br />

Roesener und Markus Stein vor die Kamera bringt, bleibt das dort<br />

entworfene Infotainment-Panorama für mich folgenlos. Das bedauere<br />

ich um so mehr, als ich selbst ein Kind dieses Staates bin und mir<br />

ein Leben als einer ihrer schwulen Bürger vielleicht nur knapp entgangen<br />

ist. Gerade Filme, die immer auch als ein Stück von uns für<br />

uns gemacht werden, müssen ihren Blick ein wenig weiter schweifen<br />

lassen als auf die unmittelbaren Verwertungsmöglichkeiten.<br />

Vor diesem Hintergrund ist die Berlinale <strong>2013</strong> weder besonders<br />

außergewöhnlich, noch besonders ernüchternd gewesen. Ob man<br />

diese sanfte Wohltemperiertheit wiederum als Problem begreift oder<br />

nicht, sei allen selbst überlassen.<br />

s<br />

30 31


tellerrand<br />

tellerrand<br />

verque(E)re Zensur in<br />

Deutschland<br />

s Als im Jahr 1919 Anders als die Andern §175 von Richard Oswald<br />

in die Kinos kam, gab es in Deutschland eine flüchtig währende Periode<br />

ohne Zensur. Der Rat der Volksbeauftragten hatte kurz nach dem<br />

Zusammenbruch des Kaiserreichs beschlossen: „Eine Zensur findet<br />

nicht statt. Die Theaterzensur wird aufgehoben.“<br />

Doch schon der Zusatz auf die Instanz des Theaters, verstanden<br />

als kulturellen Primat, sah wohl kaum die aufsteigende Macht<br />

der neuen Lichtspielhäuser voraus. Die durch Oswald und andere<br />

(Hygiene-)Filme entfachte gesellschaftliche Debatte führte schließlich<br />

zu den 1920 erlassenen Reichslichtspielgesetzen. Und schon elf<br />

Jahre später brannten Bücher und die Zensur und Moralsadismen,<br />

maßgeblich um den Paragraphen 175, verschärften sich. Anstelle von<br />

Filmen wie Metropolis, Nosferatu oder Das Cabinett des Dr. Caligari<br />

herrschte von nun an das Schreckenskabinett des Dr. Goebbels, mitverantwortlich<br />

für Hetz- und Propagandafilme der Diktatur.<br />

Unrühmliches Beispiel und Synonym für die Verhurung des<br />

Mediums Films unter den Nazis wurde Jud Süß. Deshalb klingt es<br />

absurd, dass dessen Regisseur Veit Harlan, von allen gegen ihn erhobenen<br />

Anklagepunkten freigesprochen, 1957 mit Anders als du und ich<br />

§ 175, einen der ersten bundesrepublikanischen Filme mit einer queeren<br />

Handlung vorlegte und zumindest im Titel eine Annäherung an<br />

Oswalds Tradition suchte. Harlans vielleicht redlicher Ansatz wirkt<br />

aber aus heutiger Sicht schlicht homophob, dass Zitat auf Oswald<br />

regressiv. Sein Film, der Schwule als heilbare Opfer präsentiert und in<br />

einem Abwasch auch noch die bildenden Künste und moderne Musik<br />

als entartet deklassiert, bekam keine Freigabe. Doch der seit 1948 von<br />

den westlichen Siegermächten gegründete, in Wiesbaden sesshaften<br />

FSK stießen nicht die faschistoiden Tendenzen auf, sondern der zu<br />

positive und ausgestellte Umgang mit Homosexuellen. Nach mehreren<br />

Veränderungen an Schnitt, Text und Bild konnte eine ab-18-Einstufung<br />

erreicht werden.<br />

Zunächst mögen diese Beispiele wie aus längst vergangenen<br />

Tagen wirken. Alles passé und überwunden. Antiquiert liest sich auch<br />

die damalige Ablehnung der ersten Schnittfassung von Anders als du<br />

und ich § 175: „Alle Bevölkerungskreise, die noch ein Gefühl für Sitte<br />

und Recht haben (und dies ist der weitaus überwiegende Teil des Volkes),<br />

werden in ihren Empfindungen aufs schwerste getroffen …“<br />

von Andreas Heimann<br />

Kunst und wie ein Staat mit ihr umgeht kann immer als Gradmesser der Freiheit dienen. Man denke etwa an das Beispiel des<br />

Filmemachers Jafar Panahi, der gegenwärtig Inhaftierung und Berufsverbot durch den iranischen Staat erleidet. Hierzulande<br />

alles undenkbar und kein Thema. Doch wie steht es um die Freiheit der Kunst in Deutschland? Ist Deutschland wirklich frei von<br />

staatlicher Zensur – und wann beginnt sie? Ein Debattenbeitrag zur Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK)<br />

Umso mehr mag es schockieren, dass folgender Abschnitt aus dem<br />

Jahre 2011 stammt und den Film Romeos … anders als du denkst! von<br />

Sabine Bernardi auf ein FSK 16 bewertet: „Der Film spiegelt eine verzerrte<br />

Realität wider, die Kinder auf Grund keiner oder zu geringer<br />

Erfahrung nicht erkennen können.“<br />

Die verzerrte Welt von queeren Menschen, die nicht der Realität<br />

der im Durchschnitt 50-jährigen FSK-Mitglieder abbildet, begehrte<br />

jedoch auf. Es ist dem Druck des LSVD, der Presse und Bernardis<br />

öffentlichem Aufbegehren zu verdanken, dass ihr Film einer Neuprüfung<br />

unterzogen wurde und die fragwürdige FSK 16 in eine FSK 12<br />

umgewandelt wurde. Doch was war geschehen?<br />

Voreilig von homophoben Tendenzen zu sprechen wäre töricht.<br />

Die deutsche Schere schnitt bekanntlich auch schon in Filme von<br />

Hitchcock. Auch „Disneys Lustiges Taschenbuch“ und das „Sailor<br />

Moon Magazin“ waren vom deutschen Zensus nicht gefeit, dessen<br />

Regeln seit 1951 unverändert sind.<br />

Um aber den neokonservativen Umgang mit Bernardis Film zu<br />

verstehen, muss man sich das Jahr 2010 vergegenwärtigen. Eine neue<br />

Debatte, maßgeblich um die Differenzierung zwischen einer FSK 12<br />

zu einer FSK 16 gestrickt, wurde dort durch die Sittenwächter der FAS<br />

und FAZ entfacht und 2011 erneut aufgenommen. Mit markigen Überschriften<br />

wie „Das FSK-12-Siegel ist jugendgefährdend“, oder „Diese<br />

Filme gefährden ihre Kinder“, hatte die FAS 100 „zufällig“ gewählte<br />

FSK-12-Werke neu geprüft und kam zu dem Ergebnis, dass fast 50%<br />

aller geprüften Filme eigentlich viel eher eine FSK 16 erhalten müssten.<br />

(Auffällig an der Zufälligkeit der ausgewählten Filme ist, dass<br />

nur fünf der 46 beanstandeten Filme vor 2000 produziert wurden, es<br />

sich nahezu nur um Hollywoodproduktionen handelte und dass kein<br />

Film als zu streng bewertet empfunden wurde.) Die Zensorenkompetenz<br />

vertraute die FAS übrigens nicht dem Feuilleton an, sondern dem<br />

Politikressort. Von solchen Feinheiten unbeeindruckt entblödeten<br />

sich mehrere Politiker – meist aus dem konservativen Lager – nicht,<br />

die Arbeit der FSK zu kritisieren.<br />

Erika Steinbach, Mitglied des CDU-Bundesvorstands und stellvertretendes<br />

Mitglied im Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen<br />

Bundestags, sah gar schon das Abendland untergehen: „Leider<br />

muss man feststellen, dass nicht nur in diesen Filmen, sondern in<br />

unserer Gesellschaft insgesamt natürliches Schamgefühl, aber auch<br />

Gewaltlosigkeit im Miteinander der Menschen und in der Fürsorge<br />

für Kinder immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden sind.“<br />

Aufgabe der FSK ist es aber auch gar nicht, das natürliche Schamgefühl<br />

zu bewahren oder gar zu einer gewaltfreieren Gesellschaft<br />

beizutragen. Leider wurde auch nicht nachgefragt, welche Filme<br />

Frau Steinbach hier meinte. Schindlers Liste etwa, dessen Wertung<br />

mit einer FSK 12 die FAZ als ebenso falsch ansah wie die für Capote.<br />

In ihren Begründung merkten sie zu Letzterem an, dass der Inhalt<br />

„das Leben eines homosexuellen Künstlers mit all seinen Stilisierungen,<br />

Schwierigkeiten und Nöten zeigt, die sowohl das kritische als<br />

auch das emphatische Vermögen von Kindern überschreiten.“ Jene<br />

Sequenz, in der Capote sein Anderssein mit den Empfindungen eines<br />

pubertierenden Mädchens vergleicht und dadurch ein Gefühl der<br />

Empathie evoziert wird, scheint den selbsternannten Zensoren der<br />

FAS entgangen zu sein.<br />

Der Streit um die FSK, angefacht durch Drohworte etwa seitens<br />

der bayerischen Familienministerin Christine Haderthauer (CSU)<br />

(„Sollte es tatsächlich so sein, dass zu lax geprüft wird, tut sich die<br />

FSK selbst keinen Gefallen“), gipfelte im Auftritt der Bundesfamilienministerin<br />

Schröder (CDU). In ihren eigenen Wahlkreis Wiesbaden<br />

wiederkehrend, beeinflusste die von der FAZ gesteuerte Diskussion<br />

ihren Besuch bei der FSK. In der Folge schickte die FSK ihre<br />

Mitglieder vermehrt in Weiterbildungskurse, die das Thema „FSK 12<br />

oder 16?“ erneut aufnahmen.<br />

Und wenn man auch nicht gleich homophobe Tendenzen innerhalb<br />

der FSK konstatieren möchte, so muss doch erwähnt werden,<br />

dass es mehr als bedenklich ist, dass im Sog einer solchen künstlichen,<br />

nicht künstlerischen, Moraldebatte Romeos wie ein Bauernopfer<br />

wirkt. Christina Schröder hat hier zumindest moralisch eine Verantwortung<br />

zu tragen und sich selbst zu fragen, wie sie, die promovierte<br />

Politikwissenschaftlerin, als Expertin für Film auftreten kann. Dass<br />

die FSK politisch unabhängig arbeiten soll und mit Schröders Besuch<br />

eine Demarkationslinie der Demokratie überschritten wurde, steht<br />

ungeklärt im Raum. Schröders Kampf an der Moralfront trieb indes<br />

auch in jüngster Zeit seltsame Blüten. (So löste sie unlängst eine<br />

Debatte um „bedenkliche“ Wörter in Skandalbüchern wie „Die kleine<br />

Hexe“, „Jim Knopf“ und „Pippi Langstrumpf“ aus.)<br />

Der Umgang mit Romeos zeigt indes eine spezielle Rezeptionsgeschichte<br />

für Filme in der BRD. Es ist eine Vorgehensweise der<br />

Aussparungen, der Retuschen und des scheinbar nicht Vorhandenen.<br />

Zu diesen Beispielen der „freiwilligen“ Selbstkontrolle (FSK)<br />

kommen die der staatlichen Kontrollinstanzen, wie die dem Familienministerium<br />

unterstellte Bundesprüfstelle jugendgefährdender<br />

Medien (BPjM). Denn alleinig die BPjM kann Medien indizieren und<br />

beschlagnahmen lassen.<br />

Besonders beklagenswert sind aber die durch eine Indizierung<br />

entstehenden Folgen auf dem sogenannten freien Markt. Im Handel<br />

tauchen immer wieder Produkte auf, die den vermeintlichen gesuchten<br />

Film enthalten. Raimis indizierter Film Tanz der Teufel etwa, ist<br />

in einer FSK-16-Version erhältlich und dabei um doch nennbare 14<br />

Minuten zerstückelt. Eine Neuprüfung des Originals 2012 hatte eine<br />

Neuindizierung zur Folge, was den Film für nun insgesamt 50 Jahre<br />

auf den Index verbannen wird. Doch die Indizierung trifft nicht nur<br />

Horrorklassiker. Unter den indizierten Filmen findet sich z.B. auch<br />

Die 120 Tage von Sodom. Schon in der damaligen Debatte um Pasolinis<br />

Werk warf die FAZ der FSK Untätigkeit vor. Der seinerzeit 78-jährige<br />

Leiter der FSK, Ernst Krüger, der erst 1986 mit 88 Jahren seinen Posten<br />

aufgab, ließ sich im Zuge der Kontroverse zu der sehr bedenklichen<br />

Aussage bringen, dass diejenige Zensur oder Prüfeinrichtung<br />

am besten sei, „die und deren Einwirkung man nicht bemerkt.“<br />

Doch seitdem ist die Machtauswirkung der Moralsadisten für<br />

Filmfreunde immer sichtbarer geworden. Die Vorsitzende der BPjM,<br />

Elke Monssen-Engberding, seit über 20 Jahren im Amt, konnte 2008<br />

die neuen, gesetzlich vorgeschriebenen FSK-Kennungen auf DVDs<br />

zum Schutz von Jugendlichen erreichen. Die jahrelange Diskussion<br />

über eine Ampelregelung von Lebensmitteln ist in der Filmwelt längst<br />

Realität. Der so belehrte Bürger wird aber nicht darüber in Kenntnis<br />

gesetzt, dass es sich bei dem angebotenen Produkt oft nicht um<br />

das vermeintlich beworbene handelt. Eine Praxis, die sich auch im<br />

deutschen Fernsehen widerspiegelt und vor der nicht einmal mehr<br />

Sender wie Arte mit staatlichem Bildungsauftrag zurückweichen.<br />

Doch FSK-16-Filme sind gesetzlich erst ab 22.00 Uhr, FSK-18-Filme<br />

ab 00.00 Uhr erlaubt. Werden sie früher gesendet, handelt es sich<br />

um Neuschnitte der Sender. Somit ist die nachfolgende Sendung<br />

für Zuschauer unter 16 Jahren zwar nicht geeignet, es handelt sich<br />

aber eh um eine Kunstruine – ohne Abspann, mit Werbeblöcken<br />

und dem Einblenden von Bauchbinden und Seitenrandgeblinke. Ein<br />

Umgang mit Filmen, der in Deutschland dem Medium sukzessive<br />

seinen Kunstcharakter abspricht. Undenkbar wäre etwa das seitliche<br />

Abschneiden an einem Gemälde Picassos, weil es jugendgefährdend<br />

sein könnte. Aber Ausstellungen oder Bücher tragen ja auch kein FSK-<br />

Siegel. Ähnliche „Aufklärungsabsichten“ sind sonst nur bei Zigaretten<br />

üblich. Anscheinend wird, so der zu ziehende Rückschluss, eine<br />

visuelle Gefährdung Jugendlicher, die von Videospielen und Filmen<br />

ausgeht, höher eingeschätzt, was sich auch in den Indizierungsanträgen<br />

und Indizierungen selbst widerspiegelt, die dadurch aber nicht an<br />

Richtigkeit gewinnt. Filme bilden mit doppelt so vielen Indizierungen<br />

gegenüber Tonträgern in den veröffentlichten Listen der BPjM<br />

die größte Gruppe. Zwar wurden in den letzten Jahren, rein statistisch<br />

betrachtet, weniger Filme als in den Jahren davor indiziert, alte<br />

Indizierungen aber bleiben bestehen. Eine Neuprüfung ist erst nach<br />

25 Jahren möglich (Ausnahmen darf nur die BPjM selbst bestimmen).<br />

Sowohl Indizierung als auch ungekennzeichnete Neuschnitte<br />

müssen als Zensur verstanden werden. Nicht nur die Indizierung,<br />

sondern vielmehr eine generell schleichende Zensurpolitik sind das<br />

Bedenkliche der heutigen deutschen Kulturlandschaft. Die Demokratie<br />

zeichnet sich gegenüber Systemen wie dem Iran oder China<br />

eben durch Dissens aus, dessen Impulsgeber die Kunst sein kann.<br />

Kinder und Jugendliche sollten dabei sicherlich vor einigen Medien<br />

geschützt werden, sie sollten aber nicht in Volte dazu missbraucht<br />

werden, eine Kultur der Zensuren zu rechtfertigen.<br />

Ein unaufgeregter Umgang mit Kunst und ein Umdenken im<br />

Kunstverständnis wären aber nichts Revolutionäres, sondern nur die<br />

Erfüllung von Artikel 5, Absatz 1, des Grundgesetztes: „Jeder hat das<br />

Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu<br />

verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert<br />

zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung<br />

durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur<br />

findet nicht statt.“<br />

s<br />

Was ist die FSK?<br />

Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft,<br />

kurz FSK, hat ihren Sitz in Wiesbaden<br />

und wurde 1948 gegründet. Nach dem Vorbild<br />

des US-amerikanischen Production Codes<br />

sollte sie, politisch unabhängig, behördlichem<br />

Eingreifen und staatlicher Reglementierung<br />

vorbeugen. Als Prüfungsorgan der westlichen<br />

Besatzungsgebiete wurde zudem der Jugendschutz<br />

als Bestandteil der Prüfungsziele erklärt.<br />

Ab 1949 übernahm die FSK die Aufgabe der<br />

Filmprüfung in der BRD. Die Einteilung in die<br />

<strong>bis</strong> heute gültigen Alterskategorien 6, 12 und<br />

18 Jahre erfolgte 1957 und wurde 1985 um die<br />

Kategorie ab 0 Jahre erweitert. Träger der FSK<br />

ist die Filmwirtschaft (SPIO). 250 ehrenamtliche<br />

Prüfer arbeiten in den FSK-Gremien, 46%<br />

davon sind Frauen, das Durchschnittsalter<br />

der Prüfer beträgt 50 Jahre. Jährlich werden<br />

in Wiesbaden ca. 400 Medien geprüft.<br />

Zum Weiterlesen<br />

1. Roland Seim und Josef Spiegel (Hrsg.):<br />

Der kommentierte Bildband zu „Ab 18“.<br />

„Zensiert, Diskutiert, Unterschlagen.<br />

Zensur in der deutschen Kulturgeschichte“<br />

2. Julia Köhne, Ralph Kuschke und Arno<br />

Meteling (Hrsg.): „Splatter Movies.<br />

Essays zum modernen Horrorfilm“<br />

3. Johanne Noltenius: „Die freiwillige<br />

Selbstkontrolle der Filmwirtschaft und<br />

das Zensurverbot des Grundgesetz“<br />

4. Roland Seim: „Zwischen Medienfreiheit<br />

und Zensureingriffen. Eine medien- und<br />

rechtssoziologische Untersuchung<br />

zensorischer Einflussnahmen auf<br />

bundesdeutsche Populärkultur“<br />

5. Stephan Buchloh: „Pervers, jugendgefährdend,<br />

staatsfeindlich. Zensur<br />

in der Ära Adenauer als Spiegel<br />

des gesellschaftlichen Klimas“<br />

32 33


dvd<br />

dvd<br />

concorde filmverleih<br />

Laufen lassen<br />

von Jan Künemund<br />

„On The Road“ von Walter Salles, die für viele enttäuschende<br />

Verfilmung eines unverfilmbaren Buchs, ist nun auf DVD<br />

erschienen. Ein kleines Plädoyer für einen schönen Film.<br />

On The Road – Unterwegs<br />

von Walter Salles<br />

BR/FR/UK/US 2012, 134 Minuten,<br />

deutsche SF, englische OmU<br />

Auf DVD bei Concorde Home Entertainment,<br />

www.concorde-home.de<br />

s Als ich kürzlich mal unterwegs (!) war, saßen zwei Jungs im beatfähigen<br />

Alter neben mir im Flugzeug, die offensichtlich eng befreundet<br />

waren, aber nicht miteinander sprachen. Beide lasen in ihrer eigenen<br />

<strong>Ausgabe</strong> von „On The Road“ und beide waren damit ungefähr<br />

gleich weit gekommen. Das Schöne an diesem Bild war weniger der<br />

Beweis für die Kontinuität alters-und geschlechtsspezifischer Lektüren<br />

(ich z.B. habe das nie gelesen), sondern eher das Bild einer Nebeneinanderher-Bewegung<br />

im gleichen Stoff.<br />

On-The-Road-dem-Film ist große Ungerechtigkeit widerfahren.<br />

Mir ist auch klar warum, obwohl ich keine empirischen Beweise habe:<br />

Männer, die zwischen 30 und 70 sind und in einen Film gehen, der<br />

ihre Pubertätsekstasen in Bilder fassen soll, haben, nicht nur, was das<br />

Kino angeht, etwas nicht verstanden. Auch die Idee, man müsse doch<br />

darstellen können, was die Kerouacs, Ginsburgs und Cassadys 1947<br />

damals auf die Straße getrieben habe, scheint mir eher dem Bedürfnis<br />

von Englischlehrern zu entsprechen als dem von Kinogängern.<br />

Allerdings steht Verleger Jörg Sundermeiers in der Taz geäußerte<br />

Kritik am Film, dieser würde über die Dinge „reden, ohne sie zeigen zu<br />

können“, als Einforderung spezifisch visueller Qualitäten eines Films,<br />

schwer und unbewegt im Raum. Der Film ist aber nicht eine Erzählung<br />

über junge Männer (und eine junge Frau), die sich aus den Fesseln<br />

einer engen und normierten, stillstehenden Gesellschaft herausbewegen,<br />

sondern ein Film über junge Männer, die aus dem Traum davon<br />

und aus der Beobachtung einiger Weniger, die das tatsächlich versuchen,<br />

Literatur machen. Frei nach Hubert Fichte: über das Leben, das<br />

nur dazu da ist, um eine Form der Darstellung zu erlangen.<br />

Und so wird auch dem Film von Walter Salles alles zum Stoff, was<br />

erst in seinem Medium etwas hergibt: jugendliche Babyfaces, aus<br />

denen tiefe (Hedlund) und heisere (Riley) Stimmen sprechen, rote<br />

Trucks vor staubigen Bergen, glitzernde Eidechsen in Bäumen, und<br />

immer wieder Asphalt, hektisch abgefilmt, als könne man auf ihm<br />

einfach nicht stillstehen. Sam Paradise, die Verwandlung von Kerouac<br />

in Literatur, wird deshalb von diesem Film etwas gemein behandelt,<br />

denn er war, soweit man weiß, schon etwas mehr als der Eckensteher<br />

und Abstauber, der seinem Freund Cassidy hinterstiefelte und das an<br />

Leben, Frauen, Wörtern und Ideen aufsammelte, was dieser für ihn<br />

übrig ließ. Mehr als der literarische Ausbeuter, der den wilden Outlaw<br />

für seinen Roman benutzte, ihn aber als Freund verriet. Doch Salles,<br />

seinem Drehbuchautor Jose Rivera und seinem grandiosen Kameramann<br />

Eric Gautier, ging es eben darum, in Sam Paradise das Kontruktionsprinzip<br />

ihres Films zu verankern: Nichts ist, bevor es nicht zur<br />

Kunst wird. Und deshalb wird die Welt von 1947 im Buch zur Kette<br />

freier sprachlicher Assoziationen und die wiederum im Film zum Bilderfluss.<br />

Ein Film, dem alles zum Stoff geworden ist, nimmt Anhalter<br />

mit: einen Twilight-Star, der Proust liest, Sam aus Tron: Legacy,<br />

der Texte von Slim Gaillard rappt, und Aragorn, ohne Unterhose,<br />

im Orgon-Akkumulator. Unglaublich schöne Menschen, Gesichter,<br />

Körper. Landschaften, Autos. Die Straßenbilder zittern, die Tonspur<br />

knistert, Detailaufnahmen und große Gesten nehmen sich einen<br />

sinnlichen Entwurf vor, für den sich der Ausbruch lohnt, zumindest<br />

ins Kino.<br />

Die beiden Mitreisenden lasen beim Einstieg in Bilbao, beim<br />

Umsteigen in Frankfurt und noch in der U7 in Berlin-Neukölln im<br />

Kerouac-Buch. Wahrscheinlich fanden sie die Frauenfeindlichkeit<br />

und Homophobie des Textes (beides gibt der Film – als Material –<br />

sehr genau wieder) ziemlich altmodisch. Aber wie man sich aus<br />

den heutigen Fesseln löst, geschlechtsidentitätsspezifischen zum<br />

Beispiel, und daraus keinen akademischen Diskurs, sondern Kunst<br />

macht, sollen die nächsten Kerouacs schreiben. Oder die nächsten<br />

Eric Gautiers zeigen.<br />

Im wahren Leben hatte Kerouac noch nicht mal einen Führerschein,<br />

lese ich gerade.<br />

s<br />

34 35


dvd<br />

dvd<br />

Ein höllischer Spuk<br />

von Fritz Göttler<br />

In seinen Filmen das zu zeigen, was man damals in Hollywoodfilmen eigentlich nicht zeigte, war immer eine<br />

Spezialität des Regisseurs Otto Preminger. In „Advise and Consent“ (dt. „Sturm über Washington“), seinem<br />

großen Senatsdrama aus dem Jahr 1962, gibt es zum Beispiel eine Szene, die in einer New Yorker Gay Bar<br />

spielt. Und damit macht sich Hollywood zum ersten Mal überhaupt ein Bild von der Schwulenszene. Nun<br />

ist er auf DVD herausgekommen, in einer Dreierbox, zusammen mit zwei Premingers der Fünfziger, „Saint<br />

Joan“ und „The Moon Is Blue“<br />

cine qua non<br />

s Wann werden wir in Washington sein, fragt der junge Mann,<br />

gegen Mitternacht, sagt der ältere auf dem Sitz neben ihm – Senator<br />

Brigham Anderson aus Utah und der Vizepräsident der Vereinigten<br />

Staaten von Amerika. Sie haben sich zufällig getroffen, auf dem nächtlichen<br />

Flug von New York nach Washington. Eine Linienmaschine, es<br />

ist 1962, damals verkehrten auch hohe Politiker so.<br />

Otto Premingers Advise and Consent ist einer der großen Filme<br />

der Sechziger, ein elegisches Melodram aus dem amerikanischen<br />

Senat. Und: Ein Phantomfilm. Die ihn rühmen, beziehen sich dafür<br />

bevorzugt auf seine ‚films noirs‘ aus den Vierzigern, Laura, Whirlpool,<br />

Where the Sidewalk Ends, Angel Face, aber seine Filme aus den Fünfzigern<br />

und Sechzigern sind weit schwärzer als diese, The Man With the<br />

Golden Arm, Carmen Jones, Anatomy of a Murder. Advise and Consent<br />

hat einen Möchtergernpolitiker, der vor einem Senatsausschuss lügt<br />

zu seiner kommunistischen Vergangenheit, einen US-Präsidenten,<br />

der diesen Mann dennoch durch den Ausschuss gebracht sehen will.<br />

Und einen Senator, der eine schwule Vergangenheit hat und sich mit<br />

dem Rasiermesser die Kehle durchschneidet.<br />

Man hat Preminger immer wieder des Sensationalismus bezichtigt,<br />

François Truffaut hat gegen derartige Vorwürfe Premingers<br />

Risiko-Konzept erläutert – das dem der Rennfahrer von Le Mans<br />

gleiche: „Er bietet uns ein Schauspiel, dessen Geheimnis er bewahrt,<br />

ein Schauspiel, das nur ihn betrifft … Wenn er vor Skandalen nicht<br />

zurückschreckt, so nur, um seine Reinheit besser zu bewahren.“<br />

Es wird Regen geben, sagt der Vizepräsident nach der Ankunft<br />

in Washington zu Brig, ich kann Sie nach Hause bringen. Der Senator<br />

lehnt dankend ab. Lew Ayres ist der Vizepräsident, Don Murray,<br />

der tumbe Cowboy aus Bus Stop, der junge Senator. Ob er ihm helfen<br />

könne, hat der Vizepräsident ihn gefragt, ob er sich aussprechen<br />

wolle. Er sieht, der Junge ist unter starkem Druck, er war in New<br />

York, um sich mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren. Nun hat er<br />

eine Entscheidung getroffen. Why are you going it alone, meint der<br />

Vizepräsident, that’s what I don’t understand.<br />

Washington, eine unheimliche, eine Phantomstadt. Ruhelose<br />

Menschen sind nachts unterwegs, intrigierend, drohend, erpressend.<br />

In den Monumenten der Stadt sind die Phantome der Vergangenheit<br />

präsent, der Geschichte, der amerikanischen Tradition. Preminger<br />

hat an Originalschauplätzen gedreht, auf den Straßen der Stadt, in<br />

den Büros, das Capitol, das Washington Monument, das Sheraton. Die<br />

Ausstattung hat er aus Museen und von reichen Familien zusammengeborgt,<br />

Teppiche, Möbel, Artefakte. Gene Tierney wandelte durch<br />

die abendlichen Partys, als Gastgeberin, wie seinerzeit durch die drei<br />

films noirs, die sie mit Preminger machte.<br />

Der Präsident hat einen Kandidaten für das Amt des Außenministers<br />

benannt, Robert Leffingwell, gespielt von Henry Fonda. Der<br />

Senat soll diesem Kandidaten empfehlend zustimmen, advise and<br />

consent, und prüft ihn in einem Unterausschuss. Brigham Anderson<br />

ist der Vorsitzende des Ausschusses. Der alte Senior Senator von<br />

South Carolina, Charles Laughton, will den neuen Mann verhindern,<br />

Leffingwell spricht mit einer fremden Stimme – er vertritt den neuen<br />

Realismus in der Politik, gegen die Unbedingtheit der Prinzipien, will<br />

durchaus mit den Russen verhandeln. Der Kennedy-Sound, Amerikas<br />

Stimme für die Zeit nach dem Kalten Krieg.<br />

Ein Zeuge wird vorgeladen, er kennt Leffingwell von früher,<br />

spricht von Beziehungen zu einer kommunistischen Zelle, Leffingwell<br />

leugnet, er will einen Freund von damals, heute ebenfalls ein<br />

angesehener Politiker, nicht verraten. Er bittet den Präsidenten, seine<br />

Nominierung zurückzunehmen. Der Präsident weigert sich, er glaubt<br />

an Leffingwell, die Lüge nimmt er in Kauf.<br />

Die beste Politik, zeigt der Film, ist immer noch ein schmutziges<br />

Geschäft. Politik verlangt mehr als große menschliche Qualitäten,<br />

sagt Preminger, sie verlangt eine Kombination von Idealismus<br />

und Zynismus, und jene, die eine dieser Qualitäten besitzen ohne die<br />

andere, werden versagen. Idealismus und Zynismus vereint, so hat<br />

es auch Steven Spielberg dargestellt in seinem Film Lincoln, der den<br />

großen Präsidenten als Trickser zeigt. Und die Redeschlachten der<br />

Abgeordneten mit all ihren Fetzereien, Grobheiten, Beleidigungen,<br />

die Verletzungen.<br />

Was Preminger, anders als Spielberg, nicht braucht, ist das<br />

Pathos, die Inszenierung ist bei ihm ganz lakonisch und gelassen. Die<br />

Senatoren haben Sinn für elegante Ironie. Brig Anderson, der Ausschussvorsitzende,<br />

erfährt von Leffingwells Lüge, er will, dass die<br />

Nominierung zurückgenommen wird. We have to make the best of<br />

our mistakes, sagt der Präsident zu ihm, das muss Brig böse in den<br />

Ohren klingen. Plötzlich wird er erpresst, von einer radikalen Gruppe<br />

im Senat, die mit allen Mitteln Leffingwell durchsetzen will. In der<br />

Militärzeit, auf Hawaii, hatte Brig einen jungen Mann geliebt, Ray.<br />

Zurück in den USA hat er die Beziehung abgebrochen, hat geheiratet,<br />

ein Kind, die Politik, die Tradition. Er trägt den Vornamen eines der<br />

großen Mormonenführer.<br />

Ray meldet sich aus der Vergangenheit, droht, will Geld. Brig<br />

fliegt nach New York, will ihn aufsuchen. Der Club 602, die Schwulenbar.<br />

Für ein, zwei Minuten verändert sich der Rhythmus des<br />

Films, wird nervös, fiebrig. Eine geschlossene Gesellschaft, zwischen<br />

Aggressivität und Anpassung. Scharf konturiert, also an der Kippe<br />

zur Karikatur – aber hat es das nicht auch bei Todd Haynes gegeben,<br />

in Far From Heaven? Kein Hollywoodianer hätte sich die Gelegenheit<br />

entgehen lassen, ein wenig höllischen Spuk nach Brueghel oder Bosch<br />

zu malen.<br />

Brig schreckt zurück, von oben sieht er in den großen dunklen<br />

Raum, dicht aneinander die Männer. Zwei Scheinwerfer schieben<br />

sich durch den Saal, die Männer sind durchaus bürgerlich, Leinenjackets<br />

oder T-Shirts, mit nicht ungezwungener Lässigkeit. Die Haare<br />

ein wenig länger als gewöhnlich, die Hemdkrägen ein wenig weiter<br />

ausschwingend, die Schatten unter den Augen ein wenig dunkler, die<br />

Augen selbst ein wenig stumpfer. Hinter der Theke ein mephistophelischer<br />

Barkeeper, kommen Sie rein, ruft er, als er Brig sieht, bleiben<br />

Sie nicht stehen. Aus dem Plattenautomaten Frank Sinatra, Let me<br />

hear a voice, a secret voice. A loser’s song.<br />

Das Fremde, das Andere, Preminger zeigt es mit neugieriger<br />

Unbefangenheit. Das Allerletzte, was ihn interessiert, ist Normalität.<br />

Wie bei Shakespeare sind uns die Leute aus dem Volk, die Narren<br />

auch, lieber als die Höflinge und ihre Royals. Vor dem Intermezzo in<br />

der Bar hatte Brig eine verrückte Begegnung mit dem unförmigen<br />

Larry Tucker, der tuntig durch sein Apartment schlappt, wie eine<br />

Puffmutter fast, dem verunsicherten Brig Tee einschenkt, sich ein<br />

paar Scheine auf den Tisch legen lässt, den Tip mit dem Club 602 gibt,<br />

Ray und du, ihr könnt ja dann herkommen, ihr habt ja bezahlt. Ein<br />

Jahr später wird der boshafte naive Larry Tucker Peter Breck heftig<br />

malträtieren in Sam Fullers Melodram aus einer anderen geschlossenen<br />

Gesellschaft, dem Irrenhaus: Shock Corridor.<br />

Was Brig zerstört, schrieb Mark Shivas, im Septemberheft von<br />

„Movie“ 1962, ist, dass er sich als Richter über einen anderen setzen<br />

muss und selbst einen dunklen Punkt in seiner Vergangenheit<br />

hat. Und dass er in sich, bei der Wiederbegegnung mit der anderen<br />

Welt, die alten Impulse wieder spürt. Ein anderes Leben, eine andere<br />

Freiheit. Zu groß für Brig, er wird, nach Washington zurückgekehrt,<br />

Selbstmord begehen.<br />

Brig stürzt aus dem Club auf die Straße, Ray läuft ihm nach, in<br />

weißem T-Shirt. Es ist wie ein ganzes verlorenes, verdrängtes Leben<br />

in ein paar kurzen Einstellungen, lass dir erklären, ich brauchte Geld,<br />

du hast nicht auf meine Anrufe reagiert. Taxi, ruft Brig, heftig winkend.<br />

Er steigt in das Taxi, Ray will ihn fassen, durchs Fenster greift<br />

Brig nach Rays Kopf, schiebt ihn weg, als der Wagen anfährt, und Ray<br />

fällt in die Pfütze im Rinnstein.<br />

Nach seinem Tod sieht man Brigs Frau den Abschiedsbrief an Ray<br />

lesen, den die Erpresser ihr zugeschickt haben. What happened between<br />

us in Hawaii could not have happened but for the war and the<br />

exhaustion and the loneliness.<br />

s<br />

Sturm über Washington<br />

Als Teil der Kollektion<br />

„Otto Preminger – Meisterwerke“<br />

deutsche SF, englische OmU<br />

Auf DVD bei Cine Qua Non,<br />

www.cinequanon.de<br />

36 37


dvd<br />

My Girl Götz<br />

von Oliver Sechting<br />

Im Zuge der deutschen Komödienwelle kam Mitte der 1990er Jahre auch Hermine<br />

Huntgeburths „Das Trio“ in die deutschen Kinos, dessen Schwulenrollenbilder<br />

allerdings nichts mit den Klischees der vorab bewegten Männer zu tun haben. Ihr<br />

Besetzungs-Clou, ausgerechnet den „Lieblings-Macho der Deutschen“ (Berliner<br />

Zeitung) Götz George in den Fummel des schwulen Kleinganoven Zobel zu stecken,<br />

ohne diese Figur auch nur einem Hauch von Lächerlichkeit auszusetzen, ist<br />

erinnerungs- und wiedersehenswürdig. „Das Trio“ erscheint im <strong>März</strong> erneut auf DVD.<br />

s Ein wunderschönes Beispiel für eine<br />

kurzfristige Flucht aus dem Alltag ist eine<br />

Szene in dem Wohnmobil. Nach dem Liebesspiel<br />

lässt sich Karl (Christian Redl), der<br />

in die Jahre gekommen ist und ein Toupet<br />

trägt, zunächst widerwillig auf Zobels (Götz<br />

George) Bitte darauf ein, sich in sein altes<br />

glamouröses Glitzerkleid zu zwängen. Kaum<br />

steckt er aber im blauen Paillettenfummel<br />

drin, fängt er an, hingebungsvoll und lasziv<br />

zu dem Schnulzen-Klassiker „My Girl“<br />

zu performen, während Zobel entspannt<br />

auf dem Bett liegt und ihm genüsslich dabei<br />

zuschaut. Für ein paar Momente wirkt es<br />

so, als wären die beiden an einem anderen<br />

Ort, in einer anderen Welt, in der alles etwas<br />

leichter und unbeschwerter ist.<br />

Doch kaum ist der Song zu Ende, fällt<br />

Karl wieder ein, dass er eigentlich zu dick für<br />

sein Kleid geworden ist („Du <strong>bis</strong>t nicht fett,<br />

du <strong>bis</strong>t stark!“, Zobel), und schlägt seine Stirn<br />

kummervoll in tiefe müde Falten. Zobel und<br />

Karl sind wieder das alte schwule Paar im<br />

klapprigen Wohnmobil.<br />

Sie stehen, gemeinsam mit Zobels Tochter<br />

Lizzi (Jeanette Hain), im Zentrum des<br />

38<br />

edition Salzgeber<br />

Films, als Kleinkriminelle, die sich buchstäblich<br />

durch die Gegend tricksen und stehlen.<br />

In ihrem charmant heruntergekommenen<br />

Wohnmobil tourt das eingespielte Trio durch<br />

ein Verlierermilieu aus Schaustellern, Preisboxern<br />

und Gaunern, im Volksgedränge und<br />

unter einfachen Menschen immer auf der<br />

Suche nach der nächsten, wenigstens halb<br />

gefüllten Geldbörse.<br />

Zobel, von George auf seine unnachahmliche<br />

Art durch den Film genuschelt, wirkt<br />

auf den ersten Blick wie ein herrischer raubeiniger<br />

Kerl, aber auf den zweiten erkennt<br />

man einen brüchigen, verletzbaren Mann,<br />

dessen Charme immer wieder in seiner Liebe<br />

zu Karl deutlich, durch den gemeinsamen,<br />

tristen Alltag aber regelmäßig eingeholt<br />

wird.<br />

Als der junge Taschendieb Rudolf (Felix<br />

Eitner) plötzlich in das Leben der drei stolpert,<br />

erweckt dieser nicht nur das Interesse<br />

von Lizzi, sondern auch das ihres Vaters. Der<br />

unerwartete Tod von Karl stößt den verzweifelten<br />

Zobel in die Arme von Rudolf, der sich<br />

parallel in eine Affäre mit Lizzi begibt. Als<br />

das heimliche Doppelspiel des schnell überforderten<br />

Rudolf auffliegt, kommt es zum<br />

Eklat zwischen Vater und Tochter und die<br />

eingespielt kumpelhafte Beziehung droht zu<br />

entzweien. Klassische Themen also: Schuld<br />

und Eifersucht, Liebe und Verlust.<br />

Götz George wurde einem breiten Publikum<br />

durch seine TV-Rolle als grober, großmäuliger<br />

Tatort-Kommissar Schimanski<br />

bekannt und avancierte durch diese Rollenprägung<br />

zum deutschen Parade-Darsteller<br />

für Machos und zu einer heterosexuellen<br />

Männer-Ikone einer ganzen Generation. In<br />

Hermine Huntgeburths Film bricht er, wie<br />

schon zuvor in Romuald Karmakers Der Totmacher<br />

(1995), mit dem George als erstzunehmender<br />

Charakterschauspieler wiederentdeckt<br />

wurde, mit diesem Bild und zeichnet<br />

mit seiner einfühlsamen Darstellung einen<br />

markanten und brüchigen schwulen Mann.<br />

George spielt Zobels Widersprüche aus: die<br />

cholerischen und verletzenden Ausfälle, die<br />

immer dann kommen, wenn ihm Situationen<br />

entgleiten, die dahinter aber einen Liebenden<br />

sichtbar machen, der versucht, seinen<br />

engen Kreis mit undiplomatischen Mitteln<br />

zusammenzuhalten und zu schützen. Es ist<br />

dann auch die Liebe, die ihn immer wieder<br />

dazu zwingt, in letzter Konsequenz nicht an<br />

seinen Vorstellungen festzuhalten.<br />

Gespiegelt wird Zobels Ambivalenz<br />

innerhalb des bemerkenswerten Spektrums<br />

des Films durch Jeannette Hains tomboyhafte<br />

Lizzi und Felix Eitners in seinem<br />

Begehren undurchschaubaren Rudolf – beide<br />

Charaktere lassen sich schwer in Schubladen<br />

stecken und wollen zudem gar nicht in das<br />

Bild eines Milieus passen, das von klaren<br />

Geschlechterstereotypen beherrscht scheint.<br />

Im zeitlichen Kontext der späten 90er Jahre<br />

überrascht der Film vor allem dadurch, dass<br />

er nicht an dem starren Bild von Homo- und<br />

Heterosexualität festhält, sondern einen<br />

vielfältigeren Ansatz vermittelt, der am Ende<br />

in einer besonderen Familienzusammenführung<br />

gipfelt. Der Film war rückblickend mit<br />

seiner queeren Themenbesetzung seiner Zeit<br />

voraus und passt mit der DVD-Veröffentlichung<br />

umso mehr in den heutigen Zeitgeist:<br />

als queeres Familienroadmovie, das abseits<br />

der Szene unterwegs ist, und als Film über<br />

Menschen am Rand der Gesellschaft, der für<br />

ein großes Publikum gemacht ist. s<br />

Das Trio<br />

von Hermine Huntgeburth<br />

DE 1997, 97 Minuten, deutsche OF<br />

Auf DVD bei der Edition Salzgeber,<br />

www.salzgeber.de<br />

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film-flirt<br />

frisch ausgepackt<br />

Der<br />

Moment<br />

Schriftsteller sehen Filme: Martin Arz<br />

Kaum einer kennt die Geheimnisse,<br />

Abgründe und Irrwege der Stadt<br />

München so gut wie der Künstler, Autor<br />

und Verleger Martin Arz. Seine vor<br />

Lokalkolorit berstenden Kriminalromane,<br />

vor allem die <strong>bis</strong>lang vier Fälle um<br />

den schwulen Kriminalrat Max Pfeffer,<br />

profitieren davon genauso wie seine<br />

„Reiseführer für Münchner“ und sein<br />

Sammelsurium „Absolut München“.<br />

Naheliegend, dass Arz auch als<br />

Reiseführer arbeitet und „München-<br />

Safaris“ anbietet. Für die SISSY verlässt<br />

er die Wahlheimat und begibt sich auf<br />

einen Ausflug ins selbstironische, aber<br />

nicht weniger mörderische Hollywood.<br />

s Es ist der Auftritt aller Auftritte: Die<br />

größte Diva aller Zeiten steht geschminkt<br />

und in großer Robe oben an der Treppe.<br />

Es soll ihr fulminantes Comeback werden.<br />

Die Kamera läuft, alle Nebenpersonen sind<br />

ehrfurchtsvoll erstarrt. Es gibt nur noch<br />

sie! „Ich bin soweit für die Großaufnahme“,<br />

sagt sie. Jeder Schritt die Treppe hinab eine<br />

große Pose. Doch das, worauf der Zuschauer<br />

gemeinsam mit der Diva Norma Desmond<br />

den ganzen Film über hingefiebert hat, findet<br />

nicht statt. Die Kamera fängt keine Großaufnahme<br />

von Normas grotesk verzerrtem<br />

Gesicht ein – das Bild löst sich allmählich<br />

auf. Regisseur Billy Wilder setzt mit diesem<br />

Schluss seinem Film Sunset Boulevard ein<br />

40<br />

würdiges Ende. Denn der ganze Film ist ein<br />

Film im Film und das Ende erinnert daran,<br />

dass es eben nur ein Zelluloidstreifen ist,<br />

der durch den Projektor läuft. Und der große<br />

Auftritt ist gar keiner: Der Regisseur, der<br />

„Action“ ruft, ist nur ihr Butler. Die Kamera<br />

macht Wochenschauaufnahmen. Die Nebenfiguren<br />

sind nicht ehrfurchtsvoll, sondern<br />

peinlich berührt erstarrte Reporter und Polizisten<br />

– denn die wahnsinnumnebelte Diva<br />

schreitet ihrer Verhaftung entgegen.<br />

Wilders Sunset Boulevard aus dem Jahr<br />

1950 war ebenso Erfolg wie Skandal. Vor<br />

allem die mächtigen Filmbosse tobten über<br />

Wilder, diesen Nestbeschmutzer. Nie zuvor<br />

hatte jemand es gewagt, mit Hollywood filmisch<br />

so böse abzurechnen, nie zuvor wurde<br />

der Markt der schönen Lügen so demaskiert.<br />

Der Film ist gespickt mit Zitaten, große Stars<br />

spielen sich selbst, Szenen aus Stummfilmklassikern<br />

werden in die Handlung eingebaut.<br />

Und dann beginnt diese Ohrfeige auch<br />

noch mit einem Toten im Pool, der aus dem<br />

Jenseits seine Geschichte erzählt. Hyperskandal!<br />

So darf man doch einen Film nicht<br />

beginnen.<br />

Doch, man darf. Die Geschichte ist relativ<br />

einfach: Der Tote im Pool ist Joe. Warum<br />

er tot ist, wird in der Rückblende erzählt. Der<br />

junge, erfolglose Schriftsteller Joe landet auf<br />

der Flucht vor Gläubigern in der Villa des<br />

einstigen Stummfilmstars Norma Desmond<br />

(gespielt vom einstigen Stummfilmstar<br />

Gloria Swanson). Norma lebt in dem Wahn,<br />

weiterhin umjubelt zu sein. Ihr Faktotum,<br />

der einst große Stummfilmregisseur Max<br />

von Meyerling (gespielt vom einst großen<br />

Stummfilmregisseur Erich von Stroheim)<br />

schreibt dazu extra fingierte Fanpost. Norma<br />

schaut ständig ihre alten Filme (zu sehen ist<br />

die junge Swanson in Queen Kelly unter der<br />

Regie Erich von Stroheims). In ihrer Bridge-<br />

Runde treffen sich Stummfilmstars, die den<br />

Sprung zum Tonfilm nicht geschafft haben<br />

– darunter Buster Keaton. Norma macht Joe<br />

screenshot: youtube<br />

mit Geld und Geschenken zu ihrem Toy-Boy<br />

und verlangt von ihm, neben Sex, ihr ein<br />

Drehbuch für ein grandioses Comeback zu<br />

schreiben. Joe lässt sich kaufen, obwohl er<br />

ein anderes Mädel liebt. Letztendlich aber<br />

kann Joe Normas Wahn nicht mehr ertragen,<br />

entschließt sich, Schluss zu machen und<br />

besiegelt so sein Schicksal. Norma lebt nur<br />

noch in ihrer Scheinwelt. „Einen Star verlässt<br />

man niemals“, sagt sie, „das ist es, was einen<br />

zum Star macht!“ Und sie erschießt Joe. Zeit<br />

für den ganz großen Auftritt – Hauptsache,<br />

das Make-up sitzt … Inzwischen tausendfach<br />

kopiert, besonders gerne in der Travestie.<br />

Ursprünglich sollte Sunset Boulevard<br />

eine Burleske mit Mae West in der Hauptrolle<br />

werden. Doch weil das Skript immer<br />

ernster wurde, suchte man nach einer anderen<br />

Ex-Diva, Mary Pickford und Pola Negri<br />

sagten ab. Schließlich unterschrieb Gloria<br />

Swanson. Immer wieder hieß es, sie würde<br />

sich selbst spielen, was Unfug ist. Die Swanson<br />

war auch nach Ende des Stummfilms gut<br />

im Geschäft, arbeitete fürs Fernsehen, als<br />

ihr die Norma Desmond angeboten wurde.<br />

Der Film wurde ihr Leinwandcomeback; und<br />

für den damals unbekannten, aber verteufelt<br />

gut aussehenden William Holden alias Joe<br />

der Start einer großen Karriere. Die Rolle<br />

des Joe sollte ursprünglich Montgomery<br />

Clift spielen, damals ein Megastar. Doch der<br />

sprang ab, weil er seinen Fans nicht zumuten<br />

wollte, eine Affäre mit einer mehr als doppelt<br />

so alten Frau vorzuspielen.<br />

s<br />

www.martin-arz.de<br />

www.muenchen-safari.de<br />

Sunset Boulevard<br />

von Billy Wilder<br />

US 1950, 110 Minuten,<br />

deutsche SF + OmU<br />

Auf DVD bei Paramount Home,<br />

www.paramount.de<br />

Das geschenkte Mädchen<br />

von Martin Arz<br />

Roman, 256 Seiten,<br />

Hirschkäfer 2011<br />

Pechwinkel<br />

von Martin Arz<br />

Roman, 224 Seiten,<br />

Hirschkäfer 2011,<br />

www.hirschkaefer-verlag.de<br />

Reine Nervensache<br />

von Martin Arz<br />

Roman, 295 Seiten,<br />

Hirschkäfer 2010<br />

Neu auf DVD<br />

von Sebastian Markt (SM), Jan Künemund (JK) und Paul Schulz (PS)<br />

STURM ÜBER WASHINGTON<br />

US 1962, Regie: Otto Preminger, DVD-Box<br />

„Otto Preminger Meisterwerke“ bei Cine Qua Non<br />

„Brig schreckt zurück,<br />

von oben sieht er in den<br />

großen dunklen Raum,<br />

dicht aneinander die<br />

Männer. Zwei Scheinwerfer<br />

schieben sich durch<br />

den Saal, die Männer sind<br />

durchaus bürgerlich, Leinenjackets<br />

oder T-Shirts,<br />

mit nicht ungezwungener Lässigkeit. Die Haare<br />

ein wenig länger als gewöhnlich, die Hemdkrägen<br />

ein wenig weiter ausschwingend, die<br />

Schatten unter den Augen ein wenig dunkler,<br />

die Augen selbst ein wenig stumpfer. Hinter<br />

der Theke ein mephistophelischer Barkeeper,<br />

kommen Sie rein, ruft er, als er Brig sieht, bleiben<br />

Sie nicht stehen.“ (Seite 34)<br />

Ulrike Ottinger –<br />

Die Nomadin vom See<br />

DE 2012, Regie: Brigitte Kramer, Edition Salzgeber<br />

Ulrike Ottingers im Laufe<br />

von <strong>bis</strong>lang drei Jahrzehnten<br />

entstandene Filme<br />

bilden einen großen<br />

Solitär in der Landschaft<br />

des deutschen Kinos. Brigitte<br />

Kramer, so wie die<br />

Regisseurin in Konstanz<br />

aufgewachsen und zeitweilige<br />

Mitarbeiterin, hat ein Portrait über die<br />

Filmemacherin gestaltet, das sich nicht in Kanonisierung<br />

versucht, sondern einige Tangenten<br />

an Werk und Person legt: Beobachtungen<br />

und Gespräche mit der Künstlerin, Erinnerungen<br />

von Freund_innen, Mitarbeiter_innen und<br />

Wegbegleiter_innen und nicht zuletzt vielsagend<br />

ausgewählte Szenen ihrer Filme. Kramer<br />

versucht dabei weder das Werk aus der Person<br />

zu erklären, noch umgekehrt die Person im<br />

Werk aufzulösen. Ein verregnetes Geburtstagsessen<br />

mit Freunden im Freien; Ottinger beim<br />

Auspacken und Deuten von Geschenken, die<br />

sie von japanischen Protagonist_innen aus Unter<br />

Schnee erhalten hat; Ottinger beim Arrangement<br />

ihrer großen Ausstellung im Haus der<br />

Kulturen der Welt: Die schönsten und eindringlichsten<br />

Bilder, die das Portrait selbst<br />

entwirft, vermitteln eine spezifische Haltung,<br />

oder vielleicht einen Ethos im Umgang mit<br />

Menschen, Dingen und Bildern, der auch in<br />

Ottingers künstlerischem Werk greifbar wird.<br />

Eine Haltung, die sich nicht allein damit begnügt,<br />

die Welt in ihrem Gegebensein zu verzeichnen,<br />

sondern sich zum gestaltenden Dokumentieren<br />

einer Fantasie erweitert.<br />

Dass der Film die Fantasien von vielen Leuten,<br />

die etwas Anderes wollten, beflügelt habe, sagt<br />

sie einmal über den Erfolg ihres dritten Kinofilms<br />

Madame X – Eine absolute Herrscherin.<br />

Dieses Andere zu kartographieren und zu situieren,<br />

hätte ein Anliegen dieses Dokumentarfilms<br />

sein können. Dass er es nicht abschließend<br />

tut, und er deshalb auf die Kenntnis von<br />

Ottingers Arbeiten setzt, ist gleichzeitig seine<br />

große Stärke, als Einladung zum Eintauchen<br />

in einen Kosmos, der die Sehgewohnheiten<br />

aller, die sich darauf einlassen, nicht unverändert<br />

lassen wird.<br />

sm<br />

Man for a day<br />

DE 2012, Regie: Katarina Peters, Edition Salzgeber<br />

„Was klingt wie Selbsterfahrung<br />

mit esoterischem<br />

gegenseitigen Oberarmstreicheln,<br />

ist – aufgrund<br />

des Themas – eher das<br />

Gegenteil: Bei einem<br />

‚Drag King‘-Workshop<br />

von Diane Torr geht es um<br />

Gender-Bewusstwerden<br />

durch handfestes Erleben. ‚Gender is gestures‘,<br />

sagt die US-amerikanische Performancekünstlerin,<br />

die 1948 geboren wurde, in den 70ern<br />

nach New York ging und seit 1989 Gender-Bender-Workshops<br />

anbietet. Die Filmemacherin<br />

Katarina Peters hat einen der einwöchigen<br />

Workshops in Berlin begleitet, hat die Kamera<br />

auf sämtliche Teilnehmerinnen des Experiments<br />

gerichtet und ihre unterschiedlichen<br />

Agenden gefilmt. (…) Dass Peters die Denkanregungen,<br />

die Torr mit ihren Workshops gibt,<br />

in Szene setzt, ohne albern, plakativ oder flach<br />

zu werden – denn die angesprochenen, überspitzten<br />

Verhaltensweisen müssen all das<br />

manchmal sein – ist das Verdienst ihres Dokumentarfilms.<br />

Zudem kommt sie ohne zuviel<br />

Psychologisierungen aus, ohne so augenzwinkernde<br />

wie ärgerliche Frauen-Venus-, Männer-Mars-Schubladen.<br />

In Torrs Fall kann das<br />

Aufzeigen von Unterschieden zwischen männlichen<br />

und weiblichen Verhaltensweisen zu<br />

besserem Verständnis führen. Sogar, wenn der<br />

Kerl, der da gerade vor einem wichtigtuerisch<br />

auf den Zehenspitzen wippt, ein totales Arschloch<br />

ist.“ (Jenni Zylka in SISSY 14)<br />

MEINE FREIHEIT, DEINE FREIHEIT<br />

DE 2011, Regie: Diana Näcke, Edition Salzgeber<br />

Vier Jahre lang hat Diana<br />

Näcke den schwierigen<br />

Weg zweier gefangener<br />

Frauen in die Freiheit mit<br />

der Kamera verfolgt. Immer<br />

wieder war sie alleine<br />

in der „JVA für Frauen“<br />

in Berlin Lichtenberg<br />

und hat für Meine Freiheit,<br />

deine Freiheit so intime Bilder aus einem<br />

Frauenknast gedreht wie kaum jemand zuvor.<br />

Zwangsläufig ist ihr Film auch ein philosophischer<br />

Exkurs zum Thema Freiheit an sich geworden.<br />

„Ich hatte keine Ahnung von Ton und<br />

keine Ahnung von Kamera, geschweige denn<br />

von Szenen-Auflösung. Ich musste einfach<br />

drehen. Und ich wusste, dass viel passieren<br />

wird. Kübra hat mich manchmal nachts angerufen<br />

und gesagt: ‚Jetzt!‘ Und dann musste ich<br />

eben los, egal wann und egal wie. Da kannst<br />

Du nicht noch einen Tonmann oder eine Kamerafrau<br />

anrufen. Und es gab eben kein Geld.<br />

Und wenn man realistisch ist, wer gibt einem<br />

Debüt-Filmemacher ohne Filmschulhintergrund<br />

Geld? Alle Entscheidungen waren aus<br />

heutiger Sicht richtig. Das gedrehte Material<br />

hat dann überzeugt, vor allem die Kraft der<br />

beiden Protagonistinnen und wahrscheinlich<br />

auch meine Dokwütigkeit!“ (Diana Näcke in<br />

SISSY 14)<br />

LIFE IN STILLS<br />

IL/DE 2011, Regie: Tamar Tal, good!movies<br />

In den Jahrzehnten nach<br />

seiner Einwanderung<br />

1936 schuf der Fotograf<br />

Rudi Weissenstein ein<br />

Werk, das zu den umfangreichsten<br />

bildlichen Dokumentationen<br />

der Geschichte<br />

des israelischen<br />

Staates zählt. Ikonischen<br />

Status halten seine Fotografien der Unabhängigkeitserklärung,<br />

aber die Blicke, die Weissenstein<br />

auf eine sich entwickelnde Gesellschaft<br />

warf, erstreckten sich ebenso auf<br />

alltägliche Szenen, Portraits, das sich ständig<br />

wandelnde Gesicht von Stadt und Land im Aufbau.<br />

Den archivalische Niederschlag dieser Arbeit<br />

beherbergt das Pri-Or Photohouse in Tel<br />

Aviv, das Weissensteins Frau Miriam seit seinem<br />

Tod allein weiterführt. In den letzten Jah-<br />

41


frisch ausgepackt<br />

frisch ausgepackt<br />

ren erhielt sie dabei Unterstützung von ihrem<br />

Enkel Ben Peter. Tamar Tals Film, der in erster<br />

Linie ein Portrait der Beziehung dieser beiden<br />

Menschen ist, setzt ein, als der Fotoladen vom<br />

drohenden Abriss des Hauses gefährdet ist.<br />

Der generationelle Abstand zweier konträrer<br />

Temperamente, des sanften, offene Enkels und<br />

der schroffen, wenn auch nicht unherzlichen<br />

Großmutter, macht sich dabei auch in unterschiedlichen<br />

Ideen über die beste Pflege des<br />

fotografischen Erbes bemerkbar, während Miriam<br />

widerwillig damit ringt, sich mit den Realitäten<br />

ihres Alters – sie ist in ihren Neunzigern<br />

– auseinanderzusetzen und Ben Peter, der dabei<br />

ist, mit seinem Lebensgefährten Ofir zusammenzuziehen,<br />

sich bemüht, neben der Arbeit<br />

im Laden und der Pflege seiner Oma noch<br />

Raum für sich zu bewahren. Über all das wirft<br />

zu alledem immer wieder eine private Tragödie<br />

ihre Schatten: Miriam Weissensteins<br />

Tochter, Ben-Peters Mutter, wurde von nach<br />

30 Jahren Ehe von ihrem Mann ermordet, der<br />

sich danach selbst das Leben nahm. Tal montiert<br />

diese Ebenen und die dazugehörigen<br />

Bilderwelten: die dokumentarischen Beobachtung<br />

der Gegenwart von Miriam und Ben Peter,<br />

alte Super-8-Familienfilme und Weissensteins<br />

Archiv der Landesgeschichte in sachter<br />

Kollision zu einem zärtlichen Portrait einer<br />

innigen Amour fou in stürmischen Gewässern<br />

und einer von reichlich sarkastischem Humor<br />

empor gehaltenen Lebensfreude.<br />

sm<br />

Vito<br />

US 2012, Regie: Jeffrey Schwarz, Pro-Fun Media<br />

Mit Vito setzt Regisseur<br />

Jeffrey Schwarz seine Dokumentations-Reihe<br />

über<br />

außergewöhnliche Protagonisten<br />

der queeren Geschichte<br />

fort. Und liefert<br />

ein Standardwerk ab.<br />

Nichts an der Montage<br />

von O-Tönen, Zeitzeugeninterviews<br />

und eigenen Beobachtungen ist neu<br />

oder originell, dafür wird für nicht-heterosexuelle<br />

Filmfans kaum ein Leben so spannend sein<br />

wie das von Vito Russo. Schließlich ist der Autor<br />

von The Celluloid Closet der Vater der queeren<br />

Filmwissenschaften und hat Homos beigebracht,<br />

sich selbst in Filmen auch unter dicken<br />

Schichten von Heteronormativität wiederzufinden.<br />

Zwanzig Jahre lang, <strong>bis</strong> in seinem letzten<br />

Lebensjahrzehnt der Kampf gegen Aids<br />

wichtiger wurde, schon, weil er sich vielleicht<br />

selbst das Leben retten wollte. Was man hier<br />

lernen kann: Fröhlichkeit an politischer Arbeit,<br />

dass ein intellektueller Geist ohne eine Utopie<br />

vielleicht nichts weiter ist als eine große Vergeudung,<br />

dass der Stolz auf die eigene Person<br />

und das eigene Tun als Vorbild für andere vielleicht<br />

fast so wichtig sind wie das Tun selbst.<br />

Das haben viele, viele andere Queerlinge von<br />

42<br />

Vito Russo gelernt und Schwarz bietet hier Gelegenheit,<br />

diesen Gedanken wieder zu entdecken.<br />

Man sollte das tun.<br />

ps<br />

Yossi<br />

IL 2012, Regie: Eytan Fox, Pro-Fun Media<br />

Zehn Jahre nach der sensationell<br />

erfolgreichen<br />

Soldatenromanze Yossi &<br />

Jagger erzählt Regisseur<br />

Eytan Fox mit seinem<br />

Darsteller Ohad Knoller<br />

Yossis Geschichte weiter<br />

– als Einsamkeits- und<br />

Verpanzerungsstudie.<br />

„Etwas hängt ihm an. Eine unerledigte Liebe,<br />

auch nach dem Tod des Geliebten noch. Das<br />

plakative sexy Grün des Soldatenoveralls ist<br />

nur fadenscheinig ersetzt worden durch den<br />

grünen Ärztekittel und das <strong>bis</strong> obenhin zugeknöpfte<br />

grüne Ausgeh-Hemd. Für das Online-<br />

Date hängt er ein Foto von früher an, nicht, um<br />

zu täuschen, sondern weil er sich nur als Yossi<br />

von damals erträgt. Schließlich lüftet Fox das<br />

Geheimnis in einem Aktivitätsschub Yossis: Er<br />

besucht die zufällig als Patientin in sein Leben<br />

getretene Mutter von Jagger – zu Hause, das<br />

auch mal Jaggers Zuhause war, noch gibt es<br />

ein unangetastetes Jugendzimmer, mit Gitarre,<br />

Lavalampe, einem Modellpanzer und ganz<br />

vielen Musik-CDs. Dort, vor den Eltern, outet<br />

sich Yossi und outet Yossi den Sohn der beiden<br />

Ahnungslosen, die vor ihm sitzen und ihm<br />

Kekse anbieten. ‚Er wollte, dass Sie das wissen.‘<br />

Aber eigentlich muss er aussprechen, was<br />

ihn lähmt, seit zehn Jahren: dass er damals<br />

erst gar nicht, dann zu spät ‚Ich liebe dich‘ sagte<br />

und nicht weiß, ob der sterbende Freund es<br />

noch gehört hat. Das ist nicht das Problem der<br />

Eltern – es ist das Problem des Gefühlsamputierten<br />

und Herzkranken, und es war schon<br />

vorher da, bevor er Jagger kennen lernte und<br />

wieder verlor. 45 Minuten staut der Film <strong>bis</strong><br />

hierher Yossis Selbsthass auf. Und entlädt es in<br />

einem Bild von Palmen, Meer und Wüste – einem<br />

Poster in Jaggers Jugendzimmer, das der<br />

Vater ihm öffnet.“ (JK in SISSY 16)<br />

Skinny<br />

US 2012, Regie: Patrick-Ian Polk, Pro-Fun Media<br />

Skinny ist eine interessante<br />

afro-amerikanische<br />

Variation eines altbekannten<br />

schwulen Themas:<br />

Sex and the City.<br />

Eine Gruppe von Freunden<br />

versucht, während<br />

eines Wochenendes in<br />

New York so viel Freude<br />

und Geschlechtskontakte wie irgend möglich<br />

zu haben und unterhält sich dabei, in auf<br />

Windschnittigkeit getrimmten, hochgradig<br />

ironischen Dialogen, über nichts als Liebe, Sex<br />

und Oberflächlichkeiten. Wer nur auf der Suche<br />

nach Wahrhaftigkeit und einem Sinn im<br />

Leben ist, der sich auf etwas anderes als Konsum<br />

jeder Art reduziert, kann sich das hier<br />

sparen. Alle anderen machen sich vielleicht<br />

einfach eine Flasche Prosecco auf und kichern<br />

fröhlich mit, während auf dem Flachbildschirm<br />

mehr oder weniger nackte Jungs durch<br />

allerlei Absurditäten purzeln und dabei keine<br />

andere Botschaft haben als ihre eigene Schönheit<br />

und die Freude daran. Regisseur und<br />

Drehbuchautor Patrick-Ian Polk stellt hier filmisch<br />

nichts Neues auf die Beine und schreckt<br />

nicht mal davor zurück, seinen Film mit Wilson<br />

Cruz und Darryl Stephens zu garnieren,<br />

hat daran aber, genau wie das willige Publikum,<br />

einen Heidenspaß.<br />

ps<br />

GAYBY<br />

US 2012, Regie: Jonathan Lisecki, Pro-Fun Media<br />

Die Konjunktur der Romantic<br />

Comedy währt ungebrochen<br />

und eine Tendenz<br />

dazu, auch und<br />

gerade im Herzen der Industrie<br />

an den Parametern<br />

der Genrekonventionen<br />

zu schrauben, ist seit<br />

einiger Zeit unübersehbar<br />

und bescherte uns Konstellationen wie die von<br />

gescheitert bleibenden Paaren zu Bromances<br />

zu unerlöst bleibenden Problemheldinnen, die<br />

gegen eine ganze Batterie von Regeln dessen<br />

verstoßen, was einem <strong>Mai</strong>nstream-Publikum<br />

an weiblicher Hauptfigur angeblich zumutbar<br />

ist. Jonathan Liseckis Langfilmdebut Gayby lotet<br />

nun die Genregrenzen in queerer Hinsicht<br />

aus, mit Figuren, die eindeutig einem Independent-Kosmos<br />

entstiegen sind, wobei das Genre-<br />

Territorium andererseits nie aufgegeben wird.<br />

Das Setup bilden als dann Jenn, Yoga Lehrerin<br />

im Lebensabschnitts-Niemandsland, und ihr<br />

bester, schwuler Freund seit Collegetagen:<br />

Matt, der von Jenn in eine Kinderaufzuchtszweckgemeinschaft<br />

rekrutiert wird. Das solchermaßen<br />

anvisierte Gayby, dessen Zeugung<br />

zudem noch au naturelle vonstatten gehen soll,<br />

droht dann freilich mit den durchaus vorhanden<br />

zentrifugalen romantischen und sexuellen<br />

Aspirationen der beiden Hauptfiguren zu kollidieren.<br />

Sein beträchtliches komödiantisches<br />

Potential bezieht der Film dabei daraus, ein<br />

Figuren ensemble gegen eine dramaturgische<br />

Kon stellationen in Stellung zu bringen, wobei<br />

die Naturelle dieser Figuren mit den Konventionen<br />

einer Dramturgie unvereinbar sind, die<br />

Held_innen stets dazu anhält, einen Prozess<br />

der persönlichen Reifung zu durchlaufen. Regisseur<br />

Lisecki gibt in einem Nebenrollenauftritt<br />

Matts Arbeitskollegen und Buddy Nelson.<br />

Dieser ‚feminine bear‘ mit Inseminationsexpertise<br />

ist komödiantischer Kulminationspunkt<br />

wie Bruchstelle eines Kinos, dessen<br />

Motto „Own Your Cliches“ sein könnte. Dennoch,<br />

und gerade deswegen: The Kid will be<br />

allright.<br />

sm<br />

NATE & MARGARET<br />

US 2012, Regie: Nathan Adloff, Edition Salzgeber<br />

Die Witze, die Margaret<br />

erzählt, sind Witze, die einen<br />

Schmerz verdecken<br />

oder, genauer, solche, die,<br />

indem sie erzählt werden,<br />

den Erzähler besser damit<br />

leben lassen. Von Margarets<br />

Geschichte erfahren<br />

wir nur in Ahnungen, von<br />

ihrer Gegenwart erfahren wir mehr: In einem<br />

Apartmenthaus in Chicago lebt sie Tür an Tür<br />

mit Nate. Es ist eine unwahrscheinliche<br />

Freundschaft, die die beiden verbindet: die sarkastische<br />

Margret, Anfang fünfzig und Bedienung<br />

in einem Coffee-Shop, und der schüchterne<br />

Nate, neunzehn, schwul und angehender<br />

Filmemacher. Aus der weltvergessenen Selbstgenügsamkeit<br />

wird ihre Freundschaft gerissen,<br />

als Nate eine Beziehung mit dem extrovertierten<br />

James beginnt, und Margarets<br />

Wünsche nach einer Karriere als Stand-Up-<br />

Komikerin in Erfüllung zu gehen scheinen.<br />

Adloff inszeniert darin eine toll gespielte<br />

(Roseanne-Regular Natalie West und Newcomer<br />

Tyler Ross), an der eigenen Achse gespiegelte<br />

Coming-Of-Age-Geschichte. Margaret,<br />

einsam, aber nach außen gewandt, im Versuch,<br />

einem nicht eben glücklich verlaufenen<br />

Leben späten Sinn und Würde zu verleihen,<br />

Nate, Everybody’s Darling, aber zurückhaltend,<br />

im Versuch herauszufinden, was er vom<br />

Leben erwarten darf. Zwei Figuren, deren<br />

Verbundensein in dem Maß, in dem sie dabei<br />

sind, sich selbst zu entwerfen, einer neuen<br />

Begründung bedarf. Das Außen, gezielt auf<br />

weniger-dimensionale Nebenfiguren reduziert,<br />

gibt dafür die Begrenzung einer Welt,<br />

die auf Rechtfertigung drängt. Der Witz von<br />

Nate & Margaret, dessen Anklänge an Harold<br />

and Maude deutlich sind, von dem er sich aber<br />

auch emanzipiert, erschöpft sich nicht in der<br />

Dopplung von Margarets (auto-)aggressiven<br />

Stand-Up-Scherzen, sondern findet zu seinem<br />

eigenen, zwischen Lakonie und Drama changierenden<br />

Witz. Ein kleiner Film, der es nicht<br />

nötig hat, Ahnungen größerer Ambitionen<br />

zu insinuieren, weil er den Raum, den er sich<br />

schafft, ganz ausfüllt.<br />

sm<br />

Liebesrauschen<br />

P WWW.L-FILMNACHT.DE<br />

FR/CH 2012, Regie: Cyrill Legan, Pascal Latil, Adrienne<br />

Bovet u.a., Pro-Fun Media<br />

Sur le Départ heißt der<br />

wichtigste Grund, sich<br />

diese Sammlung guter<br />

französischer Kurzfilme<br />

anzuschaffen. Michael<br />

Dacheux’ mehrfach ausgezeichnetes<br />

Debüt erzählt<br />

in etwas weniger als<br />

einer Stunde eine Geschichte<br />

über Provinz und Paris, erste Liebe<br />

und den nächsten Schritt, Homos und Heteros.<br />

Seine Protagonisten haben keine Namen, sondern<br />

werden nur über die Instrumente beschrieben,<br />

die sie spielen: Klavier und Klarinette.<br />

Und während es das Klavier nach Paris<br />

zieht, wo „die Dämmerung ein Tor zu tausend<br />

Möglichkeiten“ ist, bleibt die Klarinette dort,<br />

wo die beiden aufgewachsen sind. Über Jahre<br />

lernen die beiden, was sie trennt, aber auch<br />

verbindet, und wo wer welche Melodie spielen<br />

muss, um er selbst zu werden oder zu bleiben.<br />

Ein hinreißendes Gefühlskaleidoskop, das von<br />

zwei jugendlichen Darstellern mehr als adäquat<br />

umgesetzt wird. Sacht und leise, sehr<br />

intensiv, aber nie kitschig. Ergänzt durch drei<br />

weitere kleine Filme, in denen es genauso liebesversessen<br />

zugeht, die ihren Schwerpunkt<br />

aber fleischlicher anlegen, ist Liebesrauschen<br />

der perfekte Ersatz für einen Kurztrip ins<br />

Französische. Sehr gut.<br />

ps<br />

ON THE ROAD<br />

US/BR/FR/UK 2012, Regie: Walter Salles, Concorde Video<br />

„Ein Film, dem alles zum<br />

Stoff geworden ist, nimmt<br />

Anhalter mit: einen Twilight-Star,<br />

der Proust<br />

liest, Sam aus Tron: Legacy,<br />

der Texte von Slim<br />

Gaillard rappt, und Aragorn,<br />

ohne Unterhose, im<br />

Orgon-Akkumulator. Unglaublich<br />

schöne Menschen, Gesichter, Körper.<br />

Landschaften, Autos. Die Straßenbilder<br />

zittern, die Tonspur knistert, Detailaufnahmen<br />

und große Gesten nehmen sich einen<br />

sinnlichen Entwurf vor, für den sich der Ausbruch<br />

lohnt, zumindest ins Kino.“ (Seite 37)<br />

ELLIOT LIEBT DICH<br />

US 2012, Regie: Terracino, Pro-Fun Media<br />

Elliot liebt dich ist deswegen<br />

eine so unbändige<br />

Freude von einem Film,<br />

weil Regisseur und Drehbuchautor<br />

Terracino seine<br />

Indie-Fabel über die Suche<br />

nach der großen Liebe,<br />

bei der einem die eigene<br />

Kindheit immer im<br />

Weg steht, mit großartigen Schauspielern besetzt<br />

hat und die sich die Seele aus dem Leib<br />

spielen. Nicht dumm, erotisch, witzig, sehr an-<br />

A PERFECT ENDING <strong>·</strong> LIPSTIKKA <strong>·</strong> ZWEI<br />

MÜTTER <strong>·</strong> JENSEITS DER MAUERN <strong>·</strong> I WANT<br />

YOUR LOVE <strong>·</strong> FREIER FALL<br />

WIR SEHEN UNS IM KINO: AACHEN, AUGSBURG, BERLIN, BREMEN, DARMSTADT,<br />

DRESDEN, FRANKFURT, FREIBURG, HALLE, HAMBURG, HANAU, HANNOVER,<br />

KARLSRUHE, KIEL, MAGDEBURG, MANNHEIM, MARBURG, MÜNCHEN, MÜNSTER,<br />

NÜRNBERG, OLDENBURG, POTSDAM, REGENSBURG, STUTTGART<br />

P WWW.GAY-FILMNACHT.DE


frisch ausgepackt<br />

profil<br />

rührend, mit einer Almodóvar-Mutter (Elena<br />

Goode) vom Allerfeinstem als geliebtem Hassobjekt<br />

– es ist kein Wunder, dass sich das Publikum<br />

auf Festivals rund um den Globus auf den<br />

Film als Favoriten einigen konnte. Und auch<br />

filmisch wird hier von Animationen über<br />

Flashbacks und eine hochintelligente Montage<br />

alles geboten, das Spaß macht, ohne einen Film<br />

zu überfrachten. Wie Terracino es schafft, die<br />

Perspektiven seines 21-jährigen Clubkids in<br />

New York mit der des verträumten neunjährigen<br />

Mamasöhnchens zu verschränken, das der<br />

einmal war, sollte man sich unbedingt ansehen<br />

und vielleicht auch anderen zeigen. ps<br />

LOST IN PARADISE<br />

VN 2011, Regie: Vu Ngoc Dang, Pro-Fun Media<br />

In seinem Bemühen,<br />

schwule Männer als sympathische<br />

Protagonisten<br />

darzustellen, ertränkt Vu<br />

Ngoc Dang sein Junger-<br />

Mann-kommt-nach-Ho-<br />

Chi-Min-Stadt-und-erlebt-jedes-vorstellbareschwule-Klischee-in-unter-anderthalb-Stunden-Werk<br />

fast in Kitsch.<br />

Aber nur fast. Lost in Paradise will alles gleichzeitig<br />

sein: Stricherballade, Komödie, Erotikstreifen,<br />

Aufklärungsfilm für Heterosexuelle,<br />

Kulturstudie, weiß dabei nicht, in welche<br />

Richtung er zuerst kippen soll und bleibt deswegen<br />

einfach aufrecht stehen. Er ist der erste<br />

Film seiner Art aus Vietnam und bekommt einen<br />

dicken Goodwill-Bonus. Und wenn man<br />

ihn als Studie darüber guckt, wo Filmemacher<br />

in anderen Ländern inzwischen beim Thema<br />

Homofilm gelandet sind, kann man hiermit<br />

amüsante 103 Minuten haben.<br />

ps<br />

El sexo de los ángeles –<br />

The Sex of Angels<br />

ES 2012, Regie: Xavier Villaverde, Pro-Fun Media<br />

A (Bruno, Student, zielorientiert)<br />

liebt B (Carla, Studentin<br />

aus gut situiertem<br />

Haus und Fotografin für<br />

ein selbstverwaltetes Uni-<br />

Magazin), und die beiden<br />

leben etwas, das man im<br />

Kontext ihres studentisch-bohemistischen<br />

Milieus<br />

wohl eine erwachsene Beziehung nennen<br />

könnte. Auftritt C (Rai, Street-Breakdancer, aus<br />

marginalisiertem Milieu, Freigeist). A verfällt C<br />

nach Zufallsbekanntschaft, sehr zum Leidwesen<br />

von B, die sich wiederum nach anfänglichem<br />

Schock aus Trotz Cs Reizen aussetzt, wobei<br />

auch aus diesem Spiel schnell Ernst wird.<br />

Rai, der proletarische Breakdancer und Karate-<br />

Lehrer, ist in dieser nicht ganz neuen Menage à<br />

trois ganz Körper, der mit der Kraft der Sehnsüchte,<br />

die er weckt, die domestizierte Beziehung<br />

des studentischen Paares aus den Fugen<br />

geraten lässt. Versuche, das im neuen Verlangen<br />

verlorene Gleichgewicht in allerlei Reglementierungen<br />

wieder herzustellen, scheitern und<br />

zünden die Idee, ob nicht die neue Unordnung<br />

der Geschlechter in Richtung eines größeren<br />

gemeinsamen Glücks zu sortieren wäre. Villaverdes<br />

kräftig-bunte Bilderwelt scheint aus einigen<br />

Erasmus-Arthouse-Hits der letzten Jahre<br />

vertraut, gerade dort, wo er aber in ein unbestimmtes<br />

Offene hinaustreten will, muss der<br />

Film sich allzuoft mit den Selbsterklärungen<br />

seiner Charaktere bescheiden, als dass es ihm<br />

gelänge, dieses Offene Bild werden zu lassen.<br />

Und ein Film, der dezidiert vom Anliegen beseelt<br />

ist, einem Begehren Raum zu schaffen, das<br />

die eingefahrenen Klischees heteronormativen<br />

Zweierbeziehungsglücks aufsprengt, muss sich<br />

die Frage gefallen lassen, warum er dafür einen<br />

ästhetischen Weg wählt, der penibel darauf bedacht<br />

ist, männlich-heterosexuelle Schauwert-<br />

Erwartungen nicht zu enttäuschen. sm<br />

MY WEEK WITH MARILYN<br />

US/UK 2011, Regie: Simon Curtis, Ascot Elite<br />

WHO KILLED MARILYN?<br />

FR 2011, Regie: Gérald Hustache-Mathieu, Koch Media<br />

Ein platinblondes Gespenst<br />

wird gejagt in den<br />

beiden Marilyn-Filmen,<br />

die gerade zu ihrem 50.<br />

Todestag erschienen sind.<br />

Verspielte Annäherungen<br />

an eine Gestalt aus Projektorlicht,<br />

mit schreibstubenfixiertem<br />

Interesse<br />

am Zusammenhang von<br />

Mensch und Rolle, Identität<br />

und Maske am Beispiel<br />

der Kino-Verführerin<br />

schlechthin. Den etwas<br />

gediegeneren Versuch<br />

unternimmt Simon Curtis<br />

mit seiner Erzählung<br />

von den Dreharbeiten zu<br />

Der Prinz und die Tänzerin, bei der Marilyns<br />

Actors-Studio-Hysterie auf klassisch britisches<br />

Theaterschauspiel stößt, vor den Augen eines<br />

Verführten, Verbündeten, Geliebten und Enttäuschten:<br />

Eddie Redmayne spielt den ‚dritten<br />

Regieassistenten‘, der hier seine aufregende<br />

Woche mit Marilyn erlebt und sie – das ist die<br />

eigentliche Männerphantasie dahinter – im<br />

privatesten Moment erlebt und im biblischen<br />

Sinn erkennt. Würde nicht Michelle Williams’<br />

Verkörperung noch eine weitere Geschichte erzählen<br />

über Rätsel und Mimikry, man könnte<br />

den Film auf den blondgefärbten Versuch reduzieren,<br />

an das gute, alte, folgenlose Hollywoodspiel<br />

anzuschließen.<br />

Ganz anders, doch nicht weniger verspielt,<br />

die französische Marilyn-Huldigung, die<br />

gleich ein paar Farbfilter mehr einzieht zwischen<br />

heutiger Kinomagie und historischer<br />

Verführungskraft. Marilyn taucht hier als<br />

Leiche einer Wiedergängerin auf, eines Provinz-Models<br />

für Weichkäse, deren Spiel mit<br />

doppelten Identitäten erst posthum von einem<br />

erfolglosen, mausgrauen Krimischriftsteller<br />

entdeckt wird. Immer mehr Parallelen tun<br />

sich auf zwischen Candice, dem Star des Niemandslands<br />

der französisch-schweizerischen<br />

Grenzregion, und dem, was man über den großen<br />

Hollywoodstar weiß, dessen Weg Candice<br />

dann doch nicht <strong>bis</strong> zum Ende gehen will. Im<br />

weißen Ödland ist der Hobbykriminalist ihr<br />

auf der vereisten Spur, umworben von Pensionswirtinnen<br />

und muskulösen Nachwuchspolizisten,<br />

wird dabei immer mehr zu ihr,<br />

d.h. zu Marilyn, mit der er sich ins sonnige<br />

Hollywood träumt, „California Dreaming on<br />

such a Winter’s Day“. Eifrig hat das Drehbuch<br />

hier die Referenzen aufgetürmt, den Kartoffelsack,<br />

JFK, Happy Birthday und die Fotoshootings<br />

des Milton Greene – und trotzdem<br />

ein Höchstmaß an Reibung zur französischen<br />

Jetztzeit-Kleinstadt herausgeschlagen, die<br />

aus dem Porträt einer Ungreifbaren ein skurriles<br />

Vergnügen macht.<br />

jk<br />

MAGIC MIKE<br />

US 2012, Regie: Steven Soderbergh, Concorde Video<br />

Das große Vorbild für Magic<br />

Mike war, so haben Regisseur<br />

Steven Soderbergh<br />

und Mastermind und<br />

Hauptdarsteller Channing<br />

Tatum immer wieder<br />

betont, Saturday Night Fever.<br />

Der ja kein wirklich<br />

guter Film ist, wenn man<br />

mal ehrlich ist und 30 Jahre Kult und die Bee-<br />

Gees abzieht. Vielleicht bleibt deswegen auch<br />

von der ungeraden Mischung aus sexualfeindlichem<br />

Sozialdrama und lustvoller Stripper-Posse,<br />

die Magic Mike ist, wenig übrig, wenn man<br />

die Aufregung um fünf nackte Hollywoodstars<br />

und die beste PR-Strategie des Jahres 2012 weg<br />

lässt. Aufregend wird es erst, wenn man die<br />

Stellen überspringt, in denen Cody Horn wie<br />

ein moralinsaures Stück Holz herumläuft und<br />

Soderbergh versucht, die Männerärsche im<br />

Film als Begründung für irgendwas zu benutzen,<br />

und sich nur die 50 Minuten des Films anguckt,<br />

in denen Matthew McConaughey als eitle,<br />

aber alternde Drecksau die beste Vorstellung<br />

seiner <strong>bis</strong>herigen Karriere abliefert und Channing<br />

Tatum, ohne ein Wort zu sagen, zugibt,<br />

dass er ein mittelmäßig begabtes, aber relativ<br />

gutaussehendes Menschenkind ist, das anderen<br />

mit seinem Körper gern Freude macht. Denn<br />

dann entwickelt man plötzlich eine unbändige<br />

Vorfreude darauf, was Magic Mike 2 in zwei<br />

Jahren werden könnte, wenn er sich traut:<br />

Showgirls mit Jungs.<br />

ps<br />

Nogger dir einen!<br />

von Harald Blaull<br />

„Linkes und Schönes“ so war das Motto des Anderen Buchladens, als er im Oktober 1977 in Mannheim<br />

eröffnet wurde. Er war damals wie heute nicht nur ein Buchladen, sondern eine Anlaufstelle und<br />

Kommunikations-Plattform. Schöne, nicht-heterosexuellen Filme auf DVD gibt es hier natürlich auch längst.<br />

Ein kleines Ladenporträt, vom Chef persönlich<br />

s „Was ist denn an eurem Buchladen so anders?“ Das ist<br />

eine Frage, die mir immer mal wieder gestellt wird. Dass<br />

er anders ist, erkennen dann die FragestellerInnen sehr<br />

schnell, wenn sie sich das Angebot ansehen. Ein großes<br />

Angebot von Büchern über die Nazi-Zeit findet man zum<br />

Beispiel sonst nicht so in den Mannheimer Buchhandlungen.<br />

Ziemlich undogmatisch für einen Linken Buchladen.<br />

Auch, dass man sich von Anfang an an Schwule und<br />

Lesben wandte, war vielen Nicht-Eingeweihten ziemlich<br />

suspekt. Und sowas in der „Provinz“ … Gründer Tommy<br />

Herrwerth hatte es nicht gerade einfach.<br />

So kümmerte sich in den Anfangszeiten nicht nur der<br />

Verfassungsschutz um den Laden, nein, auch die Firma<br />

Langnese beschwerte sich über die Verwendung ihres<br />

Werbespruchs „Nogger dir einen“ in Zusammenhang mit<br />

einem Foto, das einen nackten Mann darstellte. Nebenbei<br />

nahm sich der damalige Eigentümer, der heute noch den<br />

Buchladen sehr prägt, Zeit, um seinem Hobby zu frönen<br />

und drei Bücher zu schreiben, die sich um den Deutschen<br />

Schlager drehten.<br />

Als ich ihn 1999 übernommen habe, gehörte der Andere<br />

Buchladen schon zu den „alt eingesessen“ Geschäften<br />

in Mannheim, aber seine Zielgruppe ist dieselbe geblieben.<br />

Der Buchladen bietet alles, was die „LSBTTIQ“-<br />

Gemeinde so begehrt, nicht nur Bücher, sondern auch eine<br />

große Auswahl an Regenbogenartikeln und DVDs, wobei<br />

sich gerade im DVD-Bereich, der einen immer größeren<br />

Stellenwert einnimmt, doch Einiges getan hat.<br />

Der Buchladen bringt sich aktiv in das Leben der<br />

Community mit ein. Hier trifft sich schon seit Jahren<br />

die Schwul-Les<strong>bis</strong>che Initiative Mannheim (SchLIMM)<br />

und er ist auch Sitz des CSD Rhein-Neckar; gemeinsam<br />

wollen wir eine Verbesserung unserer Lebenssituation<br />

erreichen. Für mich geht es dabei auch darum, etwas<br />

zurückzugeben: als Schwuler, der auch in der Szene sein<br />

Geld verdient.<br />

Viele KundenInnen danken es auch dadurch, dass<br />

sie ihre Bücher nicht im Internet, sondern bei mir im<br />

Anderen Buchladen kaufen, auch Fachliteratur, die sich<br />

nicht im Buchladen-Sortiment befindet. Dies ist auch<br />

ein Ausdruck der gelebten LSBTTIQ-Familie! Gerade<br />

kleine Buchläden mit eigenem Profil sind Kleinode in den<br />

Innenstädten, die immer mehr von eintönigen Filialisten<br />

geprägt werden.<br />

s<br />

privat / Rentadesigner<br />

44<br />

45


abspann<br />

DVD-Bezugsquellen<br />

Nicht-heterosexuelle DVDs erhalten Sie unter anderem in den folgenden Läden. Die Auswahl<br />

wird laufend ergänzt. Bitte helfen Sie uns dabei!<br />

Berlin b_books Lübbenerstr. 14, 030/6117844 <strong>·</strong> Bruno’s Bülowstr.<br />

106, 030/61500385 <strong>·</strong> Saturn Potsdamer Platz Alte Potsdamer Straße 7 <strong>·</strong><br />

Bruno’s Schönhauser Allee 131, 030/61500387 <strong>·</strong> Dussmann Friedrichstr.<br />

90 <strong>·</strong> Filmgalerie 451 Torstr. 231, 030/23457911 <strong>·</strong> Galerie Janssen Pariser<br />

Str. 45, 030/8811590 <strong>·</strong> KaDeWe Tauentzienstr. 21–24 <strong>·</strong> Media Markt Alexa<br />

Grunerstr. 20 <strong>·</strong> Media Markt Neukölln Karl-Marx-Str. 66 <strong>·</strong> Negativeland<br />

Dunckerstr. 9 <strong>·</strong> Prinz Eisenherz Buchladen Lietzenburger Str.<br />

9a, 030/3139936 <strong>·</strong> Saturn alexanderplatz Alexanderplatz 7 <strong>·</strong> Saturn<br />

Europacenter Tauentzienstr. 9 <strong>·</strong> Video World Kottbusser Damm 73 <strong>·</strong> Videodrom<br />

Fürbringer Str. 17 bochum saturn Kortumstr. 72 darmstadt<br />

saturn Ludwigplatz 6 Düsseldorf Bookxxx Bismarckstr. 86,<br />

0211/356750 <strong>·</strong> Media Markt Friedrichstr. 129–133 <strong>·</strong> Saturn Königsallee 56<br />

<strong>·</strong> Saturn Am Wehrhahn 1 Essen Müller Limbecker Str. 59–65 Frankfurt/main<br />

Oscar Wilde Buchhandlung Alte Gasse 51, 069/281260 <strong>·</strong> Saturn<br />

Zeil 121 Hamburg Buchladen Männerschwarm Lange Reihe<br />

102, 040/436093 <strong>·</strong> Bruno’s Lange Reihe/Danziger Str. 70, 040/98238081<br />

<strong>·</strong> Media Markt Paul-Nevermann-Platz 15 Köln Bruno’s Kettengasse<br />

20, 0221/2725637 <strong>·</strong> Media Markt Hohe Str. 121 <strong>·</strong> Saturn Hansaring<br />

97 <strong>·</strong> Saturn Hohe Str. 41–53 leipzig Lehmanns Buchhandlung<br />

Grimmaische Str. 10 <strong>·</strong> Müller Petersstr. 28 <strong>·</strong> Saturn Hauptbahnhof<br />

Willy-Brandt-Platz 1 Mannheim Der Andere Buchladen M2 1,<br />

0621/21755 München Bruno’s Thalkirchner Str. 4, 089/97603858<br />

<strong>·</strong> Lillemor’s Frauenbuchladen Barerstr. 70, 089/2721205 <strong>·</strong> Saturn<br />

Schwanthalerstr. 115 <strong>·</strong> Saturn Neuhauser Str. 39 nürnberg Müller<br />

Königstr. 26 Stuttgart Buchladen Erlkönig Nesenbachstr. 52,<br />

0711/639139 trier media markt Ostallee 3–5 Tübingen Frauenbuchladen<br />

Thalestris Bursagasse 2, 07071/26590 Wien Buchhandlung<br />

Löwenherz Berggasse 8, + 43/1/13172982 Würzburg Müller<br />

Dominikanerplatz 4<br />

kinos<br />

Nicht-heterosexuelle Filme können Sie unter anderem in den folgenden Kinos sehen. Die Auswahl<br />

wird laufend ergänzt. Bitte helfen Sie uns dabei!<br />

Aachen Apollo Pontstr. 141, 0241/9008484 aalen Kino am Kocher<br />

Schleifbrückenstr. 15, 07361/5559994 Aschaffenburg Casino filmtheater<br />

Ohmbachsgasse 1, 06021/4510772 Bad Füssing Filmgalerie<br />

Sonnenstr. 4, 08531/980555 bamberg lichtspiel Untere Königstr. 34,<br />

0951/26785 Berlin acud Veteranenstr. 21, 030/44359498 <strong>·</strong> arsenal<br />

Potsdamer Str. 2, 030/26955100 <strong>·</strong> Kino International Karl-Marx-Allee 33,<br />

030/24756011 <strong>·</strong> Xenon Kino Kolonnenstr. 5–6, 030/78001530 <strong>·</strong> Cinemaxx<br />

Potsdamer Platz Potsdamer Str. 5, 01805/24636299 <strong>·</strong> eiszeit Zeughofstr.<br />

20, 030/6116016 <strong>·</strong> FSK am Oranienplatz Segitzdamm 2, 030/6142464 <strong>·</strong> Tilsiter<br />

Lichtspiele Richard-Sorge-Str. 25a, 030/4268129 <strong>·</strong> Zukunft Laskerstr.<br />

5, 0176/57861079 bochum Endstation Kino im Bhf. Langendreer<br />

Wallbaumweg 108, 0234/6871620 braunschweig C1 Cinema Lange Str.<br />

60 Bremen city 46 Birkenstr. 1, 0421/44963582 dortmund schauburg<br />

Brückstr. 66, 0231/9565606 <strong>·</strong> sweetsixteen Immermannstr. 29,<br />

0231/9106623 Dresden Kid – Kino im Dach Schandauer Str. 64,<br />

0351/3107373 <strong>·</strong> Thalia Görlitzer Str. 6, 0351/6524703 Erlangen Manhattan<br />

Güterhallenstr. 4, 09131/22223 Esslingen Kommunales<br />

Kino <strong>Mai</strong>lle 4–9, 0711/31059510 Frankfurt/<strong>Mai</strong>n Les<strong>bis</strong>ch-schwules<br />

Kulturhaus Klingerstr. 6, 069/293045 <strong>·</strong> Mal Seh’n Adlerflychtstr.<br />

6, 069/5970845 <strong>·</strong> Orfeos Erben Hamburger Allee 45, 069/70769100<br />

Freiburg Kommunales Kino Urachstr. 40, 0761/709033 <strong>·</strong> Harmonie<br />

Grünwälderstr. 16–18, 0761/3866510 Göttingen Kino Lumière<br />

Geismar Landstr. 19, 0551/484523 Halle Lux kino am zoo Seebener<br />

Str. 172, 0345/5238631 <strong>·</strong> Zazie Kleine Ulrichstr. 22, 0345/7792805 Hamburg<br />

Metropolis Kino Kleine Theaterstr. 10, 040/342353 <strong>·</strong> B-Movie<br />

Brigittenstr. 5, 040/4305867 <strong>·</strong> 3001 Schanzenstr. 75–77, 040/437679 Hannover<br />

kino im künstlerhaus Sophienstr. 2, 0511/16845522 <strong>·</strong> Kino<br />

im Sprengel K.-M.-Kilian-Weg 2, 0511/703814 karlsruhe Kinemathek<br />

Karlsruhe Kino im Prinz-Max-Palais Karlstr. 10, 0721/25041 <strong>·</strong><br />

Schauburg Marienstr. 16, 0721/3500018 Kiel Die Pumpe – Kommunales<br />

Kino Haßstr. 22, 0431/2007650 <strong>·</strong> Traum Kino Grasweg 48,<br />

0431/544450 Köln filmpalette Lübecker Str. 15, 0221/122112 Konstanz<br />

Zebra Kino Joseph-Belli-Weg 5, 07531/60162 Leipzig Passage<br />

Kino Hainstr. 19 a, 0341/2173865 <strong>·</strong> Schaubühne Lindenfels<br />

Karl-Heine-Str., 0341/4846211 magdeburg Studiokino<br />

Moritzplatz 1, 0391/2564925 Mannheim Cinema Quadrat Collinistr.<br />

5, 0621/1223454 <strong>·</strong> Cinemaxx N7 17, 01805/625466 Marburg Cineplex<br />

Biegenstr. 1a, 06421/17300 München Neues Arena Filmtheater<br />

Hans-Sachs-Str. 7, 089/2603265 <strong>·</strong> City Kino Sonnenstr. 12, 089/591983<br />

<strong>·</strong> CinemaxX Isartorplatz 8, 01805/24636299 Münster Cinema Filmtheater<br />

Warendorfer Str. 45–47, 0251/30300 Nürnberg Kommkino<br />

Königstr. 93, 0911/2448889 Offenburg forum Hauptstr. 111,<br />

0781/4350 Oldenburg Cine K Bahnhofstr. 11, 0441/2489646 Potsdam<br />

Thalia Arthouse Rudolf-Breitscheid-Str. 50, 0331/7437020 Regensburg<br />

Wintergarten Andreasstr. 28, 0941/2980963 Saarbrücken<br />

kino achteinhalb Nauwieser Str. 19, 0681/3908880 <strong>·</strong> Kino im<br />

Filmhaus <strong>Mai</strong>nzer Str. 8, 0681/372570 Schweinfurt KuK – Kino und<br />

Kneipe Ignaz-Schön-Str. 32, 09721/82358 Stuttgart Cinemaxx an<br />

der Liederhalle Robert-Bosch-Platz 1, 01805/24636299 Trier Broadway<br />

Filmtheater Paulinstr. 18, 0651/96657200 Weiterstadt Kommunales<br />

Kino Carl-Ulrich-Str. 9–11 / Bürgerzentrum, 06150/12185<br />

Impressum<br />

Herausgeber Björn Koll<br />

Verlag<br />

Salzgeber & Co. Medien GmbH<br />

Mehringdamm 33 <strong>·</strong> 10961 Berlin<br />

Telefon 030 / 285 290 90 <strong>·</strong> Telefax 030 / 285 290 99<br />

Redaktion Jan Künemund, presse@salzgeber.de<br />

Art Director Johann Peter Werth, werth@salzgeber.de<br />

Autoren Martin Arz, Biru David Binder, Harald Blaull, Vaginal Davis, Gunther<br />

Geltinger, Richard Gersch, Malte Göbel, Fritz Göttler, Andreas Heimann,<br />

Enrico Ippolito, Jan Künemund, Sebastian Markt, Christoph Meyring,<br />

Paul Schulz, <strong>Mai</strong>ke Schultz, Oliver Sechting, André Wendler, Tania Witte<br />

Anzeigen Jan Nurja, nurja@salzgeber.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste 01/<strong>2013</strong> (www.sissymag.de/media).<br />

SISSY erscheint alle drei Monate, jeweils für den Zeitraum Dezember/<br />

Januar/Februar – <strong>März</strong>/April/<strong>Mai</strong> – Juni/Juli/August – September/<br />

Oktober/November. Auflage: 20.000 Exemplare (Druckauflage).<br />

Druck<br />

Möller Druck, Berlin<br />

Rechte<br />

Vervielfältigung, Speicherung, Weiterverarbeitung oder Nutzung sowohl<br />

der Texte als auch der Bilder zu kommerziellen Zwecken bedürfen einer<br />

schriftlichen Genehmigung des Herausgebers.<br />

Bezugsquellen Hier liegt die SISSY <strong>kostenlos</strong> aus: deutschlandweit in den schwulles<strong>bis</strong>chen<br />

Buchläden und in den L- und Gay-Filmnacht-Kinos. potsdam<br />

Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“. berlin BarbieBar,<br />

Deutsche Film- und Fernsehakademie, La Dolce Vita Naturkost. bochum<br />

Orlando. kiel Birdcage. hamburg Café Gnosa, Café unter den Linden,<br />

Jimmy Elsass. köln Café Era, Bastard Bar, Kunsthochschule für<br />

Medien. münchen Moro, Kraftakt, Sub e.V. stuttgart Rubens Home,<br />

Jakobstube. frankfurt/main Bar Central. leipzig Rosa Archiv, Rosa<br />

Linde e.V.. düsseldorf Café Seitensprung. hannover Café Caldo, Café<br />

Konrad. mainz Bar jeder Sicht. nürnberg Fliederlich e.V., Café Fatal.<br />

dresden Gerede e.V.<br />

Ï Wenn Sie die SISSY ebenfalls auslegen möchten, freuen wir uns.<br />

Eine kurze E-<strong>Mai</strong>l genügt!<br />

Haftung Für gelistete Termine können wir keine Garantie geben.<br />

Die Angaben entsprechen dem Stand des Drucklegungstages.<br />

Bildnachweise Die Bildrechte liegen bei den jeweiligen Anbietern.<br />

Abo<br />

Sie können SISSY kostenfrei abonnieren: abo@sissymag.de<br />

Auch das noch …<br />

Am Rande der Berlinale: Solidarität für Pola Kinski.<br />

ISSN 1868-4009<br />

daniel Ammann<br />

Tripper und Chlamydien gehören zu den häufigsten sexuell übertragbaren Infektionen (STIs). Betroffen sind vor allem die Harnröhre,<br />

der Enddarm und der Rachen. Im Arsch ist die Infektion aber auch häufig symptomlos. Lass Dich deshalb mindestens einmal im Jahr auf STIs<br />

testen! Alle Angebote der ICH WEISS WAS ICH TU – TESTWOCHEN in Deiner Region findest Du ganz einfach unter www.iwwit.de/testwochen<br />

www.iwwit.de/testwochen<br />

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»Das neue Traumpaar des deutschen Kinos!«<br />

RBB RADIO EINS<br />

»Die deutsche Antwort auf BROKEBACK MOUNTAIN!«<br />

3SAT<br />

»FREIER FALL beeindruckt mit seiner ausgespielten Körperlichkeit, der gekonnten Beiläufigkeit<br />

der Dialoge und einer vibrierenden Darstellungskraft <strong>bis</strong> in die Nebenrollen!«<br />

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG<br />

Ab 23. <strong>Mai</strong> im Kino

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