16/7471 - GNMH.de
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Deutscher Bun<strong>de</strong>stag Drucksache <strong>16</strong>/<strong>7471</strong><br />
<strong>16</strong>. Wahlperio<strong>de</strong> 12. 12. 2007<br />
Antrag<br />
<strong>de</strong>r Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Diana Golze, Katja Kipping,<br />
Elke Reinke, Volker Schnei<strong>de</strong>r (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth,<br />
Jörn Wun<strong>de</strong>rlich und <strong>de</strong>r Fraktion DIE LINKE.<br />
Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgaben<br />
stärken – Gesellschaftliche Teilhabe für alle ermöglichen<br />
Der Bun<strong>de</strong>stag wolle beschließen:<br />
I. Der Deutsche Bun<strong>de</strong>stag stellt fest:<br />
Eine zentrale Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung<br />
je<strong>de</strong>s Einzelnen ist Gesundheit. Sie wird nicht nur durch eigenverantwortliches<br />
Han<strong>de</strong>ln erhalten und geför<strong>de</strong>rt, son<strong>de</strong>rn ist auch ganz wesentlich<br />
ein Produkt <strong>de</strong>r gesellschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen.<br />
Einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Einfluss auf die Gesundheit hat die soziale Lage. Es ist<br />
bekannt, dass Personen mit einer geringeren Bildung, einer niedrigen beruflichen<br />
Stellung und/o<strong>de</strong>r einem geringen Einkommen in <strong>de</strong>r Regel früher sterben.<br />
Gleichzeitig lei<strong>de</strong>n sie häufiger an chronischen Erkrankungen und <strong>de</strong>n damit<br />
verbun<strong>de</strong>nen Auswirkungen auf die Lebensqualität. Je höher die soziale<br />
Schicht, <strong>de</strong>sto geringer ist dagegen die Wahrscheinlichkeit, frühzeitig zu erkranken<br />
bzw. zu sterben (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
im Gesundheitswesen: Gutachten 2007).<br />
Eine Trendwen<strong>de</strong> ist unter <strong>de</strong>n gegebenen Bedingungen nicht zu erwarten. Ganz<br />
im Gegenteil: Die Schere zwischen Arm und Reich geht sogar zunehmend<br />
auseinan<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n damit verbun<strong>de</strong>nen Auswirkungen auf die Gesundheitschancen.<br />
Äußerst be<strong>de</strong>nklich ist, dass vor allem Kin<strong>de</strong>r von Armut betroffen<br />
sind und einem immer höheren Armutsrisiko unterliegen.<br />
Die Aufgabe, die soziale Ungleichheit <strong>de</strong>r Gesundheitschancen zu verringern,<br />
kann von <strong>de</strong>r Gesundheitspolitik nicht allein bewältigt wer<strong>de</strong>n: Gesundheitspolitik<br />
kann immer nur einen Teil <strong>de</strong>r sozial bedingten ungleichen Gesundheitschancen<br />
kompensieren. Die Einflüsse <strong>de</strong>s Arbeitsmarktes, <strong>de</strong>r Einkommensverteilung<br />
und <strong>de</strong>r Bildungspolitik sind so groß, dass Prävention allenfalls<br />
nur Gegenakzente setzen kann. Nur eine gesundheitsför<strong>de</strong>rliche Gesamtpolitik<br />
vermag es, sichere, anregen<strong>de</strong>, befriedigen<strong>de</strong> und angenehme Arbeits- und<br />
Lebensbedingungen herzustellen und Wohlbefin<strong>de</strong>n umfassend zu för<strong>de</strong>rn. Gesundheitsför<strong>de</strong>rung<br />
muss daher eine Aufgabe aller Politikbereiche sein und vor<br />
allem in <strong>de</strong>r Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Sozial-, Bildungs-,<br />
Sport-, Umwelt-, Verkehrs- und Wohnungspolitik umgesetzt wer<strong>de</strong>n.<br />
Es sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, die verän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n müssen, um<br />
die zentralen Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit beseitigen zu können. Ein<br />
wichtiger Bestandteil einer gesundheitsför<strong>de</strong>rlichen Gesamtpolitik ist ein mo<strong>de</strong>rnes<br />
und vorausschauen<strong>de</strong>s Gesundheitswesen. Die Bun<strong>de</strong>srepublik Deutsch-
Drucksache <strong>16</strong>/<strong>7471</strong> – 2 – Deutscher Bun<strong>de</strong>stag – <strong>16</strong>. Wahlperio<strong>de</strong><br />
land verfügt zwar über eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung,<br />
jedoch ist das Gesundheitswesen bislang zu einseitig auf Akutmedizin ausgerichtet.<br />
Chronische Krankheiten und ihre Entstehungsmechanismen wer<strong>de</strong>n<br />
vom bun<strong>de</strong>s<strong>de</strong>utschen Gesundheitswesen dagegen viel zu wenig bekämpft. Die<br />
Stärkung <strong>de</strong>r Prävention ist daher dringend erfor<strong>de</strong>rlich, um dieser Entwicklung<br />
entgegenwirken zu können.<br />
Ein Präventionsgesetz ist längst überfällig. Es gibt zahlreiche Mo<strong>de</strong>llprojekte,<br />
Initiativen, Programme und Aktionen im Bereich <strong>de</strong>r Prävention. Doch die dort<br />
gewonnenen Erkenntnisse und positiven Erfahrungen wer<strong>de</strong>n meist nicht bzw.<br />
nur ungenügend genutzt und weiterentwickelt. Es fehlt an Koordinierung und<br />
Nachhaltigkeit. Für eine wirksame Präventionspolitik muss endlich eine funktionsfähige,<br />
flächen<strong>de</strong>cken<strong>de</strong> Infrastruktur geschaffen wer<strong>de</strong>n, um vom Aktionismus<br />
hin zur Verstetigung zu kommen. Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention<br />
sind zur ersten Säule <strong>de</strong>r Gesundheitssicherung auszubauen und <strong>de</strong>r Kuration,<br />
Rehabilitation und Pflege voranzustellen.<br />
Prioritäres Ziel eines Präventionsgesetzes muss sein, die sozial-, geschlechtsund<br />
migrationsbedingte Ungleichheit <strong>de</strong>r Gesundheitschancen zu verringern.<br />
Eine zentrale Voraussetzung hierfür ist, dass Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention<br />
so früh wie möglich ansetzen. Denn die Ursachen <strong>de</strong>r meisten Krankheiten<br />
liegen in früheren Lebensjahren, sodass die gesundheitliche Lage im Kin<strong>de</strong>salter<br />
langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit eines Menschen haben kann.<br />
Aufklärung, Information und Beratung allein reichen für eine erfolgreiche Präventionspolitik<br />
nicht aus. Sie appellieren zumeist an die Eigenverantwortung <strong>de</strong>r<br />
Menschen, blen<strong>de</strong>n zum Teil <strong>de</strong>n Alltag und die Realität <strong>de</strong>r Menschen aus und<br />
gehen dadurch zentrale Ursachen von Gesundheitsrisiken und -chancen nicht an.<br />
Viele Einflüsse auf die persönliche Gesundheit gehen von <strong>de</strong>r alltäglichen Umwelt<br />
aus. Gefragt sind daher Ansätze, die in <strong>de</strong>n Lebenswelten <strong>de</strong>r Menschen<br />
wirken. Damit die Attraktivität <strong>de</strong>r jeweiligen Angebote erhöht und ihre Wirksamkeit<br />
und Nachhaltigkeit gewährleistet wer<strong>de</strong>n, müssen die Menschen an <strong>de</strong>r<br />
Planung, Gestaltung und Umsetzung aktiv beteiligt wer<strong>de</strong>n. Partizipation wird<br />
damit zur Schlüsselgröße von Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention.<br />
Damit Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention zum Fundament <strong>de</strong>r Gesundheitspolitik<br />
wer<strong>de</strong>n, ist ein Präventionsgesetz dringend erfor<strong>de</strong>rlich. Obwohl die<br />
Bun<strong>de</strong>sministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt, En<strong>de</strong> November 2007 <strong>de</strong>n<br />
Bun<strong>de</strong>stagsfraktionen einen Referentenentwurf für ein Präventionsgesetz zugeleitet<br />
hat, dauern die Streitigkeiten innerhalb <strong>de</strong>r Koalition weiter an. Eine Einigung<br />
ist nicht in Sicht und ein Scheitern <strong>de</strong>s Präventionsgesetzes nicht mehr auszuschließen.<br />
II. Der Deutsche Bun<strong>de</strong>stag for<strong>de</strong>rt die Bun<strong>de</strong>sregierung auf,<br />
1. schnellstmöglich einen Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Gesundheitsför<strong>de</strong>rung<br />
und Prävention vorzulegen, <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong> Eckpfeiler umfasst:<br />
a) eine Ziel- und Umfangsbestimmung von Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention<br />
in folgen<strong>de</strong>m Sinne:<br />
● Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention wer<strong>de</strong>n als gesamtgesellschaftliche<br />
Aufgaben anerkannt und <strong>de</strong>mentsprechend ausgestaltet.<br />
Der Aufbau einer neuen, ersten Säule „Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention“<br />
<strong>de</strong>r Gesundheitssicherung, die <strong>de</strong>r Kuration, Rehabilitation<br />
und Pflege vorangestellt wird, ist zu gewährleisten.<br />
● Die Strategie <strong>de</strong>s Gen<strong>de</strong>r Mainstreamings ist verbindlich in <strong>de</strong>r Gesundheitsför<strong>de</strong>rung<br />
und Prävention zu verankern.
Deutscher Bun<strong>de</strong>stag – <strong>16</strong>. Wahlperio<strong>de</strong> – 3 – Drucksache <strong>16</strong>/<strong>7471</strong><br />
● Maßnahmen <strong>de</strong>r Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention sollen die Gesundheitschancen<br />
<strong>de</strong>r gesamten Bevölkerung verbessern, aber prioritär<br />
dazu beitragen, die sozial-, geschlechts- und migrationsbedingte Ungleichheit<br />
von Gesundheitschancen zu verringern; dazu sind konkrete<br />
quantitative Zielvorgaben festzulegen.<br />
● Alle Präventionsmaßnahmen sind an bun<strong>de</strong>seinheitlichen Präventionszielen<br />
auszurichten und für alle an <strong>de</strong>r Prävention Beteiligten verbindlich.<br />
● Die Unterstützung von Leistungen <strong>de</strong>r Verhaltensprävention ist davon<br />
abhängig zu machen, ob ihre Wirksamkeit wissenschaftlich hinreichend<br />
belegt ist.<br />
● Eine <strong>de</strong>utliche Stärkung <strong>de</strong>r lebensweltbezogenen Prävention ist vorzunehmen.<br />
Zwei Drittel <strong>de</strong>r Ausgaben für nichtmedizinische Primärprävention<br />
müssen in Projekte und Programme <strong>de</strong>r lebensweltbezogenen<br />
Prävention fließen.<br />
● Zu berücksichtigen ist, dass Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention so<br />
früh wie möglich ansetzen müssen, da im Kin<strong>de</strong>s- und Jugendalter die<br />
zentralen Weichenstellungen für die gesundheitliche Entwicklung im<br />
weiteren Lebenslauf gestellt wer<strong>de</strong>n. Dennoch sollte Gesundheitsför<strong>de</strong>rung<br />
und Prävention von jung bis alt organisiert wer<strong>de</strong>n.<br />
● Die Qualitätssicherung muss verbindlich wer<strong>de</strong>n: ihre Befun<strong>de</strong> sind<br />
zentral zur Qualitätsverbesserung und Wirkungsmessung auszuwerten;<br />
b) eine Organisationsstruktur in folgen<strong>de</strong>r Richtung:<br />
● Es ist eine Koordinierungs- und Entscheidungsstelle auf Bun<strong>de</strong>sebene<br />
zu schaffen, die organisatorisch an die Bun<strong>de</strong>szentrale für gesundheitliche<br />
Aufklärung angebun<strong>de</strong>n wird und über eigene finanzielle Mittel<br />
im Rahmen eines Fonds verfügt. Dem Gremium gehören Vertreterinnen<br />
und Vertreter <strong>de</strong>r Wissenschaft, aller Finanzierungsträger, <strong>de</strong>r<br />
Ärzteschaft,<strong>de</strong>sDeutschenOlympischenSportbun<strong>de</strong>s (DOSB),<strong>de</strong>s<br />
Bun<strong>de</strong>srats, <strong>de</strong>r kommunalen Spitzenverbän<strong>de</strong> sowie von Patientenund<br />
Selbsthilfeorganisationen an. Zentral wer<strong>de</strong>n so bun<strong>de</strong>seinheitliche<br />
und verbindliche Präventionsziele festgelegt, Empfehlungen für<br />
die Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Präventionsforschung gegeben und die<br />
Qualitätsberichte zusammengeführt.<br />
● Es sind Strategien zu entwickeln, wie partizipative Entscheidungsstrukturen<br />
von <strong>de</strong>r Konzeption von Projekten und Programmen <strong>de</strong>r<br />
Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention bis hin zur Qualitätssicherung<br />
gewährleistet wer<strong>de</strong>n können.<br />
● Vorhan<strong>de</strong>ne bewährte Strukturen auf Lan<strong>de</strong>s- und kommunaler Ebene<br />
sind so weiterzuentwickeln, dass sinnvolle und integrieren<strong>de</strong> Präventionsmaßnahmen<br />
verstetigt und damit institutionell anerkannt wer<strong>de</strong>n<br />
können. Der Grad <strong>de</strong>r Vernetzung ist zu erhöhen.<br />
● Ein Präventionsbericht ist von <strong>de</strong>r Koordinierungs- und Entscheidungsstelle<br />
auf Bun<strong>de</strong>sebene alle vier Jahre <strong>de</strong>m Bun<strong>de</strong>stag und Bun<strong>de</strong>srat<br />
vorzulegen;<br />
c) folgen<strong>de</strong> Prämisse in <strong>de</strong>r Finanzierung:<br />
● Die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Gesundheitsför<strong>de</strong>rung<br />
und Prävention muss in <strong>de</strong>r Finanzierung zum Ausdruck kommen.<br />
Bund, Län<strong>de</strong>r und Kommunen müssen sich ebenso wie die Sozialversicherungszweige<br />
und die Private Kranken- und Pflegeversicherung
Drucksache <strong>16</strong>/<strong>7471</strong> – 4 – Deutscher Bun<strong>de</strong>stag – <strong>16</strong>. Wahlperio<strong>de</strong><br />
beteiligen. Zusätzlich sind zum Start aus <strong>de</strong>m Bun<strong>de</strong>shaushalt in <strong>de</strong>n<br />
nächsten vier Jahren jeweils 1 Mrd. Euro an <strong>de</strong>n Fonds zu überweisen.<br />
● Von <strong>de</strong>n Gesamtmitteln können 75 Prozent von <strong>de</strong>r kommunalen Ebene<br />
abgerufen wer<strong>de</strong>n, das entspricht <strong>de</strong>m Ansatz, die Entscheidungen im<br />
Gesundheitswesen zu <strong>de</strong>mokratisieren. Die Lan<strong>de</strong>s- und kommunalen<br />
Mittel sind generell zur Kofinanzierung einzusetzen.<br />
● Nach Abschluss <strong>de</strong>r Aufbauphase ist <strong>de</strong>r Finanzierungsbeitrag <strong>de</strong>s<br />
Bun<strong>de</strong>s für die Folgejahre festzulegen.<br />
● Zu prüfen ist, ob über eine zweckgebun<strong>de</strong>ne Abgabe die (Verursacher-)Industrie<br />
beteiligt wer<strong>de</strong>n kann;<br />
2. eine umfassen<strong>de</strong> und systematische Forschungsstrategie zur Verringerung<br />
<strong>de</strong>r gesundheitlichen Ungleichheit zu entwickeln, <strong>de</strong>ren Programme finanziell<br />
abgesichert und mit hoher Qualität und Transparenz durchgeführt wer<strong>de</strong>n;<br />
3. für das Ziel einer gesundheitlichen Chancengleichheit eine gesundheitsför<strong>de</strong>rliche<br />
Gesamtpolitik zu entwickeln, die darauf zielt, die Ursachen sozialer<br />
Ungleichheit und Armut zu beseitigen. Gleichzeitig sind die Gesetzentwürfe,<br />
die einen Einfluss auf die Gesundheit haben könnten, einer Prüfung hinsichtlich<br />
ihrer Auswirkungen auf die gesundheitliche Ungleichheit zu unterziehen.<br />
Berlin, <strong>de</strong>n 11. Dezember 2007<br />
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion<br />
Begründung<br />
Auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r primären Prävention besteht in Deutschland eine erhebliche<br />
Unterversorgung. Dies hat <strong>de</strong>r Sachverständigenrat zur Begutachtung <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
im Gesundheitswesen bereits in seinen früheren Gutachten konstatiert<br />
und sich in seinem diesjährigen Gutachten für die Verabschiedung eines Präventionsgesetzes<br />
in dieser Legislaturperio<strong>de</strong> ausgesprochen. Seines Erachtens sollten<br />
Interventionen in <strong>de</strong>r Regel fünf Anfor<strong>de</strong>rungen genügen. Sie sollten<br />
1. sich nicht nur darauf konzentrieren, gesundheitliche Belastungen zu senken,<br />
son<strong>de</strong>rn auch gesundheitliche bzw. gesundheitsdienliche Ressourcen stärken,<br />
2. nicht nur krankheitsspezifische, son<strong>de</strong>rn auch unspezifische Belastungen und<br />
Ressourcen beeinflussen,<br />
3. auf eine Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Lebenswelten in Richtung Gesundheitsför<strong>de</strong>rlichkeit<br />
zielen und<br />
4. die Zielgruppen so umfassend wie möglich von <strong>de</strong>r Konzeption bis zur Qualitätssicherung<br />
beteiligen.<br />
Schließlich sollen im Falle von komplexen Präventionsprojekten in Lebenswelten<br />
auch „viel versprechen<strong>de</strong>“ Interventionen geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.<br />
Auf <strong>de</strong>r Grundlage dieser Empfehlungen soll <strong>de</strong>r quantitative und qualitative<br />
Ausbau von Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention erfolgen. Während die Primärprävention<br />
Maßnahmen und Strategien bezeichnet, die darauf zielen, bestimmte<br />
Erkrankungen zu vermei<strong>de</strong>n bzw. ihre Eintrittswahrscheinlichkeit zu<br />
senken, unterstreicht <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Gesundheitsför<strong>de</strong>rung ausdrücklich <strong>de</strong>n
Deutscher Bun<strong>de</strong>stag – <strong>16</strong>. Wahlperio<strong>de</strong> – 5 – Drucksache <strong>16</strong>/<strong>7471</strong><br />
Aspekt <strong>de</strong>r Ressourcenstärkung. Gemäß <strong>de</strong>r Ottawa-Charta von 1986 zielt die<br />
Gesundheitsför<strong>de</strong>rung in ihrer Gesamtheit auf die För<strong>de</strong>rung umfassen<strong>de</strong>n<br />
Wohlbefin<strong>de</strong>ns und ver<strong>de</strong>utlicht damit das Erfor<strong>de</strong>rnis einer integrierten Handlungsstrategie.<br />
Angesichts <strong>de</strong>s engen Zusammenhangs von Gesundheit und<br />
sozialer Ungleichheit sind die sozialen Determinanten von Gesundheit in <strong>de</strong>n<br />
Blick zu nehmen.<br />
Diese Erkenntnis wird auch von <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung weitgehend ausgeblen<strong>de</strong>t.<br />
Sie bekämpft nicht die zentralen Ursachen <strong>de</strong>r stark unterschiedlichen Gesundheitschancen.<br />
Ganz im Gegenteil: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verdienen<br />
gegenwärtig real gera<strong>de</strong> so viel wie vor 15 Jahren. Die Lohnquote sinkt seit<br />
Jahren. Zu<strong>de</strong>m schützt Erwerbstätigkeit nicht mehr ausreichend vor Armut: So<br />
sind immer mehr Vollzeiterwerbstätige ergänzend zu ihrem Einkommen auf<br />
Arbeitslosengeld II angewiesen. Die Armutsrisikoquote weist – so <strong>de</strong>r zweite<br />
Armuts- und Reichtumsbericht – einen kontinuierlichen Anstieg auf. Betroffen<br />
sind vor allem Kin<strong>de</strong>r. Rund 2,6 Millionen von ihnen leben bereits in Armut.<br />
Gleichzeitig fin<strong>de</strong>t eine starke Vermögenskonzentration statt, wie eine Studie<br />
<strong>de</strong>s DIW Berlin vom November 2007 aufzeigt. Demnach verfügen rund zwei<br />
Drittel <strong>de</strong>r Bevölkerung ab 17 Jahren über kein o<strong>de</strong>r nur ein sehr geringes Vermögen,<br />
während 10 Prozent <strong>de</strong>r Bevölkerung fast zwei Drittel <strong>de</strong>s Vermögens<br />
besitzen. Zu<strong>de</strong>m sind wir von einer Chancengleichheit im Bildungssystem weit<br />
entfernt: In keinem an<strong>de</strong>ren Industrieland entschei<strong>de</strong>t die soziale Herkunft so<br />
stark über die Bildungschancen und damit sowohl über die späteren Lebens- und<br />
Arbeitsbedingungen als auch über die Gesundheitschancen wie in Deutschland.<br />
In welchem Umfang bereits zum heutigen Zeitpunkt prekäre Lebensbedingungen<br />
einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Einfluss auf <strong>de</strong>n Gesundheitszustand haben, hat zuletzt<br />
<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS) aufgezeigt. Doch angesichts<br />
<strong>de</strong>r gegenwärtigen Wirtschafts-, Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik<br />
ist künftig eher mit einer Zunahme <strong>de</strong>r sozial bedingten Ungleichheit von<br />
Gesundheitschancen zu rechnen. Eine stetige Zunahme psychischer Erkrankungen<br />
ist bereits zu verzeichnen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bereits<br />
im letzten Jahr die seelische Gesundheit als die neue Herausfor<strong>de</strong>rung i<strong>de</strong>ntifiziert.<br />
Sie schätzt, dass psychische Erkrankungen im Jahr 2020 die am häufigsten<br />
auftreten<strong>de</strong>n Krankheiten sein wer<strong>de</strong>n.<br />
Ein Präventionsgesetz allein kann also die bestehen<strong>de</strong> soziale Chancenungleichheit<br />
nicht ausgleichen, son<strong>de</strong>rn lediglich Gegenakzente setzen und zumin<strong>de</strong>st<br />
dazu beitragen, das Thema <strong>de</strong>r sozial bedingten Ungleichheit <strong>de</strong>r Gesundheitschancen<br />
auf <strong>de</strong>r Agenda zu halten. Entschei<strong>de</strong>nd ist daher, dass Gesundheitsför<strong>de</strong>rung<br />
in allen Politikfel<strong>de</strong>rn umgesetzt wird. Ein wesentlicher Ansatzpunkt<br />
hierfür ist, alle Gesetzentwürfe, die Auswirkungen auf die Gesundheit<br />
haben könnten, hinsichtlich ihrer Wirkungen auf die gesundheitliche Ungleichheit<br />
zu überprüfen. Ein Präventionsgesetz schafft aber insbeson<strong>de</strong>re die Voraussetzungen<br />
dafür, Menschen vor Ort unmittelbar erreichen und unterstützen zu<br />
können. Deshalb müssen die Maßnahmen <strong>de</strong>r nichtmedizinischen Primärprävention<br />
hauptsächlich in <strong>de</strong>n Lebenswelten <strong>de</strong>r Menschen ansetzen. Damit die<br />
so genannten Setting-Ansätze nachhaltig gestärkt wer<strong>de</strong>n, sind hierfür zwei<br />
Drittel <strong>de</strong>r Mittel für die nichtmedizinische Primärprävention vorgesehen. Im<br />
Unterschied zur Verhaltensprävention sind die gesundheitlichen Wirkungen anspruchsvoller,<br />
komplexer Interventionen wie <strong>de</strong>n Setting-Projekten in Stadtteilen,<br />
Schulen etc. nicht leicht messbar. Vor Aufnahme <strong>de</strong>r Intervention sollte<br />
daher ein konsensfähiges Konzept <strong>de</strong>r Qualitätssicherung vorgelegt wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Informationen und Befun<strong>de</strong> hinsichtlich ihrer Qualität und Wirksamkeit sind<br />
zentral zusammenzuführen und auszuwerten. Insgesamt ist <strong>de</strong>r Ausbau <strong>de</strong>r Forschung<br />
eine wesentliche Voraussetzung für die notwendige Weiterentwicklung<br />
<strong>de</strong>r Primärprävention. Ein beson<strong>de</strong>rer Fokus ist auf Vorhaben zu sozial Benachteiligten<br />
zu legen, wie vom Sachverständigenrat in seinem aktuellen Gutachten<br />
empfohlen.
Drucksache <strong>16</strong>/<strong>7471</strong> – 6 – Deutscher Bun<strong>de</strong>stag – <strong>16</strong>. Wahlperio<strong>de</strong><br />
Es ist ein Koordinierungs- und Entscheidungsgremium auf Bun<strong>de</strong>sebene zu<br />
schaffen, damit die für die nichtmedizinische Primärprävention zur Verfügung<br />
gestellten Mittel über ein zentrales Gremium gebün<strong>de</strong>lt und zielgerecht zur Verfügung<br />
gestellt wer<strong>de</strong>n können. Zu<strong>de</strong>m ist es ein Gebot <strong>de</strong>s Grundgesetzes, einheitliche<br />
Lebensverhältnisse in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland zu gestalten.<br />
Die Präventionsziele sollten daher auf Bun<strong>de</strong>sebene entwickelt und verbindlich<br />
festgelegt wer<strong>de</strong>n. Die organisatorische Anbindung <strong>de</strong>s Gremiums an die Bun<strong>de</strong>szentrale<br />
für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ermöglicht eine Vernetzung<br />
mit <strong>de</strong>m dort betreuten bun<strong>de</strong>sweiten Kooperationsverbund „Gesundheitsför<strong>de</strong>rung<br />
bei sozial Benachteiligten“. Das bun<strong>de</strong>sweite Gremium kann auf Ebene <strong>de</strong>r<br />
Län<strong>de</strong>r auf vorhan<strong>de</strong>ne Strukturen aufbauen, insbeson<strong>de</strong>re auf die jeweiligen<br />
Lan<strong>de</strong>svereinigungen für Gesundheit und die dort angesie<strong>de</strong>lten Regionalen<br />
Knoten als Vernetzungs- und Koordinierungsstellen. Dies erfor<strong>de</strong>rt gleichzeitig,<br />
dass solche bestehen<strong>de</strong>n integrieren<strong>de</strong>n Strukturen verstetigt und weiter gestärkt<br />
wer<strong>de</strong>n. Erfolgreiche Mo<strong>de</strong>llprojekte wie beispielsweise das Projekt „gesund<br />
leben lernen“ <strong>de</strong>r Spitzenverbän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r gesetzlichen Krankenkassen sind ebenfalls<br />
in <strong>de</strong>n Regelbetrieb zu überführen.<br />
Gesundheitsför<strong>de</strong>rung und Prävention sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben.<br />
Eine Mischfinanzierung ist daher zu verwirklichen: Die öffentlichen Haushalte<br />
von Bund, Län<strong>de</strong>rn und Kommunen, alle Sozialversicherungszweige sowie die<br />
Private Kranken- und Pflegeversicherung müssen einen spürbaren Beitrag leisten.<br />
Es ist unbedingt zu verhin<strong>de</strong>rn, dass <strong>de</strong>r Staat sich auf Kosten <strong>de</strong>r Sozialversicherungsträger<br />
von seinen präventiven Aufgaben „entlastet“. Neben <strong>de</strong>r gesetzlichen<br />
Krankenversicherung, <strong>de</strong>r sozialen Pflegeversicherung, <strong>de</strong>r Unfallversicherung<br />
und <strong>de</strong>r gesetzlichen Rentenversicherung ist die Arbeitslosenversicherung<br />
auf je<strong>de</strong>n Fall einzubeziehen. Denn Langzeiterwerbslose sind im<br />
Durchschnitt einem ungefähr doppelt so hohen Risiko ausgesetzt, ernsthaft zu<br />
erkranken o<strong>de</strong>r vorzeitig zu sterben als Menschen, die berufstätig sind. Es ist zu<br />
prüfen, ob über eine zweckgebun<strong>de</strong>ne Abgabe die (Verursacher-)Industrie beteiligt<br />
wer<strong>de</strong>n kann. Dies wäre nur folgerichtig, wenn die beträchtlichen gesundheitlichen<br />
Risiken, die anerkanntermaßen beispielsweise <strong>de</strong>r Alkohol- und Zigarettenkonsum<br />
hervorruft, bedacht wer<strong>de</strong>n. Nicht zu übersehen sind die Risiken,<br />
die mo<strong>de</strong>rne Freizeitgeräte für die Bewegungsarmut o<strong>de</strong>r ungesun<strong>de</strong> Nahrungsund<br />
Genussmittel für Übergewicht mit sich bringen.<br />
Für einen Paradigmenwechsel in Richtung eines präventiven Gesundheitswesens<br />
sind erhebliche finanzielle Mittel erfor<strong>de</strong>rlich. Deshalb wird <strong>de</strong>r Anteil<br />
<strong>de</strong>r Steuermittel auf 1 Mrd. Euro für die nächsten vier Jahre festgelegt, damit<br />
eine finanzielle Grundlage für die Errichtung einer neuen, starken Säule „Gesundheitsför<strong>de</strong>rung<br />
und Prävention“ geschaffen wird. Um die einseitige Ausrichtung<br />
auf die Akutmedizin langfristig zugunsten eines mo<strong>de</strong>rnen Gesundheitswesens<br />
zu überwin<strong>de</strong>n, ist nach Abschluss <strong>de</strong>r Aufbauphase ein jährlicher<br />
Finanzierungsbeitrag <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s gefor<strong>de</strong>rt. Die Kofinanzierungsanteile von<br />
Län<strong>de</strong>rn und Kommunen sind im Gesetz auszugestalten. Je nach Projekt- o<strong>de</strong>r<br />
Maßnahmenart kann das mit einem Beteiligungskorridor beispielsweise von<br />
1 bis 20 Prozent geschehen. Eine umfassen<strong>de</strong> Stärkung von Gesundheitsför<strong>de</strong>rung<br />
und Prävention kostet zunächst Geld, mittel- bis langfristig lässt sich<br />
jedoch ein erhebliches Einsparpotential im Bereich <strong>de</strong>r Gesundheitsausgaben<br />
erschließen.
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin<br />
Vertrieb: Bun<strong>de</strong>sanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44<br />
ISSN 0722-8333