Kantische Letztbegründung - servat.unibe.ch
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So muß man wohl au<strong>ch</strong> die oben zitierte Aussage Kants verstehen:<br />
wenn ohnehin »das Ganze in der empiris<strong>ch</strong>en Ans<strong>ch</strong>auung<br />
gegeben worden« ist, etwa ein Körper mit allen seinen Bestandteilen,<br />
dann kann i<strong>ch</strong> mit dem gedankli<strong>ch</strong>en Abbild dieser Ans<strong>ch</strong>auung<br />
nur die Vorstellung eines unendli<strong>ch</strong>en Rückgangs verbinden:<br />
die Vorstellung von einer immer weiter zurückgehenden Teilung<br />
des Körpers muß, laut Kant, ins Unendli<strong>ch</strong>e gehen 185 . Ist dagegen<br />
»nur ein Glied der Reihe gegeben«, also etwa die Ans<strong>ch</strong>auung einer<br />
bestimmten Generation von Mens<strong>ch</strong>en, dann kann i<strong>ch</strong> in meinem<br />
gedankli<strong>ch</strong>en Abbild dieser Ans<strong>ch</strong>auung offen lassen, wie<br />
viele Vorgenerationen dazugeda<strong>ch</strong>t werden: der Regress darf unbestimmt<br />
bleiben, muß ni<strong>ch</strong>t als unendli<strong>ch</strong> geda<strong>ch</strong>t werden.<br />
Versteht man Letztbegründung als den Anspru<strong>ch</strong>, einen (theoretis<strong>ch</strong>en)<br />
Beweis oder eine (praktis<strong>ch</strong>e) Begründung so weit zu<br />
treiben, daß keine Ausnahme von dem verteidigten Satz mehr<br />
mögli<strong>ch</strong> ist 186 , dann stellt der unbestimmte Regress ein Problem<br />
dar. So wenig, wie i<strong>ch</strong> weiß, wel<strong>ch</strong>e Tiefe der Voraussetzungskette<br />
i<strong>ch</strong> errei<strong>ch</strong>en kann, kann i<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>er sein, daß es nirgendwo einen<br />
Punkt gibt, an dem die Voraussetzung fehlt. Es ist eben ni<strong>ch</strong>t so<br />
wie in der Mathematik, wo der Beweis, der sowohl für einen bestimmten<br />
Wert 'n' als au<strong>ch</strong> für jedes 'n+1' geführt wird, ein vollständiger<br />
Beweis ist. Denn während i<strong>ch</strong> dort ein denkbares Abbild<br />
der Gesamtheit der Zahlen habe, der Beweis also ins Unendli<strong>ch</strong>e<br />
geht, fehlt mir jede Vorstellung von der Gesamtheit der Mens<strong>ch</strong>en<br />
aller Generationen. Denke i<strong>ch</strong> aber immer nur zu einer Generation<br />
ihre Elterngeneration hinzu, dann kann i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er sein, daß<br />
irgendwo ein originärer S<strong>ch</strong>öpfungsakt oder ein evolutionäres Urereignis<br />
diesen Begründungsstrang beendet. In einem strengen<br />
Sinne ist der regressus ad indefinitum also keine Letztbegründung.<br />
185 Kant, KrV (Fn. 9), A 513/B 541.<br />
186 Vgl. oben S. 36.<br />
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