Ausgabe siebzehn · März bis Mai 2013 · kostenlos ... - Sissy
Ausgabe siebzehn · März bis Mai 2013 · kostenlos ... - Sissy Ausgabe siebzehn · März bis Mai 2013 · kostenlos ... - Sissy
Ausgabe siebzehn · März bis Mai 2013 · kostenlos s Mauerwerk: Versunkener Stummfilmpianist s Verkappte Künstlerin: Barbiepuppen zur Verwaltung s Geblähte Zeit: Zum Sterben ein hart gekochtes Ei s Kinderwunschklinik: „Du“ als Druckmittel s Mythos Casablanca: Altern ist so Bäh! s Vage Porno-Definition: Abhängen in Unterhose s Beatfähiges Alter: Schreiben ohne Führerschein s Fortbildung: Arschverkäufer, Aschenbach, armer Wurm s Familienbetrieb: Tanz im Paillettenfummel s Wochenschauaufnahmen: Groteske Diva s Landung in Washington: Fast wie eine Puffmutter s Kampf an der Moralfront: „Emphatisches Vermögen von Kindern“ s Flashback: Neues aus Nahost s Wohltemperiert: Identitätskonzept auf dem Prüfstein
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<strong>Ausgabe</strong> <strong>siebzehn</strong> <strong>·</strong> <strong>März</strong> <strong>bis</strong> <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong> <strong>·</strong> <strong>kostenlos</strong><br />
s Mauerwerk: Versunkener Stummfilmpianist s Verkappte Künstlerin: Barbiepuppen zur Verwaltung s Geblähte Zeit: Zum Sterben ein hart<br />
gekochtes Ei s Kinderwunschklinik: „Du“ als Druckmittel s Mythos Casablanca: Altern ist so Bäh! s Vage Porno-Definition: Abhängen in<br />
Unterhose s Beatfähiges Alter: Schreiben ohne Führerschein s Fortbildung: Arschverkäufer, Aschenbach, armer Wurm s Familienbetrieb:<br />
Tanz im Paillettenfummel s Wochenschauaufnahmen: Groteske Diva s Landung in Washington: Fast wie eine Puffmutter s Kampf an der<br />
Moralfront: „Emphatisches Vermögen von Kindern“ s Flashback: Neues aus Nahost s Wohltemperiert: Identitätskonzept auf dem Prüfstein
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<strong>Sissy</strong> <strong>siebzehn</strong><br />
NEU!<br />
JETZT<br />
ERHÄLTLICH!<br />
Eine „Umarmung der Wirklichkeit“ machte Ben Walters in seinem<br />
vielbeachteten Guardian-Artikel „New-Wave Queer Cinema: Gay<br />
Experience in all its Complexity“ (Oktober 2012) in einigen neuen<br />
queeren Kinofilmen aus. Andrew Haighs Weekend, Ira Sachs’ Keep<br />
The Lights On und die Filme von Travis Mathews hätten sich von<br />
den „großen Themen“ und dem metaphorischen Erzählen nichtheterosexueller<br />
Erfahrungen verabschiedet und wären sozusagen<br />
im genauen Blick auf die queere Normalität gelandet. Auch in den<br />
deutschen Medien wurde der Versuch aufgegriffen, eine erste Charakterisierung<br />
der neuen „Welle“ vorzunehmen – Daniel Sander auf<br />
Spiegel Online freute sich mit, dass schwule Geschichten endlich<br />
außerhalb des „Ghettos“ erzählt werden, wohingegen Carsten Moll in<br />
seiner Filmgazette-Kritik von Keep The Lights<br />
On diese Filme als weißes, schwules Mittelschichts-Phänomen<br />
abtat, aus dem windige<br />
Geschäftsleute flugs schon wieder ein Markt-<br />
Label machen.<br />
NEW WAVE QUEER CINEMA? Was soll das<br />
schon wieder sein? Ein Kino, das lockerer,<br />
leichter, sinnlicher, unproblematischer nichtheterosexuelle<br />
Geschichten erzählt als die<br />
Coming-Out-Dramen („Wann sagt sie, dass sie<br />
es ist?“) oder romantische Komödien („Ist er es<br />
auch?“) der letzten zwanzig Jahre? Oder gibt<br />
es nur die Sehnsucht danach, seitdem die großen<br />
Kämpfe um Anerkennung und angemessene<br />
Repräsentanz halbwegs durchgestanden<br />
sind? Angesichts von Travis Mathews’ erstem<br />
Spiefilm I Want Your Love (Seite 10) und David<br />
Lamberts Cannes-Erfolg Jenseits der Mauern Travis Mathews bei den Dreharbeiten zu „I Want Your Love“<br />
(Seite 6) kann das in der SISSY mal wieder diskutiert<br />
werden. Wo dagegen bleibt der <strong>Mai</strong>nstream-Film mit nichtheterosexuellem<br />
Konflikt, zumal der deutsche, seit Sommersturm (der<br />
war 2004!)? Fragt SISSY und wird ihrerseits in diesem Heft bei Freier<br />
Fall fündig (Seite 12). Und wo beschäftigt sich das Queer Cinema mit<br />
Milieus außerhalb der schwulen weißen Mittelschicht? Da gibt es z.B.<br />
gerade eine Mehrzahl an Filmen zu sehen, die im Israel-Palästina-<br />
Konflikt angesiedelt sind. Und außerdem – auch das noch! – gab’s mal<br />
wieder Berlinale, auf der u.a. zwei deutsche Frauen in einem Dokumentarspielfilm<br />
(!) miteinander ein Kind zeugen wollten. So viel<br />
Queerfilmstoff war selten.<br />
edition salzgeber<br />
www.m-maenner.de<br />
Her damit!<br />
Available in the iTunes-Store.<br />
iPhone and iPad is © Apple Inc. All rights reserved<br />
titel: Cine Qua non<br />
Titelbild: Charles Laughton in „Sturm über Washington“ von Otto Preminger (Seite 36)<br />
Wenn Sie SISSY <strong>kostenlos</strong> abonnieren möchten: E-<strong>Mai</strong>l an abo@sissymag.de<br />
3
mein dvd-regal<br />
Vaginal Davis, Künstlerin, Kuratorin und Gastgeberin der monatlichen Reihe „Rising Stars, Falling Stars – We must have Music!“ des Arsenal Instituts für Film und Videokunst, Berlin<br />
Richard Gersch<br />
4 5
kino<br />
kino<br />
»In der Liebe<br />
wird man zur<br />
Kinofigur«<br />
von Christoph Meyring<br />
Eine Begegnung mit Filmemacher David Lambert, ein<br />
Gespräch über sein formal klassisches, aber in vielen<br />
Momenten in improvisatorische Leichtigkeit abhebendes<br />
Liebesdrama „Jenseits der Mauern“.<br />
s „Ich weiß nicht, ob mein Film pessimistisch oder optimistisch<br />
ist“, sagt der belgische Drehbuchautor und Regisseur David Lambert,<br />
ein eher ruhiger und unaufgeregter 39-Jähriger, im Interview<br />
am Rande des Filmfests Hamburg 2012, in dessen Programm sein<br />
erster abendfüllender Spielfilm Jenseits der Mauern (Hors les murs,<br />
2012) zu sehen war. Ihre viel beachtete Uraufführung erlebte die belgisch-kanadisch-französische<br />
Koproduktion bereits einige Monate<br />
zuvor im Rahmen der „Semaine de la Critique“, einer Nebensektion<br />
der Internationalen Filmfestspiele von Cannes, in der ausschließlich<br />
Debütfilme gezeigt werden und in der Vergangenheit schon solche<br />
Regiegrößen wie Bernardo Bertolucci, Ken Loach, Wong Kar Wai,<br />
François Ozon und Alejandro Gonzalez Iñarritu mit ihren Erstlingen<br />
vertreten waren: kein schlechtes Omen und für Lambert ein<br />
Grund, sich zumindest hinsichtlich seiner Karriereaussichten für<br />
den Optimismus zu entscheiden. Auch deshalb, weil sein Film von<br />
einigen Beobachtern an der Côte d’Azur in eine Reihe mit Andrew<br />
Haighs Weekend (2011, SISSY zwölf) und Ira Sachs’ Keep The Lights<br />
On (2012, SISSY fünfzehn) gestellt wurde und somit zu einem Vorreiter<br />
der vom britischen „Guardian“ ausgerufenen „New Wave Queer<br />
Cinema“ geadelt wurde, „die“, so formuliert Spiegel Online, „klassische<br />
Coming-Out-Geschichten als mittlerweile auserzählt annimmt<br />
und sich unaufgeregt mit der schwulen Gegenwart beschäftigt“. „Ja“,<br />
bestätigt Lambert, „Jenseits der Mauern wurde schon in Cannes mit<br />
diesen Filmen verglichen, obwohl ich beide zu diesem Zeitpunkt noch<br />
nicht gesehen hatte. Insofern stellt der Film sich nicht von sich aus in<br />
diese Reihe, aber ich sehe auch die Ähnlichkeiten und glaube auch,<br />
dass hier etwas Neues entsteht. Schwulsein ist hier nicht mehr das<br />
Thema, es geht nicht darum, Identität zu erzählen − aber es ist notwendiger<br />
Bestandteil dessen, was erzählt wird, es gehört unbedingt<br />
zur Geschichte dazu. Das ist eine neue Entwicklung in der Form und<br />
in den Inhalten, wie wir ‚unsere Geschichten‘ erzählen.“<br />
Die Geschichte, die Jenseits der Mauern erzählt, ist eine Liebesgeschichte<br />
zwischen zwei Männern, „die zwar − wie jede Liebesgeschichte<br />
− ihre Eigenheiten hat, einen eigenen Ton, eine eigene Art<br />
der Kommunikation etc., und die sicher auch deswegen eigen ist, weil<br />
sie sich zwischen zwei Männern ereignet, die sich jedoch so ähnlich<br />
genauso gut zwischen zwei Frauen oder zwischen einer Frau und<br />
einem Mann abspielen könnte“: Eines Abends nimmt der Barkeeper<br />
Ilir einen jungen Mann, der sich fast <strong>bis</strong> zur Besinnungslosigkeit<br />
betrunken hat, kurzerhand mit in seine Wohnung und lässt ihn in<br />
seinem Bett übernachten. Paulo, so dessen Name, verschwindet am<br />
Edition Salzgeber<br />
6 7
kino<br />
kino<br />
nächsten Tag zwar gleich nach dem Frühstück, doch die beiden treffen<br />
sich danach noch häufiger wieder und beginnen, sich ineinander<br />
zu verlieben. Als Paolos Freundin davon Wind bekommt, muss er<br />
ihre Wohnung sofort verlassen und steht wenig später mit Sack und<br />
Pack vor Ilirs Wohnungstür. Ilir ist davon zunächst wenig begeistert,<br />
nimmt den Obdachlosen aber dennoch auf: Eine Romanze nimmt<br />
ihren Lauf, zärtlich, leidenschaftlich und verspielt. An dem Tag, an<br />
dem die beiden beschließen, für immer zusammen zu bleiben, verlässt<br />
Ilir die Stadt für ein paar Tage wegen eines Jobs. Rätselhafter<br />
Weise kehrt er nicht wieder zurück. Es dauert lange, <strong>bis</strong> Paulo den<br />
Grund dafür erfährt – und das nächste Wiedersehen findet im Besucherraum<br />
eines Gefängnisses statt. Der Kampf um die Beziehung<br />
scheint aussichtslos. Als Ilir entlassen wird, trifft er einen deutlich<br />
veränderten Paulo wieder, der nun mit einem anderen Mann zusammenlebt.<br />
Dennoch verbringen sie eine letzte Nacht zusammen in<br />
einem Hotelzimmer, die zeigen muss, was von ihren Gefühlen für<br />
einander noch übrig ist.<br />
Lambert präsentiert diesen Plot in einer klassischen Drei-Akt-<br />
Struktur: Verlieben, Trennung und kurzes Wiedersehen. „Diese sehr<br />
klare und schlichte Struktur habe ich gewählt, weil ich mich als Autor<br />
immer noch am Anfang fühle, außerdem erschien sie mir ganz einfach<br />
sehr geeignet zu sein, um genau das zu erzählen, was ich erzählen<br />
wollte. Eine Kritikerin hat Jenseits der Mauern deshalb mit Jacques<br />
Demys Musicalfilm Die Regenschirme von Cherbourg (Les parapluies<br />
de Cherbourg, 1964) verglichen, mit Catherine Deneuve und Nino<br />
Castelnuovo in den Hauptrollen – den ich auch noch in einer anderen<br />
Hinsicht sehr beeindruckend finde, weil er nämlich den Algerienkrieg,<br />
über den zu sprechen in Frankreich immer noch ein großes<br />
Tabu darstellt, umso eindringlicher betont, je mehr er ihn in den Hintergrund<br />
drängt. Etwas Ähnliches habe ich mit der grausamen Realität<br />
des Gefängnisses, die Ilir erleiden muss, versucht, auch sie wird in<br />
Jenseits der Mauern nur angedeutet, aber nie direkt gezeigt.“<br />
Zu der Gefängnisthematik hat Lambert sogar einen persönlichen<br />
Bezug, denn einen seiner Freunde konnte er zeitweilig nur sehr selten<br />
sehen, da dieser gerade eine längere Haftstrafe verbüßte. „Zu<br />
dieser Zeit“, erinnert sich der Regisseur, „habe ich mich sehr darüber<br />
geärgert, wie diese Besuchssituationen gewöhnlich im Kino dargestellt<br />
werden, nämlich als glückliche Wiedersehensszenen, bei denen<br />
unglaublich viel ausgetauscht wird. In Wirklichkeit ist das ganz<br />
anders, man kann sich in diesen Situationen eben nicht wirklich ausdrücken,<br />
es gibt viele Momente des Schweigens, viele Missverständnisse.<br />
In meinem Film sollte sich dies unbedingt widerspiegeln. Auch<br />
die Tatsachen, dass ein solcher Besuch nur 30 Minuten dauert, und<br />
dass man vorher, weil die Haftanstalt vom eigenen Wohnort mitunter<br />
sehr weit entfernt liegt, oft stundenlang mit dem Auto, dem Bus oder<br />
der Bahn unterwegs ist, sollten sichtbar und spürbar werden.“<br />
Obwohl die Handlung filmsprachlich sehr komplex konzipiert ist,<br />
da spätere Szenen auf frühere inhaltlich und formal bezogen werden,<br />
ihnen also quasi zu antworten scheinen, Symbole und Metaphern<br />
dabei ständig variiert werden, wirken die Dialoge oft sehr spontan<br />
Edition Salzgeber<br />
und improvisiert. Das liegt sicherlich am Können der beiden wirklich brillant agierenden<br />
Hauptdarsteller Matila Malliarakis (Paulo) und Guillaume Gouix (Ilir), die übrigens zunächst<br />
beide für die Rolle Paulos gecastet wurden, andererseits aber auch an der Art und Weise, wie<br />
Lambert mit ihnen gearbeitet hat: „Ich habe ihnen gesagt, dass die Dialoge nicht von Shakespeare<br />
sind. Sie konnten verändert, angepasst, ergänzt oder ignoriert werden. Ich verstehe<br />
mein Team nicht als eine Gruppe von Ausführenden, sie sollen kreativ sein, sich einbringen.<br />
Nur in bestimmten Szenen, wo ich etwas ganz Bestimmtes einfangen wollte, war alles festgelegt:<br />
die Momente im Besucherraum des Gefängnisses zum Beispiel.“<br />
Festgelegt auf einen bestimmten Typus scheinen zunächst auch die beiden Hauptfiguren<br />
zu sein: Während Ilir eher die selbstsichere, sehr virile Rolle eines Beschützers und großen<br />
Bruders spielt, wirkt Paulo sehr kindlich, verloren und anlehnungsbedürftig. Doch im Verlauf<br />
der Geschichte werden die Positionen immer wieder vertauscht, Dominanz verwandelt<br />
sich in Unterlegenheit, Schwäche in Stärke. „Diese Dynamiken deutlich herauszuarbeiten“,<br />
erklärt Lambert, „war mir sehr wichtig, denn sie gehören einfach zu Liebesbeziehungen dazu,<br />
sie liegen in der Natur der Sache: Mal begehrt der eine Partner den anderen mehr, woraus letzterem<br />
eine gewisse Überlegenheit erwächst, mal ist es umgekehrt.“ Diese Entwicklungen und<br />
Umschwünge zeigen sich bei beiden Figuren am Ende des Films am deutlichsten, wenn Ilir<br />
durch seinen Gefängnisaufenthalt mitgenommen und gezeichnet erscheint und Paulo sich die<br />
fast schon kühl und überheblich wirkende Attitüde eines Dandys zugelegt hat. Diese Attitüde<br />
spiegelt sich auch in seinem neuen Kleidungsstil wider, der, das gibt Lambert lachend zu, „an<br />
dieser Stelle ein wenig dick aufgetragen ist.“<br />
Trotz des Realismus des Schauspiels und der Dialoge und trotz des dramatischen und<br />
<strong>bis</strong>weilen auch vor dem Melodramatischen nicht zurückschreckenden Verlaufs der Liebesgeschichte<br />
kommen im Film immer wieder auch Witz und Ironie zum Zuge, „weil ich es mag“,<br />
so Lambert, „Genres und verschiedene Stimmungen zu mixen. Wenn es mir selbst zu dramatisch<br />
oder melodramatisch wird, dann muss ich einen Witz oder ein melodramatisches<br />
Element einbauen, um dem etwas entgegenzusetzen und es dadurch zu relativieren bzw.<br />
eine Distanz dazu zu schaffen. Ich mag Filme, die einen innerhalb von zwei oder drei Minuten<br />
sowohl zum Weinen als auch zum Lachen bringen können, denn ich glaube, so ist das<br />
Leben, das macht die Magie des Lebens aus. Im günstigsten Fall haben auch die Darsteller<br />
ein Gefühl dafür, wann ein komischer Moment nötig ist, um die allgemeine Dramatik etwas<br />
aufzulockern.“<br />
Frédérique Jaeger (critic.de) schrieb nach der Vorführung des Films beim Festival von<br />
Karlovy Vary: „Manchmal geht es einem mit Filmen wie mit Menschen: Wenn sie den einen<br />
richtigen Satz sagen, die eine Szene präsentieren und dabei ihre Haltung en passant offenbaren,<br />
dann schmelzen wir dahin. Jenseits der Mauern ist so ein Fall.“ Und der Film präsentiert<br />
nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Szenen, deren visuelle Originalität und Poesie<br />
einem nachhaltig im Gedächtnis bleiben und die schlagartig einen bestimmten Charakterzug<br />
oder eine bestimmte Gefühlslage erhellen. „Eine wichtige Szene in der Phase des Verliebens“,<br />
auf die der Regisseur selbst hinweist, „findet in einem Kino statt: Ilir betrachtet den in einen<br />
Film versunkenen Stummfilmpianisten Paulo, dessen Gesicht genau wie sein eigenes allein<br />
durch das Flackerlicht auf der Leinwand aus dem Dunkel des Kinosaals herauspräpariert wird<br />
und der so für ihn quasi zum Teil eines Films wird. Das ist mir sehr wichtig: zu zeigen, dass<br />
das Leben, die Beziehungen, Identitäten immer auch Fiktionen brauchen. Man macht sich für<br />
andere und für sich zu einer Kinofigur, man tritt ins Licht und aus dem Licht heraus, man<br />
will eine Figur werden, man probiert Kostüme aus, so wie Paulo im letzten Drittel. Auf der<br />
anderen Seite versucht der Film ja auch, die Beziehung, die Geschichte zu reflektieren. Beim<br />
ersten Kuss gibt es einen Zoom auf die Lippen der beiden, beim letzten einen Zoom von beiden<br />
weg. Das klang im Buch furchtbar konstruiert, und mein Kameramann hat aufgestöhnt und<br />
die Augen verdreht, als er das gelesen hat, aber tatsächlich funktioniert das im Film sehr gut,<br />
weil man sich in diesem Moment buchstäblich ein Bild davon macht, was sich in der Beziehung<br />
der beiden verändert.“<br />
Die Mauern, von denen der Titel des Films spricht, tauchen darin materiell wir immateriell<br />
in vielfältiger Form immer wieder auf, als reale Gefängnismauern, als soziale und psychologische<br />
Barrieren, als Hindernisse der Beziehung. Sie bilden somit eine Art Leitmotiv. Ob<br />
es denn nun eine Möglichkeit gibt, hinter die Mauern des anderen zu gelangen, zum Beispiel<br />
durch die Liebe? „Gute Frage. Ich glaube, jeder von uns hat mit diesen Mauern zu tun, mit<br />
den eigenen und mit denen, die die anderen um sich gezogen haben oder die um sie gezogen<br />
wurden. Liebe ist sicher immer der Versuch, diese Mauern zu überwinden − oder deren Existenz<br />
zumindest vergessen zu machen, was vielleicht nur eine gewisse Zeit lang funktioniert.<br />
Vielleicht schaffen es manche aber auch, die Mauern nicht zu leugnen und trotzdem irgendwie<br />
mit ihnen klarzukommen. Ich weiß wirklich nicht, ob ich in dieser Hinsicht optimistisch<br />
oder pessimistisch sein soll, und daher weiß ich tatsächlich auch nicht, ob mein Film pessimistisch<br />
oder optimistisch ist.“<br />
s<br />
Jenseits der Mauern<br />
von David Lambert<br />
BE/CA/FR 2012, 98 Minuten,<br />
französische OF mit deutschen UT<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino in der Gay-Filmnacht im <strong>März</strong>,<br />
www.Gay-Filmnacht.de<br />
Kinostart: 28. <strong>März</strong> <strong>2013</strong><br />
8 9
kino<br />
kino<br />
Das Zeigen ist politisch.<br />
Das Nicht-Zeigen auch.<br />
Von Enrico Ippolito<br />
I Want Your Love<br />
von Travis Mathews<br />
US 2012, 71 Minuten,<br />
englische OF mit deutschen UT<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino in der Gay-Filmnacht im April,<br />
www.Gay-Filmnacht.de<br />
Ja, in diesem Film gibt es echten Sex zu sehen, eine Pornofirma hat ihn produziert. Doch im Kern ist<br />
„I Want Your Love“ eine ganz kleine, alltägliche Geschichte über ein Wochenende und eine Party, in der<br />
sich Männer von ihren Freunden verabschieden, neue Männer kennen lernen oder ihre Beziehungen neu<br />
gestalten. Die großen Fragen, die dabei nebenher behandelt werden, grundieren diese Begegnungen, ohne<br />
sie zu erdrücken. Travis Mathews’ erster Spielfilm steht für ein neues, sinnliches, lässiges queeres Kino.<br />
Edition Salzgeber<br />
s Alles begann mit dem Kurzfilm I Want Your Love. Ein Film über<br />
zwei Männer, die Wein trinken, über das Leben philosophieren und<br />
am Ende miteinander schlafen. Sanft, zärtlich und mit einer gewissen<br />
Unsicherheit. Die Kamera hält drauf, zeigt erigierte Penisse, haarige<br />
Ärsche und einen Samenerguss.<br />
Kaum ein anderer Regisseur benutzt explizite Sexszenen wie Travis<br />
Mathews. Für ihn entsteht dadurch ein ungeheures Potential für<br />
die Story- und Plot-Entwicklung und gleichzeitig tragen die Szenen<br />
auch zur Definition eines Charakter bei.<br />
Mathews legte zwei Jahre nach dem Kurz- seinen Langfilm mit<br />
dem gleichen Namen nach. Die Hauptfigur Jesse (Jesse Metzger),<br />
ein Künstler, hat jahrelang in San Francisco gelebt und dort ein sehr<br />
lässiges Leben geführt. I Want Your Love, der Spielfilm, beginnt<br />
mit Jesses letztem Wochenende in der Stadt, bevor er wieder in den<br />
mittleren Westen zu seinem Vater zieht. Er muss sich von allen verabschieden:<br />
seinen Mitbewohnern, seinen Freunden und von seinem<br />
Ex. Das sorgt für einige emotionale Verwirrungen. Leicht, intim und<br />
nah beschreibt Mathews diesen Abschied. Der amerikanische Filmemacher<br />
beherrscht perfekt die Inszenierung einer zunächst banal<br />
wirkenden Geschichte.<br />
Der 37-jährige Travis Mathews scheint vor allem Filme über sein<br />
Umfeld zu drehen, über Menschen, die er kennt. Er selbst lebt in San<br />
Francisco. 2009 erschien seine Internet-Doku-Reihe In Their Room<br />
über schwule Männer, ihr Schlafzimmer und ihr Sexleben. Die Folgen<br />
San Francisco und Berlin wurden auf Filmfestivals rauf und runter<br />
gespielt, mittlerweile ist auch die Episode London fertig. Mathews<br />
gewann den Preis für den „Besten erotischen Film“, Good Vibrations.<br />
2010 veröffentlichte die Pornofirma NakedSword seinen ersten Kurzfilm<br />
I Want Your Love.<br />
Travis Mathews ist „eine neue Stimme, die dem Queer Cinema<br />
eine dringend benötigte Injektion emotionaler Intimität verpasst“,<br />
ist Shortbus-Regisseur John Cameron Mitchell überzeugt. Intimität.<br />
Immer wieder werden die Filme von Mathews mit diesem<br />
Begriff beschrieben.<br />
Doch seine Filme bieten mehr. Mathews’ Darstellung ist vieles,<br />
aber niemals entschuldigend. Sexuelle Orientierungen interessieren<br />
ihn nur marginal. Er verliert sich nicht in Repräsentationsfragen und<br />
vor allem nicht in Dramen, die um das Thema der schwulen Identität<br />
kreisen. Für ihn ist das reine Erzählen einer Liebesgeschichte schon<br />
politisch genug. „Verpflichtet zu sein, eine historische Geschichte<br />
über Aktivismus, Aids oder Coming-Out zu machen, ist sehr defensiv“,<br />
meint Mathews. Er entscheidet sich bewusst gegen diesen Weg<br />
und zeigt hingegen die alltäglichen Hürden, die diese Männer mit<br />
sich selbst, mit One-Night-Stands und in Beziehungen haben. Alltägliche<br />
Probleme also, mit denen sich jede_r Zuschauer_in identifizieren<br />
kann. Und hier spielt auch wieder die Intimität eine Rolle. Denn<br />
genau durch diese Nähe schafft Mathews das hohe Identifikationspotenzial.<br />
Seine Figuren sind nie platt, sondern dreidimensional. Sie dürfen<br />
Fehler machen, sie dürfen widersprüchlich sein und auch mal seltsam.<br />
Wenn Ben, Jesses Ex-Freund, auf der Abschiedsparty mit Brontez<br />
vögelt, ist das erst mal irritierend. Gleiches gilt für Jesse selbst, der<br />
anstatt auf seiner Abschiedsparty beim Nachbarn Keith in Unterhose<br />
abhängt. Als dieser unerwartet nach Hause kommt und die zwei sich<br />
näher kommen, bricht Jesse den Sex ab.<br />
Es sind diese Widersprüche, dieses Negieren eines romantischen<br />
Moments, die I Want Your Love dynamisch gestalten. Mit der<br />
Debatte um den Identifikationswert kommt auch die Diskussion um<br />
Authentizität. Mathews spielt damit bewusst. Seine Darsteller haben<br />
den gleichen Vornamen wie die Figuren, die sie spielen. Mathews<br />
will keine Welt kreieren, in die die/der Zuschauer_in flüchten kann.<br />
Er will Filme drehen, die bewegen, mit Figuren, die verständlich<br />
rezipiert werden können. Es geht ihm nicht um Eskapismus, sondern<br />
halt um das „Authentische“.<br />
Und noch ein Label haftet dem amerikanischen Filmemacher<br />
an. Er habe den „Indie-Porno“ erfunden, heißt es. Das ist natürlich<br />
Schwachsinn, schon allein weil Mathews’ Filme keine Pornos sind –<br />
noch nicht mal annähernd. Die Definition der Pornografie ist vage,<br />
mittlerweile gar fast unformulierbar und vor allem eins: subjektiv.<br />
Wenn aber Pornografie das reine Ziel hat, den meistens männlichen<br />
Zuschauer zum Orgasmus zu bringen, gilt I Want Your Love nicht als<br />
Porno. Denn Travis Mathews arbeitet genau gegen die gängigen Konventionen<br />
des klassischen pornografischen Films; seine Werke erzählen<br />
eine Geschichte und arbeiten nicht auf den Höhepunkt hin, auch<br />
wenn sie roh und explizit sind.<br />
Seine Sexszenen sind oft verstörend, nicht im Sinne eines Affronts,<br />
sondern weil sie gerade so ungewöhnlich intim, so nah und so authentisch<br />
sind. Wenn die Männer Sex haben, sagt das etwas über sie, ihren<br />
Charakter, ihre Welt aus. Wie das Paar, das sich für einen Dreier entscheidet,<br />
dabei unsicher und zugleich leicht hysterisch ist. Oder wie<br />
Jesse, der sich nicht ficken lassen kann und bei einem One-Night-<br />
Stand nicht kommt. Oder halt sein Ex, der auf Jesses Abschiedsparty<br />
mit einem Freund von Jesse schläft – und beide sich regelrecht diese<br />
Freiheit erkämpfen.<br />
Mathews’ Blick ist niemals der eines Voyeurs – im Gegenteil.<br />
Der Close-Up auf Schwänze und Körperöffnungen lässt ihn kalt.<br />
Es geht ihm nicht darum, sein Publikum zu erregen. Und auch der<br />
Money Shot, der zwingende Höhepunkt eines jeden Pornos und<br />
auch des Mannes, interessiert ihn nicht. Er wählt einen eher spielerischen<br />
Zugang. Mathews lässt seine Figuren während des Sex mal<br />
eine Pause einlegen, in der sie miteinander reden, was trinken, ganz<br />
aufhören oder danach weiter ficken. Sexualität ist divers, das scheint<br />
uns Mathews ständig vor Augen zu halten. Es gibt nicht nur eine Art,<br />
miteinander zu schlafen, sondern viele verschiedene. Mal zärtlich,<br />
mal lieblos, mal rau, mal hart, mal alles zusammen. Der Filmemacher<br />
durchleuchtet das ganze Spektrum – und das mit einer Unaufdringlichkeit,<br />
die einmalig ist.<br />
Gleichzeitig beweist Travis Mathews in seinem Film I Want Your<br />
Love auch ein Gespür für Vielfältigkeit außerhalb des sexuellen Konstrukts.<br />
Seine Figuren können nicht unterschiedlicher sein, was Race,<br />
Körper und Machtstrukturen angeht. Er hebt diese Mechanismen<br />
auf. Jede Körperform ist willkommen, Menschen mit verschiedener<br />
Herkunft treffen aufeinander. Und so wenig, wie er sexuelle Identität<br />
thematisiert, spricht er von Körperschemata oder Herkunft – und ist<br />
doch genau mit diesem Verschweigen politisch. Mathews verschweigt<br />
nicht aus Angst, sondern eher aus fast schon utopistischen Gründen.<br />
Er kreiert eine Welt in seinen Filmen, in welcher Probleme der sexuellen<br />
Identität, des eigenen Körpers und der eigenen Herkunft keine<br />
Rolle spielen oder längst schon verarbeitet sind. Mathews muss sich<br />
nicht an Klischees abarbeiten, nicht den moralischen Zeigefinger<br />
erheben und auch nicht auf Missstände aufmerksam machen. Gerade<br />
mit seiner intimen Darstellungsweise hebelt er das alles aus, es geht<br />
ihm um die kleinen und doch großen Problem des Alltags. Schwul,<br />
les<strong>bis</strong>ch, <strong>bis</strong>exuell, dick, dünn, schwarz, weiß – das alles spielt keine<br />
Rolle, sondern es geht um etwas Universelleres: um Liebe, um Zuneigung,<br />
um eine ungewisse Zukunft und eben nicht darum, wer oder<br />
was ich bin.<br />
Mit dieser Haltung, mit diesem Film gilt Travis Mathews zu<br />
Recht als einer der Wegbereiter einer neuen Welle des queeren<br />
Kinos, ohne sich an Genredefinitionen abzuarbeiten. Seine Filme<br />
haben schon längst eine Ebene erreicht, auf der Fragen nach Identitätszuschreibungen<br />
keinen Sinn mehr ergeben. Auf der aber auch<br />
sexuelle Identität nicht problembehaftet sein muss oder nicht mehr<br />
ist. Auf der seine Figuren schon längst über diese Themen hinaus<br />
sind. Auf der seine Charaktere ein Potential haben und sich nicht<br />
durch Herkunfts- und Orientierungszuschreibungen definieren lassen.<br />
Und genau das ist queer, das ist radikal, das ist anders. Auf eine<br />
leise Art.<br />
s<br />
10<br />
11
kino<br />
kino<br />
Edition Salzgeber<br />
Provinzbullen<br />
(oder: Dahinter, daneben und drauf)<br />
von Paul Schulz<br />
„Freier Fall“, der gerade auf der Berlinale die „Perspektive“ eröffnete und im <strong>Mai</strong> in die Gay-Filmnacht und<br />
auch sonst ins Kino kommt, ist der beste deutsche queere Film seit „Sommersturm“. Unser Autor macht<br />
sich Gedanken darüber, warum es nicht mehr davon gibt.<br />
s Große Momente der Filmgeschichte: Nathan Lane als Michelle<br />
Pfeiffers Nachbar in Frankie and Johnny, Rupert Everett als Julia<br />
Roberts bester, genervter Freund auf einer Hochzeit, Matthew Broderick<br />
in Das Kuckucksei, Niels Bormann in Mondlkalb, Beautiful<br />
Thing. Die, in denen ich mich selbst auf der Leinwand entdecke. Das<br />
ist meistens irgendwo hinter, wenn ich Glück habe neben und, in ganz<br />
seltenen Fällen, auf dem Hauptdarsteller. Auch deswegen gehe ich ins<br />
Kino, immer noch. Seit 30 Jahren.<br />
Die ersten 12 davon, <strong>bis</strong> Coming out, sah ich überhaupt niemanden,<br />
der wie ich war. Es gab schon Homosexuelle: bei Visconti oder<br />
Pasolini oder John Schlesinger, aber die hatten mit meinem jungen,<br />
schwulen Leben in der ostdeutschen Provinz ungefähr so viel zu<br />
tun wie Robert Preston in Victor/Victoria: nüscht. Trotzdem war ich<br />
dankbar für ihre Existenz. Harvey Fierstein hat diesen Effekt in The<br />
Celluloid Closet mal so zusammengefasst: „I like the sissy. Is it used<br />
in negative ways? Yeah, but … I’d rather have negative than nothing.“<br />
Ich gewöhnte mich daran, dass man als Homosexueller im Film im<br />
Wesentlichen drei Möglichkeiten hatte: Arschverkäufer, Aschenbach<br />
oder armer Wurm. Dann kam das New Queer Cinema und eröffnete<br />
neue Möglichkeiten: Arschverkäufer, Aidskranker oder Araki. Ich<br />
war hingerissen. Bis ich nach einigen Jahren merkte, dass mir was<br />
fehlte: ich. Da war ich genervt. Und bin es noch. Kleinlich, oder? Welches<br />
Recht habe ich schließlich, von dem großen leuchtenden Viereck<br />
vor mir zu erwarten, gerade mich abzubilden? Jedes.<br />
Weil, immer wenn ich mich sehe, und das ist so gut wie nie, durchfährt<br />
mich ein unendliches Gefühl der Erleichterung: Es gibt mich.<br />
Im Licht, da oben. Und alle können es sehen.<br />
Dieses Gefühl ist nicht besonders. Jede Minderheit (Frauen, Farbige,<br />
Fette) kennt es, musste und muss sich einen Umgang damit erarbeiten,<br />
hat damit zu kämpfen. Frauen sind nicht nur Huren oder Heilige,<br />
sondern eben auch Marge Gunderson, Farbige nicht nur Beverly<br />
Hills Cops oder Sklaven, sondern auch Precious, Fette nicht nur Annie<br />
12 13
kino<br />
kino<br />
Edition Salzgeber (3)<br />
Wilkes sondern auch Melissa McCarthy in Mike & Molly. Normalität<br />
ist inzwischen fast normal. Für Homos ist der Anspruch nur relativ<br />
neu: Sie sind immer noch vor allem Stricher, Feingeister oder Comic<br />
Relief. Bei jeder Diskussion über Homosexualität im Kino, bei der ich<br />
verlange, so was wie gewöhnliche Homosexuelle sehen zu wollen,<br />
schlagen mir von queerer Seite Variationen zweier alter Denkmuster<br />
entgegen, die noch mehr nerven als die alten Bilder, und ungefähr<br />
so klingen: „Sei froh, dass es uns im Kino überhaupt gibt“, oder: „Sei<br />
froh, dass die nicht wissen, wie langweilig wir wirklich sind.“ Was das<br />
Heteronormierteste ist, was man so sagen kann, weil es sich eben an<br />
angenommenen heterosexuellen Sehgewohnheiten orientiert und das<br />
Außergewöhnliche liefern will, um zu gefallen. In den letzten Jahren<br />
kommt der „James-Franco-Effekt“ hinzu: Heterosexuelle Filmemacher,<br />
die die Belastbarkeit ihrer eigenen Toleranzgrenzen testen,<br />
indem sie sexuell explizite Homofilme drehen, in denen sie schwule<br />
Sexualität nicht zeigen, sondern ausstellen, danach auf Filmfestivals<br />
mit ihrem minimalen Erkenntnisgewinn protzen und von mir Dankbarkeit<br />
für die durch sie hergestellte Sichtbarkeit meiner Leute oder<br />
ein Lob für ihren „queeren“ Wagemut erwarten. Sorry James, not<br />
gonna happen.<br />
So richtig schwierig wird es aber erst, wenn ich immer mal wieder<br />
mitbekomme, wie filmmächtige Queerlinge selbst mit Filmen umgehen,<br />
die einen eher durchschnittlichen schwulen Lebensentwurf<br />
anbieten: Wieland Speck sagte in einem Interview vor der diesjährigen<br />
Berlinale, so was wie Freier Fall, ein wunderbarer, deutscher Film<br />
über zwei schwule Polizisten, könne jetzt überall laufen und bräuchte<br />
eine Einladung zum Panorama deswegen nicht. Echt? Wo sind denn<br />
die offensichtlich im Dutzend vorhandenen und überall gespielten<br />
Filme über schwules Leben in Deutschland? Hab ich was verpasst?<br />
Gab es seit Sommersturm, der immerhin neun Jahre auf dem schmalen<br />
Buckel hat, auch nur einen einzigen schwulen <strong>Mai</strong>nstreamerfolg<br />
im deutschen Kino? Den Teddy hat mit W Imie … <strong>2013</strong> ein poetisches<br />
Meisterwerk über einen polnischen Priester gewonnen, das mit meiner<br />
eigenen Lebensrealität und der der allermeisten schwulen Kinozuschauer<br />
ungefähr so viel zu tun haben dürfte wie jeder Film über<br />
einen schwulen Priester: nüscht. Haben wir es wirklich so satt oder<br />
haben wir einfach nur solche Angst davor, das, was wir in der breiten<br />
Masse sind, im Kino zu sehen? Böse Frage, ich weiß.<br />
Deutsche Produzenten und Redakteure könnten jetzt antworten,<br />
dass schwule Durchschnittlichkeit doch niemand sehen will oder,<br />
dass die echt durch ist. Und tun das oft. Ich halte mal die Zuschauerzahlen<br />
von Brokeback Mountain, Aimee und Jaguar und The Kids Are<br />
All Right und die Kritiken für Weekend dagegen. Vielleicht muss man<br />
nur angstfrei eine queere Geschichte erzählen, vor deren Allgemeingültigkeit<br />
man nicht davonrennt, sondern die man voraussetzt, und<br />
hat dann Erfolg?<br />
Diesen Versuch unternimmt der eben schon erwähnte Freier Fall.<br />
Und bekommt etwas hin, was ich eben seit Sommersturm nicht im<br />
deutschen Homo-Kino gesehen habe: Er traut sich an die ganz großen<br />
Brocken und jongliert publikumswirksam mit ihnen.<br />
Das sieht so aus: Hanno Koffler spielt Marc, einen Polizisten,<br />
der mit seiner schwangeren Freundin Bettina (Katharina Schüttler)<br />
gerade ins Haus neben seinen Eltern gezogen ist, irgendwo in der<br />
deutschen Provinz. Er lernt bei einer Fortbildung den Kollegen Kay<br />
(Max Riemelt) kennen. Der kifft und fährt einen dicken Jeep und<br />
kann schneller laufen als Marc. Beim gemeinsamen Training passiert<br />
ein erster, zufälliger Kuss, dann nichts. Marc fährt nach Hause,<br />
schläft mit Bettina, lässt sich von seiner spießigen Mutter (Maren<br />
Kroymann) bekochen, geht zum Dienst. In der zweiten Runde der<br />
Fortbildung trifft er Kay wieder, der ihn während eines gemeinsamen<br />
Waldlaufs nochmal küsst und mehr macht, woraufhin Marc ihm wegrennt.<br />
Wieder geht es nach Hause. Und es passiert nichts, außer, dass<br />
Marc grübelt. Bis Kay sich in seinen Zug versetzen lässt. Und etwas<br />
anfängt, von dem man weiß, dass es kein gutes Ende nehmen kann.<br />
Obwohl Freier Fall so was wie ein Happy-End hat, wenn auch kein<br />
herkömmliches.<br />
Und im Mauerwerk die Haustüren:<br />
massiv, Plastik, wie ein luftdichter<br />
Deckel für all die Lügen und<br />
Geheimnisse, die hinter ihnen lauern<br />
Drehbuchautor Karsten Dahlem war Tom Tykwers Regieassistent<br />
bei Drei, es ist sein erstes Drehbuch. Regisseur Stephan Lacant<br />
hat noch nie vorher einen Langfilm gedreht. Beides merkt man nicht.<br />
Die Szenen und Bilder sitzen, die Handlung nimmt in eleganten Bahnen<br />
ihren Lauf, 100 Minuten sind schnell um, weil hier drei Schauspieler<br />
(Koffler, Riemelt, Schütler) auf der Höhe ihrer Kunst zu sehen<br />
sind, die darin besteht, dass man die Kunst nicht sieht, sondern echte<br />
Menschen. Ein Regisseur weiß, was er zeigen, und ein Autor, was<br />
er erzählen will. Ein Freund und ich sitzen atemlos im Großstadt-<br />
Kino und gruseln uns vor den Insignien unserer Herkunft: einstöckige<br />
Einfamilienhäuser mit einem Stück Rasen dahinter, davor<br />
mit Wicken umrankte Carports. Und im Mauerwerk die Haustü-<br />
ren: massiv, Plastik, wie ein luftdichter Deckel für all die Lügen und<br />
Geheimnisse, die hinter ihnen lauern.<br />
Von denen es im Laufe des Films immer mehr gibt, <strong>bis</strong> Bettina mit<br />
Kind geht und Marc begreift, wer er ist und was das heißt. Dazwischen<br />
gibt es die eindringlichsten Sexszenen zwischen zwei Männern,<br />
die mir im deutschen Kino je begegnet sind. Weder Koffler<br />
noch Riemelt scheuen sich davor, ihre Körper zu blanken, schauspielerischen<br />
Instrumenten zu machen, an denen voyeuristische Augen<br />
schlicht abrutschen, weil sie viel mehr als nur Nacktheit erzählen.<br />
Glück ist schwierig und gelingt nur in Momenten, wenn man sich<br />
nicht sehr darum bemüht.<br />
Nichts davon drängt sich einem auf, weder Dahlem noch Lacant<br />
verraten ihre Figuren ans Publikum und das Ensemble weiß, dass alle<br />
gebraucht werden, um die Geschichte zu erzählen. Selbst Kroymann,<br />
die ihre Rolle als homophobe Mutter als offensichtliche Karikatur<br />
hätte anlegen können, spielt auch nur eine Frau, der ihr Lebensentwurf<br />
entgleitet und die nicht weiß, was werden soll. Niemand ist das<br />
Arschloch, aber alle sind im Arsch. Klischees werden gezeigt, aber<br />
schnell umschifft oder als solche ausgestellt. Es darf gelacht und<br />
geflennt und mitgelitten werden.<br />
Kino eben. Für den Kopf und den Bauch und den Schritt. Freier<br />
Fall ist ein Film, der das ganz Außergewöhnliche in komplett gewöhnlichen<br />
Existenzen findet, die Momente, an denen sich Leben drehen.<br />
Und der dann in der Lage ist, einfach zu beobachten, wie sich Menschen<br />
in solchen Situationen verhalten.<br />
Hanno Koffler ist kein Neuling, was schwule Rollen anbelangt.<br />
Vielleicht deswegen gelingt ihm mit Marc die vollständigste vielleicht<br />
schwule Figur seit langer Zeit. Es ist einfach nur eine große Freude,<br />
was er hier macht und wie er das tut. Freier Fall ist sein Film, auch<br />
wenn es vielleicht Riemelt sein wird, der mehr Aufmerksamkeit<br />
bekommt, weil er das bekanntere Gesicht ist. Die beiden Schauspieler<br />
sind seit Jahren befreundet, was dazu beigetragen haben dürfte, dass<br />
ihre gemeinsamen Szenen eine leichte, ganz und gar realistische Intimität<br />
haben. Was die heißt, bleibt dankenswerter Weise offen. Man<br />
kann Freier Fall als Coming-Out-Drama sehen, macht den Film damit<br />
aber vielleicht kleiner, als er ist. Der erste der vorschlägt, Marc könnte<br />
schwul sein, ist weit in der zweiten Stunde des Films Kay, während<br />
eines Wutanfalls, um den Geliebten zu einer Entscheidung zu zwingen,<br />
die dieser verweigert. Als wenig später Bettina wissen will, ob<br />
Marc schwul ist, verneint der das und bekommt ein halb gefluchtes<br />
„Was <strong>bis</strong>t du dann?“ zur Antwort. Eine Frage, die er sich selbst in den<br />
verbleibenden Filmminuten beantwortet, aber nicht notwendiger<br />
Weise dem Zuschauer.<br />
Der Film nimmt nicht vor der komplexen Gefühlslage reiß aus,<br />
die hier erzählt wird, sondern lässt seinem Publikum Raum, um sich<br />
selbst einen Reim auf das Gesehene zu machen. Ich erzähle das sofort<br />
jedem, der es hören will.<br />
Das Resultat: Noch während der Berlinale streite ich mich mit<br />
einer Freundin, die den Film noch nicht gesehen hat, per Facebook-<br />
Chat darüber, ob sie reingehen soll oder nicht. „Zwei Bullen in der<br />
deutschen Provinz, und einer hilft dem anderem aus dem Schrank.<br />
Na Hilfe! Wie oft soll ich das denn noch sehen? Das ist doch garantiert<br />
wieder so Kram für’s geneigte Heteropublikum ohne jeden queeren<br />
Ansatz und die fassen sich nicht an. Stimmt’s?“ „Wirklich nicht. Guck<br />
ihn doch einfach.“ „Ich will das überhaupt nicht sehen. Bewegungskino!<br />
Aber kannst du mir Karten für den Franco besorgen?“ Ich sitze<br />
mit knirschenden Zähnen im Büro. „Nein, kann ich nicht.“ „Wieso<br />
denn nicht?“ „Da hätten wir also einen Film, der eine Annäherung<br />
an deutsche, schwule Realität versucht, mit tollem Buch, großartigen<br />
Schauspielern, feiner Regie, realistischen Sexszenen und einer Reihe<br />
spannender Fragen an seine Figuren und sein Publikum. Und einen<br />
heterosexuellen Hollywoodstar, der Schwule beim Blasen filmt, sich<br />
dabei von Travis Mathews helfen lassen muss und zwischendurch mit<br />
seinem Hauptdarsteller darüber diskutiert, wie freaky schwuler Sex<br />
doch ist, aber dass man bestimmt ein besserer Mensch wird, wenn<br />
man es aushält, sich das anzusehen. Während er das dann tut, macht<br />
er ein Gesicht, als ob er einer Augen-Operation beiwohnt.“ „Klingt<br />
doch aufregend.“ „Wir brechen die Diskussion an dieser Stelle ab.“<br />
Es ist so: Es mag auch <strong>2013</strong> noch merkwürdig sein, queere Figuren<br />
im Kino zu sehen, die noch mehr zu tun haben, als queer zu sein,<br />
weil sie in einer Welt leben, die großen Teilen Deutschlands aufs Haar<br />
gleicht. Aber vielleicht, und das ist meine Vermutung, wartet das Publikum<br />
auf genau solche Figuren, weil es die Bodenhaftung braucht,<br />
die sie vermitteln, um sich den komplexen Fragen zu stellen, die<br />
queeres Leben heute bereit hält. Freier Fall unterbreitet genau dieses<br />
Angebot. Es nicht anzunehmen, wäre dämlich.<br />
s<br />
Freier Fall<br />
von Stephan Lacant<br />
DE <strong>2013</strong>, 100 Minuten, deutsche OF<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino in der Gay-Filmnacht im <strong>Mai</strong>,<br />
www.Gay-Filmnacht.de<br />
Kinostart: 23. <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
www.freierfall-film.de<br />
14 15
kino<br />
kino<br />
Bei Anruf Sex<br />
von <strong>Mai</strong>ke Schultz<br />
In „A Perfect Ending“ zeigt Nicole Conn einmal mehr das sexuelle Erwachen einer reifen Frau. Am 29. <strong>März</strong><br />
läuft die Liebesgeschichte mit einem Callgirl in der L-Filmnacht.<br />
s Um es gleich vorwegzunehmen: A Perfect Ending ist kein Film<br />
über Sexarbeit. Oder besser gesagt über Frauen, die gegen Geld mit<br />
Frauen schlafen. Ein hoch interessantes Tabuthema, das sich auch auf<br />
der soeben zu Ende gegangenen Berlinale großer Beliebtheit erfreute:<br />
Concussion heißt der dort gezeigte Film über eine les<strong>bis</strong>che Ehefrau<br />
und Mutter, die nach einer Gehirnerschütterung beginnt, sich für<br />
andere Frauen zu prostituieren.<br />
Doch weder in Stacie Passons Regiedebüt Concussion (bei der<br />
Teddy-Verleihung gewann sie damit den Special Jury Award) noch in<br />
A Perfect Ending, dem neuen Film von Nicole Conn, geht es darum,<br />
diese Tätigkeit moralisch zu hinterfragen. Sie inszenieren keine<br />
Milieu studie oder die in einem solchen Beziehungsgeflecht angelegten<br />
Konflikte, wie es etwa Steven Soderbergh in Girlfriend Experience<br />
tut. Vielmehr erzählt Conn jene Geschichte, die sie in all ihren Filmen<br />
erzählt: Von der Reise einer Frau zu ihrer sexuellen Identität.<br />
Conns Arbeiten Claire of the Moon (1992) und Elena Undone<br />
(2010) gehören zu den Klassikern im DVD-Regal les<strong>bis</strong>cher Haushalte.<br />
Es sind Selbstfindungstrips, die durch das Zusammenspiel<br />
16<br />
bildschöner Hauptfiguren, genüsslich ausgekosteter Klischees und<br />
einer unangestrengten Balance zwischen Drama, Komödie und<br />
sexy Romanze funktionieren. Ihr Spannungsfeld ziehen sie aus dem<br />
Mythos des ersten Mals: Reife, zuvor hetero-orientierte Frauen erleben<br />
ihr sexuelles Erwachen in einer gleichgeschlechtlichen Begegnung.<br />
In Claire of the Moon war es die männerliebende Satirikerin, die<br />
das Appartement bei einer Tagung mit einer völlig gegensätzlichen<br />
Sexualtherapeutin teilt und – nach endlosen philosophischen Debatten<br />
– deren Anziehung erliegt; in Elena Undone verfiel die Gattin<br />
eines homophoben Pfarrers einer les<strong>bis</strong>chen Schriftstellerin (und lieferte<br />
mit dreieinhalb Minuten den längsten Kuss der Filmgeschichte).<br />
Dabei geht die Initiative stets von den Unerfahrenen aus: Nicht bloß<br />
neugierig, sondern lebens- und liebeshungrig wagen sie den Ausbruch<br />
aus einem gewohnheits- und fremdbestimmten Dasein.<br />
Mit der Darstellung dieser Routine beginnt auch A Perfect Ending.<br />
Wir sehen Rebecca (Barbara Niven), reiche Unternehmergattin und<br />
Charity Lady, wie sie ihrem Ehemann die Krawatte bindet und die<br />
pro-fun media<br />
Papiere hinterher trägt. Diese Aufnahmen schneidet Conn gegen Szenen<br />
aus dem Alltag von Paris (Jessica Clark): Als Domina führt sie<br />
Kunden am Halsband umher. Sie ist ein Callgirl, doch eines macht<br />
spätestens die zärtlich-schrullige Darstellung ihrer Zuhälterin (eine<br />
operierte All-American-Blondine im pinken Salon, die Aufträge ihrer<br />
Escort-Damen mit Hilfe optisch passender Barbiepuppen verwaltet)<br />
deutlich: Sie macht den Job freiwillig und gern.<br />
Ein Mix aus Langeweile, sexueller Frustration und der Überredungskunst<br />
eines befreundeten Lesbenpaares treibt Rebecca in die<br />
Arme der jungen Paris, die spontan für eine verhinderte Kollegin einspringt.<br />
Es braucht freilich einige Fluchten aus dem Hotelzimmer, <strong>bis</strong><br />
sich die Luxus-Hausfrau auf das neue Abenteuer einlassen kann, das<br />
sie alsbald süchtig zurücklässt und die eigentliche Geschäftsbeziehung<br />
verdrängt.<br />
Eine Menge Probleme treiben die beiden außerhalb des Bettes um<br />
und wohl auch in dieses hinein. Rebecca ist zwanghafte Perfektionistin<br />
(„Vergiss nicht das Atmen“, sagen ihre Kinder) und vernachlässigt<br />
darüber doch ihre Tochter; Paris indes trauert um eine verlorene<br />
Liebe und leidet unter Schuldgefühlen, die sie in düsteren Skizzen auf<br />
Papier bannt.<br />
Verstärkt wird der Fokus auf die verkappte Künstlerin durch<br />
immer wieder kehrende Traumsequenzen, in denen sich Paris in<br />
einer Art White Cube räkelt, und die Conn ebenso eifrig einsetzt wie<br />
Nahaufnahmen unwichtiger Details, etwa das Ornamentmuster einer<br />
Blumenvase. Leider bringt weder das eine noch das andere Stilmittel<br />
einem die Figuren näher, was vor allem daran liegt, dass Jessica<br />
Clarks schauspielerisches Talent sich auf einen Gesichtsausdruck<br />
beschränkt. Fans der HBO-Serie True Blood werden das britische,<br />
offen les<strong>bis</strong>che Model als attraktive Vampirgöttin Lilith aus der fünften<br />
Staffel wiedererkennen. Allerdings bestand ihre Rolle dort darin,<br />
schweigend, nackt und blutverschmiert andere Vampire zu betören.<br />
Immerhin, letzteres gelingt ihr auch in A Perfect Ending, wenn auch<br />
nicht durch ihren Sprechpart.<br />
Die Handschrift der Regisseurin ist dabei nicht nur thematisch<br />
unverkennbar. Was in A Perfect Ending der White Cube als Kunstgriff<br />
darstellt, bildete schon in Elena Undone die Konstante eines Liebesgurus,<br />
der Paare als lebende Beweise für Seelenverwandtschaft interviewt.<br />
In beiden Filmen fällt ein fast identisch formulierter Satz: „Verwechsle<br />
nie körperliche Leidenschaft mit emotionaler Nähe“, warnen<br />
sich die Protagonistinnen gegenseitig. Und doch bleibt es nie beim<br />
rein sexuellen Experiment, bringt dieses doch die ersehnte Erfüllung.<br />
„Mein ganzes Leben habe ich darauf gewartet“, sagt Rebecca<br />
am Ende.<br />
So wie Elena Undone sich mit dem Ausruf „I’m done with it!“ (Ich<br />
bin fertig damit) befreite, spielt auch Conns aktueller Filmtitel mit<br />
mehreren Bedeutungsebenen. Das „Happy Ending“, wie man es von<br />
Massagen mit Orgasmus-Finale kennt, spielt dabei ebenso hinein wie<br />
der Wunsch nach dem glücklichen Abschluss eines Lebens. Ein Erlebnis,<br />
das sich für kein Geld der Welt erkaufen lässt.<br />
s<br />
A Perfect Ending<br />
von Nicole Conn<br />
US 2012, 106 Minuten,<br />
englische OF mit deutschen UT<br />
Pro-FUn Media, www.pro-fun.de<br />
Im Kino in der L-Filmnacht im <strong>März</strong>,<br />
www.L-Filmnacht.de<br />
17
kino<br />
kino<br />
„Lipstikka“ von Jonathan Sagall<br />
Auf der Flucht<br />
von Malte Göbel<br />
Gleich drei Filme mit palästinensich-israelischem Hintergrund<br />
kommen in den nächsten Monaten in die Kinos: Das<br />
Drama „Lipstikka“ erzählt die Geschichte zweier Frauen,<br />
die einst gemeinsam aus Palästina flüchteten und sich<br />
nun wiedertreffen. „Out in The Dark“ handelt von einem<br />
palästinensisch-israelischen schwulen Liebespaar und der<br />
Dokumentarfilm „Invisible Men“ begleitet drei schwule Araber/<br />
Palästinenser auf dem Weg ins Exil.<br />
Edition Salzgeber<br />
s „Es hätte auch alles ganz anders kommen können“, ist der erste<br />
Satz in Lipstikka. Aus dem Off erzählt Lara, dass ihr Ehemann fremdgeht.<br />
Dass Lara dabei ganz andere Probleme hat, wird schnell klar –<br />
aber nicht, welche. Memory Fools ist der Untertitel von Lipstikka (was<br />
übrigens finnisch für Liebstöckel ist, sich aber auf einen wiederholt<br />
auftauchenden Lippenstift bezieht): Erinnerung ist trügerisch. Erinnerung<br />
an ihre Freundin und Geliebte Inam, mit der Lara in Ramallah<br />
(Palästina) aufwuchs, dann in London zusammenlebte und Sprachkurse<br />
besuchte, die dann aus ihrem Leben verschwand. Und auf einmal<br />
wieder auftaucht, in Laras neuer Lebensrealität mit Kind und<br />
Ehemann im gesichtslosen Londoner Vorort. Inam steht eines Morgens<br />
einfach vor Laras Tür, „Was willst Du hier?“, fragt Lara, lässt sie<br />
aber herein in die helle Wohnung, in ihre fast schon sterile Idylle.<br />
In Flashbacks erzählt der Film von der gemeinsamen Vergangenheit,<br />
doch die Rückblicke auf die erste Zeit in London und die<br />
Jugend in Palästina verstärken die Unklarheit. Wer liebte jetzt wen?<br />
Wie eng waren die Frauen? Was trieb sie auseinander? Die Ebenen<br />
verschwimmen. Zeigen die Rückblicke eine absolute Wahrheit oder<br />
eine gefühlte, konstruierte, zurechtgelogene? Die Erinnerung ist trügerisch,<br />
und so wird das Psycho-Drama fast zu einem Thriller. Vor<br />
dreizehn Jahren büxten Inam und Lara als Teenager aus, um in Israel<br />
in den neuesten Mel-Gibson-Film zu gehen – trotz elterlichen Verbots<br />
und Ausgangssperre. Auf dem Rückweg griffen zwei Soldaten sie auf.<br />
Ein Flirtversuch endet in einer Vergewaltigung, so zumindest eine<br />
der angebotenen Deutungen.<br />
Lipstikka lief unter dem Titel Odem vor zwei Jahren auf der Berlinale<br />
und wurde in der Kritik als tiefgründig und filmisch ambitioniert<br />
gewürdigt. Einen Skandal hatte der Film schon hinter sich:<br />
Regisseur Jonathan Sagall hatte die Geschichte eigentlich vor Shoah-<br />
Hintergrund erzählen wollen, mit den beiden Frauen als Überlebenden<br />
des Holocaust – basierend auf der Geschichte seiner Mutter.<br />
Der Regisseur machte aus den Jüdinnen aber Palästinenserinnen –<br />
und sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die israelische Besatzung der<br />
Palästinensergebiete mit dem Holocaust gleichzusetzen. Er wollte<br />
aber politisch sein: „Für uns ist der Nahost-Konflikt Alltag. Als Israeli<br />
wollte ich die menschliche Seite unserer direkten Nachbarn beleuchten.<br />
Und am besten ging das durch zwei junge Mädchen, die nichts<br />
mit dem Konflikt zu tun haben.“ Erst der politische Konflikt macht<br />
aus der Boy-meets-Girl-Situation nach dem Kino-Besuch ein Trauma.<br />
Ähnlich Out in the Dark: Eine klassische Boy-meets-Boy-<br />
Geschichte wird zum Drama. In einem Club in Tel Aviv kommen der<br />
Psychologie-Student Nimr aus Ramallah und der Rechtsanwalt Roy<br />
ins Gespräch, sie treffen sich wieder – und verlieben sich. Doch dann<br />
erpresst der Mossad Nimr: Wenn er seine Einreisegenehmigung für<br />
Israel behalten will, soll er seinen Bruder ausspionieren, der aktiv in<br />
18<br />
19
kino<br />
kino<br />
gm-films<br />
pro-fun media<br />
„Invisible Men“ von Yariv Mozer<br />
„Out In The Dark“ von Michael Mayer<br />
einer militanten Palästinenser-Organisation ist. Nimr lehnt ab und<br />
kann Roy nicht mehr treffen. Dann wird Nimr in Ramallah geoutet<br />
und muss vor seinem Bruder flüchten. Er schlägt sich nach Tel Aviv<br />
durch und zieht bei Roy ein. Doch dann verhaftet die israelische<br />
Armee Nimrs Bruder und sucht nun auch Nimr …<br />
Die Geschichte von Israel als sicherem Ort für schwule Palästinenser<br />
wurde schon oft erzählt und hat es mit The Bubble von Eytan<br />
Fox schon vor Jahren ins <strong>Mai</strong>nstream-Kino geschafft. Out in the Dark<br />
erzählt die gleiche Geschichte ohne große Schnörkel, fast erwartbar.<br />
Um so erstaunlicher, dass der Film trotzdem berührt und gefangen<br />
nimmt. Vielleicht liegt das auch an den Bildern. Wo Lipstikka hell<br />
und kühl war, scheint Out in the Dark in warmen Farbtönen, man ist<br />
bei Partys oder im Wohnzimmer von Ramallah direkt dabei. Und die<br />
Figuren haben Ambivalenzen: Nimr verschweigt Roy die Sache mit<br />
seinem Bruder, Roy fürchtet um seine Stellung als Anwalt, die er erstmal<br />
nicht für Nimr aufs Spiel setzen möchte.<br />
Nachfühlbar auch in Deutschland ist die Frage des Andersseins<br />
als Schwuler – wenn auch Nimr als schwuler Palästinenser in Tel<br />
Aviv doppelt Minderheit ist. Oder nicht? „Als ich anfing in Tel Aviv<br />
auszugehen, dachte ich, die anderen Leute würden mich nur schwer<br />
akzeptieren“, erzählt Nimr an einer Stelle. „Aber dann habe ich herausgefunden,<br />
dass das Schwulen egal ist.“ Roy antwortet lakonisch:<br />
„Ein Schwanz ist halt ein Schwanz.“ Er meint das positiv, in der<br />
Schwulenszene sind alle gleich. Aber andersrum gilt: Wenn es nur um<br />
Schwänze geht, ist es egal, dass Nimr in Tel Aviv Hilfe braucht. Er<br />
hat im Film keine anderen Freunde, die ihm helfen. Nimrs Tragödie<br />
müsste eigentlich die Solidarität anderer Schwuler hervorrufen. Tut<br />
sie aber nicht. Irrt Nimr also? Ist der Gegensatz zwischen Palästinensern<br />
und Israelis stärker als schwule Solidarität?<br />
Eine Antwort darauf gibt der Dokumentarfilm The Invisible Men.<br />
Er begleitet drei schwule Palästinenser bzw. israelische Araber, die<br />
weder in Palästina noch in Israel bleiben können und in Europa Asyl<br />
beantragen. Hier ist klar: Ein schwules Leben in Palästina, ein palästinensisches<br />
schwules Leben in Israel ist nicht möglich. „Jede Woche<br />
flüchten Dutzende von schwulen Palästinensern nach Israel, wo sie<br />
sich wieder verstecken müssen, nicht als Homosexuelle, sondern als<br />
Palästinenser. Aus Sicherheitsgründen ist es weiterhin israelische Politik,<br />
sie sofort wieder in die Besetzten Gebiete abzuschieben, wo der<br />
sichere Tod auf sie wartet“, beginnt der Film, während im Hintergrund<br />
schnelle Fußtritte und ein Keuchen zu hören sind – hier ist jemand auf<br />
der Flucht. Es ist Louie, der seit zehn Jahren in Tel Aviv lebt, ab und<br />
zu von der Polizei aufgegriffen und in den besetzten Gebieten wieder<br />
ausgesetzt wird, um dann irgendwie wieder nach Tel Aviv zurück zu<br />
kommen. Louie hat Freunde, die ihn abholen, die es in Out in the Dark<br />
nicht gibt. Und Louie will eigentlich nicht fort, er kann sich ein Leben<br />
woanders nicht vorstellen. Obwohl er Narben im Gesicht hat, weil sein<br />
Vater ihn mit einem Messer angriff, als er sich outete. Und obwohl er<br />
einen Davidstern als Tarnung um den Hals tragen muss.<br />
Der Film begleitet Louie zu Hilfsorganisationen, die ihm ein<br />
Schreiben ausstellen, falls die Polizei ihn wieder aufgreift, mit der<br />
Information, dass er mit dem Tode bedroht wird, mit Nummern von<br />
Anwälten. Doch mehr können sie nicht tun: Es gibt kein Asyl in Israel<br />
für schwule Palästinenser. Und anders als in Deutschland können sie<br />
sich auch nicht durch Heirat eine Aufenthaltsgenehmigung verschaffen:<br />
Es gibt in Israel keine Zivilehe.<br />
Ähnlich wie Louie geht es auch Abdu und Faris. Sie sind auf der<br />
Flucht, weil ihre Eltern sie herausgeworfen haben und sie in Israel<br />
nicht willkommen sind. The Invisible Men zeigt das Schicksal der drei<br />
Männer eindrücklich, auch anders als in Out in The Dark. Dort verstecken<br />
sich Palästinenser auf einem Dach, haben es sich freundlich<br />
hergerichtet mit Möbeln und gespannten Tüchern. Als Louie auf der<br />
Flucht ist, schläft er auf einer dreckigen Matratze neben einem Haufen<br />
Sperrmüll, Fliegen krabbeln über seine Beine. Insofern gehören<br />
die beiden Filme zusammen: So ist die Romanze, und so ist es wirklich.<br />
Als sich am Ende Louie, Abdel und Faris in einem Bergdorf in<br />
Europa treffen, atmet man auf.<br />
Gleichzeitig ist das auch nicht das ganze Bild, sondern sei nur<br />
ein Teil des israelischen „Pinkwashing“, wie Aktivist_innen vor Ort<br />
bemängeln. Je stärker palästinensische Schwule als verfolgt dargestellt<br />
werden, desto besser steht Israel da. Dabei sei auch die Situation<br />
in Palästina komplex, große Städte wie Ramallah oder Nablus<br />
seien toleranter. Dem könnte man entgegnen, dass Israel in keinem<br />
der Filme wirklich gut wegkommt. Um die Kritik aufzunehmen,<br />
müsste ein nächster Film mal die Situation von Schwulen und Lesben<br />
betrachten, die in Palästina leben können – falls es sie gibt. s<br />
Lipstikka<br />
von Jonathan Sagall<br />
US/IL 2011, 90 Minuten,<br />
englische OF mit deutschen UT<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Im Kino in der L-Filmnacht<br />
im April, www.L-Filmnacht.de<br />
Out in The Dark<br />
von Michael Mayer<br />
IL/US 2012, 96 Minuten,<br />
deutsche SF / OmU<br />
Pro-Fun Media,<br />
www.pro-fun.de<br />
Im Kino ab 9. <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
Invisible Men<br />
von Yariv Mozer<br />
IL/NL 2012, 69 Minuten,<br />
ara<strong>bis</strong>ch-englisch-hebräische OF<br />
mit deutschen UT<br />
GM-Films, www.gmfilms.de<br />
Im Kino ab 26. <strong>März</strong> <strong>2013</strong><br />
20 21
kino<br />
kino<br />
Go for Gold<br />
von Tania Witte<br />
Zwei Frauen beschließen, gemeinsam ein Kind zu zeugen. Einen „dokumentarischen Spielfilm“ nennt Anne<br />
Zohra Berrached ihre aus dokumentarischen und inszenierten Elementen kunstvoll verzahnte Nahaufnahme<br />
eines les<strong>bis</strong>chen Paares, das an einer rechtlichen Unklarheit und am inneren und äußeren Druck verzweifelt,<br />
den ihr einfacher und naheliegender Wunsch auslöst. Auf der Berlinale wurde „Zwei Mütter“ mit dem Preis<br />
der Perspektive Deutsches Kino, „Dialogue en perspective“, ausgezeichnet.<br />
Zwei Mütter<br />
von Anne Zohra Berrached<br />
DE <strong>2013</strong>, 75 Minuten, deutsche OF<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino in der L-Filmnacht im <strong>Mai</strong>,<br />
www.L-Filmnacht.de<br />
Kinostart: Ende <strong>Mai</strong> <strong>2013</strong><br />
www.zweimuetter.de<br />
Edition Salzgeber<br />
s Ein Paar beim Sex. Echt und nah und glaubwürdig. Könnte so oder<br />
so ähnlich hier oder da stattfinden. Und dann, währenddessen, die<br />
Frage: Was wäre, wenn aus dieser Liebe ein Kind entstehen würde?<br />
Namenssuche und die unvermeidliche Zigarette danach. Auch das<br />
könnte, so oder so ähnlich, gerade nebenan stattfinden. Dass die<br />
Geliebten zwei Frauen sind, nimmt der Situation die Schwerelosigkeit.<br />
Aber doch: Wir leben in Deutschland, <strong>2013</strong>, was spricht dagegen,<br />
diese Liebe mit einem Kind zu besiegeln? Nichts, finden Katja (Sabine<br />
Wolf) und Isabella (Karina Plachetka) und beschließen, den Traum<br />
wahr werden zu lassen.<br />
In ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm Zwei Mütter folgen<br />
Regisseurin Anne Zohra Berrached und ihr Team den beiden Frauen<br />
auf dem Weg zur Wunscherfüllung. Die Handlung ist frei erfunden,<br />
basiert aber auf Fakten – so wahr, wie sie nur sein können. Isas Telefonmarathon<br />
mit Ärzten, Beratungszentren und Kinderwunschkliniken<br />
ist beklemmend real und ihr schwant, dass der Kinderwunsch zu<br />
einem alltagsfüllenden Projekt werden könnte.<br />
Als ihre Partnerin Katja einen Arzt findet, der die Befruchtung<br />
vornehmen würde, stellt sich heraus, dass eine Enddreißigerin ohne<br />
Ausbildung und mit Minijob und die Filialleiterin einer Videothek<br />
sich schon wegen ihrer Einkommensverhältnisse keine Chancen<br />
ausrechnen dürfen. Der Anwalt, den sie auf Wunsch des Arztes im<br />
Vorfeld aufsuchen müssen, erklärt ihnen nämlich unmissverständlich,<br />
dass sie ein Einkommen von mindestens 3.500 Euro pro Partnerin<br />
nachweisen müssen, um von seinem Mandanten inseminiert<br />
zu werden.<br />
„Aber ich fühle mich ungerecht behandelt!“, sagt Isa.<br />
„Dafür bin ich der falsche Ansprechpartner“, erwidert der<br />
Anwalt, der sich selbst spielt und ja irgendwie auch nichts dafür<br />
kann. Weil es vor dem Gesetz eben so ist, dass der Mensch, der den<br />
Samen in die Frau bringt, der Vater ist. Also, theoretisch. Es sei denn,<br />
die Frau ist mit einem Mann verheiratet, dann ist der Ehemann der<br />
Vater. Immer, und egal, wie nachdrücklich und einvernehmlich<br />
beide Ehepartner widersprechen mögen. Aus diesem Grund tun sich<br />
die Kliniken so schwer damit, Frauenpaare zu befruchten. Denn,<br />
auch das rein theoretisch, das werdende Kind und die werdenden<br />
Mütter könnten den Arzt auf Unterhalt verklagen. So sieht es aus.<br />
Folglich gibt es eine künstliche Befruchtung nur für heterosexuelle,<br />
verheiratete Paare oder Lesben, die es sich leisten können. Pech für<br />
Isa und Katja.<br />
Und weiter.<br />
Gerade mal eine Handvoll Ärzte gibt es in Deutschland, die Frauenpaare<br />
befruchten – einer davon erklärt sich bereit, Isa zu inseminieren.<br />
Ein Happy End zeichnet sich ab. Doch viele Monate und ebenso<br />
viele Befruchtungen später ist das Konto geplündert, eine Schwangerschaft<br />
aber noch immer nicht in Sicht. Immerhin hatte dieser Arzt<br />
die beiden vorgewarnt: In 70 <strong>bis</strong> 80 Prozent der Fälle verläuft eine<br />
Insemination erfolglos. Auch bei heterosexuellen Paaren besteht bei<br />
Sex am perfekten Tag lediglich eine 25- <strong>bis</strong> 27-prozentige Chance auf<br />
eine erfolgreiche Befruchtung.<br />
Wo Katjas Kräfte schwinden und sie ans Aufgeben denkt, sucht<br />
Isa ver<strong>bis</strong>sen weiter nach neuen, kostengünstigen Möglichkeiten.<br />
Im Internet trifft sie auf jemanden, der Inseminationssets für den<br />
les<strong>bis</strong>chen Hausgebrauch verkauft. Und wieder: Hoffnung. In einem<br />
Privathaus erklärt ein fremder, heterosexueller Mann den beiden<br />
Frauen, wie sie sich das Sperma einzuführen haben, damit alles seinen<br />
Lauf nimmt, und gibt zudem Ratschläge, auf welcher Internetseite<br />
sich Spender finden lassen. Eine Szene, wie sie in dieser Skurrilität<br />
nur das Leben schreiben kann – und nicht zufällig spielt sich auch<br />
dieser Protagonist selbst.<br />
Und wieder findet Katja, wann immer sie nach Hause kommt, ihre<br />
Frau vor dem Computer kauernd, wo sie Vor- und Nachteile jedes einzelnen<br />
Spenders abwägt. Isas fast neurotischer Eifer schleicht sich in<br />
die Beziehung der beiden. Dennoch geht Katja den Weg weiter mit<br />
– aus Liebe und obgleich sich ihr Zweifel aufdrängen. Zweifel ob des<br />
Geldes, Zweifel auch ob ihrer eigenen Rolle in dem Familienmodell.<br />
„Du <strong>bis</strong>t die Mutter, und dann kommt noch ein zweiter dazu, das ist<br />
der Vater, und was bin ich denn dann?“, wird sie Isa wenig später<br />
fragen. Eine Antwort bleibt aus, weil der nächste Spender schon auf<br />
Begutachtung wartet.<br />
Sie treffen die Männer im Sushiladen und im Fastfoodrestaurant<br />
und begegnen den Abgründen, die hinter den Anzeigen lauern.<br />
Sperma gegen Sex ist die Offensichtlichste. Angesichts der Realität<br />
rückt Isa Stück für Stück von den gemeinsam festgesetzten Regeln<br />
ab – dass sie das Angebot, mit einem Spender zu schlafen, überhaupt<br />
ernsthaft erwägt, zeigt nicht nur ihre Verzweiflung, sondern auch<br />
eine Rücksichtslosigkeit, die Katja überrascht. Für Isa wird der Kinderwunsch<br />
zur Obsession, zum einzig möglichen Fokus, zum Egotrip,<br />
dem zu opfern sie alles bereit ist. Auch ihre Partnerschaft. Aus dem<br />
gemeinsamen Wunsch wird eine Stolperfalle für die Beziehung.<br />
Der letzte Spender, den sie treffen, nennt sich „Go for Gold“ und<br />
hat nach eigener Aussage in drei Jahren 20 Kinder gezeugt. Isa setzt<br />
sich ein weiteres Mal über die getroffenen Abmachungen hinweg<br />
und sichert ihm zu, das Kind sehen zu dürfen. Katja spritzt Isa das<br />
Sperma. Was folgt, ist eine Szene eindringlicher Traurigkeit: Isa will<br />
unbedingt einen Orgasmus, weil das die Fruchtbarkeit steigert und<br />
Katja, überfordert und gedemütigt, zieht sich zurück. Während Isa<br />
beseelt masturbiert, steht Katja in der Küche und raucht.<br />
Und so sind die Gefühle des Liebespaares<br />
und die Veränderungen in ihrer Beziehung<br />
das eigentlich Spannende an dem Film<br />
Berrached verwebt Realität und Fiktion zu einem dokumentarischen<br />
Spielfilm – sie nimmt Gesetzeslage, Statistiken und Prognosen,<br />
vermischt sie mit Wunschbildern und lässt ihre Protagonistinnen<br />
mehr als einmal an der Wirklichkeit scheitern. Das Drehbuch fußt<br />
auf Gesprächen mit und Erfahrungsberichten von les<strong>bis</strong>chen Paaren<br />
und das macht die Geschichte in weiten Teilen so schmerzhaft real.<br />
Zwei Mütter balanciert auf der Grenze zwischen den Genres – die<br />
Farben, die Kameraarbeit, die Protagonist_innen, die sich teils selbst<br />
spielen, teils Schauspieler_innen sind, die Art der Dialogführung –<br />
alles, wirklich alles atmet Dokumentationscharakter. Das ist sicherlich<br />
nicht nur gewollt, sondern vor allem dem Budget geschuldet; ihr<br />
Ziel erreicht Berrached dadurch erst recht. Der Film öffnet den Blick,<br />
ohne den Zeigefinger allzu großräumig zu schwenken. Ohne ein<br />
Übermaß an Klischees zu bemühen entsteht eine feine Nähe zu den<br />
beiden Protagonistinnen, die von Sabine Wolf und Karina Plachetka<br />
pur und überzeugend dargestellt werden.<br />
Und so sind denn auch die Gefühle des Liebespaares und die Veränderungen<br />
in ihrer Beziehung das eigentlich Spannende an dem<br />
Film. Der leidvolle Weg, auf dem das „Wir“ sich wieder in „Du“ und<br />
„Ich“ aufspaltet und das „Du“ sogar zum Druckmittel wird … Es ist<br />
kein Zufall, dass Isa sich immer wieder verspricht: „Ich will“, sagt<br />
sie dann und korrigiert sich rasch: „Ich meine wir. Wir wollen!“ Und<br />
erinnert ihre Frau mit dem Totschlagargument: „Du wolltest das<br />
doch auch.“ Am Ende bleibt Entfremdung, Einsamkeit, Stille.<br />
Zwei Mütter ist ein Film, der Menschen(paaren), die sich vergeblich<br />
ein Kind wünschen, schmerzlich vertraut vorkommen<br />
wird. Bestenfalls verblassen Diskussionen darüber, was „natürlich“<br />
bedeutet und was „normal“ und die Zuschauenden kommen zu dem<br />
Schluss, dass Liebe und der Wunsch, sie weiterzugeben, diese Kategorien<br />
nicht braucht. Das schafft Raum für die andere Ebene: die<br />
Geschichte von unkontrollierbarem Sehnen, von Liebe und dem Verlust<br />
der Zweisamkeit – gefangen in einem Film, in dem der Anfang<br />
über das Ende stolpert.<br />
s<br />
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kino<br />
kino<br />
Aufgeladen mit Zeit<br />
von Gunther Geltinger<br />
Drei Männer aus drei Generationen treffen in Nanouk Leopolds bewegend stillstehender Adaption des<br />
Romans „Oben ist es still“ von Gerband Bakker in einem Hof in der niederländischen Provinz aufeinander.<br />
Der gleichnamige Spielfilm mit dem überraschend im Dezember verstorbenen Jeroen Willems in einer<br />
seiner letzten großen Rollen war auf der diesjährigen Berlinale zu sehen und startet Ende <strong>Mai</strong> / Anfang Juni<br />
deutschlandweit in den Kinos.<br />
Edition Salzgeber / Victor Arnolds<br />
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kino<br />
Edition Salzgeber / Victor Arnolds<br />
Edition Salzgeber / Victor Arnolds<br />
s Schilf und Gras, so weit das Auge reicht. Ein paar Schafe, Gräben<br />
mit dunklem Wasser, ein Deich. Dort ein Horizont, unbedeutend, weil<br />
die Landschaft dahinter vermutlich genauso leer ist wie die davor.<br />
Helmers Blick schweift, ohne zu suchen. Er ist ein großer Mann in<br />
der Mitte des Lebens, das seinem Gesicht markante Züge verliehen<br />
und ihm das dichte schwarze Haar nicht genommen hat. Trotz seines<br />
kräftigen Körpers bricht er auf der steilen Treppe fast zusammen, als<br />
er den kranken Vater hinaufschleppt, über die Schultern gelegt wie<br />
ein totes Stück Vieh. Er schafft ihn zum Sterben nach oben, in das<br />
Stockwerk, wo Helmer zuvor selbst gewohnt hat. Die alte, stehengebliebene<br />
Standuhr kommt mit.<br />
Die Geräusche des Umzugs im Haus, das Rumpeln und Renovieren,<br />
dominieren die ersten Filmminuten und erzählen all das, was<br />
Vater und Sohn, die sich noch nie viel zu sagen hatten, nicht miteinander<br />
ausmachen: den Überdruss, die Langeweile, die Angst vor dem<br />
Tod, der gleichzeitig, als durch den Zimmertausch endlich Bewegung<br />
in das Haus kommt, zum Weg wird, eine Perspektive – Tapetenwechsel.<br />
Und doch bleibt es merkwürdig still auf diesen Bildern, es ist die<br />
Stille des Wartens, der geblähten Zeit. Helmer räumt auf. Doch wie<br />
er energisch alte Erinnerungsstücke und blühende Zimmerpflanzen<br />
auf den Misthaufen wirft, wirkt sein Trotz hilflos, verzweifelt; dieses<br />
Haus lässt sich nicht mehr modernisieren, die alten Geister wohnen<br />
tief im Gemäuer. Ein Ölgemälde mit Schafen, alte Fotos an der<br />
Wand des Zimmers, wo einst der Bruder wohnte, das vergilbte Bild<br />
einer Schöpfmühle, die für die beiden Brüder einmal eine Bedeutung<br />
gehabt haben muss, all die Gegenstände, die einst zu nahestehenden<br />
Menschen gehörten und diese noch immer verkörpern, heute sind sie<br />
seelenlos, Avatare aus einer versunkenen Welt, ohne Geschichte, die<br />
sie erzählen könnten, weil sie nur noch Vergangenheit sind, kondensiert<br />
zu Staub und Stille.<br />
Zu Beginn seines gleichnamigen Romans beschreibt Gerbrand<br />
Bakker diesen Blick, der sich im Erinnern aus dem Jetzt rückwärts<br />
richtet und dabei, gespiegelt von einem Ding oder Menschen, der<br />
uferlosen Gegenwart eine Richtung verleiht, Grenze oder Horizont;<br />
es ist das Gesetz des biographischen Erzählens. In der Romanszene<br />
steht Helmer vor dem Wohnhaus, als an einem Sommertag zwei Jungen<br />
mit entblößtem Oberkörper in einem Kanu auf einem der Kanäle<br />
vorbeifahren, die, gespeist vom Ijsselmeer, das Waterland durchziehen.<br />
Sie betrachten den Hof, der „zeitlos“ sei, sagt der eine, „der<br />
könnte von heute sein, aber genauso gut von 1967 oder 1930.“ Die<br />
Esel, die auf der Koppel stehen, nennt der andere „altmodisch“. Dabei<br />
sieht er Helmer vorm Haus, „einen Bauern schon recht fortgeschrittenen<br />
Alters in einem verschossenen blauen Overall (…), der an der<br />
Seitenmauer eines Bauernhofs stand, im Schatten, und dort nichts zu<br />
tun hatte, außer zu beobachten, reglos, mit angehaltenem Atem“, so<br />
beschreibt der Ich-Erzähler, was der rotblonde Junge wahrnimmt;<br />
es ist der von den Augen des anderen zurückgeworfene und so erst<br />
mit Leben gefüllte Blick Helmers auf sich selbst, die unüberbrückbare<br />
Kluft zwischen dem Damals und dem Heute, zwischen dem Jungen<br />
und dem Alten, zwischen Begehren und Erstarren, Bewegung und<br />
Stillstand. Die Jugendlichen ziehen mit sonnenverbrannten Schultern<br />
weiter, Helmer, immer noch an der Mauer, bleibt zurück. „Der<br />
Rest des Nachmittags“, heißt es im Roman, „war unwirklich und leer.“<br />
Die Natur geht verschwenderisch mit dem<br />
Leben um, doch sie geizt mit dem Glück<br />
Dieser gebrochene und gespiegelte Blick auf die Hauptfigur ist das<br />
einzige, was die niederländische Regisseurin Nanouk Leopold direkt<br />
aus Bakkers Roman übernimmt, in dem die Vergangenheitserzählung<br />
mehr als die Hälfte der Geschichte beansprucht. Ihrer Biographien<br />
fast gewaltsam entrissen und in ein ewiges Jetzt gesperrt, wo nur<br />
die Gegenstände lose Eckpunkte eines früheren Lebens markieren,<br />
bewältigen die Protagonisten im Film ihren Arbeitsalltag auf dem<br />
Bauernhof, ihre schwerfälligen Bewegungen stemmen sich gegen die<br />
Zeitlast, die sie zu erdrücken scheint; auch Ada, die Nachbarin, hat<br />
sich längst dem Trott ergeben, und ihre Kinder tragen nicht wirklich<br />
eine Hoffnung: Wie sie ganz im Hier und Jetzt spielen, die Esel strei-<br />
cheln oder ungeduldig auf die Geburt der Lämmer warten, wissen sie<br />
noch nicht, was auch ihnen später einmal bevorsteht.<br />
Aber Helmer weiß es. Das Lamm wird tot geboren, er wirft es zu<br />
den anderen Kadavern unter das Blech; die Natur geht verschwenderisch<br />
mit dem Leben um, doch sie geizt mit dem Glück. Als Helmer<br />
den Vater wäscht und neu ankleidet, breitet der seine mageren weißen<br />
Arme aus, hängt für einen Moment im Bild wie ein Kreuz. Ich will sterben,<br />
sagt er, und Helmer: Jetzt, wo du so schön sauber <strong>bis</strong>t? Im Baum<br />
vor dem Fenster sitzt seit einigen Tagen eine Nebelkrähe, das Gefieder<br />
des Todesvogels, der auf den Vater wartet, ist mehr weiß als schwarz.<br />
Dann liegt Helmer auf seinem Bett in seinem neuen Zimmer, untätig,<br />
wie selbst zum Sterben bereit. Die Kamera wandert an ihm herab<br />
zum Unterleib, die Körpermitte vital, lebenshungrig, eingezwängt<br />
zwischen Sehnsucht und Verweigerung; nach dem Duschen stellt er<br />
sich nackt vor den Spiegel. Während er onaniert, ist sein Blick starr<br />
geradeaus gerichtet. Bloß nicht nach unten schauen, nicht sehen, was<br />
da pulst und sich aufbäumt.<br />
Der Milchfahrer aber, auch schon jenseits der Lebenshälfte, mit<br />
grauem Bart und Bauch, hat es an Helmer gesehen, obwohl der sich<br />
stets in den Stall verdrückt, wenn der andere die tägliche Milchration<br />
in seinen Tanklaster pumpt. Er habe ihn die letzten Male vermisst,<br />
sagt er zu Helmer, als er ihm schließlich doch noch in der<br />
Milchkammer begegnet. Die Sympathiebekundung, seine fragenden,<br />
einladenden Blicke fallen ins Leere; er habe mit seinem kranken<br />
Vater zu tun, weist Helmer ihn zurück und ist dabei so unglücklich<br />
über diese Abfuhr, so wütend auf sich selbst. Im Smalltalk, der<br />
Liebesgeständnis sein will und es nicht kann und darf, erzählt der<br />
Milchfahrer vom unerwarteten Tod seines Kollegen Arie, der kurz<br />
vor der Rente an einem Herzanfall starb, und auf der Beerdigung,<br />
wo alle Bauern der Gegend zusammenkommen, versucht die Nachbarin<br />
Ada vergeblich, das Gespräch zwischen den beiden in Gang zu<br />
bringen; auch sie hat längst gesehen, was Helmer so grimmig zu verdrängen<br />
versucht.<br />
Seine fehlgegangene Sehnsucht bekommt dann der Vater zu spüren:<br />
Die Griffe, die ihn im Bett aufsetzen, gleichen hilflosen Liebkosungen,<br />
irgendwann irrgelaufen und zu Ruppigkeit und Grobheit verzerrt<br />
drängen sie hin zum Vater und fliehen gleichzeitig vor seinem<br />
ausgemergelten, dem Tode geweihten Körper, dem Piss im Bett, der<br />
schlaffen, an den Armen und Beinen entzündeten Haut. In diesen<br />
fast zärtlichen Einstellungen, nahen Kamerablicken, die den Alten,<br />
weil der Sohn es nicht kann, fast zu streicheln scheinen, gewinnt der<br />
überkommene Vaterleib eine eigentümliche Anmut, auch etwas Trotziges,<br />
Rebellisches; da ist ein im Leben zu kurz gekommener Mann im<br />
Körper eines Greises, der jetzt gehalten, geliebt, vielleicht sogar noch<br />
einmal begehrt werden will.<br />
Schon in ihrem letzten Film Brownian Movements setzt Nanouk<br />
Leopold die Körper der Entstellten auf eine ästhetische, den Ekel<br />
entmachtende Art in Szene: die Großnasigen, Fettleibigen und Ganzkörperbehaarten,<br />
die sich die junge Ärztin, gespielt von Sandra Hüller,<br />
als Liebhaber aussucht, obwohl oder gerade weil der Mann, mit<br />
dem sie eine glückliche Ehe führt, so schön ist, dass sein Anblick fast<br />
schmerzt. Später wird Helmer, zusammengekrümmt auf dem Boden<br />
wie ein Kind, eine hervorgetretene Ader an der Totenhand des Vaters<br />
streicheln, eine scheue, staunende, in ihrer Unschuld noch gänzlich<br />
offene Berührung, ähnlich wie auch Sandra Hüller in Brownian<br />
Movements staunend über ihre eigene unerklärliche Begierde in die<br />
Kamera lächelt, während sich der monströse Leib ihres übergewichtigen<br />
Liebhabers auf ihren zarten, hellen Körper senkt.<br />
Schmerzhaft, ja fast unerträglich zart und hell auch das Gesicht<br />
des Knechts Henk, den Helmer sich eines Tages als Arbeitskraft auf<br />
den Hof holt. Bei Bakker trägt er die zentrale Geschichte, er ist die<br />
Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Leben und<br />
Tod. Leopold aber drängt ihn in den Hofalltag wie einst Pasolini in<br />
Teorema den geheimnisvollen Gast in die bürgerliche Familie, wo<br />
er alle verführt, vom Vater <strong>bis</strong> zur Dienstmagd, allein um des Verführens<br />
willen, die Geliebten aber wirft er zurück auf ihre nackte<br />
Existenz, ihre Sehnsüchte und Ängste. Henk ist schön und jung,<br />
unerhört jung, zu jung, um schon eine Vergangenheit zu haben. Er<br />
ist das geballte Leben, das kommen muss, die Veränderung, ohne die<br />
der Vater nicht sterben und Helmer nicht zu fühlen beginnen kann.<br />
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Er taucht auf ohne Herkunft und Geschichte, doch aufgeladen<br />
mit Zeit, wie die Dinge im Haus, wie das Bild der<br />
Schöpfmühle, unter dem er fortan schläft, im hergerichteten<br />
Zimmer von Helmers verstorbenem Bruder. Henk<br />
setzt das stehen gebliebene Pendel der Uhr wieder in<br />
Bewegung, und Helmer kann es nicht verhindern, dass<br />
der Junge ihn rührt.<br />
Wie er im Bad an Henks Sachen schnüffelt, seinem<br />
Haargel, dem After-Shave, und dabei brummende Laute<br />
von sich gibt, verächtliche oder wohlige, hat Helmer<br />
plötzlich selbst etwas von einem Vater, der sich über die<br />
jugendliche Naivität seines Sohnes lustig macht, und<br />
auch etwas von der Geziertheit eines verschmähten Liebhabers.<br />
Jetzt ist da plötzlich Henk mit seinen jungen,<br />
anpackenden Händen auf der einen, der immer magerer<br />
werdende, zusehends verschwindende Körper des Vaters<br />
auf der anderen Seite. Ein Blick Helmers, vom Fenster<br />
aus zum Hof, wo Henk arbeitet, und zurück zum Bett,<br />
in dem der Vater liegt, verbindet die beiden und hält sie<br />
gleichzeitig voneinander fern, eifersüchtig und misstrauisch.<br />
Henk verkörpert das Begehren, das zurückgewiesen<br />
werden muss, weil er keine andere Aufgabe hat, als<br />
für Helmer das neue Leben zu sein, der Luftzug in der<br />
Glut eines fast erloschenen Feuers. Ein kräftiger Junge,<br />
sagt der Milchfahrer lächelnd, für den der Knecht ebenso<br />
Katalysator ist; an ihm, durch ihn erkennt er, dass Helmer<br />
noch oder jetzt wieder in Schwingung ist, angestoßen<br />
durch Henks Kraft.<br />
Das nächste Lamm wird lebend geboren. Auf den<br />
Kacheln der Abfüllkammer bleiben Milchreste zurück.<br />
Helmer und der Fahrer kommen sich bei den alltäglichen<br />
Verrichtungen an der Melkmaschine körperlich näher,<br />
ohne dass tatsächlich Nähe entsteht. Doch sie spüren<br />
beide, dass etwas ins Rollen gekommen und nicht mehr<br />
aufzuhalten ist. Lange saugt das Kalb am Finger des<br />
Knechts, während Helmer im Hintergrund zuschaut,<br />
vielleicht die erotischste Szene dieses Films, in dem die<br />
Männer mit ihren Körpern so hilflos umgehen, während<br />
sie ihr Vieh routiniert-zärtlich anfassen, als wären Kuh,<br />
Schaf und Esel alte, ein wenig lästig gewordene Geliebte.<br />
Dann verkündet der Milchfahrer plötzlich, dass er die<br />
Gegend verlässt. Die erste körperliche Berührung zwischen<br />
Helmer und ihm ist der Handschlag zum Abschied.<br />
Im Stall legt Helmer sich ins Stroh und presst sich das<br />
Lämmchen an die Brust. Henk aber, der nachts plötzlich<br />
zu ihm ins Bett steigt, weist er zurück, um den Jungen,<br />
der sich weinend abwendet, dann doch noch in die Arme<br />
zu schließen, während Henk ihm übers Gesicht streichelt,<br />
vorsichtig, zaghaft, als könnte der starke Körper<br />
des Mannes, wenn er ihn zu fest, zu fordernd berührt, in<br />
seinen jugendlichen Händen zerbrechen, so, wie die Zeit<br />
in der Redewendung zwischen den Fingern zerrinnt.<br />
Von diesen Händen erzählt Helmer dem todkranken<br />
Vater, dessen eigene Hände, so der Sohn, nur zum Schlagen<br />
nützlich waren. Die Nebelkrähe erschießt Henk<br />
nicht, obwohl er das Gewehr auf sie richtet. Stattdessen<br />
verlässt er den Hof, so unangekündigt wie er gekommen<br />
ist. Was er jetzt machen wolle, fragt Helmer ihn noch.<br />
Mal sehen, erwidert Henk; glücklich werden vielleicht –<br />
doch das sagt nur sein Blick, bevor er davonradelt.<br />
Vierzehn Lämmer auf zehn Mutterschafe hat dieser<br />
Frühling gebracht. Der Vater brachte es auf zwei Söhne;<br />
der eine, den er mehr liebte, wie beide, Vater und Sohn,<br />
wissen, ertrank, der andere übernahm gezwungenermaßen<br />
den Hof, den er leidenschaftslos führt. Keine Enkel,<br />
keine Zukunft; eine schlechte Ausbeute für ein so langes<br />
Leben, insgesamt. Zum Sterben wenigstens soll Helmer<br />
ihm noch ein hart gekochtes Ei bringen. Der Vater<br />
hat Hunger. In der nächsten Szene ist das Wohnzimmer<br />
ungewöhnlich hell, man hat das Gefühl, in einem anderen<br />
Haus zu sein, eine Einstellung wie nach einem Zeitsprung.<br />
Oben ist es jetzt still.<br />
Man kann in Nanouk Leopolds Romanadaption den<br />
Geschichtenreichtum der literarischen Vorlage vermissen,<br />
die ineinander verschränkten Schichtungen von Vergangenheit<br />
und Gegenwart, die zentrale Erzählung um<br />
Helmers geliebten Zwillingsbruder, dem Henk, der junge<br />
Knecht, so sehr gleicht und dessen Namen er sogar trägt.<br />
Man kann es für unglaubwürdig halten, dass in diesem<br />
gottverlassenen, nur von Bauern besiedelten Landstrich<br />
alle Männer, die auftreten, schwul sind, und daran scheitern,<br />
die gestörte Vater-Sohn-Beziehung als psychologische<br />
Folie für das verhinderte Coming-Out eines in die<br />
Jahre gekommenen Mannes sehen zu wollen. Man kann<br />
den Film unterm Mikroskop der detail- und personenreichen<br />
Romanhandlung betrachten und wird sich im weitwinkligen<br />
Panorama der Bilder verloren fühlen. Kein<br />
Roman und kein am romanhaften Erzählen orientiertes<br />
Drehbuch führt hier die Figuren, sondern die Zufälle<br />
eines Schicksals, aus dem Nirgendwo irgendwohin.<br />
Der Milchfahrer ist zurückgekommen, zur Beerdigung<br />
des Vaters. Hat Helmer ihn doch noch angerufen?<br />
Er trägt Wunden im Gesicht, die ihm wehtun. Woher<br />
stammen sie? Das Leben selbst hat sie geschlagen, könnte<br />
die Antwort sein, die der Film nicht mehr gibt. Es kennt<br />
alle Fragen und kontert unerbittlich. Jeroen Willems, der<br />
so kraftvolle, so lebendige Darsteller des Helmer, starb<br />
wenige Wochen nach Abschluss der Dreharbeiten an<br />
einem Herzanfall. Er wurde nur fünfzig Jahre alt, acht<br />
Jahre jünger als im Film Arie, der Kollege des Milchfahrers,<br />
von dem wir nichts kennen als seinen Namen und<br />
die Umstände seines Todes, ein schmaler, verschwindend<br />
kleiner Ausschnitt eines menschlichen Daseins wie ein<br />
zitternder Schilfhalm in der weiten, leeren, horizontschweren<br />
Landschaft der Zeit.<br />
s<br />
Gunther Geltingers langerwarteter zweiter Roman „Moor“<br />
erscheint, wie schon die Taschenbuchausgabe seines ersten,<br />
„Mensch Engel“, bei Suhrkamp (September <strong>2013</strong>).<br />
Sämtliche Romane von Gerbrand Bakker sind in deutscher<br />
Übersetzung ebenfalls bei Suhrkamp erschienen, darunter<br />
natürlich auch „Oben ist es still“.<br />
Oben ist es still<br />
von Nanouk Leopold<br />
NL/DE <strong>2013</strong>, 93 Minuten,<br />
deutsche SF, niederländische OF mit<br />
deutschen UT<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino im <strong>Mai</strong>/Juni <strong>2013</strong><br />
Let’s talk about<br />
age, baby<br />
von Biru David Binder<br />
Als Ort mit einer klassischen Infrastruktur zur operativen Geschlechtsangleichung<br />
war Casablanca lange Zeit ein Mythos. Der Dokumentarfilm „I Am a Woman Now“<br />
befragt fünf Transfrauen, was sie dort und damit erlebt haben.<br />
s Das Leben ist schön! Um diese alltägliche<br />
Ungeheuerlichkeit aus Angst vor ihrem<br />
Entschwinden prophylaktisch auszubalancieren,<br />
schrieb ich den ersten Absatz zum<br />
Dokumentarfilm von Michiel van Erp, die,<br />
wie ich beim ersten Lesen des Filmtitels in<br />
mir aufschreien hörte, i-di-otischer-wei-se I<br />
Am a Woman Now heißt. Die erste Einleitung<br />
ist gemein, ein <strong>bis</strong>schen amüsiert. Sie geht so,<br />
die erste Einleitung:<br />
Ein Dokumentarfilmtitel wie I Am a<br />
Woman Now scheint vortrefflich gewählt,<br />
changierend zwischen der Absurdität, die<br />
eigene geschlechtliche Identität zu verzeitlichen<br />
(„now“), und dem Glück derer, die sie<br />
sich als Zeit, die ihre, erkämpften. Das „jetzt“<br />
zieht eine scheinbare Grenze zwischen aller<br />
Zeit zuvor, als Mädchen, als Kind, zum Beispiel.<br />
Weiß mensch, dass es in I Am a Woman<br />
Now um die Lebensgeschichte von fünf<br />
Transfrauen geht, die eine vor Jahrzehnten<br />
unternommene Reise zu einem mittlerweile<br />
verstorbenen Genitalchirurgen aus Casablanca<br />
verbindet, dann kräuseln sich die<br />
Fußnägel in der gedanklichen Verlängerung<br />
von „pussy = woman“. Einige Trans* dürften<br />
an dieser Stelle vermeintlicher Kausalität<br />
müde lächeln <strong>bis</strong> zynisch auflachen. Einige<br />
supermegalo-natürliche Frauen wie Männer<br />
und alle anderen Geschlechter hoffentlich<br />
ebenso. Allen denen, die bei dieser Gleichung<br />
heftig mit dem Kopf nicken, kann nach allen<br />
Regeln der Wahrscheinlichkeit sowieso<br />
nicht geholfen werden. Dream on!<br />
Das Einzige, was den Verfasser jetzt noch<br />
retten kann, ist ein zweites Sichten des Films<br />
selbst. Jedenfalls nicht das Sichten solcher<br />
Paradoxa in Filmkritiken wie der in „Variety“<br />
verbrochenen, die I Am a Woman Now<br />
einerseits transrespektlos und glänzend in<br />
Ignoranz beschreiben („Michiel van Erp’s<br />
affecting look at five European men [?] who<br />
were reborn as women“), während es ihrem<br />
Autor andererseits nicht gelang, das Alleinstellungsmerkmal<br />
dieses Dokumentarfilms<br />
zu verpassen. Und dieses Alleinstellungsmerkmal,<br />
es ist schmutzig. Und eklig. Und<br />
transhumanoid, genannt: Altern. Let’s talk<br />
about age, baby! Irgendwie ist das fies, weil,<br />
come on, niemand denkt ernsthaft daran,<br />
jemals alt zu SEIN. Altern, ja, on a distant<br />
foggy future shore some day, perhaps, possibly,<br />
maybe. Rather NOT.<br />
Denn: Altern ist so Bäh! April Ashley, eine<br />
der fünf Portraitierten, drückt das mit sehr<br />
viel mehr noblesse aus, das Ergebnis scheint<br />
dasselbe (Bäh!), sich zu verunsichtbaren, der<br />
zentrale Inhalt. Das Medium, der alternde<br />
neue Visionen<br />
Körper, ist dabei die Botschaft. Nicht mehr<br />
sichtbar zu werden, ist jedoch nicht die Botschaft,<br />
sondern das, was darin hinein gelesen<br />
wird (von wem? mit welcher Funktion?) und<br />
das, womit sich die meisten Menschen abfinden<br />
(und so begonnen haben, zu altern).<br />
April Ashley beschreibt das Unsichtbarwerden<br />
bei einem Glas, ich wünsche es<br />
ihr, Champagner, und wird flugs auf meine<br />
Who’sAtBiru’sWishpartyFORSURE-Liste 1<br />
geschrieben, und müsste ich sie selbst die<br />
Tür hineintragen. Mhm. Oder besser: alle<br />
fünf, Jean Lessenich, Corinne van Tongerloo,<br />
Marie-Pierre Pruvot, April Ashley und<br />
Colette Berends!<br />
Und, was machen alternde Frauen in I<br />
Am a Woman Now so? Zum Beispiel im See<br />
herumschwimmen. Cool. Oder eine windige<br />
Bootstour mit einer Freundin. Oder spazieren<br />
mit dem Hund im Park. Mhm. Dr. Burou,<br />
Trans* und geschlechtsangleichende Operationen<br />
habe ich vergessen. Was für schöne<br />
Frauen! Wenn, dann beim Altern mit so viel<br />
Style, Charme und Power, bitte. Bleibt nur<br />
zu hoffen, dass die weniger selbstbewussten<br />
Statements generationenbedingt abgegeben<br />
wurden. Und die offene Ansprache eines<br />
nach wie vor Trans* diskriminierenden<br />
Arbeitsmarktes und einer Trans* diskriminierenden<br />
Lebenswelt zu merklichen positiven<br />
Veränderungen auf ebensolchen führt.<br />
Die vor nicht allzu langer Zeit in britischen<br />
Medien geführte Debatte (siehe<br />
hierzu Patrick Barkhams „Guardian“-Artikel<br />
„Voices from the trans community: ‚There<br />
will always be prejudice‘“) lässt keine Zweifel<br />
offen, dass eine ach so zeitgemäße „Toleranz“<br />
im Sinne von Duldung, nicht von<br />
Respekt und Inklusion, die Tagesordnung<br />
darstellt, mit der Trans* sich heutzutage<br />
glücklich schätzen dürfen. Hach ja, die lieben<br />
„richtigen“ Frauen und Männer, die liebe<br />
„richtige“ Demokratie.<br />
s<br />
I Am A Woman Now<br />
von Michiel van Erp<br />
NL 2011, 80 Minuten, dänisch-englisch-französisch-deutsche<br />
OF<br />
mit deutschen UT<br />
Neue Visionen FIlmverleih,<br />
www.neuevisionen.de<br />
Im Kino ab 18. April <strong>2013</strong><br />
1 Ich bilde mir ein, einer der wenigen Männer zu sein, der<br />
mühelos innerhalb von Sekunden mindestens acht Ladies<br />
aufzählen kann, die ihn maßgeblich positiv, quasi vorbildlich,<br />
beeinflusst haben und ergo bei der Party ihre Tanzbeine<br />
schwängen, könnte mensch sich seine Gäste für eine<br />
Party aussuchen, gleich aus welcher Ecke dieses Planeten.<br />
Nur bei Gentlemen, das ist schwieriger … Ich bin jetzt bei<br />
rund zehn auf der Liste angekommen, die Hürde ist hoch,<br />
sie sollten doch bitte, so wie alle Eingeladenen, nach Möglichkeit<br />
noch leben. Ich denke seit über einem Jahr darüber<br />
nach. Mageres Ergebnis? Damit abfinden? Niemals! La vie<br />
est belle.<br />
28 29
wir verreisen<br />
wir verreisen<br />
Wohltemperierte<br />
Anordnung<br />
von André Wendler<br />
Wenig Außergewöhnliches sah unser Reporter im queeren Programm der diesjährigen Berlinale, so fern es<br />
nicht in der Form der Filme schon angelegt war. Eine Vorschau auf (vielleicht) kommende Attraktionen.<br />
„Zwei Mütter“ von Anne Zohra Berrached<br />
Edition Salzgeber<br />
s Es gehört wohl zum queeren Kino dazu, dass es sich regelmäßig<br />
und absichtlich zwischen alle Stühle setzt. Die schönsten Beispiele<br />
der diesjährigen Berlinale zeigten einmal mehr, wie die Hybriden, die<br />
dabei entstehen, formal und inhaltlich zentrale queere Fragen ausbuchstabieren<br />
können. Zwei Mütter (siehe Seite 22) von Anne Zohra<br />
Berrached ist eine Hybride aus Spiel- und Dokumentarfilm über ein<br />
les<strong>bis</strong>ches Pärchen, das alle Schwierigkeiten durchleben muss, die<br />
sich bei einem Kinderwunsch einstellen. Die Regisseurin hat das<br />
Drehbuch aus eigenen Recherchen und Gesprächen mit betroffenen<br />
Paaren entwickelt. Im Film werden die beiden Frauen Katja und<br />
Isabelle von zwei Schauspielerinnen dargestellt. Die meisten Personen,<br />
auf die sie treffen, spielen aber sich selbst: eine Apothekerin, ein<br />
Arzt, der künstliche Befruchtungen vornimmt, ein Anwalt, mögliche<br />
Samenspender usw. Oft geht es dabei um die tausend Formen kleinlicher<br />
täglicher Diskriminierung, die mich nicht gewundert, aber doch<br />
traurig gemacht haben. Irgendwann bekommt der Film aber noch<br />
einen anderen Ton. Während nämlich für eine der beiden Frauen<br />
der Kinderwunsch über allem anderen steht, kommen der anderen<br />
Zweifel. Sie merkt, dass ihre Konzeption einer les<strong>bis</strong>chen Beziehung<br />
herausgefordert wird, wenn sich ihre Konfiguration ändert: Ein<br />
Samenspender, der womöglich das Kind sehen will, das Kind selber<br />
verändern alles. So wie der Film keine „ordentliche“ Dokumentation<br />
und auch kein „richtiger“ Spielfilm ist, so bohrt die Frage, was les<strong>bis</strong>ches<br />
Zusammenleben ist und wann es zu einer heteronormativen<br />
Familie geworden sein könnte. Und ob das überhaupt ein Problem ist<br />
oder sein muss. Das alles erzählt der Film jedenfalls nicht nur über<br />
seine Geschichte, sondern vor allem über seine eigene Experimentalanordnung.<br />
Ein ganz anderes, aber mindestens ebenso gelungenes Beispiel<br />
ist Will You Still Love Me Tomorrow. Der Regisseur Arvin Chen ist ein<br />
Kind taiwanesischer Eltern und in den USA geboren und aufgewachsen.<br />
Seit einigen Jahren lebt und arbeitet er in Taiwan. In seinem<br />
Film, den man vielleicht am ehesten als Romantic Comedy bezeichnen<br />
könnte, geht es die ganze Zeit um alle (un)möglichen Mischbeziehungen.<br />
Ein schwuler Mann heiratet, bekommt ein Kind und verliebt<br />
sich irgendwann wieder in einen Mann. Ein anderer Schwuler<br />
ist mit einer Lesbe verheiratet. Diverse Heterosexuelle haben Eheprobleme,<br />
die dann von einer schwulen Clique in einer Schwulenbar<br />
gelöst werden sollen. Das Ganze wird von einer wunderbaren<br />
Wärme zusammengehalten. Egal nämlich, wer hier wen begehrt,<br />
liebt oder mag: Der Film zeichnet alle diese komplexen und komplizierten<br />
Fälle mit einer wirklich zu Herzen gehenden Menschenfreundlichkeit<br />
nach. Die Liebe von Eheleuten, Freunden, Eltern und<br />
Kindern, Großeltern, Kollegen, besten Freunden, ja selbst die Verbindung<br />
zum liebsten Seifenopernstar werden alle mit dem gleichen<br />
Respekt vor menschlichen Beziehungen behandelt. Filmisch könnte<br />
man das alles kaum in schrilleren Farben zeichnen. Da fliegen die<br />
Menschen vor Liebesglück durch die Straße, ein Augenoptiker wird<br />
irgendwie zu einer Art Mary Poppins. Aus einer Karaoke-Bar wird<br />
eine große Showbühne und die Parapluies de Cherbourg haben einen<br />
Wiederauftritt, vor dem sich keiner verstecken muss. Ich vermute,<br />
dass kein europäischer Regisseur das so hinbekommen hätte, weil<br />
Slapstickhumor dieser Art hierzulande gerade nicht hoch im Kurs<br />
steht. Der Film holt mich aber über seinen Soundtrack oder seine<br />
Filmzitate immer wieder ab und bittet mich mit der selben Freundlichkeit<br />
in seine Welt, die irgendwo zwischen Asien, Amerika und<br />
Europa liegt, mit der er alle seine Protagonist_innen behandelt.<br />
Offensichtlich – und das wäre für mich das Queere daran – entsteht<br />
in der Begegnung dieser unterschiedlichen (Film)kulturen etwas<br />
Wundervolles, das überrascht, ohne zu verschrecken.<br />
Eine andere Gruppe von Filmen versucht nicht so sehr im inhaltlichen<br />
und formalen Experiment unsere bekannten Identitätskonzepte<br />
herauszufordern, sondern fragt nach ihrer Herkunft und Geschichte.<br />
Dem filmischen Zwang zur Konkretion folgend, geht das immer über<br />
die Beschreibung von Einzelgeschichten, so wie etwa in Fifi az khoshhali<br />
zooze mikeshad, einem Dokumentarfilm von Mitra Farahani über<br />
den iranischen Künstler Bahman Mohassess, der seine große Zeit<br />
noch während der Schahregierung erlebte. Mohassess, von dem viele<br />
glaubten, er sei gar nicht mehr am Leben, wird von der Regisseurin<br />
in Rom gefunden, und der Film gibt ihm viel Zeit, über sich und seine<br />
Kunst im Iran zu sprechen, seine Werke zu kommentieren und einfach<br />
seine Lebensweisheiten zum Besten zu geben, von denen er mehr<br />
als genug zu teilen hat. Irgendwann stecken zwischen all den Gedichten,<br />
die er rezitiert und seinen ungezählten Anekdoten auch einige<br />
Überlegungen dazu, was es für ihn heißt, schwul zu sein. Homoehe?<br />
Der reinste Teufel für ihn. „Wissen Sie, was das beste an der Homosexualität<br />
früher war? Dass sie verboten war!“ Tuntige Männer? Bloß<br />
nicht! Mohassess hat immer Wert darauf gelegt, dass seine Jungs<br />
verlobt waren. Abgesehen davon, dass das alles unglaublich skurril<br />
ist, frage ich mich während des Films, ob es nicht einen notwendigen<br />
Zusammenhang gibt zwischen seiner fast unüberschaubaren Kunstproduktion,<br />
dieser grenzenlosen Kreativität und seinen teilweise<br />
etwas abseitigen Identitätsvorstellungen. Kann man so eine Kunst<br />
nur dann schaffen, wenn man seinen Begehrenshaushalt jenseits der<br />
landläufigen Konzepte eingerichtet hat?<br />
Eine ähnliche Konstellation, wenn auch mit anderem Ausgang,<br />
gibt es im Gewinnerfilm des Teddy-Awards für den besten Dokumentarfilm.<br />
Bambi von Sébastien Lifshitz ist das selbsterzählte Porträt<br />
der 1935 in Algerien als Jean-Pierre geborenen Marie-Pierre Pruvot,<br />
die sich irgendwann entschloss, kein Junge mehr sein zu wollen. Ihr<br />
Weg führte sie in Pariser Kabarett Carrousel, wo sie jahrelang ein<br />
gefeierter Revuestar war. Später studierte sie und fand ihren Weg<br />
als gewöhnliche Lehrerin in der französischen Provinz, nicht jedoch<br />
ohne die Angst, als Protagonistin ihrer früheren Karriere entdeckt<br />
zu werden. Was für Mohassess Lebensprogramm ist, wird für Pruvot<br />
nur ein dankbarer Umweg, der sie an den Ort führt, an dem sie sich<br />
wohl fühlt.<br />
Der persönliche Nachdruck, mit dem diese Lebensgeschichten<br />
erzählt werden und der es für mich leicht macht, meine eigenen Identitätskonzepte<br />
mit ihnen auf den Prüfstein zu legen, fehlt vielleicht an<br />
einer Stelle, an der er unbedingt notwendig gewesen wäre. Im zweiten<br />
Jahr in Folge lief dieses Jahr ein Dokumentarfilm über queeres Leben<br />
in der DDR. Schon die Sprachfassung des Titels zeigt die gegenwärtigen<br />
Interessenlagen an diesem Thema an. Out in Ost-Berlin – Lesben<br />
und Schwule in der DDR hat zwar viele interessante Geschichten und<br />
Personen zu erzählen, nimmt aber keine_n von ihnen ernst genug, um<br />
sie aus ihrer Slideshow-Ästhetik und ihrer historisch recht einfachen<br />
Dramaturgie herauszuheben. Abgesehen davon, dass er zum Teil die<br />
gleichen Personen wie der letztjährige Unter Männern von Ringo<br />
Roesener und Markus Stein vor die Kamera bringt, bleibt das dort<br />
entworfene Infotainment-Panorama für mich folgenlos. Das bedauere<br />
ich um so mehr, als ich selbst ein Kind dieses Staates bin und mir<br />
ein Leben als einer ihrer schwulen Bürger vielleicht nur knapp entgangen<br />
ist. Gerade Filme, die immer auch als ein Stück von uns für<br />
uns gemacht werden, müssen ihren Blick ein wenig weiter schweifen<br />
lassen als auf die unmittelbaren Verwertungsmöglichkeiten.<br />
Vor diesem Hintergrund ist die Berlinale <strong>2013</strong> weder besonders<br />
außergewöhnlich, noch besonders ernüchternd gewesen. Ob man<br />
diese sanfte Wohltemperiertheit wiederum als Problem begreift oder<br />
nicht, sei allen selbst überlassen.<br />
s<br />
30 31
tellerrand<br />
tellerrand<br />
verque(E)re Zensur in<br />
Deutschland<br />
s Als im Jahr 1919 Anders als die Andern §175 von Richard Oswald<br />
in die Kinos kam, gab es in Deutschland eine flüchtig währende Periode<br />
ohne Zensur. Der Rat der Volksbeauftragten hatte kurz nach dem<br />
Zusammenbruch des Kaiserreichs beschlossen: „Eine Zensur findet<br />
nicht statt. Die Theaterzensur wird aufgehoben.“<br />
Doch schon der Zusatz auf die Instanz des Theaters, verstanden<br />
als kulturellen Primat, sah wohl kaum die aufsteigende Macht<br />
der neuen Lichtspielhäuser voraus. Die durch Oswald und andere<br />
(Hygiene-)Filme entfachte gesellschaftliche Debatte führte schließlich<br />
zu den 1920 erlassenen Reichslichtspielgesetzen. Und schon elf<br />
Jahre später brannten Bücher und die Zensur und Moralsadismen,<br />
maßgeblich um den Paragraphen 175, verschärften sich. Anstelle von<br />
Filmen wie Metropolis, Nosferatu oder Das Cabinett des Dr. Caligari<br />
herrschte von nun an das Schreckenskabinett des Dr. Goebbels, mitverantwortlich<br />
für Hetz- und Propagandafilme der Diktatur.<br />
Unrühmliches Beispiel und Synonym für die Verhurung des<br />
Mediums Films unter den Nazis wurde Jud Süß. Deshalb klingt es<br />
absurd, dass dessen Regisseur Veit Harlan, von allen gegen ihn erhobenen<br />
Anklagepunkten freigesprochen, 1957 mit Anders als du und ich<br />
§ 175, einen der ersten bundesrepublikanischen Filme mit einer queeren<br />
Handlung vorlegte und zumindest im Titel eine Annäherung an<br />
Oswalds Tradition suchte. Harlans vielleicht redlicher Ansatz wirkt<br />
aber aus heutiger Sicht schlicht homophob, dass Zitat auf Oswald<br />
regressiv. Sein Film, der Schwule als heilbare Opfer präsentiert und in<br />
einem Abwasch auch noch die bildenden Künste und moderne Musik<br />
als entartet deklassiert, bekam keine Freigabe. Doch der seit 1948 von<br />
den westlichen Siegermächten gegründete, in Wiesbaden sesshaften<br />
FSK stießen nicht die faschistoiden Tendenzen auf, sondern der zu<br />
positive und ausgestellte Umgang mit Homosexuellen. Nach mehreren<br />
Veränderungen an Schnitt, Text und Bild konnte eine ab-18-Einstufung<br />
erreicht werden.<br />
Zunächst mögen diese Beispiele wie aus längst vergangenen<br />
Tagen wirken. Alles passé und überwunden. Antiquiert liest sich auch<br />
die damalige Ablehnung der ersten Schnittfassung von Anders als du<br />
und ich § 175: „Alle Bevölkerungskreise, die noch ein Gefühl für Sitte<br />
und Recht haben (und dies ist der weitaus überwiegende Teil des Volkes),<br />
werden in ihren Empfindungen aufs schwerste getroffen …“<br />
von Andreas Heimann<br />
Kunst und wie ein Staat mit ihr umgeht kann immer als Gradmesser der Freiheit dienen. Man denke etwa an das Beispiel des<br />
Filmemachers Jafar Panahi, der gegenwärtig Inhaftierung und Berufsverbot durch den iranischen Staat erleidet. Hierzulande<br />
alles undenkbar und kein Thema. Doch wie steht es um die Freiheit der Kunst in Deutschland? Ist Deutschland wirklich frei von<br />
staatlicher Zensur – und wann beginnt sie? Ein Debattenbeitrag zur Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK)<br />
Umso mehr mag es schockieren, dass folgender Abschnitt aus dem<br />
Jahre 2011 stammt und den Film Romeos … anders als du denkst! von<br />
Sabine Bernardi auf ein FSK 16 bewertet: „Der Film spiegelt eine verzerrte<br />
Realität wider, die Kinder auf Grund keiner oder zu geringer<br />
Erfahrung nicht erkennen können.“<br />
Die verzerrte Welt von queeren Menschen, die nicht der Realität<br />
der im Durchschnitt 50-jährigen FSK-Mitglieder abbildet, begehrte<br />
jedoch auf. Es ist dem Druck des LSVD, der Presse und Bernardis<br />
öffentlichem Aufbegehren zu verdanken, dass ihr Film einer Neuprüfung<br />
unterzogen wurde und die fragwürdige FSK 16 in eine FSK 12<br />
umgewandelt wurde. Doch was war geschehen?<br />
Voreilig von homophoben Tendenzen zu sprechen wäre töricht.<br />
Die deutsche Schere schnitt bekanntlich auch schon in Filme von<br />
Hitchcock. Auch „Disneys Lustiges Taschenbuch“ und das „Sailor<br />
Moon Magazin“ waren vom deutschen Zensus nicht gefeit, dessen<br />
Regeln seit 1951 unverändert sind.<br />
Um aber den neokonservativen Umgang mit Bernardis Film zu<br />
verstehen, muss man sich das Jahr 2010 vergegenwärtigen. Eine neue<br />
Debatte, maßgeblich um die Differenzierung zwischen einer FSK 12<br />
zu einer FSK 16 gestrickt, wurde dort durch die Sittenwächter der FAS<br />
und FAZ entfacht und 2011 erneut aufgenommen. Mit markigen Überschriften<br />
wie „Das FSK-12-Siegel ist jugendgefährdend“, oder „Diese<br />
Filme gefährden ihre Kinder“, hatte die FAS 100 „zufällig“ gewählte<br />
FSK-12-Werke neu geprüft und kam zu dem Ergebnis, dass fast 50%<br />
aller geprüften Filme eigentlich viel eher eine FSK 16 erhalten müssten.<br />
(Auffällig an der Zufälligkeit der ausgewählten Filme ist, dass<br />
nur fünf der 46 beanstandeten Filme vor 2000 produziert wurden, es<br />
sich nahezu nur um Hollywoodproduktionen handelte und dass kein<br />
Film als zu streng bewertet empfunden wurde.) Die Zensorenkompetenz<br />
vertraute die FAS übrigens nicht dem Feuilleton an, sondern dem<br />
Politikressort. Von solchen Feinheiten unbeeindruckt entblödeten<br />
sich mehrere Politiker – meist aus dem konservativen Lager – nicht,<br />
die Arbeit der FSK zu kritisieren.<br />
Erika Steinbach, Mitglied des CDU-Bundesvorstands und stellvertretendes<br />
Mitglied im Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen<br />
Bundestags, sah gar schon das Abendland untergehen: „Leider<br />
muss man feststellen, dass nicht nur in diesen Filmen, sondern in<br />
unserer Gesellschaft insgesamt natürliches Schamgefühl, aber auch<br />
Gewaltlosigkeit im Miteinander der Menschen und in der Fürsorge<br />
für Kinder immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden sind.“<br />
Aufgabe der FSK ist es aber auch gar nicht, das natürliche Schamgefühl<br />
zu bewahren oder gar zu einer gewaltfreieren Gesellschaft<br />
beizutragen. Leider wurde auch nicht nachgefragt, welche Filme<br />
Frau Steinbach hier meinte. Schindlers Liste etwa, dessen Wertung<br />
mit einer FSK 12 die FAZ als ebenso falsch ansah wie die für Capote.<br />
In ihren Begründung merkten sie zu Letzterem an, dass der Inhalt<br />
„das Leben eines homosexuellen Künstlers mit all seinen Stilisierungen,<br />
Schwierigkeiten und Nöten zeigt, die sowohl das kritische als<br />
auch das emphatische Vermögen von Kindern überschreiten.“ Jene<br />
Sequenz, in der Capote sein Anderssein mit den Empfindungen eines<br />
pubertierenden Mädchens vergleicht und dadurch ein Gefühl der<br />
Empathie evoziert wird, scheint den selbsternannten Zensoren der<br />
FAS entgangen zu sein.<br />
Der Streit um die FSK, angefacht durch Drohworte etwa seitens<br />
der bayerischen Familienministerin Christine Haderthauer (CSU)<br />
(„Sollte es tatsächlich so sein, dass zu lax geprüft wird, tut sich die<br />
FSK selbst keinen Gefallen“), gipfelte im Auftritt der Bundesfamilienministerin<br />
Schröder (CDU). In ihren eigenen Wahlkreis Wiesbaden<br />
wiederkehrend, beeinflusste die von der FAZ gesteuerte Diskussion<br />
ihren Besuch bei der FSK. In der Folge schickte die FSK ihre<br />
Mitglieder vermehrt in Weiterbildungskurse, die das Thema „FSK 12<br />
oder 16?“ erneut aufnahmen.<br />
Und wenn man auch nicht gleich homophobe Tendenzen innerhalb<br />
der FSK konstatieren möchte, so muss doch erwähnt werden,<br />
dass es mehr als bedenklich ist, dass im Sog einer solchen künstlichen,<br />
nicht künstlerischen, Moraldebatte Romeos wie ein Bauernopfer<br />
wirkt. Christina Schröder hat hier zumindest moralisch eine Verantwortung<br />
zu tragen und sich selbst zu fragen, wie sie, die promovierte<br />
Politikwissenschaftlerin, als Expertin für Film auftreten kann. Dass<br />
die FSK politisch unabhängig arbeiten soll und mit Schröders Besuch<br />
eine Demarkationslinie der Demokratie überschritten wurde, steht<br />
ungeklärt im Raum. Schröders Kampf an der Moralfront trieb indes<br />
auch in jüngster Zeit seltsame Blüten. (So löste sie unlängst eine<br />
Debatte um „bedenkliche“ Wörter in Skandalbüchern wie „Die kleine<br />
Hexe“, „Jim Knopf“ und „Pippi Langstrumpf“ aus.)<br />
Der Umgang mit Romeos zeigt indes eine spezielle Rezeptionsgeschichte<br />
für Filme in der BRD. Es ist eine Vorgehensweise der<br />
Aussparungen, der Retuschen und des scheinbar nicht Vorhandenen.<br />
Zu diesen Beispielen der „freiwilligen“ Selbstkontrolle (FSK)<br />
kommen die der staatlichen Kontrollinstanzen, wie die dem Familienministerium<br />
unterstellte Bundesprüfstelle jugendgefährdender<br />
Medien (BPjM). Denn alleinig die BPjM kann Medien indizieren und<br />
beschlagnahmen lassen.<br />
Besonders beklagenswert sind aber die durch eine Indizierung<br />
entstehenden Folgen auf dem sogenannten freien Markt. Im Handel<br />
tauchen immer wieder Produkte auf, die den vermeintlichen gesuchten<br />
Film enthalten. Raimis indizierter Film Tanz der Teufel etwa, ist<br />
in einer FSK-16-Version erhältlich und dabei um doch nennbare 14<br />
Minuten zerstückelt. Eine Neuprüfung des Originals 2012 hatte eine<br />
Neuindizierung zur Folge, was den Film für nun insgesamt 50 Jahre<br />
auf den Index verbannen wird. Doch die Indizierung trifft nicht nur<br />
Horrorklassiker. Unter den indizierten Filmen findet sich z.B. auch<br />
Die 120 Tage von Sodom. Schon in der damaligen Debatte um Pasolinis<br />
Werk warf die FAZ der FSK Untätigkeit vor. Der seinerzeit 78-jährige<br />
Leiter der FSK, Ernst Krüger, der erst 1986 mit 88 Jahren seinen Posten<br />
aufgab, ließ sich im Zuge der Kontroverse zu der sehr bedenklichen<br />
Aussage bringen, dass diejenige Zensur oder Prüfeinrichtung<br />
am besten sei, „die und deren Einwirkung man nicht bemerkt.“<br />
Doch seitdem ist die Machtauswirkung der Moralsadisten für<br />
Filmfreunde immer sichtbarer geworden. Die Vorsitzende der BPjM,<br />
Elke Monssen-Engberding, seit über 20 Jahren im Amt, konnte 2008<br />
die neuen, gesetzlich vorgeschriebenen FSK-Kennungen auf DVDs<br />
zum Schutz von Jugendlichen erreichen. Die jahrelange Diskussion<br />
über eine Ampelregelung von Lebensmitteln ist in der Filmwelt längst<br />
Realität. Der so belehrte Bürger wird aber nicht darüber in Kenntnis<br />
gesetzt, dass es sich bei dem angebotenen Produkt oft nicht um<br />
das vermeintlich beworbene handelt. Eine Praxis, die sich auch im<br />
deutschen Fernsehen widerspiegelt und vor der nicht einmal mehr<br />
Sender wie Arte mit staatlichem Bildungsauftrag zurückweichen.<br />
Doch FSK-16-Filme sind gesetzlich erst ab 22.00 Uhr, FSK-18-Filme<br />
ab 00.00 Uhr erlaubt. Werden sie früher gesendet, handelt es sich<br />
um Neuschnitte der Sender. Somit ist die nachfolgende Sendung<br />
für Zuschauer unter 16 Jahren zwar nicht geeignet, es handelt sich<br />
aber eh um eine Kunstruine – ohne Abspann, mit Werbeblöcken<br />
und dem Einblenden von Bauchbinden und Seitenrandgeblinke. Ein<br />
Umgang mit Filmen, der in Deutschland dem Medium sukzessive<br />
seinen Kunstcharakter abspricht. Undenkbar wäre etwa das seitliche<br />
Abschneiden an einem Gemälde Picassos, weil es jugendgefährdend<br />
sein könnte. Aber Ausstellungen oder Bücher tragen ja auch kein FSK-<br />
Siegel. Ähnliche „Aufklärungsabsichten“ sind sonst nur bei Zigaretten<br />
üblich. Anscheinend wird, so der zu ziehende Rückschluss, eine<br />
visuelle Gefährdung Jugendlicher, die von Videospielen und Filmen<br />
ausgeht, höher eingeschätzt, was sich auch in den Indizierungsanträgen<br />
und Indizierungen selbst widerspiegelt, die dadurch aber nicht an<br />
Richtigkeit gewinnt. Filme bilden mit doppelt so vielen Indizierungen<br />
gegenüber Tonträgern in den veröffentlichten Listen der BPjM<br />
die größte Gruppe. Zwar wurden in den letzten Jahren, rein statistisch<br />
betrachtet, weniger Filme als in den Jahren davor indiziert, alte<br />
Indizierungen aber bleiben bestehen. Eine Neuprüfung ist erst nach<br />
25 Jahren möglich (Ausnahmen darf nur die BPjM selbst bestimmen).<br />
Sowohl Indizierung als auch ungekennzeichnete Neuschnitte<br />
müssen als Zensur verstanden werden. Nicht nur die Indizierung,<br />
sondern vielmehr eine generell schleichende Zensurpolitik sind das<br />
Bedenkliche der heutigen deutschen Kulturlandschaft. Die Demokratie<br />
zeichnet sich gegenüber Systemen wie dem Iran oder China<br />
eben durch Dissens aus, dessen Impulsgeber die Kunst sein kann.<br />
Kinder und Jugendliche sollten dabei sicherlich vor einigen Medien<br />
geschützt werden, sie sollten aber nicht in Volte dazu missbraucht<br />
werden, eine Kultur der Zensuren zu rechtfertigen.<br />
Ein unaufgeregter Umgang mit Kunst und ein Umdenken im<br />
Kunstverständnis wären aber nichts Revolutionäres, sondern nur die<br />
Erfüllung von Artikel 5, Absatz 1, des Grundgesetztes: „Jeder hat das<br />
Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu<br />
verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert<br />
zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung<br />
durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur<br />
findet nicht statt.“<br />
s<br />
Was ist die FSK?<br />
Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft,<br />
kurz FSK, hat ihren Sitz in Wiesbaden<br />
und wurde 1948 gegründet. Nach dem Vorbild<br />
des US-amerikanischen Production Codes<br />
sollte sie, politisch unabhängig, behördlichem<br />
Eingreifen und staatlicher Reglementierung<br />
vorbeugen. Als Prüfungsorgan der westlichen<br />
Besatzungsgebiete wurde zudem der Jugendschutz<br />
als Bestandteil der Prüfungsziele erklärt.<br />
Ab 1949 übernahm die FSK die Aufgabe der<br />
Filmprüfung in der BRD. Die Einteilung in die<br />
<strong>bis</strong> heute gültigen Alterskategorien 6, 12 und<br />
18 Jahre erfolgte 1957 und wurde 1985 um die<br />
Kategorie ab 0 Jahre erweitert. Träger der FSK<br />
ist die Filmwirtschaft (SPIO). 250 ehrenamtliche<br />
Prüfer arbeiten in den FSK-Gremien, 46%<br />
davon sind Frauen, das Durchschnittsalter<br />
der Prüfer beträgt 50 Jahre. Jährlich werden<br />
in Wiesbaden ca. 400 Medien geprüft.<br />
Zum Weiterlesen<br />
1. Roland Seim und Josef Spiegel (Hrsg.):<br />
Der kommentierte Bildband zu „Ab 18“.<br />
„Zensiert, Diskutiert, Unterschlagen.<br />
Zensur in der deutschen Kulturgeschichte“<br />
2. Julia Köhne, Ralph Kuschke und Arno<br />
Meteling (Hrsg.): „Splatter Movies.<br />
Essays zum modernen Horrorfilm“<br />
3. Johanne Noltenius: „Die freiwillige<br />
Selbstkontrolle der Filmwirtschaft und<br />
das Zensurverbot des Grundgesetz“<br />
4. Roland Seim: „Zwischen Medienfreiheit<br />
und Zensureingriffen. Eine medien- und<br />
rechtssoziologische Untersuchung<br />
zensorischer Einflussnahmen auf<br />
bundesdeutsche Populärkultur“<br />
5. Stephan Buchloh: „Pervers, jugendgefährdend,<br />
staatsfeindlich. Zensur<br />
in der Ära Adenauer als Spiegel<br />
des gesellschaftlichen Klimas“<br />
32 33
dvd<br />
dvd<br />
concorde filmverleih<br />
Laufen lassen<br />
von Jan Künemund<br />
„On The Road“ von Walter Salles, die für viele enttäuschende<br />
Verfilmung eines unverfilmbaren Buchs, ist nun auf DVD<br />
erschienen. Ein kleines Plädoyer für einen schönen Film.<br />
On The Road – Unterwegs<br />
von Walter Salles<br />
BR/FR/UK/US 2012, 134 Minuten,<br />
deutsche SF, englische OmU<br />
Auf DVD bei Concorde Home Entertainment,<br />
www.concorde-home.de<br />
s Als ich kürzlich mal unterwegs (!) war, saßen zwei Jungs im beatfähigen<br />
Alter neben mir im Flugzeug, die offensichtlich eng befreundet<br />
waren, aber nicht miteinander sprachen. Beide lasen in ihrer eigenen<br />
<strong>Ausgabe</strong> von „On The Road“ und beide waren damit ungefähr<br />
gleich weit gekommen. Das Schöne an diesem Bild war weniger der<br />
Beweis für die Kontinuität alters-und geschlechtsspezifischer Lektüren<br />
(ich z.B. habe das nie gelesen), sondern eher das Bild einer Nebeneinanderher-Bewegung<br />
im gleichen Stoff.<br />
On-The-Road-dem-Film ist große Ungerechtigkeit widerfahren.<br />
Mir ist auch klar warum, obwohl ich keine empirischen Beweise habe:<br />
Männer, die zwischen 30 und 70 sind und in einen Film gehen, der<br />
ihre Pubertätsekstasen in Bilder fassen soll, haben, nicht nur, was das<br />
Kino angeht, etwas nicht verstanden. Auch die Idee, man müsse doch<br />
darstellen können, was die Kerouacs, Ginsburgs und Cassadys 1947<br />
damals auf die Straße getrieben habe, scheint mir eher dem Bedürfnis<br />
von Englischlehrern zu entsprechen als dem von Kinogängern.<br />
Allerdings steht Verleger Jörg Sundermeiers in der Taz geäußerte<br />
Kritik am Film, dieser würde über die Dinge „reden, ohne sie zeigen zu<br />
können“, als Einforderung spezifisch visueller Qualitäten eines Films,<br />
schwer und unbewegt im Raum. Der Film ist aber nicht eine Erzählung<br />
über junge Männer (und eine junge Frau), die sich aus den Fesseln<br />
einer engen und normierten, stillstehenden Gesellschaft herausbewegen,<br />
sondern ein Film über junge Männer, die aus dem Traum davon<br />
und aus der Beobachtung einiger Weniger, die das tatsächlich versuchen,<br />
Literatur machen. Frei nach Hubert Fichte: über das Leben, das<br />
nur dazu da ist, um eine Form der Darstellung zu erlangen.<br />
Und so wird auch dem Film von Walter Salles alles zum Stoff, was<br />
erst in seinem Medium etwas hergibt: jugendliche Babyfaces, aus<br />
denen tiefe (Hedlund) und heisere (Riley) Stimmen sprechen, rote<br />
Trucks vor staubigen Bergen, glitzernde Eidechsen in Bäumen, und<br />
immer wieder Asphalt, hektisch abgefilmt, als könne man auf ihm<br />
einfach nicht stillstehen. Sam Paradise, die Verwandlung von Kerouac<br />
in Literatur, wird deshalb von diesem Film etwas gemein behandelt,<br />
denn er war, soweit man weiß, schon etwas mehr als der Eckensteher<br />
und Abstauber, der seinem Freund Cassidy hinterstiefelte und das an<br />
Leben, Frauen, Wörtern und Ideen aufsammelte, was dieser für ihn<br />
übrig ließ. Mehr als der literarische Ausbeuter, der den wilden Outlaw<br />
für seinen Roman benutzte, ihn aber als Freund verriet. Doch Salles,<br />
seinem Drehbuchautor Jose Rivera und seinem grandiosen Kameramann<br />
Eric Gautier, ging es eben darum, in Sam Paradise das Kontruktionsprinzip<br />
ihres Films zu verankern: Nichts ist, bevor es nicht zur<br />
Kunst wird. Und deshalb wird die Welt von 1947 im Buch zur Kette<br />
freier sprachlicher Assoziationen und die wiederum im Film zum Bilderfluss.<br />
Ein Film, dem alles zum Stoff geworden ist, nimmt Anhalter<br />
mit: einen Twilight-Star, der Proust liest, Sam aus Tron: Legacy,<br />
der Texte von Slim Gaillard rappt, und Aragorn, ohne Unterhose,<br />
im Orgon-Akkumulator. Unglaublich schöne Menschen, Gesichter,<br />
Körper. Landschaften, Autos. Die Straßenbilder zittern, die Tonspur<br />
knistert, Detailaufnahmen und große Gesten nehmen sich einen<br />
sinnlichen Entwurf vor, für den sich der Ausbruch lohnt, zumindest<br />
ins Kino.<br />
Die beiden Mitreisenden lasen beim Einstieg in Bilbao, beim<br />
Umsteigen in Frankfurt und noch in der U7 in Berlin-Neukölln im<br />
Kerouac-Buch. Wahrscheinlich fanden sie die Frauenfeindlichkeit<br />
und Homophobie des Textes (beides gibt der Film – als Material –<br />
sehr genau wieder) ziemlich altmodisch. Aber wie man sich aus<br />
den heutigen Fesseln löst, geschlechtsidentitätsspezifischen zum<br />
Beispiel, und daraus keinen akademischen Diskurs, sondern Kunst<br />
macht, sollen die nächsten Kerouacs schreiben. Oder die nächsten<br />
Eric Gautiers zeigen.<br />
Im wahren Leben hatte Kerouac noch nicht mal einen Führerschein,<br />
lese ich gerade.<br />
s<br />
34 35
dvd<br />
dvd<br />
Ein höllischer Spuk<br />
von Fritz Göttler<br />
In seinen Filmen das zu zeigen, was man damals in Hollywoodfilmen eigentlich nicht zeigte, war immer eine<br />
Spezialität des Regisseurs Otto Preminger. In „Advise and Consent“ (dt. „Sturm über Washington“), seinem<br />
großen Senatsdrama aus dem Jahr 1962, gibt es zum Beispiel eine Szene, die in einer New Yorker Gay Bar<br />
spielt. Und damit macht sich Hollywood zum ersten Mal überhaupt ein Bild von der Schwulenszene. Nun<br />
ist er auf DVD herausgekommen, in einer Dreierbox, zusammen mit zwei Premingers der Fünfziger, „Saint<br />
Joan“ und „The Moon Is Blue“<br />
cine qua non<br />
s Wann werden wir in Washington sein, fragt der junge Mann,<br />
gegen Mitternacht, sagt der ältere auf dem Sitz neben ihm – Senator<br />
Brigham Anderson aus Utah und der Vizepräsident der Vereinigten<br />
Staaten von Amerika. Sie haben sich zufällig getroffen, auf dem nächtlichen<br />
Flug von New York nach Washington. Eine Linienmaschine, es<br />
ist 1962, damals verkehrten auch hohe Politiker so.<br />
Otto Premingers Advise and Consent ist einer der großen Filme<br />
der Sechziger, ein elegisches Melodram aus dem amerikanischen<br />
Senat. Und: Ein Phantomfilm. Die ihn rühmen, beziehen sich dafür<br />
bevorzugt auf seine ‚films noirs‘ aus den Vierzigern, Laura, Whirlpool,<br />
Where the Sidewalk Ends, Angel Face, aber seine Filme aus den Fünfzigern<br />
und Sechzigern sind weit schwärzer als diese, The Man With the<br />
Golden Arm, Carmen Jones, Anatomy of a Murder. Advise and Consent<br />
hat einen Möchtergernpolitiker, der vor einem Senatsausschuss lügt<br />
zu seiner kommunistischen Vergangenheit, einen US-Präsidenten,<br />
der diesen Mann dennoch durch den Ausschuss gebracht sehen will.<br />
Und einen Senator, der eine schwule Vergangenheit hat und sich mit<br />
dem Rasiermesser die Kehle durchschneidet.<br />
Man hat Preminger immer wieder des Sensationalismus bezichtigt,<br />
François Truffaut hat gegen derartige Vorwürfe Premingers<br />
Risiko-Konzept erläutert – das dem der Rennfahrer von Le Mans<br />
gleiche: „Er bietet uns ein Schauspiel, dessen Geheimnis er bewahrt,<br />
ein Schauspiel, das nur ihn betrifft … Wenn er vor Skandalen nicht<br />
zurückschreckt, so nur, um seine Reinheit besser zu bewahren.“<br />
Es wird Regen geben, sagt der Vizepräsident nach der Ankunft<br />
in Washington zu Brig, ich kann Sie nach Hause bringen. Der Senator<br />
lehnt dankend ab. Lew Ayres ist der Vizepräsident, Don Murray,<br />
der tumbe Cowboy aus Bus Stop, der junge Senator. Ob er ihm helfen<br />
könne, hat der Vizepräsident ihn gefragt, ob er sich aussprechen<br />
wolle. Er sieht, der Junge ist unter starkem Druck, er war in New<br />
York, um sich mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren. Nun hat er<br />
eine Entscheidung getroffen. Why are you going it alone, meint der<br />
Vizepräsident, that’s what I don’t understand.<br />
Washington, eine unheimliche, eine Phantomstadt. Ruhelose<br />
Menschen sind nachts unterwegs, intrigierend, drohend, erpressend.<br />
In den Monumenten der Stadt sind die Phantome der Vergangenheit<br />
präsent, der Geschichte, der amerikanischen Tradition. Preminger<br />
hat an Originalschauplätzen gedreht, auf den Straßen der Stadt, in<br />
den Büros, das Capitol, das Washington Monument, das Sheraton. Die<br />
Ausstattung hat er aus Museen und von reichen Familien zusammengeborgt,<br />
Teppiche, Möbel, Artefakte. Gene Tierney wandelte durch<br />
die abendlichen Partys, als Gastgeberin, wie seinerzeit durch die drei<br />
films noirs, die sie mit Preminger machte.<br />
Der Präsident hat einen Kandidaten für das Amt des Außenministers<br />
benannt, Robert Leffingwell, gespielt von Henry Fonda. Der<br />
Senat soll diesem Kandidaten empfehlend zustimmen, advise and<br />
consent, und prüft ihn in einem Unterausschuss. Brigham Anderson<br />
ist der Vorsitzende des Ausschusses. Der alte Senior Senator von<br />
South Carolina, Charles Laughton, will den neuen Mann verhindern,<br />
Leffingwell spricht mit einer fremden Stimme – er vertritt den neuen<br />
Realismus in der Politik, gegen die Unbedingtheit der Prinzipien, will<br />
durchaus mit den Russen verhandeln. Der Kennedy-Sound, Amerikas<br />
Stimme für die Zeit nach dem Kalten Krieg.<br />
Ein Zeuge wird vorgeladen, er kennt Leffingwell von früher,<br />
spricht von Beziehungen zu einer kommunistischen Zelle, Leffingwell<br />
leugnet, er will einen Freund von damals, heute ebenfalls ein<br />
angesehener Politiker, nicht verraten. Er bittet den Präsidenten, seine<br />
Nominierung zurückzunehmen. Der Präsident weigert sich, er glaubt<br />
an Leffingwell, die Lüge nimmt er in Kauf.<br />
Die beste Politik, zeigt der Film, ist immer noch ein schmutziges<br />
Geschäft. Politik verlangt mehr als große menschliche Qualitäten,<br />
sagt Preminger, sie verlangt eine Kombination von Idealismus<br />
und Zynismus, und jene, die eine dieser Qualitäten besitzen ohne die<br />
andere, werden versagen. Idealismus und Zynismus vereint, so hat<br />
es auch Steven Spielberg dargestellt in seinem Film Lincoln, der den<br />
großen Präsidenten als Trickser zeigt. Und die Redeschlachten der<br />
Abgeordneten mit all ihren Fetzereien, Grobheiten, Beleidigungen,<br />
die Verletzungen.<br />
Was Preminger, anders als Spielberg, nicht braucht, ist das<br />
Pathos, die Inszenierung ist bei ihm ganz lakonisch und gelassen. Die<br />
Senatoren haben Sinn für elegante Ironie. Brig Anderson, der Ausschussvorsitzende,<br />
erfährt von Leffingwells Lüge, er will, dass die<br />
Nominierung zurückgenommen wird. We have to make the best of<br />
our mistakes, sagt der Präsident zu ihm, das muss Brig böse in den<br />
Ohren klingen. Plötzlich wird er erpresst, von einer radikalen Gruppe<br />
im Senat, die mit allen Mitteln Leffingwell durchsetzen will. In der<br />
Militärzeit, auf Hawaii, hatte Brig einen jungen Mann geliebt, Ray.<br />
Zurück in den USA hat er die Beziehung abgebrochen, hat geheiratet,<br />
ein Kind, die Politik, die Tradition. Er trägt den Vornamen eines der<br />
großen Mormonenführer.<br />
Ray meldet sich aus der Vergangenheit, droht, will Geld. Brig<br />
fliegt nach New York, will ihn aufsuchen. Der Club 602, die Schwulenbar.<br />
Für ein, zwei Minuten verändert sich der Rhythmus des<br />
Films, wird nervös, fiebrig. Eine geschlossene Gesellschaft, zwischen<br />
Aggressivität und Anpassung. Scharf konturiert, also an der Kippe<br />
zur Karikatur – aber hat es das nicht auch bei Todd Haynes gegeben,<br />
in Far From Heaven? Kein Hollywoodianer hätte sich die Gelegenheit<br />
entgehen lassen, ein wenig höllischen Spuk nach Brueghel oder Bosch<br />
zu malen.<br />
Brig schreckt zurück, von oben sieht er in den großen dunklen<br />
Raum, dicht aneinander die Männer. Zwei Scheinwerfer schieben<br />
sich durch den Saal, die Männer sind durchaus bürgerlich, Leinenjackets<br />
oder T-Shirts, mit nicht ungezwungener Lässigkeit. Die Haare<br />
ein wenig länger als gewöhnlich, die Hemdkrägen ein wenig weiter<br />
ausschwingend, die Schatten unter den Augen ein wenig dunkler, die<br />
Augen selbst ein wenig stumpfer. Hinter der Theke ein mephistophelischer<br />
Barkeeper, kommen Sie rein, ruft er, als er Brig sieht, bleiben<br />
Sie nicht stehen. Aus dem Plattenautomaten Frank Sinatra, Let me<br />
hear a voice, a secret voice. A loser’s song.<br />
Das Fremde, das Andere, Preminger zeigt es mit neugieriger<br />
Unbefangenheit. Das Allerletzte, was ihn interessiert, ist Normalität.<br />
Wie bei Shakespeare sind uns die Leute aus dem Volk, die Narren<br />
auch, lieber als die Höflinge und ihre Royals. Vor dem Intermezzo in<br />
der Bar hatte Brig eine verrückte Begegnung mit dem unförmigen<br />
Larry Tucker, der tuntig durch sein Apartment schlappt, wie eine<br />
Puffmutter fast, dem verunsicherten Brig Tee einschenkt, sich ein<br />
paar Scheine auf den Tisch legen lässt, den Tip mit dem Club 602 gibt,<br />
Ray und du, ihr könnt ja dann herkommen, ihr habt ja bezahlt. Ein<br />
Jahr später wird der boshafte naive Larry Tucker Peter Breck heftig<br />
malträtieren in Sam Fullers Melodram aus einer anderen geschlossenen<br />
Gesellschaft, dem Irrenhaus: Shock Corridor.<br />
Was Brig zerstört, schrieb Mark Shivas, im Septemberheft von<br />
„Movie“ 1962, ist, dass er sich als Richter über einen anderen setzen<br />
muss und selbst einen dunklen Punkt in seiner Vergangenheit<br />
hat. Und dass er in sich, bei der Wiederbegegnung mit der anderen<br />
Welt, die alten Impulse wieder spürt. Ein anderes Leben, eine andere<br />
Freiheit. Zu groß für Brig, er wird, nach Washington zurückgekehrt,<br />
Selbstmord begehen.<br />
Brig stürzt aus dem Club auf die Straße, Ray läuft ihm nach, in<br />
weißem T-Shirt. Es ist wie ein ganzes verlorenes, verdrängtes Leben<br />
in ein paar kurzen Einstellungen, lass dir erklären, ich brauchte Geld,<br />
du hast nicht auf meine Anrufe reagiert. Taxi, ruft Brig, heftig winkend.<br />
Er steigt in das Taxi, Ray will ihn fassen, durchs Fenster greift<br />
Brig nach Rays Kopf, schiebt ihn weg, als der Wagen anfährt, und Ray<br />
fällt in die Pfütze im Rinnstein.<br />
Nach seinem Tod sieht man Brigs Frau den Abschiedsbrief an Ray<br />
lesen, den die Erpresser ihr zugeschickt haben. What happened between<br />
us in Hawaii could not have happened but for the war and the<br />
exhaustion and the loneliness.<br />
s<br />
Sturm über Washington<br />
Als Teil der Kollektion<br />
„Otto Preminger – Meisterwerke“<br />
deutsche SF, englische OmU<br />
Auf DVD bei Cine Qua Non,<br />
www.cinequanon.de<br />
36 37
dvd<br />
My Girl Götz<br />
von Oliver Sechting<br />
Im Zuge der deutschen Komödienwelle kam Mitte der 1990er Jahre auch Hermine<br />
Huntgeburths „Das Trio“ in die deutschen Kinos, dessen Schwulenrollenbilder<br />
allerdings nichts mit den Klischees der vorab bewegten Männer zu tun haben. Ihr<br />
Besetzungs-Clou, ausgerechnet den „Lieblings-Macho der Deutschen“ (Berliner<br />
Zeitung) Götz George in den Fummel des schwulen Kleinganoven Zobel zu stecken,<br />
ohne diese Figur auch nur einem Hauch von Lächerlichkeit auszusetzen, ist<br />
erinnerungs- und wiedersehenswürdig. „Das Trio“ erscheint im <strong>März</strong> erneut auf DVD.<br />
s Ein wunderschönes Beispiel für eine<br />
kurzfristige Flucht aus dem Alltag ist eine<br />
Szene in dem Wohnmobil. Nach dem Liebesspiel<br />
lässt sich Karl (Christian Redl), der<br />
in die Jahre gekommen ist und ein Toupet<br />
trägt, zunächst widerwillig auf Zobels (Götz<br />
George) Bitte darauf ein, sich in sein altes<br />
glamouröses Glitzerkleid zu zwängen. Kaum<br />
steckt er aber im blauen Paillettenfummel<br />
drin, fängt er an, hingebungsvoll und lasziv<br />
zu dem Schnulzen-Klassiker „My Girl“<br />
zu performen, während Zobel entspannt<br />
auf dem Bett liegt und ihm genüsslich dabei<br />
zuschaut. Für ein paar Momente wirkt es<br />
so, als wären die beiden an einem anderen<br />
Ort, in einer anderen Welt, in der alles etwas<br />
leichter und unbeschwerter ist.<br />
Doch kaum ist der Song zu Ende, fällt<br />
Karl wieder ein, dass er eigentlich zu dick für<br />
sein Kleid geworden ist („Du <strong>bis</strong>t nicht fett,<br />
du <strong>bis</strong>t stark!“, Zobel), und schlägt seine Stirn<br />
kummervoll in tiefe müde Falten. Zobel und<br />
Karl sind wieder das alte schwule Paar im<br />
klapprigen Wohnmobil.<br />
Sie stehen, gemeinsam mit Zobels Tochter<br />
Lizzi (Jeanette Hain), im Zentrum des<br />
38<br />
edition Salzgeber<br />
Films, als Kleinkriminelle, die sich buchstäblich<br />
durch die Gegend tricksen und stehlen.<br />
In ihrem charmant heruntergekommenen<br />
Wohnmobil tourt das eingespielte Trio durch<br />
ein Verlierermilieu aus Schaustellern, Preisboxern<br />
und Gaunern, im Volksgedränge und<br />
unter einfachen Menschen immer auf der<br />
Suche nach der nächsten, wenigstens halb<br />
gefüllten Geldbörse.<br />
Zobel, von George auf seine unnachahmliche<br />
Art durch den Film genuschelt, wirkt<br />
auf den ersten Blick wie ein herrischer raubeiniger<br />
Kerl, aber auf den zweiten erkennt<br />
man einen brüchigen, verletzbaren Mann,<br />
dessen Charme immer wieder in seiner Liebe<br />
zu Karl deutlich, durch den gemeinsamen,<br />
tristen Alltag aber regelmäßig eingeholt<br />
wird.<br />
Als der junge Taschendieb Rudolf (Felix<br />
Eitner) plötzlich in das Leben der drei stolpert,<br />
erweckt dieser nicht nur das Interesse<br />
von Lizzi, sondern auch das ihres Vaters. Der<br />
unerwartete Tod von Karl stößt den verzweifelten<br />
Zobel in die Arme von Rudolf, der sich<br />
parallel in eine Affäre mit Lizzi begibt. Als<br />
das heimliche Doppelspiel des schnell überforderten<br />
Rudolf auffliegt, kommt es zum<br />
Eklat zwischen Vater und Tochter und die<br />
eingespielt kumpelhafte Beziehung droht zu<br />
entzweien. Klassische Themen also: Schuld<br />
und Eifersucht, Liebe und Verlust.<br />
Götz George wurde einem breiten Publikum<br />
durch seine TV-Rolle als grober, großmäuliger<br />
Tatort-Kommissar Schimanski<br />
bekannt und avancierte durch diese Rollenprägung<br />
zum deutschen Parade-Darsteller<br />
für Machos und zu einer heterosexuellen<br />
Männer-Ikone einer ganzen Generation. In<br />
Hermine Huntgeburths Film bricht er, wie<br />
schon zuvor in Romuald Karmakers Der Totmacher<br />
(1995), mit dem George als erstzunehmender<br />
Charakterschauspieler wiederentdeckt<br />
wurde, mit diesem Bild und zeichnet<br />
mit seiner einfühlsamen Darstellung einen<br />
markanten und brüchigen schwulen Mann.<br />
George spielt Zobels Widersprüche aus: die<br />
cholerischen und verletzenden Ausfälle, die<br />
immer dann kommen, wenn ihm Situationen<br />
entgleiten, die dahinter aber einen Liebenden<br />
sichtbar machen, der versucht, seinen<br />
engen Kreis mit undiplomatischen Mitteln<br />
zusammenzuhalten und zu schützen. Es ist<br />
dann auch die Liebe, die ihn immer wieder<br />
dazu zwingt, in letzter Konsequenz nicht an<br />
seinen Vorstellungen festzuhalten.<br />
Gespiegelt wird Zobels Ambivalenz<br />
innerhalb des bemerkenswerten Spektrums<br />
des Films durch Jeannette Hains tomboyhafte<br />
Lizzi und Felix Eitners in seinem<br />
Begehren undurchschaubaren Rudolf – beide<br />
Charaktere lassen sich schwer in Schubladen<br />
stecken und wollen zudem gar nicht in das<br />
Bild eines Milieus passen, das von klaren<br />
Geschlechterstereotypen beherrscht scheint.<br />
Im zeitlichen Kontext der späten 90er Jahre<br />
überrascht der Film vor allem dadurch, dass<br />
er nicht an dem starren Bild von Homo- und<br />
Heterosexualität festhält, sondern einen<br />
vielfältigeren Ansatz vermittelt, der am Ende<br />
in einer besonderen Familienzusammenführung<br />
gipfelt. Der Film war rückblickend mit<br />
seiner queeren Themenbesetzung seiner Zeit<br />
voraus und passt mit der DVD-Veröffentlichung<br />
umso mehr in den heutigen Zeitgeist:<br />
als queeres Familienroadmovie, das abseits<br />
der Szene unterwegs ist, und als Film über<br />
Menschen am Rand der Gesellschaft, der für<br />
ein großes Publikum gemacht ist. s<br />
Das Trio<br />
von Hermine Huntgeburth<br />
DE 1997, 97 Minuten, deutsche OF<br />
Auf DVD bei der Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Orientierung im<br />
DVD-Dschungel gefällig?<br />
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The Furry Gay & Lesbian Bookshop<br />
Lange Reihe 102 | 20099 Hamburg<br />
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film-flirt<br />
frisch ausgepackt<br />
Der<br />
Moment<br />
Schriftsteller sehen Filme: Martin Arz<br />
Kaum einer kennt die Geheimnisse,<br />
Abgründe und Irrwege der Stadt<br />
München so gut wie der Künstler, Autor<br />
und Verleger Martin Arz. Seine vor<br />
Lokalkolorit berstenden Kriminalromane,<br />
vor allem die <strong>bis</strong>lang vier Fälle um<br />
den schwulen Kriminalrat Max Pfeffer,<br />
profitieren davon genauso wie seine<br />
„Reiseführer für Münchner“ und sein<br />
Sammelsurium „Absolut München“.<br />
Naheliegend, dass Arz auch als<br />
Reiseführer arbeitet und „München-<br />
Safaris“ anbietet. Für die SISSY verlässt<br />
er die Wahlheimat und begibt sich auf<br />
einen Ausflug ins selbstironische, aber<br />
nicht weniger mörderische Hollywood.<br />
s Es ist der Auftritt aller Auftritte: Die<br />
größte Diva aller Zeiten steht geschminkt<br />
und in großer Robe oben an der Treppe.<br />
Es soll ihr fulminantes Comeback werden.<br />
Die Kamera läuft, alle Nebenpersonen sind<br />
ehrfurchtsvoll erstarrt. Es gibt nur noch<br />
sie! „Ich bin soweit für die Großaufnahme“,<br />
sagt sie. Jeder Schritt die Treppe hinab eine<br />
große Pose. Doch das, worauf der Zuschauer<br />
gemeinsam mit der Diva Norma Desmond<br />
den ganzen Film über hingefiebert hat, findet<br />
nicht statt. Die Kamera fängt keine Großaufnahme<br />
von Normas grotesk verzerrtem<br />
Gesicht ein – das Bild löst sich allmählich<br />
auf. Regisseur Billy Wilder setzt mit diesem<br />
Schluss seinem Film Sunset Boulevard ein<br />
40<br />
würdiges Ende. Denn der ganze Film ist ein<br />
Film im Film und das Ende erinnert daran,<br />
dass es eben nur ein Zelluloidstreifen ist,<br />
der durch den Projektor läuft. Und der große<br />
Auftritt ist gar keiner: Der Regisseur, der<br />
„Action“ ruft, ist nur ihr Butler. Die Kamera<br />
macht Wochenschauaufnahmen. Die Nebenfiguren<br />
sind nicht ehrfurchtsvoll, sondern<br />
peinlich berührt erstarrte Reporter und Polizisten<br />
– denn die wahnsinnumnebelte Diva<br />
schreitet ihrer Verhaftung entgegen.<br />
Wilders Sunset Boulevard aus dem Jahr<br />
1950 war ebenso Erfolg wie Skandal. Vor<br />
allem die mächtigen Filmbosse tobten über<br />
Wilder, diesen Nestbeschmutzer. Nie zuvor<br />
hatte jemand es gewagt, mit Hollywood filmisch<br />
so böse abzurechnen, nie zuvor wurde<br />
der Markt der schönen Lügen so demaskiert.<br />
Der Film ist gespickt mit Zitaten, große Stars<br />
spielen sich selbst, Szenen aus Stummfilmklassikern<br />
werden in die Handlung eingebaut.<br />
Und dann beginnt diese Ohrfeige auch<br />
noch mit einem Toten im Pool, der aus dem<br />
Jenseits seine Geschichte erzählt. Hyperskandal!<br />
So darf man doch einen Film nicht<br />
beginnen.<br />
Doch, man darf. Die Geschichte ist relativ<br />
einfach: Der Tote im Pool ist Joe. Warum<br />
er tot ist, wird in der Rückblende erzählt. Der<br />
junge, erfolglose Schriftsteller Joe landet auf<br />
der Flucht vor Gläubigern in der Villa des<br />
einstigen Stummfilmstars Norma Desmond<br />
(gespielt vom einstigen Stummfilmstar<br />
Gloria Swanson). Norma lebt in dem Wahn,<br />
weiterhin umjubelt zu sein. Ihr Faktotum,<br />
der einst große Stummfilmregisseur Max<br />
von Meyerling (gespielt vom einst großen<br />
Stummfilmregisseur Erich von Stroheim)<br />
schreibt dazu extra fingierte Fanpost. Norma<br />
schaut ständig ihre alten Filme (zu sehen ist<br />
die junge Swanson in Queen Kelly unter der<br />
Regie Erich von Stroheims). In ihrer Bridge-<br />
Runde treffen sich Stummfilmstars, die den<br />
Sprung zum Tonfilm nicht geschafft haben<br />
– darunter Buster Keaton. Norma macht Joe<br />
screenshot: youtube<br />
mit Geld und Geschenken zu ihrem Toy-Boy<br />
und verlangt von ihm, neben Sex, ihr ein<br />
Drehbuch für ein grandioses Comeback zu<br />
schreiben. Joe lässt sich kaufen, obwohl er<br />
ein anderes Mädel liebt. Letztendlich aber<br />
kann Joe Normas Wahn nicht mehr ertragen,<br />
entschließt sich, Schluss zu machen und<br />
besiegelt so sein Schicksal. Norma lebt nur<br />
noch in ihrer Scheinwelt. „Einen Star verlässt<br />
man niemals“, sagt sie, „das ist es, was einen<br />
zum Star macht!“ Und sie erschießt Joe. Zeit<br />
für den ganz großen Auftritt – Hauptsache,<br />
das Make-up sitzt … Inzwischen tausendfach<br />
kopiert, besonders gerne in der Travestie.<br />
Ursprünglich sollte Sunset Boulevard<br />
eine Burleske mit Mae West in der Hauptrolle<br />
werden. Doch weil das Skript immer<br />
ernster wurde, suchte man nach einer anderen<br />
Ex-Diva, Mary Pickford und Pola Negri<br />
sagten ab. Schließlich unterschrieb Gloria<br />
Swanson. Immer wieder hieß es, sie würde<br />
sich selbst spielen, was Unfug ist. Die Swanson<br />
war auch nach Ende des Stummfilms gut<br />
im Geschäft, arbeitete fürs Fernsehen, als<br />
ihr die Norma Desmond angeboten wurde.<br />
Der Film wurde ihr Leinwandcomeback; und<br />
für den damals unbekannten, aber verteufelt<br />
gut aussehenden William Holden alias Joe<br />
der Start einer großen Karriere. Die Rolle<br />
des Joe sollte ursprünglich Montgomery<br />
Clift spielen, damals ein Megastar. Doch der<br />
sprang ab, weil er seinen Fans nicht zumuten<br />
wollte, eine Affäre mit einer mehr als doppelt<br />
so alten Frau vorzuspielen.<br />
s<br />
www.martin-arz.de<br />
www.muenchen-safari.de<br />
Sunset Boulevard<br />
von Billy Wilder<br />
US 1950, 110 Minuten,<br />
deutsche SF + OmU<br />
Auf DVD bei Paramount Home,<br />
www.paramount.de<br />
Das geschenkte Mädchen<br />
von Martin Arz<br />
Roman, 256 Seiten,<br />
Hirschkäfer 2011<br />
Pechwinkel<br />
von Martin Arz<br />
Roman, 224 Seiten,<br />
Hirschkäfer 2011,<br />
www.hirschkaefer-verlag.de<br />
Reine Nervensache<br />
von Martin Arz<br />
Roman, 295 Seiten,<br />
Hirschkäfer 2010<br />
Neu auf DVD<br />
von Sebastian Markt (SM), Jan Künemund (JK) und Paul Schulz (PS)<br />
STURM ÜBER WASHINGTON<br />
US 1962, Regie: Otto Preminger, DVD-Box<br />
„Otto Preminger Meisterwerke“ bei Cine Qua Non<br />
„Brig schreckt zurück,<br />
von oben sieht er in den<br />
großen dunklen Raum,<br />
dicht aneinander die<br />
Männer. Zwei Scheinwerfer<br />
schieben sich durch<br />
den Saal, die Männer sind<br />
durchaus bürgerlich, Leinenjackets<br />
oder T-Shirts,<br />
mit nicht ungezwungener Lässigkeit. Die Haare<br />
ein wenig länger als gewöhnlich, die Hemdkrägen<br />
ein wenig weiter ausschwingend, die<br />
Schatten unter den Augen ein wenig dunkler,<br />
die Augen selbst ein wenig stumpfer. Hinter<br />
der Theke ein mephistophelischer Barkeeper,<br />
kommen Sie rein, ruft er, als er Brig sieht, bleiben<br />
Sie nicht stehen.“ (Seite 34)<br />
Ulrike Ottinger –<br />
Die Nomadin vom See<br />
DE 2012, Regie: Brigitte Kramer, Edition Salzgeber<br />
Ulrike Ottingers im Laufe<br />
von <strong>bis</strong>lang drei Jahrzehnten<br />
entstandene Filme<br />
bilden einen großen<br />
Solitär in der Landschaft<br />
des deutschen Kinos. Brigitte<br />
Kramer, so wie die<br />
Regisseurin in Konstanz<br />
aufgewachsen und zeitweilige<br />
Mitarbeiterin, hat ein Portrait über die<br />
Filmemacherin gestaltet, das sich nicht in Kanonisierung<br />
versucht, sondern einige Tangenten<br />
an Werk und Person legt: Beobachtungen<br />
und Gespräche mit der Künstlerin, Erinnerungen<br />
von Freund_innen, Mitarbeiter_innen und<br />
Wegbegleiter_innen und nicht zuletzt vielsagend<br />
ausgewählte Szenen ihrer Filme. Kramer<br />
versucht dabei weder das Werk aus der Person<br />
zu erklären, noch umgekehrt die Person im<br />
Werk aufzulösen. Ein verregnetes Geburtstagsessen<br />
mit Freunden im Freien; Ottinger beim<br />
Auspacken und Deuten von Geschenken, die<br />
sie von japanischen Protagonist_innen aus Unter<br />
Schnee erhalten hat; Ottinger beim Arrangement<br />
ihrer großen Ausstellung im Haus der<br />
Kulturen der Welt: Die schönsten und eindringlichsten<br />
Bilder, die das Portrait selbst<br />
entwirft, vermitteln eine spezifische Haltung,<br />
oder vielleicht einen Ethos im Umgang mit<br />
Menschen, Dingen und Bildern, der auch in<br />
Ottingers künstlerischem Werk greifbar wird.<br />
Eine Haltung, die sich nicht allein damit begnügt,<br />
die Welt in ihrem Gegebensein zu verzeichnen,<br />
sondern sich zum gestaltenden Dokumentieren<br />
einer Fantasie erweitert.<br />
Dass der Film die Fantasien von vielen Leuten,<br />
die etwas Anderes wollten, beflügelt habe, sagt<br />
sie einmal über den Erfolg ihres dritten Kinofilms<br />
Madame X – Eine absolute Herrscherin.<br />
Dieses Andere zu kartographieren und zu situieren,<br />
hätte ein Anliegen dieses Dokumentarfilms<br />
sein können. Dass er es nicht abschließend<br />
tut, und er deshalb auf die Kenntnis von<br />
Ottingers Arbeiten setzt, ist gleichzeitig seine<br />
große Stärke, als Einladung zum Eintauchen<br />
in einen Kosmos, der die Sehgewohnheiten<br />
aller, die sich darauf einlassen, nicht unverändert<br />
lassen wird.<br />
sm<br />
Man for a day<br />
DE 2012, Regie: Katarina Peters, Edition Salzgeber<br />
„Was klingt wie Selbsterfahrung<br />
mit esoterischem<br />
gegenseitigen Oberarmstreicheln,<br />
ist – aufgrund<br />
des Themas – eher das<br />
Gegenteil: Bei einem<br />
‚Drag King‘-Workshop<br />
von Diane Torr geht es um<br />
Gender-Bewusstwerden<br />
durch handfestes Erleben. ‚Gender is gestures‘,<br />
sagt die US-amerikanische Performancekünstlerin,<br />
die 1948 geboren wurde, in den 70ern<br />
nach New York ging und seit 1989 Gender-Bender-Workshops<br />
anbietet. Die Filmemacherin<br />
Katarina Peters hat einen der einwöchigen<br />
Workshops in Berlin begleitet, hat die Kamera<br />
auf sämtliche Teilnehmerinnen des Experiments<br />
gerichtet und ihre unterschiedlichen<br />
Agenden gefilmt. (…) Dass Peters die Denkanregungen,<br />
die Torr mit ihren Workshops gibt,<br />
in Szene setzt, ohne albern, plakativ oder flach<br />
zu werden – denn die angesprochenen, überspitzten<br />
Verhaltensweisen müssen all das<br />
manchmal sein – ist das Verdienst ihres Dokumentarfilms.<br />
Zudem kommt sie ohne zuviel<br />
Psychologisierungen aus, ohne so augenzwinkernde<br />
wie ärgerliche Frauen-Venus-, Männer-Mars-Schubladen.<br />
In Torrs Fall kann das<br />
Aufzeigen von Unterschieden zwischen männlichen<br />
und weiblichen Verhaltensweisen zu<br />
besserem Verständnis führen. Sogar, wenn der<br />
Kerl, der da gerade vor einem wichtigtuerisch<br />
auf den Zehenspitzen wippt, ein totales Arschloch<br />
ist.“ (Jenni Zylka in SISSY 14)<br />
MEINE FREIHEIT, DEINE FREIHEIT<br />
DE 2011, Regie: Diana Näcke, Edition Salzgeber<br />
Vier Jahre lang hat Diana<br />
Näcke den schwierigen<br />
Weg zweier gefangener<br />
Frauen in die Freiheit mit<br />
der Kamera verfolgt. Immer<br />
wieder war sie alleine<br />
in der „JVA für Frauen“<br />
in Berlin Lichtenberg<br />
und hat für Meine Freiheit,<br />
deine Freiheit so intime Bilder aus einem<br />
Frauenknast gedreht wie kaum jemand zuvor.<br />
Zwangsläufig ist ihr Film auch ein philosophischer<br />
Exkurs zum Thema Freiheit an sich geworden.<br />
„Ich hatte keine Ahnung von Ton und<br />
keine Ahnung von Kamera, geschweige denn<br />
von Szenen-Auflösung. Ich musste einfach<br />
drehen. Und ich wusste, dass viel passieren<br />
wird. Kübra hat mich manchmal nachts angerufen<br />
und gesagt: ‚Jetzt!‘ Und dann musste ich<br />
eben los, egal wann und egal wie. Da kannst<br />
Du nicht noch einen Tonmann oder eine Kamerafrau<br />
anrufen. Und es gab eben kein Geld.<br />
Und wenn man realistisch ist, wer gibt einem<br />
Debüt-Filmemacher ohne Filmschulhintergrund<br />
Geld? Alle Entscheidungen waren aus<br />
heutiger Sicht richtig. Das gedrehte Material<br />
hat dann überzeugt, vor allem die Kraft der<br />
beiden Protagonistinnen und wahrscheinlich<br />
auch meine Dokwütigkeit!“ (Diana Näcke in<br />
SISSY 14)<br />
LIFE IN STILLS<br />
IL/DE 2011, Regie: Tamar Tal, good!movies<br />
In den Jahrzehnten nach<br />
seiner Einwanderung<br />
1936 schuf der Fotograf<br />
Rudi Weissenstein ein<br />
Werk, das zu den umfangreichsten<br />
bildlichen Dokumentationen<br />
der Geschichte<br />
des israelischen<br />
Staates zählt. Ikonischen<br />
Status halten seine Fotografien der Unabhängigkeitserklärung,<br />
aber die Blicke, die Weissenstein<br />
auf eine sich entwickelnde Gesellschaft<br />
warf, erstreckten sich ebenso auf<br />
alltägliche Szenen, Portraits, das sich ständig<br />
wandelnde Gesicht von Stadt und Land im Aufbau.<br />
Den archivalische Niederschlag dieser Arbeit<br />
beherbergt das Pri-Or Photohouse in Tel<br />
Aviv, das Weissensteins Frau Miriam seit seinem<br />
Tod allein weiterführt. In den letzten Jah-<br />
41
frisch ausgepackt<br />
frisch ausgepackt<br />
ren erhielt sie dabei Unterstützung von ihrem<br />
Enkel Ben Peter. Tamar Tals Film, der in erster<br />
Linie ein Portrait der Beziehung dieser beiden<br />
Menschen ist, setzt ein, als der Fotoladen vom<br />
drohenden Abriss des Hauses gefährdet ist.<br />
Der generationelle Abstand zweier konträrer<br />
Temperamente, des sanften, offene Enkels und<br />
der schroffen, wenn auch nicht unherzlichen<br />
Großmutter, macht sich dabei auch in unterschiedlichen<br />
Ideen über die beste Pflege des<br />
fotografischen Erbes bemerkbar, während Miriam<br />
widerwillig damit ringt, sich mit den Realitäten<br />
ihres Alters – sie ist in ihren Neunzigern<br />
– auseinanderzusetzen und Ben Peter, der dabei<br />
ist, mit seinem Lebensgefährten Ofir zusammenzuziehen,<br />
sich bemüht, neben der Arbeit<br />
im Laden und der Pflege seiner Oma noch<br />
Raum für sich zu bewahren. Über all das wirft<br />
zu alledem immer wieder eine private Tragödie<br />
ihre Schatten: Miriam Weissensteins<br />
Tochter, Ben-Peters Mutter, wurde von nach<br />
30 Jahren Ehe von ihrem Mann ermordet, der<br />
sich danach selbst das Leben nahm. Tal montiert<br />
diese Ebenen und die dazugehörigen<br />
Bilderwelten: die dokumentarischen Beobachtung<br />
der Gegenwart von Miriam und Ben Peter,<br />
alte Super-8-Familienfilme und Weissensteins<br />
Archiv der Landesgeschichte in sachter<br />
Kollision zu einem zärtlichen Portrait einer<br />
innigen Amour fou in stürmischen Gewässern<br />
und einer von reichlich sarkastischem Humor<br />
empor gehaltenen Lebensfreude.<br />
sm<br />
Vito<br />
US 2012, Regie: Jeffrey Schwarz, Pro-Fun Media<br />
Mit Vito setzt Regisseur<br />
Jeffrey Schwarz seine Dokumentations-Reihe<br />
über<br />
außergewöhnliche Protagonisten<br />
der queeren Geschichte<br />
fort. Und liefert<br />
ein Standardwerk ab.<br />
Nichts an der Montage<br />
von O-Tönen, Zeitzeugeninterviews<br />
und eigenen Beobachtungen ist neu<br />
oder originell, dafür wird für nicht-heterosexuelle<br />
Filmfans kaum ein Leben so spannend sein<br />
wie das von Vito Russo. Schließlich ist der Autor<br />
von The Celluloid Closet der Vater der queeren<br />
Filmwissenschaften und hat Homos beigebracht,<br />
sich selbst in Filmen auch unter dicken<br />
Schichten von Heteronormativität wiederzufinden.<br />
Zwanzig Jahre lang, <strong>bis</strong> in seinem letzten<br />
Lebensjahrzehnt der Kampf gegen Aids<br />
wichtiger wurde, schon, weil er sich vielleicht<br />
selbst das Leben retten wollte. Was man hier<br />
lernen kann: Fröhlichkeit an politischer Arbeit,<br />
dass ein intellektueller Geist ohne eine Utopie<br />
vielleicht nichts weiter ist als eine große Vergeudung,<br />
dass der Stolz auf die eigene Person<br />
und das eigene Tun als Vorbild für andere vielleicht<br />
fast so wichtig sind wie das Tun selbst.<br />
Das haben viele, viele andere Queerlinge von<br />
42<br />
Vito Russo gelernt und Schwarz bietet hier Gelegenheit,<br />
diesen Gedanken wieder zu entdecken.<br />
Man sollte das tun.<br />
ps<br />
Yossi<br />
IL 2012, Regie: Eytan Fox, Pro-Fun Media<br />
Zehn Jahre nach der sensationell<br />
erfolgreichen<br />
Soldatenromanze Yossi &<br />
Jagger erzählt Regisseur<br />
Eytan Fox mit seinem<br />
Darsteller Ohad Knoller<br />
Yossis Geschichte weiter<br />
– als Einsamkeits- und<br />
Verpanzerungsstudie.<br />
„Etwas hängt ihm an. Eine unerledigte Liebe,<br />
auch nach dem Tod des Geliebten noch. Das<br />
plakative sexy Grün des Soldatenoveralls ist<br />
nur fadenscheinig ersetzt worden durch den<br />
grünen Ärztekittel und das <strong>bis</strong> obenhin zugeknöpfte<br />
grüne Ausgeh-Hemd. Für das Online-<br />
Date hängt er ein Foto von früher an, nicht, um<br />
zu täuschen, sondern weil er sich nur als Yossi<br />
von damals erträgt. Schließlich lüftet Fox das<br />
Geheimnis in einem Aktivitätsschub Yossis: Er<br />
besucht die zufällig als Patientin in sein Leben<br />
getretene Mutter von Jagger – zu Hause, das<br />
auch mal Jaggers Zuhause war, noch gibt es<br />
ein unangetastetes Jugendzimmer, mit Gitarre,<br />
Lavalampe, einem Modellpanzer und ganz<br />
vielen Musik-CDs. Dort, vor den Eltern, outet<br />
sich Yossi und outet Yossi den Sohn der beiden<br />
Ahnungslosen, die vor ihm sitzen und ihm<br />
Kekse anbieten. ‚Er wollte, dass Sie das wissen.‘<br />
Aber eigentlich muss er aussprechen, was<br />
ihn lähmt, seit zehn Jahren: dass er damals<br />
erst gar nicht, dann zu spät ‚Ich liebe dich‘ sagte<br />
und nicht weiß, ob der sterbende Freund es<br />
noch gehört hat. Das ist nicht das Problem der<br />
Eltern – es ist das Problem des Gefühlsamputierten<br />
und Herzkranken, und es war schon<br />
vorher da, bevor er Jagger kennen lernte und<br />
wieder verlor. 45 Minuten staut der Film <strong>bis</strong><br />
hierher Yossis Selbsthass auf. Und entlädt es in<br />
einem Bild von Palmen, Meer und Wüste – einem<br />
Poster in Jaggers Jugendzimmer, das der<br />
Vater ihm öffnet.“ (JK in SISSY 16)<br />
Skinny<br />
US 2012, Regie: Patrick-Ian Polk, Pro-Fun Media<br />
Skinny ist eine interessante<br />
afro-amerikanische<br />
Variation eines altbekannten<br />
schwulen Themas:<br />
Sex and the City.<br />
Eine Gruppe von Freunden<br />
versucht, während<br />
eines Wochenendes in<br />
New York so viel Freude<br />
und Geschlechtskontakte wie irgend möglich<br />
zu haben und unterhält sich dabei, in auf<br />
Windschnittigkeit getrimmten, hochgradig<br />
ironischen Dialogen, über nichts als Liebe, Sex<br />
und Oberflächlichkeiten. Wer nur auf der Suche<br />
nach Wahrhaftigkeit und einem Sinn im<br />
Leben ist, der sich auf etwas anderes als Konsum<br />
jeder Art reduziert, kann sich das hier<br />
sparen. Alle anderen machen sich vielleicht<br />
einfach eine Flasche Prosecco auf und kichern<br />
fröhlich mit, während auf dem Flachbildschirm<br />
mehr oder weniger nackte Jungs durch<br />
allerlei Absurditäten purzeln und dabei keine<br />
andere Botschaft haben als ihre eigene Schönheit<br />
und die Freude daran. Regisseur und<br />
Drehbuchautor Patrick-Ian Polk stellt hier filmisch<br />
nichts Neues auf die Beine und schreckt<br />
nicht mal davor zurück, seinen Film mit Wilson<br />
Cruz und Darryl Stephens zu garnieren,<br />
hat daran aber, genau wie das willige Publikum,<br />
einen Heidenspaß.<br />
ps<br />
GAYBY<br />
US 2012, Regie: Jonathan Lisecki, Pro-Fun Media<br />
Die Konjunktur der Romantic<br />
Comedy währt ungebrochen<br />
und eine Tendenz<br />
dazu, auch und<br />
gerade im Herzen der Industrie<br />
an den Parametern<br />
der Genrekonventionen<br />
zu schrauben, ist seit<br />
einiger Zeit unübersehbar<br />
und bescherte uns Konstellationen wie die von<br />
gescheitert bleibenden Paaren zu Bromances<br />
zu unerlöst bleibenden Problemheldinnen, die<br />
gegen eine ganze Batterie von Regeln dessen<br />
verstoßen, was einem <strong>Mai</strong>nstream-Publikum<br />
an weiblicher Hauptfigur angeblich zumutbar<br />
ist. Jonathan Liseckis Langfilmdebut Gayby lotet<br />
nun die Genregrenzen in queerer Hinsicht<br />
aus, mit Figuren, die eindeutig einem Independent-Kosmos<br />
entstiegen sind, wobei das Genre-<br />
Territorium andererseits nie aufgegeben wird.<br />
Das Setup bilden als dann Jenn, Yoga Lehrerin<br />
im Lebensabschnitts-Niemandsland, und ihr<br />
bester, schwuler Freund seit Collegetagen:<br />
Matt, der von Jenn in eine Kinderaufzuchtszweckgemeinschaft<br />
rekrutiert wird. Das solchermaßen<br />
anvisierte Gayby, dessen Zeugung<br />
zudem noch au naturelle vonstatten gehen soll,<br />
droht dann freilich mit den durchaus vorhanden<br />
zentrifugalen romantischen und sexuellen<br />
Aspirationen der beiden Hauptfiguren zu kollidieren.<br />
Sein beträchtliches komödiantisches<br />
Potential bezieht der Film dabei daraus, ein<br />
Figuren ensemble gegen eine dramaturgische<br />
Kon stellationen in Stellung zu bringen, wobei<br />
die Naturelle dieser Figuren mit den Konventionen<br />
einer Dramturgie unvereinbar sind, die<br />
Held_innen stets dazu anhält, einen Prozess<br />
der persönlichen Reifung zu durchlaufen. Regisseur<br />
Lisecki gibt in einem Nebenrollenauftritt<br />
Matts Arbeitskollegen und Buddy Nelson.<br />
Dieser ‚feminine bear‘ mit Inseminationsexpertise<br />
ist komödiantischer Kulminationspunkt<br />
wie Bruchstelle eines Kinos, dessen<br />
Motto „Own Your Cliches“ sein könnte. Dennoch,<br />
und gerade deswegen: The Kid will be<br />
allright.<br />
sm<br />
NATE & MARGARET<br />
US 2012, Regie: Nathan Adloff, Edition Salzgeber<br />
Die Witze, die Margaret<br />
erzählt, sind Witze, die einen<br />
Schmerz verdecken<br />
oder, genauer, solche, die,<br />
indem sie erzählt werden,<br />
den Erzähler besser damit<br />
leben lassen. Von Margarets<br />
Geschichte erfahren<br />
wir nur in Ahnungen, von<br />
ihrer Gegenwart erfahren wir mehr: In einem<br />
Apartmenthaus in Chicago lebt sie Tür an Tür<br />
mit Nate. Es ist eine unwahrscheinliche<br />
Freundschaft, die die beiden verbindet: die sarkastische<br />
Margret, Anfang fünfzig und Bedienung<br />
in einem Coffee-Shop, und der schüchterne<br />
Nate, neunzehn, schwul und angehender<br />
Filmemacher. Aus der weltvergessenen Selbstgenügsamkeit<br />
wird ihre Freundschaft gerissen,<br />
als Nate eine Beziehung mit dem extrovertierten<br />
James beginnt, und Margarets<br />
Wünsche nach einer Karriere als Stand-Up-<br />
Komikerin in Erfüllung zu gehen scheinen.<br />
Adloff inszeniert darin eine toll gespielte<br />
(Roseanne-Regular Natalie West und Newcomer<br />
Tyler Ross), an der eigenen Achse gespiegelte<br />
Coming-Of-Age-Geschichte. Margaret,<br />
einsam, aber nach außen gewandt, im Versuch,<br />
einem nicht eben glücklich verlaufenen<br />
Leben späten Sinn und Würde zu verleihen,<br />
Nate, Everybody’s Darling, aber zurückhaltend,<br />
im Versuch herauszufinden, was er vom<br />
Leben erwarten darf. Zwei Figuren, deren<br />
Verbundensein in dem Maß, in dem sie dabei<br />
sind, sich selbst zu entwerfen, einer neuen<br />
Begründung bedarf. Das Außen, gezielt auf<br />
weniger-dimensionale Nebenfiguren reduziert,<br />
gibt dafür die Begrenzung einer Welt,<br />
die auf Rechtfertigung drängt. Der Witz von<br />
Nate & Margaret, dessen Anklänge an Harold<br />
and Maude deutlich sind, von dem er sich aber<br />
auch emanzipiert, erschöpft sich nicht in der<br />
Dopplung von Margarets (auto-)aggressiven<br />
Stand-Up-Scherzen, sondern findet zu seinem<br />
eigenen, zwischen Lakonie und Drama changierenden<br />
Witz. Ein kleiner Film, der es nicht<br />
nötig hat, Ahnungen größerer Ambitionen<br />
zu insinuieren, weil er den Raum, den er sich<br />
schafft, ganz ausfüllt.<br />
sm<br />
Liebesrauschen<br />
P WWW.L-FILMNACHT.DE<br />
FR/CH 2012, Regie: Cyrill Legan, Pascal Latil, Adrienne<br />
Bovet u.a., Pro-Fun Media<br />
Sur le Départ heißt der<br />
wichtigste Grund, sich<br />
diese Sammlung guter<br />
französischer Kurzfilme<br />
anzuschaffen. Michael<br />
Dacheux’ mehrfach ausgezeichnetes<br />
Debüt erzählt<br />
in etwas weniger als<br />
einer Stunde eine Geschichte<br />
über Provinz und Paris, erste Liebe<br />
und den nächsten Schritt, Homos und Heteros.<br />
Seine Protagonisten haben keine Namen, sondern<br />
werden nur über die Instrumente beschrieben,<br />
die sie spielen: Klavier und Klarinette.<br />
Und während es das Klavier nach Paris<br />
zieht, wo „die Dämmerung ein Tor zu tausend<br />
Möglichkeiten“ ist, bleibt die Klarinette dort,<br />
wo die beiden aufgewachsen sind. Über Jahre<br />
lernen die beiden, was sie trennt, aber auch<br />
verbindet, und wo wer welche Melodie spielen<br />
muss, um er selbst zu werden oder zu bleiben.<br />
Ein hinreißendes Gefühlskaleidoskop, das von<br />
zwei jugendlichen Darstellern mehr als adäquat<br />
umgesetzt wird. Sacht und leise, sehr<br />
intensiv, aber nie kitschig. Ergänzt durch drei<br />
weitere kleine Filme, in denen es genauso liebesversessen<br />
zugeht, die ihren Schwerpunkt<br />
aber fleischlicher anlegen, ist Liebesrauschen<br />
der perfekte Ersatz für einen Kurztrip ins<br />
Französische. Sehr gut.<br />
ps<br />
ON THE ROAD<br />
US/BR/FR/UK 2012, Regie: Walter Salles, Concorde Video<br />
„Ein Film, dem alles zum<br />
Stoff geworden ist, nimmt<br />
Anhalter mit: einen Twilight-Star,<br />
der Proust<br />
liest, Sam aus Tron: Legacy,<br />
der Texte von Slim<br />
Gaillard rappt, und Aragorn,<br />
ohne Unterhose, im<br />
Orgon-Akkumulator. Unglaublich<br />
schöne Menschen, Gesichter, Körper.<br />
Landschaften, Autos. Die Straßenbilder<br />
zittern, die Tonspur knistert, Detailaufnahmen<br />
und große Gesten nehmen sich einen<br />
sinnlichen Entwurf vor, für den sich der Ausbruch<br />
lohnt, zumindest ins Kino.“ (Seite 37)<br />
ELLIOT LIEBT DICH<br />
US 2012, Regie: Terracino, Pro-Fun Media<br />
Elliot liebt dich ist deswegen<br />
eine so unbändige<br />
Freude von einem Film,<br />
weil Regisseur und Drehbuchautor<br />
Terracino seine<br />
Indie-Fabel über die Suche<br />
nach der großen Liebe,<br />
bei der einem die eigene<br />
Kindheit immer im<br />
Weg steht, mit großartigen Schauspielern besetzt<br />
hat und die sich die Seele aus dem Leib<br />
spielen. Nicht dumm, erotisch, witzig, sehr an-<br />
A PERFECT ENDING <strong>·</strong> LIPSTIKKA <strong>·</strong> ZWEI<br />
MÜTTER <strong>·</strong> JENSEITS DER MAUERN <strong>·</strong> I WANT<br />
YOUR LOVE <strong>·</strong> FREIER FALL<br />
WIR SEHEN UNS IM KINO: AACHEN, AUGSBURG, BERLIN, BREMEN, DARMSTADT,<br />
DRESDEN, FRANKFURT, FREIBURG, HALLE, HAMBURG, HANAU, HANNOVER,<br />
KARLSRUHE, KIEL, MAGDEBURG, MANNHEIM, MARBURG, MÜNCHEN, MÜNSTER,<br />
NÜRNBERG, OLDENBURG, POTSDAM, REGENSBURG, STUTTGART<br />
P WWW.GAY-FILMNACHT.DE
frisch ausgepackt<br />
profil<br />
rührend, mit einer Almodóvar-Mutter (Elena<br />
Goode) vom Allerfeinstem als geliebtem Hassobjekt<br />
– es ist kein Wunder, dass sich das Publikum<br />
auf Festivals rund um den Globus auf den<br />
Film als Favoriten einigen konnte. Und auch<br />
filmisch wird hier von Animationen über<br />
Flashbacks und eine hochintelligente Montage<br />
alles geboten, das Spaß macht, ohne einen Film<br />
zu überfrachten. Wie Terracino es schafft, die<br />
Perspektiven seines 21-jährigen Clubkids in<br />
New York mit der des verträumten neunjährigen<br />
Mamasöhnchens zu verschränken, das der<br />
einmal war, sollte man sich unbedingt ansehen<br />
und vielleicht auch anderen zeigen. ps<br />
LOST IN PARADISE<br />
VN 2011, Regie: Vu Ngoc Dang, Pro-Fun Media<br />
In seinem Bemühen,<br />
schwule Männer als sympathische<br />
Protagonisten<br />
darzustellen, ertränkt Vu<br />
Ngoc Dang sein Junger-<br />
Mann-kommt-nach-Ho-<br />
Chi-Min-Stadt-und-erlebt-jedes-vorstellbareschwule-Klischee-in-unter-anderthalb-Stunden-Werk<br />
fast in Kitsch.<br />
Aber nur fast. Lost in Paradise will alles gleichzeitig<br />
sein: Stricherballade, Komödie, Erotikstreifen,<br />
Aufklärungsfilm für Heterosexuelle,<br />
Kulturstudie, weiß dabei nicht, in welche<br />
Richtung er zuerst kippen soll und bleibt deswegen<br />
einfach aufrecht stehen. Er ist der erste<br />
Film seiner Art aus Vietnam und bekommt einen<br />
dicken Goodwill-Bonus. Und wenn man<br />
ihn als Studie darüber guckt, wo Filmemacher<br />
in anderen Ländern inzwischen beim Thema<br />
Homofilm gelandet sind, kann man hiermit<br />
amüsante 103 Minuten haben.<br />
ps<br />
El sexo de los ángeles –<br />
The Sex of Angels<br />
ES 2012, Regie: Xavier Villaverde, Pro-Fun Media<br />
A (Bruno, Student, zielorientiert)<br />
liebt B (Carla, Studentin<br />
aus gut situiertem<br />
Haus und Fotografin für<br />
ein selbstverwaltetes Uni-<br />
Magazin), und die beiden<br />
leben etwas, das man im<br />
Kontext ihres studentisch-bohemistischen<br />
Milieus<br />
wohl eine erwachsene Beziehung nennen<br />
könnte. Auftritt C (Rai, Street-Breakdancer, aus<br />
marginalisiertem Milieu, Freigeist). A verfällt C<br />
nach Zufallsbekanntschaft, sehr zum Leidwesen<br />
von B, die sich wiederum nach anfänglichem<br />
Schock aus Trotz Cs Reizen aussetzt, wobei<br />
auch aus diesem Spiel schnell Ernst wird.<br />
Rai, der proletarische Breakdancer und Karate-<br />
Lehrer, ist in dieser nicht ganz neuen Menage à<br />
trois ganz Körper, der mit der Kraft der Sehnsüchte,<br />
die er weckt, die domestizierte Beziehung<br />
des studentischen Paares aus den Fugen<br />
geraten lässt. Versuche, das im neuen Verlangen<br />
verlorene Gleichgewicht in allerlei Reglementierungen<br />
wieder herzustellen, scheitern und<br />
zünden die Idee, ob nicht die neue Unordnung<br />
der Geschlechter in Richtung eines größeren<br />
gemeinsamen Glücks zu sortieren wäre. Villaverdes<br />
kräftig-bunte Bilderwelt scheint aus einigen<br />
Erasmus-Arthouse-Hits der letzten Jahre<br />
vertraut, gerade dort, wo er aber in ein unbestimmtes<br />
Offene hinaustreten will, muss der<br />
Film sich allzuoft mit den Selbsterklärungen<br />
seiner Charaktere bescheiden, als dass es ihm<br />
gelänge, dieses Offene Bild werden zu lassen.<br />
Und ein Film, der dezidiert vom Anliegen beseelt<br />
ist, einem Begehren Raum zu schaffen, das<br />
die eingefahrenen Klischees heteronormativen<br />
Zweierbeziehungsglücks aufsprengt, muss sich<br />
die Frage gefallen lassen, warum er dafür einen<br />
ästhetischen Weg wählt, der penibel darauf bedacht<br />
ist, männlich-heterosexuelle Schauwert-<br />
Erwartungen nicht zu enttäuschen. sm<br />
MY WEEK WITH MARILYN<br />
US/UK 2011, Regie: Simon Curtis, Ascot Elite<br />
WHO KILLED MARILYN?<br />
FR 2011, Regie: Gérald Hustache-Mathieu, Koch Media<br />
Ein platinblondes Gespenst<br />
wird gejagt in den<br />
beiden Marilyn-Filmen,<br />
die gerade zu ihrem 50.<br />
Todestag erschienen sind.<br />
Verspielte Annäherungen<br />
an eine Gestalt aus Projektorlicht,<br />
mit schreibstubenfixiertem<br />
Interesse<br />
am Zusammenhang von<br />
Mensch und Rolle, Identität<br />
und Maske am Beispiel<br />
der Kino-Verführerin<br />
schlechthin. Den etwas<br />
gediegeneren Versuch<br />
unternimmt Simon Curtis<br />
mit seiner Erzählung<br />
von den Dreharbeiten zu<br />
Der Prinz und die Tänzerin, bei der Marilyns<br />
Actors-Studio-Hysterie auf klassisch britisches<br />
Theaterschauspiel stößt, vor den Augen eines<br />
Verführten, Verbündeten, Geliebten und Enttäuschten:<br />
Eddie Redmayne spielt den ‚dritten<br />
Regieassistenten‘, der hier seine aufregende<br />
Woche mit Marilyn erlebt und sie – das ist die<br />
eigentliche Männerphantasie dahinter – im<br />
privatesten Moment erlebt und im biblischen<br />
Sinn erkennt. Würde nicht Michelle Williams’<br />
Verkörperung noch eine weitere Geschichte erzählen<br />
über Rätsel und Mimikry, man könnte<br />
den Film auf den blondgefärbten Versuch reduzieren,<br />
an das gute, alte, folgenlose Hollywoodspiel<br />
anzuschließen.<br />
Ganz anders, doch nicht weniger verspielt,<br />
die französische Marilyn-Huldigung, die<br />
gleich ein paar Farbfilter mehr einzieht zwischen<br />
heutiger Kinomagie und historischer<br />
Verführungskraft. Marilyn taucht hier als<br />
Leiche einer Wiedergängerin auf, eines Provinz-Models<br />
für Weichkäse, deren Spiel mit<br />
doppelten Identitäten erst posthum von einem<br />
erfolglosen, mausgrauen Krimischriftsteller<br />
entdeckt wird. Immer mehr Parallelen tun<br />
sich auf zwischen Candice, dem Star des Niemandslands<br />
der französisch-schweizerischen<br />
Grenzregion, und dem, was man über den großen<br />
Hollywoodstar weiß, dessen Weg Candice<br />
dann doch nicht <strong>bis</strong> zum Ende gehen will. Im<br />
weißen Ödland ist der Hobbykriminalist ihr<br />
auf der vereisten Spur, umworben von Pensionswirtinnen<br />
und muskulösen Nachwuchspolizisten,<br />
wird dabei immer mehr zu ihr,<br />
d.h. zu Marilyn, mit der er sich ins sonnige<br />
Hollywood träumt, „California Dreaming on<br />
such a Winter’s Day“. Eifrig hat das Drehbuch<br />
hier die Referenzen aufgetürmt, den Kartoffelsack,<br />
JFK, Happy Birthday und die Fotoshootings<br />
des Milton Greene – und trotzdem<br />
ein Höchstmaß an Reibung zur französischen<br />
Jetztzeit-Kleinstadt herausgeschlagen, die<br />
aus dem Porträt einer Ungreifbaren ein skurriles<br />
Vergnügen macht.<br />
jk<br />
MAGIC MIKE<br />
US 2012, Regie: Steven Soderbergh, Concorde Video<br />
Das große Vorbild für Magic<br />
Mike war, so haben Regisseur<br />
Steven Soderbergh<br />
und Mastermind und<br />
Hauptdarsteller Channing<br />
Tatum immer wieder<br />
betont, Saturday Night Fever.<br />
Der ja kein wirklich<br />
guter Film ist, wenn man<br />
mal ehrlich ist und 30 Jahre Kult und die Bee-<br />
Gees abzieht. Vielleicht bleibt deswegen auch<br />
von der ungeraden Mischung aus sexualfeindlichem<br />
Sozialdrama und lustvoller Stripper-Posse,<br />
die Magic Mike ist, wenig übrig, wenn man<br />
die Aufregung um fünf nackte Hollywoodstars<br />
und die beste PR-Strategie des Jahres 2012 weg<br />
lässt. Aufregend wird es erst, wenn man die<br />
Stellen überspringt, in denen Cody Horn wie<br />
ein moralinsaures Stück Holz herumläuft und<br />
Soderbergh versucht, die Männerärsche im<br />
Film als Begründung für irgendwas zu benutzen,<br />
und sich nur die 50 Minuten des Films anguckt,<br />
in denen Matthew McConaughey als eitle,<br />
aber alternde Drecksau die beste Vorstellung<br />
seiner <strong>bis</strong>herigen Karriere abliefert und Channing<br />
Tatum, ohne ein Wort zu sagen, zugibt,<br />
dass er ein mittelmäßig begabtes, aber relativ<br />
gutaussehendes Menschenkind ist, das anderen<br />
mit seinem Körper gern Freude macht. Denn<br />
dann entwickelt man plötzlich eine unbändige<br />
Vorfreude darauf, was Magic Mike 2 in zwei<br />
Jahren werden könnte, wenn er sich traut:<br />
Showgirls mit Jungs.<br />
ps<br />
Nogger dir einen!<br />
von Harald Blaull<br />
„Linkes und Schönes“ so war das Motto des Anderen Buchladens, als er im Oktober 1977 in Mannheim<br />
eröffnet wurde. Er war damals wie heute nicht nur ein Buchladen, sondern eine Anlaufstelle und<br />
Kommunikations-Plattform. Schöne, nicht-heterosexuellen Filme auf DVD gibt es hier natürlich auch längst.<br />
Ein kleines Ladenporträt, vom Chef persönlich<br />
s „Was ist denn an eurem Buchladen so anders?“ Das ist<br />
eine Frage, die mir immer mal wieder gestellt wird. Dass<br />
er anders ist, erkennen dann die FragestellerInnen sehr<br />
schnell, wenn sie sich das Angebot ansehen. Ein großes<br />
Angebot von Büchern über die Nazi-Zeit findet man zum<br />
Beispiel sonst nicht so in den Mannheimer Buchhandlungen.<br />
Ziemlich undogmatisch für einen Linken Buchladen.<br />
Auch, dass man sich von Anfang an an Schwule und<br />
Lesben wandte, war vielen Nicht-Eingeweihten ziemlich<br />
suspekt. Und sowas in der „Provinz“ … Gründer Tommy<br />
Herrwerth hatte es nicht gerade einfach.<br />
So kümmerte sich in den Anfangszeiten nicht nur der<br />
Verfassungsschutz um den Laden, nein, auch die Firma<br />
Langnese beschwerte sich über die Verwendung ihres<br />
Werbespruchs „Nogger dir einen“ in Zusammenhang mit<br />
einem Foto, das einen nackten Mann darstellte. Nebenbei<br />
nahm sich der damalige Eigentümer, der heute noch den<br />
Buchladen sehr prägt, Zeit, um seinem Hobby zu frönen<br />
und drei Bücher zu schreiben, die sich um den Deutschen<br />
Schlager drehten.<br />
Als ich ihn 1999 übernommen habe, gehörte der Andere<br />
Buchladen schon zu den „alt eingesessen“ Geschäften<br />
in Mannheim, aber seine Zielgruppe ist dieselbe geblieben.<br />
Der Buchladen bietet alles, was die „LSBTTIQ“-<br />
Gemeinde so begehrt, nicht nur Bücher, sondern auch eine<br />
große Auswahl an Regenbogenartikeln und DVDs, wobei<br />
sich gerade im DVD-Bereich, der einen immer größeren<br />
Stellenwert einnimmt, doch Einiges getan hat.<br />
Der Buchladen bringt sich aktiv in das Leben der<br />
Community mit ein. Hier trifft sich schon seit Jahren<br />
die Schwul-Les<strong>bis</strong>che Initiative Mannheim (SchLIMM)<br />
und er ist auch Sitz des CSD Rhein-Neckar; gemeinsam<br />
wollen wir eine Verbesserung unserer Lebenssituation<br />
erreichen. Für mich geht es dabei auch darum, etwas<br />
zurückzugeben: als Schwuler, der auch in der Szene sein<br />
Geld verdient.<br />
Viele KundenInnen danken es auch dadurch, dass<br />
sie ihre Bücher nicht im Internet, sondern bei mir im<br />
Anderen Buchladen kaufen, auch Fachliteratur, die sich<br />
nicht im Buchladen-Sortiment befindet. Dies ist auch<br />
ein Ausdruck der gelebten LSBTTIQ-Familie! Gerade<br />
kleine Buchläden mit eigenem Profil sind Kleinode in den<br />
Innenstädten, die immer mehr von eintönigen Filialisten<br />
geprägt werden.<br />
s<br />
privat / Rentadesigner<br />
44<br />
45
abspann<br />
DVD-Bezugsquellen<br />
Nicht-heterosexuelle DVDs erhalten Sie unter anderem in den folgenden Läden. Die Auswahl<br />
wird laufend ergänzt. Bitte helfen Sie uns dabei!<br />
Berlin b_books Lübbenerstr. 14, 030/6117844 <strong>·</strong> Bruno’s Bülowstr.<br />
106, 030/61500385 <strong>·</strong> Saturn Potsdamer Platz Alte Potsdamer Straße 7 <strong>·</strong><br />
Bruno’s Schönhauser Allee 131, 030/61500387 <strong>·</strong> Dussmann Friedrichstr.<br />
90 <strong>·</strong> Filmgalerie 451 Torstr. 231, 030/23457911 <strong>·</strong> Galerie Janssen Pariser<br />
Str. 45, 030/8811590 <strong>·</strong> KaDeWe Tauentzienstr. 21–24 <strong>·</strong> Media Markt Alexa<br />
Grunerstr. 20 <strong>·</strong> Media Markt Neukölln Karl-Marx-Str. 66 <strong>·</strong> Negativeland<br />
Dunckerstr. 9 <strong>·</strong> Prinz Eisenherz Buchladen Lietzenburger Str.<br />
9a, 030/3139936 <strong>·</strong> Saturn alexanderplatz Alexanderplatz 7 <strong>·</strong> Saturn<br />
Europacenter Tauentzienstr. 9 <strong>·</strong> Video World Kottbusser Damm 73 <strong>·</strong> Videodrom<br />
Fürbringer Str. 17 bochum saturn Kortumstr. 72 darmstadt<br />
saturn Ludwigplatz 6 Düsseldorf Bookxxx Bismarckstr. 86,<br />
0211/356750 <strong>·</strong> Media Markt Friedrichstr. 129–133 <strong>·</strong> Saturn Königsallee 56<br />
<strong>·</strong> Saturn Am Wehrhahn 1 Essen Müller Limbecker Str. 59–65 Frankfurt/main<br />
Oscar Wilde Buchhandlung Alte Gasse 51, 069/281260 <strong>·</strong> Saturn<br />
Zeil 121 Hamburg Buchladen Männerschwarm Lange Reihe<br />
102, 040/436093 <strong>·</strong> Bruno’s Lange Reihe/Danziger Str. 70, 040/98238081<br />
<strong>·</strong> Media Markt Paul-Nevermann-Platz 15 Köln Bruno’s Kettengasse<br />
20, 0221/2725637 <strong>·</strong> Media Markt Hohe Str. 121 <strong>·</strong> Saturn Hansaring<br />
97 <strong>·</strong> Saturn Hohe Str. 41–53 leipzig Lehmanns Buchhandlung<br />
Grimmaische Str. 10 <strong>·</strong> Müller Petersstr. 28 <strong>·</strong> Saturn Hauptbahnhof<br />
Willy-Brandt-Platz 1 Mannheim Der Andere Buchladen M2 1,<br />
0621/21755 München Bruno’s Thalkirchner Str. 4, 089/97603858<br />
<strong>·</strong> Lillemor’s Frauenbuchladen Barerstr. 70, 089/2721205 <strong>·</strong> Saturn<br />
Schwanthalerstr. 115 <strong>·</strong> Saturn Neuhauser Str. 39 nürnberg Müller<br />
Königstr. 26 Stuttgart Buchladen Erlkönig Nesenbachstr. 52,<br />
0711/639139 trier media markt Ostallee 3–5 Tübingen Frauenbuchladen<br />
Thalestris Bursagasse 2, 07071/26590 Wien Buchhandlung<br />
Löwenherz Berggasse 8, + 43/1/13172982 Würzburg Müller<br />
Dominikanerplatz 4<br />
kinos<br />
Nicht-heterosexuelle Filme können Sie unter anderem in den folgenden Kinos sehen. Die Auswahl<br />
wird laufend ergänzt. Bitte helfen Sie uns dabei!<br />
Aachen Apollo Pontstr. 141, 0241/9008484 aalen Kino am Kocher<br />
Schleifbrückenstr. 15, 07361/5559994 Aschaffenburg Casino filmtheater<br />
Ohmbachsgasse 1, 06021/4510772 Bad Füssing Filmgalerie<br />
Sonnenstr. 4, 08531/980555 bamberg lichtspiel Untere Königstr. 34,<br />
0951/26785 Berlin acud Veteranenstr. 21, 030/44359498 <strong>·</strong> arsenal<br />
Potsdamer Str. 2, 030/26955100 <strong>·</strong> Kino International Karl-Marx-Allee 33,<br />
030/24756011 <strong>·</strong> Xenon Kino Kolonnenstr. 5–6, 030/78001530 <strong>·</strong> Cinemaxx<br />
Potsdamer Platz Potsdamer Str. 5, 01805/24636299 <strong>·</strong> eiszeit Zeughofstr.<br />
20, 030/6116016 <strong>·</strong> FSK am Oranienplatz Segitzdamm 2, 030/6142464 <strong>·</strong> Tilsiter<br />
Lichtspiele Richard-Sorge-Str. 25a, 030/4268129 <strong>·</strong> Zukunft Laskerstr.<br />
5, 0176/57861079 bochum Endstation Kino im Bhf. Langendreer<br />
Wallbaumweg 108, 0234/6871620 braunschweig C1 Cinema Lange Str.<br />
60 Bremen city 46 Birkenstr. 1, 0421/44963582 dortmund schauburg<br />
Brückstr. 66, 0231/9565606 <strong>·</strong> sweetsixteen Immermannstr. 29,<br />
0231/9106623 Dresden Kid – Kino im Dach Schandauer Str. 64,<br />
0351/3107373 <strong>·</strong> Thalia Görlitzer Str. 6, 0351/6524703 Erlangen Manhattan<br />
Güterhallenstr. 4, 09131/22223 Esslingen Kommunales<br />
Kino <strong>Mai</strong>lle 4–9, 0711/31059510 Frankfurt/<strong>Mai</strong>n Les<strong>bis</strong>ch-schwules<br />
Kulturhaus Klingerstr. 6, 069/293045 <strong>·</strong> Mal Seh’n Adlerflychtstr.<br />
6, 069/5970845 <strong>·</strong> Orfeos Erben Hamburger Allee 45, 069/70769100<br />
Freiburg Kommunales Kino Urachstr. 40, 0761/709033 <strong>·</strong> Harmonie<br />
Grünwälderstr. 16–18, 0761/3866510 Göttingen Kino Lumière<br />
Geismar Landstr. 19, 0551/484523 Halle Lux kino am zoo Seebener<br />
Str. 172, 0345/5238631 <strong>·</strong> Zazie Kleine Ulrichstr. 22, 0345/7792805 Hamburg<br />
Metropolis Kino Kleine Theaterstr. 10, 040/342353 <strong>·</strong> B-Movie<br />
Brigittenstr. 5, 040/4305867 <strong>·</strong> 3001 Schanzenstr. 75–77, 040/437679 Hannover<br />
kino im künstlerhaus Sophienstr. 2, 0511/16845522 <strong>·</strong> Kino<br />
im Sprengel K.-M.-Kilian-Weg 2, 0511/703814 karlsruhe Kinemathek<br />
Karlsruhe Kino im Prinz-Max-Palais Karlstr. 10, 0721/25041 <strong>·</strong><br />
Schauburg Marienstr. 16, 0721/3500018 Kiel Die Pumpe – Kommunales<br />
Kino Haßstr. 22, 0431/2007650 <strong>·</strong> Traum Kino Grasweg 48,<br />
0431/544450 Köln filmpalette Lübecker Str. 15, 0221/122112 Konstanz<br />
Zebra Kino Joseph-Belli-Weg 5, 07531/60162 Leipzig Passage<br />
Kino Hainstr. 19 a, 0341/2173865 <strong>·</strong> Schaubühne Lindenfels<br />
Karl-Heine-Str., 0341/4846211 magdeburg Studiokino<br />
Moritzplatz 1, 0391/2564925 Mannheim Cinema Quadrat Collinistr.<br />
5, 0621/1223454 <strong>·</strong> Cinemaxx N7 17, 01805/625466 Marburg Cineplex<br />
Biegenstr. 1a, 06421/17300 München Neues Arena Filmtheater<br />
Hans-Sachs-Str. 7, 089/2603265 <strong>·</strong> City Kino Sonnenstr. 12, 089/591983<br />
<strong>·</strong> CinemaxX Isartorplatz 8, 01805/24636299 Münster Cinema Filmtheater<br />
Warendorfer Str. 45–47, 0251/30300 Nürnberg Kommkino<br />
Königstr. 93, 0911/2448889 Offenburg forum Hauptstr. 111,<br />
0781/4350 Oldenburg Cine K Bahnhofstr. 11, 0441/2489646 Potsdam<br />
Thalia Arthouse Rudolf-Breitscheid-Str. 50, 0331/7437020 Regensburg<br />
Wintergarten Andreasstr. 28, 0941/2980963 Saarbrücken<br />
kino achteinhalb Nauwieser Str. 19, 0681/3908880 <strong>·</strong> Kino im<br />
Filmhaus <strong>Mai</strong>nzer Str. 8, 0681/372570 Schweinfurt KuK – Kino und<br />
Kneipe Ignaz-Schön-Str. 32, 09721/82358 Stuttgart Cinemaxx an<br />
der Liederhalle Robert-Bosch-Platz 1, 01805/24636299 Trier Broadway<br />
Filmtheater Paulinstr. 18, 0651/96657200 Weiterstadt Kommunales<br />
Kino Carl-Ulrich-Str. 9–11 / Bürgerzentrum, 06150/12185<br />
Impressum<br />
Herausgeber Björn Koll<br />
Verlag<br />
Salzgeber & Co. Medien GmbH<br />
Mehringdamm 33 <strong>·</strong> 10961 Berlin<br />
Telefon 030 / 285 290 90 <strong>·</strong> Telefax 030 / 285 290 99<br />
Redaktion Jan Künemund, presse@salzgeber.de<br />
Art Director Johann Peter Werth, werth@salzgeber.de<br />
Autoren Martin Arz, Biru David Binder, Harald Blaull, Vaginal Davis, Gunther<br />
Geltinger, Richard Gersch, Malte Göbel, Fritz Göttler, Andreas Heimann,<br />
Enrico Ippolito, Jan Künemund, Sebastian Markt, Christoph Meyring,<br />
Paul Schulz, <strong>Mai</strong>ke Schultz, Oliver Sechting, André Wendler, Tania Witte<br />
Anzeigen Jan Nurja, nurja@salzgeber.de<br />
Es gilt die Anzeigenpreisliste 01/<strong>2013</strong> (www.sissymag.de/media).<br />
SISSY erscheint alle drei Monate, jeweils für den Zeitraum Dezember/<br />
Januar/Februar – <strong>März</strong>/April/<strong>Mai</strong> – Juni/Juli/August – September/<br />
Oktober/November. Auflage: 20.000 Exemplare (Druckauflage).<br />
Druck<br />
Möller Druck, Berlin<br />
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der Texte als auch der Bilder zu kommerziellen Zwecken bedürfen einer<br />
schriftlichen Genehmigung des Herausgebers.<br />
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Buchläden und in den L- und Gay-Filmnacht-Kinos. potsdam<br />
Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“. berlin BarbieBar,<br />
Deutsche Film- und Fernsehakademie, La Dolce Vita Naturkost. bochum<br />
Orlando. kiel Birdcage. hamburg Café Gnosa, Café unter den Linden,<br />
Jimmy Elsass. köln Café Era, Bastard Bar, Kunsthochschule für<br />
Medien. münchen Moro, Kraftakt, Sub e.V. stuttgart Rubens Home,<br />
Jakobstube. frankfurt/main Bar Central. leipzig Rosa Archiv, Rosa<br />
Linde e.V.. düsseldorf Café Seitensprung. hannover Café Caldo, Café<br />
Konrad. mainz Bar jeder Sicht. nürnberg Fliederlich e.V., Café Fatal.<br />
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Auch das noch …<br />
Am Rande der Berlinale: Solidarität für Pola Kinski.<br />
ISSN 1868-4009<br />
daniel Ammann<br />
Tripper und Chlamydien gehören zu den häufigsten sexuell übertragbaren Infektionen (STIs). Betroffen sind vor allem die Harnröhre,<br />
der Enddarm und der Rachen. Im Arsch ist die Infektion aber auch häufig symptomlos. Lass Dich deshalb mindestens einmal im Jahr auf STIs<br />
testen! Alle Angebote der ICH WEISS WAS ICH TU – TESTWOCHEN in Deiner Region findest Du ganz einfach unter www.iwwit.de/testwochen<br />
www.iwwit.de/testwochen<br />
46
»Das neue Traumpaar des deutschen Kinos!«<br />
RBB RADIO EINS<br />
»Die deutsche Antwort auf BROKEBACK MOUNTAIN!«<br />
3SAT<br />
»FREIER FALL beeindruckt mit seiner ausgespielten Körperlichkeit, der gekonnten Beiläufigkeit<br />
der Dialoge und einer vibrierenden Darstellungskraft <strong>bis</strong> in die Nebenrollen!«<br />
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG<br />
Ab 23. <strong>Mai</strong> im Kino