Examenskurs Grundrechte - servat.unibe.ch
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Jurisprudentia<br />
Verlag<br />
Würzburg
Studien zu Jurisprudenz und Philosophie<br />
2/1
Axel Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er<br />
<strong>Examenskurs</strong> <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
Skript, Fragen, Fälle und Lösungen<br />
Jurisprudentia<br />
Verlag<br />
Würzburg
Gedruckt in Digitaldruckte<strong>ch</strong>nik.<br />
Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er, Axel:<br />
<strong>Examenskurs</strong> <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> : Skript, Fragen, Fälle und Lösungen / von Axel<br />
Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er. –<br />
Würzburg: Jurisprudentia, 2002<br />
(Studien zu Jurisprudenz und Philosophie ; Bd. 2/1)<br />
ISBN 3-8311-3856-7<br />
<br />
Druck und Bindung: Books on Demand GmbH<br />
Printed in Germany ISBN 3-8311-3856-7<br />
© Jurisprudentia Verlag, Würzburg 2002. Printed in Germany. Alle Re<strong>ch</strong>te, au<strong>ch</strong><br />
die des Na<strong>ch</strong>drucks von Auszügen, der photome<strong>ch</strong>anis<strong>ch</strong>en Wiedergabe und der<br />
Übersetzung, vorbehalten.
Vorwort<br />
Der ʹ<strong>Examenskurs</strong> <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>ʹ ist ein integriertes Lernmittel für Studierende,<br />
die vor dem Examen ihr Wissen testen mö<strong>ch</strong>ten. Das Übungsprogramm des Kurses<br />
setzt den Besu<strong>ch</strong> der Vorlesungen im öffentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t, die Lektüre von<br />
Lehrbü<strong>ch</strong>ern und das Re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>ieren in Kommentaren bereits voraus. In Anlehnung<br />
an die Lernmethode zur Vorbereitung des amerikanis<strong>ch</strong>en Anwaltsexamens<br />
(bar exam) sollten als erstes die Multiple-Choice-Fragen des fünften Kapitels<br />
und die Begriffe des Sa<strong>ch</strong>verzei<strong>ch</strong>nisses dur<strong>ch</strong>gearbeitet werden. S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>stellen<br />
können dana<strong>ch</strong> mit dem komprimierten Skript (Kapitel zwei bis vier) eingegrenzt<br />
und bei e<strong>ch</strong>ten Wissenslücken in Lehrbü<strong>ch</strong>ern na<strong>ch</strong>gearbeitet werden. Erst zum<br />
S<strong>ch</strong>luß empfiehlt si<strong>ch</strong> das aufwendige, aber notwendige Guta<strong>ch</strong>tentraining mit<br />
Hilfe der Fälle, deren Bearbeitungszeiten realistis<strong>ch</strong> knapp kalkuliert sind; die<br />
Dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nittszeit von zwei Stunden entspri<strong>ch</strong>t dem Umfang, den Grundre<strong>ch</strong>tsfragen<br />
normalerweise in Examensklausuren einnehmen.<br />
Von einem integrierten Lernmittel ist die Rede, weil der Kurs mit einer Internetfassung<br />
(www.jurisprudentia.de) und dem Internetprojekt ʹDeuts<strong>ch</strong>es Fallre<strong>ch</strong>tʹ<br />
verzahnt ist (www.uni-wuerzburg.de/dfr). Die Bu<strong>ch</strong>fassung ist dazu ein<br />
ergänzendes Hilfsmittel, um langwierige Ausdrucke oder stundenlanges Lesen<br />
von Text am Bilds<strong>ch</strong>irm zu vermeiden. Dank der Integration kann die eins<strong>ch</strong>lägige<br />
Seite eines Urteils des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts per Mausklick abgerufen<br />
werden. Au<strong>ch</strong> innerhalb des <strong>Examenskurs</strong>es sind dur<strong>ch</strong> diese Te<strong>ch</strong>nik zahlrei<strong>ch</strong>e<br />
Querverweise mögli<strong>ch</strong>, mit denen das Na<strong>ch</strong>lesen s<strong>ch</strong>neller, einfa<strong>ch</strong>er und damit<br />
lohnender gestaltet wird. Die internen Querverweise, die im Internet farbig ers<strong>ch</strong>einen,<br />
erkennt man im Bu<strong>ch</strong>druck an der ho<strong>ch</strong>gestellten Seitenzahl.<br />
Fünf der Beispielsfälle wurden in Konversatorien an der Juristis<strong>ch</strong>en Fakultät<br />
der Universität Würzburg erprobt und immer wieder im Kreis der Kolleginnen<br />
und Kollegen diskutiert. Allen, die dadur<strong>ch</strong> mittelbar zum Entstehen des Werkes<br />
beigetragen haben, sei bei dieser Gelegenheit herzli<strong>ch</strong> gedankt. Für die Zwecke<br />
der Veröffentli<strong>ch</strong>ung wurden sämtli<strong>ch</strong>e Fälle neu formuliert, um sie auf die besondere<br />
S<strong>ch</strong>werpunktsetzung in Examensguta<strong>ch</strong>ten zu konzentrieren. Herrn<br />
A<strong>ch</strong>im Förster danke i<strong>ch</strong> für die kritis<strong>ch</strong>e Dur<strong>ch</strong>si<strong>ch</strong>t der Erstfassung. Verbesserungsvors<strong>ch</strong>läge<br />
und Korrekturen, über die i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> stets freue, errei<strong>ch</strong>en mi<strong>ch</strong><br />
am besten per E-Mail (ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er@jurisprudentia.de).<br />
Bei der Arbeit wüns<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong> Ihnen viel Spaß und im Examen viel Erfolg!<br />
Würzburg, im Mai 2002,<br />
Axel Ts<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>er
Inhaltsverzei<strong>ch</strong>nis<br />
Einleitung: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung im Staatsexamen ........................................ 11<br />
1. Kapitel: Begriff und Entwicklung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> .......................................... 13<br />
I. Stadien der Ideen- und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te .....................................................13<br />
II. Die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> des Grundgesetzes.............................................................15<br />
III. Grundre<strong>ch</strong>tsentwicklung na<strong>ch</strong> 1949 ..............................................................16<br />
1. Verfassungsänderungen............................................................................16<br />
2. Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ungsentwicklungen ..............................................................16<br />
3. Literaturentwicklungen.............................................................................17<br />
IV. Internationale, supranationale und verfassungsverglei<strong>ch</strong>ende<br />
Bezüge .................................................................................................................18<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung ......................................................................... 21<br />
I. Materielle Prüfung ............................................................................................21<br />
1. Prüfungsreihenfolge...................................................................................21<br />
2. Verhältnismäßigkeitsprüfung ..................................................................23<br />
3. Abwehrre<strong>ch</strong>tsprüfung ...............................................................................27<br />
a) S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> ........................................................................................28<br />
b) Eingriff....................................................................................................29<br />
c) Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung..............................................31<br />
4. Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung..........................................................................36<br />
5. S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tenprüfung.............................................................................38<br />
II. Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde...................................................................................40<br />
III. Verwaltungs(geri<strong>ch</strong>ts)verfahren.....................................................................44<br />
IV. Konkrete Normenkontrolle .............................................................................45<br />
V. Abstrakte Normenkontrolle ............................................................................46<br />
3. Kapitel: Allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren.............................................................. 49<br />
I. Arten der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>.....................................................................................49<br />
1. Freiheits- und Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te ..............................................................49<br />
2. Deuts<strong>ch</strong>en- und Jedermanngrundre<strong>ch</strong>te ................................................50<br />
3. Positive und negative Seite der Freiheitsre<strong>ch</strong>te.....................................50<br />
4. Sonstige Klassifizierungen und Typisierungen.....................................51
8<br />
Inhaltsverzei<strong>ch</strong>nis<br />
II. Funktionen und Dimensionen der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>......................................... 52<br />
1. Grundre<strong>ch</strong>tsfunktionen na<strong>ch</strong> der Statuslehre ....................................... 53<br />
2. Subjektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Dimension ............................................................... 53<br />
3. Objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Dimension ................................................................ 54<br />
III. Grundre<strong>ch</strong>tsträgers<strong>ch</strong>aft und -bere<strong>ch</strong>tigung ............................................... 56<br />
1. Natürli<strong>ch</strong>e Personen................................................................................... 56<br />
2. Juristis<strong>ch</strong>e Personen ................................................................................... 57<br />
IV. Grundre<strong>ch</strong>tsbindung........................................................................................ 61<br />
1. Staatsgewalten ............................................................................................ 61<br />
2. Private........................................................................................................... 62<br />
V. Normverhältnisse ............................................................................................. 62<br />
1. Grundre<strong>ch</strong>tskollisionen und -konkurrenzen......................................... 62<br />
2. Bundes- und Landesgrundre<strong>ch</strong>te ............................................................ 63<br />
3. Europare<strong>ch</strong>t und internationale Pakte.................................................... 63<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen...............................................65<br />
I. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) ............................................... 66<br />
II. Persönli<strong>ch</strong>e Integrität und Freiheit ................................................................ 68<br />
1. Mens<strong>ch</strong>enwürde (Art. 1 I GG).................................................................. 68<br />
2. Leben und körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG)....................... 71<br />
3. Freiheit der Person (Art. 2 II 2, 104 GG) ................................................. 73<br />
4. Freizügigkeit (Art. 11 GG) ........................................................................ 73<br />
5. Ausbürgerungsverbot (Art. 16 I GG) ...................................................... 74<br />
6. Auslieferungsverbot (Art. 16 II GG)........................................................ 75<br />
7. Asylgrundre<strong>ch</strong>t (Art. 16a GG).................................................................. 75<br />
8. Allgemeines Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t (Art. 2 I GG) .................................... 77<br />
III. Privatsphäre und Vertrauli<strong>ch</strong>keit .................................................................. 78<br />
1. Re<strong>ch</strong>t auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I i.V.m. Art.<br />
1 I GG)........................................................................................................... 78<br />
2. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) ............................ 78<br />
3. Wohnung (Art. 13 GG) .............................................................................. 81<br />
4. Ehe und Familie (Art. 6 I GG)................................................................... 83<br />
5. Erziehungsre<strong>ch</strong>t (Art. 6 II, III GG) ........................................................... 84<br />
6. Mutters<strong>ch</strong>utz (Art. 6 IV GG)..................................................................... 85<br />
7. S<strong>ch</strong>ulfreiheit (Art. 7 GG)............................................................................ 85<br />
IV. Kommunikation und Petition......................................................................... 86<br />
1. Versammlungsfreiheit (Art. 8 I GG)........................................................ 86
Inhaltsverzei<strong>ch</strong>nis 9<br />
2. Vereinigungsfreiheit (Art. 9 I, II GG) ......................................................88<br />
3. Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG) .................................................................90<br />
4. Informationsfreiheit (Art. 5 I GG) ............................................................91<br />
5. Pressefreiheit (Art. 5 I GG) ........................................................................92<br />
6. Rundfunk- und Filmfreiheit (Art. 5 I GG) ..............................................93<br />
7. Petitionsre<strong>ch</strong>t (Art. 17 GG)........................................................................94<br />
V. Religion und Weltans<strong>ch</strong>auung .......................................................................95<br />
1. Glaubensfreiheit (Art. 4 I, II GG; Art. 140 GG i.V.m. Art. 136-<br />
139, 141 WRV)..............................................................................................95<br />
2. Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 III GG)............97<br />
VI. Wirts<strong>ch</strong>aft und Kultur ......................................................................................98<br />
1. Berufsfreiheit (Art. 12 I GG)......................................................................98<br />
2. Eigentumsre<strong>ch</strong>t (Art. 14 I GG)................................................................102<br />
3. Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG) ............................................................105<br />
4. Kunstfreiheit (Art. 5 III 1 GG).................................................................107<br />
5. Wissens<strong>ch</strong>aftsfreiheit (Art. 5 III GG) .....................................................108<br />
VII. Verfahren....................................................................................................109<br />
1. Re<strong>ch</strong>tsweggarantie (Art. 19 IV GG) .......................................................109<br />
2. Anspru<strong>ch</strong> auf den gesetzli<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>ter (Art. 101 I 2 GG)..................110<br />
3. Anspru<strong>ch</strong> auf re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Gehör (Art. 103 I GG).................................111<br />
4. Nulla poena sine lege (Art. 103 II GG) ..................................................112<br />
5. Ne bis in idem (Art. 103 III GG) .............................................................113<br />
6. Fairneß (Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzip i.V.m. Art. 2 I GG).................................114<br />
7. Effektiver Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz (Einzelgrundre<strong>ch</strong>te,<br />
Re<strong>ch</strong>tsweggarantie, Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzip).............................................114<br />
VIII. Allgemeiner Glei<strong>ch</strong>heitssatz (Art. 3 I GG)............................................115<br />
IX. Spezielle Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te ............................................................................117<br />
1. Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung (Art. 3 II, III 1 GG) ................................................117<br />
2. Differenzierungsverbote (Art. 3 III, 6 V GG)........................................118<br />
3. Indigenat und öffentli<strong>ch</strong>er Dienst (Art. 33 I-III GG)...........................119<br />
4. Wahlre<strong>ch</strong>ts- und Parteienglei<strong>ch</strong>heit (Art. 38 GG) ...............................120<br />
5. Kapitel: Multiple-Choice-Fragen ......................................................................... 123<br />
I. Fragen zur Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung..................................................................123<br />
II. Fragen zu allgemeinen Grundre<strong>ch</strong>tslehren ................................................127<br />
III. Fragen zu Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten......................................................................132
10<br />
Inhaltsverzei<strong>ch</strong>nis<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen .................................................................................147<br />
Fall 1: Reiten im Walde......................................................................................... 148<br />
Fall 2: Taxiges<strong>ch</strong>äft................................................................................................ 155<br />
Fall 3: Eigenbedarf................................................................................................. 164<br />
Fall 4: Festungsumzug.......................................................................................... 171<br />
Fall 5: S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis........................................................................................ 183<br />
Fall 6: Helmpfli<strong>ch</strong>t................................................................................................. 189<br />
Fall 7: Normannenkir<strong>ch</strong>e...................................................................................... 197<br />
Fall 8: Neoanar<strong>ch</strong>isten .......................................................................................... 205<br />
Sa<strong>ch</strong>- und Personenverzei<strong>ch</strong>nis................................................................................211
Einleitung:<br />
Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung im<br />
Staatsexamen<br />
Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung hat im Ersten Juristis<strong>ch</strong>en Staatsexamen einen festen<br />
Platz, gelegentli<strong>ch</strong> als reine Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung im Gewand einer Staatsre<strong>ch</strong>tsklausur,<br />
in der dann regelmäßig die Erfolgsaussi<strong>ch</strong>ten einer Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
oder Normenkontrolle zu beguta<strong>ch</strong>ten sind, häufig aber au<strong>ch</strong> eingebettet<br />
in eine Verwaltungsre<strong>ch</strong>tsklausur, in der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> inzident geprüft werden<br />
müssen. Für die mündli<strong>ch</strong>e Prüfung gilt außerdem, daß Wissenslücken in<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsfragen weniger verzeihli<strong>ch</strong> sind als sol<strong>ch</strong>e in Spezialgebieten des besonderen<br />
Verwaltungsre<strong>ch</strong>ts. Insgesamt werden die allgemeinen und besonderen<br />
Grundre<strong>ch</strong>tslehren dadur<strong>ch</strong> zu einer unverzi<strong>ch</strong>tbaren Zentralmaterie der Examensvorbereitung.<br />
Jede Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung rankt si<strong>ch</strong> um Einzelfragen aus den drei Berei<strong>ch</strong>en<br />
ʹVerfassungsprozeßre<strong>ch</strong>tʹ, ʹAllgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehrenʹ und ʹEinzelgrundre<strong>ch</strong>teʹ,<br />
wobei gewöhnli<strong>ch</strong> mindestens ein Problem aus jedem dieser Berei<strong>ch</strong>e in<br />
die Aufgabenstellung einfließt. Jeder Berei<strong>ch</strong> hat seine eigenen S<strong>ch</strong>wierigkeiten<br />
und verlangt na<strong>ch</strong> einer jeweils gesonderten Vorbereitungstaktik: Das Verfassungsprozeßre<strong>ch</strong>t<br />
ist übers<strong>ch</strong>aubar und verglei<strong>ch</strong>sweise einfa<strong>ch</strong> zu verstehen.<br />
Die Gefahr besteht darin, den prozessualen Teil zu breit zu gestalten. Hier hilft<br />
nur Disziplin in der Vorbereitung und bei der Arbeit. Leitlinie: mehr als ein Drittel<br />
der Gesamtzeit sollte weder beim Lernen no<strong>ch</strong> beim Klausurens<strong>ch</strong>reiben auf<br />
die Verfahrensfragen verwendet werden. Die allgemeinen Grundre<strong>ch</strong>tslehren<br />
sind die abstrakteste und dadur<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wierigste Materie. Die Gefahr besteht hier<br />
darin, unverstandene dogmatis<strong>ch</strong>e Figuren oder re<strong>ch</strong>tste<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Begriffe an fals<strong>ch</strong>er<br />
Stelle einzusetzen. Dagegen gibt es kein Patentrezept. Mindestens aber<br />
sollten die grundlegenden Begriffe und Strukturen bis zur si<strong>ch</strong>eren Beherrs<strong>ch</strong>ung<br />
gelernt werden. Wer eine S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tenkonstellation ni<strong>ch</strong>t vom Abwehrre<strong>ch</strong>t<br />
unters<strong>ch</strong>eiden kann, hat weder in der Klausur no<strong>ch</strong> in der mündli<strong>ch</strong>en Prüfung<br />
eine realistis<strong>ch</strong>e Chance, ʹgutʹ oder au<strong>ch</strong> nur ʹbefriedigendʹ abzus<strong>ch</strong>neiden. Die<br />
Einzelgrundre<strong>ch</strong>te sind lei<strong>ch</strong>t verständli<strong>ch</strong>, aber leider ni<strong>ch</strong>t besonders übersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>.<br />
Statt hier blindlings in die Breite zu lernen, sollte si<strong>ch</strong> die Examensvorbereitung<br />
zunä<strong>ch</strong>st auf die in der Prüfungspraxis besonders wi<strong>ch</strong>tigen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
konzentrieren, dana<strong>ch</strong> die Abgrenzung der exotis<strong>ch</strong>eren <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> zu
12<br />
Einleitung: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung im Staatsexamen<br />
den Vielgeprüften ergründen und erst ganz zum S<strong>ch</strong>luß die no<strong>ch</strong> verbleibenden<br />
Wissenslücken füllen.<br />
Das folgende Skript sowie die dazugehörigen Fragen, Fälle und Lösungen<br />
orientieren si<strong>ch</strong> an diesem Vorbereitungsprogramm. Als erstes sollten die Multiple-Choice-Fragen<br />
des fünften Kapitels dur<strong>ch</strong>gearbeitet werden. Dabei ist<br />
wi<strong>ch</strong>tig, daß die Begründung für alle Antworten, au<strong>ch</strong> die fals<strong>ch</strong>en, verstanden<br />
wird. Wo das ni<strong>ch</strong>t der Fall ist, empfiehlt si<strong>ch</strong> als nä<strong>ch</strong>stes ein gezieltes Na<strong>ch</strong>lesen<br />
im Skript, dessen Inhalte die glei<strong>ch</strong>e Reihenfolge haben wie die Fragen. Sollten<br />
dabei e<strong>ch</strong>te Wissenslücken zutage treten, dann ist der Rückgriff auf die ausführli<strong>ch</strong>eren<br />
Erläuterungen in Lehrbü<strong>ch</strong>ern unumgängli<strong>ch</strong>.<br />
Im Skript greift das erste, sehr kurze Kapitel diejenigen Elemente der ʺgrundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Allgemeinbildungʺ auf, die man mindestens beherrs<strong>ch</strong>en sollte, um<br />
eine anspru<strong>ch</strong>svolle mündli<strong>ch</strong>e Prüfung zu überstehen. Das zweite Kapitel widmet<br />
si<strong>ch</strong> verfassungsprozessualen Aufbaus<strong>ch</strong>emata und Prüfungss<strong>ch</strong>werpunkten.<br />
Bei den allgemeinen Grundre<strong>ch</strong>tslehren des dritten Kapitels wird zu den<br />
einzelnen dogmatis<strong>ch</strong>en Figuren und Begriffen jeweils erläutert, wo sie in einer<br />
Klausur vorkommen können. Damit soll der erwähnten Gefahr entgegengewirkt<br />
werden, daß sie unreflektiert an fals<strong>ch</strong>er Stelle eingesetzt werden. Das vierte Kapitel<br />
führt in seiner Ausri<strong>ch</strong>tung na<strong>ch</strong> Prüfungsrelevanz absi<strong>ch</strong>tsvoll zu sehr unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
Gewi<strong>ch</strong>ten bei den Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten. Zwar sind die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
wie übli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Themengebieten gruppiert, do<strong>ch</strong> die alternative Lesereihenfolge<br />
65 am Anfang zeigt, wie man beim Lernen na<strong>ch</strong> der praktis<strong>ch</strong>en Bedeutung<br />
vorgehen und die am häufigsten geprüften <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> zuerst einüben<br />
kann.<br />
Im se<strong>ch</strong>sten Kapitel sind Fälle und Lösungen zusammengestellt, die als Material<br />
für das Klausurtraining dienen. Dabei ist Selbstdisziplin gefragt: die empfohlenen<br />
Bearbeitungszeiten sollten ni<strong>ch</strong>t übers<strong>ch</strong>ritten werden. Für Fragen zu<br />
Art und Aufbau der guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Lösungen bietet si<strong>ch</strong> das zweite Kapitel zum<br />
gezielten Na<strong>ch</strong>lesen an.
1. Kapitel:<br />
Begriff und Entwicklung<br />
der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
Begriff und Entwicklung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> bringen eine guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Fallösung in<br />
der Regel ni<strong>ch</strong>t weiter; wer sie ohne Fallbezug erörtert, verletzt guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Aufbauregeln.<br />
In der mündli<strong>ch</strong>en Prüfung kommt dieser Teil der grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Allgemeinbildung hingegen dur<strong>ch</strong>aus zur Spra<strong>ch</strong>e. Wenigstens einige Grunddaten<br />
sollten gelernt sein.<br />
I. Stadien der Ideen- und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
Es sind vor allem drei Klassiker, auf die si<strong>ch</strong> wesentli<strong>ch</strong>e Elemente des freiheitli<strong>ch</strong>en<br />
Verfassungsstaates stützen. Auf John Locke (Two Treatises of Government,<br />
1689) geht die Vorstellung zurück, daß <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> einen ʺvorpositivenʺ Charakter<br />
haben, d.h. vor der und unabhängig von der Setzung als Re<strong>ch</strong>tsnormen<br />
(Positivierung) beanspru<strong>ch</strong>t werden können: der Staat ʺgewährtʺ die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t, sondern er ʺgewährleistetʺ ihre Dur<strong>ch</strong>setzung bei ohnehin s<strong>ch</strong>on bestehender<br />
(vorpositiver) Geltung. Ihren demokratis<strong>ch</strong>en Akzent erhielten die<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> bei Jean-Jacques Rousseau (Contrat social, 1762), der sie mit dem Gedanken<br />
des Sozialvertrags und dem Ideal des patriotis<strong>ch</strong>en Staatsbürgers (citoyen)<br />
verband. Als notwendige Voraussetzung autonomer Selbstgesetzgebung des<br />
Mens<strong>ch</strong>en gehörten die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> zum freiheitli<strong>ch</strong>en Ordnungsmodell<br />
der kritis<strong>ch</strong>en Philosophie Immanuel Kants (Kritik der reinen Vernunft, 1781;<br />
Metaphysik der Sitten, 1797).<br />
Die Entwicklungsstadien der Re<strong>ch</strong>tsdokumente, die individuelle Re<strong>ch</strong>te gewährleisten,<br />
lassen si<strong>ch</strong> aus deuts<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> und geographis<strong>ch</strong> vereinfa<strong>ch</strong>t<br />
in drei Stadien unterteilen: vor dem 18. Jahrhundert in England; im revolutionären<br />
18. Jahrhundert in Amerika und Frankrei<strong>ch</strong>; seit dem 19. Jahrhundert<br />
s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> in Deuts<strong>ch</strong>land:<br />
1215 Magna Charta Libertatum<br />
1628 Petition of Right<br />
1679 Habeas Corpus Act<br />
1689 [Westminster] Bill of Rights
14<br />
1. Kapitel: Begriff und Entwicklung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
1776 [Virginia] Bill of Rights<br />
1789 Déclaration des Droits de lʹHomme et du Citoyen<br />
1791 [American] Bill of Rights<br />
1818 Süddeuts<strong>ch</strong>er Konstitutionalismus<br />
1848 Paulskir<strong>ch</strong>enverfassung<br />
1919 Weimarer Rei<strong>ch</strong>sverfassung<br />
1949 Grundgesetz<br />
Im ersten, dem ʺenglis<strong>ch</strong>enʺ Stadium gewährte zunä<strong>ch</strong>st die Magna Charta Libertatum<br />
(1215, in den Folgejahrhunderten vielfa<strong>ch</strong> neu verabs<strong>ch</strong>iedet) S<strong>ch</strong>utz vor<br />
staatli<strong>ch</strong>er Willkür, etwa indem sie die grundlose Verhaftung auss<strong>ch</strong>loß. Die<br />
Re<strong>ch</strong>te der Charta kamen dabei vor allem dem Adel zugute. Faktis<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>ränkt<br />
auf den kleinen Kreis derer, die die damit verbundenen Kosten tragen konnten,<br />
war au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> der Habeas Corpus Act (1679), der einen Anspru<strong>ch</strong> auf Haftprüfung<br />
gegenüber der Hoheitsgewalt begründete. Selbst die britis<strong>ch</strong>e Bill of Rights<br />
(1689; ʹbill of rightsʹ bedeutet nur ʹ<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>katalogʹ, deshalb gibt es zahlrei<strong>ch</strong>e<br />
Dokumente, die diesen Titel tragen) und die ihr vorausgegangene Petition of<br />
Right (1628) waren in erster Linie kollektive S<strong>ch</strong>utzinstrumente der besitzenden<br />
Stände vor Übergriffen des Königs, insbesondere vor steuerli<strong>ch</strong>en Übergriffen;<br />
sie enthielten nur verstreut und vereinzelt s<strong>ch</strong>on individualre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Bestimmungen<br />
(Wahlfreiheit, Indemnität, Verbot grausamer Strafen). Insgesamt blieben<br />
die englis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>teerklärungen dadur<strong>ch</strong> der ständis<strong>ch</strong>en Verfassungsordnung<br />
verhaftet.<br />
Im zweiten, ʺrevolutionärenʺ Stadium wurden universelle Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tserklärungen<br />
verfaßt. Wenige Tage vor der amerikanis<strong>ch</strong>en Unabhängigkeitserklärung<br />
entstand die Virginia Bill of Rights (1776). Als Ergebnis der französis<strong>ch</strong>en<br />
Revolution kam die Déclaration des Droits de lʹHomme et du Citoyen (Erklärung<br />
der Mens<strong>ch</strong>en- und Bürgerre<strong>ch</strong>te, 1789), die später Bestandteil der ersten republikanis<strong>ch</strong>en<br />
Verfassung wurde (1791). S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> gelten die ersten zehn Zusatzartikel<br />
(Amendments) der US-Verfassung (1791) zusammen als Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsdokument;<br />
sie sind ebenfalls unter der Bezei<strong>ch</strong>nung ʹBill of Rightsʹ bekannt.<br />
Wirkli<strong>ch</strong> universell galten die darin verbürgten Re<strong>ch</strong>te allerdings nur für diejenigen<br />
Personen, die zur damaligen Zeit als glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigte Bürger angesehen<br />
wurden – also nur für weißhäutige Männer.<br />
Im dritten, ʺdeuts<strong>ch</strong>enʺ Stadium wurden die ausländis<strong>ch</strong>en Entwicklungen<br />
zunä<strong>ch</strong>st in den Verfassungsurkunden des süddeuts<strong>ch</strong>en Konstitutionalismus<br />
aufgenommen, die allesamt <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> in Gestalt von Untertanenre<strong>ch</strong>ten gewährten<br />
(Bayern und Baden, 1818; Württemberg, 1819; Kurfürstentum Hessen,<br />
1831; Sa<strong>ch</strong>sen 1831). Der Grundre<strong>ch</strong>tsteil der Paulskir<strong>ch</strong>enverfassung (1848) hat-
I. Stadien der Ideen- und Re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te 15<br />
te, obwohl er praktis<strong>ch</strong> nie Bedeutung erlangen konnte, Vorbildfunktion für spätere<br />
deuts<strong>ch</strong>e Verfassungen. Na<strong>ch</strong> der im wesentli<strong>ch</strong>en grundre<strong>ch</strong>tslosen Bismarcks<strong>ch</strong>en<br />
Rei<strong>ch</strong>sverfassung (1871) hat na<strong>ch</strong> dem Ersten Weltkrieg die Weimarer<br />
Rei<strong>ch</strong>sverfassung (1919) in ihrem zweiten Hauptteil einen Grundre<strong>ch</strong>tskatalog<br />
normiert, an dessen Grundzüge das Grundgesetz (1949) anknüpfen konnte.<br />
Der Hauptunters<strong>ch</strong>ied besteht darin, daß die Weimarer <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> den Rei<strong>ch</strong>sgesetzgeber<br />
in der Praxis ni<strong>ch</strong>t effektiv binden konnten, was unter anderem au<strong>ch</strong><br />
am Fehlen einer institutionalisierten Verfassungsgeri<strong>ch</strong>tsbarkeit lag. Die Grundgesetznormen<br />
über die unmittelbare Bindung des Gesetzgebers an die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
(Art. 1 III, 20 III GG) sind Ausdruck dieses Unters<strong>ch</strong>ieds.<br />
II.<br />
Die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> des Grundgesetzes<br />
Die Materialen zur Entstehung des Grundgesetzes setzen si<strong>ch</strong> im wesentli<strong>ch</strong>en<br />
aus dem Herren<strong>ch</strong>iemseer Entwurf (HChE) und den Beratungen des Parlamentaris<strong>ch</strong>en<br />
Rates zusammen. Na<strong>ch</strong> dem Zweiten Weltkrieg wurden die Ministerpräsidenten<br />
der Länder gemäß den Verfahrensvors<strong>ch</strong>lägen der Londoner Konferenz<br />
und der Frankfurter Dokumente (1948) von den Alliierten ermä<strong>ch</strong>tigt, eine Verfassunggebende<br />
Versammlung einzuberufen. Zur Vorbereitung organisierten sie<br />
zunä<strong>ch</strong>st ein Expertenkollegium aus Vertretern der elf Länder der Westzone<br />
(Herren<strong>ch</strong>iemseer Verfassungskonvent), das im August 1948 den ersten Grundgesetz-Entwurf<br />
präsentierte (HChE). Der Parlamentaris<strong>ch</strong>e Rat, der am 1. September<br />
1948 in Bonn zusammentrat, war keine volksgewählte Nationalversammlung,<br />
sondern setzte si<strong>ch</strong> aus Vertretern zusammen, die von den jeweiligen Landtagen<br />
gewählt worden waren. Au<strong>ch</strong> die Ratifizierung des Grundgesetzes erfolgte<br />
ni<strong>ch</strong>t unmittelbar dur<strong>ch</strong> das Volk (Referendum), sondern mit Zweidrittelmehrheit<br />
der Landtage (Art. 144 I GG). Insoweit bildet die Entstehung des<br />
Grundgesetzes einen Sonderfall der Verfassungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te.<br />
Inhaltli<strong>ch</strong> als <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> des Grundgesetzes anzusehen sind zunä<strong>ch</strong>st diejenigen<br />
Re<strong>ch</strong>te, die bereits formal dur<strong>ch</strong> ihre Stellung im ersten Abs<strong>ch</strong>nitt als<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> im engeren Sinne erkennbar sind, sowie zusätzli<strong>ch</strong> diejenigen<br />
grundre<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>te, die außerhalb dieses Abs<strong>ch</strong>nitts individuelle, verfassungskräftige<br />
Ansprü<strong>ch</strong>e begründen. Eine komplette Liste findet si<strong>ch</strong> in der<br />
Vors<strong>ch</strong>rift über die Gegenstände der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde (Art. 93 I Nr. 4a<br />
GG): »<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> oder [Re<strong>ch</strong>te] in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104«.<br />
Genau betra<strong>ch</strong>tet enthält ni<strong>ch</strong>t der gesamte erste Abs<strong>ch</strong>nitt <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, sondern<br />
nur der Berei<strong>ch</strong> von Artikel 2 bis 17 GG sowie na<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender Meinung Artikel<br />
1 I GG (Mens<strong>ch</strong>enwürde als Grundre<strong>ch</strong>t, str.) und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> Art. 19 IV GG
16<br />
1. Kapitel: Begriff und Entwicklung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
(Re<strong>ch</strong>tsweggarantie). Die übrigen Vors<strong>ch</strong>riften betreffen die Grundre<strong>ch</strong>tsbindung<br />
(Art. 1 I 2, III GG) oder die Eins<strong>ch</strong>ränkbarkeit (Art. 17a bis 19 III GG).<br />
III. Grundre<strong>ch</strong>tsentwicklung na<strong>ch</strong> 1949<br />
Grundgesetzänderungen kamen in der Vergangenheit dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nittli<strong>ch</strong> etwa<br />
einmal pro Jahr vor, wodur<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> Deuts<strong>ch</strong>land in der Mitte zwis<strong>ch</strong>en Staaten mit<br />
sehr häufig geänderter Verfassung (etwa Indien) und sol<strong>ch</strong>en mit nahezu versteinerter<br />
Verfassungsurkunde (USA) befindet. <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> waren von den Änderungen<br />
selten unmittelbar betroffen (1). Zur Grundre<strong>ch</strong>tsentwicklung gehört<br />
allerdings außer der Textänderung au<strong>ch</strong> die Entwicklung in Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung (2)<br />
und Literatur (3) sowie die mittelbare Änderung dur<strong>ch</strong> Europare<strong>ch</strong>t (dazu unter<br />
IV).<br />
1. Verfassungsänderungen<br />
Die Wehrpfli<strong>ch</strong>tnovelle (1956) hatte zunä<strong>ch</strong>st in Art. 12 GG (Berufsfreiheit) Materien<br />
zur Wehrpfli<strong>ch</strong>t eingefügt, die heute in Art. 12a GG zusammengefaßt sind<br />
und außerdem in Art. 17a GG (Grundre<strong>ch</strong>tseins<strong>ch</strong>ränkung bei Dienstpfli<strong>ch</strong>ten)<br />
ihren Ausdruck finden. Die Notstandsverfassung (1968) ermögli<strong>ch</strong>te weitere Eins<strong>ch</strong>ränkungen<br />
der Kommunikationsgeheimnisse (Art. 10 II 2, 19 IV 3 GG) und<br />
der Freizügigkeit (Art. 11 II) und fügte das (weitgehend symbolis<strong>ch</strong>e) Widerstandsre<strong>ch</strong>t<br />
(Art. 20 IV GG) neu ein, dessen Grundre<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>arakter allerdings<br />
trotz seiner Nennung in Art. 93 I Nr. 4a GG umstritten ist. Die Asylre<strong>ch</strong>tsänderung<br />
(1993) bra<strong>ch</strong>te eine Umgestaltung des Asylre<strong>ch</strong>ts dur<strong>ch</strong> den neuen Art. 16a<br />
GG. Die umfassende Novelle von 1994 fügte eine ausdrückli<strong>ch</strong>e Vors<strong>ch</strong>rift zur<br />
Frauenförderung (Art. 3 II 2 GG) sowie das Verbot der Behindertenbena<strong>ch</strong>teiligung<br />
(Art. 3 III 2 GG) ein; mittelbar grundre<strong>ch</strong>tsrelevant ist außerdem die glei<strong>ch</strong>zeitig<br />
eingeführte Bestimmung zum S<strong>ch</strong>utz der natürli<strong>ch</strong>en Lebensgrundlagen<br />
(Art. 20a GG), die allerdings an dem anthropozentris<strong>ch</strong>en (mens<strong>ch</strong>enzentrierten)<br />
Charakter des Grundgesetzes ni<strong>ch</strong>ts ändert, weil sie allenfalls einen Naturs<strong>ch</strong>utz<br />
als Artens<strong>ch</strong>utz im Interesse der Mens<strong>ch</strong>en (biodiversity) umfaßt.<br />
2. Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ungsentwicklungen<br />
Ein stiller Wandel der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> ist vor allem dur<strong>ch</strong> die Entwicklung in der<br />
Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts eingetreten. Ein wi<strong>ch</strong>tiger Motor<br />
der Entwicklung war dabei die na<strong>ch</strong> wie vor meistzitierte Einzelents<strong>ch</strong>eidung<br />
des Geri<strong>ch</strong>ts: das Lüth-Urteil aus dem Jahre 1958 (BVerfGE 7, 198 [205 ff.] –<br />
Lüth). In jenem Fall waren die einfa<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>te erstmalig daraufhin kontrol-
III. Grundre<strong>ch</strong>tsentwicklung na<strong>ch</strong> 1949 17<br />
liert worden, ob sie au<strong>ch</strong> bei Auslegung und Anwendung des Privatre<strong>ch</strong>ts den<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n hinrei<strong>ch</strong>end Re<strong>ch</strong>nung tragen. Das Lüth-Urteil hat mit bewirkt,<br />
daß heute jeder Re<strong>ch</strong>tsberei<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die Ents<strong>ch</strong>eidungspraxis des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts<br />
kontrolliert und häufig in grundlegenden Fragen mitgestaltet ist<br />
(vgl. doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung 34 , Superrevisionsinstanz 43 ). Gelegentli<strong>ch</strong><br />
wird dieser Effekt als ʹKonstitutionalisierungʹ des Re<strong>ch</strong>ts kritisiert, weil<br />
er den Gestaltungsspielraum des demokratis<strong>ch</strong> unmittelbar legitimierten Gesetzgebers<br />
verengt.<br />
Ein Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ungswandel, der si<strong>ch</strong> über viele Ents<strong>ch</strong>eidungen erstreckt, ist<br />
derjenige von der ʺWertordnungʺ hin zu ʺobjektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Dimensionenʺ.<br />
Gerade in den Anfangsjahren der bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung<br />
war regelmäßig von den <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n als ʹobjektiver Wertordnungʹ oder<br />
als ʹwertents<strong>ch</strong>eidenden Grundsatznormenʹ die Rede, wann immer das Geri<strong>ch</strong>t<br />
die Wirkung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> jenseits der wohlbekannten Gefilde staatli<strong>ch</strong>er<br />
Eingriffsabwehr in die Begründung einbezog. Diese Formulierungen sind inzwis<strong>ch</strong>en<br />
in den Hintergrund getreten. Heute ist von konkreten objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Dimensionen die Rede, vor allem von den S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten.<br />
Abgesehen von allgemeinen Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ungsentwicklungen gab es bei einzelnen<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n immer wieder wi<strong>ch</strong>tige Entwicklungss<strong>ch</strong>übe. Diese werden<br />
beim jeweiligen Grundre<strong>ch</strong>t behandelt.<br />
3. Literaturentwicklungen<br />
Vielfältiger als die Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung, aber meist weniger dauerhaft sind die Beiträge<br />
der Literatur zur Grundre<strong>ch</strong>tsdogmatik. Ein ständiger Problempunkt ist<br />
die Horizontalwirkung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, die in Deuts<strong>ch</strong>land meist als Drittwirkung<br />
54 bezei<strong>ch</strong>net wird und die Grundre<strong>ch</strong>tsgeltung im Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en<br />
Privaten zum Gegenstand hat. Ein Großteil dieser Diskussion ist inzwis<strong>ch</strong>en in<br />
der Literatur zu S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten aufgegangen, also zu der Frage, wann der Staat<br />
zum S<strong>ch</strong>utz von Grundre<strong>ch</strong>tsgütern aktiv tätig werden muß, statt nur eigene Beeinträ<strong>ch</strong>tigungen<br />
zu unterlassen.<br />
Ein Literaturthema, das kaum mehr angespro<strong>ch</strong>en wird, ist die Verfahrensdimension<br />
der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>. Ähnli<strong>ch</strong> verhält es si<strong>ch</strong> mit der Frage sozialer<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> 52 und Staatszielbestimmungen: phasenweise Intensivdebatten hierzu<br />
sind inzwis<strong>ch</strong>en weitgehend beendet. Zu den bleibenden Errungens<strong>ch</strong>aften<br />
der Literaturentwicklung kann die Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en dem Regel- und<br />
dem Prinzipien<strong>ch</strong>arakter von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n gezählt werden. Beide Qualitäten<br />
sind in den Normen des Grundgesetzes angelegt: sie sind Regeln, sofern man sie<br />
nur ganz oder gar ni<strong>ch</strong>t verwirkli<strong>ch</strong>en kann; meist handelt es si<strong>ch</strong> aber um Prin-
18<br />
1. Kapitel: Begriff und Entwicklung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
zipien, die so weit wie mögli<strong>ch</strong> verwirkli<strong>ch</strong>t werden müssen (Optimierungsgebote),<br />
was bei Kollision mit anderen Re<strong>ch</strong>tsgütern nur dur<strong>ch</strong> Abwägung ges<strong>ch</strong>ehen<br />
kann. Eine Literaturentwicklung, die dauerhaft bedeutsam bleibt, ist s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
die dogmatis<strong>ch</strong>e Etablierung von Unionsbürgerre<strong>ch</strong>ten als Zwis<strong>ch</strong>enstufe<br />
zwis<strong>ch</strong>en Deuts<strong>ch</strong>en- und Jedermanngrundre<strong>ch</strong>ten.<br />
IV.<br />
Internationale, supranationale und verfassungsverglei<strong>ch</strong>ende Bezüge<br />
1. Unter den internationalen Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsdokumenten, die neben dem<br />
Grundgesetz als Grundlage für subjektive Re<strong>ch</strong>te der Deuts<strong>ch</strong>en in Betra<strong>ch</strong>t<br />
kommen, ist zeitli<strong>ch</strong> als erstes die Allgemeine Erklärung der Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
(AEMR, 1948) zu nennen, die allerdings als bloße Resolution keine Verbindli<strong>ch</strong>keit<br />
hat und allenfalls über den Umweg des Völkergewohnheitsre<strong>ch</strong>ts guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
relevant werden kann. Im Range einfa<strong>ch</strong>en Gesetzesre<strong>ch</strong>ts und neben den<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n des Grundgesetzes ohne große praktis<strong>ch</strong>e Bedeutung gelten der<br />
Internationale Pakt über bürgerli<strong>ch</strong>e und politis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te (IPbpR, 1966) und der<br />
Internationale Pakt über wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e, soziale und kulturelle Re<strong>ch</strong>te (IPwskR,<br />
1966). Die wi<strong>ch</strong>tigste internationale Re<strong>ch</strong>tevereinbarung Europas ist s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
die Europäis<strong>ch</strong>e Konvention zum S<strong>ch</strong>utze der Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und Grundfreiheiten<br />
(Europäis<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskonvention, EMRK, 1950). Zwar gilt au<strong>ch</strong><br />
diese Konvention in Deuts<strong>ch</strong>land nur im Range einfa<strong>ch</strong>en Bundesre<strong>ch</strong>ts, do<strong>ch</strong> ist<br />
na<strong>ch</strong> dem 9. Zusatzprotokoll (1994) inzwis<strong>ch</strong>en eine Individualbes<strong>ch</strong>werde zum<br />
Europäis<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>tshof für Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (EGMR, Straßburg) mögli<strong>ch</strong>, die<br />
s<strong>ch</strong>on mehrfa<strong>ch</strong> zur Verurteilung der Bundesrepublik Deuts<strong>ch</strong>land geführt hat –<br />
meist wegen überlanger Verfahrensdauer von Strafprozessen. Mittelbare Wirkung<br />
auf die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> des Grundgesetzes hat die EMRK zudem über die<br />
Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts, die im Falle einer festgestellten<br />
Konventionsverletzung dazu neigt, glei<strong>ch</strong>zeitig eine Verletzung des Willkür (Art.<br />
3 I GG) anzunehmen. Verwe<strong>ch</strong>slungsgefahr besteht zwis<strong>ch</strong>en der EMRK und<br />
sonstigem Europare<strong>ch</strong>t: der Europäis<strong>ch</strong>e Geri<strong>ch</strong>tshof für Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te ist ni<strong>ch</strong>t<br />
identis<strong>ch</strong> mit dem Geri<strong>ch</strong>tshof der Europäis<strong>ch</strong>en Gemeins<strong>ch</strong>aften (Europäis<strong>ch</strong>er<br />
Geri<strong>ch</strong>tshof, EuGH); die Europäis<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskonvention selbst ist<br />
kein Gemeins<strong>ch</strong>aftsre<strong>ch</strong>t, sondern wird ledigli<strong>ch</strong> vom EuGH zur Interpretation<br />
der Gemeins<strong>ch</strong>aftsgrundre<strong>ch</strong>te herangezogen.<br />
2. Der supranationale Bezug der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> des Grundgesetzes zum Gemeins<strong>ch</strong>aftsre<strong>ch</strong>t<br />
hat si<strong>ch</strong> in zwei Ri<strong>ch</strong>tungen fortlaufend verstärkt. Erstens ist na<strong>ch</strong><br />
der Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Europäis<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>tshofs (EuGH) au<strong>ch</strong> im Gemeins<strong>ch</strong>aftsre<strong>ch</strong>t<br />
implizit eine Grundre<strong>ch</strong>tsordnung enthalten, die si<strong>ch</strong> aus den ge-
IV. Internationale, supranationale und verfassungsverglei<strong>ch</strong>ende Bezüge 19<br />
meinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ergibt. Insoweit ist dem<br />
Grundgesetz inzwis<strong>ch</strong>en eine zweite Grundre<strong>ch</strong>tsordnung an die Seite gestellt,<br />
die in Berei<strong>ch</strong>en europare<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Zuständigkeit Geltung beanspru<strong>ch</strong>t. Die<br />
Grundre<strong>ch</strong>tskontrolle dur<strong>ch</strong> den EuGH ist insoweit au<strong>ch</strong> vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
in der ʹSolange-Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ungʹ anerkannt worden (BVerfGE 37,<br />
271 [285] – Solange I; 73, 339 [366] – Solange II; 89, 155 [181] – Maastri<strong>ch</strong>t). Zweitens<br />
tritt dur<strong>ch</strong> das Europare<strong>ch</strong>t ein Wandel der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> des Grundgesetzes<br />
ein, ohne daß dies im Verfassungstext si<strong>ch</strong>tbar würde. So ist insbesondere bei<br />
den Wirts<strong>ch</strong>aftsgrundre<strong>ch</strong>ten 52 inzwis<strong>ch</strong>en der Kreis der Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigten<br />
auf Unionsbürger 50 ausgedehnt.<br />
3. Verfassungsverglei<strong>ch</strong>ende Bezüge lassen si<strong>ch</strong> von den <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n des<br />
Grundgesetzes einerseits zu den Landesgrundre<strong>ch</strong>ten und andererseits zu den<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsgarantien anderer Verfassungsstaaten herstellen. Methodis<strong>ch</strong> bedeutsam<br />
werden diese Bezüge spätestens dann, wenn man die Re<strong>ch</strong>tsverglei<strong>ch</strong>ung<br />
als fünfte Auslegungsmethode ansieht (Peter Häberle). Im Staatsexamen<br />
spielen die Verfassungen anderer Staaten indes keine Rolle. Au<strong>ch</strong> auf die Landesgrundre<strong>ch</strong>te<br />
kommt es regelmäßig nur dann an, wenn insoweit landesre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Besonderheiten gelten, etwa bei sozialen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n 52 oder bei besonders<br />
spezifis<strong>ch</strong>en Gewährleistungen (etwa Art. 141 III 1 BayVerf: Re<strong>ch</strong>t auf Naturgenuß).
2. Kapitel:<br />
Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
Im Ersten Juristis<strong>ch</strong>en Staatsexamen ist die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung regelmäßig eingebettet<br />
in ein Verfahren: beim Staatsre<strong>ch</strong>tsfall in eine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
(II.) oder Normenkontrolle (IV., V.); beim Verwaltungsre<strong>ch</strong>tsfall in die jeweilige<br />
Klageart des Verwaltungsprozeßre<strong>ch</strong>ts (III.). Glei<strong>ch</strong>gültig, wo innerhalb des Verfahrens<br />
die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> letztli<strong>ch</strong> geprüft werden, wird ihre guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Behandlung<br />
immer mit denselben Einzels<strong>ch</strong>ritten in den Verfahrensrahmen eingebettet<br />
(I.).<br />
I. Materielle Prüfung<br />
Die inhaltli<strong>ch</strong>e Prüfung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> folgt entweder dem abwehrre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
(3.) oder dem glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en (4.) oder dem s<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Aufbau (5.);<br />
in allen Fällen kann dabei eine Abwägung in Form der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
vorkommen (2.); da die Prüfung für jedes mögli<strong>ch</strong>erweise verletzte Grundre<strong>ch</strong>t<br />
einzeln erfolgen muß, sind zudem die Grundregeln der Prüfungsreihenfolge<br />
zu bea<strong>ch</strong>ten (1.).<br />
1. Prüfungsreihenfolge<br />
Für die Prüfungsreihenfolge haben si<strong>ch</strong> zwei Regeln herausgebildet: man prüft<br />
Freiheits- vor Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>ten und innerhalb dieser Gruppen die besonderen<br />
Re<strong>ch</strong>te vor der allgemeinen Gewährleistung. Insgesamt folgt daraus die Reihung:<br />
1. Besondere Freiheitsre<strong>ch</strong>te<br />
2. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG)<br />
3. Besondere Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te<br />
4. Allgemeiner Glei<strong>ch</strong>heitssatz (Art. 3 I GG)<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> werden immer einzeln geprüft. Dabei gilt die allgemeine guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Regel, daß Inhalte, auf die es na<strong>ch</strong> der Fallkonstellation ni<strong>ch</strong>t ernstli<strong>ch</strong> ankommt,<br />
gar ni<strong>ch</strong>t angespro<strong>ch</strong>en werden. Häufig enthält die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
deshalb keine Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung; sie konzentriert si<strong>ch</strong> dann typis<strong>ch</strong>erweise<br />
auf die Prüfung besonderer Freiheitsre<strong>ch</strong>te, ergänzt um einen kurzen Hinweis<br />
darauf, daß die allgemeine Handlungsfreiheit gegenüber dem eins<strong>ch</strong>lägigen be-
22<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
sonderen Freiheitsre<strong>ch</strong>t als subsidiär zurücktritt. In Fällen mit ganz klarem<br />
S<strong>ch</strong>werpunkt, etwa bei einer reinen Meinungsäußerungsfrage, ist es ratsam, bereits<br />
am Anfang festzustellen, daß eine Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung nur hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
dieses einen Grundre<strong>ch</strong>ts problematis<strong>ch</strong> ist. Die weitere Prüfung kann si<strong>ch</strong> dann<br />
auf dieses Grundre<strong>ch</strong>t bes<strong>ch</strong>ränken:<br />
»B. Begründetheit<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des A wäre begründet, wenn er dur<strong>ch</strong> die Strafurteile in<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n verletzt wäre. Hier kommt allein eine Verletzung der Meinungsfreiheit<br />
(Art. 5 I GG) in Betra<strong>ch</strong>t.<br />
I. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Meinungsfreiheit<br />
...«<br />
S<strong>ch</strong>wierig ist regelmäßig die Prüfungsreihenfolge innerhalb besonderer Freiheitsre<strong>ch</strong>te.<br />
Hier gilt zunä<strong>ch</strong>st die Spezialitätsregel, d.h. wenn ein Grundre<strong>ch</strong>t<br />
erkennbar spezifis<strong>ch</strong>er auf die Fallkonstellation zutrifft, ist es vorrangig zu prüfen.<br />
Sofern sein S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> betroffen ist, treten konkurrierende <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>,<br />
die weniger speziell sind, dahinter zurück. So wäre bei einem Reitverbot auf<br />
Waldwegen 148 (vgl. BVerfGE 80, 137 [150 ff.] – Reiten im Walde) in einer ausführli<strong>ch</strong>en<br />
Prüfung zunä<strong>ch</strong>st auf das sehr spezielle Grundre<strong>ch</strong>t der Freizügigkeit<br />
einzugehen (Art. 11 I GG), dann auf Berufs- und Eigentumsfragen (Art. 12 I, 14 I<br />
GG) und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG).<br />
Einen bloß klausurtaktis<strong>ch</strong>en Hintergrund hat der Rat, unter mehreren<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n glei<strong>ch</strong>er Spezifität (z.B. Berufsfreiheit und Eigentum, Rundfunkund<br />
Filmfreiheit etc.) das abzulehnende Grundre<strong>ch</strong>t zuerst zu prüfen. Dadur<strong>ch</strong><br />
läßt si<strong>ch</strong> guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Breite erzeugen, bevor die detaillierte Prüfung des eigentli<strong>ch</strong><br />
eins<strong>ch</strong>lägigen Grundre<strong>ch</strong>ts beginnt. Solange die S<strong>ch</strong>werpunktsetzung des<br />
Guta<strong>ch</strong>tens darunter ni<strong>ch</strong>t leidet, ist gegen ein sol<strong>ch</strong>es Vorgehen bei <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n<br />
glei<strong>ch</strong>er Spezifität ni<strong>ch</strong>ts einzuwenden.<br />
Allein das sa<strong>ch</strong>nähere Grundre<strong>ch</strong>t wird vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t geprüft,<br />
wenn bezügli<strong>ch</strong> ein und desselben Sa<strong>ch</strong>verhalts mehrere Freiheitsre<strong>ch</strong>te<br />
glei<strong>ch</strong>zeitig eins<strong>ch</strong>lägig sein könnten, so daß es einer Abgrenzung unter eigentli<strong>ch</strong><br />
glei<strong>ch</strong> spezifis<strong>ch</strong>en <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n bedarf. Betont wurde die Sa<strong>ch</strong>nähe bisher<br />
fast auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> in der Abgrenzung von Eigentum und Berufsfreiheit: Art. 14 I<br />
GG s<strong>ch</strong>ützt das Erworbene, die Ergebnisse geleisteter Arbeit, Art. 12 I GG dagegen<br />
den Erwerb, die Betätigung selbst (vgl. BVerfGE 84, 133 [157] – Abwicklung<br />
von DDR-Einri<strong>ch</strong>tungen). Bei anderen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n stellt das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
auf die stärkere sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Beziehung nur selten ab (vgl. BVerfGE 13,<br />
290 [296] – Ehegatten-Arbeitsverhältnisse). Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> handelt es si<strong>ch</strong> bei der<br />
Sa<strong>ch</strong>nähe ni<strong>ch</strong>t um ein eigenständiges Abgrenzungskriterium, sondern nur um
I. Materielle Prüfung – Prüfungsreihenfolge 23<br />
eine besondere Formulierung für den Umstand, daß zwis<strong>ch</strong>en den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>en<br />
ein Verhältnis der exklusiven Alternativität (des gegenseitigen Auss<strong>ch</strong>lusses)<br />
besteht. Vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t wird dies analog zur lex specialis-<br />
Regel hergeleitet (vgl. BVerfGE 13, 290 [297]).<br />
Eine Idealkonkurrenz, bei der beide <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> nebeneinander anwendbar<br />
sind, ist in allen verbleibenden Fällen anzunehmen. Eine sol<strong>ch</strong>e Konkurrenzsituation<br />
tritt beispielsweise auf, wenn si<strong>ch</strong> ein Zeitungsredakteur sowohl auf die<br />
Presse- als au<strong>ch</strong> auf die Berufsfreiheit stützt oder wenn die Kir<strong>ch</strong>enzeitung<br />
glei<strong>ch</strong>zeitig unter den S<strong>ch</strong>utz der Religions- und der Pressefreiheit fällt. Au<strong>ch</strong><br />
idealkonkurrierende <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> müssen einzeln geprüft werden. Das führt<br />
ganz zwanglos zu dem Ergebnis, daß der jeweils stärkste S<strong>ch</strong>utzgehalt kontrollierend<br />
wirkt, eine Eins<strong>ch</strong>ränkung der Pressefreiheit also beispielsweise no<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt<br />
sein kann, die glei<strong>ch</strong>zeitig mit der Eins<strong>ch</strong>ränkung verbundene Wirkung<br />
auf die Religionsfreiheit aber zur Verfassungswidrigkeit führt.<br />
2. Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt abwehrre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> als Übermaßverbot,<br />
s<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> als Untermaßverbot und glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der sogenannten<br />
ʹneuen Formelʹ37 als Verbot unverhältnismäßiger Differenzierung. In allen<br />
Fällen wird die Verhältnismäßigkeit geprüft, indem man das vom Hoheitsträger<br />
eingesetzte Mittel an dem damit verfolgten Zweck mißt (Mittel-Zweck-Relation);<br />
es gilt:<br />
Die Verhältnismäßigkeit ist nur dann gewahrt, wenn erstens das Mittel<br />
den Zweck überhaupt fördert (Geeignetheit, Taugli<strong>ch</strong>keit), wenn es zweitens<br />
kein milderes Mittel gibt, das denselben Zweck glei<strong>ch</strong> wirksam zu fördern<br />
vermag (Erforderli<strong>ch</strong>keit), und wenn drittens das Gewi<strong>ch</strong>t der mit<br />
dem Mittel verbundenen Grundre<strong>ch</strong>tsbeeinträ<strong>ch</strong>tigung zum Gewi<strong>ch</strong>t des<br />
mit der Maßnahme verfolgten Zweckes ni<strong>ch</strong>t außer Verhältnis steht (Verhältnismäßigkeit<br />
im engeren Sinne: Angemessenheit, Zumutbarkeit).<br />
Die Geeignetheitsprüfung besteht regelmäßig aus nur einem kurzen Satz, denn<br />
es kommt praktis<strong>ch</strong> nie vor, daß eine Maßnahme bereits untaugli<strong>ch</strong> ist, d.h. den<br />
Zweck überhaupt ni<strong>ch</strong>t fördert. Bei der Erforderli<strong>ch</strong>keitsfrage hat zwar der Gesetzgeber<br />
eine Eins<strong>ch</strong>ätzungsprärogative hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> der zu erwartetenden Wirksamkeit<br />
des Mittels, do<strong>ch</strong> sollte deshalb dieser Prüfungspunkt ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>ematis<strong>ch</strong><br />
abgehakt werden (»Mildere Mittel sind ni<strong>ch</strong>t ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>«). Häufig gibt es naheliegende<br />
Alternativen, die die grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Freiheit weniger stark bes<strong>ch</strong>ränken.<br />
Sol<strong>ch</strong>e Alternativmittel sollten im Guta<strong>ch</strong>ten benannt werden, glei<strong>ch</strong> wie<br />
das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t gelegentli<strong>ch</strong> mögli<strong>ch</strong>e mildere Mittel im einzelnen
24<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
untersu<strong>ch</strong>t. In aller Regel fehlt es dann allerdings an der na<strong>ch</strong>weisli<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong>en<br />
Wirksamkeit hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> des Zwecks, denn für diese ist au<strong>ch</strong> der von der öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Hand zu betreibende Aufwand mit zu berücksi<strong>ch</strong>tigen (Effizienz). Nur<br />
selten ist im Ergebnis die Erforderli<strong>ch</strong>keit zu verneinen.<br />
Der S<strong>ch</strong>werpunkt der Prüfung liegt regelmäßig beim letzten Teil, der Angemessenheitsprüfung.<br />
Hier muß im Guta<strong>ch</strong>ten eine umfassende Abwägung präsentiert<br />
werden, wofür es nötig ist, alle Gesi<strong>ch</strong>tspunkte herauszuarbeiten, die für<br />
das Gewi<strong>ch</strong>t des beeinträ<strong>ch</strong>tigten Grundre<strong>ch</strong>ts einerseits und für das Gewi<strong>ch</strong>t des<br />
vom Staat verfolgten Zweckes andererseits spre<strong>ch</strong>en. Wer ein juristis<strong>ch</strong>es Guta<strong>ch</strong>ten<br />
verfaßt, muß dabei immer auf beiden Seiten Argumente anführen, sonst ist<br />
die gestellte Aufgabe ni<strong>ch</strong>t hinrei<strong>ch</strong>end bearbeitet. Heuristis<strong>ch</strong> hilfrei<strong>ch</strong> ist es,<br />
wenn man si<strong>ch</strong> fragt, warum der Hoheitsträger (Gesetzgeber, Verwaltung, Geri<strong>ch</strong>te)<br />
eine bestimmte Gestaltung (Gesetz, Verwaltungsakt, Interpretation) im öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Interesse oder zum S<strong>ch</strong>utz Dritter für vorzugswürdig hält, bzw. warum<br />
si<strong>ch</strong> der Grundre<strong>ch</strong>tsträger dur<strong>ch</strong> die hoheitli<strong>ch</strong>e Maßnahme besonders betroffen<br />
fühlt. Wer dazu neigt, die Gegengründe im Guta<strong>ch</strong>ten zu verna<strong>ch</strong>lässigen,<br />
der sollte si<strong>ch</strong> zwei Prinzipien einprägen, die gute Ri<strong>ch</strong>terinnen bei der Begründung<br />
ihrer Ents<strong>ch</strong>eidungen befolgen: die abgelehnte Seite wird zuerst präsentiert;<br />
die abgelehnte Seite wird besonders ausführli<strong>ch</strong> präsentiert. In der Praxis<br />
stellt man so si<strong>ch</strong>er, daß alle Anliegen der unterlegenen Partei wirkli<strong>ch</strong> umfassend<br />
(und damit re<strong>ch</strong>tsmittelfest) gewürdigt sind; die pragmatis<strong>ch</strong> motivierten<br />
Prinzipien fördern aber au<strong>ch</strong> die argumentative Qualität von Guta<strong>ch</strong>ten.<br />
Darstellungste<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong> empfiehlt es si<strong>ch</strong>, im Guta<strong>ch</strong>ten vorab den vom Hoheitsträger<br />
verfolgten Zweck ausdrückli<strong>ch</strong> festzustellen, weil auf diesen Zweck<br />
bei jeder Teilprüfung zurückgegriffen werden muß. Die abgekürzte Prüfung eines<br />
einfa<strong>ch</strong>en Sa<strong>ch</strong>verhalts, die bei unproblematis<strong>ch</strong>en Guta<strong>ch</strong>tenabs<strong>ch</strong>nitten im<br />
knappen Urteilsstil formuliert werden darf, hätte also beispielsweise folgenden<br />
Inhalt:<br />
»Fragli<strong>ch</strong> ist aber, ob das Rau<strong>ch</strong>verbot in öffentli<strong>ch</strong>en Gebäuden au<strong>ch</strong> verhältnismäßig<br />
ist. Der Gesetzgeber will mit dem Rau<strong>ch</strong>verbot die Gesundheit der Ni<strong>ch</strong>trau<strong>ch</strong>er<br />
s<strong>ch</strong>ützen. Das Verbot fördert diesen S<strong>ch</strong>utzzweck, indem es die Atemluft von Tabakrau<strong>ch</strong><br />
frei hält, ist also geeignet. Ein milderes Mittel, etwa die Bes<strong>ch</strong>ränkung des<br />
Rau<strong>ch</strong>verbots auf einzelne Zonen, wäre ni<strong>ch</strong>t genau glei<strong>ch</strong> wirksam, so daß die Maßnahme<br />
au<strong>ch</strong> erforderli<strong>ch</strong> ist. Gegen die Angemessenheit des Verbots spri<strong>ch</strong>t, daß der<br />
regelmäßige Zigarettenkonsum für Rau<strong>ch</strong>er ein dringli<strong>ch</strong>es Bedürfnis ist und das<br />
Passivrau<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t immer zu Gesundheitss<strong>ch</strong>äden führt. Andererseits ist die körperli<strong>ch</strong>e<br />
Unversehrtheit der Ni<strong>ch</strong>trau<strong>ch</strong>er ein Verfassungsgut von hohem Rang. Die<br />
mögli<strong>ch</strong>e Erkrankung einzelner infolge des Passivrau<strong>ch</strong>ens wäre eine Beeinträ<strong>ch</strong>tigung<br />
von erhebli<strong>ch</strong>em Gewi<strong>ch</strong>t. Zudem bleibt es den Rau<strong>ch</strong>ern unbenommen, die öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Gebäude zeitweise zu verlassen, um draußen zu rau<strong>ch</strong>en, wobei keine ver-
I. Materielle Prüfung – Verhältnismäßigkeitsprüfung 25<br />
glei<strong>ch</strong>bar intensive Gefährdung anderer Mens<strong>ch</strong>en eintritt. Insgesamt steht ein<br />
Rau<strong>ch</strong>verbot in öffentli<strong>ch</strong>en Gebäuden deshalb ni<strong>ch</strong>t außer Verhältnis zu dem verfolgten<br />
S<strong>ch</strong>utzzweck; es ist verhältnismäßig.«<br />
Wer die Dreistufigkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung zusätzli<strong>ch</strong> betonen<br />
mö<strong>ch</strong>te, kann hier mit Zwis<strong>ch</strong>enübers<strong>ch</strong>riften arbeiten (1. Geeignetheit, 2. Erforderli<strong>ch</strong>keit,<br />
3. Angemessenheit). Das empfiehlt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong>, wenn außer der Angemessenheit<br />
bereits die Erforderli<strong>ch</strong>keit ausführli<strong>ch</strong> behandelt wird sowie bei<br />
mehrfa<strong>ch</strong> gestaffelte Zwis<strong>ch</strong>energebnissen (vgl. Fall 4: Festungsumzug 171 ). Ni<strong>ch</strong>t<br />
ratsam ist es hingegen, für die Nennung des Zweckes einen eigenen Prüfungspunkt<br />
zu reservieren, weil dadur<strong>ch</strong> die Dreistufigkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
ni<strong>ch</strong>t mehr deutli<strong>ch</strong> hervortritt. Der gutgemeinte Rat, man könne vorab<br />
feststellen, ob es si<strong>ch</strong> bei der vom Gesetzgeber verfolgten Zielsetzung überhaupt<br />
um einen verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> zulässigen Zweck handle, ist zwar inhaltli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
fals<strong>ch</strong>, führt aber insoweit in die Irre, als der theoretis<strong>ch</strong>e Fall eines s<strong>ch</strong>on unzulässigen<br />
Zwecks weder in Prüfungsfällen no<strong>ch</strong> in der Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung vorkommt.<br />
Allenfalls in der glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Verhältnismäßigkeitsprüfung oder im<br />
Rahmen der Dreistufentheorie 99 bei der Berufsfreiheit kann es in Einzelfällen<br />
sinnvoll sein, vorab na<strong>ch</strong> der verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Zulässigkeit des Differenzierungszieles<br />
oder Regelungszwecks zu fragen.<br />
Die präzise Feststellung des Zweckes ist eine in Guta<strong>ch</strong>ten häufig ni<strong>ch</strong>t bea<strong>ch</strong>tete<br />
Notwendigkeit. Fehler treten vor allem dann auf, wenn der Zweck der<br />
hoheitli<strong>ch</strong>en Maßnahme im Gesetz oder anläßli<strong>ch</strong> des Einzelakts ni<strong>ch</strong>t ausdrückli<strong>ch</strong><br />
benannt ist, sondern aus den Umständen hergeleitet werden muß. Es<br />
ist beispielsweise zu unspezifis<strong>ch</strong>, wenn als Zweck einer gesetzli<strong>ch</strong>en Regelung<br />
nur der ʹS<strong>ch</strong>utz Dritterʹ oder die ʹFörderung des Gemeinwohlsʹ erwähnt wird.<br />
Au<strong>ch</strong> wer in abstracto die ʹGesundheitʹ oder ʹFreiheitʹ als Zwecke benennt, hat<br />
damit no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t geklärt, wessen Gesundheit oder wessen Freiheit ges<strong>ch</strong>ützt oder<br />
gefördert werden soll. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung bleibt dann insgesamt<br />
mehrdeutig, weil bei den einzelnen Teilprüfungen ni<strong>ch</strong>t mehr sauber subsumiert<br />
werden kann. Besser ist es, im Zweifelsfalle mehrere Zwecke der Maßnahme im<br />
Detail zu benennen. Damit tritt allerdings ein Sonderproblem auf: die Prüfung<br />
einer hoheitli<strong>ch</strong>en Maßnahme, mit der erkennbar mehr als ein Zweck glei<strong>ch</strong>zeitig<br />
verfolgt wird. Hier müssen die Zwecke alle aufgeführt werden und insgesamt zur<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung des Mittels herangezogen werden. Das heißt: die Förderung einzelner<br />
Zwecke genügt bereits für die Geeignetheit; die Maßnahme ist s<strong>ch</strong>on dann<br />
erforderli<strong>ch</strong>, wenn ein milderes Mittel hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> eines der Zwecke ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong><br />
wirksam ist; das Gewi<strong>ch</strong>t aller Zwecke zusammen wird mit der Beeinträ<strong>ch</strong>tigung<br />
des Grundre<strong>ch</strong>ts abgewogen.
26<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
Als strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung bezei<strong>ch</strong>net das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
die vers<strong>ch</strong>äfte Grundre<strong>ch</strong>tskontrolle, bei der nur zwingende Gründe<br />
für die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung genügen. Der wi<strong>ch</strong>tigste Anwendungsfall<br />
sind die Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung der Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ter 117 (Art. 3 II, III 1 GG)<br />
und die sonstigen Differenzierungsverbote 119 (Art. 3 III GG). Der strenge Maßstab<br />
gilt aber au<strong>ch</strong> bei subjektiven Zulassungsbes<strong>ch</strong>ränkungen im Rahmen der<br />
Berufsfreiheit 98 (Art. 12 I GG); dort wird ein zwingendes Erfordernis zum S<strong>ch</strong>utz<br />
besonders wi<strong>ch</strong>tiger Gemeins<strong>ch</strong>aftsgüter gefordert. Ähnli<strong>ch</strong>keiten weist s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
die Interpretation der Wahlre<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>heit 120 (Art. 38 GG) als »strenge und<br />
formale Glei<strong>ch</strong>heit« auf.<br />
Die praktis<strong>ch</strong>e Konkordanz (Konrad Hesse; Zusammenwirken und Einklang<br />
im Handeln) ist ein Sonderfall der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dabei wird in<br />
Abwägung zwis<strong>ch</strong>en den kollidierenden <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n vers<strong>ch</strong>iedener Grundre<strong>ch</strong>tsträger<br />
na<strong>ch</strong> dem ʺs<strong>ch</strong>onendsten Ausglei<strong>ch</strong>ʺ gesu<strong>ch</strong>t. Typis<strong>ch</strong>erweise ist<br />
na<strong>ch</strong> praktis<strong>ch</strong>er Konkordanz zu fragen, wenn der Staat zum S<strong>ch</strong>utz eines<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsträgers in die Freiheit eines anderen eingreift. Hier sind die Regeln<br />
weniger gefestigt als bei der normalen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Für eine<br />
umfassende Prüfung empfiehlt es si<strong>ch</strong>, eingangs wiederum den Zweck der beeinträ<strong>ch</strong>tigenden<br />
Maßnahme zu benennen, der in sol<strong>ch</strong>en Fällen meist in S<strong>ch</strong>utz<br />
oder Förderung der Grundre<strong>ch</strong>tsgüter Dritter besteht, dana<strong>ch</strong> kurz die Geeignetheit<br />
und Erforderli<strong>ch</strong>keit für diese Grundre<strong>ch</strong>tsförderung festzustellen, um<br />
s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> in der Angemessenheit zu fragen, ob das Gewi<strong>ch</strong>t der Förderung des<br />
einen Grundre<strong>ch</strong>ts zum Gewi<strong>ch</strong>t der Beeinträ<strong>ch</strong>tigung des anderen Grundre<strong>ch</strong>ts<br />
no<strong>ch</strong> in einem angemessenen Verhältnis steht. Für die Klarheit des Guta<strong>ch</strong>tens<br />
sollte dabei stets deutli<strong>ch</strong> bleiben, wel<strong>ch</strong>es Grundre<strong>ch</strong>t abwehrre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> geprüft<br />
wird (Prüfungsrahmen) und wel<strong>ch</strong>es Grundre<strong>ch</strong>t nur s<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> in der Abwägung<br />
auftau<strong>ch</strong>t (Prüfungsausfüllung).<br />
Formulierungste<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Besonderheiten gibt es bei der Verhältnismäßigkeit<br />
innerhalb einer glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en oder s<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Prüfung. Beim<br />
Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>t wird na<strong>ch</strong> der neuen Formel 37 das Mittel der Differenzierung<br />
mit dem Zweck der Differenzierung abgewogen. In der S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tendogmatik<br />
gibt es bisher keine Einigkeit darüber, ob und wie man eine Analogie zur<br />
Abwehrre<strong>ch</strong>tsprüfung herstellen kann. Übli<strong>ch</strong>erweise spri<strong>ch</strong>t man statt von einem<br />
Übermaßverbot bei S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten vom Untermaßverbot und statt von<br />
Eingriffen (des Staates) von Übergriffen (Privater). Bei der s<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Verhältnismäßigkeit geht es also um das Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en der S<strong>ch</strong>utzanstrengung,<br />
die der Staat unternimmt (Mittel), und dem S<strong>ch</strong>utzniveau, das er effektiv<br />
dadur<strong>ch</strong> zu errei<strong>ch</strong>en vermag (Zweck). Die Einzelheiten hierzu sind na<strong>ch</strong> wie
I. Materielle Prüfung – Verhältnismäßigkeitsprüfung 27<br />
vor äußerst umstritten; als Anregung mag die folgende Entspre<strong>ch</strong>ung zum<br />
Verhältnismäßigkeitsgebot 23 gelten:<br />
Das Untermaßverbot ist nur dann gewahrt, wenn erstens das eingesetzte<br />
S<strong>ch</strong>utzmittel überhaupt den S<strong>ch</strong>utz fördert (Geeignetheit), wenn es zweitens<br />
kein wirksameres, glei<strong>ch</strong> aufwendiges S<strong>ch</strong>utzmittel gibt (Umkehrung<br />
zur Erforderli<strong>ch</strong>keit) und wenn drittens das mit dem Mittel errei<strong>ch</strong>te<br />
S<strong>ch</strong>utzniveau mit Blick auf das Gewi<strong>ch</strong>t des zu s<strong>ch</strong>ützenden Grundre<strong>ch</strong>tsgutes<br />
angemessen ist (Umkehrung zur Angemessenheit).<br />
3. Abwehrre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
Die abwehrre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Prüfung erfolgt für jedes Grundre<strong>ch</strong>t einzeln in dem Dreis<strong>ch</strong>ritt:<br />
1. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>, 2. Eingriff, 3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung.<br />
Beim alternativen vierstufigen Aufbau wird zusätzli<strong>ch</strong> in 3. S<strong>ch</strong>ranken und 4.<br />
S<strong>ch</strong>ranken-S<strong>ch</strong>ranken unterteilt. Terminologis<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>eidet man zwis<strong>ch</strong>en<br />
vers<strong>ch</strong>iedenen Beeinträ<strong>ch</strong>tigungsintensitäten entlang dieser Prüfungss<strong>ch</strong>ritte:<br />
Wenn die untersu<strong>ch</strong>ten Vorgänge si<strong>ch</strong> unter den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> eines Grundre<strong>ch</strong>ts<br />
subsumieren lassen, so spri<strong>ch</strong>t man davon, daß das Grundre<strong>ch</strong>t ʺberührtʺ<br />
oder ʺbetroffenʺ sei. Wenn dies dur<strong>ch</strong> einen staatli<strong>ch</strong>en Eingriff ges<strong>ch</strong>ieht, so<br />
heißt es, in das Grundre<strong>ch</strong>t werde ʺeingegriffenʺ. Erst wenn die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung na<strong>ch</strong>weisli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>eitert ist, darf im Guta<strong>ch</strong>ten behauptet<br />
werden, daß der Grundre<strong>ch</strong>tsträger in diesem Grundre<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> ʺverletztʺ<br />
sei.<br />
Innerhalb der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>sprüfung wird nötigenfalls no<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en persönli<strong>ch</strong>em<br />
und sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>em S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> differenziert. Daraus ergibt si<strong>ch</strong> folgende<br />
Grundstruktur der abwehrre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Prüfung:<br />
1. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
a) Persönli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
b) Sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
2. Eingriff<br />
3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
In der Regel liegt der S<strong>ch</strong>werpunkt einer abwehrre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Prüfung entweder<br />
beim S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> oder in der verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigung, seltener<br />
bei der Frage des Eingriffs, die meist sehr kurz dur<strong>ch</strong> einen Satz im Urteilsstil abgehandelt<br />
werden kann. In allen Teilprüfungen ergeben si<strong>ch</strong> aus der Grundre<strong>ch</strong>tsdogmatik<br />
die folgenden allgemeinen Regeln für die Prüfung, die unabhängig<br />
von den Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten bea<strong>ch</strong>tet werden müssen.
28<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
a) S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
Den persönli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> eines Grundre<strong>ch</strong>ts erörtert man nur, wenn si<strong>ch</strong><br />
na<strong>ch</strong> Grundre<strong>ch</strong>t oder Fallkonstellation eine Besonderheit ergibt. Wenn hingegen<br />
die Beeinträ<strong>ch</strong>tigung einer erwa<strong>ch</strong>senen natürli<strong>ch</strong>en Person in einem ihrer<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te geprüft wird, erübrigt si<strong>ch</strong> jede Ausführung zum persönli<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>. Bei Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>ten muß immer na<strong>ch</strong> der Staatsbürgers<strong>ch</strong>aft<br />
der mögli<strong>ch</strong>erweise betroffenen natürli<strong>ch</strong>en Person bzw. na<strong>ch</strong> der Staatszugehörigkeit<br />
der juristis<strong>ch</strong>en Person gefragt werden. Bei juristis<strong>ch</strong>en Personen 57<br />
ist der persönli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> deshalb anzuspre<strong>ch</strong>en, weil hier zusätzli<strong>ch</strong><br />
zum Tatbestand des Einzelgrundre<strong>ch</strong>ts no<strong>ch</strong> die Regelung des Art. 19 III<br />
GG 57 in die Subsumtion gehört. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> verlangt die besondere Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung<br />
Minderjähriger 56 na<strong>ch</strong> einer detaillierten Prüfung des persönli<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s. Entspre<strong>ch</strong>end eingehend sind andere Sonderkonstellationen zu<br />
untersu<strong>ch</strong>en, etwa der Lebenss<strong>ch</strong>utz ungeborenen Lebens 69 oder die Mens<strong>ch</strong>enwürde<br />
Verstorbener 70 .<br />
Die Subsumtion des Ges<strong>ch</strong>ehens unter den sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> gehört<br />
regelmäßig zu den S<strong>ch</strong>werpunkten der Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung und ist vollständig<br />
von den Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten abhängig. Hier zahlen si<strong>ch</strong> Detailkenntnisse zu einzelnen<br />
Tatbestandselemente und zu ihrer Auslegung dur<strong>ch</strong> das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
aus. Die Regeln zur Prüfungsreihenfolge 21 s<strong>ch</strong>lagen si<strong>ch</strong> ebenfalls<br />
an dieser Stelle nieder, denn einer der häufigsten Gründe, aus denen der sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> eines Grundre<strong>ch</strong>ts verneint wird, besteht darin, daß ein anderes<br />
Grundre<strong>ch</strong>t für das Ges<strong>ch</strong>ehen aus Gründen der Spezialität oder Sa<strong>ch</strong>nähe<br />
den allein relevanten Prüfungsmaßstab bildet.<br />
Ein Sonderfall des sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s ist die einfa<strong>ch</strong>gesetzli<strong>ch</strong>e Ausgestaltung<br />
und Konkretisierung (au<strong>ch</strong>: Prägung, Inhaltsbestimmung) bei normgeprägten<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n (z.B. Eigentum). Hier werden erst dur<strong>ch</strong> einfa<strong>ch</strong>es<br />
Re<strong>ch</strong>t die Bedingungen ges<strong>ch</strong>affen oder die traditionell vorgefundenen Bedingungen<br />
neu gestaltet, um grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ützte Institute (Ehe, Familie, Eigentum,<br />
Erbre<strong>ch</strong>t) und Institutionen (Berufsbeamtentum), aber au<strong>ch</strong> konkretisierungsbedürftige<br />
Freiheiten (z.B. Koalitionsfreiheit 106 , Kriegsdienstverweigerung<br />
98 ) re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> so zu bes<strong>ch</strong>reiben, daß einzelne Ansprü<strong>ch</strong>e des Grundre<strong>ch</strong>tsträgers<br />
daraus erwa<strong>ch</strong>sen. Im positiven S<strong>ch</strong>affen und Umgestalten von Re<strong>ch</strong>ten<br />
liegt genau genommen kein Eingriff des Staates in einen s<strong>ch</strong>on vorgegebenen<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>, sondern dieser Berei<strong>ch</strong> gewinnt dur<strong>ch</strong> die Inhaltsbestimmung erst<br />
seine konkrete Substanz. Trotzdem muß das hoheitli<strong>ch</strong>e Handeln – damit überhaupt<br />
eine grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Kontrolle mögli<strong>ch</strong> wird – so geprüft werden, als<br />
handle es si<strong>ch</strong> um einen Eingriff in vorpositive Freiheitsbestände (vgl. BVerfGE
I. Materielle Prüfung – Abwehrre<strong>ch</strong>tsprüfung 29<br />
52, 1 [29] – Kleingarten). Im Ergebnis wird dadur<strong>ch</strong> das Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
au<strong>ch</strong> auf die Ausgestaltung und Konkretisierung angewendet, wobei der<br />
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in der Abwägung besonderer Berücksi<strong>ch</strong>tigung<br />
bedarf: (um-)gestaltungsfest ist regelmäßig nur ein grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er<br />
Kern.<br />
Ein Sonderfall zum Sonderfall ausgestaltungsbedürftiger <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> sind<br />
die Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>te 51 (z.B. Re<strong>ch</strong>tsweggarantie 110 , gesetzli<strong>ch</strong>er Ri<strong>ch</strong>ter 111 ,<br />
re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Gehör 111 ). Sie sind vorbehaltlose ausgestaltungsbedürftige <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>,<br />
d.h. zur Eingriffsre<strong>ch</strong>tfertigung taugen bei ihnen nur verfassungsimmanente<br />
S<strong>ch</strong>ranken 32 (kollidierende <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> Dritter und andere Re<strong>ch</strong>tsgüter<br />
mit Verfassungsrang). Do<strong>ch</strong> kommt es darauf bei der Prüfung gar ni<strong>ch</strong>t an, denn<br />
Ausgestaltung ist kein Eingriff. Vielmehr folgt die Regelungsbefugnis für ein<br />
Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>t direkt aus der Ausgestaltungsbedürftigkeit des Grundre<strong>ch</strong>ts<br />
selbst. Dies hat die praktis<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tige Konsequenz, daß man bei der verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung von Verfahrensbestimmungen ni<strong>ch</strong>t eingangs<br />
die Frage na<strong>ch</strong> konkurrierendem Verfassungsre<strong>ch</strong>t aufwerfen muß. Allenfalls bei<br />
der Abwägung können andere Verfassungsre<strong>ch</strong>tsgüter (z.B. Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit,<br />
Vertrauenss<strong>ch</strong>utz) zur argumentativen Betonung des öffentli<strong>ch</strong>en Interesses an<br />
der gesetzli<strong>ch</strong>en Regelung zur Spra<strong>ch</strong>e kommen.<br />
b) Eingriff<br />
Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> wird in den meisten Fällen dur<strong>ch</strong> einen klassis<strong>ch</strong>en Eingriff<br />
des Hoheitsträgers beeinträ<strong>ch</strong>tigt, also eine Maßnahme, die grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gewährleistete<br />
Freiheit zielgeri<strong>ch</strong>tet (absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, intentional), unmittelbar, re<strong>ch</strong>tsförmig<br />
und zwingend (imperativ) mindert.<br />
Der klassis<strong>ch</strong>e Eingriff ist eine hoheitli<strong>ch</strong> Maßnahme, die grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
gewährleistete Freiheit zielgeri<strong>ch</strong>tet, unmittelbar, re<strong>ch</strong>tsförmig und zwingend<br />
mindert.<br />
Beispiele dafür, daß ein Grundre<strong>ch</strong>tsgut hoheitli<strong>ch</strong> berührt wird, ohne daß ein<br />
klassis<strong>ch</strong>er Eingriff vorliegt, sind die unbeabsi<strong>ch</strong>tigte Verletzung eines unbeteiligten<br />
Passanten anläßli<strong>ch</strong> eines Polizeieinsatzes (ni<strong>ch</strong>t intentional), s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>thoheitli<strong>ch</strong>e<br />
Maßnahmen wie das Abhören eines Telefons (ni<strong>ch</strong>t re<strong>ch</strong>tsförmig),<br />
Umsatzeinbußen dur<strong>ch</strong> Fehlplanung von Straßenbauten oder dur<strong>ch</strong> staatli<strong>ch</strong>e<br />
Warnungen (ni<strong>ch</strong>t unmittelbar), Wohnungsdur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ung na<strong>ch</strong> Einwilligung<br />
(ni<strong>ch</strong>t imperativ). Die Fälle des Einverständnisses mit der staatli<strong>ch</strong>en Handlung<br />
oder der expliziten Einwilligung werden gemeinhin als Grundre<strong>ch</strong>tsverzi<strong>ch</strong>t bezei<strong>ch</strong>net,<br />
obwohl der Grundre<strong>ch</strong>tsträger hierbei ni<strong>ch</strong>t auf das Grundre<strong>ch</strong>t selbst
30<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
verzi<strong>ch</strong>tet, sondern ledigli<strong>ch</strong> auf dessen Geltendma<strong>ch</strong>ung. Ein sol<strong>ch</strong>er freiverantwortli<strong>ch</strong>er<br />
Verzi<strong>ch</strong>t ist zwar im Grundgesetz ni<strong>ch</strong>t ausdrückli<strong>ch</strong> geregelt, muß<br />
aber s<strong>ch</strong>on deshalb mögli<strong>ch</strong> sein, weil in ihm ebenfalls eine Ausübung von Freiheit<br />
liegt: aktuelles Beispiel ist die freiwillige Teilnahme an einem Spei<strong>ch</strong>eltest<br />
zur gente<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong> unterstützten Strafverfolgung. Unter Privaten liegt analog dazu<br />
kein Übergriff vor, wenn wirksam (d.h. freiverantwortli<strong>ch</strong>) in eine grundre<strong>ch</strong>tsbeeinträ<strong>ch</strong>tigende<br />
Maßnahme (z.B. medizinis<strong>ch</strong>e Behandlung) eingewilligt wurde;<br />
die Handlung löst dann keine S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>t des Staates mehr aus.<br />
Wenn der beeinträ<strong>ch</strong>tigenden Maßnahme die Absi<strong>ch</strong>t, Unmittelbarkeit,<br />
Re<strong>ch</strong>tsförmigkeit oder Zwanghaftigkeit fehlt, dann kommt glei<strong>ch</strong>wohl ein Eingriff<br />
in ni<strong>ch</strong>tklassis<strong>ch</strong>er Form in Betra<strong>ch</strong>t – der faktis<strong>ch</strong>e oder mittelbare Eingriff.<br />
Allgemein anerkannte Kriterien dafür, wann eine faktis<strong>ch</strong>e oder mittelbare<br />
Beeinträ<strong>ch</strong>tigung als Eingriff qualifiziert werden muß, sind bisher weder in der<br />
Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung no<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die Literatur erarbeitet worden. Ri<strong>ch</strong>tigerweise wird<br />
man auf die S<strong>ch</strong>were der Beeinträ<strong>ch</strong>tigung abzustellen und dabei verantwortungsmindernde<br />
Elemente wie die Unvorhersehbarkeit der Wirkung oder die<br />
Unauswei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>keit des staatli<strong>ch</strong>en Handelns in Re<strong>ch</strong>nung zu stellen haben. Einen<br />
Einstieg bietet jeweils die Frage, ob die faktis<strong>ch</strong>e oder mittelbare Beeinträ<strong>ch</strong>tigung<br />
in ihren grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Wirkungen einem klassis<strong>ch</strong>en Eingriff verglei<strong>ch</strong>bar<br />
ist.<br />
Wer si<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>ließt, selbst in Zweifelsfällen bei der guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Prüfung<br />
auf den Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en klassis<strong>ch</strong>em Eingriffsbegriff und seinen modernen<br />
Erweiterungen überhaupt ni<strong>ch</strong>t mehr einzugehen, der kann glei<strong>ch</strong> auf den erweiterten<br />
Eingriffsbegriff abstellen:<br />
Ein Eingriff ist jedes der öffentli<strong>ch</strong>en Gewalt zure<strong>ch</strong>enbare Handeln, das<br />
dem Grundre<strong>ch</strong>tsträger ein grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gewährleistetes Verhalten ganz<br />
oder teilweise unmögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>t.<br />
Aber au<strong>ch</strong> bei diesem Vorgehen bleibt es der guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Prüfung ni<strong>ch</strong>t erspart,<br />
mittelbare Fern- oder Bagatellwirkungen und subjektive Empfindli<strong>ch</strong>keiten<br />
dur<strong>ch</strong> eine wertende Zure<strong>ch</strong>nungsbetra<strong>ch</strong>tung vom Eingriffsbegriff wieder auszunehmen<br />
(Beispiele: Polizeieinsatz führt zum Stau, Pazifist fühlt si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong><br />
Werbung der Bundeswehr gestört).<br />
Für die praktis<strong>ch</strong>e Fallprüfung empfiehlt es si<strong>ch</strong>, die Ans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>keit des erweiterten<br />
Eingriffsbegriffs mit der klaren Prüfbarkeit des klassis<strong>ch</strong>en Eingriffs zu<br />
kombinieren. Dazu kann man, sofern ni<strong>ch</strong>t der Eingriff einfa<strong>ch</strong> im Urteilsstil<br />
festgestellt wird, folgende Begriffsbestimmung verwenden:
I. Materielle Prüfung – Abwehrre<strong>ch</strong>tsprüfung 31<br />
Ein Eingriff ist jede staatli<strong>ch</strong>e Maßnahme, die eine in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> fallende<br />
Tätigkeit ers<strong>ch</strong>wert, verbietet, unmögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>t oder sanktioniert,<br />
insbesondere jede Maßnahme, mit der dies zielgeri<strong>ch</strong>tet und re<strong>ch</strong>tsförmig<br />
ges<strong>ch</strong>ieht (klassis<strong>ch</strong>er Eingriff).<br />
Meist kann man dana<strong>ch</strong> sofort feststellen, warum der geprüfte Hoheitsakt eine<br />
zielgeri<strong>ch</strong>tete und re<strong>ch</strong>tsförmige Freiheitsminderung enthält. Ist das ausnahmsweise<br />
ni<strong>ch</strong>t der Fall, so bietet diese Begriffsbestimmung bereits den Ausgangspunkt<br />
dafür, daß au<strong>ch</strong> mittelbare und faktis<strong>ch</strong> Eingriffe mit verglei<strong>ch</strong>barer Wirkung<br />
dem klassis<strong>ch</strong>en Eingriff glei<strong>ch</strong>gestellt werden müssen. Man<strong>ch</strong>mal liegt ein<br />
Eingriff sogar derart offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> vor, daß er ohne Begriffsdefinition mit einem<br />
einzigen Satz festgestellt werden kann (vgl. Fall 6: Helmpfli<strong>ch</strong>t 189 ).<br />
Verfassungsprozessual ist hierzu wi<strong>ch</strong>tig, daß immer dann, wenn es an der<br />
unmittelbaren Wirkung des Hoheitsaktes fehlt, bei einer Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
bereits die Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis prekär wird, denn der Bes<strong>ch</strong>werdeführer muß<br />
ni<strong>ch</strong>t nur selbst und gegenwärtig, sondern au<strong>ch</strong> unmittelbar in seinem Grundre<strong>ch</strong>t<br />
betroffen sein. Zu einer materiellen Prüfung von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n gelangt man bei<br />
mittelbaren Beeinträ<strong>ch</strong>tigungen also nur, wenn man bereits in der Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis<br />
die Unmittelbarkeit als Problem erkennt und dann die Verglei<strong>ch</strong>barkeit<br />
dieses mittelbaren mit einem klassis<strong>ch</strong>en Eingriff jedenfalls für mögli<strong>ch</strong> erklärt.<br />
c) Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Die S<strong>ch</strong>rankensystematik des Grundgesetzes beruht auf einer Reihe einfa<strong>ch</strong>er<br />
Grundregeln. Innerhalb der verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigung unters<strong>ch</strong>eidet<br />
man erstens die na<strong>ch</strong> dem Grundgesetz vorgesehene Bes<strong>ch</strong>ränkbarkeit des<br />
Grundre<strong>ch</strong>ts gemäß S<strong>ch</strong>rankenklauseln (regelmäßig: Gesetzesvorbehalte; ganz<br />
ausnahmsweise: verfassungsunmittelbare S<strong>ch</strong>ranken; dazu soglei<strong>ch</strong> (1)) oder<br />
grundre<strong>ch</strong>tsimmanenten S<strong>ch</strong>ranken (kollidierende <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> Dritter und andere<br />
Re<strong>ch</strong>tsgüter mit Verfassungsrang), zweitens die diese konkretisierenden S<strong>ch</strong>ranken<br />
(grundre<strong>ch</strong>tseins<strong>ch</strong>ränkenden Gesetze; (2)) und drittens die sogenannten<br />
S<strong>ch</strong>ranken-S<strong>ch</strong>ranken, die ihrerseits dem s<strong>ch</strong>rankenziehenden Gesetzgeber eine<br />
Grenze setzen (z.B. Verhältnismäßigkeitsprinzip, Bestimmtheitsgebot, Vertrauenss<strong>ch</strong>utzprinzip,<br />
Zitiergebot, Verbot des Einzelfallgesetzes, Wesensgehaltsgarantie;<br />
(3)). Nur selten finden sol<strong>ch</strong>e Differenzierungen in der Gliederung ihren<br />
Ausdruck, denn für die Abs<strong>ch</strong>nittsübers<strong>ch</strong>riften eines Guta<strong>ch</strong>tens ist es aussagekräftiger,<br />
wenn sie dem jeweiligen konkreten Prüfungsinhalt folgen, also z.B.<br />
»S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Berufsfreiheit«, »S<strong>ch</strong>rankentrias des Art. 2 I GG«, »Verhältnismäßigkeit<br />
der Abgabenordnung«.
32<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
(1) In der Prüfungsfolge empfiehlt es si<strong>ch</strong>, zunä<strong>ch</strong>st festzustellen, wie das Grundre<strong>ch</strong>t<br />
einges<strong>ch</strong>ränkt werden darf. Hierfür gibt es drei Varianten: 1. verfassungsunmittelbare<br />
S<strong>ch</strong>ranken, 2. Gesetzesvorbehalte, 3. verfassungsimmanente S<strong>ch</strong>ranken.<br />
Die verfassungsunmittelbaren S<strong>ch</strong>ranken zei<strong>ch</strong>nen si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> aus, daß<br />
die Bes<strong>ch</strong>ränkung des Grundre<strong>ch</strong>ts unmittelbar kraft Grundgesetzes eintritt, ohne<br />
daß es eines s<strong>ch</strong>rankenkonkretisierenden Gesetzes bedürfte. Sie sind ein seltener<br />
Ausnahmefall; praktis<strong>ch</strong> relevant ist allenfalls Art. 9 II GG (Vereinigungsverbot<br />
88 ). In den meisten Fällen ausdrückli<strong>ch</strong> eins<strong>ch</strong>ränkender Regelungen im<br />
Grundgesetz handelt es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t um verfassungsunmittelbare S<strong>ch</strong>ranken, sondern<br />
um tatbestandli<strong>ch</strong>e Begrenzungen des S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s (vgl. Art. 8 I GG:<br />
»friedli<strong>ch</strong> und ohne Waffen«).<br />
Bei den Gesetzesvorbehalten ist der Normalfall ein einfa<strong>ch</strong>er Gesetzesvorbehalt,<br />
na<strong>ch</strong> dem das Grundre<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> (Parlaments-)Gesetz oder aufgrund eines<br />
sol<strong>ch</strong>en Gesetzes (d.h. insbesondere dur<strong>ch</strong> Re<strong>ch</strong>tsverordnung) bes<strong>ch</strong>ränkt werden<br />
darf (vgl. Art. 2 II 3, 8 II, 10 II 1, 12 I 2 GG). Bei einigen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n gelten<br />
qualifizierte Gesetzesvorbehalte, die weitere Voraussetzungen an die Bes<strong>ch</strong>ränkbarkeit<br />
knüpfen oder diese auf bestimmte Zwecke oder Mittel begrenzen<br />
(z.B. Art. 11 II GG: »... nur für die Fälle ..., in denen eine ausrei<strong>ch</strong>ende Lebensgrundlage<br />
ni<strong>ch</strong>t vorhanden ist ...«; vgl. au<strong>ch</strong> Art. 5 II, 10 II 2, 13 III GG). Eine Besonderheit<br />
bildet die »verfassungsmäßige Ordnung« in der S<strong>ch</strong>rankentrias des<br />
Art. 2 I GG: sie läßt zur Bes<strong>ch</strong>ränkung jede Re<strong>ch</strong>tsnorm genügen, sogar Ri<strong>ch</strong>terre<strong>ch</strong>t.<br />
Vom Gesetzesvorbehalt zu unters<strong>ch</strong>eiden ist das ihn ausgestaltende Gesetz,<br />
die eigentli<strong>ch</strong>e ʺS<strong>ch</strong>rankeʺ. Dabei muß na<strong>ch</strong> der vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
entwickelten Wesentli<strong>ch</strong>keitstheorie das Parlamentsgesetz selbst alle wesentli<strong>ch</strong>en<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungen treffen und darf diese ni<strong>ch</strong>t der Ausgestaltung dur<strong>ch</strong><br />
die Verwaltung überlassen; der Gesetzesvorbehalt erstarkt insoweit zu einem<br />
Parlamentsvorbehalt.<br />
Auf unges<strong>ch</strong>riebene verfassungsimmanente S<strong>ch</strong>ranken (kollidierende<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> Dritter und andere Re<strong>ch</strong>tsgüter mit Verfassungsrang) greift man bei<br />
normtextli<strong>ch</strong> vorbehaltlos gewährleisteten <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n zurück (vgl. Art. 4 I, 5<br />
III 1, 8 I GG). Dabei ergibt si<strong>ch</strong> der Verfassungsrang eines Re<strong>ch</strong>tsguts ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on<br />
allein aus dessen Erwähnung in den Kompetenzen (Art. 70 ff. GG), weil sonst<br />
praktis<strong>ch</strong> alle Regelungsgegenstände als immanente S<strong>ch</strong>ranken taugli<strong>ch</strong> wären.<br />
Obwohl verfassungsimmanente S<strong>ch</strong>ranken ni<strong>ch</strong>t als Gesetzesvorbehalte formuliert<br />
sind, ist au<strong>ch</strong> bei ihnen zur Konkretisierung stets ein Gesetz erforderli<strong>ch</strong>. Insoweit<br />
erübrigt si<strong>ch</strong> die Frage, ob immanente S<strong>ch</strong>ranken au<strong>ch</strong> neben einfa<strong>ch</strong>en<br />
Gesetzesvorbehalten zur Anwendung kommen. Problematis<strong>ch</strong> und bei den ein-
I. Materielle Prüfung – Abwehrre<strong>ch</strong>tsprüfung 33<br />
zelnen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n umstritten ist hingegen, ob neben qualifizierten Gesetzesvorbehalten<br />
au<strong>ch</strong> immanente S<strong>ch</strong>ranken gelten. Dafür s<strong>ch</strong>eint ein Argument a<br />
maiore ad minus zu spre<strong>ch</strong>en: wenn sogar normtextli<strong>ch</strong> vorbehaltlose Gewährleistungen<br />
immanenten S<strong>ch</strong>ranken unterliegen, dann sollte das bei bes<strong>ch</strong>ränkbaren<br />
Re<strong>ch</strong>ten erst re<strong>ch</strong>t der Fall sein. Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> läge in der Anwendung immanenter<br />
S<strong>ch</strong>ranken aber regelmäßig eine Umgehung der tatbestandli<strong>ch</strong>en Qualifizierung.<br />
Zur Vermeidung sol<strong>ch</strong>er Umgehung müssen qualifizierte Gesetzesvorbehalte<br />
grundsätzli<strong>ch</strong> als abs<strong>ch</strong>ließend verstanden werden (z.B. bei Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ungen<br />
gem. Art. 13 II GG).<br />
(2) Wenn in der Prüfungsfolge die Bes<strong>ch</strong>ränkbarkeit des Grundre<strong>ch</strong>ts festgestellt<br />
ist, dann muß als nä<strong>ch</strong>stes die relevante S<strong>ch</strong>ranke, also das Gesetz, das diese Bes<strong>ch</strong>ränkbarkeit<br />
konkretisiert, benannt werden.<br />
»3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Als gesetzli<strong>ch</strong>e Grundlage kommt allein § 13 IV PBefG in Betra<strong>ch</strong>t. ...«<br />
(3) Dana<strong>ch</strong> folgt die Prüfung der formellen Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes<br />
und ans<strong>ch</strong>ließend die Prüfung materiellre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>ranken-S<strong>ch</strong>ranken:<br />
S<strong>ch</strong>ranken-S<strong>ch</strong>ranken sind sol<strong>ch</strong>e verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Maßstäbe, die ihrerseits<br />
dem s<strong>ch</strong>rankenziehenden Gesetzgeber inhaltli<strong>ch</strong>e Regelungsgrenzen<br />
ziehen.<br />
Es gibt nur zwei absolute, ausdrückli<strong>ch</strong> geregelte S<strong>ch</strong>ranken-S<strong>ch</strong>ranken: das<br />
Verbot der Todesstrafe 72 (Art. 102 GG) und das Zensurverbot 91 (Art. 5 I 3 GG).<br />
Unter den ni<strong>ch</strong>t-absoluten S<strong>ch</strong>ranken-S<strong>ch</strong>ranken ist die mit Abstand wi<strong>ch</strong>tigste<br />
eine unges<strong>ch</strong>riebene: das Verhältnismäßigkeitsprinzip 23 . Au<strong>ch</strong> die ebenfalls als<br />
S<strong>ch</strong>ranken-S<strong>ch</strong>ranken wi<strong>ch</strong>tigen S<strong>ch</strong>utzgehalte des Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzips (Bestimmtheitsgebot,<br />
Vertrauenss<strong>ch</strong>utz) lassen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t unmittelbar dem Grundgesetztext<br />
entnehmenden. Die ausdrückli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ranken-S<strong>ch</strong>ranken hingegen –<br />
Verbot des Einzelfallgesetzes (Art. 19 I 1 GG), Zitiergebot (Art. 19 I 2 GG), Wesensgehaltsgarantie<br />
(Art. 19 II GG) – sind praktis<strong>ch</strong> nur von geringer Bedeutung.<br />
Artikel 19<br />
(1) 1 Soweit na<strong>ch</strong> diesem Grundgesetz ein Grundre<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> Gesetz oder auf<br />
Grund eines Gesetzes einges<strong>ch</strong>ränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein<br />
und ni<strong>ch</strong>t nur für den Einzelfall gelten. 2 Außerdem muß das Gesetz<br />
das Grundre<strong>ch</strong>t unter Angabe des Artikels nennen.<br />
(2) In keinem Falle darf ein Grundre<strong>ch</strong>t in seinem Wesensgehalt angetastet<br />
werden.<br />
(3) ... – (4) ...
34<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
Die Wesensgehaltsgarantie ist ganz im stärkeren Kontrollinstrumentarium des<br />
Verhältnismäßigkeitsprinzips aufgegangen. Au<strong>ch</strong> die übrigen S<strong>ch</strong>ranken-<br />
S<strong>ch</strong>ranken kommen neben dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nur ausnahmsweise<br />
für eine ausführli<strong>ch</strong>e Prüfung in Betra<strong>ch</strong>t. Gerade das Zitiergebot (Art. 19 I 2<br />
GG) wird vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t und der (no<strong>ch</strong>) herrs<strong>ch</strong>enden Lehre auf<br />
Fälle ʺe<strong>ch</strong>terʺ Verkürzung der Grundre<strong>ch</strong>tssubstanz bes<strong>ch</strong>ränkt (Lebenss<strong>ch</strong>utz 71 ,<br />
Erziehungsre<strong>ch</strong>t 84 , Versammlungsfreiheit 86 , Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis<br />
78 , Freizügigkeit 73 , Wohnung 81 ). Im Normalfall der ʺsonstigen grundre<strong>ch</strong>tsrelevanten<br />
Regelungʺ wird das Zitiergebot hingegen ni<strong>ch</strong>t angewendet (Berufsfreiheit<br />
98 , Inhaltsbestimmung des Eigentums 102 , Meinungsfreiheit 90 , allgemeine<br />
Handlungsfreiheit 66 , Religionsfreiheit 95 und andere normtextli<strong>ch</strong> vorbehaltlose<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> sowie Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te 115 ). Das Allgemeinheitspostulat (Art. 19 I<br />
1 GG) verbietet zwar (individualbezogene) Einzelpersonengesetze, ni<strong>ch</strong>t aber<br />
(anlaß- oder planungsbezogene) Maßnahmegesetze.<br />
Die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Prüfung einer hoheitli<strong>ch</strong>en Einzelmaßnahme – sei<br />
es der Verwaltung (Verwaltungsakt), sei es des Geri<strong>ch</strong>ts (Urteil oder Bes<strong>ch</strong>luß),<br />
beides insbesondere bei Urteilsverfassungsbes<strong>ch</strong>werden – unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> von<br />
derjenigen einer generell-abstrakten Norm (Parlamentsgesetz, Re<strong>ch</strong>tsverordnung,<br />
Satzung). Bei Einzelmaßnahmen muß einerseits die gesetzli<strong>ch</strong>e Ermä<strong>ch</strong>tigungsgrundlage<br />
geprüft werden, andererseits aber zusätzli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Maßnahme<br />
selbst, denn es ist mögli<strong>ch</strong>, daß ein Gesetz verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt<br />
ist, die Anwendung des Gesetzes aber eine Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung darstellt.<br />
Wenn sowohl die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in abstracto als au<strong>ch</strong> diejenige<br />
der darauf gestützten Maßnahme in concreto ernsthaft fragli<strong>ch</strong> ist, kommt<br />
es zu einer doppelten Verhältnismäßigkeitsprüfung, die selbst in Examensklausuren<br />
häufig mißlingt. Verhängt beispielsweise der Behördenleiter ein Hausverbot,<br />
weil ein Bürger verbotswidrig innerhalb der Behördenräume gerau<strong>ch</strong>t hat, so<br />
ließe si<strong>ch</strong> die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung folgendermaßen aufbauen:<br />
1. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG)<br />
2. Eingriff<br />
3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
a) Verfassungsmäßigkeit des Rau<strong>ch</strong>verbotsgesetzes<br />
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit<br />
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit – Verhältnismäßigkeit des<br />
Rau<strong>ch</strong>verbotsgesetzes<br />
b) Verhältnismäßigkeit des Hausverbots<br />
Diese doppelte Prüfung muß in der Formulierung des Guta<strong>ch</strong>tens dur<strong>ch</strong> einen<br />
passenden Obersatz eingeleitet sein:
I. Materielle Prüfung – Abwehrre<strong>ch</strong>tsprüfung 35<br />
»3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Der dur<strong>ch</strong> das Hausverbot begründete Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit<br />
könnte als Ausdruck der S<strong>ch</strong>rankenklausel der verfassungsmäßigen Ordnung (Art. 2<br />
I GG) gere<strong>ch</strong>tfertigt sein. Dazu müßte einerseits die gesetzli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ranke im Sinne<br />
dieser Klausel, das Rau<strong>ch</strong>verbotsgesetz, selbst verfassungsgemäß sein (a); andererseits<br />
müßte die Anwendung des Gesetzes in Gestalt des Hausverbots dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
genügen (b).«<br />
Bei der Formulierung des Guta<strong>ch</strong>tens ist dann au<strong>ch</strong> inhaltli<strong>ch</strong> säuberli<strong>ch</strong> zu trennen:<br />
Die Norm selbst wird abstrakt-generell geprüft, also na<strong>ch</strong> ihrer allgemeinen<br />
Zielri<strong>ch</strong>tung und in ihrer Wirkung in allen denkbaren Fällen auf alle Normadressaten.<br />
Die Einzelmaßnahme prüft man hingegen konkret-individuell, also bezogen<br />
auf das einzelne von der Verwaltung verfolgte Anliegen und in ihrer Wirkung<br />
auf diesen Adressaten in genau diesem einen Fall.<br />
Keinesfalls dürfen alle Klausuren mit einer doppelten Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
gelöst werden. Bei sehr allgemein formulierten Gesetzesregeln, etwa<br />
den Tatbeständen des StGB oder den allgemeinen Normen des BGB, wird an deren<br />
Verfassungsmäßigkeit kaum je ernsthaft zu zweifeln sein, weil regelmäßig<br />
die Mögli<strong>ch</strong>keit zu verfassungskonformer Auslegung besteht. Dann konzentriert<br />
si<strong>ch</strong> die Prüfung ganz auf die Anwendung der Norm (z.B.: Verurteilung wegen<br />
Nötigung, Kündigungss<strong>ch</strong>utz des Mieters). In anderen Fällen ist die Norm bereits<br />
so konkret, daß der Umsetzungsakt ni<strong>ch</strong>t mehr gesondert geprüft werden<br />
muß (z.B.: Steuersätze). Nur in den verbleibenden Fällen sind glei<strong>ch</strong>zeitig die<br />
Norm selbst und ihre Anwendung in Gestalt der Einzelmaßnahme fragli<strong>ch</strong>.<br />
(4) Einen Sonderfall bilden Verfassungsänderungen. Sie ri<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> in formeller<br />
Hinsi<strong>ch</strong>t außer na<strong>ch</strong> den allgemeinen Verfahrens- und Formvors<strong>ch</strong>riften für<br />
Bundesgesetze (Art. 76 ff. GG) au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> den Sonderregeln des Art. 79 I, II GG<br />
(Textänderungsgebot, Zweidrittelmehrheit), in denen implizit au<strong>ch</strong> die Kompetenz<br />
des Bundes enthalten ist. Materiell sind Verfassungsänderungen auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
an der sogenannten Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG zu messen:<br />
Artikel 79<br />
(1) 1 Das Grundgesetz kann nur dur<strong>ch</strong> ein Gesetz geändert werden, das den<br />
Wortlaut des Grundgesetzes ausdrückli<strong>ch</strong> ändert oder ergänzt. ...<br />
(2) Ein sol<strong>ch</strong>es Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder<br />
des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.<br />
(3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, dur<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>e die Gliederung des<br />
Bundes in Länder, die grundsätzli<strong>ch</strong>e Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung<br />
oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze<br />
berührt werden, ist unzulässig.
36<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 30, 1 – Abhörurteil; 89, 155 – Maastri<strong>ch</strong>t.<br />
Wi<strong>ch</strong>tig ist dabei, daß von den Artikeln 1 und 20 die Rede ist, ni<strong>ch</strong>t von den Artikeln<br />
1 bis 20, so daß ni<strong>ch</strong>t der ganze Grundre<strong>ch</strong>tskatalog unter absoluten Unveränderbarkeitss<strong>ch</strong>utz<br />
gestellt ist (vgl. etwa die na<strong>ch</strong>trägli<strong>ch</strong> eingefügte Verfassungss<strong>ch</strong>utzklausel<br />
80 Art. 10 II 2, 19 IV 3 GG). Das ʺBerührenʺ der Grundsätze<br />
wird vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t zudem restriktiv ausgelegt (vgl. BVerfGE<br />
30, 1 [24 f.] – Abhörurteil).<br />
4. Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
Die Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung offenbart ihren grundlegenden Unters<strong>ch</strong>ied zur<br />
Abwehrre<strong>ch</strong>tsprüfung bereits darin, daß die Verfassungswidrigkeit wegen<br />
Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsverstoßes ni<strong>ch</strong>t immer zu einem definitiven Handlungs- oder<br />
Unterlassungsbefehl an den Hoheitsträger führt. Wenn beispielsweise der Gesetzgeber<br />
dur<strong>ch</strong> ein Gesetz verfassungswidrig die Freiheit bes<strong>ch</strong>ränkt, dann folgt<br />
aus dem Freiheitsre<strong>ch</strong>t das Gebot, diese Bes<strong>ch</strong>ränkung zu unterlassen; bes<strong>ch</strong>ränkt<br />
dasselbe Gesetz verfassungswidrig die Glei<strong>ch</strong>heit, so kann der Gesetzgeber in<br />
zwei Ri<strong>ch</strong>tungen Abhilfe s<strong>ch</strong>affen: entweder stellt er die bena<strong>ch</strong>teiligte Gruppe<br />
glei<strong>ch</strong>, erweitert also den Anwendungsberei<strong>ch</strong> des Gesetzes; oder er hebt die Regelung<br />
auf und verzi<strong>ch</strong>tet auf die damit verbundene verfassungswidrige Differenzierung.<br />
Im ersten Fall spri<strong>ch</strong>t man von einem derivativen (abgeleiteten) Leistungsre<strong>ch</strong>t,<br />
weil die bena<strong>ch</strong>teiligte Gruppe eine Begrünstigung aus dem Glei<strong>ch</strong>heitssatz<br />
ableitet; im zweiten Fall spri<strong>ch</strong>t man von einem modalen (von den Umständen<br />
abhängigen) Abwehrre<strong>ch</strong>t, weil die bena<strong>ch</strong>teiligte Gruppe einen Unterlassungsanspru<strong>ch</strong><br />
aus dem Glei<strong>ch</strong>heitssatz ableitet. Verfassungsprozessual<br />
s<strong>ch</strong>lägt si<strong>ch</strong> diese Unbestimmtheit darin nieder, daß das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
die glei<strong>ch</strong>heitswidrigen Gesetze ni<strong>ch</strong>t für ni<strong>ch</strong>tig, sondern nur für unvereinbar<br />
mit dem Grundgesetz erklärt.<br />
Für die Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung hat das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t zwei<br />
Prüfungss<strong>ch</strong>emata entwickelt, die es na<strong>ch</strong> wie vor nebeneinander benutzt. In<br />
einfa<strong>ch</strong>en Fällen – meist sol<strong>ch</strong>en, bei denen die Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung nur ergänzend<br />
neben eine im wesentli<strong>ch</strong>en maßstäbli<strong>ch</strong>e Freiheitsre<strong>ch</strong>tsprüfung tritt –<br />
benutzt das Geri<strong>ch</strong>t die Willkürformel:<br />
Willkürformel: Der Glei<strong>ch</strong>heitssatz (Art. 3 I GG) verbietet, wesentli<strong>ch</strong> Glei<strong>ch</strong>es<br />
willkürli<strong>ch</strong> unglei<strong>ch</strong> oder wesentli<strong>ch</strong> Unglei<strong>ch</strong>es willkürli<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong> zu<br />
behandeln (z.B. BVerfGE 4, 144 [155] – Abgeordneten-Ents<strong>ch</strong>ädigung).<br />
Die Prüfung erfolgt dann zweistufig, bei einer Unglei<strong>ch</strong>behandlung eines wesentli<strong>ch</strong><br />
Glei<strong>ch</strong>en beispielsweise:
I. Materielle Prüfung – Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung 37<br />
[... Freiheitsre<strong>ch</strong>tsprüfung ... ]<br />
2. Verletzung des allgemeinen Glei<strong>ch</strong>heitssatzes (Art. 3 I GG)<br />
a) Unglei<strong>ch</strong>behandlung<br />
b) Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Dabei fragt die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung dana<strong>ch</strong>, ob ein sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er<br />
Grund für die Unglei<strong>ch</strong>behandlung besteht, so daß diese ni<strong>ch</strong>t als willkürli<strong>ch</strong><br />
gelten muß. S<strong>ch</strong>wierigkeiten bereitet häufig der erste Abs<strong>ch</strong>nitt, in dem geeignete<br />
Verglei<strong>ch</strong>sgruppen zu bilden sind. Methodis<strong>ch</strong> stellt man dazu fest, wel<strong>ch</strong>e<br />
Gemeinsamkeit (tertium comparationis, genus proximum) und wel<strong>ch</strong>e Unters<strong>ch</strong>eidungsmerkmale<br />
(differentia specifica) die zu verglei<strong>ch</strong>enden Anwendungsfälle<br />
aufweisen. In dieser Weise verglei<strong>ch</strong>en läßt si<strong>ch</strong> fast alles, aber nur wenige Verglei<strong>ch</strong>sgruppen<br />
sind wirkli<strong>ch</strong> sa<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>t. Wird beispielsweise die Pfli<strong>ch</strong>t zur<br />
Anbringung von Tabakwarnhinweisen auf ihre Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tswidrigkeit geprüft,<br />
so ist es unbeholfen, als Verglei<strong>ch</strong>sgruppen die Tabakhersteller und die<br />
Tabakhändler zu untersu<strong>ch</strong>en. Zwar handelt es si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> insoweit um Gruppen,<br />
die von der Gesetzespfli<strong>ch</strong>t unglei<strong>ch</strong> betroffen sind (Hersteller unmittelbar,<br />
Händler mittelbar), do<strong>ch</strong> die viel naheliegendere Verglei<strong>ch</strong>sgruppe zu Tabakherstellern<br />
sind die Alkoholhersteller. Gesu<strong>ch</strong>t werden muß nämli<strong>ch</strong> immer na<strong>ch</strong><br />
sol<strong>ch</strong>en Gruppen, die zur betroffenen Untersu<strong>ch</strong>ungsgruppe (Tabakhersteller)<br />
mögli<strong>ch</strong>st glei<strong>ch</strong>artig sind (Tabak und Alkohol als verglei<strong>ch</strong>bare Su<strong>ch</strong>tmittel des<br />
Alltagskonsums) – oder vereinfa<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en: sol<strong>ch</strong>e, bei denen die Unglei<strong>ch</strong>behandlung<br />
besonders ungere<strong>ch</strong>t ers<strong>ch</strong>eint. Im übrigen gilt, daß die Verglei<strong>ch</strong>sgruppen<br />
so präzise wie mögli<strong>ch</strong> benannt werden müssen (Alkoholhersteller,<br />
ni<strong>ch</strong>t: »Hersteller anderer Produkte«). Werden mehrere Verglei<strong>ch</strong>sgruppen herangezogen,<br />
bei denen jeweils unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Differenzierungskriterien zum<br />
Tragen kommen, so müssen sie einzeln am Maßstab des Glei<strong>ch</strong>heitssatzes gemessen<br />
werden.<br />
Alle Fälle, in denen der S<strong>ch</strong>werpunkt des Falles eine Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsproblematik<br />
betrifft, werden inzwis<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t mehr na<strong>ch</strong> der Willkürformel, sondern<br />
na<strong>ch</strong> der sog. neuen Formel geprüft:<br />
Neue Formel: Der Glei<strong>ch</strong>heitssatz (Art. 3 I GG) gebietet, daß «für die vorgesehene<br />
Differenzierung Gründe von sol<strong>ch</strong>er Art und sol<strong>ch</strong>em Gewi<strong>ch</strong>t bestehen,<br />
daß sie die unglei<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsfolgen re<strong>ch</strong>tfertigen können« (BVerfGE<br />
88, 87 [97] – Transsexuelle II).<br />
Die Re<strong>ch</strong>tfertigung prüft man bei der neuen Formel anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips<br />
23 , fragt also, ob die bena<strong>ch</strong>teiligende Unglei<strong>ch</strong>behandlung<br />
mit Blick auf den Zweck der Differenzierung geeignet, erforderli<strong>ch</strong> und angemes-
38<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
sen ist. Dadur<strong>ch</strong> erhöht si<strong>ch</strong> die Kontrolldi<strong>ch</strong>te gegenüber einer reinen Willkürprüfung,<br />
die bereits irgendeinen sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Grund (d.h. ungea<strong>ch</strong>tet seines relativen<br />
Gewi<strong>ch</strong>ts) zur Re<strong>ch</strong>tfertigung genügen läßt.<br />
5. S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tenprüfung<br />
Für die S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tenprüfung – genauer: S<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>tsprüfung – gibt es bisher<br />
keine allgemein anerkannte Prüfungsfolge. Ers<strong>ch</strong>wert wird die Faßbarkeit der<br />
S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong>, daß dem Gesetzgeber ähnli<strong>ch</strong> wie beim Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>t<br />
in aller Regel mehrere Wege offen stehen, um eine verfassungskonforme Situation<br />
herzustellen: die Verfassungswidrigkeit führt dann ni<strong>ch</strong>t zu definitiven<br />
Handlungsgeboten. Literatur wie Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung betonen insoweit die legislative<br />
Eins<strong>ch</strong>ätzungsprärogative (etwa für Risiken und S<strong>ch</strong>utzwirkungen) und spre<strong>ch</strong>en<br />
davon, daß die S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten weitgehend gesetzesmediatisiert seien, d.h.<br />
erst vermittelt dur<strong>ch</strong> das Gesetz zu konkreten Pfli<strong>ch</strong>ten würden.<br />
Während in der Abwehrre<strong>ch</strong>tsprüfung nur gelegentli<strong>ch</strong> die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
Dritter im Spiel sind, ist dies in S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tenkonstellationen fast immer der<br />
Fall, denn es geht ja gerade darum, den S<strong>ch</strong>utz des Staates gegenüber Beeinträ<strong>ch</strong>tigungen<br />
dur<strong>ch</strong> andere Private zu aktivieren. Ein sol<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>utz ist dann für diejenigen,<br />
gegen die er si<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tet oder ri<strong>ch</strong>ten würde, regelmäßig eine eigene Beeinträ<strong>ch</strong>tigung<br />
von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n. Man denke nur an ein strafbewehrtes Gesetz,<br />
mit dem Eltern verboten wird, ihre Kinder zu s<strong>ch</strong>lagen – und sei es au<strong>ch</strong> aus erzieheris<strong>ch</strong>en<br />
Gründen. Für das Grundre<strong>ch</strong>t der Kinder auf körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit<br />
könnte dies der verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gebotene S<strong>ch</strong>utz sein; für die Eltern<br />
wäre es glei<strong>ch</strong>wohl ein Eingriff in deren Erziehungsgrundre<strong>ch</strong>t, das folgli<strong>ch</strong><br />
als ʺGrundre<strong>ch</strong>t Dritterʺ in die Abwägung zum gebotenen Kindess<strong>ch</strong>utz einfließt.<br />
Statt einer einfa<strong>ch</strong>en Verhältnismäßigkeitsprüfung muß nun die praktis<strong>ch</strong>e Konkordanz<br />
26 von S<strong>ch</strong>utzanspru<strong>ch</strong> (der Kinder) und Abwehrre<strong>ch</strong>t (der Eltern) begründet<br />
werden.<br />
Terminologis<strong>ch</strong> und dogmatis<strong>ch</strong> zei<strong>ch</strong>nen si<strong>ch</strong> bei den S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten inzwis<strong>ch</strong>en<br />
einige vereinheitli<strong>ch</strong>ende Entwicklungen ab: In Analogie zur abwehrre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Prüfung wird von Übergriffen Privater dort gespro<strong>ch</strong>en, wo sonst Eingriffe<br />
des Staates erörtert werden, und das Untermaßverbot 27 ist zu prüfen, wo sonst<br />
das Übermaßverbot als Maßstab gilt. Die S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>t selbst und der ihm regelmäßig<br />
korrespondierende S<strong>ch</strong>utzanspru<strong>ch</strong> des einzelnen (sog. Resubjektivierung)<br />
wird inzwis<strong>ch</strong>en aus der jedem Grundre<strong>ch</strong>t innewohnenden objektivre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Dimension hergeleitet. Dadur<strong>ch</strong> wird die früher in den Ents<strong>ch</strong>eidungen<br />
des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts mitges<strong>ch</strong>leppte Verkoppelung jeder S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>t<br />
mit der Mens<strong>ch</strong>enwürde (vgl. Art. 1 I GG: »zu a<strong>ch</strong>ten und zu s<strong>ch</strong>ützen«)
I. Materielle Prüfung – S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tenprüfung 39<br />
obsolet: die staatli<strong>ch</strong>e Pfli<strong>ch</strong>t zum S<strong>ch</strong>utz des Lebens folgt unmittelbar aus Art. 2<br />
II 1 GG, ni<strong>ch</strong>t aus Art. 2 II 1 i.V.m. Art. 1 I 2 GG.<br />
Ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, sondern allein abwehrre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> geprüft werden diejenigen<br />
Fälle, bei denen die S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>t nur zur Re<strong>ch</strong>tfertigung eines staatli<strong>ch</strong>en<br />
Eingriffs herangezogen wird (Auss<strong>ch</strong>eidungsregel). Übrig bleiben dana<strong>ch</strong> drei<br />
originär s<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Prüfungss<strong>ch</strong>emata. Deren erstes gilt für die typis<strong>ch</strong>e<br />
Konstellation einer Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde, mit der gegenüber einem konkreten<br />
Übergriff (z.B. Entführung in BVerfGE 46, 160 [164] - S<strong>ch</strong>leyer) ein Mehr an staatli<strong>ch</strong>em<br />
S<strong>ch</strong>utz begehrt wird, wobei zwar ein S<strong>ch</strong>utzgesetz (StGB) besteht, dieses<br />
aber vom Hoheitsträger so angewendet wird, daß im Ergebnis keine wirksame<br />
Abwehr des Übergriffs erfolgt. Analog zur doppelten Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
34 kann es hier zur doppelten Prüfung des Untermaßverbots kommen:<br />
1. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Lebensre<strong>ch</strong>ts (Art. 2 II 1 GG)<br />
2. Übergriff<br />
3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
a) Vereinbarkeit des S<strong>ch</strong>utzgesetzes mit dem Untermaßverbot<br />
b) Vereinbarkeit des staatli<strong>ch</strong>en Ni<strong>ch</strong>thandelns mit dem Untermaßverbot<br />
Zweitens gibt es, typis<strong>ch</strong>erweise in der Normenkontrolle, die Konstellation, daß<br />
unmittelbar und auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> ein unzurei<strong>ch</strong>ender S<strong>ch</strong>utz des Gesetzes gerügt<br />
wird (vgl. z.B. BVerfGE 39, 1 [35] – S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong> I). Au<strong>ch</strong> hier sollte<br />
ein Übergriff festgestellt werden, um die Ri<strong>ch</strong>tung des gebotenen S<strong>ch</strong>utzes zu<br />
spezifizieren – allerdings in abstracto als Form der Beeinträ<strong>ch</strong>tigung des Grundre<strong>ch</strong>tsgutes<br />
dur<strong>ch</strong> eine unbestimmte Vielzahl von Privaten (z.B. Abtreibung<br />
dur<strong>ch</strong> Ärzte auf Veranlassung der S<strong>ch</strong>wangeren):<br />
1. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Lebensre<strong>ch</strong>ts (Art. 2 II 1 GG)<br />
2. Übergriff<br />
3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung – Vereinbarkeit des S<strong>ch</strong>utzgesetzes<br />
mit dem Untermaßverbot<br />
Drittens s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> kann es, wiederum typis<strong>ch</strong>erweise bei einer Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde,<br />
zu einer bloßen Re<strong>ch</strong>tsanwendungskontrolle kommen, wenn das eins<strong>ch</strong>lägige<br />
S<strong>ch</strong>utzgesetz (z.B. Aussetzung gem. §§ 30a, 30b, 87 ZVG in BVerfGE 49,<br />
220 [226] – Zwangsversteigerung III) selbst ni<strong>ch</strong>t streitig ist:<br />
1. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Eigentums (Art. 14 I 1 GG)<br />
2. Übergriff<br />
3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
a) Bestehen eines S<strong>ch</strong>utzgesetzes
40<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
b) Vereinbarkeit der Anwendung des S<strong>ch</strong>utzgesetzes mit dem Untermaßverbot<br />
Einen Sonderfall der S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tendogmatik bildet die Fallgruppe des sogenannten<br />
Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes gegen si<strong>ch</strong> selbst. Hier s<strong>ch</strong>ützt der Staat den<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsträger gegen seinen Willen, etwa indem er riskantes Verhalten verbietet<br />
oder sonst re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Na<strong>ch</strong>teile daran knüpft. Geprüft wird dann na<strong>ch</strong> der<br />
Auss<strong>ch</strong>eidungsregel 39 allein abwehrre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, wobei der Eingriff mangels Einwilligung<br />
zu bejahen ist (kein sog. Grundre<strong>ch</strong>tsverzi<strong>ch</strong>t 29 ) und si<strong>ch</strong> bei der verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung die Frage stellt, ob die S<strong>ch</strong>utzwirkung, die zwar<br />
vom Grundre<strong>ch</strong>tsträger ni<strong>ch</strong>t gewollt ist, ihm aber glei<strong>ch</strong>wohl zugute kommt,<br />
überhaupt in die Abwägung einbezogen werden darf. Ri<strong>ch</strong>tigerweise ist dies abzulehnen,<br />
weil darin eine Verkehrung der S<strong>ch</strong>utzri<strong>ch</strong>tung des Grundre<strong>ch</strong>ts läge.<br />
Die Verselbständigung des Grundre<strong>ch</strong>tsgutes zugunsten einer objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Dimension darf ni<strong>ch</strong>t dazu führen, daß diese gegen die Freiheit des Grundre<strong>ch</strong>tsträgers<br />
in Stellung gebra<strong>ch</strong>t wird. Einen Ausweg bietet in diesen dur<strong>ch</strong>aus<br />
häufigen Fällen (Gurtpfli<strong>ch</strong>t, Helmpfli<strong>ch</strong>t 189 , Sozial- und Krankenversi<strong>ch</strong>erungspfli<strong>ch</strong>t<br />
u.v.m.) die Re<strong>ch</strong>tfertigung der Maßnahmen mit <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n Dritter<br />
(Hilfsmögli<strong>ch</strong>keit in Unfallsituationen) oder mit anderen Re<strong>ch</strong>tsgüter von Verfassungsrang<br />
(Förderung der Volksgesundheit dur<strong>ch</strong> universelle Krankenversi<strong>ch</strong>erung).<br />
In anderen Fällen, etwa dem staatli<strong>ch</strong>en Eins<strong>ch</strong>reiten gegen Selbsttötung,<br />
kann die Überlegung helfen, daß der Staat si<strong>ch</strong> im Zweifel für den S<strong>ch</strong>utz ents<strong>ch</strong>eiden<br />
können muß, wenn ni<strong>ch</strong>t ganz si<strong>ch</strong>er ist, ob der Grundre<strong>ch</strong>tsträger<br />
wirkli<strong>ch</strong> freiverantwortli<strong>ch</strong> handelt. Insoweit sind (wie immer) au<strong>ch</strong> typisierende<br />
Verallgemeinerungen des Gesetzgebers nötig und zulässig (z.B. allgemeine<br />
Selbstmordverhinderungspfli<strong>ch</strong>t der Polizei). In engen Grenzen kann s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
die Befugnis des Gesetzgebers zur Erri<strong>ch</strong>tung sozialer Si<strong>ch</strong>erungssysteme für die<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung von Risikoverboten herangezogen werden, wobei aber ni<strong>ch</strong>t<br />
s<strong>ch</strong>on jede Kostenfolge für die Gemeins<strong>ch</strong>aft ein Verbot zu re<strong>ch</strong>tfertigen vermag<br />
(vgl. Fall 6: Helmpfli<strong>ch</strong>t 189 ).<br />
II.<br />
Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
Für die Sa<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>eidungsvoraussetzungen aller Verfahren gilt, daß sie zwar<br />
jeweils einzeln zu lernen sind, do<strong>ch</strong> weitgehend demselben Muster folgen, das<br />
au<strong>ch</strong> zur Erinnerung dienli<strong>ch</strong> sein kann (Merkhilfe: Wer? Was? Wann? Wie?):
II. Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde 41<br />
I. Bere<strong>ch</strong>tigung (Wer?): Beteiligtenfähigkeit, Vorlagebere<strong>ch</strong>tigung<br />
II. Gegenstand (Was?): Bes<strong>ch</strong>werde- oder Prüfungsgegenstand<br />
III. Befugnis (Wann?): Bes<strong>ch</strong>werde-, Antrags-, Vorlagebefugnis<br />
IV. Form und Frist (Wie?): Antragsform, Bes<strong>ch</strong>werdefrist<br />
Dazu kommen dann no<strong>ch</strong> spezielle Erfordernisse einzelner Verfahrensarten, etwa<br />
die Re<strong>ch</strong>tswegers<strong>ch</strong>öpfung bei der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde.<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde kann demgemäß na<strong>ch</strong> dem folgenden allgemeinen<br />
Prüfungss<strong>ch</strong>ema geprüft werden, wobei einzelne Bedarfsprüfungspunkte (in<br />
eckigen Klammern) nur ausnahmsweise angespro<strong>ch</strong>en werden sollten:<br />
Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
(Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG)<br />
I. Zulässigkeit<br />
1. Beteiligtenfähigkeit (au<strong>ch</strong> ”Antragsbere<strong>ch</strong>tigung”, § 90 BVerfGG:<br />
”Jedermann”, d.h. natürli<strong>ch</strong>e und juristis<strong>ch</strong>e Personen)<br />
[... Verfahrensfähigkeit (au<strong>ch</strong>: ”Prozeßfähigkeit”, meist: Grundre<strong>ch</strong>tsmündigkeit)<br />
]<br />
2. Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand (Akt der öffentli<strong>ch</strong>en Gewalt, vgl. allgemein<br />
§ 90 I BVerfGG, bei Urteilsverfassungsbes<strong>ch</strong>werden §§ 90 II, 93 I, 95 II<br />
BVerfGG, bei Gesetzesverfassungsbes<strong>ch</strong>werden §§ 93 III, 95 III<br />
BVerfGG)<br />
3. Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis (”Behauptung, ... verletzt zu sein”)<br />
a) Mögli<strong>ch</strong>keit der Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung<br />
b) Betroffenheit (selbst, gegenwärtig, unmittelbar)<br />
4. Form und Frist (s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Begründung, §§ 23 I, 92 BVerfGG; 1 Monat<br />
bzw. 1 Jahr, § 93 I, III BVerfGG)<br />
5. Re<strong>ch</strong>tswegers<strong>ch</strong>öpfung (§ 90 II 1 BVerfGG)<br />
[... Allgemeine Subsidiarität der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde (Inzidentprüfung<br />
im Geri<strong>ch</strong>tsverfahren zumutbar?) ]<br />
[... Einwand der Re<strong>ch</strong>tskraft (§ 41 BVerfGG) ]<br />
[... Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzbedürfnis ]<br />
II. Begründetheit<br />
Verletzung eines Grundre<strong>ch</strong>ts oder eines grundre<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts aus<br />
Art. 20 IV, 33, 38, 101, 103 oder 104 GG (vgl. § 90 I BVerfGG)
42<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
Die Beteiligtenfähigkeit kann in guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Prüfung sehr kurz gehalten werden.<br />
Es kommt ledigli<strong>ch</strong> darauf an, ob der Bes<strong>ch</strong>werdeführer »jedermann« i.S.v.<br />
§ 90 I BVerfGG, d.h. überhaupt Träger von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n sein kann. Dazu ist es<br />
na<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tiger, freili<strong>ch</strong> mangels gesetzli<strong>ch</strong>er Spezifizierung umstrittener Ansi<strong>ch</strong>t<br />
ni<strong>ch</strong>t nötig, bereits die Einzelgrundre<strong>ch</strong>te aufzuführen, die mögli<strong>ch</strong>erweise betroffen<br />
sein könnten. Fragen der partiellen Grundre<strong>ch</strong>tsunfähigkeit (Ausländer<br />
50 , juristis<strong>ch</strong>e Personen 57 ) werden erst bei der Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis relevant.<br />
Die Praxis mag ein Interesse daran haben, mögli<strong>ch</strong>st s<strong>ch</strong>on mit der ersten Sa<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>eidungsvoraussetzung<br />
auf das Ergebnis zuzusteuern; für die Zwecke des<br />
Examens ist eine derartige Kopflastigkeit des Guta<strong>ch</strong>tens aber tunli<strong>ch</strong>st zu vermeiden.<br />
Die Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis bildet häufig den Prüfungss<strong>ch</strong>werpunkt der Zulässigkeit.<br />
Ihr erster Teil, die Mögli<strong>ch</strong>keit der Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung, kann dabei<br />
kurz gehalten werden. Während das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t an dieser Stelle<br />
bereits ausführli<strong>ch</strong> auf einzelne <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> eingeht und sogar einzelne aus der<br />
weiteren Prüfung auss<strong>ch</strong>ließt (z.B. vgl. BVerfGE 80, 137 [150 ff.] – Reiten im Walde),<br />
ist es präziser und dem Guta<strong>ch</strong>ten angemessener, wenn man an dieser Stelle<br />
ledigli<strong>ch</strong> die mögli<strong>ch</strong>erweise verletzten <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> benennt und im übrigen die<br />
Einzelprüfung beim S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> in der Begründetheit vornimmt. Idealerweise<br />
sollten genau diejenigen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> in der Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis als mögli<strong>ch</strong>erweise<br />
verletzt aufgezählt werden, die später im Detail geprüft werden – ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr und ni<strong>ch</strong>t weniger. Bei Gesetzesverfassungsbes<strong>ch</strong>werden sind Gegenwärtigkeit<br />
und Unmittelbarkeit der Bes<strong>ch</strong>wer besonders problematis<strong>ch</strong>. Hier hilft es<br />
häufig, wenn man auf die Vorwirkungen abstellt, die das Gesetz entfaltet (vgl. Fall<br />
4: Festungsumzug 171 ).<br />
Bei juristis<strong>ch</strong>en Personen 57 ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> die Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung na<strong>ch</strong><br />
Art. 19 III GG 57 und muß innerhalb der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde an drei Stellen<br />
berücksi<strong>ch</strong>tigt werden: bei der Beteiligtenfähigkeit, in der Klagebefugnis (Mögli<strong>ch</strong>keit<br />
der Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung) und im persönli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> jedes<br />
geprüften Grundre<strong>ch</strong>ts. Für die Beteiligtenfähigkeit 42 genügt ein kurzer Satz,<br />
denn jede juristis<strong>ch</strong>e Person 57 , sogar diejenige des öffentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts, ist zumindest<br />
Trägerin der Prozeßgrundre<strong>ch</strong>te (vgl. Fall 8: Neoanar<strong>ch</strong>isten 205 ). Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
s<strong>ch</strong>eitert an dieser Stelle nur bei Personengruppen, die ni<strong>ch</strong>t<br />
einmal den Grad organisatoris<strong>ch</strong>er Verfestigung einer BGB-Gesells<strong>ch</strong>aft errei<strong>ch</strong>en<br />
(vgl. Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung juristis<strong>ch</strong>er Personen 57 ). Im Ans<strong>ch</strong>luß ist<br />
zusätzli<strong>ch</strong> für die Verfahrensfähigkeit festzustellen, wel<strong>ch</strong>es Organ die Person<br />
vertritt. In der Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis gilt wiederum, daß eine Detailprüfung im<br />
Guta<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t ratsam ist: der S<strong>ch</strong>werpunkt der Prüfung von Art. 19 III GG gehört<br />
in den persönli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der einzelnen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>.
II. Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde 43<br />
Bei Gesetzesverfassungsbes<strong>ch</strong>werden (Re<strong>ch</strong>tssatzverfassungsbes<strong>ch</strong>werden)<br />
stellt die Re<strong>ch</strong>tswegers<strong>ch</strong>öpfung eine erhebli<strong>ch</strong>e Fehlerquelle dar. Wi<strong>ch</strong>tig ist,<br />
eingangs zunä<strong>ch</strong>st ausdrückli<strong>ch</strong> festzustellen, daß ein Re<strong>ch</strong>tsweg gegen Parlamentsgesetze<br />
(bzw. Re<strong>ch</strong>tsverordnungen des Bundes) ni<strong>ch</strong>t besteht. Auf keinen<br />
Fall darf man den beliebten Fehler begehen, die Frage des Re<strong>ch</strong>tswegs offen zu<br />
lassen und eine Ausnahme im Sinne von § 90 II 2 BVerfGG anzunehmen (allgemeine<br />
Bedeutung, unabwendbarer Na<strong>ch</strong>teil), denn der ganze Absatz der Vors<strong>ch</strong>rift<br />
setzt voraus, daß überhaupt ein Re<strong>ch</strong>tsweg besteht! Vielmehr muß in sol<strong>ch</strong>en<br />
Fällen na<strong>ch</strong> ständiger Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts ausnahmsweise<br />
der folgende unges<strong>ch</strong>riebene Grundsatz geprüft werden:<br />
Allgemeine Subsidiarität der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde: Eine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
direkt gegen Gesetze ist nur zulässig, wenn ni<strong>ch</strong>t in zumutbarer<br />
Weise eine inzidente Prüfung im Verwaltungsgeri<strong>ch</strong>tsprozeß herbeigeführt<br />
werden kann.<br />
Dem Bes<strong>ch</strong>werdeführer bleibt nämli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ohne unmittelbaren Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz gegen<br />
Gesetze stets die Mögli<strong>ch</strong>keit, si<strong>ch</strong> dem gesetzli<strong>ch</strong>en Verbot zu widersetzen,<br />
einen Bußgeldbes<strong>ch</strong>eid in Kauf zu nehmen und dann die Verfassungswidrigkeit<br />
des Gesetzes im Prozeß gegen den Bußgeldbes<strong>ch</strong>eid zu rügen. Unter Umständen<br />
käme es dann zu einer Vorlage des einfa<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>ts (konkrete Normenkontrolle),<br />
so daß jedenfalls das Tatsa<strong>ch</strong>enmaterial vor einer Befassung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts<br />
bereits gründli<strong>ch</strong> aufbereitet ist. Ansonsten kommt es na<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>öpfung<br />
des Re<strong>ch</strong>tswegs zur Urteilsverfassungsbes<strong>ch</strong>werde.<br />
Es ist einem Bes<strong>ch</strong>werdeführer aber ni<strong>ch</strong>t zumutbar Bußgeld oder Strafe in<br />
Kauf zu nehmen. Deshalb führt die allgemeine Subsidiarität nur selten zur Unzulässigkeit<br />
der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde, nämli<strong>ch</strong> dann, wenn es ausnahmsweise<br />
mögli<strong>ch</strong> ist, si<strong>ch</strong> der gesetzli<strong>ch</strong>en Pfli<strong>ch</strong>t sanktionslos zu entziehen. In jedem Fall<br />
sind im juristis<strong>ch</strong>en Guta<strong>ch</strong>ten sämtli<strong>ch</strong>e Überlegungen (kein Re<strong>ch</strong>tsweg, allgemeine<br />
Subsidiarität, Mögli<strong>ch</strong>keit inzidenter Überprüfung, fehlende Zumutbarkeit)<br />
explizit na<strong>ch</strong>zuzei<strong>ch</strong>nen.<br />
Bei Urteilsverfassungsbes<strong>ch</strong>werden ergibt si<strong>ch</strong> das Sonderproblem, daß das<br />
Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t keine Superrevisionsinstanz ist, d.h. grundsätzli<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t befugt, re<strong>ch</strong>tskräftige Urteile von Geri<strong>ch</strong>ten inhaltli<strong>ch</strong> wieder in Frage zu<br />
stellen. Die Spra<strong>ch</strong>regelung ist hier, daß das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t einfa<strong>ch</strong>geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Ents<strong>ch</strong>eidungen nur auf spezifis<strong>ch</strong>e Verletzungen von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n<br />
untersu<strong>ch</strong>t, insbesondere dahingehend, ob das Geri<strong>ch</strong>t bei Auslegung und Anwendung<br />
die wertsetzende Bedeutung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> verkannt hat. Während das<br />
Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t diese Formel als willkommenen Filter einsetzt, si<strong>ch</strong><br />
aber im Ergebnis uneinges<strong>ch</strong>ränkt offen hält, jede Einzelents<strong>ch</strong>eidung zu über-
44<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
prüfen, ist es im Guta<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t ratsam, jemals anzunehmen, daß die Kontrolle<br />
des zur Aufgabe gestellten Falles ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong> sei. Glei<strong>ch</strong>wohl muß das Problem<br />
erwähnt werden. Dafür gibt es eine s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te und zwei gut geeignete Stellen: Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis,<br />
Anfang der Begründetheit und einzelne Anwendungskontrolle.<br />
Gegen eine frühe Erwähnung in der Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis spri<strong>ch</strong>t die allgemeine<br />
Regel, daß eine Kopflastigkeit 42 des Guta<strong>ch</strong>tens zu vermeiden ist. Vom<br />
Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t selbst wird die Frage entweder in abstracto am Anfang<br />
der Begründetheit angespro<strong>ch</strong>en (vgl. Fall 8: Neoanar<strong>ch</strong>isten 205 ) oder in concreto<br />
erst dann, wenn es darum geht, ob ein Gesetz dur<strong>ch</strong> das (Geri<strong>ch</strong>t verfassungskonform<br />
ausgelegt wurde (vgl. Fall 3: Eigenbedarf 164 ). Beide Wege sind ri<strong>ch</strong>tig.<br />
In jedem Fall sollten die Ausführungen hierzu kurz gehalten werden, weil sie die<br />
guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Lösung inhaltli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t weiterbringen.<br />
III. Verwaltungs(geri<strong>ch</strong>ts)verfahren<br />
Inzident werden <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> au<strong>ch</strong> in Verwaltungsverfahren (prüfungsrelevant<br />
ist insoweit das Widerspru<strong>ch</strong>sverfahren) und in Verwaltungsgeri<strong>ch</strong>tsverfahren<br />
relevant. Dabei muß die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung dur<strong>ch</strong> einen geeigneten Obersatz<br />
eingeleitet werden. Ausführungen zu S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> und Eingriff sind in aller<br />
Regel sehr kurz zu halten; der S<strong>ch</strong>werpunkt liegt ganz auf der verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung. In vielen Fällen ist es sogar vertretbar, direkt auf die Verhältnismäßigkeit<br />
23 oder das Bestimmtheitsgebot 33 einzugehen, insbesondere<br />
wenn na<strong>ch</strong> dem Klausursa<strong>ch</strong>verhalt der Kläger die Verletzung von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n<br />
ni<strong>ch</strong>t gerügt hat. Dazu einige Beispiele:<br />
»... Die polizeili<strong>ch</strong>e Generalklausel könnte aber ihrerseits verfassungswidrig sein, sofern<br />
sie eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) darstellt.<br />
Wird die Klausel wie im vorliegenden Fall für einen Platzverweis eingesetzt, so liegt<br />
darin ein staatli<strong>ch</strong>er Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit der Verfügungsadressaten.<br />
Um in dieser grundre<strong>ch</strong>tsbes<strong>ch</strong>ränkenden Wirkung verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
gere<strong>ch</strong>tfertigt zu sein, müßte die Generalklausel mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
und dem Bestimmtheitsgebot in Einklang stehen. ...«<br />
»... Zwar liegt ein Ermessensausfall ni<strong>ch</strong>t vor, do<strong>ch</strong> könnte der Gebrau<strong>ch</strong> des Ermessens<br />
hier eine Verletzung der Berufsfreiheit des E aus Art. 12 I GG sein. Das Tätigkeitsverbot<br />
greift in die Berufsausübungsfreiheit ein. Fragli<strong>ch</strong> ist aber, ob dies in unverhältnismäßiger<br />
Weise und damit ermessensfehlerhaft ges<strong>ch</strong>ehen ist. ...«<br />
Bei einigen Fällen genügt es indes ni<strong>ch</strong>t, die verwaltungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
dur<strong>ch</strong> Grundre<strong>ch</strong>tsrhetorik aufzuladen, etwa weil man dadur<strong>ch</strong><br />
guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zur besonderen Frage der Bes<strong>ch</strong>ränkbarkeit normtextli<strong>ch</strong><br />
vorbehaltlos gewährleisteter <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> vordringen kann. Dann muß die voll-
II. Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde 45<br />
ständige Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung (S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>, Eingriff, verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung) in den verwaltungsprozessualen Rahmen eingefügt werden (vgl.<br />
Fall 7: Normannenkir<strong>ch</strong>e 197 ).<br />
IV.<br />
Konkrete Normenkontrolle<br />
Die konkrete Normenkontrolle heißt ʺkonkretʺ, weil sie anläßli<strong>ch</strong> eines vor Geri<strong>ch</strong>t<br />
zur Ents<strong>ch</strong>eidung anstehenden Einzelfalles dur<strong>ch</strong>geführt wird. Für ihre<br />
Prüfung gilt:<br />
Konkrete Normenkontrolle<br />
(Art. 100 I GG, §§ 13 Nr. 11, 23 I, 80 ff. BVerfGG)<br />
I. Zulässigkeit<br />
1. Vorlagebere<strong>ch</strong>tigung (”Geri<strong>ch</strong>t”, Art. 100 I GG)<br />
2. Prüfungsgegenstand (”Gesetz”, Art. 100 I GG)<br />
3. Vorlagebefugnis (bzw. Vorlagepfli<strong>ch</strong>t: ”so ist das Verfahren auszusetzen<br />
und ... die Ents<strong>ch</strong>eidung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>tes einzuholen”,<br />
Art. 100 I GG)<br />
a) Ri<strong>ch</strong>terli<strong>ch</strong>e Überzeugung (”Hält ... für verfassungswidrig”, Art.<br />
100 I GG)<br />
b) Ents<strong>ch</strong>eidungserhebli<strong>ch</strong>keit (”auf dessen Gültigkeit es bei der<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung ankommt”, Art. 100 I GG)<br />
4. Form (s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Begründung, §§ 23 I, 80 II BVerfGG)<br />
[ 5. Prüfungsmaßstab (”Verletzung dieses Grundgesetzes”, Art. 100 I GG)]<br />
II. Begründetheit<br />
Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz; ggf. Ni<strong>ch</strong>tigerklärung<br />
mit Gesetzeskraft gem. §§ 82 I, 78, 31 II 1 BVerfGG<br />
1. Formelle Verfassungsmäßigkeit<br />
a) Kompetenz (Zuständigkeit)<br />
b) Verfahren<br />
c) Form<br />
2. Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />
Die Prüfungss<strong>ch</strong>werpunkte der konkreten Normenkontrolle ergeben si<strong>ch</strong> aus der<br />
restriktiven Auslegung, die das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t für die einzelnen Voraussetzungen<br />
entwickelt hat. Als vorlagepfli<strong>ch</strong>tige Gesetze kommen nur formelle<br />
(d.h. Parlamentsgesetze, ni<strong>ch</strong>t Re<strong>ch</strong>tsverordnungen) und na<strong>ch</strong>konstitutio-
46<br />
2. Kapitel: Die Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
nelle (d.h. sol<strong>ch</strong>e des Bundestags, ni<strong>ch</strong>t des Rei<strong>ch</strong>stags) in Betra<strong>ch</strong>t. Für die ri<strong>ch</strong>terli<strong>ch</strong>e<br />
Überzeugung rei<strong>ch</strong>en anders als bei der abstrakten Normenkontrolle<br />
bloße Zweifel ni<strong>ch</strong>t aus. Die Ents<strong>ch</strong>eidungserhebli<strong>ch</strong>keit, also der Umstand, daß<br />
das Geri<strong>ch</strong>t bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes anders ents<strong>ch</strong>eiden müßte<br />
als bei dessen Anwendbarkeit, muß im Detail belegt werden.<br />
Man<strong>ch</strong>mal ist dana<strong>ch</strong> gefragt, ob das Geri<strong>ch</strong>t eine Vorlagepfli<strong>ch</strong>t hat. Das ist<br />
genau dann der Fall, wenn eine Vorlage zur konkreten Normenkontrolle zulässig<br />
wäre, denn würde das Geri<strong>ch</strong>t ein Gesetz unangewendet lassen, verstieße es damit<br />
gegen das in Art. 100 GG implizierte Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts;<br />
würde es ein verfassungswidriges Gesetz anwenden, verstieße<br />
es gegen die Grundre<strong>ch</strong>tsbindung. Der Wortlaut des Art. 100 I GG ma<strong>ch</strong>t dies<br />
deutli<strong>ch</strong> (»... so ist ... auszusetzen«).<br />
V. Abstrakte Normenkontrolle<br />
Die abstrakte Normenkontrolle wird unabhängig von Einzelfällen dur<strong>ch</strong>geführt.<br />
Sie läßt si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> folgendem S<strong>ch</strong>ema prüfen:<br />
Abstrakte Normenkontrolle<br />
(Art. 93 I Nr. 2GG, §§ 13 Nr. 6, 23 I, 76 ff. BVerfGG)<br />
I. Zulässigkeit<br />
1. Antragsbere<strong>ch</strong>tigung (”Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung<br />
oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages”, § 76 I<br />
BVerfGG)<br />
2. Prüfungsgegenstand (”Bundes- oder Landesre<strong>ch</strong>t”, § 76 I BVerfGG)<br />
3. Antragsbefugnis (”bei Meinungsvers<strong>ch</strong>iedenheiten oder Zweifeln”,<br />
Art. 93 I Nr. 2 GG; ”für ni<strong>ch</strong>tig hält”, § 76 I Nr. 1 BVerfGG)<br />
4. Form (s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Begründung, § 23 I BVerfGG); keine Frist<br />
[ 5. Prüfungsmaßstab (Grundgesetz, bzw. – bei Landesre<strong>ch</strong>t – Grundgesetz<br />
und Bundesre<strong>ch</strong>t, § 78 BVerfGG) ]<br />
II. Begründetheit<br />
(wie konkrete Normenkontrolle)<br />
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle bereiten<br />
kaum Probleme. Der einzige Prüfungspunkt, der für das Verständnis der Normenhierar<strong>ch</strong>ie<br />
gern in Klausuren aufgegriffen wird, ist die Antragsbefugnis.
IV. Konkrete Normenkontrolle 47<br />
Hier muß man bea<strong>ch</strong>ten, daß zwar das einfa<strong>ch</strong>e Gesetzesre<strong>ch</strong>t (§ 76 I Nr. 1<br />
BVerfGG) ein Fürni<strong>ch</strong>tighalten verlangt, bei bloßen Zweifeln des Antragsbere<strong>ch</strong>tigten<br />
aber die höherrangige Norm des Grundgesetzes (Art. 93 I Nr. 2 GG)<br />
Geltungsvorrang beanspru<strong>ch</strong>t, was entweder als Teilverfassungswidrigkeit des<br />
§ 76 BVerfGG oder als verfassungskonforme Auslegung dieser Norm zu berücksi<strong>ch</strong>tigen<br />
ist. Im Ergebnis ist eine abstrakte Normenkontrolle also au<strong>ch</strong> bei bloßen<br />
Zweifeln des Antragsbere<strong>ch</strong>tigten zulässig.
3. Kapitel:<br />
Allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren<br />
I. Arten der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
Zur Gruppierung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> gibt es einerseits Klassifizierungen, die entlang<br />
von Di<strong>ch</strong>otomien trenns<strong>ch</strong>afe Unters<strong>ch</strong>iede zwis<strong>ch</strong>en den <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n<br />
betonen, und andererseits Typisierungen, die weder abs<strong>ch</strong>ließend no<strong>ch</strong> übers<strong>ch</strong>neidungsfrei<br />
die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> eher na<strong>ch</strong> pragmatis<strong>ch</strong>en Gesi<strong>ch</strong>tspunkten<br />
gruppieren. Die folgenden Klassen und Typen bilden Anknüpfungspunkte für<br />
allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren und sind deshalb au<strong>ch</strong> für die Fallösungspraxis<br />
wi<strong>ch</strong>tig.<br />
1. Freiheits- und Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te<br />
Freiheitsre<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong>ern Handlungsmögli<strong>ch</strong>keiten, indem sie den Integritätsanspru<strong>ch</strong><br />
des Individuums betonen (z.B. Leben, körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit, Würde,<br />
Vertrauli<strong>ch</strong>keit, Privatsphäre) oder aktive Betätigungsmögli<strong>ch</strong>keiten si<strong>ch</strong>ern (z.B.<br />
Meinungsfreiheit, Berufsfreiheit, Religionsausübungsfreiheit). Sie lassen si<strong>ch</strong> ohne<br />
weiteres als vorpositive Freiheiten verstehen, d.h. als sol<strong>ch</strong>e, die es bereits<br />
gibt, bevor eine staatli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tsordnung s<strong>ch</strong>öpferis<strong>ch</strong> tätig wird. Selbst<br />
ausgestaltungsbedürftige Freiheiten 28 wie die Eigentumsfreiheit haben einen<br />
vorpositiven Kern (sog. Arbeitstheorie des Eigentums: wer das Korn sät, dem<br />
steht die Ernte zu). Daraus ergibt si<strong>ch</strong> ohne weiteres, daß die Freiheit der ni<strong>ch</strong>t<br />
weiter begründungsbedürftige Normalfall ist, gegenüber dem jede staatli<strong>ch</strong>e Bes<strong>ch</strong>ränkung<br />
der Re<strong>ch</strong>tfertigung bedarf. Praktis<strong>ch</strong> erfolgt diese als verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung im Rahmen der Abwehrre<strong>ch</strong>ts- oder S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tenprüfung.<br />
Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong>ern Glei<strong>ch</strong>behandlung. Anders als Freiheitsre<strong>ch</strong>te<br />
ri<strong>ch</strong>ten sie si<strong>ch</strong> damit ni<strong>ch</strong>t auf eine definitive Integrität oder Betätigungsmögli<strong>ch</strong>keit,<br />
sondern fordern nur, daß wenn eine Bes<strong>ch</strong>ränkung oder Begünstigung<br />
eingeführt wird, diese glei<strong>ch</strong>mäßig zu erfolgen hat. Darin besteht ihr formaler<br />
(inhaltli<strong>ch</strong> ausfüllungsbedürftiger) bzw. modaler (von den Umständen abhängiger)<br />
Charakter. Die Glei<strong>ch</strong>behandlung kann ebenfalls als vorpositives Re<strong>ch</strong>t begriffen<br />
werden; Unglei<strong>ch</strong>behandlungen bedürfen der Re<strong>ch</strong>tfertigung. Praktis<strong>ch</strong>
50<br />
3. Kapitel: Allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren<br />
erfolgt diese als verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung im Rahmen der Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung.<br />
2. Deuts<strong>ch</strong>en- und Jedermanngrundre<strong>ch</strong>te<br />
Jedermanns- oder Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te sind für alle Personen unabhängig von ihrer<br />
Staatsangehörigkeit gewährleistet (z.B. Art. 2 I, 2 II, 3 I, 4 I, 5 I, 6, 10, 13, 14 GG),<br />
so daß der persönli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> dieser <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> nur bei<br />
Minderjährigen 56 , juristis<strong>ch</strong>en Personen 57 oder anderen Sonderkonstellationen<br />
(z.B. S<strong>ch</strong>utz ungeborenen Lebens 69 ) erörtert werden muß. Deuts<strong>ch</strong>en- oder Bürgerre<strong>ch</strong>te<br />
knüpfen hingegen tatbestandli<strong>ch</strong> an die Staatsbürgers<strong>ch</strong>aft an, so daß<br />
der persönli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> in jedem Fall gesondert geprüft werden muß (z.B.<br />
Art. 8 I, 9 I, 11 I, 12 I, 16 II, 20 IV, 33 I, 33 II, 38 I 1 GG). Ausländer sind im Sa<strong>ch</strong>berei<strong>ch</strong><br />
dieser Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>utzlos, sondern können si<strong>ch</strong> auf<br />
die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) berufen.<br />
Einen Sonderfall bilden diejenigen Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>te, die si<strong>ch</strong> über die<br />
Grundfreiheiten des Primärre<strong>ch</strong>ts der Europäis<strong>ch</strong>en Union zu Unionsbürgerre<strong>ch</strong>ten<br />
gewandelt haben (Art. 8 I, 9 I, 12 I GG). Selbst wenn (anders als beim<br />
Kommunalwahlre<strong>ch</strong>t, vgl. Art. 28 I 3 GG) der Text des Grundgesetzes diese Entwicklung<br />
no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t widerspiegelt, sind diese <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> so anzuwenden, daß<br />
die Unionsbürgerinnen eine den Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>ten glei<strong>ch</strong>wertige Grundre<strong>ch</strong>tsposition<br />
erhalten. Dazu kann man entweder den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Versammlungs-,<br />
Vereinigungs- und Berufsfreiheit (Art. 8 I, 9 I, 12 I GG) erweiternd<br />
auslegen, oder die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) anwenden, wobei<br />
die Bes<strong>ch</strong>ränkbarkeit derjenigen der Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>te anzupassen ist. Eine<br />
parallele Konstellation findet si<strong>ch</strong> bei der Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung der europäis<strong>ch</strong>en<br />
juristis<strong>ch</strong>en Personen 58 .<br />
3. Positive und negative Seite der Freiheitsre<strong>ch</strong>te<br />
Als negative Seite der Freiheitsre<strong>ch</strong>te versteht man die Befugnis, von einer Betätigungsmögli<strong>ch</strong>keit<br />
ni<strong>ch</strong>t Gebrau<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en. Eine sol<strong>ch</strong>e negative Seite kann<br />
grundsätzli<strong>ch</strong> bei allen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n vorkommen; sie ist ebenso ges<strong>ch</strong>ützt wie<br />
die häufiger eins<strong>ch</strong>lägige positive Freiheit. Wird beispielsweise jemand an der<br />
Ausübung seiner Religion gehindert, so ist die positive Religionsfreiheit betroffen;<br />
wird er zur Ausübung der Religion gezwungen, so ist es die negative Religionsfreiheit.<br />
Praktis<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tig ist die negative Freiheit vor allem bei der Kontrolle<br />
von gesetzli<strong>ch</strong>en Zwangsmitglieds<strong>ch</strong>aften, etwa in berufständis<strong>ch</strong>en Kammern<br />
(vgl. Vereinigungsfreiheit 88 ).
I. Arten der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> 51<br />
4. Sonstige Klassifizierungen und Typisierungen<br />
Als Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>te 109 bezei<strong>ch</strong>net man im Gegensatz zu materiellen<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n (Freiheits- und Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>ten) alle Re<strong>ch</strong>te, die keinen bestimmten<br />
S<strong>ch</strong>utzinhalt haben, sondern nur den S<strong>ch</strong>utz anderer Gewährleistungen<br />
begleitend absi<strong>ch</strong>ern. Für die Untergruppe der Prozeß- oder Justizgrundre<strong>ch</strong>te,<br />
also diejenigen Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>te, die bei der geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Dur<strong>ch</strong>setzung<br />
der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> gelten, ist dabei die Re<strong>ch</strong>tsweggarantie 110 (Art. 19 IV GG)<br />
zentral; man spri<strong>ch</strong>t insoweit vom ʺprozessualen Hauptgrundre<strong>ch</strong>tʺ. Spezielle<br />
Prozeßgrundre<strong>ch</strong>te sind die Ansprü<strong>ch</strong>e auf den gesetzli<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>ter 111 (Art. 101 I<br />
2 GG) und (praktis<strong>ch</strong> überaus wi<strong>ch</strong>tig) auf re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Gehör 111 (Art. 103 I GG).<br />
Eine Besonderheit der Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>te besteht darin, daß sie au<strong>ch</strong> allen<br />
Personenmehrheiten zukommen, unabhängig von deren sonstiger Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung<br />
na<strong>ch</strong> Art. 19 III GG 57 .<br />
Weitere Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>te, die ni<strong>ch</strong>t im engeren Sinne Prozeßgrundre<strong>ch</strong>te<br />
sind, enthalten der Grundsatz nulla poena sine lege 112 (Art. 103 II GG) und<br />
das Verbot der Mehrfa<strong>ch</strong>bestrafung (Art. 103 III GG: ne bis in idem 113 ). Sehr umstritten<br />
ist, ob man den wi<strong>ch</strong>tigen, obwohl unges<strong>ch</strong>riebenen Grundsatz effektiven<br />
Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes 114 eher bei der Re<strong>ch</strong>tsweggarantie 110 (Art. 19 IV GG) ansiedelt,<br />
oder ob er als objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Gehalt aus den jeweils damit dur<strong>ch</strong>zusetzenden<br />
Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten folgt (Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz dur<strong>ch</strong> Organisation und Verfahren<br />
55 ). Vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t und in der Literatur werden beide<br />
Wege bes<strong>ch</strong>ritten.<br />
Als Staatsbürgerre<strong>ch</strong>te in einem no<strong>ch</strong> engeren Sinne als Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>te<br />
können die Re<strong>ch</strong>te des status activus 53 gelten: die demokratis<strong>ch</strong>en Wahlund<br />
Stimmre<strong>ch</strong>te 120 (Art. 38 GG), die Re<strong>ch</strong>te auf innerföderale Glei<strong>ch</strong>behandlung<br />
120 (Art. 33 I GG), glei<strong>ch</strong>en Ämterzugang 120 (Art. 33 II GG) und Kriegsdienstverweigerung<br />
98 (Art. 4 III GG).<br />
Als hö<strong>ch</strong>stpersönli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te bezei<strong>ch</strong>net man diejenigen, die juristis<strong>ch</strong>en<br />
Personen 57 von vornherein ni<strong>ch</strong>t zukommen können (vgl. Art. 19 III GG), insbesondere<br />
Mens<strong>ch</strong>enwürde 68 (Art. 1 I GG), Re<strong>ch</strong>t auf Leben und körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit<br />
71 (Art. 2 II 1 GG), Freiheit der Person 73 (Art. 2 II 2, 104 GG), Re<strong>ch</strong>t<br />
auf Kriegsdienstverweigerung 98 (Art. 4 III GG), elterli<strong>ch</strong>es Erziehungsre<strong>ch</strong>t 84<br />
(Art. 6 II, III GG), die Re<strong>ch</strong>te gegen Ausbürgerung 74 (Art. 16 I GG) und Auslieferung<br />
75 (Art. 16 II GG) sowie das Asylre<strong>ch</strong>t 76 (Art. 16a GG). Ein Dasein natürli<strong>ch</strong>er<br />
Personen setzen außerdem das Widerstandsre<strong>ch</strong>t (Art. 20 IV GG) und alle<br />
Staatsbürgerre<strong>ch</strong>te 51 (Art. 33, 38 GG) voraus.<br />
Als Kommunikationsgrundre<strong>ch</strong>te bezei<strong>ch</strong>net man diejenigen Re<strong>ch</strong>te, die wie<br />
die Meinungsfreiheit 90 (Art. 5 I 1 GG) zur inhaltli<strong>ch</strong>en Auseinandersetzung unter
52<br />
3. Kapitel: Allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren<br />
den Mens<strong>ch</strong>en dienli<strong>ch</strong> sind: die Informationsfreiheit 92 (Art. 5 I 1 GG) sowie die<br />
Presse- 92 , Rundfunk- und die Filmfreiheit 93 (Art. 5 I 2 GG). Zusammen mit der<br />
Versammlungs- 86 (Art. 8 I GG) und Vereinigungsfreiheit 88 (Art. 9 I GG) entsteht<br />
so eine Gruppe von Re<strong>ch</strong>ten, die für die Demokratie als ʺs<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin konstituierendʺ<br />
gelten können, weil ohne sie eine öffentli<strong>ch</strong>e Diskussion ni<strong>ch</strong>t oder nur<br />
s<strong>ch</strong>wer mögli<strong>ch</strong> wäre. In der Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung muß dieses zusätzli<strong>ch</strong>e, demokratiefunktionale<br />
Gewi<strong>ch</strong>t mit in Re<strong>ch</strong>nung gestellt werden (vgl. Meinungsfreiheit<br />
90 ).<br />
Als soziale <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> bezei<strong>ch</strong>net man die vorwiegend in Landesverfassungen<br />
kodifizierten besonderen Re<strong>ch</strong>te auf Arbeit, Bildung, Wohnung und soziale<br />
Si<strong>ch</strong>erheit. Ungea<strong>ch</strong>tet der jeweiligen Formulierung handelt es si<strong>ch</strong> in aller<br />
Regel um Staatszielbestimmungen, ni<strong>ch</strong>t individuelle Leistungsre<strong>ch</strong>te. Glei<strong>ch</strong>wohl<br />
können sol<strong>ch</strong>e Bestimmungen in einer grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Abwägung herangezogen<br />
werden, da sie den Verfassungsrang der entspre<strong>ch</strong>enden Re<strong>ch</strong>tsgüter<br />
begründen. Ein ʺGrundre<strong>ch</strong>t auf Bildungʺ kann also beispielsweise der verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung staatli<strong>ch</strong>er Maßnahmen, dur<strong>ch</strong> die zugunsten<br />
von S<strong>ch</strong>ulbauten in das Eigentum eingegriffen wird, zu weiteren Argumenten<br />
verhelfen.<br />
Als Wirts<strong>ch</strong>aftsgrundre<strong>ch</strong>te werden in loser Gemeins<strong>ch</strong>aft diejenigen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
zusammengefaßt, die im Wirts<strong>ch</strong>aftsleben besondere Bedeutung haben,<br />
also vor allem Eigentum 102 (Art. 14 I GG) und Berufsfreiheit 98 (Art. 12 I GG), Vereinigungsfreiheit<br />
88 (Art. 9 I GG) und Koalitionsfreiheit 106 (Art. 9 III GG) sowie<br />
subsidiär die allgemeine Handlungsfreiheit 66 (Art. 2 I GG). Sol<strong>ch</strong>e <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
müssen gemäß Art. 19 III GG juristis<strong>ch</strong>en Personen 57 s<strong>ch</strong>on deshalb zustehen,<br />
weil sonst dem glei<strong>ch</strong>artigen S<strong>ch</strong>utzbedürfnis aller Beteiligten des Wirts<strong>ch</strong>aftsverkehrs<br />
ni<strong>ch</strong>t hinrei<strong>ch</strong>end Re<strong>ch</strong>nung getragen wäre (glei<strong>ch</strong>e grundre<strong>ch</strong>tstypis<strong>ch</strong>e<br />
Gefährdungslage 59 ). Außerdem sind sie, soweit ihr S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> tatbestandli<strong>ch</strong><br />
auf Deuts<strong>ch</strong>e bes<strong>ch</strong>ränkt ist (Berufsfreiheit 98 , Vereinigungsfreiheit 88 ),<br />
regelmäßig Unionsbürgerre<strong>ch</strong>te 50 , weil si<strong>ch</strong> sonst die wirts<strong>ch</strong>aftsorientierten<br />
Grundfreiheiten des europäis<strong>ch</strong>en Primärre<strong>ch</strong>ts ni<strong>ch</strong>t diskriminierungsfrei verwirkli<strong>ch</strong>en<br />
ließen.<br />
II.<br />
Funktionen und Dimensionen der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
Während man mit der Statuslehre 53 die wi<strong>ch</strong>tigsten Funktionen der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
typologisiert (1), versu<strong>ch</strong>t man mit der Rede von ʹDimensionenʹ53 die vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsgehalte in einer abs<strong>ch</strong>ließenden Zweiteilung zu klassifizieren (2,<br />
3).
II. Funktionen und Dimensionen der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> 53<br />
1. Grundre<strong>ch</strong>tsfunktionen na<strong>ch</strong> der Statuslehre<br />
Die Statuslehre geht zurück auf Georg Jellinek (System der subjektiven öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>te, 2. Aufl. 1919), der als den praktis<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tigsten Fall des status negativus<br />
die Abwehr gegenüber dem Staat bezei<strong>ch</strong>nete, als status positivus den Anspru<strong>ch</strong><br />
auf ein Tätigwerden des Staates, wie er vor allem beim Anspru<strong>ch</strong> auf geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz wi<strong>ch</strong>tig wird, und als status activus das Re<strong>ch</strong>t auf staatsbürgerli<strong>ch</strong>e<br />
Mitgestaltung im Staat. Ni<strong>ch</strong>t von dieser Statuslehre erfaßt sind beispielsweise<br />
Einri<strong>ch</strong>tungsgarantien und Verfahrensbezüge. Letztere könnte man<br />
als status activus processualis <strong>ch</strong>arakterisieren (Peter Häberle, <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> im Leistungsstaat,<br />
1972).<br />
2. Subjektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Dimension<br />
Als subjektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Dimension der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> bezei<strong>ch</strong>net man die Gesamtheit<br />
aller grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> begründeten Ansprü<strong>ch</strong>e gegen den Staat. Unters<strong>ch</strong>ieden<br />
na<strong>ch</strong> der Zielri<strong>ch</strong>tung (Abwehr, Leistung, Glei<strong>ch</strong>behandlung) zählen<br />
dazu sowohl die klassis<strong>ch</strong>en Abwehrre<strong>ch</strong>te als au<strong>ch</strong> die selteneren Leistungsre<strong>ch</strong>te<br />
und die strukturell andersartigen Glei<strong>ch</strong>behandlungsre<strong>ch</strong>te.<br />
a) Abwehrre<strong>ch</strong>te gewähren einen Anspru<strong>ch</strong> auf Unterlassen des Staates; sie bieten<br />
S<strong>ch</strong>utz vor staatli<strong>ch</strong>en Eingriffen, indem sie die Staatsgewalt zwar ni<strong>ch</strong>t von<br />
jeder Regulierung der Freiheit auss<strong>ch</strong>ließen, wohl aber auf sol<strong>ch</strong>e bes<strong>ch</strong>ränken,<br />
die im Einzelfall verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt werden können.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 6, 32 – Elfes; 7, 198 – Lüth; 21, 362 – Sozialversi<strong>ch</strong>erungsträger;<br />
50, 290 – Mitbestimmung; 68, 193 – Innungen; 80, 137 –<br />
Reiten im Walde; 90, 145 – Cannabis.<br />
b) Leistungsre<strong>ch</strong>te gewähren einen Anspru<strong>ch</strong> auf aktives Tätigwerden des Staates;<br />
sie unterstützen die Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen, indem sie der Staatsgewalt<br />
eine Förderung vors<strong>ch</strong>reiben. Das Grundgesetz kennt kaum originäre Leistungsre<strong>ch</strong>te.<br />
Meist ergeben si<strong>ch</strong> Ansprü<strong>ch</strong>e auf staatli<strong>ch</strong>es Handeln als<br />
derivative Leistungsre<strong>ch</strong>te 36 aus dem Glei<strong>ch</strong>heitssatz oder als Teilhabere<strong>ch</strong>te aus<br />
einzelnen Freiheiten (z.B. Studienplatzvergabe 99 aus der Berufsfreiheit 98 ).<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 33, 303 – numerus clausus I; 43, 291 –<br />
numerus clausus II; 66, 155 – Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ule Hannover.<br />
c) Glei<strong>ch</strong>behandlungsre<strong>ch</strong>te gewähren einen Anspru<strong>ch</strong> auf Glei<strong>ch</strong>behandlung<br />
dur<strong>ch</strong> den Staat; sie unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> von originären Abwehr- und Leistungsre<strong>ch</strong>ten<br />
dadur<strong>ch</strong>, daß kein bestimmtes Unterlassen oder Handeln definitiv gebo-
54<br />
3. Kapitel: Allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren<br />
ten ist, sondern nur ein sol<strong>ch</strong>es im Verglei<strong>ch</strong> zu anderen Verhaltensweisen des<br />
Staates (vgl. modale Abwehrre<strong>ch</strong>te 36 , derivative Leistungsre<strong>ch</strong>te 36 ).<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 24, 300 – Wahlkampfkostenpaus<strong>ch</strong>ale;<br />
45, 376 – Unfallversi<strong>ch</strong>erung (nasciturus); 47, 198 – Wahlwerbesendungen; 75,<br />
166 – Selbstbedienung bei Arzneimitteln; 81, 156 – Arbeitsförderungsgesetz;<br />
85, 191 – Na<strong>ch</strong>tarbeitsverbot; 92, 91 – Feuerwehrabgabe; 93, 121 – Einheitswerte<br />
II; 100, 195 – Einheitswerte III.<br />
d) Die S<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>te und Einri<strong>ch</strong>tungsansprü<strong>ch</strong>e gehören s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> ebenfalls<br />
zur subjektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Dimension. Sie entstehen dur<strong>ch</strong> Resubjektivierung der<br />
objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Dimension, d.h. aus dem Umstand, daß grundsätzli<strong>ch</strong> jeder<br />
staatli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>t, Verfahrens-, Organisations- oder Einri<strong>ch</strong>tungsgarantie<br />
ein individueller, wenn au<strong>ch</strong> inhaltli<strong>ch</strong> meist wenig konkreter Anspru<strong>ch</strong> auf<br />
S<strong>ch</strong>utz bzw. auf Erhalt der Einri<strong>ch</strong>tung korrespondiert. Dieser Zusammenhang,<br />
obwohl in der Grundre<strong>ch</strong>tsdogmatik erst mit der Zeit herausgearbeitet, ist eigentli<strong>ch</strong><br />
keine große Besonderheit: au<strong>ch</strong> eine Reihe von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n, etwa das<br />
Ausbürgerungs- 74 und das Auslieferungsverbot 75 , sind im Grundgesetz nur objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
formuliert, gewähren damit aber glei<strong>ch</strong>zeitig implizit einen subjektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Abwehranspru<strong>ch</strong>, was besonders in der Formulierung des<br />
Asylre<strong>ch</strong>ts 76 deutli<strong>ch</strong> wird (Art. 16 GG: »(1) Politis<strong>ch</strong> Verfolgte genießen Asyl. (2)<br />
Auf Absatz 1 kann si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t berufen, wer ...«).<br />
3. Objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Dimension<br />
Als objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Dimension der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> bezei<strong>ch</strong>net man alle aus den<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n folgenden Pfli<strong>ch</strong>ten des Staates, die über die respektvolle Zurückhaltung<br />
hinausgehen. Die S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten 55 (b) bilden darunter den praktis<strong>ch</strong><br />
wi<strong>ch</strong>tigsten Fall. Sie verpfli<strong>ch</strong>ten den Staat zu aktivem Tätigwerden, um die<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsgüter au<strong>ch</strong> vor Gefährungen dur<strong>ch</strong> Übergriffe Privater zu s<strong>ch</strong>ützen.<br />
Als ein Sonderfall dieser S<strong>ch</strong>utzwirkung unter Privaten kann die Ausstrahlungswirkung<br />
auf das Privatre<strong>ch</strong>t gelten, die au<strong>ch</strong> als Horizontal- oder<br />
Drittwirkung 54 bezei<strong>ch</strong>net wird (a). Unabhängig von privater oder öffentli<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er<br />
Natur sind ferner Organisation und Verfahren 55 (c) so auszugestalten,<br />
daß sie der Grundre<strong>ch</strong>tsverwirkli<strong>ch</strong>ung zuträgli<strong>ch</strong> sind. Und au<strong>ch</strong> zur Wahrung<br />
der Einri<strong>ch</strong>tungsgarantien (Institutsgarantien 56 und institutionelle Garantien 56 ,<br />
d) ist der Staat aktiv gefordert. Bei der guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Prüfung gibt es einige typis<strong>ch</strong>e<br />
Fragestellungen, die immer wieder auftreten:<br />
a) Die Drittwirkung ist zu erörtern, wann immer es um die grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Kontrolle der Auslegung und Anwendung von Privatre<strong>ch</strong>t geht, etwa bei der Be-
II. Funktionen und Dimensionen der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> 55<br />
urteilung, ob Mieters<strong>ch</strong>utzregeln no<strong>ch</strong> mit der Privatautonomie und dem Eigentumsgrundre<strong>ch</strong>t<br />
vereinbar sind (vgl. Fall 3: Eigenbedarf 164 ) oder ob Vermietern<br />
eine Duldungspfli<strong>ch</strong>t für Parabolantennen auferlegt werden muß (vgl. Informationsfreiheit<br />
92 ). Obwohl dogmatis<strong>ch</strong> zweifelhaft, ist die ganz überwiegende<br />
Spra<strong>ch</strong>regelung hier, daß ʺjedenfalls über die Generalklauselnʺ eine kontrollierende<br />
Wirkung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> au<strong>ch</strong> im Privatre<strong>ch</strong>t eintritt (sog. mittelbare<br />
Drittwirkung). In praktis<strong>ch</strong> allen Fällen läßt si<strong>ch</strong> damit gut leben, weil annähernd<br />
jede gesetzli<strong>ch</strong>e Regelung einen Auslegungsspielraum eröffnet, der mit<br />
grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Abwägung gefüllt werden kann. Häufig trifft die Drittwirkungsfrage<br />
mit dem Problem des Prüfungsumfangs zusammen – dann nämli<strong>ch</strong>,<br />
wenn es bei Urteilsverfassungsbes<strong>ch</strong>werden um die Anwendung von Zivilre<strong>ch</strong>t<br />
dur<strong>ch</strong> die Geri<strong>ch</strong>te geht (vgl. Superrevisionsinstanz 43 ).<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 7, 198 – Lüth; 73, 261 – Sozialplan; 79,<br />
256 – Kenntnis der eigenen Abstammung; 81, 242 – Handelsvertreter; 84, 192 –<br />
Offenbarung der Entmündigung; BVerfGE 90, 27 – Parabolantenne I; 92, 126 –<br />
Parabolantenne II; 92, 158 – Adoption II; 98, 365 – Versorgungsanwarts<strong>ch</strong>aften;<br />
101, 361 – Caroline von Monaco II.<br />
b) Die S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten, deren Prüfung die s<strong>ch</strong>on erwähnten Besonderheiten 38<br />
aufweist, wurden vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t früher aus einer Verbindung<br />
mit Art. 1 I 2 GG abgeleitet, also etwa »Art. 2 II 1 i.V.m. Art. 1 I 2 GG« für die<br />
staatli<strong>ch</strong>e Pfli<strong>ch</strong>t zum S<strong>ch</strong>utz des Lebens. Diese unglückli<strong>ch</strong>e Verquickung mit<br />
der Mens<strong>ch</strong>enwürdegarantie war darauf zurückzuführen, daß es si<strong>ch</strong> bei Art. 1 I<br />
2 GG um eine der wenigen grundgesetzli<strong>ch</strong>en Textstellen handelt, in denen explizit<br />
von S<strong>ch</strong>utz die Rede ist. Inzwis<strong>ch</strong>en ist in der S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tendogmatik<br />
unumstritten, daß jedem Einzelgrundre<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> ein S<strong>ch</strong>utzgehalt zukommt. Es<br />
genügt deshalb beispielsweise, vom ʺS<strong>ch</strong>utzgehalt des Lebensre<strong>ch</strong>ts aus Art. 2 II<br />
1 GGʺ zu spre<strong>ch</strong>en.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 39, 1 – S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong> I; 46,<br />
160 – S<strong>ch</strong>leyer; 49, 89 – Kalkar; 53, 30 – Mülheim-Kärli<strong>ch</strong>; 56, 54 – Fluglärm;<br />
88, 203 – S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong> II; 94, 49 – Si<strong>ch</strong>ere Drittstaaten.<br />
c) Organisation und Verfahren als weitere S<strong>ch</strong>utzgehalte der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> lassen<br />
si<strong>ch</strong> entspre<strong>ch</strong>end operationalisieren. Sie sind in Prüfungsfällen allerdings eher<br />
selten relevant.
56<br />
3. Kapitel: Allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 35, 79 – Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulurteil; 42, 64 –<br />
Zwangsversteigerung I; 52, 380 – S<strong>ch</strong>weigender Prüfling; 53, 30 – Mülheim-<br />
Kärli<strong>ch</strong>; 69, 315 – Brokdorf.<br />
d) Als Institutsgarantien bezei<strong>ch</strong>net man diejenigen Einri<strong>ch</strong>tungsgarantien, die<br />
das Grundgesetz im Berei<strong>ch</strong> des Privatre<strong>ch</strong>ts vorsieht (Ehe, Familie, Eigentum,<br />
Erbre<strong>ch</strong>t), als institutionelle Garantien hingegen Einri<strong>ch</strong>tungsgarantien im öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>t (kommunale Selbstverwaltung, Berufsbeamtentum). In der<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung kommen die Einri<strong>ch</strong>tungsgarantien meist nur zur Eingriffsre<strong>ch</strong>tfertigung<br />
vor. Eine Ausnahme bildet insofern das Institut ʹEigentumʹ, das<br />
glei<strong>ch</strong>zeitig in seinem subjektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Äquivalent, der Eigentumsfreiheit,<br />
als häufiger Ausgangspunkt für Grundre<strong>ch</strong>tsprüfungen fungiert (»A könnte in<br />
seinem Eigentumsre<strong>ch</strong>t aus Art. 14 I GG verletzt sein. ...«; vgl. Fall 3: Eigenbedarf).<br />
III. Grundre<strong>ch</strong>tsträgers<strong>ch</strong>aft und -bere<strong>ch</strong>tigung<br />
1. Natürli<strong>ch</strong>e Personen<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 28, 243 – Dienstpfli<strong>ch</strong>tverweigerung; 30,<br />
173 – Mephisto; 35, 382 – Ausländerausweisung; 39, 1 – S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong><br />
I; 88, 203 – S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong> II.<br />
Abgesehen von dem unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en persönli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> von Deuts<strong>ch</strong>en-,<br />
Unionsbürger- 50 und Jedermannre<strong>ch</strong>ten sind Grundre<strong>ch</strong>tsträgers<strong>ch</strong>aft<br />
und -bere<strong>ch</strong>tigung vor allem bei Minderjährigen 56 , ungeborenem Leben 69 und<br />
Toten 70 sowie in besonderen Gewaltverhältnissen (S<strong>ch</strong>ulverhältnis, Beamtenverhältnis,<br />
Strafgefangenenverhältnis) im Einzelfall erwähnungsbedürftig. Das<br />
Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t hat in den Ents<strong>ch</strong>eidungen zum S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong><br />
(BVerfGE 39, 1 [42 ff.] – S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong> I; 88, 203 [251 ff.] –<br />
S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong> II) den Lebenss<strong>ch</strong>utz vor der Geburt anerkannt, im<br />
Mephisto-Bes<strong>ch</strong>luß außerdem die Na<strong>ch</strong>wirkung der Mens<strong>ch</strong>enwürde na<strong>ch</strong> dem<br />
Tod (BVerfGE 30, 173 [188 ff.] – Mephisto). Die Grundre<strong>ch</strong>tsgeltung in Sonderstatusverhältnissen<br />
ist heute unstrittig; in S<strong>ch</strong>üler-, Beamten- und Strafgefangenenfällen<br />
genügt es, dies mit einem Satz festzustellen.<br />
Für die Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung Minderjähriger setzt das Grundgesetz nur<br />
in Einzelfällen ein feste Altersgrenze an (vgl. Art. 38 II GG: Wahlre<strong>ch</strong>t bei Volljährigkeit).<br />
Bei integritätsbezogenen Re<strong>ch</strong>ten (Leben, körperli<strong>ch</strong>er Unversehrt-
III. Grundre<strong>ch</strong>tsträgers<strong>ch</strong>aft- und bere<strong>ch</strong>tigung 57<br />
heit) sind Altersgrenzen ohnehin obsolet: sie stehen jedem Mens<strong>ch</strong>en spätestens<br />
ab der Geburt zu. Im übrigen hat der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum<br />
für verfassungskonforme einfa<strong>ch</strong>gesetzli<strong>ch</strong>e Konkretisierungen, von dem er insbesondere<br />
bei der negativen und positiven Religionsfreiheit praktis<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tig<br />
Gebrau<strong>ch</strong> gema<strong>ch</strong>t hat (Gesetz über die religiöse Kindererziehung 96 : 12 bzw. 14<br />
Jahre). In den verbleibenden Fällen ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> die Altersgrenze der Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung<br />
na<strong>ch</strong> der Einsi<strong>ch</strong>tsfähigkeit, wobei für re<strong>ch</strong>tsges<strong>ch</strong>äftsbezogene<br />
Freiheiten (Art. 12 I, 14 I GG) die generelle Einsi<strong>ch</strong>tsfähigkeit na<strong>ch</strong> den Altersgrenzen<br />
des BGB angesetzt wird, während in anderen Fällen au<strong>ch</strong> die individuelle<br />
Einsi<strong>ch</strong>tsfähigkeit herangezogen werden kann. Von Grundre<strong>ch</strong>tsmündigkeit<br />
spri<strong>ch</strong>t man bei der verfassungsprozessualen Seite der Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung<br />
Minderjähriger, also der eigenen Prozeßfähigkeit der Minderjährigen, au<strong>ch</strong><br />
ohne oder gegen den Willen der Erziehungsbere<strong>ch</strong>tigten (vgl. Fall 6:<br />
Helmpfli<strong>ch</strong>t 189 ).<br />
2. Juristis<strong>ch</strong>e Personen<br />
Artikel 19<br />
(1) – (2) ...<br />
(3) Die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> gelten au<strong>ch</strong> für inländis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e Personen, soweit<br />
sie ihrem Wesen na<strong>ch</strong> auf diese anwendbar sind.<br />
(4) ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 10, 89 – (Großer) Erftverband; 46, 73 –<br />
Stiftungen; 50, 290 – Mitbestimmung; 69, 257 – Politis<strong>ch</strong>e Parteien; 91, 262 –<br />
Parteienbegriff I; 91, 276 – Parteienbegriff II; 95, 173 – Warnhinweise für Tabakerzeugnisse;<br />
95, 220 – Aufzei<strong>ch</strong>nungspfli<strong>ch</strong>t; 97, 67 – S<strong>ch</strong>iffbauverträge; 97,<br />
228 – Kurzberi<strong>ch</strong>terstattung; 100, 313 – Telekommunikationsüberwa<strong>ch</strong>ung.<br />
Außer den vollre<strong>ch</strong>tsfähigen juristis<strong>ch</strong>en Person des Privatre<strong>ch</strong>ts (z.B.: Aktiengesells<strong>ch</strong>aft,<br />
GmbH, eingetragener Verein, Genossens<strong>ch</strong>aft, re<strong>ch</strong>tsfähige Stiftung)<br />
erkennt Art. 19 III GG die Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung au<strong>ch</strong> teilre<strong>ch</strong>tsfähigen Personenmehrheiten<br />
zu, also insbesondere den Gesamthandsgemeins<strong>ch</strong>aften (OHG,<br />
KG, GbR, Erbengemeins<strong>ch</strong>aft, eheli<strong>ch</strong>e Gütergemeins<strong>ch</strong>aft). Die weite Auslegung<br />
war vor allem für Parteien und Gewerks<strong>ch</strong>aften dringend nötig, da diese<br />
si<strong>ch</strong> im Kaiserrei<strong>ch</strong> einer staatli<strong>ch</strong>en Kontrolle nur dur<strong>ch</strong> Eintragungsverzi<strong>ch</strong>t<br />
entziehen konnten und deshalb historis<strong>ch</strong> als ni<strong>ch</strong>tre<strong>ch</strong>tsfähige Vereine gewa<strong>ch</strong>sen<br />
sind. Vom S<strong>ch</strong>utz des Art. 19 III GG ausges<strong>ch</strong>lossen sind ledigli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>te<br />
Personenmehrheiten, die ni<strong>ch</strong>t einmal den Grad organisatoris<strong>ch</strong>er Verfestigung
58<br />
3. Kapitel: Allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren<br />
einer BGB-Gesells<strong>ch</strong>aft errei<strong>ch</strong>en (z.B.: Pickup-Games beim Basketball). Hier<br />
können nur die Einzelpersonen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> geltend ma<strong>ch</strong>en, selbst wenn vom<br />
hoheitli<strong>ch</strong>en Eingriff alle glei<strong>ch</strong>artig und glei<strong>ch</strong>zeitig betroffen sein sollten.<br />
Als inländis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e Personen sind na<strong>ch</strong> der Sitztheorie nur diejenigen<br />
anzusehen, die ihr Handlungszentrum in Deuts<strong>ch</strong>land haben (tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Sitz,<br />
ni<strong>ch</strong>t statutaris<strong>ch</strong>er). Eine Ausdehnung auf jedwede dur<strong>ch</strong> das deuts<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>t<br />
anerkannte Personenmehrheit (Anerkennungstheorie) würde über die Regeln<br />
des internationalen Privatre<strong>ch</strong>ts zu einer vom Verfassunggeber so ni<strong>ch</strong>t beabsi<strong>ch</strong>tigten<br />
uferlosen Weite führen, mit der zudem jeder völkerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Verhandlungsspielraum<br />
für die reziproke Anerkennung deuts<strong>ch</strong>er Unternehmen im<br />
Ausland verlorenginge. Folgli<strong>ch</strong> genießen ausländis<strong>ch</strong>e Vereinigungen den<br />
S<strong>ch</strong>utz deuts<strong>ch</strong>er <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> selbst dann ni<strong>ch</strong>t, wenn ihre Gesells<strong>ch</strong>aftsform<br />
einfa<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> anerkannt ist und sie in Deuts<strong>ch</strong>land Ges<strong>ch</strong>äfte betreiben. Deshalb<br />
stehen ihnen außer den Prozeßgrundre<strong>ch</strong>ten 51 überhaupt keine <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
zu, sondern allenfalls den in ihnen aktiven oder sie besitzenden Ausländern 50<br />
na<strong>ch</strong> Art. 2 I, 14 I GG.<br />
Die europäis<strong>ch</strong>en juristis<strong>ch</strong>en Personen sind wie bei den Unionsbürgerre<strong>ch</strong>ten<br />
50 ein Sonderfall. Denn im Berei<strong>ch</strong> der vertragli<strong>ch</strong>en Grundfreiheiten, insbesondere<br />
der Warenverkehrsfreiheit, überlagert das Diskriminierungsverbot aus<br />
Art. 12 EGV die Grundre<strong>ch</strong>tsordnung des Grundgesetzes, da das Primärre<strong>ch</strong>t der<br />
Europäis<strong>ch</strong>en Union über Art. 23 GG Verfassungsrang genießt. Von einem Teil<br />
der Literatur wird allerdings bestritten, daß dies zur Ausdehnung des deuts<strong>ch</strong>en<br />
Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes führen müsse: ein Diskriminierungsverbot verpfli<strong>ch</strong>te in<br />
einfa<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Hinsi<strong>ch</strong>t, ni<strong>ch</strong>t aber notwendig au<strong>ch</strong> auf der Ebene des Verfassungsre<strong>ch</strong>ts<br />
zu einer Glei<strong>ch</strong>stellung. Angesi<strong>ch</strong>ts der praktis<strong>ch</strong>en Bedeutung, die<br />
den <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n für die Re<strong>ch</strong>tsdur<strong>ch</strong>setzung in Deuts<strong>ch</strong>land zukommt, würde<br />
eine derart restriktive Auslegung aber zu gewi<strong>ch</strong>tigen Unters<strong>ch</strong>ieden selbst in<br />
einfa<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> determinierten Wirts<strong>ch</strong>aftsberei<strong>ch</strong>en führen. Deshalb verdient<br />
die inzwis<strong>ch</strong>en wohl herrs<strong>ch</strong>ende Gegenauffassung den Vorzug, die aus Art. 12<br />
EGV eine Erweiterung der deuts<strong>ch</strong>en <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> auf juristis<strong>ch</strong>e Personen aller<br />
EU-Staaten folgert – allerdings bes<strong>ch</strong>ränkt auf sol<strong>ch</strong>e <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, die Sa<strong>ch</strong>verhalte<br />
im Berei<strong>ch</strong> der Grundfreiheiten der Verträge s<strong>ch</strong>ützen. Dur<strong>ch</strong> die Übertragung<br />
von Hoheitsgewalt auf die EU (vgl. Art. 23 GG) besteht insoweit eine materielle<br />
Verfassungsänderung des deuts<strong>ch</strong>en Grundre<strong>ch</strong>tskatalogs unter Ausnahme<br />
des Textänderungsgebots 35 (Art. 79 I GG, vgl. au<strong>ch</strong> Art. 23 I 3 GG). Bei der Fallbearbeitung<br />
muß dazu festgestellt werden, daß die beeinträ<strong>ch</strong>tigte Handlung tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
eine Ausübung von europare<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Grundfreiheiten war (vgl. Fall 8:<br />
Neoanar<strong>ch</strong>isten 205 ).
III. Grundre<strong>ch</strong>tsträgers<strong>ch</strong>aft- und bere<strong>ch</strong>tigung 59<br />
Im Rahmen von Art. 19 III GG ist die wesensgemäße Anwendbarkeit zweideutig:<br />
sie bezieht si<strong>ch</strong> einerseits auf das Wesen der juristis<strong>ch</strong>en Person und andererseits<br />
auf das Wesen des Grundre<strong>ch</strong>ts. Na<strong>ch</strong> der älteren Dur<strong>ch</strong>griffstheorie<br />
bemißt si<strong>ch</strong> die Antwort dana<strong>ch</strong>, ob die juristis<strong>ch</strong>e Person über ein personales Substrat<br />
verfügt, um dessentwillen ein grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>utz geboten ist. S<strong>ch</strong>wierigkeiten<br />
ergeben si<strong>ch</strong> dann vor allem bei Stiftungen, also reinen Vermögensmassen<br />
ohne Personenmitglieds<strong>ch</strong>aft. Mit der neueren Theorie der grundre<strong>ch</strong>tstypis<strong>ch</strong>en<br />
Gefährdungslage ist hingegen dana<strong>ch</strong> zu fragen, ob die juristis<strong>ch</strong>e Person<br />
bezügli<strong>ch</strong> des in Rede stehenden Grundre<strong>ch</strong>ts gegenüber dem Hoheitsträger<br />
in verglei<strong>ch</strong>barer Weise s<strong>ch</strong>utzbedürftig ist wie natürli<strong>ch</strong> Personen. Ni<strong>ch</strong>t verglei<strong>ch</strong>bar<br />
und deshalb ni<strong>ch</strong>t anwendbar sind bei juristis<strong>ch</strong>en Personen alle<br />
hö<strong>ch</strong>stpersönli<strong>ch</strong>en <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> 51 . Bezügli<strong>ch</strong> der meisten Freiheiten, insbesondere<br />
der wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en, ist hingegen eine juristis<strong>ch</strong>e Person verglei<strong>ch</strong>bar<br />
s<strong>ch</strong>utzbedürftig und s<strong>ch</strong>utzwürdig. In der ungefähren Reihenfolge der praktis<strong>ch</strong>en<br />
Bedeutung sind dana<strong>ch</strong> anwendbar: Eigentum und Erbre<strong>ch</strong>t 102 (Art. 14 I<br />
GG), Berufsfreiheit 98 (Art. 12 I GG), allgemeine Handlungsfreiheit 66 (Art. 2 I GG),<br />
allgemeiner Glei<strong>ch</strong>heitssatz 115 (Art. 3 I GG), S<strong>ch</strong>utz der Ges<strong>ch</strong>äftsräume 81 (Art. 13<br />
GG), Vereinigungsfreiheit 88 (Art. 9 I GG), Meinungsfreiheit 90 (Art. 5 I GG),<br />
Kommunikationsgeheimnisse 78 (Art. 10 GG), Freizügigkeit 73 (Art. 11 I GG) und<br />
Re<strong>ch</strong>tsweggarantie 110 (Art. 19 IV GG). Für einzelne juristis<strong>ch</strong>e Personen wi<strong>ch</strong>tig<br />
sind außerdem die Religions- und Weltans<strong>ch</strong>auungsfreiheit 95 (Art. 4 I, II GG), die<br />
Presse- 92 , Rundfunk-, Filmfreiheit 93 (alle Art. 5 I GG), die Koalitionsfreiheit 106<br />
(Art. 9 III GG) sowie die Wissens<strong>ch</strong>afts- 108 und Kunstfreiheit 107 (Art. 5 III GG).<br />
Auf juristis<strong>ch</strong>e Personen des öffentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts (Körpers<strong>ch</strong>aften, Anstalten,<br />
Stiftungen) ist Art. 19 III GG weder anwendbar no<strong>ch</strong> übertragbar.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 21, 362 – Sozialversi<strong>ch</strong>erungsträger; 45,<br />
63 – Stadtwerke Hameln; 61, 82 – Sasba<strong>ch</strong>; 68, 193 – Zahnte<strong>ch</strong>niker-Innungen;<br />
75, 192 – Sparkassen; 98, 17 – Sa<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsmoratorium; 99, 100 – St. Salvator<br />
Kir<strong>ch</strong>e.<br />
Sie sind ni<strong>ch</strong>t Träger von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n. Eine ausdrückli<strong>ch</strong>e Ausnahmetrias besteht<br />
insoweit unumstritten für Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulen, Kir<strong>ch</strong>en und Rundfunkanstalten,<br />
denen die Wissens<strong>ch</strong>afts- 108 , Religions- 95 und Rundfunkfreiheit 93 zugeda<strong>ch</strong>t war,<br />
obwohl sie traditionell als Körpers<strong>ch</strong>aften des öffentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts organisiert<br />
sind.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 15, 256 – Universitäre Selbstverwaltung;<br />
19, 1 – Religionsgemeins<strong>ch</strong>aften; 31, 314 – 2. Rundfunkents<strong>ch</strong>eidung (Umsatzsteuer).
60<br />
3. Kapitel: Allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren<br />
Analog dazu werden in der Literatur weitere Ausnahmen diskutiert: für Kultureinri<strong>ch</strong>tungen<br />
(Kunst- und Musikho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulen, Theater und Museen 107 ), Landesmedienanstalten,<br />
Wasser- und Bodenverbände, Jagd- und Fis<strong>ch</strong>ereigenossens<strong>ch</strong>aften,<br />
Träger der funktionalen Selbstverwaltung (berufsständis<strong>ch</strong>e Kammern,<br />
Sozialversi<strong>ch</strong>erungen). Besonders umstritten ist der Auss<strong>ch</strong>luß der Grundre<strong>ch</strong>tsträgers<strong>ch</strong>aft<br />
für Gemeinden und Landkreise, die si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der Judikatur des<br />
Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts stets nur auf das kommunale Selbstverwaltungsre<strong>ch</strong>t<br />
(Art. 28 II 1 GG) berufen können, na<strong>ch</strong> inzwis<strong>ch</strong>en wohl überwiegenden Literatur<br />
hingegen im Berei<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>thoheitli<strong>ch</strong>er Aufgabenwahrnehmung au<strong>ch</strong> auf das Eigentumsre<strong>ch</strong>t<br />
(Art. 14 I GG; z.B. landwirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> genutztes Gemeindegrundstück).<br />
Für die Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung der privatre<strong>ch</strong>tsförmigen Verwaltung gilt<br />
(wie au<strong>ch</strong> bei der Grundre<strong>ch</strong>tsbindung 61 ), daß die Formwahl keine Vorteile<br />
s<strong>ch</strong>affen darf. Wenn der Staat si<strong>ch</strong> freiwillig die Gestalt eines privaten Marktteilnehmers<br />
gibt, wa<strong>ch</strong>sen ihm deshalb no<strong>ch</strong> keine neuen Re<strong>ch</strong>te zu. Für Eigengesells<strong>ch</strong>aften,<br />
deren Anteile ganz der öffentli<strong>ch</strong>en Hand gehören, und gemis<strong>ch</strong>töffentli<strong>ch</strong>e<br />
Unternehmen, die vers<strong>ch</strong>iedenen Hoheitsträgern gemeinsam innehaben<br />
(z.B. Bund und Land), ist das unumstritten. Probleme gibt es bei gemis<strong>ch</strong>twirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />
Unternehmen, an denen au<strong>ch</strong> Private beteiligt sind. Für diese<br />
hat das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t die Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung jedenfalls dann<br />
verneint, wenn sie von der öffentli<strong>ch</strong>en Hand mehrheitli<strong>ch</strong> beherrs<strong>ch</strong>t werden.<br />
In der Literatur ist teils kritisiert worden, daß damit au<strong>ch</strong> für die beteiligten Privaten<br />
ein Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz entfällt, der ihnen in anderen Unternehmen zugute<br />
käme. Diese Stimmen bejahen eine Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung bereits dann, wenn<br />
die private Anteilseigners<strong>ch</strong>aft die Bagatellgrenze übers<strong>ch</strong>reitet und im konkreten<br />
Fall eine grundre<strong>ch</strong>tstypis<strong>ch</strong>e Gefährdungslage 59 besteht. Unabhängig von<br />
dem Streit wird man zumindest dann, wenn die öffentli<strong>ch</strong>e Hand einen kleineren<br />
als den beherrs<strong>ch</strong>enden Anteil hält, eine Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung bejahen können.<br />
Eine Sonderrolle spielen die Prozeßgrundre<strong>ch</strong>te 51 (Art. 19 IV, 101 I, 103 GG).<br />
Einige von ihnen kommen über den Wortlaut des Art. 19 III GG hinaus allen Personenmehrheiten<br />
zu, au<strong>ch</strong> den ausländis<strong>ch</strong>en juristis<strong>ch</strong>en Personen und sogar<br />
den juristis<strong>ch</strong>en Personen des öffentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 12, 6 – Société Anonyme; 18, 441 – AG in<br />
Züri<strong>ch</strong>; 75, 192 – Sparkassen.
IV. Grundre<strong>ch</strong>tsbindung 61<br />
IV.<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsbindung<br />
1. Staatsgewalten<br />
Die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> binden alle drei Staatsgewalten (Legislative, Exekutive, Judikative)<br />
unmittelbar (Art. 1 III GG; vgl. Art. 20 III GG) und zwar au<strong>ch</strong> bei demjenigen<br />
Handeln deuts<strong>ch</strong>er Behörden, das außerhalb des deuts<strong>ch</strong>en Territoriums<br />
wirksam wird (auswärtige Gewalt) oder wirksam werden könnte (diplomatis<strong>ch</strong>er<br />
S<strong>ch</strong>utz). Die Bindung gilt in Sonderstatusverhältnissen 56 sowie grundsätzli<strong>ch</strong><br />
au<strong>ch</strong> bei sogenannten justizfreien Hoheitsakten (z.B. Gnadenakte, ho<strong>ch</strong>politis<strong>ch</strong>e<br />
Regierungsakte). Sie gilt au<strong>ch</strong> in den Ländern, so daß beispielsweise jedes<br />
Landesgesetz an den Bundesgrundre<strong>ch</strong>ten zu messen ist. Erfaßt wird die öffentli<strong>ch</strong>e<br />
Gewalt in allen ihren Handlungsformen, also au<strong>ch</strong> bei hoheitli<strong>ch</strong>en Maßnahmen<br />
von Beliehenen (z.B. TÜV-Prüfung; vgl. Art. 93 I Nr. 4a GG). Außer der<br />
unmittelbaren Staatsverwaltung (Regierung, Staatsbehörden) ist au<strong>ch</strong> die mittelbare<br />
Staatsverwaltung grundre<strong>ch</strong>tsgebunden, also insbesondere diejenige der<br />
Gemeinden, aber au<strong>ch</strong> aller anderen Verwaltungseinheiten, die si<strong>ch</strong> öffentli<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er<br />
Handlungsformen bedienen (z.B. berufsständis<strong>ch</strong>e Kammern, Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulen,<br />
Rundfunkanstalten). Einen Sonderfall bilden die Kir<strong>ch</strong>en, die zwar<br />
Körpers<strong>ch</strong>aften des öffentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts sind (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 V WRV),<br />
aber dadur<strong>ch</strong> weder zu Teilen des Staates no<strong>ch</strong> zu Ausführenden der mittelbaren<br />
Staatsverwaltung werden. Wie Beliehene sind sie voll grundre<strong>ch</strong>tsgebunden in<br />
der Wahrnehmung der ihnen übertragenen Hoheitsbefugnisse (Kir<strong>ch</strong>ensteuer,<br />
Friedhofsverwaltung), do<strong>ch</strong> bei ihren (öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en) Bediensteten sind<br />
mit Blick auf das Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>t der Religionsgemeins<strong>ch</strong>aft weitergehende<br />
Bes<strong>ch</strong>ränkungen der Freiheit zur Meinungsäußerung und Lebensführung<br />
anerkannt als in den profanen Anstellungsverhältnissen des allgemeinen<br />
Arbeitsre<strong>ch</strong>ts.<br />
Die Geltung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> ist s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> bei privatre<strong>ch</strong>tsförmiger<br />
Verwaltung anerkannt. Für privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Hilfsges<strong>ch</strong>äfte der Verwaltung<br />
(Büromaterialkauf) und für deren erwerbswirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Betätigung (staatli<strong>ch</strong>e<br />
Manufaktur) können insbesondere Glei<strong>ch</strong>heitssatz und Datens<strong>ch</strong>utz relevant<br />
werden (z.B. in der Vergabe öffentli<strong>ch</strong>er Aufträge); insoweit spri<strong>ch</strong>t man von der<br />
Fiskalgeltung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, die früher verneint wurde, heute aber anerkannt<br />
ist. Bei der Wahrnehmung öffentli<strong>ch</strong>er Aufgaben in den Formen des Privatre<strong>ch</strong>ts<br />
(Stadtwerke) darf zudem das grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzniveau ni<strong>ch</strong>t hinter<br />
demjenigen einer hoheitsförmigen Erfüllung zurückstehen, weil der Staat sonst<br />
dur<strong>ch</strong> bloßen Formentaus<strong>ch</strong> aus seiner Grundre<strong>ch</strong>tsbindung entfliehen könnte.
62<br />
3. Kapitel: Allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren<br />
Ein aus der besonderen Bindung resultierendes Verwaltungsprivatre<strong>ch</strong>t, bei<br />
dem die privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Handlungsformen dur<strong>ch</strong> grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> inspirierte<br />
Bindungen des öffentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts modifiziert sind, ist insbesondere bei der Daseinsvorsorge<br />
mit Mitteln des Privatre<strong>ch</strong>ts s<strong>ch</strong>on länger anerkannt.<br />
2. Private<br />
Abgesehen von der Ausnahmeregelung in Art. 9 II GG (Verbot verfassungswidriger<br />
Vereinigungen) tritt die Grundre<strong>ch</strong>tsbindung Privater nur in Gestalt der<br />
Drittwirkung 54 auf. Au<strong>ch</strong> Tarifverträge fallen nur dann unter die Grundre<strong>ch</strong>tsbindung<br />
des Art. 1 III GG, wenn sie vom Bundesarbeitsminister für allgemeinverbindli<strong>ch</strong><br />
erklärt wurden.<br />
V. Normverhältnisse<br />
1. Grundre<strong>ch</strong>tskollisionen und -konkurrenzen<br />
Eine Kollision von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n liegt vor, wenn das Grundre<strong>ch</strong>t eines Grundre<strong>ch</strong>tsträgers<br />
nur dadur<strong>ch</strong> verwirkli<strong>ch</strong>t werden kann, daß dasjenige eines anderen<br />
zurücktritt. Sol<strong>ch</strong>e Kollisionen sind geradezu der Regelfall: die Freiheit des<br />
einen findet ihre Grenze in der Freiheit des anderen. Wer beispielsweise seine<br />
Religions- oder Kunstfreiheit im öffentli<strong>ch</strong>en Raum einer Fußgängerzone praktizieren<br />
will, kann dies nur, wenn andere in ihrem Verhalten darauf Rücksi<strong>ch</strong>t<br />
nehmen; wer demonstrieren mö<strong>ch</strong>te, löst damit zwangsläufig Verzögerungen im<br />
Straßenverkehr aus, die andere behindern. Der staatli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utz von Grundre<strong>ch</strong>tsgütern<br />
führt zudem regelmäßig bei anderen Personen zu Freiheitsbeeinträ<strong>ch</strong>tigungen:<br />
selbst das Tötungsverbot zugunsten des Lebensre<strong>ch</strong>ts potentieller<br />
Opfer ist – grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tet – als Bes<strong>ch</strong>ränkung der Handlungsfreiheit<br />
potentieller Täter anzusehen. Die Abwägung, die in sol<strong>ch</strong>en Fällen kontrolliert,<br />
ob die kollidierenden <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> im staatli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> angemessen zum<br />
Ausglei<strong>ch</strong> gebra<strong>ch</strong>t werden, nennt si<strong>ch</strong> praktis<strong>ch</strong>e Konkordanz 26 und ist ein Sonderfall<br />
des Verhältnismäßigkeitsprinzips.<br />
Eine Konkurrenz von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n liegt vor, wenn mehrere <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
für denselben Lebenssa<strong>ch</strong>verhalt als Prüfungsmaßstab in Betra<strong>ch</strong>t kommen. Hier<br />
treten zunä<strong>ch</strong>st na<strong>ch</strong> den Grundsätzen der Subsidiarität, Spezialität oder<br />
Sa<strong>ch</strong>nähe 22 einzelne <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> in den Hintergrund: ihr S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> ist dann<br />
ni<strong>ch</strong>t betroffen (vgl. Prüfungsreihenfolge 21 ). Zwis<strong>ch</strong>en den übrigen herrs<strong>ch</strong>t<br />
Idealkonkurrenz 23 , d.h. sie sind nebeneinander als Kontrollmaßstab für das
V. Normverhältnisse 63<br />
staatli<strong>ch</strong>en Handeln anwendbar und in der guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Prüfung einzeln zu erörtern.<br />
2. Bundes- und Landesgrundre<strong>ch</strong>te<br />
Für das Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en Bundes- und Landesgrundre<strong>ch</strong>ten sind Art. 31 GG<br />
(»Bundesre<strong>ch</strong>t bri<strong>ch</strong>t Landesre<strong>ch</strong>t«) und Art. 142 GG zu bea<strong>ch</strong>ten (Landesgrundre<strong>ch</strong>te<br />
bleiben in Kraft). Unumstritten ist dabei, daß inhaltsglei<strong>ch</strong>e Landesgrundre<strong>ch</strong>te<br />
eigenständig gelten und von den Landesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ten als Prüfungsmaßstab<br />
für Landesre<strong>ch</strong>t herangezogen werden. Einigkeit herrs<strong>ch</strong>t ferner<br />
darüber, daß den Landesverfassungen eine stärkere Bes<strong>ch</strong>ränkung von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n<br />
im Ergebnis ni<strong>ch</strong>t zusteht. Allerdings sind Mindergewährleistungen ni<strong>ch</strong>t<br />
automatis<strong>ch</strong> ein Problem, denn neben den Landesgarantien gelten die Bundesgrundre<strong>ch</strong>te<br />
ja weiterhin für das gesamte Landesre<strong>ch</strong>t; ein Bundesland kann sogar<br />
ganz auf Landesgrundre<strong>ch</strong>te verzi<strong>ch</strong>ten. Dagegen können Mehrgewährleistungen<br />
dur<strong>ch</strong>aus im Widerspru<strong>ch</strong> zu Bundesgrundre<strong>ch</strong>ten stehen – dann nämli<strong>ch</strong>,<br />
wenn sie in einer Grundre<strong>ch</strong>tskollision zwis<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedenen Grundre<strong>ch</strong>tsträgern<br />
zur Re<strong>ch</strong>tfertigung eingesetzt werden. Die verstärkte Bindung der<br />
Landesstaatsgewalt darf si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t für einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgüter oder -träger<br />
s<strong>ch</strong>utzmindernd auswirken. Beispielsweise kann eine verstärkte Landesgewähr<br />
der Demonstrationsfreiheit ni<strong>ch</strong>t mit einer Minderung des grundgesetzli<strong>ch</strong>en Eigentumsre<strong>ch</strong>ts<br />
erkauft werden.<br />
Dem Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t steht die Kontrolle der Wahrung von Landesgrundre<strong>ch</strong>ten<br />
ni<strong>ch</strong>t zu: die Landesverfassungen liegen ni<strong>ch</strong>t im Kognitionsberei<strong>ch</strong><br />
des Bundesgeri<strong>ch</strong>ts. Für die guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Praxis vereinfa<strong>ch</strong>t das die Abgrenzung<br />
erhebli<strong>ch</strong>, denn bei allen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
bleiben die Landesgrundre<strong>ch</strong>te ungeprüft; sie spielen nur bei materiellre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er<br />
Fragestellung (»Ist A in Bundes- oder Landesgrundre<strong>ch</strong>ten verletzt?«) sowie bei<br />
(sehr seltener) landesverfassungsgeri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Aufgabenstellung eine Rolle.<br />
3. Europare<strong>ch</strong>t und internationale Pakte<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 31, 58 – Spanier-Bes<strong>ch</strong>luß; 37, 271 – Solange<br />
I; 73, 339 – Solange II; 75, 1 – Völkerre<strong>ch</strong>t (nebis in idem); 89, 155 – Maastri<strong>ch</strong>t;<br />
92, 203 – EG-Fernsehri<strong>ch</strong>tlinie; 100, 313 – Telekommunikationsüberwa<strong>ch</strong>ung.<br />
Grundsätzli<strong>ch</strong> gelten europare<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e und internationale Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tsgarantien<br />
neben den staatli<strong>ch</strong>en Verfassungsnormen (Bundes- und Landesgrundre<strong>ch</strong>ten)<br />
als zusätzli<strong>ch</strong>er Kontrollmaßstab für das staatli<strong>ch</strong>e Handeln. Es herrs<strong>ch</strong>t also
64<br />
3. Kapitel: Allgemeine Grundre<strong>ch</strong>tslehren<br />
Idealkonkurrenz 23 , die im Einzelfall (etwa bei überlanger Verfahrensdauer) au<strong>ch</strong><br />
s<strong>ch</strong>on dazu geführt hat, daß Kläger erst vor dem überstaatli<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>t erfolgrei<strong>ch</strong><br />
waren (vgl. Europäis<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskonvention, EMRK 18 ). Normalerweise<br />
findet si<strong>ch</strong> aber weder im Europare<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> in den internationalen Pakten<br />
eine Gewährleistung, die in ihrer Kontrolldi<strong>ch</strong>te über die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> des<br />
Grundgesetzes hinausrei<strong>ch</strong>t.<br />
Pragmatis<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tet wird das Verhältnis der Bundesgrundre<strong>ch</strong>te zu den<br />
(bisher unges<strong>ch</strong>riebenen) <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n der europäis<strong>ch</strong>en Gemeins<strong>ch</strong>aft dur<strong>ch</strong><br />
die Verfahrenszuständigkeit ähnli<strong>ch</strong> vereinfa<strong>ch</strong>t wie beim Verhältnis von Landes-<br />
zu Bundesgrundre<strong>ch</strong>ten: na<strong>ch</strong> der ʹSolangeʹ-Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts<br />
ist die Wahrung der Grundre<strong>ch</strong>tskonformität europare<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er<br />
Hoheitsakte primär Aufgabe des EuGH 18 . Ähnli<strong>ch</strong> verhält es si<strong>ch</strong> bei internationalen<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tspakten: au<strong>ch</strong> unter diesen ist nur die EMRK 18 gelegentli<strong>ch</strong><br />
zu prüfen, wenn die Fragestellung materiell ist oder eine mögli<strong>ch</strong>e Klage beim<br />
EGMR 18 eins<strong>ch</strong>ließt.
4. Kapitel:<br />
Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
Die einzelnen Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen sind im folgenden na<strong>ch</strong> Themengebieten<br />
gruppiert. Davon zu unters<strong>ch</strong>eiden ist einerseits die Prüfungsreihenfolge<br />
21 , bei der die Freiheits- vor den Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>ten und die besonderen Re<strong>ch</strong>te<br />
vor den allgemeinen geprüft werden müssen. Andererseits kann eine alternative<br />
Lesereihenfolge empfohlen werden, um beim Lernen na<strong>ch</strong> der praktis<strong>ch</strong>en Bedeutung<br />
vorzugehen. Zu diesem Zweck sollten die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> der ersten beiden<br />
Gruppen zuerst gelernt werden, dann die der dritten Gruppe und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
nur no<strong>ch</strong> kurz die wenigen Re<strong>ch</strong>te der vierten Gruppe:<br />
Eine erste Gruppe von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n, die sowohl in Staatsre<strong>ch</strong>tsklausuren als<br />
au<strong>ch</strong> in Verwaltungsre<strong>ch</strong>tsklausuren sehr häufig geprüft werden, bilden dabei<br />
einzelne Wirts<strong>ch</strong>aftsgrundre<strong>ch</strong>te 52 (Berufsfreiheit 98 : Art. 12 I GG, Eigentum 102 :<br />
Art. 14 I GG), ergänzt um die allgemeine Handlungsfreiheit 66 (Art. 2 I GG) und<br />
den allgemeinen Glei<strong>ch</strong>heitssatz 115 (Art. 3 I GG).<br />
Eine zweite Gruppe besteht aus sol<strong>ch</strong>en <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n, die überwiegend in<br />
Staatsre<strong>ch</strong>tsklausuren geprüft werden, dort aber mit einiger Regelmäßigkeit<br />
vorkommen: die zentralen Integritätsre<strong>ch</strong>te (Mens<strong>ch</strong>enwürde 68 : Art. 1 I GG,<br />
Re<strong>ch</strong>t auf Leben und körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit 71 : Art. 2 II 1 GG, allgemeines<br />
Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t 77 : Art. 2 I GG), das Re<strong>ch</strong>t auf informationelle Selbstbestimmung<br />
78 (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG), die Glaubensfreiheit 95 (Art. 4 I, II GG und<br />
Art. 140 GG i.V.m. Art. 136-139, 141 WRV), sämtli<strong>ch</strong>e Kommunikationsgrundre<strong>ch</strong>te<br />
51 (Versammlungsfreiheit 86 : Art. 8 I GG, Vereinigungsfreiheit 88 : Art.<br />
9 I, II GG, Meinungsfreiheit 90 : Art. 5 I GG, Informationsfreiheit 92 : Art. 5 I GG,<br />
Pressefreiheit 92 : Art. 5 I GG, Rundfunk- und Filmfreiheit 93 : Art. 5 I GG) sowie die<br />
Kunstfreiheit 107 (Art. 5 III GG).<br />
In der dritten Gruppe derjenigen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, die allenfalls gelegentli<strong>ch</strong>,<br />
ni<strong>ch</strong>t aber häufig in Examensfällen vorkommen, gehören die Freiheit der<br />
Person 73 (Art. 2 II 2, 104 GG), Gewissensfreiheit 97 und Kriegsdienstverweigerungsre<strong>ch</strong>t<br />
98 (Art. 4 III GG), Wissens<strong>ch</strong>aftsfreiheit 108 (Art. 5 III GG), Ehe und Familie<br />
83 (Art. 6 I GG), Erziehungsre<strong>ch</strong>t 84 (Art. 6 II, III GG), Koalitionsfreiheit 106<br />
(Art. 9 III GG), Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis 78 (Art. 10 GG), Freizügigkeit<br />
73 (Art. 11 GG), Wohnung 81 (Art. 13 GG) sowie sämtli<strong>ch</strong>e Verfahrensre<strong>ch</strong>te 109<br />
(Re<strong>ch</strong>tsweggarantie 110 : Art. 19 IV GG, gesetzli<strong>ch</strong>er Ri<strong>ch</strong>ter 111 : Art. 101 I 2 GG,<br />
re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Gehör 111 : Art. 103 I GG, nulla poena sine lege 112 : Art. 103 II GG, ne bis in
66<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
idem 113 : Art. 103 III GG, Fairneß 114 : Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzip i.V.m. Art. 2 I GG,<br />
effektiver Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz 114 ) und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> die speziellen Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te<br />
(Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung 117 : Art. 3 II GG, Differenzierungsverbote 119 : Art. 3 III 2, 6 V<br />
GG, Indigenat 120 und öffentli<strong>ch</strong>er Dienst 120 : Art. 33 I-III GG, Wahlre<strong>ch</strong>ts- und<br />
Parteienglei<strong>ch</strong>heit 120 : Art. 38 I GG).<br />
S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> bleiben als vierte Gruppe die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, die nur äußerst selten<br />
prüfungsrelevant werden: Lehrfreiheit 108 (Art. 5 III GG), Mutters<strong>ch</strong>utz 85 (Art. 6<br />
IV GG), S<strong>ch</strong>ulfreiheit 85 (Art. 7 GG), Ausbürgerungsverbot 74 (Art. 16 I GG), Auslieferungsverbot<br />
75 (Art. 16 II GG), Asylgrundre<strong>ch</strong>t 76 (Art. 16a GG) und Petitionsre<strong>ch</strong>t<br />
94 (Art. 17 GG).<br />
I. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG)<br />
Artikel 2<br />
(1) Jeder hat das Re<strong>ch</strong>t auf die freie Entfaltung seiner Persönli<strong>ch</strong>keit, soweit er<br />
(2) ...<br />
ni<strong>ch</strong>t die Re<strong>ch</strong>te anderer verletzt und ni<strong>ch</strong>t gegen die verfassungsmäßige<br />
Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 6, 32 – Elfes; 10, 89 – Erftverband; 20, 150<br />
– Sammlungsgesetz; 38, 281 – Arbeitnehmerkammern; 54, 143 – Taubenfütterungsverbot;<br />
55, 159 – Falknerjagds<strong>ch</strong>ein; 80, 137 – Reiten im Walde; 89, 214 –<br />
Bürgs<strong>ch</strong>aftsverträge; 90, 145 – Cannabis; 92, 191 – Personalienangabe.<br />
Art. 2 I GG ist Grundlage für die allgemeine Handlungsfreiheit, das allgemeine<br />
Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t 77 und das informationelle Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>t 78 . Außer<br />
dem Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t ergeben si<strong>ch</strong> diese Gehalte allerdings ni<strong>ch</strong>t unmittelbar<br />
aus dem Text der Norm. Daß es si<strong>ch</strong> überhaupt um eine allgemeine Handlungsfreiheit<br />
im Sinne eines Auffanggrundre<strong>ch</strong>ts handelt, folgt in historis<strong>ch</strong>-systematis<strong>ch</strong>er<br />
Auslegung aus den vorausgegangenen Textentwürfen des Parlamentaris<strong>ch</strong>en<br />
Rates, in denen es no<strong>ch</strong> hieß, jeder könne tun und lassen, was ihm gefalle,<br />
solange er die Re<strong>ch</strong>te der anderen ni<strong>ch</strong>t verletze. Die vornehmere S<strong>ch</strong>lußformulierung<br />
wollte diesen weiten S<strong>ch</strong>utzgehalt ni<strong>ch</strong>t verengen.<br />
Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> erstreckt si<strong>ch</strong> auf alle handlungsfähigen Mens<strong>ch</strong>en, au<strong>ch</strong><br />
Kinder, sowie auf juristis<strong>ch</strong>e Personen 57 (Art. 19 III GG). Im Berei<strong>ch</strong> von Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>ten<br />
sind Ausländer 50 na<strong>ch</strong> Art. 2 I GG ges<strong>ch</strong>ützt. In der Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
zum Reiten im Walde (BVerfGE 80, 137 [150 ff.]) hat das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
mehrheitli<strong>ch</strong> festgestellt, daß au<strong>ch</strong> Bagatellhandlungen unter
I. Allgemeine Handlungsfreiheit 67<br />
den S<strong>ch</strong>utz der allgemeinen Handlungsfreiheit fallen (z.B. Taubenfüttern,<br />
Helmpfli<strong>ch</strong>t 189 ). Das ist na<strong>ch</strong> wie vor umstritten und in den Grundre<strong>ch</strong>tsordnungen<br />
anderer Ländern au<strong>ch</strong> anders geregelt (z.B. kein Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz von<br />
Bagatellhandlungen in der S<strong>ch</strong>weiz). Eine guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Problematisierung der<br />
Frage ist nur nötig, wenn der S<strong>ch</strong>werpunkt des Falles bei Art. 2 I GG liegt. Dann<br />
sind von der herrs<strong>ch</strong>enden Meinung die besonders enge Persönli<strong>ch</strong>keitskerntheorie<br />
(Peters: ges<strong>ch</strong>ützt ist nur das Handeln, das zur Persönli<strong>ch</strong>keitsbildung erforderli<strong>ch</strong><br />
ist) sowie die Bagatellisierungslehre (Dieter Grimm: ges<strong>ch</strong>ützt ist jedes<br />
Handeln außer Bagatellhandlungen) abzugrenzen (vgl. die Fälle: Reiten im Walde<br />
148 und Helmpfli<strong>ch</strong>t 189 ).<br />
Die restriktiveren Interpretationen hätten unter anderem den Na<strong>ch</strong>teil, daß<br />
die allgemeine Handlungsfreiheit ni<strong>ch</strong>t mehr als Auffanggrundre<strong>ch</strong>t fungieren<br />
könnte. Generell gilt nämli<strong>ch</strong>, daß Art. 2 I GG immer dann automatis<strong>ch</strong> Freiheitss<strong>ch</strong>utz<br />
gewährt, wenn kein S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> eines speziellen Freiheitsre<strong>ch</strong>ts<br />
eins<strong>ch</strong>lägig ist. Es gibt nur wenige Konstellationen, in denen von dieser Auffangfunktion<br />
eine Ausnahme gema<strong>ch</strong>t wird, etwa bei unfriedli<strong>ch</strong>en Versammlungen<br />
86 : sie sollen na<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender Meinung weder na<strong>ch</strong> Art. 8 I GG no<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong><br />
Art. 2 I GG grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utz genießen – ein Ergebnis, das wegen der Gefahr<br />
eines unverhältnismäßigen Polizeieinsatzes Kritik verdient.<br />
Im übrigen tritt Subsidiarität der allgemeinen Handlungsfreiheit ein, sobald<br />
der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> eines Grundre<strong>ch</strong>ts hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> desselben Lebenssa<strong>ch</strong>verhalts<br />
bejaht wird – und zwar selbst dann, wenn im Ergebnis keine Verletzung dieses<br />
Grundre<strong>ch</strong>ts vorliegt. Es wäre deshalb fals<strong>ch</strong>, erst einen Eingriff in die Berufsfreiheit<br />
für gere<strong>ch</strong>tfertig und dana<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />
für betroffen zu halten. Hier genügt vielmehr ein Satz:<br />
»1. ... [Prüfung der Berufsfreiheit]<br />
2. Gegenüber dem S<strong>ch</strong>utz der Berufsfreiheit tritt die allgemeine Handlungsfreiheit<br />
(Art. 2 I GG) als subsidiär zurück.«<br />
Als in besonderem Maße anerkannte, aber glei<strong>ch</strong>wohl ni<strong>ch</strong>t ausdrückli<strong>ch</strong> im<br />
Grundgesetz normierte Gehalte unterfallen einige Innominatfreiheitsre<strong>ch</strong>te (unbenannte<br />
Freiheitsre<strong>ch</strong>te) der allgemeinen Handlungsfreiheit: die Ausreisefreiheit,<br />
das Ansammlungsre<strong>ch</strong>t, die Privatautonomie. Das Grundre<strong>ch</strong>t ist ferner<br />
eins<strong>ch</strong>lägig als Abwehrre<strong>ch</strong>t gegenüber Abgaben (Steuern, Gebühren, Beiträgen,<br />
ausnahmsweise au<strong>ch</strong>: Sonderabgaben), denn die Eigentumsfreiheit 102 (Art. 14 I<br />
GG) s<strong>ch</strong>ützt ni<strong>ch</strong>t das Vermögen als sol<strong>ch</strong>es.<br />
In der S<strong>ch</strong>rankentrias des Art. 2 I GG nimmt die verfassungsmäßige Ordnung<br />
eine überragende Stellung ein, weil sie alle Re<strong>ch</strong>tsnormen umfaßt und<br />
damit au<strong>ch</strong> die Re<strong>ch</strong>te anderer und das Sittengesetz vollständig eins<strong>ch</strong>ließt. Gut-
68<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
a<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> geprüft werden muß aber immer, ob eine gesetzli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ranke überhaupt<br />
Teil der verfassungsmäßigen Ordnung geworden ist. Dafür ist, wie bei jeder<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung, die formelle Verfassungsmäßigkeit (Kompetenz, Verfahren,<br />
Form) und die materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes (insbesondere:<br />
Verhältnismäßigkeit) zu prüfen. Indem si<strong>ch</strong> dieser Prüfumfang bei Art. 2 I<br />
GG mit dem weiten S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Auffanggrundre<strong>ch</strong>ts ʹallgemeine Handlungsfreiheitʹ<br />
verbindet, entsteht mittelbar ein S<strong>ch</strong>utz, der beinahe einem Anspru<strong>ch</strong><br />
auf Einhaltung der gesamten Verfassung entspri<strong>ch</strong>t.<br />
Bei Verfassungsbes<strong>ch</strong>werden gegen Einzelmaßnahmen (Verwaltungsakt, Urteil)<br />
muß ein Gesetz, das diese Prüfung besteht, zudem verfassungsgemäß ausgelegt<br />
und angewendet worden sein (Verhältnismäßigkeit der Einzelmaßnahme<br />
– doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung 34 ).<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Ausreisefreiheit, S<strong>ch</strong>utz von Bagatellfreiheiten<br />
(Taubenfüttern, Gurt- und Helmpfli<strong>ch</strong>t, Reiten im Walde), Inhaltskontrolle<br />
von Verträgen, Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz von Ausländern, Selbsttötung<br />
(vgl. dazu Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz gegen si<strong>ch</strong> selbst 40 ).<br />
II.<br />
Persönli<strong>ch</strong>e Integrität und Freiheit<br />
1. Mens<strong>ch</strong>enwürde (Art. 1 I GG)<br />
Artikel 1<br />
(1) 1 Die Würde des Mens<strong>ch</strong>en ist unantastbar. 2 Sie zu a<strong>ch</strong>ten und zu s<strong>ch</strong>ützen<br />
(2) ...<br />
ist Verpfli<strong>ch</strong>tung aller staatli<strong>ch</strong>en Gewalt.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 30, 1 – Abhörurteil; 30, 173 – Mephisto;<br />
39, 1 – S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong> I; 45, 187 – Lebenslange Freiheitsstrafe; 49,<br />
286 – Transsexuelle; 50, 166 – Ausweisung; 82, 60 – Steuerfreies Existenzminimum;<br />
88, 203 – S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong> II; 94, 49 – Si<strong>ch</strong>ere Drittstaaten;<br />
96, 375 – Sterilisation.<br />
Die ausdrückli<strong>ch</strong> an den Anfang des Grundgesetzes gestellte Würdegarantie ist<br />
in Deuts<strong>ch</strong>land entstehungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> als Reaktion auf die Mens<strong>ch</strong>envera<strong>ch</strong>tung<br />
des Nationalsozialismus zu erklären. Sie ist aber au<strong>ch</strong> im Ausland in praktis<strong>ch</strong><br />
allen neuen Verfassungsurkunden enthalten und gilt in weiteren Staaten als<br />
unges<strong>ch</strong>riebener Verfassungsre<strong>ch</strong>tssatz. Mit Blick auf Art. 1 III GG (»Die na<strong>ch</strong>-
II. Persönli<strong>ch</strong>e Integrität und Freiheit 69<br />
folgenden <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>...«) ist der Grundre<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>arakter der Norm umstritten,<br />
wird aber überwiegend bejaht. Au<strong>ch</strong> wer den Mens<strong>ch</strong>enwürdesatz allein als objektives<br />
Verfassungsprinzip ohne subjektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Äquivalent ansieht,<br />
kommt im Ergebnis denno<strong>ch</strong> zu einem verglei<strong>ch</strong>baren S<strong>ch</strong>utz, weil die meisten<br />
Inhalte si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> mit der S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tenseite einzelner <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> begründen<br />
lassen. S<strong>ch</strong>on die Verknüpfung der Mens<strong>ch</strong>enwürde mit der Ewigkeitsgarantie 35<br />
(Art. 79 III GG) spri<strong>ch</strong>t dafür, daß nur ganz unverzi<strong>ch</strong>tbare Gehalte zu deren<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> gehören. Das wird in Klausuren häufig übersehen, wenn eine hoheitli<strong>ch</strong>e<br />
Maßnahme niedriger Eingriffsintensität (Haars<strong>ch</strong>nitt bei der Bundeswehr<br />
etc.) kurzerhand als Mens<strong>ch</strong>enwürdewidrigkeit statt bloß als unverhältnismäßige<br />
Freiheitsbeeinträ<strong>ch</strong>tigung subsumiert wird.<br />
Aus der Unantastbarkeitsgarantie (»ist unantastbar«) folgt eine gegenüber<br />
allen anderen Freiheitsre<strong>ch</strong>ten modifizierte Prüfungsfolge. Da jede Beeinträ<strong>ch</strong>tigung<br />
der Mens<strong>ch</strong>enwürde glei<strong>ch</strong>zeitig ihre Verletzung bedeutet, verbietet si<strong>ch</strong><br />
die Rede von mögli<strong>ch</strong>erweise verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigten Bes<strong>ch</strong>ränkungen.<br />
Die systematis<strong>ch</strong>e Dreiteilung der Prüfung entfällt. Statt dessen ist nur zu<br />
prüfen:<br />
1. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Mens<strong>ch</strong>enwürde (Art. 1 I GG)<br />
2. Verletzung der Mens<strong>ch</strong>enwürde<br />
Den Definitionss<strong>ch</strong>wierigkeiten des S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s versu<strong>ch</strong>en Lehre und Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung<br />
mit der Objektformel (Dürig) zu begegnen, na<strong>ch</strong> der der Mens<strong>ch</strong>enwürdesatz<br />
verbietet, den konkreten Mens<strong>ch</strong> zum Objekt, zu einem bloßen Mittel,<br />
zur vertretbaren Größe herabzuwürdigen. Damit lassen si<strong>ch</strong> aber allenfalls evidente<br />
Fälle identifizieren (öffentli<strong>ch</strong>e Demütigung, Mißbrau<strong>ch</strong> als lebendes Organlager,<br />
kommerzielle Adoptionsvermittlung, Mens<strong>ch</strong>enhandel), denn es kann<br />
ni<strong>ch</strong>t jedes der alltägli<strong>ch</strong>en Beispiele gemeint sein, in denen das Re<strong>ch</strong>t den Mens<strong>ch</strong>en<br />
insofern zum ʺObjektʺ ma<strong>ch</strong>t, als es verlangt, daß er si<strong>ch</strong> ohne Rücksi<strong>ch</strong>t<br />
auf seine Interessen im Einzelfall zu fügen hat. Au<strong>ch</strong> die übrigen Bestimmungsversu<strong>ch</strong>e<br />
– Mitgifttheorien (<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e imago-dei-Lehre), Leistungstheorien (Errungens<strong>ch</strong>aft<br />
der Identitätsbildung), Kommunikationstheorien (soziale Anerkennungsgemeins<strong>ch</strong>aft)<br />
– haben ihre je eigenen S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en, besonders in den<br />
s<strong>ch</strong>wierigen Grenzfällen von S<strong>ch</strong>werstbehinderung oder Komazuständen.<br />
Sehr umstritten ist die Mens<strong>ch</strong>enwürde des nasciturus (d.h. sinngemäß: des<br />
Geburtsgeweihten, also des ungeborenen Lebens), die das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
aus einer Verkoppelung mit dem Lebensre<strong>ch</strong>t gefolgert hat: »Wo mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es<br />
Leben existiert, kommt ihm Mens<strong>ch</strong>enwürde zu« (BVerfGE 39, 1 [41] –<br />
S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong> I). Diese Formel ist mit der Re<strong>ch</strong>tfertigung von Tötung<br />
(Soldaten, Polizisten, Feuerwehrleute, polizeili<strong>ch</strong>er Todess<strong>ch</strong>uß) s<strong>ch</strong>werli<strong>ch</strong>
70<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
zu vereinbaren und widerspri<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> dem Ergebnis, daß S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong><br />
bei embryopathis<strong>ch</strong>er Indikation (Erkrankung des Embryos) vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
für zulässig gehalten wird, obwohl insoweit keine Kollision<br />
mit dem Lebensre<strong>ch</strong>ten der Mutter vorliegt. No<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wieriger zu ents<strong>ch</strong>eiden ist<br />
die Frage, inwieweit die Mens<strong>ch</strong>enwürde der Fors<strong>ch</strong>ung zur Humangenetik entgegensteht<br />
(Genomanalyse, Reproduktionsmedizin, Embryonenfors<strong>ch</strong>ung, Gentherapie,<br />
Klonierung); das Embryonens<strong>ch</strong>utzgesetz hat in diesem Berei<strong>ch</strong> zunä<strong>ch</strong>st<br />
weitrei<strong>ch</strong>ende strafbewehrte Verbote eingeführt, die wiederum im Einzelfall<br />
vor der Wissens<strong>ch</strong>aftsfreiheit 108 zu re<strong>ch</strong>tfertigen sind. Umstritten ist au<strong>ch</strong> die<br />
Ansi<strong>ch</strong>t der Mehrheit des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts, daß es im Zivilre<strong>ch</strong>t mens<strong>ch</strong>enwürdewidrig<br />
wäre, ein Kind als S<strong>ch</strong>aden zu betra<strong>ch</strong>ten (vgl. BVerfGE 88,<br />
203 [296] – S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong> II).<br />
Die Mens<strong>ch</strong>enwürde Verstorbener ist anerkannt und s<strong>ch</strong>lägt si<strong>ch</strong> im strafre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>utz der Totenruhe sowie im zivilre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en ʹpostmortalen Persönli<strong>ch</strong>keitss<strong>ch</strong>utzʹ<br />
nieder. Sehr umstritten ist, ob es der Mens<strong>ch</strong>enwürde einer<br />
toten S<strong>ch</strong>wangeren widerspri<strong>ch</strong>t, ihren Körper als Gebährmas<strong>ch</strong>ine künstli<strong>ch</strong> am<br />
Leben zu halten (Fall des ʺErlanger Babysʺ). Streit herrs<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> zu der Frage, ob<br />
in Einzelfällen ein Re<strong>ch</strong>t auf den eigenen Tod als Ausfluß des Anspru<strong>ch</strong>s auf<br />
mens<strong>ch</strong>enwürdiges Sterben besteht.<br />
Ob der Tiers<strong>ch</strong>utz über die Mens<strong>ch</strong>enwürde mittelbar Verfassungsrang erlangt,<br />
so daß er gegenüber dem religiös begründeten S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten oder wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />
Tierexperiment als immanente S<strong>ch</strong>ranke 32 der normtextli<strong>ch</strong> vorbehaltlos<br />
garantierten Religions- oder Wissens<strong>ch</strong>aftsfreiheit einzusetzen wäre, muß<br />
als äußerst fragli<strong>ch</strong> gelten. Die anthropozentris<strong>ch</strong>e (mens<strong>ch</strong>enzentrierte) Ausri<strong>ch</strong>tung<br />
des Grundgesetzes würde umgangen, wenn man annehmen wollte, der<br />
Mens<strong>ch</strong> entwürdige si<strong>ch</strong> selbst oder seine Gattung, wann immer er Tieren Leid<br />
zufüge. Au<strong>ch</strong> der neue Umwelts<strong>ch</strong>utzartikel (Art. 20a GG) hilft hier ni<strong>ch</strong>t weiter,<br />
da er allenfalls Artens<strong>ch</strong>utz, ni<strong>ch</strong>t aber Individualtiers<strong>ch</strong>utz fordert.<br />
Bezügli<strong>ch</strong> des Strafverfahrens ist der Mens<strong>ch</strong>enwürdegehalt des Selbstbezi<strong>ch</strong>tigungsverbots<br />
unumstritten (§ 136 I 2 StPO: nemo tenetur se ipsum accusare).<br />
Bei der Polygraphie (Lügendetektoreinsatz) und einzelnen Beweisverwertungsformen<br />
(Tagebu<strong>ch</strong>auswertung) wäre jedenfalls ein Zwang mens<strong>ch</strong>enwürdewidrig.<br />
Zulässig soll hingegen der ʹgenetis<strong>ch</strong>e Fingerabdruckʹ sein, solange ni<strong>ch</strong>t eine<br />
umfassende Genomanalyse damit verbunden ist. Während grausame Strafen<br />
der Mens<strong>ch</strong>enwürde widersprä<strong>ch</strong>en, ist dies bei der Todesstrafe 72 umstritten,<br />
was für die mögli<strong>ch</strong>e Abs<strong>ch</strong>affung des Art. 102 GG vor dem Hintergrund der<br />
Ewigkeitsgarantie 35 des Mens<strong>ch</strong>enwürdesatzes (Art. 79 III i.V.m. Art. 1 I GG) eine<br />
Rolle spielt.
II. Persönli<strong>ch</strong>e Integrität und Freiheit 71<br />
Ein Re<strong>ch</strong>t auf das Existenzminimum hat das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t aus<br />
der Mens<strong>ch</strong>enwürdegarantie in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet.<br />
Darin liegt einer der wenigen materiellen Leistungsansprü<strong>ch</strong>e, die jenseits<br />
der S<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>te 54 aus dem Grundgesetz folgen.<br />
Ob trotz Einwilligung eine Mens<strong>ch</strong>enwürdeverletzung vorliegen kann, ist<br />
ein weiterer umstrittener Punkt, der in zahlrei<strong>ch</strong>en Fällen praktis<strong>ch</strong> bedeutsam<br />
wird (Zwergenweitwurf, Peep-Shows, Lügendetektor; vgl. Grundre<strong>ch</strong>tsverzi<strong>ch</strong>t<br />
29 ). Gegen eine Verletzung spri<strong>ch</strong>t in sol<strong>ch</strong>en Fällen, daß die Mens<strong>ch</strong>enwürde<br />
gerade dem S<strong>ch</strong>utz der autonomen Selbstbestimmung dienen soll, ni<strong>ch</strong>t deren<br />
Bes<strong>ch</strong>ränkung.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong>, Embryonenfors<strong>ch</strong>ung,<br />
Zwergenweitwurf, Peep-Show, Lügendetektor, In-vitro-Fertilisation,<br />
heterologe Insemination, Gentherapie, Klonierung, Sterbehilfe, Tiers<strong>ch</strong>utz,<br />
Kind als S<strong>ch</strong>aden, kommerzielle Adoption, Mens<strong>ch</strong>enhandel.<br />
2. Leben und körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG)<br />
Artikel 2<br />
(1) ...<br />
(2) 1 Jeder hat das Re<strong>ch</strong>t auf Leben und körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit. ...<br />
Artikel 102<br />
Die Todesstrafe ist abges<strong>ch</strong>afft.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 16, 194 – Liquorentnahme; 39, 1 –<br />
S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong> I; 46, 160 – S<strong>ch</strong>leyer; 49, 89 – Kalkar; 53, 30 – Mülheim-Kärli<strong>ch</strong>;<br />
56, 54 – Fluglärm; 77, 170 – Lagerung <strong>ch</strong>emis<strong>ch</strong>er Waffen; 79,<br />
174 – Straßenverkehrslärm; 85, 191 – Na<strong>ch</strong>tarbeitsverbot; 88, 203 – S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong><br />
II; 90, 145 – Cannabis; 91, 1 – Entziehungsanstalt.<br />
Das Re<strong>ch</strong>t auf Leben und körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit beginnt na<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender<br />
Meinung bereits vor der Geburt mit der Vers<strong>ch</strong>melzung von Ei- und Samenzelle<br />
und endet mit dem Hirntod. Die Selbsttötung ist ni<strong>ch</strong>t als negatives Lebensre<strong>ch</strong>t,<br />
sondern im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit ges<strong>ch</strong>ützt<br />
(vgl. dazu Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz gegen si<strong>ch</strong> selbst 40 ).<br />
Die körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit bezei<strong>ch</strong>net die Gesundheit im physiologis<strong>ch</strong>en<br />
(biologis<strong>ch</strong>en) wie psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en (seelis<strong>ch</strong>en) Sinn. Beeinträ<strong>ch</strong>tigungen wenig<br />
gewi<strong>ch</strong>tiger Integritätsanteile (Haares<strong>ch</strong>neiden, Hirnstrommessung) betreffen
72<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
na<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender Meinung ni<strong>ch</strong>t den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>; systematis<strong>ch</strong> stringenter<br />
ist hier die weite Auslegung, die sol<strong>ch</strong>e Maßnahmen als Eingriffe ansieht,<br />
die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> allerdings meist gere<strong>ch</strong>tfertigt sind.<br />
Bei medizinis<strong>ch</strong>en Behandlungen ist regelmäßig die Einwilligung des<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsträgers zentral. Sie läßt den Eingriff bzw. Übergriff entfallen (sog.<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsverzi<strong>ch</strong>t 29 ), so daß si<strong>ch</strong> Grundre<strong>ch</strong>tsprobleme nur no<strong>ch</strong> für Zwangsmaßnahmen<br />
stellen.<br />
Selbst die Tötung von Mens<strong>ch</strong>en ist dem Staat ni<strong>ch</strong>t vollständig verboten.<br />
Als S<strong>ch</strong>rankenklausel gilt für Leben wie körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit der einfa<strong>ch</strong>e<br />
Gesetzesvorbehalt des Art. 2 II 3 GG. Dieser ist beispielsweise eins<strong>ch</strong>lägig, wenn<br />
die Polizeigesetze der Länder in Geiselsituationen einen finalen Todess<strong>ch</strong>uß zur<br />
Rettung vorsehen. Au<strong>ch</strong> der staatli<strong>ch</strong> verlangte Einsatz des Lebens als Pfli<strong>ch</strong>t bestimmter<br />
Berufsgruppen (Polizei, Feuerwehr, Militär) sowie die Körperverletzung<br />
bei amtsärztli<strong>ch</strong>en Zwangsuntersu<strong>ch</strong>ungen fallen unter diesen Vorbehalt.<br />
Unter den S<strong>ch</strong>ranken-S<strong>ch</strong>ranken ist zunä<strong>ch</strong>st das Verbot der Todesstrafe zu<br />
bea<strong>ch</strong>ten (Art. 102 GG). Im übrigen gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Er<br />
löst bei drohender Todesstrafe im Ausland bes<strong>ch</strong>ränkende Vorwirkungen für die<br />
Auslieferung aus. Bezogen auf die körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit verbietet der<br />
Grundsatz amtsärztli<strong>ch</strong>e Zwangsuntersu<strong>ch</strong>ungen, bei denen für relativ unwi<strong>ch</strong>tige<br />
staatli<strong>ch</strong>e Anliegen s<strong>ch</strong>werwiegenden Untersu<strong>ch</strong>ungsrisiken in Kauf genommen<br />
werden müßten (vgl. BVerfGE 16, 194 – Liquorentnahme). Das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
wendet bei Art. 2 II 1 GG außerdem das sonst sehr restriktiv gehandhabte<br />
Zitiergebot 34 (Art. 19 I 2 GG) sowie das Bestimmtheitsgebot 33 zur<br />
Kontrolle an.<br />
Als Grundlage für S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten spielt das Re<strong>ch</strong>t auf Leben und körperli<strong>ch</strong>e<br />
Unversehrheit bei Maßnahmen gegen S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbrü<strong>ch</strong>e und risikorei<strong>ch</strong>e<br />
Anlagen (Atomkraftwerke) eine Rolle; bei letzterem zusätzli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> in<br />
der Verfahrenskomponente (vgl. BVerfGE 53, 30 [57 ff.] – Mülheim-Kärli<strong>ch</strong>). Insoweit<br />
führt das Grundre<strong>ch</strong>t in seiner objektivre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Dimension zu einer<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung staatli<strong>ch</strong>er Eingriffe, was au<strong>ch</strong> beim Eins<strong>ch</strong>reiten gegen Selbsttötung<br />
sowie bei der Regulierung des Lärms<strong>ch</strong>utzes oder der Na<strong>ch</strong>tarbeit eine<br />
Rolle spielt.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong>, gezielter polizeili<strong>ch</strong>er<br />
Todess<strong>ch</strong>uß, Atomkraft, Geiselnahmen, Sterbehilfe, Hungerstreik,<br />
Hirntod, Transplantation, medizinis<strong>ch</strong>e Zwangsbehandlung, s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Prügelstrafe,<br />
Impfzwang, Blutprobe, Kastration.
II. Persönli<strong>ch</strong>e Integrität und Freiheit 73<br />
3. Freiheit der Person (Art. 2 II 2, 104 GG)<br />
Artikel 2<br />
(1) ...<br />
(2) ... 2 Die Freiheit der Person ist unverletztli<strong>ch</strong>. ...<br />
Artikel 104<br />
(1) 1 Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmli<strong>ch</strong>en Gesetzes<br />
und nur unter Bea<strong>ch</strong>tung der darin vorges<strong>ch</strong>riebenen Formen bes<strong>ch</strong>ränkt<br />
werden. ...<br />
(2) ... – (4) ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 19, 342 – Wencker; 22, 180 – Jugendhilfe;<br />
20, 45 – Kommando 1005; 58, 208 – Baden-Württembergis<strong>ch</strong>es Unterbringungsgesetz;<br />
91, 1 – Unterbringung in Erziehungsanstalt; BVerfG NJW 1995,<br />
3047 – Psy<strong>ch</strong>iatrie.<br />
Als persönli<strong>ch</strong>e Freiheit ist nur die körperli<strong>ch</strong>e Bewegungsfreiheit ges<strong>ch</strong>ützt.<br />
Das ergibt si<strong>ch</strong> aus dem systematis<strong>ch</strong>en Zusammenhang mit Art. 104 GG. Allerdings<br />
fallen au<strong>ch</strong> kurzfristige polizeili<strong>ch</strong>e Ingewahrsamnahmen (Sistierungen)<br />
und körperli<strong>ch</strong>e Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ungen darunter. Au<strong>ch</strong> hier entfällt mit der Einwilligung<br />
(ggf. derjenigen des Vormunds) der Eingriffs<strong>ch</strong>arakter der staatli<strong>ch</strong>en<br />
Maßnahme (sog. Grundre<strong>ch</strong>tsverzi<strong>ch</strong>t 29 ). No<strong>ch</strong> keine Beeinträ<strong>ch</strong>tigung ist die<br />
bloße Vorladung (Verkehrsunterri<strong>ch</strong>t, Wehrdienst, S<strong>ch</strong>ulpfli<strong>ch</strong>t).<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Freiheitsstrafe, Untersu<strong>ch</strong>ungshaft,<br />
Heimunterbringung, Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ungen.<br />
4. Freizügigkeit (Art. 11 GG)<br />
Artikel 11<br />
(1) Alle Deuts<strong>ch</strong>en genießen Freizügigkeit im gesamten Bundesgebiet.<br />
(2) Dieses Re<strong>ch</strong>t darf nur dur<strong>ch</strong> Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und<br />
nur für die Fälle einges<strong>ch</strong>ränkt werden, in denen ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 2, 266 – Notaufnahme; 6, 32 – Elfes.<br />
Das Grundre<strong>ch</strong>t auf Freizügigkeit umfaßt unstreitig die Befugnis, an jedem Ort<br />
im Bundesgebiet Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen und die Freiheit zur Einreise<br />
in das Bundesgebiet. Mit erfaßte Sonderform der Freizügigkeit ist die be-
74<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
rufli<strong>ch</strong>e und ges<strong>ch</strong>äftli<strong>ch</strong>e Niederlassungsfreiheit sowie das Re<strong>ch</strong>t, bewegli<strong>ch</strong>es<br />
Eigentum mitzuführen. Von der Literatur wird die Freizügigkeit teils erweiternd<br />
zu einem Re<strong>ch</strong>t auf Heimat interpretiert, was insbesondere gegenüber Zwangsumsiedlungen<br />
ganzer Gemeinden (Braunkohletagebau) praktis<strong>ch</strong> relevant wird.<br />
Entgegen der Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts wird von der Literatur<br />
teilweise au<strong>ch</strong> die Ausreisefreiheit 67 als vom S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> erfaßt angesehen.<br />
Im übrigen wäre sie jedenfalls als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit 66<br />
(Art. 2 I GG) ges<strong>ch</strong>ützt. Ni<strong>ch</strong>t anzuwenden ist Art. 11 I GG auf die Fälle der<br />
Festnahme und Haft; insoweit ist das Grundre<strong>ch</strong>t auf persönli<strong>ch</strong>e Freiheit 73 (Art.<br />
2 II 2, 104 GG) spezieller.<br />
Der persönli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> umfaßt au<strong>ch</strong> Minderjährige und inländis<strong>ch</strong>e<br />
juristis<strong>ch</strong>e Personen 57 (Art. 19 III GG). Eine unges<strong>ch</strong>riebene Erweiterung erfährt<br />
das Grundre<strong>ch</strong>t als Unionsbürgerre<strong>ch</strong>t 50 und für europäis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e Personen<br />
58 .<br />
Die beamtenre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Wohnsitzklauseln sind ein Eingriff in die Freizügigkeit,<br />
der im Einzelfall verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt sein kann. Die Tatbestandselemente<br />
des qualifizierten Gesetzesvorbehalts 32 (Art. 11 II GG) sind allesamt<br />
eng auszulegen. Außer dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ist au<strong>ch</strong> das<br />
Zitiergebot 34 (Art. 19 I 2 GG) zu bea<strong>ch</strong>ten.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Ausreisefreiheit, Braunkohletagebau,<br />
Wohnsitzklauseln.<br />
5. Ausbürgerungsverbot (Art. 16 I GG)<br />
Artikel 16<br />
(2) ...<br />
(1) 1 Die deuts<strong>ch</strong>e Staatsangehörigkeit darf ni<strong>ch</strong>t entzogen werden. 2 Der Verlust<br />
der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen<br />
den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadur<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t staatenlos wird.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 77, 137 – Teso; BVerfG NJW 1990, 2193 f.<br />
– Entziehung der Staatsangehörigkeit.<br />
Das Ausbürgerungsverbot (Art. 16 I 1 GG) enthält implizit das Grundre<strong>ch</strong>t darauf,<br />
ni<strong>ch</strong>t ausgebürgert zu werden. Es knüpft an die Staatsangehörigkeit an und<br />
ist damit enger als der Deuts<strong>ch</strong>enbegriff des Art. 116 I GG; ni<strong>ch</strong>t erfaßt sind die<br />
Statusdeuts<strong>ch</strong>en (insbesondere Flü<strong>ch</strong>tlinge und Vertriebene deuts<strong>ch</strong>er Volkszu-
II. Persönli<strong>ch</strong>e Integrität und Freiheit 75<br />
gehörigkeit). Unter Entziehung versteht das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t jeden<br />
Verlust, den der Betroffene ni<strong>ch</strong>t beeinflussen kann. Das Entziehungsverbot gilt<br />
au<strong>ch</strong> für Personen mit mehreren Staatsbürgers<strong>ch</strong>aften: sie dürfen, wenn sie einmal<br />
die uneinges<strong>ch</strong>ränkte deuts<strong>ch</strong>e Staatsbürgers<strong>ch</strong>aft haben, ni<strong>ch</strong>t zur Wahl gezwungen<br />
werden (Optionszwang). Bisher ungeklärt ist die Verfassungsmäßigkeit<br />
der neu eingeführten Staatsbürgers<strong>ch</strong>aft auf Zeit.<br />
Mögli<strong>ch</strong>es Thema für Prüfungsfälle: Optionszwang.<br />
6. Auslieferungsverbot (Art. 16 II GG)<br />
Artikel 16<br />
(1) ...<br />
(2) Kein Deuts<strong>ch</strong>er darf an das Ausland ausgeliefert werden.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 10, 136 – Dur<strong>ch</strong>lieferung; 29, 183 – Rücklieferung.<br />
Das Auslieferungsverbot kommt allen Deuts<strong>ch</strong>en im Sinne des Art. 116 GG zugute,<br />
also au<strong>ch</strong> den Statusdeuts<strong>ch</strong>en. Mehrfa<strong>ch</strong>e Staatsbürgers<strong>ch</strong>aft s<strong>ch</strong>adet<br />
ni<strong>ch</strong>t. Ein Einbürgerungsantrag begründet no<strong>ch</strong> kein Auslieferungshindernis.<br />
Der Auslieferung von Ausländern na<strong>ch</strong> dem Gesetz über die internationale<br />
Re<strong>ch</strong>tshilfe in Strafsa<strong>ch</strong>en (IRG) kann unter Umständen das Asylgrundre<strong>ch</strong>t 76<br />
entgegenstehen. Die Dur<strong>ch</strong>lieferung wird ebenfalls als unzulässiger Fall der<br />
Auslieferung angesehen. Umstritten ist die Rücklieferung (z.B. na<strong>ch</strong> einem Verhör),<br />
die von der herrs<strong>ch</strong>enden Lehre als zulässig angesehen wird, weil die Einreise<br />
insoweit von vornherein unter einem Vorbehalt stünde und sonst die Strafverfolgung<br />
dur<strong>ch</strong> deuts<strong>ch</strong>e Behörden ers<strong>ch</strong>wert würde. Mit dem klaren Wortlaut<br />
des Art. 16 II GG ist eine sol<strong>ch</strong>e teleologis<strong>ch</strong>e Reduktion des S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s ni<strong>ch</strong>t<br />
zu vereinbaren.<br />
Mögli<strong>ch</strong>es Thema für Prüfungsfälle: Rücklieferung.<br />
7. Asylgrundre<strong>ch</strong>t (Art. 16a GG)<br />
Artikel 16a<br />
(1) Politis<strong>ch</strong> Verfolgte genießen Asyl.<br />
(2) 1 Auf Absatz 1 kann si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t berufen, wer ...<br />
(3) ... – (5) ...
76<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 76, 143 – Ahmadiyya; 80, 315 – Tamilen;<br />
83, 216 – Jeziden; 94, 49 – Si<strong>ch</strong>ere Drittstaaten; 94, 115 – Si<strong>ch</strong>ere Herkunftsstaaten;<br />
94, 166 – Flughafenverfahren.<br />
Das Asylgrundre<strong>ch</strong>t ist im Jahre 1993 unter dem Druck wa<strong>ch</strong>sender Asylbewerberzahlen<br />
im sogenannten Asylkompromiß dur<strong>ch</strong> Verfassungsänderung erhebli<strong>ch</strong><br />
umgestaltet, im Ergebnis stark einges<strong>ch</strong>ränkt und dafür heftig kritisiert worden.<br />
Im Zuge des innereuropäis<strong>ch</strong>en Abbaus von Grenzkontrollen ist zudem eine<br />
Vereinheitli<strong>ch</strong>ung vorgenommen worden (S<strong>ch</strong>engen I und II, Dubliner Übereinkommen).<br />
Unter Verfolgung versteht man die gegenwärtig drohende, gezielte Beeinträ<strong>ch</strong>tigung<br />
von Re<strong>ch</strong>tsgütern, insbesondere dur<strong>ch</strong> Gefahr für Leib und Leben,<br />
Haftgefahr oder sonstige Freiheitsbedrohungen (Hausarrest etc.). Die Bedrohung<br />
bedarf einer objektiven Prognose. Dafür ist im Normalfall oder bei Zweifeln immer<br />
von einer Vorverfolgung auszugehen, bei der eine bea<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit<br />
der Bedrohung genügen soll. Anderes gilt bei bloßen Na<strong>ch</strong>flu<strong>ch</strong>tgründen:<br />
hier wird eine überwiegende Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit dafür gefordert, daß der<br />
Asylsu<strong>ch</strong>ende tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> bedroht ist. Bei subjektiven Na<strong>ch</strong>flu<strong>ch</strong>tgründen – d.h.<br />
sol<strong>ch</strong>en, die na<strong>ch</strong> dem Verlassen des Heimatstaates aus eigenem Ents<strong>ch</strong>luß ges<strong>ch</strong>affenen<br />
wurden (z.B. exilpolitis<strong>ch</strong>e Aktivität) – soll zudem ein Asylgrundre<strong>ch</strong>t<br />
nur bestehen, wenn darin eine Fortführung der bereits im Heimatstaat erkennbaren<br />
festen Überzeugung liegt.<br />
Keine Verfolgung besteht bei inländis<strong>ch</strong>er Flu<strong>ch</strong>talternative. Na<strong>ch</strong> der gesetzli<strong>ch</strong>en<br />
Neuregelung ist als ni<strong>ch</strong>t mehr verfolgt anzusehen, wer si<strong>ch</strong> zuvor in<br />
einem si<strong>ch</strong>eren Drittstaat aufgehalten hat (Art. 16a II GG): dabei handelt es si<strong>ch</strong><br />
bereits um eine Ausnahme vom personellen S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>, ni<strong>ch</strong>t um eine Bes<strong>ch</strong>ränkung,<br />
die der verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigung im Einzelfall bedürfte.<br />
Allerdings kann eine gesetzli<strong>ch</strong>e Drittstaatenbestimmung (Art. 16a II 2 GG)<br />
verfassungswidrig sein, wenn sie einen in Wirkli<strong>ch</strong>keit ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>eren Staat enthält.<br />
Das Politis<strong>ch</strong>e der Verfolgung ist im Einzelfall zu prüfen: weder Religionsdiskriminierung<br />
no<strong>ch</strong> Folter no<strong>ch</strong> Desertion sind automatis<strong>ch</strong> immer als politis<strong>ch</strong><br />
anzusehen. Politis<strong>ch</strong> ist zudem na<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender, aber umstrittener Auffassung<br />
nur die staatli<strong>ch</strong>e Verfolgung, sofern eine sol<strong>ch</strong>e Zure<strong>ch</strong>nung ni<strong>ch</strong>t wegen Zerfalls<br />
der Staatsgewalt auss<strong>ch</strong>eidet.
II. Persönli<strong>ch</strong>e Integrität und Freiheit 77<br />
8. Allgemeines Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t (Art. 2 I GG)<br />
Artikel 2<br />
(1) Jeder hat das Re<strong>ch</strong>t auf die freie Entfaltung seiner Persönli<strong>ch</strong>keit, soweit er<br />
(2) ...<br />
ni<strong>ch</strong>t die Re<strong>ch</strong>te anderer verletzt und ni<strong>ch</strong>t gegen die verfassungsmäßige<br />
Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 27, 1 – Mikrozensus; 27, 344 – Ehes<strong>ch</strong>eidungsakten;<br />
34, 238 – Tonband; 34, 269 – Soraya; 35, 202 – Leba<strong>ch</strong>; 54,<br />
148 – Eppler; 54, 208 – Böll; 65, 1 – Volkszählung; 79, 256 – Kenntnis der eigenen<br />
Abstammung; 80, 367 – Tagebu<strong>ch</strong>; 92, 191 – Personalienangabe; 96, 56 –<br />
Vaters<strong>ch</strong>aftsauskunft; 96, 171 – Stasi-Fragen; 99, 185 – Scientology; 101, 361 –<br />
Caroline von Monaco II.<br />
Das allgemeine Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t ergibt si<strong>ch</strong> anders als die allgemeine Handlungsfreiheit<br />
66 bereits unmittelbar aus dem Text des Art. 2 I GG. Es wird in der<br />
Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts auf »Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG«<br />
gestützt und bildet die Basis für alle Re<strong>ch</strong>te auf Selbstentfaltung und Selbstdarstellung<br />
– unter anderem au<strong>ch</strong> für das informationelle Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>t 78 .<br />
Umstritten ist, wel<strong>ch</strong>e Gehalte au<strong>ch</strong> auf juristis<strong>ch</strong>e Personen 57 anwendbar<br />
sind. Für einige, wie das Re<strong>ch</strong>t gegen erfundene Interviews und sogar den Ehrens<strong>ch</strong>utz,<br />
wird dies zu bejahen sein, während si<strong>ch</strong> bei anderen (Abstammung,<br />
sexuelle Selbstbestimmung) die Frage gar ni<strong>ch</strong>t stellt.<br />
Für die Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird na<strong>ch</strong><br />
der Sphärentheorie unters<strong>ch</strong>ieden, ob eine Beeinträ<strong>ch</strong>tigung die Sozialsphäre,<br />
die Privatsphäre oder gar den Kernberei<strong>ch</strong> des Grundre<strong>ch</strong>ts, die Intimsphäre,<br />
betrifft. Eine sol<strong>ch</strong>e Zuordnung liefert aber allenfalls erste Anhaltspunkte für das<br />
Gewi<strong>ch</strong>t der Beeinträ<strong>ch</strong>tigung im Einzelfall.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Ehrs<strong>ch</strong>utz, Re<strong>ch</strong>t am eigenen Bild,<br />
Fals<strong>ch</strong>zitate, erfundene Interviews, Kenntnis der eigenen Abstammung, Tagebu<strong>ch</strong>,<br />
Krankenakten, sexuelle Selbstbestimmung, Eindringen in den Privatberei<strong>ch</strong>.
78<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
III. Privatsphäre und Vertrauli<strong>ch</strong>keit<br />
1. Re<strong>ch</strong>t auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG)<br />
Das informationelle Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>t ist von Literatur und Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
(BVerfGE 65, 1 [41 ff.] – Volkszählung) als Fortentwicklung des<br />
allgemeinen Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>ts 77 begründet worden. Über den engeren Berei<strong>ch</strong><br />
der hö<strong>ch</strong>stpersönli<strong>ch</strong>en Daten hinaus wird die eigene Kontrollmögli<strong>ch</strong>keit<br />
über alle personenbezogenen Daten ges<strong>ch</strong>ützt. Das Grundre<strong>ch</strong>t ist au<strong>ch</strong> auf<br />
juristis<strong>ch</strong>e Personen 57 anwendbar. Es ist im Gegensatz zur allgemeinen Handlungsfreiheit<br />
ni<strong>ch</strong>t subsidiär gegenüber anderen Freiheitsre<strong>ch</strong>ten, sondern tritt in<br />
Idealkonkurrenz 23 neben diese.<br />
2. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG)<br />
Artikel 10<br />
(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzli<strong>ch</strong>.<br />
(2) 1 Bes<strong>ch</strong>ränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden.<br />
2 Dient die Bes<strong>ch</strong>ränkung dem S<strong>ch</strong>utze der freiheitli<strong>ch</strong>en demokratis<strong>ch</strong>en<br />
Grundordnung oder des Bestandes oder der Si<strong>ch</strong>erung des Bundes<br />
oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen<br />
ni<strong>ch</strong>t mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Re<strong>ch</strong>tsweges die<br />
Na<strong>ch</strong>prüfung dur<strong>ch</strong> von der Volksvertretung bestellte Organe und<br />
Hilfsorgane tritt.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 30, 1 – Abhörurteil; 33, 1 – Strafgefangene;<br />
85, 386 – Fangs<strong>ch</strong>altung; 93, 181 – Rasterfahndung; 100, 313 – Telekommunikationsüberwa<strong>ch</strong>ung.<br />
Die Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisse s<strong>ch</strong>ützen zusammen die Vertrauli<strong>ch</strong>keit<br />
individueller Kommunikation. Bezügli<strong>ch</strong> der Selbstbestimmung über<br />
personenbezogene Daten handelt es si<strong>ch</strong> um einen Spezialfall des informationellen<br />
Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>ts 78 , der diesem entstehungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> vorausgeht<br />
und deshalb ausdrückli<strong>ch</strong> geregelt ist. Die Geheimnisse s<strong>ch</strong>ützen nur die Vertrauli<strong>ch</strong>keit,<br />
ni<strong>ch</strong>t die Mögli<strong>ch</strong>keit der Kommunikation, und gewährleisten darum<br />
keinen Ans<strong>ch</strong>lußzwang und keinen Mindestbestand an verläßli<strong>ch</strong>er Infrastruktur.<br />
Selbst die gezielte Unterbre<strong>ch</strong>ung oder Verhinderung der Kommunika-
III. Privatsphäre und Vertrauli<strong>ch</strong>keit 79<br />
tion dur<strong>ch</strong> den Staat (Anhalten von Gefangenenpost) betrifft ni<strong>ch</strong>t Art. 10 I GG.<br />
Der grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utz ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> in sol<strong>ch</strong>en Fällen na<strong>ch</strong> dem Inhalt (Art. 5<br />
I, 12 I, 5 III oder 2 I GG).<br />
Die drei Geheimnisse sind eigenständige <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, die aber neben dem<br />
glei<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzziel no<strong>ch</strong> weitere Gemeinsamkeiten aufweisen. Vom persönli<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> umfaßt sind sämtli<strong>ch</strong>e Kommunikationsteilnehmer;<br />
ein Eingriff entfällt folgli<strong>ch</strong> nur, wenn alle Beteiligten ihr Einverständnis<br />
mit der Offenbarung erklärt haben, was etwa bei Fangs<strong>ch</strong>altungen problematis<strong>ch</strong><br />
ist (vgl. Grundre<strong>ch</strong>tsverzi<strong>ch</strong>t 29 ). Umstritten ist, ob au<strong>ch</strong> die Kommunikationsdienstleister<br />
bezügli<strong>ch</strong> der von ihnen vermittelten Kommunikation<br />
grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigt sind, oder ob sie si<strong>ch</strong> gegenüber Eingriffen in ihre Vermittlungstätigkeit<br />
(z.B. dur<strong>ch</strong> staatli<strong>ch</strong>e Telekommunikationsüberwa<strong>ch</strong>ung) auf<br />
die Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) oder allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG)<br />
stützen müssen.<br />
Zum gemeinsamen sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> aller Kommunikationsformen<br />
gehören außer dem Kommunikationsinhalt au<strong>ch</strong> die Umstände der Kommunikation<br />
selbst, etwa die Verbindungsdaten oder die Adressierung. Zeitli<strong>ch</strong> ist der<br />
S<strong>ch</strong>utz auf die Übermittlung bes<strong>ch</strong>ränkt: sobald die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t beim Empfänger<br />
ankommt, gilt Art. 10 I GG ni<strong>ch</strong>t mehr, sondern je na<strong>ch</strong> Umständen das Re<strong>ch</strong>t auf<br />
S<strong>ch</strong>utz der Wohnung (Art. 13 I GG) oder der S<strong>ch</strong>utz der Privatsphäre dur<strong>ch</strong> das<br />
allgemeine Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t 77 .<br />
Das Fernmeldegeheimnis ist bei allen ni<strong>ch</strong>tkörperli<strong>ch</strong>en Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>tenübertragungen<br />
betroffen, also außer bei Telefonaten au<strong>ch</strong> bei Fax, E-Mail und anderen<br />
Internetdiensten, glei<strong>ch</strong> ob sie dur<strong>ch</strong> elektris<strong>ch</strong>e Leitungen, Glasfaserkabel oder<br />
in Funknetzen übertragen werden. Es muß si<strong>ch</strong> um individuelle Kommunikation<br />
handeln, so daß Rundfunk auss<strong>ch</strong>eidet. Für Internetdienste ist die Zuordnung<br />
im Einzelfall vorzunehmen: der glei<strong>ch</strong>förmig von vielen abrufbare Internet-<br />
Rundfunk unterfällt ni<strong>ch</strong>t dem Fernmeldegeheimnis; Mailing-Listen und individualisierte<br />
Push-Dienste, die si<strong>ch</strong> an einen bestimmten Empfängerkreis ri<strong>ch</strong>ten,<br />
hingegen s<strong>ch</strong>on. Mit Blick darauf, daß das Grundre<strong>ch</strong>t auf die fernmeldete<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en<br />
Übertragungsart abstellt, kann ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> dem Inhalt der Kommunikation<br />
differenziert werden. S<strong>ch</strong>on deshalb genießen außer Texten au<strong>ch</strong> Bild, Ton und<br />
Film den S<strong>ch</strong>utz des Art. 10 I GG, solange sie individualisiert im Internet ausgetaus<strong>ch</strong>t<br />
werden.<br />
Zu Briefen gehören alle s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>en Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten an individuelle Empfänger<br />
(ni<strong>ch</strong>t: Massenwurfsendungen), die den mündli<strong>ch</strong>en Informationsaustaus<strong>ch</strong> ersetzen,<br />
also insbesondere klassis<strong>ch</strong>e Briefe, Päck<strong>ch</strong>en, Postkarten, Drucksa<strong>ch</strong>en<br />
und Paketen, ni<strong>ch</strong>t jedo<strong>ch</strong> Sendungen, die von außen erkennbar ohne individuelle<br />
Information sind (Zeitungen, gekennzei<strong>ch</strong>nete Bü<strong>ch</strong>ersendungen, Kataloge).
80<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
Das Postgeheimnis ist na<strong>ch</strong> neuerer Ansi<strong>ch</strong>t seit der Privatisierung und Aufspaltung<br />
der Post obsolet geworden, weil der Kommunikationsdienstleister mit<br />
s<strong>ch</strong>windender Staatsnähe au<strong>ch</strong> den Grund der Sonderbehandlung verloren hat.<br />
Der Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz ist insoweit auf das Brief- und Fernmeldegeheimnis bes<strong>ch</strong>ränkt,<br />
ohne daß si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> am S<strong>ch</strong>utzumfang Nennenswertes ändern würde:<br />
nur der separate Geheimniss<strong>ch</strong>utz der Postbank entfällt.<br />
Ein Eingriff in die Vertrauli<strong>ch</strong>keit der Kommunikation liegt vor, wenn si<strong>ch</strong><br />
staatli<strong>ch</strong>e Stellen ohne das Einverständnis sämtli<strong>ch</strong>er Kommunikationsteilnehmer<br />
Kenntnis von den Inhalten oder Umständen der Kommunikation vers<strong>ch</strong>affen.<br />
Wie generell beim Datens<strong>ch</strong>utz, bilden au<strong>ch</strong> Spei<strong>ch</strong>erung, Weitergabe oder<br />
sonstige Verwertung jenseits des die Erhebung ursprüngli<strong>ch</strong> legitimierenden<br />
Zweckes jeweils eigenständige Eingriffe. Da der Eingriff si<strong>ch</strong> in der geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Verwendung fortsetzen würde, folgt aus Art. 10 I GG au<strong>ch</strong> ein Beweisverwertungsverbot<br />
für verfassungswidrig erhobene Daten. Problematis<strong>ch</strong> ist, ob bereits<br />
ein an die Kommunikationsbeteiligten geri<strong>ch</strong>tetes Vers<strong>ch</strong>lüsselungsverbot einen<br />
Eingriff in das Fernmeldegeheimnis darstellt; dagegen spri<strong>ch</strong>t, daß es si<strong>ch</strong> hier<br />
um die Gewährleistung einer bestimmten Form si<strong>ch</strong>erer Kommunikation, ni<strong>ch</strong>t<br />
um die Gewährleistung der Vertrauli<strong>ch</strong>keit handelt.<br />
Für die Verfassungss<strong>ch</strong>utzklausel (Art. 10 II 2, 19 IV 3 GG) hat das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
mehrheitli<strong>ch</strong> eine verfassungskonforme Verfassungsauslegung<br />
vorgenommen: es müsse na<strong>ch</strong>prüfbare Anhaltspunkte für eine Gefährdung<br />
geben und das Ersatzverfahren der parlamentaris<strong>ch</strong>en Kontrolle müsse au<strong>ch</strong> ohne<br />
Beteiligung der Betroffenen verglei<strong>ch</strong>bar effizient s<strong>ch</strong>ützen wie der Re<strong>ch</strong>tsweg.<br />
Die Mehrheit der Literatur lehnt die Verfassungsänderung wegen Verstoßes<br />
gegen die Ewigkeitsgarantie 35 (Art. 79 III GG) in Verbindung mit dem<br />
Re<strong>ch</strong>tsstaats- und Gewaltenteilungsprinzip als verfassungswidriges Verfassungsre<strong>ch</strong>t<br />
ab.<br />
Selbst wenn der Auss<strong>ch</strong>luß vom Re<strong>ch</strong>tsweg in einem Guta<strong>ch</strong>ten für verfassungswidrig<br />
erklärt wird, bedürfen die gesetzli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ranken (G 10, §§ 99, 100a,<br />
119 III StPO, § 39 Außenwirts<strong>ch</strong>aftsG, § 12 FAG) der weiteren Prüfung, denn bei<br />
Aufre<strong>ch</strong>terhaltung des Re<strong>ch</strong>tsweges ist ni<strong>ch</strong>t jede Kontrolle automatis<strong>ch</strong> verfassungswidrig.<br />
Neben der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist hier au<strong>ch</strong> das Zitiergebot<br />
34 (Art. 19 I 2 GG) anzuwenden, wodur<strong>ch</strong> insbesondere die polizeili<strong>ch</strong>en Generalklauseln<br />
der Landesgesetze zur Eingriffsre<strong>ch</strong>tfertigung auss<strong>ch</strong>eiden.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Telekommunikationsüberwa<strong>ch</strong>ung, Internet-Kommunikation,<br />
Kryptographieverbot, verfassungswidriges Verfassungsre<strong>ch</strong>t,<br />
Gefangenenpost.
III. Privatsphäre und Vertrauli<strong>ch</strong>keit 81<br />
3. Wohnung (Art. 13 GG)<br />
Artikel 13<br />
(1) Die Wohnung ist unverletzli<strong>ch</strong>.<br />
(2) Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ungen dürfen nur dur<strong>ch</strong> den Ri<strong>ch</strong>ter, bei Gefahr im Verzuge<br />
au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet<br />
und nur in der dort vorges<strong>ch</strong>riebenen Form dur<strong>ch</strong>geführt wird.<br />
(3) ... – (6) ... [Laus<strong>ch</strong>angriff]<br />
(7) Eingriffe und Bes<strong>ch</strong>ränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer<br />
gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf<br />
Grund eines Gesetzes au<strong>ch</strong> zur Verhütung dringender Gefahren für die<br />
öffentli<strong>ch</strong>e Si<strong>ch</strong>erheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der<br />
Raumnot, zur Bekämpfung von Seu<strong>ch</strong>engefahr oder zum S<strong>ch</strong>utz gefährdeter<br />
Jugendli<strong>ch</strong>er vorgenommen werden.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 32, 54 – Wohnungsbegriff/Betriebsbetretungsre<strong>ch</strong>t;<br />
51, 97 – Zwangsvollstreckung I; 57, 346 – Zwangsvollstreckung II;<br />
76, 83 – Zwangsvollstreckung III; 89, 11 – Besitzre<strong>ch</strong>t des Mieters; 96, 44 –<br />
Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ungsanordnung II.<br />
Das Wohnungsgrundre<strong>ch</strong>t ist als räumli<strong>ch</strong>er Auss<strong>ch</strong>nitt des S<strong>ch</strong>utzes der Privatsphäre<br />
(allgemeines Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t 77 ) hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> des S<strong>ch</strong>utzes personenbezogener<br />
Daten glei<strong>ch</strong>zeitig ein Spezialfall des informationellen Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>ts<br />
78 . Unter Wohnung versteht man dabei den räumli<strong>ch</strong> abgegrenzten<br />
Ort privaten Lebens, wobei es auf die Absi<strong>ch</strong>t des Grundre<strong>ch</strong>tsträgers, ni<strong>ch</strong>t auf<br />
soziale Konventionen ankommt. Umstritten ist der S<strong>ch</strong>utz bei Gärten und Kinderspielplätzen<br />
in der Nähe von Wohnhäusern; hier soll es jedenfalls genügen,<br />
wenn das Grundstück bauli<strong>ch</strong> gegen Betreten oder Einblick Dritter erkennbar<br />
abges<strong>ch</strong>irmt ist (Mauer, Zaun). Wegen des personalen Bezugs sind juristis<strong>ch</strong>e<br />
Personen 57 im Grundsatz ni<strong>ch</strong>t Träger des Wohnungsgrundre<strong>ch</strong>ts.<br />
Au<strong>ch</strong> Ges<strong>ch</strong>äftsräume werden vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t und einem<br />
Teil der Literatur dem Wohnungsbegriff des Art. 13 I GG zugere<strong>ch</strong>net. Insoweit<br />
können si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>e Personen 57 auf den S<strong>ch</strong>utz berufen. Na<strong>ch</strong> der Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung<br />
des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts sollen die gewerbli<strong>ch</strong> bedingten behördli<strong>ch</strong>en<br />
Kontrollen und Prüfungen allerdings ni<strong>ch</strong>t als ʺEingriffe und Bes<strong>ch</strong>ränkungenʺ<br />
im Sinne von Art. 13 VII GG gelten, sondern nur am Grundsatz<br />
der Verhältnismäßigkeit zu kontrollieren sein. Die dogmatis<strong>ch</strong> stringentere und<br />
in der Literatur au<strong>ch</strong> überwiegend vertretene Gegenansi<strong>ch</strong>t verneint den Woh-
82<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
nungs<strong>ch</strong>arakter von Ges<strong>ch</strong>äftsräumen und wendet Art. 12 I, 14 I GG oder die allgemeine<br />
Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) an.<br />
Unter Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ung versteht man »das ziel- und zweckgeri<strong>ch</strong>tete Su<strong>ch</strong>en<br />
staatli<strong>ch</strong>er Organe na<strong>ch</strong> Personen oder Sa<strong>ch</strong>en oder zur Ermittlung eines Sa<strong>ch</strong>verhalts,<br />
um etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung von si<strong>ch</strong> aus<br />
ni<strong>ch</strong>t offenlegen oder herausgeben will« (BVerfGE 76, 83 [89] – Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ungen<br />
III). Das Einverständnis des Grundre<strong>ch</strong>tsträgers s<strong>ch</strong>ließt Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ungen also<br />
s<strong>ch</strong>on begriffli<strong>ch</strong> aus. Der Ri<strong>ch</strong>tervorbehalt dient der unabhängigen Prüfung der<br />
gesetzli<strong>ch</strong>en Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ungsvoraussetzungen (konkreter Tatverda<strong>ch</strong>t, begründete<br />
Vermutung der Erfolgsaussi<strong>ch</strong>t) eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> der Verhältnismäßigkeit zwis<strong>ch</strong>en<br />
Tatverda<strong>ch</strong>t und Eingriffsintensität. In einer Klausur ist diese Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
auf ihre Ri<strong>ch</strong>tigkeit zu überprüfen.<br />
Als großen Laus<strong>ch</strong>angriff bezei<strong>ch</strong>net man das nunmehr in Absatz 3 bis 6 kodifizierte<br />
Ausspähen von Wohnungen dur<strong>ch</strong> den Einsatz te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>er Mittel, die<br />
die Abs<strong>ch</strong>irmung der Privatsphäre überwinden (Wanzen) – und zwar von außen,<br />
d.h. ohne Betreten. Beim kleinen Laus<strong>ch</strong>angriff führt hingegen ein verdeckter<br />
Ermittler beim Zutritt zu fremden Wohnungen akustis<strong>ch</strong>e oder visuelle Aufzei<strong>ch</strong>nungsgeräte<br />
mit si<strong>ch</strong>.<br />
Andere Eingriffe und Bes<strong>ch</strong>ränkungen im Sinne von Absatz 7 bestehen zunä<strong>ch</strong>st<br />
im körperli<strong>ch</strong>en Eindringen, Betreten, Verweilen oder inneren Besi<strong>ch</strong>tigen<br />
dur<strong>ch</strong> staatli<strong>ch</strong>e Organe, ni<strong>ch</strong>t aber im bloßen Beoba<strong>ch</strong>en des äußeren Wohnumfeldes.<br />
Au<strong>ch</strong> bei diesen Maßnahmen entfällt der Eingriffs<strong>ch</strong>arakter, wenn der<br />
Wohnungsinhaber zustimmt (Hereinlassen von Ermittlern). Allerdings liegt<br />
beim kleinen Laus<strong>ch</strong>angriff kein eingriffsauss<strong>ch</strong>ließendes Einverständnis vor,<br />
weil die Zustimmung dur<strong>ch</strong> Täus<strong>ch</strong>ung bewirkt wurde und somit ni<strong>ch</strong>t freiverantwortli<strong>ch</strong><br />
erfolgte.<br />
In den Absätzen 3 bis 6 ist für große Laus<strong>ch</strong>angriffe ein gestuftes System qualifizierter<br />
S<strong>ch</strong>rankenklauseln geregelt. Trotz dessen Detailliertheit bedarf es in jedem<br />
Fall einer gesetzli<strong>ch</strong>en Grundlage (S<strong>ch</strong>ranke), um diese S<strong>ch</strong>rankenklauseln<br />
zu konkretisieren. Für kleine Laus<strong>ch</strong>angriffe ist keine besondere Regelung getroffen,<br />
so daß der qualifizierte Gesetzesvorbehalt 32 von Absatz 7 gilt.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Großer und kleiner Laus<strong>ch</strong>angriff, Ges<strong>ch</strong>äftsräume,<br />
Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ungen.
III. Privatsphäre und Vertrauli<strong>ch</strong>keit 83<br />
4. Ehe und Familie (Art. 6 I GG)<br />
Artikel 6<br />
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen S<strong>ch</strong>utze der staatli<strong>ch</strong>en<br />
Ordnung.<br />
(2) ... – (5) ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 47, 46 – Sexualkundeunterri<strong>ch</strong>t; 76, 1 –<br />
Familienna<strong>ch</strong>zug; 80, 81 – Erwa<strong>ch</strong>senenadoption; 82, 60 – Steuerfreies Existenzminimum;<br />
92, 158 – Adoption II; 99, 145 – Gegenläufige Kindesrückführungsanträge;<br />
99, 216 – Familienlastenausglei<strong>ch</strong>.<br />
Das Grundre<strong>ch</strong>t auf Ehe und Familie s<strong>ch</strong>ützt als Institutsgarantie (d.h. Einri<strong>ch</strong>tungsgarantie<br />
im Zivilre<strong>ch</strong>t 56 ) den Kern der traditionellen Institute vor einfa<strong>ch</strong>gesetzli<strong>ch</strong>er<br />
Umgestaltung oder gar Abs<strong>ch</strong>affung. Jede größere Umwälzung im<br />
Ehe- und Familienre<strong>ch</strong>t wird deshalb von verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Fragen begleitet<br />
(Einführung des Zerrüttungsprinzips, Einführung der glei<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Lebenspartners<strong>ch</strong>aft).<br />
Ehe ist die dur<strong>ch</strong> Mitwirkung des Staates begründete freiwillige Verbindung<br />
einer Frau und eines Mannes zur grundsätzli<strong>ch</strong> unauflösli<strong>ch</strong>en Lebensgemeins<strong>ch</strong>aft.<br />
Die ni<strong>ch</strong>teheli<strong>ch</strong>en Lebensgemeins<strong>ch</strong>aften und glei<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Partners<strong>ch</strong>aften fallen folgli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t unter den S<strong>ch</strong>utz des Art. 6 I GG, sondern<br />
unter die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG). Umstritten ist, ob die<br />
weitgehende Glei<strong>ch</strong>stellung der Glei<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>keit eine Beeinträ<strong>ch</strong>tigung<br />
der Institutsgarantie ist. In den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> fällt die Ehes<strong>ch</strong>ließung (Ehename,<br />
Ehegüterre<strong>ch</strong>t), das eheli<strong>ch</strong>e Zusammenleben (Wohnortwahl) und die Ehes<strong>ch</strong>eidung<br />
eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> mögli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>eidungsfolgen (Unterhalt).<br />
Familie ist die umfassende Gemeins<strong>ch</strong>aft von Eltern und Kindern, au<strong>ch</strong> der<br />
volljährigen. Die Familie besteht au<strong>ch</strong> ohne eine Ehe, au<strong>ch</strong> in Pflegeverhältnissen<br />
von längerer Dauer und au<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en alleinerziehenden Elternteilen und ihren<br />
Kindern, ni<strong>ch</strong>t aber unter elternlosen Ges<strong>ch</strong>wistern.<br />
Das implizite Diskriminierungsverbot des Art. 6 I GG (»unter dem besonderen<br />
S<strong>ch</strong>utz«) verbietet, daß re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Na<strong>ch</strong>teile mit den Instituten verbunden<br />
sind. Dabei kann aber beispielsweise eine steuerli<strong>ch</strong>e Bena<strong>ch</strong>teiligung in Einzelfragen<br />
(gemeinsame Veranlagung) dadur<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt sein, daß die Verheirateten<br />
oder Eltern insgesamt gegenüber Unverheirateten oder Kinderlosen<br />
neutral behandelt oder mit Vorteilen beda<strong>ch</strong>t werden (Famlienlastenausglei<strong>ch</strong>,<br />
steuerfreies Existenzminimum). Ni<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>tfertigt wäre es hingegen, Arbeitsverträge<br />
zwis<strong>ch</strong>en Ehegatten für (steuer-)re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> irrelevant zu erklären. Die
84<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
Ausweisung von Ausländern wird von der Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung als Eingriff in das<br />
Ehe- bzw. Familiengrundre<strong>ch</strong>t angesehen. Andererseits begründet das Grundre<strong>ch</strong>t<br />
keinen Anspru<strong>ch</strong> auf Aufenthalt oder Na<strong>ch</strong>zug.<br />
Au<strong>ch</strong> ohne ges<strong>ch</strong>riebenen Gesetzesvorbehalt ergibt si<strong>ch</strong> die Regelungsbefugnis<br />
des Gesetzgebers (z.B. Ehefähigkeit, Einehe, Inzestverbot, Elternre<strong>ch</strong>te) unmittelbar<br />
aus Art. 6 I GG, da Institute bereits zu ihrer Begründung der gesetzli<strong>ch</strong>en<br />
Ausgestaltung 28 bedürfen. Sol<strong>ch</strong>e Ausgestaltungen muß der Gesetzgeber<br />
verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tfertigen können, was beispielsweise bei der Pfli<strong>ch</strong>t zur<br />
Führung eines Familiennamens mißlang.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Glei<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Partners<strong>ch</strong>aften,<br />
Diskriminierungsverbot.<br />
5. Erziehungsre<strong>ch</strong>t (Art. 6 II, III GG)<br />
Artikel 6<br />
(1) ...<br />
(2) 1 Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>t der Eltern und<br />
die zuvörderst ihnen obliegende Pfli<strong>ch</strong>t. 2 Über ihre Betätigung wa<strong>ch</strong>t die<br />
staatli<strong>ch</strong>e Gemeins<strong>ch</strong>aft.<br />
(3) Gegen den Willen der Erziehungsbere<strong>ch</strong>tigten dürfen Kinder nur auf<br />
Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsbere<strong>ch</strong>tigten<br />
versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen<br />
zu verwahrlosen drohen.<br />
(4) ... – (5) ...<br />
Die Besonderheit des Erziehungsre<strong>ch</strong>ts besteht in seiner inhärenten Pfli<strong>ch</strong>tenbindung.<br />
Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> umfaßt die Pflege (körperli<strong>ch</strong>es Wohl) und Erziehung<br />
(seelis<strong>ch</strong>e und geistige Entwicklung, Bildung) – eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> der oft umstrittenen<br />
religiösen Erziehung. Vom personellen S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t erfaßt sind<br />
Großeltern und Vormünder. Typis<strong>ch</strong>e Eingriffe erfolgen dur<strong>ch</strong> das staatli<strong>ch</strong>e<br />
S<strong>ch</strong>ulwesen (Streit um S<strong>ch</strong>ulunterri<strong>ch</strong>t und S<strong>ch</strong>ulbü<strong>ch</strong>er); seltener geht es um die<br />
Entziehung des Elternre<strong>ch</strong>ts bei elterli<strong>ch</strong>em Versagen (Art. 6 III GG). Für sonstige<br />
Beeinträ<strong>ch</strong>tigungen im Rahmen des staatli<strong>ch</strong>en Wä<strong>ch</strong>teramts (Art. 6 II 2 GG)<br />
sind im Verhältnismäßigkeitsprinzip häufiger als sonst die milderen Mittel zu<br />
prüfen (Hilfeleistung vor Zwang).<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Sexualkundeunterri<strong>ch</strong>t, Religionsunterri<strong>ch</strong>t.
III. Privatsphäre und Vertrauli<strong>ch</strong>keit 85<br />
6. Mutters<strong>ch</strong>utz (Art. 6 IV GG)<br />
Artikel 6<br />
(1) ... – (3) ...<br />
(4) Jede Mutter hat Anspru<strong>ch</strong> auf den S<strong>ch</strong>utz und die Fürsorge der Gemeins<strong>ch</strong>aft.<br />
(5) ...<br />
Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Mutters<strong>ch</strong>utzes erfaßt primär S<strong>ch</strong>wangere, aber au<strong>ch</strong> alle<br />
Frauen, die einmal Mutter geworden sind – selbst Adoptivmütter. Die Vors<strong>ch</strong>rift<br />
ist als implizites Diskriminierungsverbot praktis<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tig: aus der S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aft<br />
dürfen keine unvermeidbaren Na<strong>ch</strong>teile erwa<strong>ch</strong>sen; sie re<strong>ch</strong>tfertigen aber<br />
Vorteile (einfa<strong>ch</strong>gesetzli<strong>ch</strong>er Mutters<strong>ch</strong>utz, Mutters<strong>ch</strong>aftsurlaub, Mutters<strong>ch</strong>aftsgeld).<br />
Mangels Gesetzesvorbehalts gelten die immanenten S<strong>ch</strong>ranken 32 .<br />
7. S<strong>ch</strong>ulfreiheit (Art. 7 GG)<br />
Artikel 7<br />
(1) Das gesamte S<strong>ch</strong>ulwesen steht unter der Aufsi<strong>ch</strong>t des Staates.<br />
(2) Die Erziehungsbere<strong>ch</strong>tigten haben das Re<strong>ch</strong>t, über die Teilnahme des<br />
Kindes am Religionsunterri<strong>ch</strong>t zu bestimmen.<br />
(3) 1 Der Religionsunterri<strong>ch</strong>t ist in den öffentli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ulen mit Ausnahme der<br />
bekenntnisfreien S<strong>ch</strong>ulen ordentli<strong>ch</strong>es Lehrfa<strong>ch</strong>. 2 Unbes<strong>ch</strong>adet des staatli<strong>ch</strong>en<br />
Aufsi<strong>ch</strong>tsre<strong>ch</strong>tes wird der Religionsunterri<strong>ch</strong>t in Übereinstimmung<br />
mit den Grundsätzen der Religionsgemeins<strong>ch</strong>aften erteilt. 3 Kein Lehrer<br />
darf gegen seinen Willen verpfli<strong>ch</strong>tet werden, Religionsunterri<strong>ch</strong>t zu erteilen.<br />
(4) 1 Das Re<strong>ch</strong>t zur Erri<strong>ch</strong>tung von privaten S<strong>ch</strong>ulen wird gewährleistet. ...<br />
(5) ... – (6) ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 34, 165 – Förderstufe; 41, 29 – Simultans<strong>ch</strong>ule;<br />
45, 400 – Oberstufenreform; 47, 46 – Sexualkundeunterri<strong>ch</strong>t; 52, 223 –<br />
S<strong>ch</strong>ulgebet; 58, 257 – S<strong>ch</strong>ulentlassung; 59, 360 – S<strong>ch</strong>ülerberater; 75, 40 – Privats<strong>ch</strong>ulfinanzierung<br />
I; 88, 40 – ʺFreie S<strong>ch</strong>ule Kreuzbergʺ; 90, 107 – Privats<strong>ch</strong>ulfinanzierung<br />
II.<br />
Die S<strong>ch</strong>ulfreiheit umfaßt zunä<strong>ch</strong>st ein Grundre<strong>ch</strong>t auf Ents<strong>ch</strong>eidung über den<br />
Religionsunterri<strong>ch</strong>t (Art. 7 II, III 2, 3 GG), auf das si<strong>ch</strong> Religionsgemeins<strong>ch</strong>aften
86<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
(Finanzausstattung), Lehrer und Erziehungsbere<strong>ch</strong>tigte berufen können. In Art.<br />
7 I GG ist keine S<strong>ch</strong>rankenklausel, sondern nur eine organisationsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Regelung<br />
getroffen. Au<strong>ch</strong> die Privats<strong>ch</strong>ulfreiheit (Art. 7 IV GG) unterliegt keinem<br />
Gesetzesvorbehalt. Folgli<strong>ch</strong> gelten die immanenten S<strong>ch</strong>ranken 32 .<br />
IV.<br />
Kommunikation und Petition<br />
1. Versammlungsfreiheit (Art. 8 I GG)<br />
Artikel 8<br />
(1) Alle Deuts<strong>ch</strong>en haben das Re<strong>ch</strong>t, si<strong>ch</strong> ohne Anmeldung oder Erlaubnis<br />
friedli<strong>ch</strong> und ohne Waffen zu versammeln.<br />
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Re<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> Gesetz<br />
oder auf Grund eines Gesetzes bes<strong>ch</strong>ränkt werden.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 69, 315 – Brokdorf; 73, 206 – Sitzblockaden;<br />
76, 211 – General Bastian; 82, 236 – S<strong>ch</strong>ubart; 84, 203 – Republikaner; 85,<br />
69 – Eilversammlungen; 87, 399 – Versammlungsauflösung.<br />
Die Versammlung ist ein Zusammentreffen mehrerer Personen zu einem gemeinsamen<br />
Zweck. Dur<strong>ch</strong> das Absi<strong>ch</strong>tsvolle unters<strong>ch</strong>eidet sie si<strong>ch</strong> von bloßen<br />
Ansammlungen und Mens<strong>ch</strong>enaufläufen 67 . Die Demonstration ist eine bewegte<br />
Versammlung und als sol<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>ützt. Ebenfalls in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> fallen die<br />
kurzfristig anberaumten Eilversammlungen sowie die ohne Planung entstehenden<br />
Spontanversammlungen. Im persönli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> befinden si<strong>ch</strong> Veranstalter<br />
wie Teilnehmende, au<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>e Personen 57 und Minderjährige 56 ,<br />
allerdings nur Deuts<strong>ch</strong>e; Ausländer 50 demonstrieren unter dem S<strong>ch</strong>utz der allgemeinen<br />
Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG). Zum sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> gehören<br />
Ort, Zeit, Art, Modalitäten (Uniformierung, Musikbegleitung) und Inhalt<br />
(Motto, Kundgebungen) sowie alle Vorbereitungsmaßnahmen eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> der<br />
Anreise (wi<strong>ch</strong>tig bei polizeili<strong>ch</strong>er Behinderung dur<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>leppende Kontrollen).<br />
Dabei s<strong>ch</strong>ützt Art. 8 I GG die versammlungsspezifis<strong>ch</strong>en Handlungen; daneben<br />
kommen in Idealkonkurrenz 23 ergänzend die Meinungsfreiheit 90 (Art. 5 I GG)<br />
oder au<strong>ch</strong> die Kunstfreiheit 107 (Art. 5 III GG) zur Anwendung.<br />
Die Merkmale »friedli<strong>ch</strong> und ohne Waffen« qualifizieren bereits den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>,<br />
so daß unfriedli<strong>ch</strong>e oder bewaffnete Versammlungen überhaupt keinen<br />
S<strong>ch</strong>utz genießen – na<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender, aber kritikwürdiger 67 Meinung ni<strong>ch</strong>t einmal<br />
subsidiär dur<strong>ch</strong> die allgemeine Handlungsfreiheit 66 (Art. 2 I GG). Friedli<strong>ch</strong>
IV. Kommunikation und Petition 87<br />
ist eine Versammlung, die keinen gewalttätigen Verlauf nimmt, wobei jedenfalls<br />
ni<strong>ch</strong>t jeder Verstoß gegen Re<strong>ch</strong>tsnormen (Verkehrsregeln, Vermummungsverbot)<br />
die Gewalttätigkeit begründet; ein umstrittener Grenzfall sind Sitzblockaden.<br />
Verhalten si<strong>ch</strong> einzelne Teilnehmende unfriedli<strong>ch</strong>, so kommt den übrigen weiterhin<br />
der S<strong>ch</strong>utz des Art. 8 I GG zu; entspre<strong>ch</strong>endes gilt erst re<strong>ch</strong>t bei Übergriffen<br />
unfriedli<strong>ch</strong>er Außenstehender (Gegendemonstration). Waffen sind zunä<strong>ch</strong>st<br />
die te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Waffen, die zur Verletzung von Mens<strong>ch</strong>en konstruiert sind<br />
(S<strong>ch</strong>ußwaffen, S<strong>ch</strong>lagringe), außerdem aber au<strong>ch</strong> sonstige gefährli<strong>ch</strong>e Werkzeuge,<br />
wenn sie zum Zweck der Verletzung von Mens<strong>ch</strong>en oder Bes<strong>ch</strong>ädigung von<br />
Sa<strong>ch</strong>en mitgeführt werden (Baseballs<strong>ch</strong>läger), ni<strong>ch</strong>t jedo<strong>ch</strong> die sogenannten passiven<br />
Waffen (Helme, Gasmasken). Wenn einzelne Teilnehmende Waffen mitführen,<br />
verlieren nur sie den S<strong>ch</strong>utz des Art. 8 I GG.<br />
Umstritten ist, ob unterhaltende Veranstaltungen (Sportveranstaltungen,<br />
Volksfeste, Musikparaden) unter den Versammlungsbegriff fallen (vgl. Fall 4: Festungsumzug<br />
171 ). Na<strong>ch</strong> dem engen Versammlungsbegriff der älteren Lehre,<br />
dem si<strong>ch</strong> das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t in seinen jüngsten Ents<strong>ch</strong>eidungen anges<strong>ch</strong>lossen<br />
hat (BVerfG NJW 2001, 2459 – Musikparaden), s<strong>ch</strong>eitert dies daran, daß<br />
Versammlungen i.S.v. Art. 8 I GG nur Zusammenkünfte zum Zweck der gemeinsame<br />
Kundgabe oder Erörterung öffentli<strong>ch</strong>er Angelegenheiten sein sollen. Dana<strong>ch</strong><br />
gilt: »Versammlung im Sinne des Art. 8 GG ist eine örtli<strong>ch</strong>e Zusammenkunft<br />
mehrerer Personen zur gemeins<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en, auf die Teilhabe an der öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Meinungsbildung geri<strong>ch</strong>teten Erörterung oder Kundgebung.« (BVerfG, Bes<strong>ch</strong>luß<br />
des Erstens Senats vom 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90 u.a).<br />
Au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem erweiterten Versammlungsbegriff der früher herrs<strong>ch</strong>enden<br />
Meinung muß der Zweck der Versammlung in der Meinungsbildung oder<br />
-kundgabe bestehen. Nur der in der Literatur überwiegend vertretene weite<br />
Versammlungsbegriff verzi<strong>ch</strong>tet ganz auf die Qualifizierung des Zwecks und<br />
legt die Versammlungsfreiheit im Sinne einer allgemeinen Veranstaltungsfreiheit<br />
aus (Eventkultur: Love Parade, Fuckparade, Christopher Street Day Parade).<br />
Praktis<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tig ist dies vor allem, weil das Straßenre<strong>ch</strong>t für Ni<strong>ch</strong>tversammlungen<br />
eine kostenpfli<strong>ch</strong>tige Sondernutzungserlaubnis fordert. Sofern man überhaupt<br />
an der Qualifikation des Versammlungszwecks festhalten will, sollte der<br />
Versammlungs<strong>ch</strong>arakter jedenfalls unabhängig vom Unterhaltungswert dana<strong>ch</strong><br />
beurteilt werden, ob das Element der Meinungskundgabe völlig in den Hintergrund<br />
tritt oder ni<strong>ch</strong>t. Musik und Tanz als besondere Ausdrucksformen der<br />
Eventkultur sind dana<strong>ch</strong> uns<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>, solange ni<strong>ch</strong>t (wie bei der Love Parade) eine<br />
Kommerzialisierung eintritt, die zur Beliebigkeit der Titel und Themen der<br />
Demonstration führt.
88<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
Der Gesetzesvorbehalt (Art. 8 II GG) gilt nur für Versammlungen unter freiem<br />
Himmel, was allerdings ni<strong>ch</strong>t wörtli<strong>ch</strong> zu verstehen ist, sondern na<strong>ch</strong> dem<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Gefahrenpotential die Frage der Ums<strong>ch</strong>ließung betrifft: eine<br />
Versammlung unter einem na<strong>ch</strong> allen Seiten offenen Zeltda<strong>ch</strong> findet »unter freiem<br />
Himmel« statt, diejenige in einem unüberda<strong>ch</strong>ten Gebäudeinnenhof hingegen<br />
ni<strong>ch</strong>t. Unter den gesetzli<strong>ch</strong>en Regelungen des Versammlungsre<strong>ch</strong>ts zwingt das<br />
Verhältnismäßigkeitsprinzip dazu, die Anmeldepfli<strong>ch</strong>t verfassungskonform auf<br />
anmeldefähige Versammlungen zu bes<strong>ch</strong>ränken (ni<strong>ch</strong>t: Spontanversammlungen;<br />
eings<strong>ch</strong>ränkt: Eilversammlungen). Außerdem folgen für Polizei und Veranstalter<br />
Kooperationsobliegenheiten: je stärker die Veranstalter zur Zusammenarbeit bereit<br />
sind, desto höher ist die Eingriffss<strong>ch</strong>welle für die Polizei.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Musikparaden, Sitzblockaden, Gegendemonstrationen.<br />
2. Vereinigungsfreiheit (Art. 9 I, II GG)<br />
Artikel 9<br />
(1) Alle Deuts<strong>ch</strong>en haben das Re<strong>ch</strong>t, Vereine und Gesells<strong>ch</strong>aften zu bilden.<br />
(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeiten den Strafgesetzen<br />
zuwiderlaufen oder die si<strong>ch</strong> gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder<br />
gegen den Gedanken der Völkerverständigung ri<strong>ch</strong>ten, sind verboten.<br />
(3) ... [Koalitionsfreiheit]<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 4, 96 – Hutfabrikant; 10, 89 – Erftverband;<br />
30, 227 – Vereinsname; 38, 281 – Arbeitnehmerkammern; 42, 133 –<br />
Wahlwerbung; 50, 290 – Mitbestimmung; 77, 1 – Neue Heimat; 80, 244 – Vereinsverbot;<br />
84, 372 – Lohnsteuerhilfeverein; 92, 26 – Zweitregister; 93, 352 –<br />
Mitgliederwerbung II.<br />
Vereinigungen sind alle freiwilligen organisatoris<strong>ch</strong>en Zusammens<strong>ch</strong>lüsse einer<br />
Mehrheit natürli<strong>ch</strong>er oder juristis<strong>ch</strong>er Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen<br />
Zweck. Der persönli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> erstreckt si<strong>ch</strong> auf die Mitglieder,<br />
andererseits au<strong>ch</strong> auf die Vereinigung selbst (Doppelgrundre<strong>ch</strong>t, kollektive<br />
Vereinigungsfreiheit), sofern sie ihren Sitz in Deuts<strong>ch</strong>land hat. Weil es si<strong>ch</strong> um<br />
eine Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>t handelt, ist au<strong>ch</strong> bezügli<strong>ch</strong> der Mitglieder zu differenzieren:<br />
in der Gründungsphase sind nur Deuts<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>ützt, na<strong>ch</strong> Gründung<br />
hingegen ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>utz aller Mitglieder und der Vereinigung selbst dana<strong>ch</strong>,<br />
ob die Leitungsorgane maßgebli<strong>ch</strong> von Ausländern kontrolliert werden.
IV. Kommunikation und Petition 89<br />
Sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ützt die Vereinigungsfreiheit die Gründung, Auflösung, Existenz,<br />
Funktionsfähigkeit und Selbstbestimmung (Namensführung, Mitgliederauss<strong>ch</strong>luß,<br />
Werbung) – allerdings nur hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> spezifis<strong>ch</strong>er Freiheitsausübung:<br />
was au<strong>ch</strong> individualre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ützt ist, fällt ni<strong>ch</strong>t unter Art. 9 I GG. Gegenüber<br />
den spezielleren Gewährleistungen der Koalitionsfreiheit 106 (Art. 9 III GG),<br />
der Parteienfreiheit (Art. 21 GG) und der religiösen Vereinigung 95 (Art. 4 I, II; 140<br />
GG i.V.m. Art. 137 WRV) tritt die allgemeine Vereinigungsfreiheit zurück.<br />
Als negative Vereinigungsfreiheit 50 s<strong>ch</strong>ützt Art. 9 I GG au<strong>ch</strong> gegenüber<br />
Zwangszusammens<strong>ch</strong>lüssen in privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Vereinigungen. Damit ist die<br />
praktis<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tige Kontrolle von gesetzli<strong>ch</strong>en Zwangsmitglieds<strong>ch</strong>aften in öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Verbänden, etwa in berufständis<strong>ch</strong>en Kammern (Industrie- und<br />
Handelskammer, Ärztekammer, Re<strong>ch</strong>tsanwaltskammer), na<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender Lehre<br />
zur allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) zu re<strong>ch</strong>nen; ein Teil der Literatur<br />
bejaht au<strong>ch</strong> hier inzwis<strong>ch</strong>en den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der (negativen) Vereinigungsfreiheit.<br />
Das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t hat demgegenüber jüngst wieder<br />
betont, daß Art. 9 I GG na<strong>ch</strong> historis<strong>ch</strong>er Auslegung nur Zusammens<strong>ch</strong>lüsse auf<br />
der Basis von Freiwilligkeit, also privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e, s<strong>ch</strong>ützen will (BVerfG, 1 BvR<br />
1806/98 – IHK-Mitglieds<strong>ch</strong>aft).<br />
Aus dem S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tengehalt der Vereinsfreiheit folgt, daß der Staat ein<br />
Mindestmaß an demokratis<strong>ch</strong>er Binnenstruktur garantieren muß, das wenigstens<br />
die willkürli<strong>ch</strong>e Bes<strong>ch</strong>neidung von Mitglieds<strong>ch</strong>aftsre<strong>ch</strong>ten verhindert.<br />
Eine verfassungsunmittelbare S<strong>ch</strong>ranke 32 und keine Qualifizierung des<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s enthält Absatz 2 mit dem Vereinigungsverbot. Umstritten ist, ob<br />
bereits diese Norm oder erst die Feststellung der na<strong>ch</strong> den Landesgesetzen dafür<br />
zuständigen staatli<strong>ch</strong>en Stelle die Verbotswirkung konstituiert. Jedenfalls darf<br />
ein Verein s<strong>ch</strong>on aus Gründen des re<strong>ch</strong>tsstaatli<strong>ch</strong>en Vertrauenss<strong>ch</strong>utzes ni<strong>ch</strong>t<br />
unter Berufung auf Art. 9 II GG aufgelöst werden, bevor die gesetzli<strong>ch</strong> vorgesehene<br />
Verbotsverfügung unanfe<strong>ch</strong>tbar geworden ist. Dies wiederum setzt voraus,<br />
daß das Verbot zur Förderung des ges<strong>ch</strong>ützten Re<strong>ch</strong>tsguts (Strafgesetze, verfassungsmäßige<br />
Ordnung, Völkerverständigung) verhältnismäßig ist. Sonstige Bes<strong>ch</strong>ränkungen<br />
unterhalb des Verbots erfolgen als gesetzli<strong>ch</strong>e Konkretisierung der<br />
immanenten S<strong>ch</strong>ranken 32 .<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Pfli<strong>ch</strong>tmitglieds<strong>ch</strong>aft, Vereinsverbot.
90<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
3. Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG)<br />
Artikel 5<br />
(1) 1 Jeder hat das Re<strong>ch</strong>t, seine Meinung in Wort, S<strong>ch</strong>rift und Bild frei zu äußern<br />
und zu verbreiten. 2 ... . 3 Eine Zensur findet ni<strong>ch</strong>t statt.<br />
(2) Diese Re<strong>ch</strong>te finden ihre S<strong>ch</strong>ranken in den Vors<strong>ch</strong>riften der allgemeinen<br />
(3) ...<br />
Gesetze, den gesetzli<strong>ch</strong>en Bestimmungen zum S<strong>ch</strong>utze der Jugend und in<br />
dem Re<strong>ch</strong>t der persönli<strong>ch</strong>en Ehre.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 7, 198 – Lüth; 12, 113 – S<strong>ch</strong>mid/Spiegel;<br />
85, 1 – Kritis<strong>ch</strong>e Bayer-Aktionäre; 90, 1 – Leugnung deuts<strong>ch</strong>er Kriegss<strong>ch</strong>uld;<br />
90, 241 – Leugnung der Judenverfolgung; 90, 255 – Briefüberwa<strong>ch</strong>ung; 97, 391<br />
– Mißbrau<strong>ch</strong>sbezi<strong>ch</strong>tigung.<br />
Meinungen im Sinne des Art. 5 I GG sind alle Werturteile und zusätzli<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e<br />
Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptungen, die Voraussetzung zur Bildung von Werturteilen sind.<br />
Mit dieser anerkannten Erweiterung ist es meist unnötig, die philosophis<strong>ch</strong>e Frage<br />
zu erörtern, ob eine Aussage dem Wahrheitsbeweis zugängli<strong>ch</strong> und damit eine<br />
Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptung ist. Vom S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> ausgenommen sind nur isolierte<br />
(d.h. überhaupt ni<strong>ch</strong>t mit Wertungen verbundene) Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptungen,<br />
die zudem erwiesen oder bewußt unwahr sind. In allen anderen Fällen ist<br />
der sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> eröffnet. Die genannten Modalitäten (Wort, S<strong>ch</strong>rift,<br />
Bild, Äußern, Verbreiten) sind nur Beispiele, keine enumerative Reduzierung des<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s. Der persönli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> erfaßt au<strong>ch</strong> Minderjährige und<br />
juristis<strong>ch</strong>e Personen 57 .<br />
Im qualifizierten Gesetzesvorbehalt 32 des Art. 5 II GG sind die allgemeinen<br />
Gesetze die mit Abstand wi<strong>ch</strong>tigste S<strong>ch</strong>rankenklausel: na<strong>ch</strong> der extensiven Auslegung<br />
des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts geht selbst der zivilre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ehrens<strong>ch</strong>utz<br />
darin auf; nur der strafre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ehrens<strong>ch</strong>utz greift no<strong>ch</strong> auf die eigenständige<br />
S<strong>ch</strong>rankenklausel in Art. 5 II GG zurück.<br />
Allgemeine Gesetze sind diejenigen Gesetze, »die si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gegen die Äußerung<br />
einer Meinung als sol<strong>ch</strong>e ri<strong>ch</strong>ten, die vielmehr dem S<strong>ch</strong>utz eines<br />
s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin, ohne Rücksi<strong>ch</strong>t auf eine bestimmte Meinung, zu s<strong>ch</strong>ützenden<br />
Re<strong>ch</strong>tsgutes dienen« (BVerfGE 7, 198 [209] – Lüth). Der zweite Teil der Definition<br />
ist so vage, daß im Ergebnis praktis<strong>ch</strong> jedes Gesetz, das um der Re<strong>ch</strong>tsgüter<br />
anderer willen die Meinungsfreiheit regelt, als allgemeines Gesetz gelten kann.<br />
Die Prüfung verlagert si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> ganz in die Abwägung im Rahmen der Ver-
IV. Kommunikation und Petition 91<br />
hältnismäßigkeit. Ledigli<strong>ch</strong> ein Gesetz, das bestimmte Inhalte der Äußerung<br />
verbietet, bereitet mit Blick auf den ersten Teil der Definition Probleme (ʺAus<strong>ch</strong>witzlügeʺ).<br />
Beim Jugends<strong>ch</strong>utz sind die einzelnen Wirkungen der Indizierung<br />
von jugendgefährdenden Publikationen im einzelnen zu prüfen (Werbeverbot<br />
zulässig, Sendeverbot unzulässig).<br />
Die Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit muß stets berücksi<strong>ch</strong>tigen,<br />
daß die Meinungsfreiheit au<strong>ch</strong> einen demokratiefunktionalen Bezug 52 hat,<br />
der das Gewi<strong>ch</strong>t jeder Eins<strong>ch</strong>ränkung und Behinderung verstärkt: für die Demokratie<br />
ist die freie Meinungsäußerung ʺs<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin konstituierendʺ, so daß alle<br />
Äußerungen im politis<strong>ch</strong>en Meinungskampf eines besonders intensiven S<strong>ch</strong>utzes<br />
bedürfen. Umgekehrt ist das S<strong>ch</strong>utzniveau anerkanntermaßen weniger ho<strong>ch</strong>,<br />
wenn es um rein kommerzielle Interessen geht, die au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mittelbar die öffentli<strong>ch</strong>e<br />
Meinungsbildung betreffen (Werbung). Ähnli<strong>ch</strong> verringert ist die<br />
S<strong>ch</strong>utzbedürftigkeit gegenüber allen Eins<strong>ch</strong>ränkungen, die nur die Form und die<br />
Umstände der Kommunikation betreffen, ohne irgendwie auf den Inhalt abzustellen<br />
(im US-Verfassungsre<strong>ch</strong>t treffend: time, place and manner regulation).<br />
Das Zensurverbot (Art. 5 I 3 GG) ist eine absolute, ausdrückli<strong>ch</strong> geregelte<br />
S<strong>ch</strong>ranken-S<strong>ch</strong>ranke. Mit Zensur ist dabei allerdings entgegen verbreitetem<br />
Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong> nur die Vorzensur gemeint, also das präventive Vorgehen, mit<br />
dem die Publikation vollständig verhindert wird. Eine sol<strong>ch</strong>e ist sehr selten; sie<br />
kam bisher nur bei der Kontrolle eingeführter Filme und Presseprodukte vor.<br />
Die Jugends<strong>ch</strong>utzindizierung ist hingegen keine Zensur, weil sie die Verbreitung<br />
nur bes<strong>ch</strong>ränkt, ni<strong>ch</strong>t vollständig unterbindet. Au<strong>ch</strong> die Ni<strong>ch</strong>tauswahl eines<br />
S<strong>ch</strong>ulbu<strong>ch</strong>es für den Unterri<strong>ch</strong>t an staatli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ulen ist keine Zensur, weil hier<br />
ni<strong>ch</strong>t die Verbreitung dur<strong>ch</strong> Dritte verhindert wird, sondern der Staat nur auf die<br />
eigene Nutzung verzi<strong>ch</strong>tet. In Klausurfällen tau<strong>ch</strong>t die Zensur gelegentli<strong>ch</strong> in<br />
Gestalt des S<strong>ch</strong>ulleiters auf, der eine S<strong>ch</strong>ülerzeitung kontrolliert und dann den<br />
gesamten Bestand konfisziert, um die Verteilung in oder vor der S<strong>ch</strong>ule zu verhindern.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: ʹSoldaten sind Mörderʹ, S<strong>ch</strong>ülerzeitung.<br />
4. Informationsfreiheit (Art. 5 I GG)<br />
Artikel 5<br />
(1) 1 Jeder hat das Re<strong>ch</strong>t, ... si<strong>ch</strong> aus allgemein zugängli<strong>ch</strong>en Quellen ungehindert<br />
zu unterri<strong>ch</strong>ten. ...<br />
(2) ... – (3) ...
92<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 90, 27 – Parabolantenne I; 92, 126 – Parabolantenne<br />
II.<br />
Beim Informationsgrundre<strong>ch</strong>t bestimmt si<strong>ch</strong> die allgemeine Zugängli<strong>ch</strong>keit von<br />
Informationsquellen na<strong>ch</strong> te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Gesi<strong>ch</strong>tspunkten: das Internet ist beispielsweise<br />
grundsätzli<strong>ch</strong> ʹallgemein zugängli<strong>ch</strong>ʹ, kann aber in einzelnen Berei<strong>ch</strong>en<br />
dur<strong>ch</strong> Paßwort kontrolliert werden und insoweit ges<strong>ch</strong>ützten Benutzergruppen<br />
vorbehalten sein. S<strong>ch</strong>on auf S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>sebene ni<strong>ch</strong>t vom Grundre<strong>ch</strong>t<br />
erfaßt ist folgli<strong>ch</strong> das Eins<strong>ch</strong>lei<strong>ch</strong>en in eigentli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t für die Allgemeinheit geda<strong>ch</strong>te<br />
Datenbestände. Im übrigen s<strong>ch</strong>ützt die Informationsfreiheit das ungehinderte<br />
Bes<strong>ch</strong>affen der Informationen in allen seinen Modalitäten (Einsehen, Herunterladen,<br />
Fotografieren).<br />
Eine allgemeine staatli<strong>ch</strong>e Informationspfli<strong>ch</strong>t wird dur<strong>ch</strong> die Informationsfreiheit<br />
ni<strong>ch</strong>t begründet, au<strong>ch</strong> keine Pfli<strong>ch</strong>t zur Hilfe bei der Bes<strong>ch</strong>affung von Informationen.<br />
Ledigli<strong>ch</strong> ein Mindestmaß an Zugängli<strong>ch</strong>keit wi<strong>ch</strong>tiger Informationen<br />
wird von der Lehre als objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Ausfluß der Informationsfreiheit<br />
bejaht. Eine Horizontalwirkung 54 entfaltet die Informationsfreiheit im Mietre<strong>ch</strong>t:<br />
ein Vermieter kann Parabolantennen gegenüber ausländis<strong>ch</strong>en Mietern<br />
ni<strong>ch</strong>t mietvertragli<strong>ch</strong> auss<strong>ch</strong>ließen, solange ein Kabelans<strong>ch</strong>luß fehlt.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Parabolantennen.<br />
5. Pressefreiheit (Art. 5 I GG)<br />
Artikel 5<br />
(1) ... 2 Die Pressefreiheit ... [ist] gewährleistet. ...<br />
(2) ... – (3) ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 20, 162 – Spiegel; 25, 256 – Blinkfüer; 66,<br />
116 – Springer/Wallraff; 95, 28 – Werkszeitungen; 97, 125 – Caroline von Monaco<br />
I; 97, 298 – ”extra-radio”; 102, 347 – S<strong>ch</strong>ockwerbung.<br />
Zur Presse im verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Sinne zählen alle für die Allgemeinheit bestimmten<br />
Druckerzeugnisse. Außer Zeitungen und Zeits<strong>ch</strong>riften sind also au<strong>ch</strong><br />
Bü<strong>ch</strong>er, Plakate, Flugblätter und Handzettel als ʹPresseʹ im verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Sinn anzusehen. Sogar alte S<strong>ch</strong>allplatten sind wegen ihrer Herstellungsweise<br />
no<strong>ch</strong> Druckerzeugnisse, ni<strong>ch</strong>t hingegen Tonbänder und Videokassetten. Die<br />
Pressefreiheit gilt au<strong>ch</strong> für Anzeigenteile in Zeitungen und sogar für reine Anzeigenblätter,<br />
da es auf den Inhalt des Druckerzeugnisses ni<strong>ch</strong>t ankommt.
IV. Kommunikation und Petition 93<br />
Sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ützt die Pressefreiheit den gesamten Herstellungsvorgang von<br />
der Informationsbes<strong>ch</strong>affung über die Redaktions- oder Editionsarbeit bis zum<br />
Druck. Außerdem ist die Verbreitung erfaßt. Persönli<strong>ch</strong> sind außer den beteiligten<br />
natürli<strong>ch</strong>en Personen (Deuts<strong>ch</strong>en wie Ausländern) au<strong>ch</strong> die Presse- und Vertriebsunternehmen<br />
selbst vom S<strong>ch</strong>utz erfaßt (Verlage, Bu<strong>ch</strong>händler, Grossisten,<br />
Presseagenturen), ni<strong>ch</strong>t jedo<strong>ch</strong> die Leserinnen und Leser. Au<strong>ch</strong> für Minderjährige<br />
und deren S<strong>ch</strong>ülerzeitungen gilt die Freiheit uneinges<strong>ch</strong>ränkt.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ung von Redaktionsräumen,<br />
Presseboykott, S<strong>ch</strong>ülerzeitung, Anzeigenblatt.<br />
6. Rundfunk- und Filmfreiheit (Art. 5 I GG)<br />
Artikel 5<br />
(1) ... 2 ... die Freiheit der Beri<strong>ch</strong>terstattung dur<strong>ch</strong> Rundfunk und Film [wird]<br />
gewährleistet. ...<br />
(2) ... – (3) ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 12, 205 – 1. Rundfunkents<strong>ch</strong>eidung<br />
(Deuts<strong>ch</strong>land-Fernsehen); 31, 314 – 2. Rundfunkents<strong>ch</strong>eidung (Umsatzsteuer);<br />
57, 295 – 3. Rundfunkents<strong>ch</strong>eidung (FRAG/Saarländis<strong>ch</strong>es Rundfunkgesetz);<br />
73, 118 – 4. Rundfunkents<strong>ch</strong>eidung (Landesrundfunkgesetz Niedersa<strong>ch</strong>sen);<br />
74, 297 – 5. Rundfunkents<strong>ch</strong>eidung; 83, 238 – 6. Rundfunkents<strong>ch</strong>eidung; 87,<br />
295 – 7. Rundfunkents<strong>ch</strong>eidung (Rundfunkfinanzierung); 90, 60 – 8. Rundfunkents<strong>ch</strong>eidung;<br />
91, 125 – Fernsehaufnahmen im Geri<strong>ch</strong>tssaal; 95, 220 –<br />
Aufzei<strong>ch</strong>nungspfli<strong>ch</strong>t.<br />
Unter Rundfunk (Hörfunk und Fernsehen) versteht man die Veranstaltung und<br />
Verbreitung von Darbietungen aller Art für die Allgemeinheit mit Hilfe elektris<strong>ch</strong>er<br />
S<strong>ch</strong>wingungen. Die Abgrenzung zur Presse erfolgt also na<strong>ch</strong> te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en<br />
Gesi<strong>ch</strong>tspunkten. Der entwicklungsoffene Rundfunkbegriff erfaßt au<strong>ch</strong> Internet-<br />
Rundfunk, Pay-TV und Bilds<strong>ch</strong>irmtext – alles Dienste, die von einer unbestimmten<br />
Vielzahl von Personen abgerufen werden können. Au<strong>ch</strong> Werbesendungen<br />
werden wegen der Inhaltsunabhängigkeit des S<strong>ch</strong>utzes erfaßt. Sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ützt<br />
die Rundfunkfreiheit wie die Pressefreiheit den gesamten Prozeß der Herstellung<br />
und Verbreitung; nur rein fernmeldete<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Tätigkeiten sind ausgenommen.<br />
Persönli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ützt sind außer den beteiligten Personen au<strong>ch</strong> die Rundfunkanstalten<br />
und -unternehmen, ni<strong>ch</strong>t hingegen die Empfänger. Die Filmfreiheit unters<strong>ch</strong>eidet<br />
si<strong>ch</strong> vom Rundfunk dadur<strong>ch</strong>, daß die Bewegtbilder der Öffentli<strong>ch</strong>keit
94<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
vorgeführt werden; sie ist entwicklungsoffen erweitert auf verkaufbare Massenmedien<br />
zur Privatvorführung (Videokassetten, Bildplatten, DVD)<br />
Na<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender Ansi<strong>ch</strong>t bedarf die Rundfunkfreiheit mehr als andere<br />
Kommunikationsgrundre<strong>ch</strong>te der Ausgestaltung 28 dur<strong>ch</strong> den Gesetzgeber. Mit<br />
Blick auf die immer weniger bedeutsame Frequenzknappheit (digitaler Rundfunk,<br />
Satellitenrundfunk) und die erhebli<strong>ch</strong>e Verbreiterung des multimedialen<br />
Informationsangebots (Internet) ist dieser Ansatz inzwis<strong>ch</strong>en sehr fragwürdig<br />
geworden. Unter diesem Vorbehalt steht praktis<strong>ch</strong> die gesamte, vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
entwickelte Rundfunkordnung: die Rundfunkfreiheit sei anders<br />
als andere <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> eine dienende Freiheit; es müsse eine Grundversorgung<br />
si<strong>ch</strong>ergestellt werden, was nur der öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> organisierte Rundfunk<br />
könne; diesem öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Rundfunk müßten ausrei<strong>ch</strong>ende Entwicklungsmögli<strong>ch</strong>keiten<br />
gegeben werden (Programmzeits<strong>ch</strong>riften, Spartenprogramme,<br />
Internetpräsentation); er dürfe nur begrenzt Werbung senden, erhalte<br />
dafür aber zur Finanzierung Rundfunkgebühren.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Duale Rundfunkordnung, dienende<br />
Freiheit.<br />
7. Petitionsre<strong>ch</strong>t (Art. 17 GG)<br />
Artikel 17<br />
Jedermann hat das Re<strong>ch</strong>t, si<strong>ch</strong> einzeln oder in Gemeins<strong>ch</strong>aft mit anderen<br />
s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong> mit Bitten oder Bes<strong>ch</strong>werden an die zuständigen Stellen und an die<br />
Volksvertretung zu wenden.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidung: BVerfGE 2, 225 – Lehramtsanwärter.<br />
Als Petitionen (Bitten und Bes<strong>ch</strong>werden) werden alle Begehren bezei<strong>ch</strong>net, die<br />
von einer staatli<strong>ch</strong>en Stelle ein bestimmtes Verhalten wüns<strong>ch</strong>en. Es genügen<br />
au<strong>ch</strong> Sammelpetitionen und uneigennützige Anliegen. Umstritten ist, ob im<br />
Ausland lebende Ausländer ein Re<strong>ch</strong>t auf Petition haben (z.B. geri<strong>ch</strong>tet an die<br />
deuts<strong>ch</strong>en Bots<strong>ch</strong>aften und Konsulate). Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> erstreckt si<strong>ch</strong> auf die<br />
Vorbereitung (Erstellung, Unters<strong>ch</strong>riftensammlung). Als zuständige Stellen für<br />
die Entgegennahme gelten alle Behörden und öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Einri<strong>ch</strong>tungen.<br />
Ist eine Stelle für die Petition inhaltli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zuständig, so umfaßt der<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Grundre<strong>ch</strong>ts den Anspru<strong>ch</strong> auf Weiterleitung.<br />
Eine Verletzung liegt vor, wenn die Petition ni<strong>ch</strong>t angenommen oder ni<strong>ch</strong>t<br />
bearbeitet wird. Daß der Petitionsbes<strong>ch</strong>eid au<strong>ch</strong> begründet werden muß, ver-
IV. Kommunikation und Petition 95<br />
langt das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t, wohl aber ein Teil der Literatur. Im<br />
übrigen gelten für Bes<strong>ch</strong>ränkungen des Re<strong>ch</strong>ts immanente S<strong>ch</strong>ranken 32 .<br />
V. Religion und Weltans<strong>ch</strong>auung<br />
1. Glaubensfreiheit (Art. 4 I, II GG; Art. 140 GG i.V.m. Art. 136-139, 141<br />
WRV)<br />
Artikel 4<br />
(1) Die Freiheit des Glaubens ... und die Freiheit des religiösen und weltans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>en<br />
Bekenntnisses sind unverletzli<strong>ch</strong>.<br />
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.<br />
(3) ... [Kriegsdienstverweigerung]<br />
Artikel 136<br />
(1) Die bürgerli<strong>ch</strong>en und staatsbürgerli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>te und Pfli<strong>ch</strong>ten werden<br />
(2) ...<br />
dur<strong>ch</strong> die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt no<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>ränkt.<br />
(3) 1 Niemand ist verpfli<strong>ch</strong>tet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. ...<br />
(4) ...<br />
Artikel 137<br />
(1) Es besteht keine Staatskir<strong>ch</strong>e.<br />
(2) 1 Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesells<strong>ch</strong>aften wird gewährleistet.<br />
...<br />
(3) 1 Jede Religionsgesells<strong>ch</strong>aft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten<br />
selbständig innerhalb der S<strong>ch</strong>ranken des für alle geltenden Gesetzes. ...<br />
(4) ... – (8) ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 12, 45 – Kriegsdienstverweigerung; 24,<br />
236 – Aktion Rumpelkammer; 32, 98 – Gesundbeter; 33, 23 – Eidesleistung; 83,<br />
341 – Baháʹí-Sekte; 93, 1 – Kruzifix.<br />
Die Glaubensfreiheit ist der Oberbegriff für Religions- und Weltans<strong>ch</strong>auungsfreiheit,<br />
wobei die Religionsfreiheit den praktis<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tigsten Fall bildet. Bekenntnisfreiheit<br />
(Art. 4 I GG) und Ausübungsfreiheit (Art. 4 II GG) bilden bei der<br />
Religion zusammen ein einheitli<strong>ch</strong>es Grundre<strong>ch</strong>t. Der S<strong>ch</strong>utz gilt zunä<strong>ch</strong>st individuell<br />
und hö<strong>ch</strong>stpersönli<strong>ch</strong> 51 , zusätzli<strong>ch</strong> aber au<strong>ch</strong> kollektiv und korporativ:
96<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
Kir<strong>ch</strong>engemeinden und Glaubensgemeins<strong>ch</strong>aften genießen selbst Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz.<br />
Ges<strong>ch</strong>ützt sind au<strong>ch</strong> Ablehnung und Austritt als negative Religionsfreiheit<br />
50 (vgl. au<strong>ch</strong> Art. 136 III 1 WRV; BVerfGE 93, 1 [15 ff.] – Kruzifix). Außer den<br />
im engeren Sinne kultis<strong>ch</strong>en und rituellen Handlungsweisen (Gottesdienste) sind<br />
die Ernährungs-, ärztli<strong>ch</strong>en Behandlungs- und feiertagli<strong>ch</strong>en Arbeitsverbote als<br />
äußere Religionsausübung vom S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> erfaßt; eine häufige Prüfungskonstellation<br />
ist insoweit das religiös begründete S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten (vgl. Fall 5:<br />
S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis 183 ). Die Glaubensfreiheit s<strong>ch</strong>ützt grundsätzli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> vor Diskriminierungen,<br />
wobei allerdings den Art. 3 III, 33 III GG und Art. 136 I, II WRV<br />
in den meisten Fällen der spezialgesetzli<strong>ch</strong>e Vorrang gebührt.<br />
Ni<strong>ch</strong>t zur Religionsfreiheit, sondern zur Berufsfreiheit 98 (Art. 12 I GG, bei<br />
Ausländern: Art. 2 I GG) zählt es na<strong>ch</strong> der Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts,<br />
wenn mit einem Handeln primär Erwerbsinteressen verbunden<br />
sind. Dann verstärkt allerdings der religiöse Bezug den Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz im<br />
Rahmen der Abwägung (vgl. BVerfG, 1 BvR 1783/99 – S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis; Fall 5:<br />
S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis 183 ).<br />
Beliebter Prüfungsgegenstand ist au<strong>ch</strong> die Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung der<br />
Minderjährigen 56 , die bei der Religionsfreiheit verfassungskonform einfa<strong>ch</strong>gesetzli<strong>ch</strong><br />
konkretisiert wurde: Na<strong>ch</strong> § 5 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung<br />
(1921) ist bei Kindern von zwölf Jahren kein We<strong>ch</strong>sel des Bekenntnisses<br />
gegen deren Willen gestattet, mit 14 können sie das religiöse Bekenntnis<br />
selbst bestimmen. Einige Landesverfassungen gestatten erst mit Vollendung des<br />
18. Lebensjahres die Ni<strong>ch</strong>tteilnahme am Religionsunterri<strong>ch</strong>t (Art. 137 I BayVerf,<br />
Art. 35 I RhPf Verf, Art. 29 II SaarVerf); das ist mit der negativen Religionsfreiheit<br />
vereinbar, weil der Unterri<strong>ch</strong>t die Kenntnis der Religion vermittelt, ni<strong>ch</strong>t deren<br />
Praktizierung erzwingt.<br />
Die religiös-weltans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>e Neutralität (ʺTrennung von Staat und Kir<strong>ch</strong>eʺ)<br />
folgt aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 I WRV. Horizontalwirkung 54 unter Privaten<br />
entfaltet die Religionsfreiheit vor allem im Arbeitsre<strong>ch</strong>t: Arbeitgebern ist es beispielsweise<br />
versagt, vermeidbare Glaubenskonflikte auszulösen. Andererseits<br />
re<strong>ch</strong>tfertigt die kollektive Religionsfreiheit (kir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>t)<br />
besondere arbeitsvertragli<strong>ch</strong>e Bes<strong>ch</strong>ränkungen der Meinungsfreiheit 90 und Ehefreiheit<br />
83 (Zölibat) in kir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Dienstverhältnissen.<br />
Das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t behandelt die Religionsfreiheit als normtextli<strong>ch</strong><br />
vorbehaltloses Grundre<strong>ch</strong>t mit verfassungsimmanenten S<strong>ch</strong>ranken 32 und<br />
wendet den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I<br />
WRV aus historis<strong>ch</strong>-systematis<strong>ch</strong>en Gründen ni<strong>ch</strong>t als S<strong>ch</strong>rankenklausel an.<br />
Demgegenüber zieht die inzwis<strong>ch</strong>en überwiegende Literatur Art. 136 I WRV für
V. Religion und Weltans<strong>ch</strong>auung 97<br />
Eins<strong>ch</strong>ränkungen des religiösen Freiheitsgebrau<strong>ch</strong>s heran, weil die dort erwähnten<br />
Gesetze sämtli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>ten umfaßten. Der Streit ist für die Fallösung<br />
ohne Belang, wenn die gesetzli<strong>ch</strong>e Regelung – wie in den meisten Fällen – ohnehin<br />
den <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n Dritter dient. Dann genügt die Feststellung, daß die Religionsfreiheit<br />
bei der vorliegenden Fallkonstellation na<strong>ch</strong> allen Ansi<strong>ch</strong>ten grundsätzli<strong>ch</strong><br />
bes<strong>ch</strong>ränkbar ist (vgl. Fall 7: Normannenkir<strong>ch</strong>e 197 ).<br />
Eine na<strong>ch</strong> Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung und Literatur anwendbare, aber nur auf den Fall<br />
der behördli<strong>ch</strong>en Religionsauskunft zutreffende S<strong>ch</strong>rankenklausel enthält Art.<br />
136 III 2 WRV. Als wi<strong>ch</strong>tige immanente S<strong>ch</strong>ranke kommt häufig die Religionsfreiheit<br />
Dritter zur Abwägung, was im Ergebnis in ein Toleranzgebot mündet.<br />
Das gilt vor allem zwis<strong>ch</strong>en positiver und negativer Religionsfreiheit (S<strong>ch</strong>ulgebet,<br />
Kruzifix), wobei in S<strong>ch</strong>ulangelegenheiten ein Spielraum für unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Gestaltung<br />
in Landesgesetzen verbleibt.<br />
Für Bes<strong>ch</strong>ränkungen der kollektiven und korporativen Religionsfreiheit<br />
sieht das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t bei rein kir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Angelenheiten keinen<br />
Gesetzesvorbehalt. Bei sonstigen Angelegenheiten gelten die allgemeinen Gesetze<br />
(Art. 137 III 1 WRV).<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten, Kruzifix, Religionsunterri<strong>ch</strong>t,<br />
Friedhofszwang.<br />
2. Gewissensfreiheit, Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 III GG)<br />
Artikel 4<br />
(1) Die Freiheit ... des Gewissens ... [ist] unverletzli<strong>ch</strong>.<br />
(2) ...<br />
(3) 1 Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen<br />
werden. 2 Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.<br />
Die Gewissensfreiheit s<strong>ch</strong>ützt jede sittli<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidung, die der einzelne als<br />
bindend oder verpfli<strong>ch</strong>tend erfährt. Die in dieser Begriffsbestimmung enthaltene<br />
Sittli<strong>ch</strong>keit betrifft im Gegensatz etwa zu Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit oder Opportunität<br />
sol<strong>ch</strong>e Fragen des Handelns, die dur<strong>ch</strong> Referenz auf die Kategorien ʹgutʹ und<br />
ʹs<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tʹ (axiologis<strong>ch</strong>) bzw. ʹri<strong>ch</strong>tigʹ und ʹfals<strong>ch</strong>ʹ (deontologis<strong>ch</strong>) ents<strong>ch</strong>ieden werden.<br />
Während Glauben 95 eine Vielzahl von Handlungen in einen gemeinsamen<br />
Kontext stellt, betrifft das Gewissen au<strong>ch</strong> vereinzeltes Verhalten: selbst bei einem<br />
weltans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong> indifferenten Atheisten kann si<strong>ch</strong> das Gewissen regen. Ges<strong>ch</strong>ützt<br />
ist die Urteilsbildung (forum internum) und das demgemäße Handeln (fo-
98<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
rum externum). Als hö<strong>ch</strong>stpersönli<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>t 51 kommt die Gewissenfreiheit den<br />
juristis<strong>ch</strong>en Personen 57 ni<strong>ch</strong>t zu. Es gelten nur immanente S<strong>ch</strong>ranken 32 .<br />
Die Kriegsdienstverweigerung ist ein Sonderfall der Gewissensfreiheit. Die<br />
Regelungsermä<strong>ch</strong>tigung des Art. 4 III 2 GG läßt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als S<strong>ch</strong>rankenklausel<br />
begreifen, sondern verweist auf die einfa<strong>ch</strong>gesetzli<strong>ch</strong>e Ausgestaltungsbedürftigkeit<br />
28 des Grundre<strong>ch</strong>ts.<br />
VI.<br />
Wirts<strong>ch</strong>aft und Kultur<br />
1. Berufsfreiheit (Art. 12 I GG)<br />
Artikel 12<br />
(1) 1 Alle Deuts<strong>ch</strong>en haben das Re<strong>ch</strong>t, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte<br />
frei zu wählen. 2 Die Berufsausübung kann dur<strong>ch</strong> Gesetz oder auf<br />
Grund eines Gesetzes geregelt werden.<br />
(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im<br />
Rahmen einer herkömmli<strong>ch</strong>en allgemeinen, für alle glei<strong>ch</strong>en öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Dienstleistungspfli<strong>ch</strong>t.<br />
(3) Zwangsarbeit ist nur bei einer geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> angeordneten Freiheitsentziehung<br />
zulässig.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 7, 377 – Apothekenurteil; 11, 30 – Kassenarzt;<br />
13, 237 – Ladens<strong>ch</strong>lußgesetz; 33, 303 – numerus clausus; 87, 363 –<br />
Na<strong>ch</strong>tbackverbot; 93, 213 – Re<strong>ch</strong>tsanwaltszulassung; 95, 173 – Warnhinweise<br />
für Tabakerzeugnisse; 96, 189 – Fink; 97, 12 – Patentgebühren-Überwa<strong>ch</strong>ung;<br />
97, 169 – Kleinbetriebsklausel I; 102, 197 – Spielbankgesetz Baden-<br />
Württemberg.<br />
Die Berufsfreiheit ist eines der in Prüfungen am meisten behandelten <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>:<br />
dur<strong>ch</strong> einprägsame Definitionen und die Dreistufentheorie bietet si<strong>ch</strong> bei<br />
diesem Wirts<strong>ch</strong>aftsgrundre<strong>ch</strong>t 52 rei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> Gelegenheit, Wissen abzufragen, ohne<br />
glei<strong>ch</strong> in die Untiefen der Eigentumsdogmatik vorzudringen. Berufswahl (Art.<br />
12 I 1 GG) und Berufsausübung (vgl. Art. 12 I 2 GG) sind dabei zunä<strong>ch</strong>st als Teil<br />
eines einheitli<strong>ch</strong>en Grundre<strong>ch</strong>ts der Berufsfreiheit zu erkennen, für das au<strong>ch</strong><br />
insgesamt der Gesetzesvorbehalt des Satzes 2 gilt. Sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> umfaßt die Berufsfreiheit<br />
au<strong>ch</strong> staatli<strong>ch</strong> gebundene Berufe (Notar, Bezirkss<strong>ch</strong>ornsteinfeger), ni<strong>ch</strong>t<br />
aber öffentli<strong>ch</strong>e Ämter (Bundeskanzler). Das Grundre<strong>ch</strong>t ist au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als Re<strong>ch</strong>t<br />
auf Arbeit zu verstehen (soziales Grundre<strong>ch</strong>t 52 ), sondern nur als liberales Ab-
VI. Wirts<strong>ch</strong>aft und Kultur 99<br />
wehrre<strong>ch</strong>t. Wenn der Staat aber Ausbildungsplätze, insbesondere Studienplätze,<br />
vorhält und zuweist, dann folgt aus der Berufsfreiheit eine Teilhabere<strong>ch</strong>t 53 , d.h.<br />
das Grundre<strong>ch</strong>t kontrolliert die ri<strong>ch</strong>tige Verteilung (vgl. BVerfGE 33, 303 [330 ff.]<br />
– numerus clausus I). Persönli<strong>ch</strong> ist die Berufsfreiheit ein Deuts<strong>ch</strong>en- und<br />
Unionsbürgerre<strong>ch</strong>t 50 ; sie kommt au<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>en Personen 57 zu (Art. 19 III GG).<br />
Innerhalb dieser umfassenden Berufsfreiheit bilden die Konkretisierungen<br />
der Arbeitsplatzwahl und Ausbildungsstätte nur Auss<strong>ch</strong>nitte ohne Besonderheiten.<br />
Beruf ist jede auf Dauer angelegte Tätigkeit, die der S<strong>ch</strong>affung oder Erhaltung<br />
einer Lebensgrundlage dient. Arbeitszwang (Art. 12 II GG) ist jede unfreiwillige<br />
Heranziehung zu einer Arbeit, die als re<strong>ch</strong>tspfli<strong>ch</strong>tig angesehen wird.<br />
Zwangsarbeit (Art. 12 III GG) ist die unfreiwillige Heranziehung der gesamten<br />
Arbeitskraft zur Arbeit. Die in der Berufsdefinition früher häufig genannte Bes<strong>ch</strong>ränkung<br />
auf erlaubte Tätigkeiten ist verfehlt, weil über die Erlaubtheit ni<strong>ch</strong>t<br />
s<strong>ch</strong>on im S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> befunden werden kann, sondern erst, wenn die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Überprüfung abges<strong>ch</strong>lossen ist. In erweiternder Auslegung hat<br />
das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> die Unternehmerfreiheit, also das Gründen<br />
und Führen von Unternehmen, der Berufsfreiheit zugere<strong>ch</strong>net, eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> aller<br />
unternehmensbezogenen Handlungsweisen (z.B. Organisation, Produktion,<br />
Wettbewerb).<br />
Das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t unters<strong>ch</strong>eidet drei Eingriffsmodi, denen entspre<strong>ch</strong>end<br />
dem typisierten Gewi<strong>ch</strong>t der Beeinträ<strong>ch</strong>tigung jeweils unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />
S<strong>ch</strong>utzintensitäten zugeordnet werden (Dreistufentheorie):<br />
Eingriffsmodus<br />
S<strong>ch</strong>utzintensität<br />
1. Berufsausübungsregelungen ... zu re<strong>ch</strong>tfertigen dur<strong>ch</strong> vernünftige Erwägungen<br />
des Gemeinwohls<br />
2. Subjektive Zulassungsvoraussetzungen<br />
3. Objektive Zulassungsbes<strong>ch</strong>ränkungen<br />
... als zwingendes Erfordernis zum<br />
S<strong>ch</strong>utz besonders wi<strong>ch</strong>tiger Gemeins<strong>ch</strong>aftsgüter<br />
... zum S<strong>ch</strong>utz überragend wi<strong>ch</strong>tiger Gemeins<strong>ch</strong>aftsgüter<br />
gegen na<strong>ch</strong>weisbare<br />
oder hö<strong>ch</strong>stwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>e s<strong>ch</strong>were<br />
Gefahren<br />
Dabei sind objektive Zulassungsbes<strong>ch</strong>ränkungen sol<strong>ch</strong>e, die weder von den<br />
persönli<strong>ch</strong>en Eigens<strong>ch</strong>aften oder der Qualifikation des Berufsanwärters abhängig<br />
sind, no<strong>ch</strong> sonst von ihm beeinflußt werden können. Sol<strong>ch</strong>e Bes<strong>ch</strong>ränkungen
100<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
kommen regelmäßig als Bedürfnisprüfungen vor, also Zulassungen in Abhängigkeit<br />
davon, ob es an einem Ort ein Bedürfnis für weitere Berufstätige in diesem<br />
Beruf gibt (Apotheker, Ärzte, Taxifahrer). Neuerdings werden au<strong>ch</strong> Verwaltungsmonopole<br />
(Arbeitsvermittlungsmonopol) zunehmend als objektive Bes<strong>ch</strong>ränkungen<br />
eingestuft, weil sie für alle Privaten die vom Staat monopolisierte<br />
Tätigkeit untersagen. Subjektive Zulassungsvoraussetzungen knüpfen an Eigens<strong>ch</strong>aften<br />
oder Qualifikation der Person an, insbesondere bei Ausbildungsund<br />
Eignungsprüfungen (Gesellenbrief, Taxis<strong>ch</strong>ein, Staatsexamen, aber au<strong>ch</strong>:<br />
Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t, Körpergröße). Berufsausübungsregelungen sind alle übrigen Regulierungen<br />
und Bes<strong>ch</strong>ränkungen. Die Dreistufentheorie ist insoweit bere<strong>ch</strong>tigterweise<br />
kritisiert worden, als sie vereinfa<strong>ch</strong>end annimmt, daß jede Berufswahlregelung<br />
stärker beeinträ<strong>ch</strong>tigt als eine Ausübungsregelung. Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> kann aber<br />
eine einmalige und einfa<strong>ch</strong>e Prüfung (subjektive Zulassungsvoraussetzung) für<br />
die Freiheitsbeeinträ<strong>ch</strong>tigung weniger intensiv sein als dauernde Kontrollen (Berufsausübungsregelung).<br />
Verstanden als typisierende Verallgemeinerung, von<br />
der Ausnahmefälle ausgenommen werden können, ist die Stufung aber dur<strong>ch</strong>aus<br />
zutreffend.<br />
An den unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Eingriffsmodi wird deutli<strong>ch</strong>, daß es für die<br />
S<strong>ch</strong>utzintensität unter anderem auf die Berufsbildlehre ankommt, also darauf,<br />
ob es si<strong>ch</strong> bei der berufli<strong>ch</strong>en Betätigung, die dem betroffenen Grundre<strong>ch</strong>tsträger<br />
verwehrt wird, um einen eigenständigen Beruf handelt (dann Zulassungsregelung)<br />
oder nur um eine Einzeltätigkeit innerhalb eines weiter zu verstehenden<br />
Berufsbildes (dann Ausübungsregelung). Hierzu gilt na<strong>ch</strong> der Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung<br />
des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts, daß es einerseits kein freies Berufserfindungsre<strong>ch</strong>t<br />
der Bürger gibt, andererseits aber au<strong>ch</strong> neue Berufe ohne lange Tradition<br />
als eigenständige Berufsbilder anerkannt werden müssen. Im Ergebnis herrs<strong>ch</strong>t<br />
weitgehende Einigkeit, daß der Gesetzgeber die Mögli<strong>ch</strong>keit zur Fixierung von<br />
Berufsbildern hat. Wenn er also gesetzli<strong>ch</strong> festlegt, wel<strong>ch</strong>em Tätigkeitsprofil ein<br />
Apotheker, S<strong>ch</strong>ornsteinfeger oder Bäcker genügen muß, dann steht es den<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsträgern ni<strong>ch</strong>t frei, die Berufe des ʹni<strong>ch</strong>takademis<strong>ch</strong>en Apothekersʹ,<br />
ʹweißgekleideten S<strong>ch</strong>ornsteinfegersʹ oder ʹGelegenheitsbäckersʹ als eigenständige<br />
Berufe verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> geltend zu ma<strong>ch</strong>en. Selbst bei dieser re<strong>ch</strong>tsunterstützten<br />
Abgrenzung bleiben aber zahlrei<strong>ch</strong>e Grenzfälle (z.B. Kassenarzt).<br />
Die in Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts (Art. 12 I 2 GG) ergehenden<br />
Gesetze identifiziert man dana<strong>ch</strong>, ob sie Bestimmungen mit berufsregelnder<br />
Tendenz enthalten. Sol<strong>ch</strong>e gesetzli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ranken sind dann wie immer am<br />
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen, wobei dur<strong>ch</strong> die Dreistufentheorie<br />
zwei Modifikationen der Prüfungsfolge vorzunehmen sind (vgl. Fall 2: Taxiges<strong>ch</strong>äft<br />
155 ):
VI. Wirts<strong>ch</strong>aft und Kultur 101<br />
Verhältnismäßigkeit<br />
Geeignetheit:<br />
Mögli<strong>ch</strong>keit der Zweckförderung<br />
Dreistufentheorie<br />
(BVerfGE 7, 377)<br />
Geeignetheit:<br />
Mögli<strong>ch</strong>keit der Zweckförderung<br />
Erforderli<strong>ch</strong>keit:<br />
es darf kein glei<strong>ch</strong> wirksames,<br />
milderes Mittel geben (Eins<strong>ch</strong>ätzungsprärogative<br />
des Gesetzgebers)<br />
Angemessenheit:<br />
die Beeinträ<strong>ch</strong>tigung dur<strong>ch</strong> das<br />
Mittel darf zur Bedeutung des<br />
Zwecks ni<strong>ch</strong>t außer Verhältnis<br />
stehen (Güterabwägung)<br />
Erforderli<strong>ch</strong>keit:<br />
1. keine glei<strong>ch</strong> wirksame Regelung auf niedrigerer<br />
Eingriffsstufe<br />
2. au<strong>ch</strong> sonst kein glei<strong>ch</strong> wirksames, milderes<br />
Mittel auf derselben Eingriffsstufe<br />
Angemessenheit:<br />
innerhalb der Güterabwägung (Mittel-<br />
Zweck-Relation) bedarf es eines besonders<br />
qualifizierten Zwecks:<br />
• Berufsausübungsregelung:<br />
vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls<br />
• Subjektive Zulassungsvoraussetzung:<br />
zwingendes Erfordernis zum S<strong>ch</strong>utz besonders<br />
wi<strong>ch</strong>tiger Gemeins<strong>ch</strong>aftsgüter<br />
• Objektive Zulassungsbes<strong>ch</strong>ränkung:<br />
S<strong>ch</strong>utz überragend wi<strong>ch</strong>tiger Gemeins<strong>ch</strong>aftsgüter<br />
gegen na<strong>ch</strong>weisbare oder<br />
hö<strong>ch</strong>stwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>e s<strong>ch</strong>were Gefahren<br />
Die erste Modifikation erweitert die Erforderli<strong>ch</strong>keitsprüfung, denn ein Mittel<br />
auf niedrigerer Eingriffsstufe (z.B. Gewerbekontrolle statt Gesellenprüfung) ist<br />
typis<strong>ch</strong>erweise ein milderes Mittel; im übrigen kann si<strong>ch</strong> dana<strong>ch</strong> die Su<strong>ch</strong>e auf<br />
mildere Alternativen derselben Eingriffsart bes<strong>ch</strong>ränken (z.B. angekündigte statt<br />
unangekündigte Gewerbekontrolle). Die zweite Modifikation führt im Rahmen<br />
der Angemessenheit die S<strong>ch</strong>utzintensität in die Güterabwägung ein. Es gäbe<br />
au<strong>ch</strong> die Mögli<strong>ch</strong>keit, die Qualifizierung des Zwecks glei<strong>ch</strong> an den Anfang zu<br />
stellen, do<strong>ch</strong> hätte das den Na<strong>ch</strong>teil, daß es bei der Berufsfreiheit anders als bei<br />
anderen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n 24 vorab zu einer Zweckprüfung in abstracto käme. Au<strong>ch</strong><br />
das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t verbindet in den jüngeren Judikaten die Zweckqualifizierung<br />
mit der Güterabwägung.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Apothekenzulassung, Kassenarztzulassung,<br />
Studienplatzvergabe.
102<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
2. Eigentumsre<strong>ch</strong>t (Art. 14 I GG)<br />
Artikel 14<br />
(1) 1 Das Eigentum und das Erbre<strong>ch</strong>t werden gewährleistet. 2 Inhalt und<br />
S<strong>ch</strong>ranken werden dur<strong>ch</strong> die Gesetze bestimmt.<br />
(2) 1 Eigentum verpfli<strong>ch</strong>tet. 2 Sein Gebrau<strong>ch</strong> soll zuglei<strong>ch</strong> dem Wohle der Allgemeinheit<br />
dienen.<br />
(3) 1 Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. 2 Sie darf<br />
nur dur<strong>ch</strong> Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und<br />
Ausmaß der Ents<strong>ch</strong>ädigung regelt. 3 Die Ents<strong>ch</strong>ädigung ist unter gere<strong>ch</strong>ter<br />
Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen.<br />
4 Wegen der Höhe der Ents<strong>ch</strong>ädigung steht im Streitfalle der<br />
Re<strong>ch</strong>tsweg vor den ordentli<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>ten offen.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 24, 367 – Hamburger Dei<strong>ch</strong>ordnung; 52,<br />
1 – Kleingarten; 58, 137 – Pfli<strong>ch</strong>texemplar; 58, 300 – Naßauskiesung; 89, 1 –<br />
Besitzre<strong>ch</strong>t des Mieters; 93, 121 – Einheitswert; 95, 1 – Südumfahrung Stendal;<br />
97, 89 – Rückübereignungsanspru<strong>ch</strong>; 97, 350 – Euro; 99, 341 – Testierauss<strong>ch</strong>luß<br />
Taubstummer; 100, 226 – Denkmals<strong>ch</strong>utz; 102, 1 – Altlasten.<br />
Der verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Eigentumsbegriff geht über den privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
hinaus: er s<strong>ch</strong>ließt alle vermögenswerten Re<strong>ch</strong>te ein. Ges<strong>ch</strong>ützt sind außer absoluten<br />
Re<strong>ch</strong>ten (Sa<strong>ch</strong>eigentum, Hypotheken, Aktien) also au<strong>ch</strong> relative (zivilre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Ansprü<strong>ch</strong>e). Zum Eigentum gehören selbst die anerkannten Nutzungsre<strong>ch</strong>te<br />
(Grundstücksbebauung). Das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t hat sogar<br />
die Wohnungsnutzung dur<strong>ch</strong> Mieter als Eigentum im verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Sinne anerkannt (BVerfGE 68, 361 [367 ff.] – Eigenbedarf I; 79, 292 [301 ff.] – Eigenbedarf<br />
II). Insoweit liegt aber ein Sonder- und Grenzfall vor, weil normalerweise<br />
die Nutzung bewegli<strong>ch</strong>er Sa<strong>ch</strong>en zur allgemeinen Handlungsfreiheit zählt<br />
(vgl. BVerfGE 80, 137 [150 f.] – Reiten im Walde). Andererseits erfaßt Art. 14 I<br />
GG ni<strong>ch</strong>t das Vermögen als sol<strong>ch</strong>es: Abgaben 67 (Steuern, Gebühren, Beiträge)<br />
beeinträ<strong>ch</strong>tigen die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG), ni<strong>ch</strong>t das Eigentum.<br />
Bei eigentumsglei<strong>ch</strong>en öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Positionen gilt Art. 14 I GG<br />
ebenfalls (Steuerrückzahlung, Arbeitslosengeld). Vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
bisher offen gelassen, von der Literatur aber überwiegend bejaht wird die Frage,<br />
ob der eingeri<strong>ch</strong>tete und ausgeübte Gewerbebetrieb au<strong>ch</strong> dazu gehört, wobei<br />
das no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Erworbene (Verdienstmögli<strong>ch</strong>keiten, Gewinnerwartungen) jeden-
VI. Wirts<strong>ch</strong>aft und Kultur 103<br />
falls zur Berufsfreiheit 98 als insoweit sa<strong>ch</strong>näherem Grundre<strong>ch</strong>t 22 gehört. Als eines<br />
der wi<strong>ch</strong>tigsten Wirts<strong>ch</strong>aftsgrundre<strong>ch</strong>te kommt die Eigentumsfreiheit au<strong>ch</strong><br />
den juristis<strong>ch</strong>en Personen 57 zu.<br />
Das Erbre<strong>ch</strong>t umfaßt das Re<strong>ch</strong>t des Erblassers, sein Vermögen zu vererben<br />
(Testierfreiheit), und das Re<strong>ch</strong>t des Erben, diese Erbs<strong>ch</strong>aft zu erhalten. Juristis<strong>ch</strong>e<br />
Personen 57 können zwar erben, aber mangels Sterbensfähigkeit ni<strong>ch</strong>t vererben.<br />
Als S<strong>ch</strong>rankenklausel fungiert Art. 14 I 2 GG – Eingriffe müssen also wie bei Inhalts-<br />
und S<strong>ch</strong>rankenbestimmungen des Eigentums gere<strong>ch</strong>tfertig werden.<br />
Zu einem der s<strong>ch</strong>wierigsten <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> wird die Eigentumsfreiheit dur<strong>ch</strong><br />
ihre im Verglei<strong>ch</strong> komplizierte S<strong>ch</strong>rankendogmatik. Vereinfa<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en sind<br />
drei dogmatis<strong>ch</strong>e Unters<strong>ch</strong>iede festzustellen, von denen nur zwei wirkli<strong>ch</strong> zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er<br />
Behandlung führen: Zunä<strong>ch</strong>st ist das Eigentum als Institutsgarantie<br />
56 ein ausgestaltungsbedürftiges 28 Grundre<strong>ch</strong>t, d.h. abgesehen von einem vorpositiven<br />
Kern muß der Gesetzgeber erst einmal tätig werden, damit für den<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsträger einzelne Ansprü<strong>ch</strong>e aus dem Grundre<strong>ch</strong>t erwa<strong>ch</strong>sen – der<br />
Text von Art. 14 I 2 GG spiegelt diesen Umstand im Begriff der Inhaltsbestimmung<br />
wieder. Sodann kann das Eigentum im Einzelfall ganz normal beeinträ<strong>ch</strong>tigt<br />
werden, insbesondere au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> faktis<strong>ch</strong>en oder mittelbaren Eingriff 30 , ohne<br />
daß glei<strong>ch</strong> für alle Eigentümer die Re<strong>ch</strong>tslage verändert wird – der Gesetzesvorbehalt,<br />
mit dem dies eröffnet wird, verbirgt si<strong>ch</strong> hinter der S<strong>ch</strong>rankenbestimmung<br />
(Art. 14 I 2 GG). S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> kann das Eigentum im Einzelfall ganz entzogen<br />
werden: dann liegt eine Enteignung vor, entweder dur<strong>ch</strong> Gesetz (Legalenteignung)<br />
oder aufgrund Gesetzes dur<strong>ch</strong> die Verwaltung (Administrativenteignung)<br />
– hierfür gilt auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> der qualifizierte Gesetzesvorbehalt 32 in Art. 14<br />
III GG mit der Besonderheit der Junktimklausel (Art. 14 III 2 GG).<br />
Ausgestaltung und Eins<strong>ch</strong>ränkung sowie Inhalts- und S<strong>ch</strong>rankenbestimmung<br />
sind dogmatis<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t sauber zu unters<strong>ch</strong>eiden und werden darum glei<strong>ch</strong> behandelt:<br />
in jedem Fall gilt der Gesetzesvorbehalt des Art. 14 I 2 GG, argumentativ<br />
ergänzt um die Sozialbindungsklausel (Art. 14 II GG). Zwingend anders und<br />
deshalb strikt getrennt behandelt wird aber die Enteignung, wobei no<strong>ch</strong>mals genau<br />
zwis<strong>ch</strong>en Legal- und Administrativenteignung zu trennen ist (vgl. BVerfGE<br />
58, 300 [331 f.] – Naßauskiesung). Folgli<strong>ch</strong> muß jede guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Prüfung der<br />
Eigentumsfreiheit zunä<strong>ch</strong>st zwis<strong>ch</strong>en Inhalts- und S<strong>ch</strong>rankenbestimmung einerseits<br />
und Enteignung andererseits ents<strong>ch</strong>eiden – und diese Unters<strong>ch</strong>eidung ist<br />
leider überhaupt ni<strong>ch</strong>t einfa<strong>ch</strong>:<br />
Enteignung ist die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver<br />
Eigentumspositionen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 GG dur<strong>ch</strong> hoheitli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>tsakt zur Erfüllung bestimmter öffentli<strong>ch</strong>er Aufgaben. Von den Elementen<br />
dieser Definition sind im Normalfall alle unproblematis<strong>ch</strong>, bis auf die ʺEntzie-
104<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
hungʺ – dieses Element aber ist fast ni<strong>ch</strong>t zu subsumieren: liegt bei der Verpfli<strong>ch</strong>tung<br />
der Verleger, ein Exemplar von jeder Auflage kostenlos an die Deuts<strong>ch</strong>e<br />
Bibliothek zu s<strong>ch</strong>icken (BVerfGE 58, 137 – Pfli<strong>ch</strong>texemplar) nun eine Enteignung<br />
(weil das eine Bu<strong>ch</strong> ganz ʺentzogenʺ wird) oder eine Inhaltsbestimmung<br />
(weil für alle Bü<strong>ch</strong>er die Bes<strong>ch</strong>ränkung eingeführt wird, daß ein kleiner Anteil für<br />
kulturelle Zweck aufzugeben ist)? Man<strong>ch</strong>mal helfen hier materiale oder formale<br />
Daumenregeln: das große Gewi<strong>ch</strong>t oder die selektive Wirkung einer Beeinträ<strong>ch</strong>tigung<br />
spri<strong>ch</strong>t für ein ʺSonderopferʺ, was wiederum eine Enteignung indiziert;<br />
die abstrakt-generelle Regelung, bei der no<strong>ch</strong> etwas verbleibt, spri<strong>ch</strong>t für<br />
eine Inhaltsbestimmung; der konkret-individuelle Zugriff indiziert eine (Administrativ-)Enteignung.<br />
Ansonsten gilt: im Zweifel handelt es si<strong>ch</strong>, solange die Sa<strong>ch</strong>e<br />
oder das Re<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t vollständig entzogen werden, um eine bloße Inhaltsbestimmung<br />
– so z.B. au<strong>ch</strong> im erwähnten Pfli<strong>ch</strong>texemplarfall.<br />
Die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung von Inhalts- und S<strong>ch</strong>rankenbestimmungen<br />
(also bei den mit Abstand meisten Fällen) weist keine Besonderheiten<br />
auf: die S<strong>ch</strong>rankenklausel des Art. 14 I 2 GG muß dur<strong>ch</strong> ein gesetzli<strong>ch</strong>e<br />
S<strong>ch</strong>ranke konkretisiert werden, die ihrerseits am Maßstab der Verhältnismäßigkeit<br />
23 zu prüfen ist. In der Erforderli<strong>ch</strong>keit läßt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t die Ents<strong>ch</strong>ädigung als<br />
milderes Mittel fordern, weil diese wegen des höheren Aufwands für den Staat<br />
ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong> effizient wäre. In der Angemessenheit ist beim Gewi<strong>ch</strong>t des öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Interesses an der Bes<strong>ch</strong>ränkung stets darauf hinzuweisen, daß das Eigentum<br />
der Sozialbindung unterliegt (Art. 14 II GG; beim Grundeigentum insbesondere<br />
dur<strong>ch</strong> Situationsgebundenheit), andererseits aber die Garantie des Eigentumsgrundre<strong>ch</strong>ts<br />
von der Privatnützigkeit des Eigentums ausgeht. All dies<br />
sind S<strong>ch</strong>lagworte, die helfen, deutli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en, worum es bei der Abwägung<br />
im Rahmen von Art. 14 I GG geht: Allgemeinwohl und Individualinteresse<br />
müssen vom Gesetzgeber in ein no<strong>ch</strong> vertretbares (dem Eigentümer zumutbares)<br />
Verhältnis gebra<strong>ch</strong>t worden sein. In der Regel kein triftiges Argument ist, daß<br />
der Eigentümer auf den Fortbestand des geltenden Re<strong>ch</strong>ts vertraut, denn jeder<br />
muß damit re<strong>ch</strong>nen, daß der Gesetzgeber seinen Gestaltungsauftrag wahrnimmt.<br />
Eine wi<strong>ch</strong>tige Rolle spielt in der Abwägung der (ni<strong>ch</strong>t seltene!) Sonderfall einer<br />
ents<strong>ch</strong>ädigungspfli<strong>ch</strong>tigen Inhalts- und S<strong>ch</strong>rankenbestimmung. Bei dieser<br />
Fallkonstellation ist eine Bestimmung mit Ents<strong>ch</strong>ädiung no<strong>ch</strong> verhältnismäßig,<br />
übers<strong>ch</strong>reitet aber ohne Ents<strong>ch</strong>ädigung die Grenze des Zumutbaren. Dann kann<br />
man die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes ni<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> retten, daß man aus<br />
Art. 14 GG unmittelbar einen Ents<strong>ch</strong>ädigungsanspru<strong>ch</strong> ableitet – womögli<strong>ch</strong> gar<br />
aus dem für Enteignungen reservierten Absatz 3 (Fehlergefahr!). Viele Gesetze<br />
enthalten für sol<strong>ch</strong>e Fälle salvatoris<strong>ch</strong>e Klauseln, d.h. der Gesetzgeber s<strong>ch</strong>reibt<br />
von vorneherein vor, daß nur auf die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> zwingend erforderli-
VI. Wirts<strong>ch</strong>aft und Kultur 105<br />
<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>ädigung ein Anspru<strong>ch</strong> besteht. Ähnli<strong>ch</strong> liegt der Fall, wenn im Gesetz<br />
eine ʺangemesseneʺ Ents<strong>ch</strong>ädigung zugespro<strong>ch</strong>en wird, die Verwaltung aber einen<br />
zu geringen Betrag ansetzt. In beiden Fällen läßt si<strong>ch</strong> das Gesetz verfassungskonform<br />
auslegen und ist dann verfassungsgemäß; dem Eigentümer steht<br />
aus dem Gesetz (ni<strong>ch</strong>t: aus Art. 14 GG) ein Ents<strong>ch</strong>ädigungsanspru<strong>ch</strong> zu. S<strong>ch</strong>ließt<br />
das Gesetz hingegen eine Ents<strong>ch</strong>ädigung ausdrückli<strong>ch</strong> aus oder enthält es keine<br />
salvatoris<strong>ch</strong>e Klausel, so läßt es si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> verfassungskonforme Auslegung<br />
ni<strong>ch</strong>t retten. Ein Gesetz mit ents<strong>ch</strong>ädigungspfli<strong>ch</strong>tiger Eingriffsintensität ist dann<br />
verfassungswidrig, eine s<strong>ch</strong>on eingetretene Eigentumsbeeinträ<strong>ch</strong>tigung ist<br />
re<strong>ch</strong>tswidrig und der Eigentümer hat Anspru<strong>ch</strong> auf Ents<strong>ch</strong>ädigung aus enteignungsglei<strong>ch</strong>em<br />
Eingriff (Ri<strong>ch</strong>terre<strong>ch</strong>t; §§ 74, 75 Einl. ALR). Das Abwägungsergebnis<br />
einer ents<strong>ch</strong>ädigungspfli<strong>ch</strong>tigen Inhalts- und S<strong>ch</strong>rankenbestimmung darf<br />
aber ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on deshalb immer gewählt werden, weil si<strong>ch</strong> damit ein eleganter<br />
Mittelweg zwis<strong>ch</strong>en Allgemeinwohl und Individualinteresse ansteuern läßt:<br />
grundsätzli<strong>ch</strong> steht es dem Gesetzgeber zu, Umgestaltungen des eigentumsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Normenapparats au<strong>ch</strong> ohne Ents<strong>ch</strong>ädigungen vorzunehmen.<br />
Die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung von Enteignungen ist insoweit eine<br />
Besonderheit, als sie mit dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt 32 in Art. 14 III GG<br />
ausdrückli<strong>ch</strong> im Verfassungstext vorprogrammiert ist. Besonders die Junktimklausel<br />
(Art. 14 III 2 GG) gewährt dabei S<strong>ch</strong>utz: wenn die angemessene Ents<strong>ch</strong>ädigung<br />
(vgl. Art. 14 III 3 GG: gere<strong>ch</strong>te Abwägung) ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on im Enteignungsgesetz<br />
selbst geregelt wird, ist die Enteignung s<strong>ch</strong>on allein deshalb verfassungswidrig.<br />
Daß dann einfa<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ein unges<strong>ch</strong>riebener Ents<strong>ch</strong>ädigungsanspru<strong>ch</strong><br />
bestehen würde (enteignungsglei<strong>ch</strong>er Eingriff), ändert daran<br />
ni<strong>ch</strong>ts. Wegen des speziellen S<strong>ch</strong>utzes dur<strong>ch</strong> Art. 14 III GG findet das Verbot des<br />
Einzelfallgesetzes (Art. 19 I 1 GG) und das Zitiergebot 34 (Art. 19 I 2 GG) auf Enteignungsgesetze<br />
keine Anwendung.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Eigenbedarf, Pfli<strong>ch</strong>texemplar, Naßauskiesung.<br />
3. Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG)<br />
Artikel 9<br />
(1) ... – (2) ... [Vereinigungsfreiheit]<br />
(3) 1 Das Re<strong>ch</strong>t, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirts<strong>ch</strong>aftsbedingungen<br />
Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe<br />
gewährleistet. 2 Abreden, die dieses Re<strong>ch</strong>t eins<strong>ch</strong>ränken oder zu behin-
106<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
dern su<strong>ch</strong>en, sind ni<strong>ch</strong>tig, hierauf geri<strong>ch</strong>tete Maßnahmen sind re<strong>ch</strong>tswidrig.<br />
3 Maßnahmen na<strong>ch</strong> den Artikeln 12a, 35 Abs.2 und 3, Artikel 87a<br />
Abs.4 und Artikel 91 dürfen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gegen Arbeitskämpfe ri<strong>ch</strong>ten, die<br />
zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirts<strong>ch</strong>aftsbedingungen<br />
von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 19, 303 – Dortmunder Hauptbahnhof; 50,<br />
290 – Mitbestimmung; 84, 212 – Aussperrung; 88, 103 – Streikeinsatz von Beamten;<br />
92, 365 – Kurzarbeitergeld; 93, 352 – Mitgliederwerbung II; 100, 214 –<br />
Gewerks<strong>ch</strong>aftsauss<strong>ch</strong>luß; 100, 271 – Lohnabstandsklauseln.<br />
Die Koalition ist in Art. 9 III 1 GG definiert, wobei unges<strong>ch</strong>riebene Voraussetzung<br />
ist, daß die Vereinigung gegnerfrei organisiert ist, d.h. entweder nur aus<br />
Arbeitnehmern oder nur aus Arbeitgebern besteht. Au<strong>ch</strong> ein Mindestmaß an<br />
Dur<strong>ch</strong>setzungswillen und -kraft ist vorausgesetzt (Problem: Nonnenverein). Persönli<strong>ch</strong><br />
ges<strong>ch</strong>ützt ist jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitgeber, au<strong>ch</strong><br />
Ausländer 50 , Minderjährige 56 und juristis<strong>ch</strong>e Personen 57 . Wie bei der allgemeinen<br />
Vereinigungsfreiheit 88 gilt der S<strong>ch</strong>utz au<strong>ch</strong> der Koalition selbst (kollektive<br />
Koalitionsfreiheit). Sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ützt die negative Koalitionsfreiheit den Willensents<strong>ch</strong>luß,<br />
einer Koalition ni<strong>ch</strong>t beizutreten, sowie die Austrittsfreiheit. Zum<br />
positiven Gehalt gehört das Präsenzre<strong>ch</strong>t von Gewerks<strong>ch</strong>aften innerhalb der Betriebe<br />
sowie die Freiheit gewerks<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Betätigung eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> der Teilnahme<br />
an und Vorbereitung von Wahlen zu Betriebsräten und Personalvertretungen.<br />
Ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>ützt ist die allgemeinpolitis<strong>ch</strong>e Betätigung im Betrieb.<br />
Die Tarifautonomie und das Streikre<strong>ch</strong>t (auf Arbeitgeberseite: Aussperrungsre<strong>ch</strong>t)<br />
sind die wi<strong>ch</strong>tigsten Spezifika der Koalitionsfreiheit. Jede staatli<strong>ch</strong>e<br />
Intervention oder Zwangss<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>tung ist ein Eingriff in diese Re<strong>ch</strong>te. Die Koalitionsfreiheit<br />
genießt unter den Tarifparteien und gegenüber Dritten einen derart<br />
umfassenden Vorrang vor der Vertragsfreiheit, daß hier ein Beispiel von<br />
Horizontalwirkung 54 im Privatre<strong>ch</strong>t besteht, für das die Bezei<strong>ch</strong>nung ʺmittelbare<br />
Drittwirkungʺ54 unpassend ers<strong>ch</strong>eint. Die bereits im normgeprägten S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
angelegte gesetzli<strong>ch</strong>e Ausgestaltung 28 (d.h. hier: positive S<strong>ch</strong>affung und Bes<strong>ch</strong>reibung<br />
von Re<strong>ch</strong>ten, die an den Koalitionsstatus anknüpfen) kann au<strong>ch</strong><br />
dur<strong>ch</strong> Ri<strong>ch</strong>terre<strong>ch</strong>t erfolgen, muß aber wie immer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />
genügen. Mangels Gesetzesvorbehalts gelten bei Eingriffen ansonsten<br />
die immanenten S<strong>ch</strong>ranken 32 .<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Streik, Aussperrung, Tarifautonomie.
VI. Wirts<strong>ch</strong>aft und Kultur 107<br />
4. Kunstfreiheit (Art. 5 III 1 GG)<br />
Artikel 5<br />
(1) ...<br />
(2) ...<br />
(3) 1 Kunst ... [ist] frei. ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 30, 173 – Mephisto; 36, 321 – S<strong>ch</strong>allplatten;<br />
67, 213 – Ana<strong>ch</strong>ronistis<strong>ch</strong>er Zug; 75, 369 – Strauß-Karikatur; 77, 240 –<br />
Herrnburger Beri<strong>ch</strong>t; 81, 278 – Bundesflagge; 82, 1 – Hitler-T-Shirt; 83, 130 –<br />
Josephine Mutzenba<strong>ch</strong>er.<br />
Kunst läßt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t definieren. Bei gebotener weiter Auslegung sind jedenfalls<br />
alle traditionellen Tätigkeiten und Werktypen umfaßt (Malen, Bildhauen, Di<strong>ch</strong>ten;<br />
Karikatur, Skulptur, Theaterstück, Komposition, Bauwerk). Die Kunstfreiheit<br />
s<strong>ch</strong>ützt Werkberei<strong>ch</strong> und Wirkberei<strong>ch</strong>, also sowohl das reine künstleris<strong>ch</strong>e<br />
Handeln (Aktionskunst, Pantomime, Tanz) oder die Fertigung eines Kunstwerks<br />
als au<strong>ch</strong> die spätere Präsentation oder den Vertrieb (Werbung, Ausstellung).<br />
Insbesondere sind au<strong>ch</strong> anstößige oder umstrittene Inhalte vom sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> umfaßt (Pornographie, Karikatur), wobei allerdings bei Satire je<br />
na<strong>ch</strong> Lage des Falles häufig die Meinungsfreiheit das speziellere Grundre<strong>ch</strong>t ist.<br />
In der Prüfungspraxis ist es hilfrei<strong>ch</strong>, so zu prüfen, daß dem Vorbringen des<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsträgers entspro<strong>ch</strong>en wird: wer seine Satire oder Karikatur als Kunst<br />
geltend ma<strong>ch</strong>t, dem kann kaum begründet entgegengehalten werden, daß es si<strong>ch</strong><br />
objektiv ni<strong>ch</strong>t um Kunst handle. Geht es hingegen allein um eine politis<strong>ch</strong>e Aussage,<br />
ohne daß glei<strong>ch</strong>zeitig eine Verletzung von Art. 5 III 1 GG gerügt worden<br />
wäre, so besteht kein Anlaß, mehr als die Meinungsfreiheit zu prüfen.<br />
Der persönli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> erstreckt si<strong>ch</strong> auf alle an dem ges<strong>ch</strong>ützten<br />
Handeln Beteiligten, also außer dem Künstler au<strong>ch</strong> auf die Galeristen, Verleger,<br />
Filmproduzenten, selbst wenn diese juristis<strong>ch</strong>e Personen 57 sein sollten. Institutionelle<br />
Träger der Kunstfreiheit sind ferner die Kunst- und Musikho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulen,<br />
Theater und Museen; sie sind in Ausnahme von der Regel 59 hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> der<br />
Kunst selbst dann ges<strong>ch</strong>ützt, wenn es si<strong>ch</strong> um juristis<strong>ch</strong>e Personen des öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>ts 59 handelt. Zur verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigung gelten die<br />
immanenten S<strong>ch</strong>ranken 32 .<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Straßenmalerei, Jugends<strong>ch</strong>utz, Satire,<br />
Staatstheater.
108<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
5. Wissens<strong>ch</strong>aftsfreiheit (Art. 5 III GG)<br />
Artikel 5<br />
(1) ... – (2) ...<br />
(3) 1 ... Wissens<strong>ch</strong>aft, Fors<strong>ch</strong>ung und Lehre sind frei. 2 Die Freiheit der Lehre<br />
entbindet ni<strong>ch</strong>t von der Treue zur Verfassung.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 15, 256 – Universitäre Selbstverwaltung;<br />
35, 79 – Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulurteil; 47, 327 – Hessis<strong>ch</strong>es Universitätsgesetz; 51, 369 –<br />
Auflösungsgesetz; 55, 37 – Bremer Modell; 76, 1 – Familienna<strong>ch</strong>zug; 85, 360 –<br />
Akademie-Auflösung; 88, 129 – Promotionsbere<strong>ch</strong>tigung; 90, 1 – Jugendgefährdende<br />
S<strong>ch</strong>riften.<br />
Die Wissens<strong>ch</strong>aftsfreiheit umfaßt die auf wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Methode beruhenden<br />
Vorgänge beim Auffinden, Deuten und Weitergeben von Erkenntnissen. Da<br />
si<strong>ch</strong> wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Methoden und Vorgehensweisen ständig ändern, geht es<br />
letztli<strong>ch</strong> um die Ausri<strong>ch</strong>tung des Handelns: die systematis<strong>ch</strong>e Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> Wahrheit<br />
oder Ri<strong>ch</strong>tigkeit. Innerhalb der Wissens<strong>ch</strong>aft ist Fors<strong>ch</strong>ung der na<strong>ch</strong> Inhalt<br />
und Form ernsthafte und planmäßige Versu<strong>ch</strong>, Wahrheit oder Ri<strong>ch</strong>tigkeit zu ermitteln<br />
– sozusagen eine gesteigerte Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit (insbesondere: Universitätsfors<strong>ch</strong>ung);<br />
die Lehre ist die wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> fundierte Übermittlung der<br />
dur<strong>ch</strong> die Fors<strong>ch</strong>ung gewonnen Erkenntnisse (Universitätsvorlesung, ni<strong>ch</strong>t:<br />
S<strong>ch</strong>ulunterri<strong>ch</strong>t). Für die Prüfung des Grundre<strong>ch</strong>ts ist es unnötig, zwis<strong>ch</strong>en Fors<strong>ch</strong>ung<br />
und Wissens<strong>ch</strong>aft genau abzugrenzen; wenn ni<strong>ch</strong>t offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> Fors<strong>ch</strong>ung<br />
vorliegt, kann glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit gefragt werden. Der personelle<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> erfaßt außer Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ullehrern alle anderen eigenständig<br />
Tätigen, au<strong>ch</strong> Doktoranden und sogar Studierende (Laborpraktika), solange es<br />
ni<strong>ch</strong>t nur um das Lernen geht. Die Freiheit kommt au<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>en Personen 57<br />
zu; als Teil der Ausnahmetrias 59 au<strong>ch</strong> den öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Universitäten. Ges<strong>ch</strong>ützt<br />
ist dabei unter anderem die Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulautonomie (Fors<strong>ch</strong>ungss<strong>ch</strong>werpunkte,<br />
Lehrplanung, Promotion, Habilitation) eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> der akademis<strong>ch</strong>en<br />
Selbstverwaltung (Gruppenuniversität). Andererseits sind die Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulen<br />
au<strong>ch</strong> selbst grundre<strong>ch</strong>tsverpfli<strong>ch</strong>tet: einzelne Wissens<strong>ch</strong>aftler können<br />
si<strong>ch</strong> ihnen gegenüber auf das Grundre<strong>ch</strong>t berufen (Weisungsfreiheit, Grundausstattung).<br />
Zur verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigung der Wissens<strong>ch</strong>aftsfreiheit<br />
im allgemeinen gelten nur die immanenten S<strong>ch</strong>ranken 32 ; für die Lehrfreiheit gilt<br />
hingegen zusätzli<strong>ch</strong> die Treuepfli<strong>ch</strong>t (Art. 5 III 2 GG) als S<strong>ch</strong>rankenklausel.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Gente<strong>ch</strong>nik, Fros<strong>ch</strong>experimente, Vorlesungsboykott,<br />
Berufungszusagen.
VII. Verfahren 109<br />
VII. Verfahren<br />
Den Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>ten ist gemein, daß sie erstens untereinander nur<br />
s<strong>ch</strong>wer abgrenzbar sind und si<strong>ch</strong> zweitens meist auf unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Grundgesetzprinzipien<br />
stützen lassen (Verfahrensgehalt der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzip,<br />
einzelne Verfahrensgarantien, insbesondere die Re<strong>ch</strong>tsweggarantie<br />
des Art. 19 IV GG). Für die Prüfung folgt daraus, daß es müßig ist, im Guta<strong>ch</strong>ten<br />
lange Abgrenzungsdiskussionen zu führen. Als drittes Merkmal gilt – jedenfalls<br />
im Sonderfall der Prozeßgrundre<strong>ch</strong>te –, daß sie der Ausgestaltung 28 dur<strong>ch</strong> den<br />
Gesetzgeber bedürfen und (viertens) normtextli<strong>ch</strong> vorbehaltlos im Grundgesetz<br />
gewährleistet sind. Damit gelten zwar immanente S<strong>ch</strong>ranken 32 , soweit ein Eingriff<br />
vorliegt (selten), im Normalfall ist die gesetzli<strong>ch</strong>e Regelungen aber als Ausgestaltung<br />
anzusehen, weshalb ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on am Anfang der Prüfung na<strong>ch</strong> abwägungsrelevanten<br />
Verfassungsre<strong>ch</strong>tsgütern gesu<strong>ch</strong>t werden muß; sol<strong>ch</strong>e Güter<br />
kommen wenn überhaupt erst im Rahmen der Abwägung zur Spra<strong>ch</strong>e (vgl. vorbehaltlose<br />
ausgestaltungsbedürftige <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> 29 ). Fünftens s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> gelten<br />
die Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>te überwiegend au<strong>ch</strong> für diejenigen juristis<strong>ch</strong>en Personen<br />
57 , die sonst ni<strong>ch</strong>t grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigt wären (vgl. Art. 19 III GG: ausländis<strong>ch</strong>e,<br />
öffentli<strong>ch</strong>e-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e 59 ). Aus diesem letzten Punkt folgt, daß bei den Verfassungsbes<strong>ch</strong>werden<br />
aller juristis<strong>ch</strong>en Personen die Beteiligtenfähigkeit 42 mit einem<br />
kurzen Hinweis darauf bejaht werden kann, daß ihnen jedenfalls die Prozeßgrundre<strong>ch</strong>te<br />
zustehen.<br />
1. Re<strong>ch</strong>tsweggarantie (Art. 19 IV GG)<br />
Artikel 19<br />
(1) ... – (3) ...<br />
(4) 1 Wird jemand dur<strong>ch</strong> die öffentli<strong>ch</strong>e Gewalt in seinen Re<strong>ch</strong>ten verletzt, so<br />
steht ihm der Re<strong>ch</strong>tsweg offen. 2 Soweit eine andere Zuständigkeit ni<strong>ch</strong>t<br />
begründet ist, ist der ordentli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tsweg gegeben. 3 Artikel 10 Abs. 2<br />
Satz 2 bleibt unberührt.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 24, 33 – AKU-Bes<strong>ch</strong>luß; 35, 382 – Ausländerausweisung;<br />
61, 82 – Sasba<strong>ch</strong>; 84, 34 – Geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Prüfungskontrolle;<br />
85, 360 – Akademieauflösung; 94, 166 – Flughafenverfahren; 96, 27 – Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ungsanordnung<br />
I; 101, 106 – Akteneinsi<strong>ch</strong>tsre<strong>ch</strong>t.
110<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
Die Re<strong>ch</strong>tsweggarantie s<strong>ch</strong>ützt den Zugang zu Geri<strong>ch</strong>ten sowie die inhaltli<strong>ch</strong>e<br />
Kontrollierbarkeit der mögli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsverletzung. Bezügli<strong>ch</strong> des re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Gehörs 111 (Anhörung vor Geri<strong>ch</strong>t) enthält Art. 103 I GG eine Spezialregelung, die<br />
den Rückgriff auf Art. 19 IV GG auss<strong>ch</strong>ließt. Zumindest einige Gehalte des<br />
effektiven Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes 114 sind bereits in der Re<strong>ch</strong>tsweggarantie notwendig<br />
vorausgesetzt, weil ein bloßer Zugang ohne wirkli<strong>ch</strong>e Kontrollierbarkeit dem<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsträger ni<strong>ch</strong>ts nützen würde. Für die Organisation der Justiz ist das<br />
Re<strong>ch</strong>t auf den gesetzli<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>ter 111 allerdings spezieller (Art. 101 I 2 GG). Inhaltli<strong>ch</strong><br />
mit umfaßt ist der Anspru<strong>ch</strong> auf vollständige geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Na<strong>ch</strong>prüfung<br />
(au<strong>ch</strong>: unbestimmte Re<strong>ch</strong>tsbegriffe): Beurteilungsspielräume der Exekutive müssen<br />
demgegenüber gere<strong>ch</strong>tfertigt werden (Expertengremien, Prüfungssituationen,<br />
streitig: Prognoseents<strong>ch</strong>eidungen). Die Re<strong>ch</strong>tsweggarantie erlangt<br />
als inhaltli<strong>ch</strong>e Kontrollgarantie au<strong>ch</strong> Vorwirkungen auf das Verwaltungsverfahren,<br />
insbesondere auf das Widerspru<strong>ch</strong>sverfahren.<br />
Der persönli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> umfaßt all jene, denen eigene subjektive öffentli<strong>ch</strong>e<br />
Re<strong>ch</strong>te gegenüber der öffentli<strong>ch</strong>en Gewalt zukommen können, also zunä<strong>ch</strong>st<br />
alle potentiellen Grundre<strong>ch</strong>tsträger bis hin zu sol<strong>ch</strong>en juristis<strong>ch</strong>en Personen<br />
des öffentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts 59 , die ausnahmsweise 59 grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigt sind<br />
(z.B. Kir<strong>ch</strong>en, Rundfunkanstalten, Universitäten); außerdem aber au<strong>ch</strong> – weiter<br />
als na<strong>ch</strong> Art. 19 III GG 60 – alle ausländis<strong>ch</strong>en juristis<strong>ch</strong>en Personen 57 , wenn ihnen<br />
dur<strong>ch</strong> einfa<strong>ch</strong>es Gesetzesre<strong>ch</strong>t öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ansprü<strong>ch</strong>e zukommen, was<br />
fast immer der Fall ist (z.B. Anspru<strong>ch</strong> der ausländis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft auf Erteilung<br />
einer Baugenehmmigung für ihr inländis<strong>ch</strong>es Grundstück).<br />
S<strong>ch</strong>rankendogmatis<strong>ch</strong> ist die Re<strong>ch</strong>tsweggarantie ein vorbehaltloses ausgestaltungsbedürftiges<br />
Grundre<strong>ch</strong>t 29 .<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Asylverfahren, Präklusionsfristen, Prüfungsents<strong>ch</strong>eidungen.<br />
2. Anspru<strong>ch</strong> auf den gesetzli<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>ter (Art. 101 I 2 GG)<br />
Artikel 101<br />
(1) ... . 2 Niemand darf seinem gesetzli<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>ter entzogen werden.<br />
(2) ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 26, 186 – Ehrengeri<strong>ch</strong>tsbarkeit der<br />
Re<strong>ch</strong>tsanwälte; 82, 159 – Absatzfonds; 95, 322 – Spru<strong>ch</strong>gruppen.
VII. Verfahren 111<br />
Das Re<strong>ch</strong>t auf den gesetzli<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>ter ist ein Spezialfall des eigentli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on<br />
aus der Re<strong>ch</strong>tsweggarantie 110 folgenden Gebots grundre<strong>ch</strong>tskonformer Organisation<br />
und glei<strong>ch</strong>zeitig eine Konkretisierung des Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzips. Die Zuständigkeit<br />
muß im voraus abstrakt-generell festgelegt sein (Geri<strong>ch</strong>tsverfassung,<br />
Prozeßordnung, Ges<strong>ch</strong>äftsverteilungsplan). Au<strong>ch</strong> der EuGH 18 ist gesetzli<strong>ch</strong>er<br />
Ri<strong>ch</strong>ter, so daß eine grundsätzli<strong>ch</strong>e Verkennung des Europare<strong>ch</strong>ts als Verletzung<br />
der Vorlagepfli<strong>ch</strong>t gegen Art. 101 I 2 GG verstößt. Häufigster Streitfall ist die<br />
unri<strong>ch</strong>tige Besetzung von Spru<strong>ch</strong>körpern; mittelbar werden hier die Eignungsregeln<br />
für Ri<strong>ch</strong>ter verfassungsbes<strong>ch</strong>werdefähig (Art. 92, 97 GG: Qualifikation, Befangenheit).<br />
Persönli<strong>ch</strong> bere<strong>ch</strong>tigt sind – weiter als na<strong>ch</strong> Art. 19 III GG 60 – au<strong>ch</strong> sämtli<strong>ch</strong>e<br />
juristis<strong>ch</strong>en Personen 57 , selbst sol<strong>ch</strong>e, die ni<strong>ch</strong>t Grundre<strong>ch</strong>tsträger sein können<br />
(ausländis<strong>ch</strong>e, öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e), denn wenn der Staat ihnen den Re<strong>ch</strong>tsweg<br />
eröffnet, dann muß er dies au<strong>ch</strong> in re<strong>ch</strong>tsstaatskonformer Organisationsform tun.<br />
S<strong>ch</strong>rankendogmatis<strong>ch</strong> ist das Re<strong>ch</strong>t auf den gesetzli<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>ter ein vorbehaltloses<br />
ausgestaltungsbedürftiges Grundre<strong>ch</strong>t 29 .<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Vorlagepfli<strong>ch</strong>t, Spru<strong>ch</strong>körperbesetzung.<br />
3. Anspru<strong>ch</strong> auf re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Gehör (Art. 103 I GG)<br />
Artikel 103<br />
(1) Vor Geri<strong>ch</strong>t hat jedermann Anspru<strong>ch</strong> auf re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Gehör.<br />
(2) ... – (3) ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 55, 72 – Präklusion im Zivilprozeß; 57,<br />
250 – V-Mann; 79, 51 – Sorgere<strong>ch</strong>tsprozeß; 86, 133 – Untersu<strong>ch</strong>ungshaft.<br />
Der Anspru<strong>ch</strong> auf re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Gehör ist in der Praxis äußerst wi<strong>ch</strong>tig, weil er (gerade<br />
in Strafverfahren) häufig den Ausgangspunkt für Revision und Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
bildet. Etwa 40% der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werden stützen si<strong>ch</strong><br />
allein auf die Verletzung von Art. 103 I GG, weitere 20% tun dies in Kombination<br />
mit materiellre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Rügen. Im Staatsexamen kommt das Grundre<strong>ch</strong>t hingegen<br />
selten vor. Wegen seiner vorpositiven Gehalte (audiatur et altera pars) spri<strong>ch</strong>t<br />
man au<strong>ch</strong> vom prozessualen ʺUrre<strong>ch</strong>tʺ.<br />
Gegenüber den inhaltli<strong>ch</strong>en Kontrollgeboten der Re<strong>ch</strong>tsweggarantie 110 und<br />
den übrigen Geboten des effektiven Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes 114 ist das Gehörsre<strong>ch</strong>t insoweit<br />
lex specialis, als es um die Ermögli<strong>ch</strong>ung einer aktiven Teilhabe und Mit-
112<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
gestaltung des Verfahrens geht (Informationsanspru<strong>ch</strong>, Hinweispfli<strong>ch</strong>ten, Überras<strong>ch</strong>ungsverbot,<br />
Verwertungsverbot, Akteneinsi<strong>ch</strong>t, Zustellung, Ladung, Prozeßkostenhilfe,<br />
Äußerungsre<strong>ch</strong>t, Re<strong>ch</strong>t des Angeklagten auf das letzte Wort).<br />
Umstritten ist, ob au<strong>ch</strong> die anwaltli<strong>ch</strong>e Vertretung unter Art. 103 I 1 GG fällt.<br />
Ähnli<strong>ch</strong> steht es mit dem Re<strong>ch</strong>t auf einen Dolmets<strong>ch</strong>er: dieses wird von der früheren<br />
Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung no<strong>ch</strong> dem Gebot fairen Verfahrens 114 zuges<strong>ch</strong>lagen. Die<br />
Problematik von Präklusionsfristen gehört zum effektiven Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz 114 . Persönli<strong>ch</strong><br />
bere<strong>ch</strong>tigt sind alle Verfahrensbeteiligten, also au<strong>ch</strong> ausländis<strong>ch</strong>e oder öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
juristis<strong>ch</strong>e Personen 57 (weiter als Art. 19 III GG 60 ). Für Betroffene<br />
außerhalb des Verfahrens kann ein Re<strong>ch</strong>t auf Beteiligung aus dem Gehörsanspru<strong>ch</strong><br />
folgen (Väter ni<strong>ch</strong>teheli<strong>ch</strong>er Kinder im Adoptionsverfahren).<br />
S<strong>ch</strong>rankendogmatis<strong>ch</strong> ist der Anspru<strong>ch</strong> auf re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Gehör ein vorbehaltloses<br />
ausgestaltungsbedürftiges Grundre<strong>ch</strong>t 29 ; e<strong>ch</strong>te Eingriffe, die dann dur<strong>ch</strong><br />
verfassungsimmanente S<strong>ch</strong>ranken gere<strong>ch</strong>tfertigt werden müssen, gibt es allenfalls<br />
bei Bes<strong>ch</strong>ränkungen des Akteneinsi<strong>ch</strong>tsre<strong>ch</strong>ts.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Öffentli<strong>ch</strong>e Zustellung, Hinweispfli<strong>ch</strong>ten,<br />
s<strong>ch</strong>lafender Ri<strong>ch</strong>ter.<br />
4. Nulla poena sine lege (Art. 103 II GG)<br />
Artikel 103<br />
(1) ...<br />
(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzli<strong>ch</strong>e bestimmt<br />
war, bevor die Tat begangen wurde.<br />
(3) ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 25, 269 – Verjährungsverlängerung; 71,<br />
108 – Anti-Atomplakette; 92, 1 – Sitzblockaden; 92, 277 – DDR-Spionage; 95,<br />
96 – Mauers<strong>ch</strong>ützen.<br />
Der nulla poena-Grundsatz setzt ein ges<strong>ch</strong>riebenes, bestimmtes und vorgängiges<br />
Strafgesetz für jede Strafe voraus (lege scripta certa praevia) und etabliert damit ein<br />
absolutes Rückwirkungsverbot. Au<strong>ch</strong> das Ordnungswidrigkeitenre<strong>ch</strong>t ist vom<br />
verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Begriff der Strafe umfaßt und bei Art. 103 II GG – im Gegensatz<br />
zum Verbot der Mehrfa<strong>ch</strong>bestrafung 113 – sogar das Disziplinar- und<br />
Standesre<strong>ch</strong>t. Keine Strafen sind hingegen präventive Maßnahmen (Polizei) oder<br />
zivilre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Folgen (S<strong>ch</strong>adensersatzpfli<strong>ch</strong>t). Inhaltli<strong>ch</strong> führt der Grundsatz zu<br />
einem Analogieverbot, soweit si<strong>ch</strong> die Analogie strafs<strong>ch</strong>ärfend auswirken würde
VII. Verfahren 113<br />
– etwa au<strong>ch</strong> bei na<strong>ch</strong>trägli<strong>ch</strong>er Eins<strong>ch</strong>ränkung von Re<strong>ch</strong>tsfertigungs- oder Ents<strong>ch</strong>uldigungstatbeständen.<br />
Strafmildernde Analogien, teleologis<strong>ch</strong>e Reduktionen<br />
oder Gesetzesänderungen sind hingegen au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>trägli<strong>ch</strong> ohne weiteres<br />
zulässig, weil sie der S<strong>ch</strong>utzri<strong>ch</strong>tung des Grundsatzes ni<strong>ch</strong>t widerspre<strong>ch</strong>en.<br />
Sehr umstritten sind die Mauers<strong>ch</strong>ützenfälle, bei denen die Strafgeri<strong>ch</strong>te mit<br />
Billigung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts im Ergebnis dur<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>trägli<strong>ch</strong>e Aberkennung<br />
der DDR-Re<strong>ch</strong>tfertigungsgründe eine Strafbarkeit begründet haben.<br />
Selbst dur<strong>ch</strong> verfassungsimmanente S<strong>ch</strong>ranken 32 ist eine sol<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung<br />
ohne eine Verfassungsänderung des Art. 103 II GG ni<strong>ch</strong>t zu re<strong>ch</strong>tfertigen.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Mauers<strong>ch</strong>ützen, Gewaltbegriff des Nötigungstatbestands,<br />
Verjährung.<br />
5. Ne bis in idem (Art. 103 III GG)<br />
Artikel 103<br />
(1) ...<br />
(2) ...<br />
(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze<br />
mehrmals bestraft werden.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidung: BVerfGE 23, 191 – Zeugen Jehovas.<br />
Das Verbot der Mehrfa<strong>ch</strong>bestrafung enthält einen verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Begriff<br />
der ʹTatʹ, der von dem einfa<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en des Strafgesetzbu<strong>ch</strong>es grundsätzli<strong>ch</strong><br />
unabhängig zu beurteilen ist. Zu den Strafgesetzen zählen zwar das Kernstrafre<strong>ch</strong>t<br />
(StGB) und das Nebenstrafre<strong>ch</strong>t, anders als bei nulla poena sine lege 112<br />
aber ni<strong>ch</strong>t das Disziplinar- oder Standesre<strong>ch</strong>t und au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t das Ordnungswidrigkeitenre<strong>ch</strong>t.<br />
Im sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 103 III GG tritt eine Sperrwirkung<br />
ein, d.h. der Verbrau<strong>ch</strong> der Strafklage sowie ein Verbot neuerli<strong>ch</strong>er<br />
Strafverfolgung. Ni<strong>ch</strong>t vom S<strong>ch</strong>utz erfaßt sind ausländis<strong>ch</strong>e Strafurteile. Umstritten<br />
ist die Sperrwirkung bei Strafbefehlen: das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
hat den Grundsatz ursprüngli<strong>ch</strong> auf sie ni<strong>ch</strong>t angewendet, später aber festgestellt,<br />
daß au<strong>ch</strong> die Re<strong>ch</strong>tskraft des Strafbefehls einer erneuten Verfolgung entgegenstehe.<br />
Für Eins<strong>ch</strong>ränkungen des Verbots gelten die immanenten S<strong>ch</strong>ranken 32 .<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Re<strong>ch</strong>tskraft, Strafbefehle.
114<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
6. Fairneß (Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzip i.V.m. Art. 2 I GG)<br />
Das Gebot des fairen Verfahrens ist ein Sammelbecken für all jene Verfahrensre<strong>ch</strong>te,<br />
die zwar (unges<strong>ch</strong>rieben) verfassungskräftig gelten, si<strong>ch</strong> aber ni<strong>ch</strong>t ohne<br />
weiteres den speziellen Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>ten zuordnen lassen. Gemeinhin<br />
zählt man dazu die prozessuale Waffenglei<strong>ch</strong>heit, das Re<strong>ch</strong>t auf einen<br />
(Wahl-)Verteidiger als Beistand, die Uns<strong>ch</strong>uldsvermutung, den Vertrauenss<strong>ch</strong>utz<br />
und den S<strong>ch</strong>utz vor überlangen (Straf-)Verfahren. Man<strong>ch</strong>mal werden<br />
hier au<strong>ch</strong> das Gebot einer s<strong>ch</strong>uldangemessenen Strafe und einzelne Modalitäten<br />
der Beweisaufnahme verortet. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> gibt es Stimmen, die insgesamt das<br />
Gebot effektiven Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes 114 – au<strong>ch</strong> in zivilre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Streitigkeiten – als<br />
Teil der Fairneß im Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzip verankert sehen.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Verteidigungsre<strong>ch</strong>t, Waffenglei<strong>ch</strong>heit.<br />
7. Effektiver Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz (Einzelgrundre<strong>ch</strong>te, Re<strong>ch</strong>tsweggarantie, Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzip)<br />
Das Gebot des effektiven Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes wurde vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
zu einem Gebot lückenloser und tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> wirksamer geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Kontrolle<br />
erweitert (vgl. BVerfGE 25, 352 [364] – Gnadengesu<strong>ch</strong>). Das Geri<strong>ch</strong>t verortet das<br />
Gebot teils bei den einzelnen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n (vgl. BVerfGE 53, 30 [65] – Mülheim-<br />
Kärli<strong>ch</strong>), teils in der Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzgarantie des Artikel 19 IV GG (vgl. BVerfGE 65,<br />
1 [69 f.] – Volkszählung), ohne daß bisher eine überzeugende Abgrenzung gelungen<br />
wäre. In jüngeren Ents<strong>ch</strong>eidungen differenziert der Erste Senat – anders als<br />
die Literatur – dazu ausdrückli<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en Verfahrensregelungen, die bei jedem<br />
Klagebegehren Bedeutung haben (dann Art. 19 IV GG) und sol<strong>ch</strong>en, die im Interesse<br />
bestimmter Grundre<strong>ch</strong>tsgarantien geboten sind (BVerfG NJW 2000, 1175<br />
[1176]). In der Literatur werden teils Gehalte, die wie das Gebot fairen Verfahrens<br />
114 zum Re<strong>ch</strong>tsstaatsprinzip gezählt werden könnten, dem effektiven Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz<br />
zuges<strong>ch</strong>lagen.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Verfahrensbes<strong>ch</strong>leunigung, Re<strong>ch</strong>tsmittelbes<strong>ch</strong>ränkung.
VIII. Allgemeiner Glei<strong>ch</strong>heitssatz 115<br />
VIII.Allgemeiner Glei<strong>ch</strong>heitssatz (Art. 3 I GG)<br />
Artikel 3<br />
(1) Alle Mens<strong>ch</strong>en sind vor dem Gesetz glei<strong>ch</strong>.<br />
(2) ... – (3) ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 9, 338 – Hebammenaltersgrenze; 55, 72 –<br />
Präklusion; 75, 108 – Künstlersozialversi<strong>ch</strong>erungsgesetz; 85, 264 – Parteienfinanzierung<br />
VI; 88, 87 – Transsexuelle; 92, 277 – Spionage für die DDR; 93, 121<br />
– Einheitswerte II; 96, 330 – BAföG-Volldarlehen; 97, 332 – Kindergartenbeiträge;<br />
99, 367 – Montan Mitbestimmung; 100, 195 – Einheitswerte III.<br />
Der allgemeine Glei<strong>ch</strong>heitssatz verbietet, wesentli<strong>ch</strong> Glei<strong>ch</strong>es willkürli<strong>ch</strong> unglei<strong>ch</strong><br />
oder wesentli<strong>ch</strong> Unglei<strong>ch</strong>es wesentli<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong> zu behandeln. Diese<br />
Willkürformel 36 drückt eine der beiden Prüfungsvarianten aus, mit denen die<br />
Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung 36 dur<strong>ch</strong>geführt wird. Während bei Freiheitsre<strong>ch</strong>ten<br />
meist spezielle Gebote eins<strong>ch</strong>lägig sind, ist in der Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung der<br />
allgemeine Glei<strong>ch</strong>heitssatz des Art. 3 I GG gegenüber den speziellen Diskriminierungsverboten<br />
dominant.<br />
Eine häufige, aber lei<strong>ch</strong>t vermeidbare Fehleins<strong>ch</strong>ätzung des sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>es von Art. 3 I GG besteht darin, die Unglei<strong>ch</strong>behandlung dur<strong>ch</strong><br />
vers<strong>ch</strong>iedene Träger der öffentli<strong>ch</strong>en Gewalt zu rügen (z.B. vers<strong>ch</strong>iedene Bundesländer<br />
oder Gemeinden, unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Geri<strong>ch</strong>te): insoweit fehlt es bereits<br />
an der Anwendbarkeit des Glei<strong>ch</strong>heitssatzes, weil diese (föderative, kommunale,<br />
prozessuale) Vielfalt dur<strong>ch</strong> die Kompetenzordnung des Grundgesetzes bewußt<br />
in Kauf genommen wird. Im Ergebnis kontrolliert der Glei<strong>ch</strong>heitssatz also nur<br />
diejenigen Verglei<strong>ch</strong>sgruppen, die in den Kompetenzberei<strong>ch</strong> der handelnden<br />
Stelle fallen. Diese Selbstverständli<strong>ch</strong>keit muß si<strong>ch</strong>er beherrs<strong>ch</strong>t, aber guta<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
normalerweise überhaupt ni<strong>ch</strong>t erwähnt werden.<br />
Bei der Drittwirkung im Privatre<strong>ch</strong>t 54 ist das Glei<strong>ch</strong>behandlungsgebot im<br />
Ergebnis weitgehend dur<strong>ch</strong> die Privatautonomie 67 verdrängt. Allenfalls in exotis<strong>ch</strong>en<br />
Konstellationen (Kontrahierungszwang von Monopolisten) kann der<br />
Glei<strong>ch</strong>heitssatz au<strong>ch</strong> hier relevant werden.<br />
Das Verhältnis zu den Freiheitsre<strong>ch</strong>ten ist in Übers<strong>ch</strong>neidungsfällen häufig<br />
ein Problem, das zwar im Guta<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t erörtert wird, glei<strong>ch</strong>wohl aber gut<br />
überlegter Ents<strong>ch</strong>eidung bedarf. Grundsätzli<strong>ch</strong> gilt, daß diejenigen Beeinträ<strong>ch</strong>tigungen,<br />
die bereits unter Freiheitsgesi<strong>ch</strong>tspunkten geprüft wurden, ni<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong>-
116<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
mals unter Glei<strong>ch</strong>heitsgesi<strong>ch</strong>tspunkten aufgegriffen werden müssen. Das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
läßt im Gegenzug au<strong>ch</strong> die Freiheitsre<strong>ch</strong>tsprüfung zurücktreten,<br />
wenn der Fall eine stärkere sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Beziehung zu Glei<strong>ch</strong>heitsfragen<br />
aufweist, so daß dann Art. 3 I GG den einzigen Prüfungsmaßstab bildet. Gelegentli<strong>ch</strong><br />
wird innerhalb einer sol<strong>ch</strong>en Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung auf den besonderen<br />
S<strong>ch</strong>utzgehalt einzelner Freiheitsre<strong>ch</strong>te eingegangen (z.B. BVerfGE 82, 60 [86]<br />
– Steuerfreies Existenzminimum).<br />
Für die Prüfung ergeben si<strong>ch</strong> daraus drei Grundkonstellationen: Erstens –<br />
das ist der häufigste Fall – werden auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> Freiheitsre<strong>ch</strong>te geprüft, wenn<br />
die Aspekte der Unglei<strong>ch</strong>behandlung neben dem Eingriff in die Freiheit keine eigenständige<br />
Bes<strong>ch</strong>wer darstellen. Zweitens werden ausführli<strong>ch</strong> die Freiheitsre<strong>ch</strong>te<br />
und dana<strong>ch</strong> nur kurz die Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te geprüft, wenn neben der Freiheitsbes<strong>ch</strong>ränkung<br />
au<strong>ch</strong> eine Ungere<strong>ch</strong>tigkeit gegenüber anderen als eigenständige<br />
Bes<strong>ch</strong>wer gerügt wird:<br />
»... V ma<strong>ch</strong>t geltend, der Gesetzgeber dürfe das Verteilen von Flugblättern ni<strong>ch</strong>t bes<strong>ch</strong>ränken;<br />
er dürfe es jedenfalls ni<strong>ch</strong>t den politis<strong>ch</strong>en Parteien gestatten, während<br />
Ges<strong>ch</strong>äftsleute ausges<strong>ch</strong>lossen seien. ...«<br />
In sol<strong>ch</strong>en Fällen genügt es, mit der Willkürformel 36 zu arbeiten; stellt si<strong>ch</strong> dabei<br />
heraus, daß eine unzulässige Freiheitsbes<strong>ch</strong>ränkung vorliegt, so kann die Frage<br />
na<strong>ch</strong> dem sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Grund der Differenzierung (verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung)<br />
knapp verneint werden: eine Verletzung von Freiheitsre<strong>ch</strong>ten vermag<br />
keinerlei Re<strong>ch</strong>tfertigung für Unglei<strong>ch</strong>behandlungen zu bieten. Drittens s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
kann eine reine Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung geboten sein, wenn die gesamte<br />
Problematik darauf zuges<strong>ch</strong>nitten ist. In sol<strong>ch</strong>en Fällen sollte mit der neuen<br />
Formel 37 gearbeitet, also eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bezogen auf die Differenzierung<br />
dur<strong>ch</strong>geführt werden. Im Rahmen der Abwägung, ob das Mittel<br />
der Differenzierung zum Zweck der Differenzierung no<strong>ch</strong> in einem angemessenen<br />
Verhältnis steht, sind dann die Re<strong>ch</strong>tsgüter der Freiheitsgrundre<strong>ch</strong>te<br />
zwanglos mit einzubringen. Wird also beispielsweise eine staatli<strong>ch</strong>e Förderung<br />
der Heilbehandlung auf die Gruppe der Rentner bes<strong>ch</strong>ränkt, so fließt der hohe<br />
Rang der körperli<strong>ch</strong>en Unversehrtheit argumentativ in das Guta<strong>ch</strong>ten ein, weil er<br />
das Gewi<strong>ch</strong>t mitbestimmt, das die Differenzierung für die bena<strong>ch</strong>teiligten Jüngeren<br />
hat.<br />
Die Systemgere<strong>ch</strong>tigkeit ist ein besonderes Gebot des Glei<strong>ch</strong>heitssatzes, mit<br />
dem der Gesetzgeber an seinen eigenen Ents<strong>ch</strong>eidungen festgehalten wird: sobald<br />
er si<strong>ch</strong> in einem Sa<strong>ch</strong>berei<strong>ch</strong> für einzelne Differenzierungskriterien ents<strong>ch</strong>ieden<br />
hat, darf er ni<strong>ch</strong>t mehr ohne Grund von diesen abwei<strong>ch</strong>en. Von einem<br />
sol<strong>ch</strong>en selbst gesetzten Regelsystem kann es einerseits im Einzelfall begründete
VIII. Allgemeiner Glei<strong>ch</strong>heitssatz 117<br />
Ausnahmen geben, und es muß dem Gesetzgeber andererseits im Rahmen seiner<br />
Gestaltungshoheit stets mögli<strong>ch</strong> bleiben, insgesamt einen Systemwe<strong>ch</strong>sel einzuleiten.<br />
Ganz ähnli<strong>ch</strong> argumentiert man im Berei<strong>ch</strong> der Exekutive bei der Selbstbindung<br />
der Verwaltung, wobei allerdings aus dem Glei<strong>ch</strong>heitssatz kein Anspru<strong>ch</strong><br />
folgt, daß au<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tswidriges Verhalten wiederholt werden müßte (ʺkeine<br />
Glei<strong>ch</strong>heit im Unre<strong>ch</strong>tʺ).<br />
In Typisierungen, Paus<strong>ch</strong>alierungen und Sti<strong>ch</strong>tagsregelungen liegt der<br />
wohl häufigste sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Grund für geringfügige Unters<strong>ch</strong>iede bei der Behandlung<br />
von Gruppen und Ausnahmefällen. Im Interesse einer flexiblen und effizienten<br />
Wahrnehmung von Gestaltungsaufgaben kann es dem Gesetzgeber ni<strong>ch</strong>t<br />
aufgebürdet werden, für jeden Gruppenunters<strong>ch</strong>ied eine gesetzli<strong>ch</strong>e Sonderbehandlung<br />
und für jede Gesetzesänderung eine Übergangsregelung vorzusehen.<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Teilhabe an öffentli<strong>ch</strong>er Einri<strong>ch</strong>tung,<br />
Selbstbindung der Verwaltung.<br />
IX.<br />
Spezielle Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te<br />
1. Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung (Art. 3 II, III 1 GG)<br />
Artikel 3<br />
(1) ...<br />
(2) Männer und Frauen sind glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigt. Der Staat fördert die tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e<br />
Dur<strong>ch</strong>setzung der Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung von Frauen und Männern und<br />
wirkt auf die Beseitigung bestehender Na<strong>ch</strong>teile hin.<br />
(3) 1 Niemand darf wegen seines Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ts ... bena<strong>ch</strong>teiligt oder bevorzugt<br />
werden. ...<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 39, 196 – Beamtenpension; 48, 327 – Familiennamen;<br />
84, 9 – Ehenamen; 85, 191 – Na<strong>ch</strong>tarbeitsverbot.<br />
Das Gebot der Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung knüpft an das biologis<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t (sex)<br />
an, ni<strong>ch</strong>t an das soziale (gender). Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor,<br />
wenn die gesetzli<strong>ch</strong>e Regelung mit dem biologis<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e<br />
Re<strong>ch</strong>tsfolgen verbindet. Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine<br />
eigentli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tsneutral formulierte Regelung na<strong>ch</strong> der typis<strong>ch</strong>erweise unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
Betroffenheit von Männern und Frauen zur Unglei<strong>ch</strong>behandlung
118<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
führt (z.B. [fiktiv]: »die im Haushalt Tätigen sind von der gesetzli<strong>ch</strong>en Unfallversi<strong>ch</strong>erung<br />
ausgenommen«).<br />
Für die in Glei<strong>ch</strong>stellungsgesetzen geregelte Förderung von Frauen fungiert<br />
Satz 2 als besondere S<strong>ch</strong>rankenklausel, weil jede Förderung glei<strong>ch</strong>zeitig eine Diskriminierung<br />
von Männern im Sinne des Satzes 1 darstellt. Insoweit beanspru<strong>ch</strong>en<br />
Glei<strong>ch</strong>stellungsgesetze, die im Privatre<strong>ch</strong>t gelten, au<strong>ch</strong> Vorrang vor der<br />
Privatautonomie 67 . Keine Re<strong>ch</strong>tfertigung als Glei<strong>ch</strong>stellung können daraus aber<br />
die früher übli<strong>ch</strong>en Gesetze beanspru<strong>ch</strong>en, die als wohlmeinenden S<strong>ch</strong>utz von<br />
Frauen deren Bes<strong>ch</strong>ränkung betrieben haben (Paternalismus, z.B. Arbeitss<strong>ch</strong>utz,<br />
Na<strong>ch</strong>tarbeitsverbot).<br />
Die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung einer Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tsdifferenzierung<br />
kann abgesehen von den Glei<strong>ch</strong>stellungsgesetzen (Satz 2) nur ganz ausnahmsweise<br />
gelingen, wenn die Regelung eine Anknüpfung an das Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t zwingend<br />
erfordert (sog. strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung 26 ). Denkbar sind eigentli<strong>ch</strong><br />
nur Fälle, in denen S<strong>ch</strong>wangere um des S<strong>ch</strong>utzes ungeborenen Lebens 69 willen<br />
besonderen Regelungen unterworfen werden. Selbst hier wird die Diskriminierung<br />
regelmäßig nur dann angemessen sein, wenn für den Na<strong>ch</strong>teil ein angemessener<br />
Ausglei<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>affen wird (Lohnfortzahlung, Kündigungss<strong>ch</strong>utz).<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Glei<strong>ch</strong>stellungsbeauftragte, Quotenregelung,<br />
Na<strong>ch</strong>tarbeit.<br />
2. Differenzierungsverbote (Art. 3 III, 6 V GG)<br />
Artikel 3<br />
(1) ... – (2) ...<br />
(3) 1 Niemand darf wegen seines Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ts, seiner Abstammung, seiner<br />
Rasse, seiner Spra<strong>ch</strong>e, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner<br />
religiösen oder politis<strong>ch</strong>en Ans<strong>ch</strong>auungen bena<strong>ch</strong>teiligt oder bevorzugt<br />
werden. 2 Niemand darf wegen seiner Behinderung bena<strong>ch</strong>teiligt<br />
werden.<br />
Artikel 6<br />
(1) ... – (4) ...<br />
(5) Den uneheli<strong>ch</strong>en Kindern sind dur<strong>ch</strong> die Gesetzgebung die glei<strong>ch</strong>en Bedingungen<br />
für ihre leibli<strong>ch</strong>e und seelis<strong>ch</strong>e Entwicklung und ihre Stellung<br />
in der Gesells<strong>ch</strong>aft zu s<strong>ch</strong>affen wie den eheli<strong>ch</strong>en Kindern.
IX. Spezielle Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te 119<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 39, 334 – Extremistenbes<strong>ch</strong>luß; 47, 198 –<br />
Wahlwerbesendungen; 85, 191 – Na<strong>ch</strong>tarbeitsverbot; 92, 91 – Feuerwehrabgabe<br />
III; 96, 288 – Integrative Bes<strong>ch</strong>ulung.<br />
Unter den Differenzierungsverboten ist das Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t wie bei der Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung<br />
117 das biologis<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t und wird vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
zusammen mit Art. 3 II GG geprüft (vgl. 85, 191 [206 ff.] – Na<strong>ch</strong>tarbeitsverbot).<br />
Unter Abstammung versteht man die biologis<strong>ch</strong>e Verbindung zu den Vorfahren.<br />
Als Rasse werden Gruppierungen bezei<strong>ch</strong>net, die auf vermeintli<strong>ch</strong>en<br />
oder tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en biologis<strong>ch</strong> vererbbaren Unters<strong>ch</strong>ieden beruhen (Farbige, Juden,<br />
Sinti). Mit Heimat ist die örtli<strong>ch</strong>e Herkunft gemeint, die die persönli<strong>ch</strong>e<br />
Prägung mitbestimmt. Insoweit ist der Begriff anspru<strong>ch</strong>svoller als derjenige der<br />
Freizügigkeit 73 . Die Herkunft ist die ständis<strong>ch</strong>-soziale Abstammung und Zugehörigkeit,<br />
insbesondere vermittelt dur<strong>ch</strong> die soziale Stellung der Eltern. Mit<br />
Spra<strong>ch</strong>e ist die Primärspra<strong>ch</strong>e (Mutterspra<strong>ch</strong>e) gemeint. Glaube und religiöse<br />
Ans<strong>ch</strong>auungen umfassen wie bei der Glaubensfreiheit 95 alle Einstellungen, selbst<br />
areligiöse oder antireligiöse. Die Behinderung ist jede ni<strong>ch</strong>t nur vorübergehende<br />
Funktionsbeeinträ<strong>ch</strong>tigung. Mit uneheli<strong>ch</strong>en Kindern sind die ni<strong>ch</strong>teheli<strong>ch</strong>en<br />
gemeint.<br />
Abgesehen von der Behinderung verbietet Art. 3 III GG außer den Bena<strong>ch</strong>teiligungen<br />
au<strong>ch</strong> alle Bevorzugungen. Insgesamt gilt die strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
26 . Allerdings kann es im Gegensatz zur Glei<strong>ch</strong>behandlung von<br />
Mann und Frau vers<strong>ch</strong>iedene Konstellationen geben, in denen eine sol<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
vorstellbar ist (Abstammung im Erbre<strong>ch</strong>t). Au<strong>ch</strong> ohne gesetzli<strong>ch</strong>e Regelung<br />
verbieten si<strong>ch</strong> krasse Diskriminierungen in den Privatre<strong>ch</strong>tsverhältnissen<br />
(Betretungsverbote für Farbige, Mieterablehnung bei Juden) als Ausfluß der<br />
Drittwirkung 54 .<br />
3. Indigenat und öffentli<strong>ch</strong>er Dienst (Art. 33 I-III GG)<br />
Artikel 33<br />
(1) Jeder Deuts<strong>ch</strong>e hat in jedem Lande die glei<strong>ch</strong>en staatsbürgerli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>te<br />
und Pfli<strong>ch</strong>ten.<br />
(2) Jeder Deuts<strong>ch</strong>e hat na<strong>ch</strong> seiner Eignung, Befähigung und fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Leistung<br />
glei<strong>ch</strong>en Zugang zu jedem öffentli<strong>ch</strong>en Amte.<br />
(3) 1 Der Genuß bürgerli<strong>ch</strong>er und staatsbürgerli<strong>ch</strong>er Re<strong>ch</strong>te, die Zulassung zu<br />
öffentli<strong>ch</strong>en Ämtern sowie die im öffentli<strong>ch</strong>en Dienste erworbenen Re<strong>ch</strong>te<br />
sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. 2 Niemandem darf aus
120<br />
4. Kapitel: Einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsgewährleistungen<br />
seiner Zugehörigkeit oder Ni<strong>ch</strong>tzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse<br />
oder einer Weltans<strong>ch</strong>auung ein Na<strong>ch</strong>teil erwa<strong>ch</strong>sen.<br />
(4) ... – (5) ...<br />
Als Indigenat (Absatz 1) bezei<strong>ch</strong>net man in Anknüpfung an die ursprüngli<strong>ch</strong>e<br />
Glei<strong>ch</strong>behandlungsnorm in der Rei<strong>ch</strong>sverfassung von 1871 das Diskriminierungsverbot<br />
wegen der Landeszugehörigkeit. Im öffentli<strong>ch</strong>en Dienst ist die Garantie<br />
des glei<strong>ch</strong>en Ämterzugangs (Absatz 2) regelmäßig bei Konkurrentenklagen<br />
problematis<strong>ch</strong>, wenn es also um das spezielle Erfordernis der fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
Leistung (Fa<strong>ch</strong>wissen, praktis<strong>ch</strong>e Bewährung im Fa<strong>ch</strong>) oder um die allgemeineren<br />
Erfordernisse der Befähigung (Begabung, Allgemeinwissen, Lebenserfahrung)<br />
oder sonstigen Eignung (Körper, Charakter) geht. Die Ämterglei<strong>ch</strong>behandlung<br />
(Absatz 3) unabhängig vom Glauben ist praktis<strong>ch</strong> kaum relevant. Insgesamt<br />
gelten zur Re<strong>ch</strong>tfertigung die immanenten S<strong>ch</strong>ranken 32 .<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: Konkurrentenklage, Treuepfli<strong>ch</strong>t,<br />
Quotenregelung.<br />
4. Wahlre<strong>ch</strong>ts- und Parteienglei<strong>ch</strong>heit (Art. 38 GG)<br />
Artikel 38<br />
(1) 1 Die Abgeordneten des Deuts<strong>ch</strong>en Bundestages werden in allgemeiner,<br />
unmittelbarer, freier, glei<strong>ch</strong>er und geheimer Wahl gewählt. 2 Sie sind Vertreter<br />
des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen ni<strong>ch</strong>t gebunden<br />
und nur ihrem Gewissen unterworfen.<br />
(2) Wahlbere<strong>ch</strong>tigt ist, wer das a<strong>ch</strong>tzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar<br />
ist, wer das Alter errei<strong>ch</strong>t hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.<br />
(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.<br />
Wi<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>eidungen: BVerfGE 2, 1 – SRP-Urteil; 40, 296 – Abgeordnetendiäten;<br />
80, 188 – Wüppesahl; 82, 322 – Gesamtdeuts<strong>ch</strong>e Wahl; 89, 155 –<br />
Maastri<strong>ch</strong>t.<br />
Das Wahlre<strong>ch</strong>t umfaßt neben den anderen Wahlre<strong>ch</strong>tsgrundsätzen (Allgemeinheit,<br />
Unmittelbarkeit, Freiheit, Geheimheit) ein materielles Glei<strong>ch</strong>heitsgrundre<strong>ch</strong>t,<br />
die Wahlre<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>heit. Persönli<strong>ch</strong> gilt sie unmittelbar für Wählerinnen<br />
und Wähler, mittelbar au<strong>ch</strong> für die Parteien, denen sie ein Re<strong>ch</strong>t auf Chancenglei<strong>ch</strong>heit<br />
verbürgt. Der sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> umfaßt den gesamten Handlungszusammenhang<br />
von der Wahlvorbereitung bis zur Zuteilung der Mandate
IX. Spezielle Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te 121<br />
und Erstattung der Wahlkampfkosten (Wahlvors<strong>ch</strong>lag, Wahlwerbung u.v.m.).<br />
Analog zur strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung 26 gilt für Bes<strong>ch</strong>ränkungen der<br />
Wahlre<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>heit eine extensive Auslegung im Sinne strenger und formaler<br />
Glei<strong>ch</strong>heit. Als verfassungsimmanente S<strong>ch</strong>ranke kommt im Rahmen der Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
na<strong>ch</strong> der neuen Formel die Funktionsfähigkeit des Parlaments<br />
in Betra<strong>ch</strong>t, die in geringem Umfang Sperrklauseln re<strong>ch</strong>tfertigen kann<br />
(5%-Klausel). Der S<strong>ch</strong>utz nationaler und regionaler Minderheiten führt zu<br />
Grundmandatsklauseln; der Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
des Wahlre<strong>ch</strong>tssystems re<strong>ch</strong>tfertigt Überhangmandate. Dadur<strong>ch</strong> ändert si<strong>ch</strong> für<br />
die entweder ni<strong>ch</strong>t oder aber verstärkt berücksi<strong>ch</strong>tigten Stimmen der Erfolgswert.<br />
Gesetzesfest ist nur der glei<strong>ch</strong>e Zählwert der Stimmen (one man, one vote).<br />
Typis<strong>ch</strong>e Themen für Prüfungsfälle: 5%-Klausel, Wahlkampfkostenerstattung,<br />
Listenaufstellung.
5. Kapitel:<br />
Multiple-Choice-Fragen<br />
I. Fragen zur Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
Frage 1: Prüfungsreihenfolge 21<br />
Wel<strong>ch</strong>e Regel gilt für die Reihenfolge, in der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> geprüft werden sollten?<br />
1. Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te vor Freiheitsre<strong>ch</strong>ten.<br />
2. Allgemeine Re<strong>ch</strong>te vor speziellen Re<strong>ch</strong>ten.<br />
3. Spezielle Freiheitsre<strong>ch</strong>te zuerst.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, umgekehrt wäre es ri<strong>ch</strong>tig: Freiheitsre<strong>ch</strong>te vor Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>ten.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, umgekehrt wäre es ri<strong>ch</strong>tig: spezielle Re<strong>ch</strong>te vor allgemeinen<br />
Re<strong>ch</strong>ten.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig, wenn man Freiheits- vor Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>ten und spezielle vor<br />
allgemeinen Re<strong>ch</strong>ten prüft, dann führt das dazu, daß die speziellen<br />
Freiheitsre<strong>ch</strong>te ganz an den Anfang gehören.<br />
Frage 2: Sa<strong>ch</strong>nähe 22<br />
Wann spri<strong>ch</strong>t das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t von der Anwendung des sa<strong>ch</strong>näheren<br />
Grundre<strong>ch</strong>ts?<br />
1. Wenn ein Grundre<strong>ch</strong>t den Lebenssa<strong>ch</strong>verhalt spezifis<strong>ch</strong>er regelt und das<br />
andere deshalb zurücktritt.<br />
2. Wenn es das Eigentum auf das Erworbene und die Berufsfreiheit auf das<br />
zu Erwerbende anwendet.<br />
3. Wenn es ʺsa<strong>ch</strong>näherʺ ers<strong>ch</strong>eint, mehrere <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> nebeneinander anzuwenden.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, auf Sa<strong>ch</strong>nähe kommt es nur zwis<strong>ch</strong>en glei<strong>ch</strong> spezifis<strong>ch</strong>en<br />
Re<strong>ch</strong>ten an.<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tig, dies ist die wi<strong>ch</strong>tigste Konstellation, in der das Geri<strong>ch</strong>t mit<br />
ʺSa<strong>ch</strong>näheʺ argumentiert.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, die glei<strong>ch</strong>zeitige Anwendbarkeit mehrerer <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> nebeneinander<br />
heißt ʹIdealkonkurrenzʹ.
124<br />
5. Kapitel: Fragen zur Wiederholung<br />
Frage 3: Erforderli<strong>ch</strong>keit 23<br />
Ist die Erforderli<strong>ch</strong>keit gegeben, wenn dem Staat eine im Ergebnis ebenso wirkungsvolle,<br />
den Grundre<strong>ch</strong>tsträger aber erhebli<strong>ch</strong> weniger belastende Alternative<br />
zur Verfügung steht, die nur geringfügig teurer ist?<br />
1. Ja, weil teurere Maßnahmen weniger effizient und deshalb ni<strong>ch</strong>t ʺglei<strong>ch</strong><br />
wirksamʺ sind.<br />
2. Nein, denn das mildere Mittel ist im Ergebnis glei<strong>ch</strong> wirkungsvoll.<br />
3. Nein, denn ein geringfügiger Unters<strong>ch</strong>ied re<strong>ch</strong>tfertigt die zusätzli<strong>ch</strong>e Belastung<br />
des Grundre<strong>ch</strong>tsträgers ni<strong>ch</strong>t.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, es kommt ni<strong>ch</strong>t allein auf die Wirkung (Effektivität) an, sondern<br />
bei der Erforderli<strong>ch</strong>keit darf der Staat au<strong>ch</strong> berücksi<strong>ch</strong>tigen, wel<strong>ch</strong>en<br />
Aufwand (insbesondere: wel<strong>ch</strong>e Kosten) das Mittel verursa<strong>ch</strong>t<br />
(Effizienz).<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, diese (zutreffende) Abwägung gehört zur Angemessenheit<br />
(Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne), ni<strong>ch</strong>t zur Erforderli<strong>ch</strong>keit.<br />
Frage 4: Angemessenheit 24<br />
Was versteht man unter ʹAngemessenheitsprüfungʹ?<br />
1. Teil der Verhältnismäßigkeitsprüfung, bei dem kontrolliert wird, ob die<br />
hoheitli<strong>ch</strong>e Maßnahme den vom Staat verfolgten Zweck überhaupt fördern<br />
kann.<br />
2. Frage dana<strong>ch</strong>, ob es mildere Mittel gibt, mit denen der Zweck glei<strong>ch</strong> wirksam<br />
gefördert wird.<br />
3. Güterabwägung zwis<strong>ch</strong>en dem öffentli<strong>ch</strong>en Interesse an der Maßnahme<br />
einerseits und dem Interesse des betroffenen Grundre<strong>ch</strong>tsträgers andererseits.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, das ist die Geeignetheitsprüfung.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, das ist die Erforderli<strong>ch</strong>keitsprüfung.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig; andere Bezei<strong>ch</strong>nungen des Prüfungsteils lauten ʹVerhältnismäßigkeit<br />
im engeren Sinneʹ oder ʹZumutbarkeitʹ.<br />
Frage 5: Feststellung des Zwecks 24<br />
An wel<strong>ch</strong>er Stelle sollte man in der Verhältnismäßigkeitsprüfung den Zweck<br />
feststellen?<br />
1. Am Anfang der Verhältnismäßigkeitsprüfung, weil si<strong>ch</strong> der Gesetzgeber<br />
den Zweck ni<strong>ch</strong>t selbst aussu<strong>ch</strong>en kann, sondern die zulässigen Zwecke
I. Fragen zur Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung 125<br />
abs<strong>ch</strong>ließend dur<strong>ch</strong> die Grundre<strong>ch</strong>tsordnung des Grundgesetzes determiniert<br />
sind und deshalb als erstes kontrolliert werden müssen.<br />
2. Am Anfang der Verhältnismäßigkeitsprüfung, weil Geeignetheit, Erforderli<strong>ch</strong>keit<br />
und Angemessenheit nur bezügli<strong>ch</strong> eines konkreten Zweckes<br />
subsumierbar sind.<br />
3. Am Anfang der Angemessenheitsprüfung (Verhältnismäßigkeit im engeren<br />
Sinn), weil der Zweck in der Güterabwägung wi<strong>ch</strong>tig ist.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, die Festlegung des Zweckes ist grundsätzli<strong>ch</strong> Sa<strong>ch</strong>e des Gesetzgebers;<br />
es gibt keinen abs<strong>ch</strong>ließenden Kanon zulässiger Zwecke.<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, der Zweck ist s<strong>ch</strong>on vorher bei der Geeignetheits- und Erforderli<strong>ch</strong>keitsprüfung<br />
nötig.<br />
Frage 6: Praktis<strong>ch</strong>e Konkordanz 26<br />
Was ist ni<strong>ch</strong>t unter praktis<strong>ch</strong>er Konkordanz zu verstehen?<br />
1. Absoluter Vorrang eines Grundre<strong>ch</strong>ts vor einem anderen.<br />
2. Vereinbarkeit der Grundre<strong>ch</strong>tsgeltung bei kollidierenden <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n.<br />
3. Sonderfall des Verhältnismäßigkeitsprinzips.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig, der ʺs<strong>ch</strong>onendste Ausglei<strong>ch</strong>ʺ liegt gerade ni<strong>ch</strong>t im absoluten<br />
Vorrang eines Grundre<strong>ch</strong>ts vor dem anderen. Das ändert allerdings<br />
ni<strong>ch</strong>ts daran, daß im Einzelfall das Interesse eines Grundre<strong>ch</strong>tsträgers<br />
hinter dem des anderen Grundre<strong>ch</strong>tsträgers zurücksteht.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, genau dana<strong>ch</strong> wird bei der ʹpraktis<strong>ch</strong>en Konkordanzʹ gesu<strong>ch</strong>t.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, die praktis<strong>ch</strong>e Konkordanz ist tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> als ein sol<strong>ch</strong>er Sonderfall<br />
anzusehen.<br />
Frage 7: Gesetzesvorbehalte 32<br />
Was ist ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt?<br />
1. Eine S<strong>ch</strong>rankenklausel, die außer dem Tätigwerden des Gesetzgebers<br />
no<strong>ch</strong> andere Anforderungen an die Eins<strong>ch</strong>ränkung von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n<br />
stellt.<br />
2. Eine Bestimmung, na<strong>ch</strong> der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> dur<strong>ch</strong> Gesetz oder aufgrund eines<br />
Gesetzes einges<strong>ch</strong>ränkt werden können.<br />
3. <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> Dritter oder sonstige Re<strong>ch</strong>tsgüter mit Verfassungsrang.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig, etwa die S<strong>ch</strong>rankenklauseln der Meinungsfreiheit in Art. 5 II<br />
GG (allgemeine Gesetze, Jugends<strong>ch</strong>utz, Ehrens<strong>ch</strong>utz).<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, das ist der einfa<strong>ch</strong>e Gesetzesvorbehalt.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, das sind die verfassungsimmanenten S<strong>ch</strong>ranken 32 .
126<br />
5. Kapitel: Fragen zur Wiederholung<br />
Frage 8: Doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung 34<br />
Wann ist eine doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderli<strong>ch</strong>?<br />
1. Wenn s<strong>ch</strong>on die Angemessenheit des den Eingriff re<strong>ch</strong>tfertigenden Gesetzes<br />
ernsthaft bezweifelt werden kann, si<strong>ch</strong> dieses aber im Ergebnis als verfassungskonform<br />
erweist.<br />
2. Wenn der Eingriff unmittelbar kraft Gesetzes in <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> eingreift.<br />
3. Wenn es sowohl ein den Eingriff re<strong>ch</strong>tfertigendes Gesetz als au<strong>ch</strong> einen<br />
darauf gestützten Hoheitsakt gibt.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig, denn nur in diesem Fall kommt es auf die weitere Frage an,<br />
ob au<strong>ch</strong> die konkrete Anwendung des Gesetzes verhältnismäßig ist.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, bei dieser Konstellation gibt es keine gesetzeskonkretisierende<br />
Einzelmaßnahme, die neben dem Gesetz selbst geprüft werden könnte.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, denn die Prüfung ist unter Umständen s<strong>ch</strong>on mit der ersten<br />
Verhältnismäßigkeitsprüfung beendet, wenn si<strong>ch</strong> das Gesetzes bereits<br />
als verfassungswidrig erweist. Außerdem muß die Verhältnismäßigkeit<br />
der Norm nur geprüft werden, wenn ernsthafte Zweifel daran bestehen.<br />
Frage 9: Derivative Leistungsre<strong>ch</strong>te 36<br />
Was versteht man unter einem derivativen (abgeleiteten) Leistungsre<strong>ch</strong>t?<br />
1. Ein Re<strong>ch</strong>t, das zwar auf keiner Grundre<strong>ch</strong>tsnorm beruht, aber aus dem<br />
Sinn der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> insgesamt abgeleitet werden kann.<br />
2. Ein Re<strong>ch</strong>t, das aus dem Glei<strong>ch</strong>behandlungsgebot (Art. 3 I GG) abgeleitet<br />
ist.<br />
3. Ein Re<strong>ch</strong>t, das der Gesetzgeber aus den Staatszielbestimmungen abgeleitet<br />
hat.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, alle <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, selbst die ni<strong>ch</strong>t ausdrückli<strong>ch</strong> gewährleisteten,<br />
beruhen letztli<strong>ch</strong> auf einer Grundre<strong>ch</strong>tsnorm (z.B. informationelles<br />
Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>t 78 auf Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG).<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, die Re<strong>ch</strong>te, die der Gesetzgeber begründet, sind einfa<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Ansprü<strong>ch</strong>e, keine <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> (Beispiel: Sozialhilfeanspru<strong>ch</strong> als<br />
Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips).
II. Fragen zu allgemeinen Grundre<strong>ch</strong>tslehren 127<br />
II.<br />
Fragen zu allgemeinen Grundre<strong>ch</strong>tslehren<br />
Frage 10: Unionsbürgerre<strong>ch</strong>te 50<br />
Wel<strong>ch</strong>e der folgenden Meinungen wird für Unionsbürgerre<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t vertreten?<br />
1. Für Unionsbürger wird der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> von Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>ten<br />
erweiternd ausgelegt.<br />
2. Für Unionsbürger wird im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />
dasselbe S<strong>ch</strong>utzniveau garantiert wie bei Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>ten.<br />
3. Für Unionsbürger sind die Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>te wegen des Textänderungsgebots<br />
(Art. 79 I 1 GG) erst na<strong>ch</strong> einer Anpassung des Grundgesetzes<br />
anwendbar.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, dies ist eine der vertretenen Konstruktionen.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, dies ist eine der vertretenen Konstruktionen.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig, diese Auffassung wird deshalb ni<strong>ch</strong>t vertreten, weil Unionsbürgerre<strong>ch</strong>te<br />
auf den Grundfreiheiten und dem Diskriminierungsverbot<br />
des Primärre<strong>ch</strong>ts beruhen; dies führt über Art. 23 GG zu materiellen<br />
Verfassungsänderungen ohne Textänderung.<br />
Frage 11: Statuslehre 53<br />
Wel<strong>ch</strong>em status innerhalb der Statuslehre Jellineks ist die staatsbürgerli<strong>ch</strong>e<br />
Mitwirkung im Staat zuzure<strong>ch</strong>nen?<br />
1. Dem status negativus, weil es darum geht, S<strong>ch</strong>limmeres zu verhüten.<br />
2. Dem status positivus, weil Gestaltung, insbesondere Re<strong>ch</strong>tsetzung, positives<br />
Re<strong>ch</strong>t begründet.<br />
3. Dem status activus, weil Staatsbürgerre<strong>ch</strong>te ein aktives Handeln des Einzelnen<br />
si<strong>ch</strong>ern.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, status negativus ist betrifft die Abwehr gegenüber dem Staat.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, positives Re<strong>ch</strong>t ist jedes gesetzte Re<strong>ch</strong>t, der status positivus betrifft<br />
hingegen Ansprü<strong>ch</strong>e auf Tätigwerden des Staates.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig.
128<br />
5. Kapitel: Fragen zur Wiederholung<br />
Frage 12: Drittwirkung 54<br />
Was wird unter dem Titel ʹDrittwirkung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>ʹ als Problem der<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsdogmatik diskutiert?<br />
1. Die Bindung des Privatre<strong>ch</strong>tsgesetzgebers an die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>.<br />
2. Die Verpfli<strong>ch</strong>tung des Staates, privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Institute einzuri<strong>ch</strong>ten und<br />
in ihrem Fortbestand zu garantieren.<br />
3. Die Ausstrahlung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> auf die Re<strong>ch</strong>tsverhältnisse unter Privaten.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, diese Bindung ist unumstritten und unproblematis<strong>ch</strong>.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, diese Pfli<strong>ch</strong>t ist Ausdruck der Einri<strong>ch</strong>tungsgarantien.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig, alternativ kann dafür au<strong>ch</strong> die aussagekräftigere Bezei<strong>ch</strong>nung<br />
ʹHorizontalwirkungʹ verwendet werden.<br />
Frage 13: Objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Grundre<strong>ch</strong>tsdimension 54<br />
Wel<strong>ch</strong>e unter den folgenden Re<strong>ch</strong>ten oder Pfli<strong>ch</strong>ten zählen zur objektivre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsdimension?<br />
1. S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten<br />
2. Abwehransprü<strong>ch</strong>e<br />
3. Leistungsre<strong>ch</strong>te<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, dies ist die wi<strong>ch</strong>tigste subjektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Dimension.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, dies ist eine selten vorkommende, aber glei<strong>ch</strong>wohl subjektivre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Dimension.<br />
Frage 14: Institutionelle Garantien 56<br />
Wel<strong>ch</strong>e der folgenden Re<strong>ch</strong>tsfiguren bezei<strong>ch</strong>net man als institutionelle Garantien?<br />
1. Einri<strong>ch</strong>tungsgarantien<br />
2. Berufsbeamtentum und kommunale Selbstverwaltung<br />
3. Ehe und Familie<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, Einri<strong>ch</strong>tungsgarantien ist der Oberbegriff, zu dem außer den<br />
(öffentli<strong>ch</strong>e-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en) institutionellen Garantien au<strong>ch</strong> die (privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en)<br />
Institutsgarantien gere<strong>ch</strong>net werden.<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tig, institutionelle Garantien sind die Einri<strong>ch</strong>tungsgarantien, die<br />
im öffentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t verwirkli<strong>ch</strong>t werden müssen.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, dies sind Institutsgarantien, d.h. Einri<strong>ch</strong>tungsgarantien, die im<br />
Privatre<strong>ch</strong>t verwirkli<strong>ch</strong>t werden müssen.
II. Fragen zu allgemeinen Grundre<strong>ch</strong>tslehren 129<br />
Frage 15: Besondere Gewaltverhältnisse 56<br />
Wel<strong>ch</strong>e der folgenden Aussagen zur Grundre<strong>ch</strong>tsgeltung in Sonderstatusverhältnissen<br />
(S<strong>ch</strong>üler-, Beamten-, Strafgefangenenverhältnis) trifft zu?<br />
1. Die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> sind solange suspendiert, bis das besondere Gewaltverhältnis<br />
endet.<br />
2. Die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> gelten grundsätzli<strong>ch</strong>, aber aus den besonderen Umständen<br />
des Gewaltverhältnisses kann eine weitergehende Bes<strong>ch</strong>ränkung gere<strong>ch</strong>tfertigt<br />
sein.<br />
3. Die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> gelten und dürfen ni<strong>ch</strong>t stärker einges<strong>ch</strong>ränkt werden,<br />
als bei Personen ohne Sonderstatusverhältnis, weil sonst der allgemeine<br />
Glei<strong>ch</strong>heitssatz verletzt wäre.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, diese Ansi<strong>ch</strong>t wird heute ni<strong>ch</strong>t mehr vertreten.<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, das besondere Gewaltverhältnis ist ein sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Grund, der<br />
differenzierte Bes<strong>ch</strong>ränkungen re<strong>ch</strong>tfertigt.<br />
Frage 16: Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung Minderjähriger 56<br />
Wel<strong>ch</strong>e der folgenden Aussagen zur Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung Minderjähriger<br />
ist ri<strong>ch</strong>tig?<br />
1. Die Altersgrenze kann je na<strong>ch</strong> Grundre<strong>ch</strong>t, Einsi<strong>ch</strong>tsfähigkeit oder gesetzli<strong>ch</strong>er<br />
Regelung unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> sein.<br />
2. Die Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der individuellen<br />
Einsi<strong>ch</strong>tsfähigkeit der Minderjährigen.<br />
3. Die Altersgrenzen ergeben si<strong>ch</strong> aus der Verfassung, weil sonst der Gesetzgeber<br />
selbst über den Umfang seiner Grundre<strong>ch</strong>tsverpfli<strong>ch</strong>tung bestimmen<br />
könnte.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig, der Gesetzgeber ist zwar den <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n unterworfen, hat<br />
aber s<strong>ch</strong>on im Interesse der Re<strong>ch</strong>tssi<strong>ch</strong>erheit einen gewissen Spielraum,<br />
um die Bere<strong>ch</strong>tigung innerhalb verfassungskonformer Grenzen<br />
zu konkretisieren (Beispiel: Religionsmündigkeit, Ges<strong>ch</strong>äftsfähigkeit).<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, dies würde jede Altersgrenze auss<strong>ch</strong>ließen.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, denn die Verfassung enthält kaum Vorgaben; der Gesetzgeber<br />
hat einen Spielraum für verfassungskonforme Konkretisierungen.
130<br />
5. Kapitel: Fragen zur Wiederholung<br />
Frage 17: Juristis<strong>ch</strong>e Personen 57<br />
Wel<strong>ch</strong>e der folgenden Aussagen zur Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung juristis<strong>ch</strong>er Personen<br />
ist ri<strong>ch</strong>tig?<br />
1. Die Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> dana<strong>ch</strong>, ob die Vereinigung<br />
na<strong>ch</strong> den zivil- oder öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Regeln re<strong>ch</strong>tsfähig ist.<br />
2. Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigt sind sol<strong>ch</strong>e Personenmehrheiten, die mindestens<br />
den Organisationsgrad einer Gesells<strong>ch</strong>aft bürgerli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts aufweisen.<br />
3. Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigt sind alle Personenmehrheiten, glei<strong>ch</strong> ob sie re<strong>ch</strong>tsfähig<br />
oder ni<strong>ch</strong>t re<strong>ch</strong>tsfähig, organisiert oder spontan initiiert sind.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, juristis<strong>ch</strong>e Personen im Sinne von Art. 19 III GG sind ni<strong>ch</strong>t nur<br />
die vollre<strong>ch</strong>tsfähigen Vereinigungen, sondern au<strong>ch</strong> alle Gesamthandsgemeins<strong>ch</strong>aften<br />
(OHG, KG, GbR u.v.m.).<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tig, die organisatoris<strong>ch</strong>e Verfestigung ist eine Voraussetzung.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, ein Mindestmaß organisatoris<strong>ch</strong>er Verfestigung wird vorausgesetzt.<br />
Frage 18: Inländis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e Personen 58<br />
Wona<strong>ch</strong> beurteilt si<strong>ch</strong>, ob eine juristis<strong>ch</strong>e Person als inländis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e<br />
Person und damit als grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigt gemäß Art. 19 III GG anzusehen<br />
ist?<br />
1. Dana<strong>ch</strong>, ob die juristis<strong>ch</strong>e Person ihr Handlungszentrum in Deuts<strong>ch</strong>land<br />
hat (Sitztheorie).<br />
2. Dana<strong>ch</strong>, ob die juristis<strong>ch</strong>e Person na<strong>ch</strong> den Regeln des deuts<strong>ch</strong>en IPR anerkannt<br />
ist (Anerkennungstheorie).<br />
3. Dana<strong>ch</strong>, ob die Leitungsorgane der juristis<strong>ch</strong>en Person maßgebli<strong>ch</strong> von<br />
Ausländern kontrolliert werden.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, damit wäre eine uferlose Weite verbunden.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, dies ist das Kriterium für den persönli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der<br />
kollektiven Vereinigungsfreiheit als eines Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>ts.
II. Fragen zu allgemeinen Grundre<strong>ch</strong>tslehren 131<br />
Frage 19: Juristis<strong>ch</strong>e Personen des öffentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts 59<br />
Wann können au<strong>ch</strong> juristis<strong>ch</strong>e Personen des öffentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts (Körpers<strong>ch</strong>aften,<br />
Anstalten, Stiftungen) selbst Träger von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n sein?<br />
1. Bezügli<strong>ch</strong> der Prozeßgrundre<strong>ch</strong>te sowie sol<strong>ch</strong>er <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, die insbesondere<br />
au<strong>ch</strong> zu ihrem S<strong>ch</strong>utz bestimmt sind.<br />
2. Wenn sie selbst Eigentum erwerben können.<br />
3. Wenn sie bezügli<strong>ch</strong> der in Rede stehenden <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> gegenüber einem<br />
Hoheitsträger in verglei<strong>ch</strong>barer Weise s<strong>ch</strong>utzbedürftig sind (grundre<strong>ch</strong>tstypis<strong>ch</strong>e<br />
Gefährdungslage).<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig, bei der Ausnahmetrias (Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulen, Kir<strong>ch</strong>en, Rundfunkanstalten)<br />
z.B. die Wissens<strong>ch</strong>afts-, Religions- und Rundfunkfreiheit.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, dies ist bei Gemeinden umstritten und genügt bei den anderen<br />
Gebietskörpers<strong>ch</strong>aften (Bund und Ländern) unstreitig ni<strong>ch</strong>t.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, die Theorie der grundre<strong>ch</strong>tstypis<strong>ch</strong>en Gefährdungslage erklärt<br />
die wesensgemäße Anwendbarkeit der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> bei juristis<strong>ch</strong>en<br />
Personen des Privatre<strong>ch</strong>ts.<br />
Frage 20: Grundre<strong>ch</strong>tskonkurrenz 62<br />
Wel<strong>ch</strong>er der folgenden Fälle ist kein Fall der Konkurrenz von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n?<br />
1. Zwei <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> sind nebeneinander als Kontrollmaßstab anwendbar.<br />
2. Die allgemeine Handlungsfreiheit tritt gegenüber einem speziellen Freiheitsre<strong>ch</strong>t<br />
als subsidiär zurück.<br />
3. Die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> zweier Grundre<strong>ch</strong>tsträger stehen si<strong>ch</strong> gegenüber.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, dieser Fall heißt Idealkonkurrenz.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, die Subsidiarität ist ein Fall der Konkurrenz.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig, dies ist ein Fall der Grundre<strong>ch</strong>tskollision.<br />
Frage 21: Bundes- und Landesgrundre<strong>ch</strong>te 63<br />
Wer prüft, ob Gesetze gegen Landesgrundre<strong>ch</strong>te verstoßen?<br />
1. Nur die Landesverfassungsgeri<strong>ch</strong>te, weil die Landesverfassungen ni<strong>ch</strong>t<br />
im Kognitionsberei<strong>ch</strong> des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts liegen.<br />
2. Für Landesgesetze die Landesverfassungsgeri<strong>ch</strong>te, für Bundesgesetze das<br />
Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t.<br />
3. Nur das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t, weil <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> Bundessa<strong>ch</strong>e sind.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, die Landesgrundre<strong>ch</strong>te sind Teil der Landesverfassung; diese<br />
liegt ni<strong>ch</strong>t im Kognitionsberei<strong>ch</strong> des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts.
132<br />
5. Kapitel: Fragen zur Wiederholung<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, dann dürfte es überhaupt keine Landesgrundre<strong>ch</strong>te geben; das<br />
ist in Art. 142 GG aber ausdrückli<strong>ch</strong> anders geregelt.<br />
III. Fragen zu Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten<br />
Frage 22: Bagatellhandlungen 66<br />
Sind au<strong>ch</strong> Bagatellhandlungen (Taubenfüttern) grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ützt?<br />
1. Na<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender Meinung ja, allerdings ist das umstritten.<br />
2. Ja, alle Handlungen fallen unstreitig unter die allgemeine Handlungsfreiheit.<br />
3. Nein, Taubenfüttern, Kaugummikauen und andere Bagatellhandlungen<br />
sind einfa<strong>ch</strong>gesetzli<strong>ch</strong>, ni<strong>ch</strong>t grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ützt.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig, das Sondervotum von Grimm im Fall ʹReiten im Waldeʹ ist<br />
na<strong>ch</strong> wie vor in Guta<strong>ch</strong>ten zu berücksi<strong>ch</strong>tigen; dana<strong>ch</strong> sind Bagatellhandlungen<br />
vom S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> ausgenommen.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, na<strong>ch</strong> dem Sondervotum von Grimm im Fall ʹReiten im Waldeʹ<br />
sind Bagatellhandlungen vom S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> ausgenommen.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, na<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender Meinung gilt au<strong>ch</strong> hier die allgemeine<br />
Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG).<br />
Frage 23: Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz von Ausländern 50<br />
Genießen Ausländer au<strong>ch</strong> für sol<strong>ch</strong>e Handlungen Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz, für die<br />
es Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>te gibt?<br />
1. Ja, für Ausländer gilt die allgemeine Handlungsfreiheit.<br />
2. Nein, wenn die Ausländer ni<strong>ch</strong>t Europabürger sind.<br />
3. Nein, sonst würde man ja ni<strong>ch</strong>t von ʺDeuts<strong>ch</strong>enʺ-<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> spre<strong>ch</strong>en.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, au<strong>ch</strong> für Ausländer aus ni<strong>ch</strong>teuropäis<strong>ch</strong>en Staaten gilt insoweit<br />
die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG).<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, zwar gelten die Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t für Ausländer,<br />
aber Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz haben diese insoweit im Rahmen der allgemeinen<br />
Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG).
III. Fragen zu Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten 133<br />
Frage 24: Persönli<strong>ch</strong>keitskerntheorie 67<br />
Was versteht man unter der Persönli<strong>ch</strong>keitskerntheorie?<br />
1. Diese von Grimm vertretene Ansi<strong>ch</strong>t sieht als na<strong>ch</strong> Art. 2 I GG ges<strong>ch</strong>ützt<br />
nur sol<strong>ch</strong>es Verhalten an, das keine Bagatellhandlung ist.<br />
2. Die Theorie besagt, daß jede Handlung, und sei sie no<strong>ch</strong> so nebensä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>,<br />
letztli<strong>ch</strong> zur Persönli<strong>ch</strong>keitsbildung beiträgt und deshalb gemäß Art. 2 I<br />
GG S<strong>ch</strong>utz genießt.<br />
3. Diese von Peters vertretene Ansi<strong>ch</strong>t sieht als na<strong>ch</strong> Art. 2 I GG ges<strong>ch</strong>ützt<br />
nur sol<strong>ch</strong>es Handeln an, das zur Persönli<strong>ch</strong>keitsbildung erforderli<strong>ch</strong> ist.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, die Theorie von Grimm zu Bagatellhandlungen ist von der no<strong>ch</strong><br />
engeren Persönli<strong>ch</strong>keitskerntheorie (Peters) zu unters<strong>ch</strong>eiden.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, die herrs<strong>ch</strong>ende Meinung legt zwar Art. 2 I GG im Sinne einer<br />
allgemeinen Handlungsfreiheit aus, begründet dies aber mit systematis<strong>ch</strong>en<br />
und historis<strong>ch</strong>en Argumenten, ni<strong>ch</strong>t mit dem Bezug zur Persönli<strong>ch</strong>keitsbildung.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
Frage 25: Subsidiarität 67<br />
Was versteht man unter der Subsidiarität der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />
(Art. 2 I GG)?<br />
1. Sie tritt hinter spezielle Freiheitsre<strong>ch</strong>te zurück, wenn deren S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
eins<strong>ch</strong>lägig ist.<br />
2. Sie tritt hinter spezielle Freiheitsre<strong>ch</strong>te zurück, wenn diese verletzt sind.<br />
3. Sie tritt hinter spezielle Freiheitsre<strong>ch</strong>te zurück, wenn diese sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> eins<strong>ch</strong>lägig<br />
sind.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, es genügt, daß der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> betroffen ist.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, die Subsidiarität tritt nur ein, wenn das spezielle Freiheitsre<strong>ch</strong>t<br />
au<strong>ch</strong> persönli<strong>ch</strong> betroffen ist; ansonsten gilt Art. 2 I GG personell als<br />
Auffanggrundre<strong>ch</strong>t, insbesondere für Ausländer im Berei<strong>ch</strong> von Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>ten.
134<br />
5. Kapitel: Fragen zur Wiederholung<br />
Frage 26: Innominatfreiheitsre<strong>ch</strong>te 67<br />
Was versteht man unter Innominatfreiheitsre<strong>ch</strong>ten?<br />
1. Die speziellen Freiheitsre<strong>ch</strong>te, die das Grundgesetz einzeln aufzählt.<br />
2. Die unbenannten Freiheiten, die keinen Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz genießen.<br />
3. Die im Grundgesetz ni<strong>ch</strong>t ausdrückli<strong>ch</strong> geregelten, aber als besondere<br />
Fallgruppen anerkannte Freiheitsre<strong>ch</strong>te, die im Rahmen des Art. 2 I GG<br />
ges<strong>ch</strong>ützt sind.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, sol<strong>ch</strong>e ausdrückli<strong>ch</strong> geregelten Freiheiten sind geradezu das<br />
Gegenteil der als Innominatfreiheiten bezei<strong>ch</strong>neten ʺunbenanntenʺ<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, es geht zwar um unbenannte Freiheiten, aber diese genießen<br />
glei<strong>ch</strong>wohl Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz über Art. 2 I GG.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
Frage 27: S<strong>ch</strong>rankentrias des Art. 2 I GG 67<br />
Wel<strong>ch</strong>es ist die wi<strong>ch</strong>tigste S<strong>ch</strong>rankenklausel der S<strong>ch</strong>rankentrias in Art. 2 I<br />
GG?<br />
1. Re<strong>ch</strong>te anderer<br />
2. Verfassungsmäßige Ordnung<br />
3. Sittengesetz<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, am wi<strong>ch</strong>tigsten ist die verfassungsmäßige Ordnung, zu der alle<br />
Re<strong>ch</strong>tsnomen gezählt werden, so daß au<strong>ch</strong> die dur<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Normen<br />
ges<strong>ch</strong>ützten Re<strong>ch</strong>te anderer mit erfaßt sind.<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tig, sie umfaßt bei Art. 2 I GG alle Re<strong>ch</strong>tsnormen.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, am wi<strong>ch</strong>tigsten ist die verfassungsmäßige Ordnung, zu der alle<br />
Re<strong>ch</strong>tsnomen gezählt werden.<br />
Frage 28: Unantastbarkeit 69<br />
Wel<strong>ch</strong>e Konsequenz hat die Formulierung in Art. 1 I GG, daß die Mens<strong>ch</strong>enwürde<br />
unantastbar ist?<br />
1. Sie steht unter der Ewigkeitsgarantie.<br />
2. Sie ist ein vorpositives Grundre<strong>ch</strong>t.<br />
3. Sie ist uneins<strong>ch</strong>ränkbar.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, das ergibt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t bereits aus der Formulierung, sondern erst<br />
aus Art. 79 III GG i.V.m. Art. 1 I GG.
III. Fragen zu Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten 135<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, die Vorpositivität (d.h. die Unabhängigkeit der Legitimation<br />
von staatli<strong>ch</strong>er Anerkennung dur<strong>ch</strong> positives [gesetztes] Re<strong>ch</strong>t) gilt<br />
unabhängig von der Formulierung für einzelne Freiheitsre<strong>ch</strong>te ebenso<br />
wie für die Mens<strong>ch</strong>enwürde.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig, jede Beeinträ<strong>ch</strong>tigung der Mens<strong>ch</strong>enwürde ist glei<strong>ch</strong>zeitig eine<br />
Verletzung.<br />
Frage 29: Objektformel 69<br />
Was versteht man unter der Objektformel?<br />
1. Na<strong>ch</strong> dieser Formel ist die Mens<strong>ch</strong>enwürde verletzt, wenn der konkrete<br />
Mens<strong>ch</strong> zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt<br />
wird.<br />
2. Die Formel knüpft an die Gottesebenbildli<strong>ch</strong>keit des Mens<strong>ch</strong>en an, um die<br />
Mens<strong>ch</strong>enwürde zu definieren.<br />
3. Na<strong>ch</strong> dieser Formel tritt der Mens<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> seine soziale Anerkennung als<br />
Kommunikationspartner aus der Welt der bloßen Objekte heraus und<br />
wird zum würdevollen Subjekt.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, das tun religiöse Mitgifttheorien (imago-dei-Lehren).<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, Kommunikationstheorien knüpfen an die kommunikative Anerkennung<br />
an, ohne die Objekt/Subjekt-Klassifizierung zu benötigen.<br />
Frage 30: Todesstrafe 72<br />
Könnte der verfassungsändernde Gesetzgeber die Todesstrafe wieder einführen?<br />
1. Nein, die Todesstrafe ist abges<strong>ch</strong>afft (Art. 102 GG).<br />
2. Nein, die Todesstrafe wäre unstreitig ein Verstoß gegen die Mens<strong>ch</strong>enwürde<br />
(Art. 1 I GG).<br />
3. Nein, wenn die Todesstrafe mens<strong>ch</strong>enunwürdig wäre.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, zwar steht dies so in der Verfassung, für den verfassungsändernden<br />
Gesetzgeber stellt si<strong>ch</strong> die Frage aber allein na<strong>ch</strong> Art. 79 III<br />
GG (Ewigkeitsgarantie).<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, es ist umstritten, ob die Todesstrafe gegen die Mens<strong>ch</strong>enwürde<br />
verstößt.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig, denn dann unterläge das Verbot der Todesstrafe (Art. 102 GG)<br />
außerdem der Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 III GG i.V.m. Art. 1 I GG;<br />
die Frage ist allerdings umstritten.
136<br />
5. Kapitel: Fragen zur Wiederholung<br />
Frage 31: Tötung 72<br />
Darf der Staat Mens<strong>ch</strong>en töten?<br />
1. Ja, denn das Re<strong>ch</strong>t auf Leben steht unter dem Gesetzesvorbehalt.<br />
2. Nein, das Re<strong>ch</strong>t auf Leben ist so wi<strong>ch</strong>tig, daß der Verfassunggeber es<br />
normtextli<strong>ch</strong> vorbehaltlos gewährleistet hat.<br />
3. Nein, jedes Leben hat Mens<strong>ch</strong>enwürde und darf deshalb unter gar keinen<br />
Umständen verni<strong>ch</strong>tet werden.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig, daß eine sol<strong>ch</strong>e Tötung wegen des Verhältnismäßigkeitsprinzips<br />
allenfalls in äußersten Notfällen verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt<br />
sein kann (finaler Todess<strong>ch</strong>uß zur Rettung von Geiseln) ändert an<br />
der grundsätzli<strong>ch</strong>en Mögli<strong>ch</strong>keit ni<strong>ch</strong>ts.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, siehe Art. 2 II 3 GG: »In diese Re<strong>ch</strong>te [Leben, körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit,<br />
Freiheit der Person] darf nur auf Grund eines Gesetzes<br />
eingegriffen werden.«<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, die plausibel klingende Formel »Wo mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Leben existiert,<br />
kommt ihm Mens<strong>ch</strong>enwürde zu« (BVerfGE 39, 1 [41] – S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftsabbru<strong>ch</strong><br />
I) stimmt jedenfalls ni<strong>ch</strong>t uneinges<strong>ch</strong>ränkt, sonst ergäbe<br />
der Gesetzesvorbehalt des Art. 2 II 3 GG keinen Sinn.<br />
Frage 32: Körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit 72<br />
Ist die amtsärztli<strong>ch</strong>e Zwangsuntersu<strong>ch</strong>ung eine Verletzung des Grundre<strong>ch</strong>ts<br />
der körperli<strong>ch</strong>en Unversehrtheit?<br />
1. Ja, weil der Amtsarzt als Hoheitsträger tätig wird und si<strong>ch</strong> der Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz<br />
gegen den Staat ri<strong>ch</strong>tet.<br />
2. Ja, wenn wegen eines relativ unwi<strong>ch</strong>tigen staatli<strong>ch</strong>en Anliegens eine Untersu<strong>ch</strong>ung<br />
mit s<strong>ch</strong>werwiegenden Risiken angeordnet wird.<br />
3. Ja, bei einer amtsärztli<strong>ch</strong>e Zwangsuntersu<strong>ch</strong>ung fehlt es an der Einwilligung<br />
des Grundre<strong>ch</strong>tsträgers.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, zwar stimmt die Aussage, aber ni<strong>ch</strong>t jede Beeinträ<strong>ch</strong>tigung ist<br />
bereits eine Verletzung.<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tig, dies ist innerhalb der verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips (vgl. BVerfGE 16, 194 –<br />
Liquorentnahme).<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, zwar fehlt die Einwilligung, so daß ni<strong>ch</strong>t bereits der Eingriff<br />
verneint werden kann; es bleibt aber wegen des Gesetzesvorbehalts in<br />
Art. 2 II 3 GG glei<strong>ch</strong>wohl die Mögli<strong>ch</strong>keit zu verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung.
III. Fragen zu Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten 137<br />
Frage 33: Ausreisefreiheit 73<br />
Ist die Ausreisefreiheit grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ützt?<br />
1. Ja, als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG).<br />
2. Ja, als Teil der Freizügigkeit (Art. 11 GG), die au<strong>ch</strong> die Freiheit zur Einreise<br />
s<strong>ch</strong>ützt.<br />
3. Nein, weil es si<strong>ch</strong> um eine unbenannte Freiheit handelt (Innominatfreiheitsre<strong>ch</strong>t).<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, zwar s<strong>ch</strong>ützt Art. 11 GG die Freiheit zur Einreise, ni<strong>ch</strong>t aber<br />
diejenige zur Ausreise.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, die Ausreisefreiheit gehört zwar zu den Innominatfreiheitsre<strong>ch</strong>ten,<br />
diese sind aber als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />
(Art. 2 I GG) ges<strong>ch</strong>ützt.<br />
Frage 34: Auslieferung 75<br />
Darf jemand, der glei<strong>ch</strong>zeitig die türkis<strong>ch</strong>e und die deuts<strong>ch</strong>e Staatsbürgers<strong>ch</strong>aft<br />
besitzt, an die Türkei ausgeliefert werden?<br />
1. Ja, weil die türkis<strong>ch</strong>en Gesetze für alle Bürger mit türkis<strong>ch</strong>er Staatsangehörigkeit<br />
gelten.<br />
2. Nein, weil mit der Einbürgerung die alte Staatsangehörigkeit ungültig<br />
wird.<br />
3. Ja, weil es si<strong>ch</strong> um eine mehrfa<strong>ch</strong>e Staatsangehörigkeit handelt.<br />
4. Nein, weil die Auslieferung Deuts<strong>ch</strong>er grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> verboten ist.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, für den grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Auslieferungss<strong>ch</strong>utz kommt es allein<br />
darauf an, ob jemand (au<strong>ch</strong>) die deuts<strong>ch</strong>e Staatsangehörigkeit besitzt.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, für den grundre<strong>ch</strong>lti<strong>ch</strong>en Auslieferungss<strong>ch</strong>utz kommt es allein<br />
darauf an, ob jemand (au<strong>ch</strong>) die deuts<strong>ch</strong>e Staatsangehörigkeit besitzt.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, au<strong>ch</strong> für Personen mit mehrfa<strong>ch</strong>er Staatsangehörigkeit gilt der<br />
S<strong>ch</strong>utz des Art. 16 II GG.<br />
4. Ri<strong>ch</strong>tig, siehe Art. 16 II GG.
138<br />
5. Kapitel: Fragen zur Wiederholung<br />
Frage 35: Sphärentheorie 77<br />
Was versteht man grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> unter der Sphärentheorie?<br />
1. Beim allgemeinen Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t (Art. 2 I GG) die Unters<strong>ch</strong>eidung<br />
zwis<strong>ch</strong>en Intimsphäre, Privatsphäre und Sozialsphäre.<br />
2. Beim Asylgrundre<strong>ch</strong>t (Art. 16a GG) die Unters<strong>ch</strong>eidung na<strong>ch</strong> staatli<strong>ch</strong>en<br />
Einflußberei<strong>ch</strong>en.<br />
3. Beim Re<strong>ch</strong>t auf Heimat (Art. 11 GG) der gewählte Lebensberei<strong>ch</strong>.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig, diese Unters<strong>ch</strong>eidung wird im Rahmen der Abwägung als erster<br />
Anhaltspunkt für das Gewi<strong>ch</strong>t der Beeinträ<strong>ch</strong>tigung genutzt.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, sol<strong>ch</strong>e politis<strong>ch</strong>en Sphären sind grundre<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
relevant.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, zwar enthält die Freizügigkeit na<strong>ch</strong> einem Teil der neueren Literatur<br />
implizit ein Re<strong>ch</strong>t auf Heimat, aber dort wird ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> Sphären<br />
unters<strong>ch</strong>ieden.<br />
Frage 36: Informationelle Selbstbestimmung 78<br />
Wel<strong>ch</strong>em Grundre<strong>ch</strong>t kann die informationelle Selbstbestimmung am ehesten<br />
zugere<strong>ch</strong>net werden?<br />
1. Dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG), weil es um die<br />
Vertrauli<strong>ch</strong>keit von Daten geht.<br />
2. Der Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG), weil es um die (negative) Freiheit<br />
geht, Informationen ni<strong>ch</strong>t zu äußern.<br />
3. Dem allgemeinen Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t (Art. 2 I i.V.m. 1 I GG), weil es um<br />
personenbezogene Daten geht.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, umgekehrt bilden die in Art. 10 GG ausdrückli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ützten<br />
Kommunikationsgeheimnisse einen Sonderfall des weiter gefaßten informationellen<br />
Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>ts, das Daten unabhängig von<br />
ihrer Verbreitungsweise s<strong>ch</strong>ützt.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, die negative Meinungsfreiheit würde allenfalls einen kleinen<br />
Teilberei<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ützen: die Freiheit vor staatli<strong>ch</strong> erzwungener Veröffentli<strong>ch</strong>ung<br />
als eigener Meinung.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig, die informationelle Selbstbestimmung ergibt si<strong>ch</strong> ebenfalls<br />
aus Art. 2 I i.V.m. 1 I GG und s<strong>ch</strong>ützt (insoweit über das allgemeine<br />
Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t hinausgehend) außer den hö<strong>ch</strong>stpersönli<strong>ch</strong>en<br />
au<strong>ch</strong> alle sonstigen personenbezogenen Daten.
III. Fragen zu Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten 139<br />
Frage 37: Fernmeldegeheimnis 78<br />
Wel<strong>ch</strong>e der folgenden Dienste unterliegen dem Fernmeldegeheimnis?<br />
1. E-Mail<br />
2. Internet-Rundfunk<br />
3. Zeitungsversand<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig, insofern liegt Individualkommunikation vor.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, der Rundfunk ist keine individuelle Kommunikation, glei<strong>ch</strong><br />
wel<strong>ch</strong>en Mediums er si<strong>ch</strong> bedient.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, diese fallen während des Transports unter das Briefgeheimnis;<br />
zum Fernmeldegeheimnis zählen nur die ni<strong>ch</strong>tkörperli<strong>ch</strong>en Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten<br />
(Telefonat, Fax etc.).<br />
Frage 38: Kleiner Laus<strong>ch</strong>angriff 82<br />
Wel<strong>ch</strong>e der folgenden Aussagen trifft auf den kleinen Laus<strong>ch</strong>angriff zu?<br />
1. Als kleinen Laus<strong>ch</strong>angriff bezei<strong>ch</strong>net man das Ausspähen von Wohnungen<br />
dur<strong>ch</strong> den Einsatz te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>er Mittel, die die Abs<strong>ch</strong>irmung der Privatsphäre<br />
überwinden (Wanzen).<br />
2. Für den kleinen Laus<strong>ch</strong>angriff ist dur<strong>ch</strong> Verfassungsänderung eine ausdrückli<strong>ch</strong>e<br />
S<strong>ch</strong>rankenklausel in Art. 13 GG aufgenommen worden.<br />
3. Beim kleinen Laus<strong>ch</strong>angriff liegt ein Eingriff vor, weil der Wohnungszugang<br />
dur<strong>ch</strong> Täus<strong>ch</strong>ung erwirkt wird.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, das ist die Definition für den großen Laus<strong>ch</strong>angriff.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, die neu eingefügten S<strong>ch</strong>rankenklauseln in den Absätzen 3 bis 6<br />
betreffen nur große Laus<strong>ch</strong>angriffe; im übrigen gilt weiterhin der ursprüngli<strong>ch</strong>e,<br />
qualifizierte Gesetzesvorbehalt der nunmehr in Absatz 7<br />
steht.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig, denn beim kleinen Laus<strong>ch</strong>angriff führt ein verdeckter Ermittler<br />
beim Zutritt zu fremden Wohnungen akustis<strong>ch</strong>e oder visuelle Aufzei<strong>ch</strong>nungsgeräte<br />
mit si<strong>ch</strong>, so daß der Wohnungsinhaber unfreiwillig<br />
einwilligt.
140<br />
5. Kapitel: Fragen zur Wiederholung<br />
Frage 39: Versammlung unter freiem Himmel 88<br />
Was ist eine Versammlung unter freiem Himmel im Sinne von Art. 8 II GG?<br />
1. Eine Versammlung, die ohne bestimmten Zugang na<strong>ch</strong> allen Seiten offen<br />
ist.<br />
2. Eine Versammlung, die ohne Überda<strong>ch</strong>ung auskommt.<br />
3. Nur eine Versammlung, die als Umzug stattfindet (Demonstrationen).<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig, Sinn und Zweck der Regelungsbefugnis ist der bessere S<strong>ch</strong>utz<br />
vor den besonderen Gefahren, die bei fehlender Ums<strong>ch</strong>ließung auftreten<br />
können.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, die S<strong>ch</strong>rankenklausel ist ni<strong>ch</strong>t wörtli<strong>ch</strong> zu nehmen: auf die<br />
Si<strong>ch</strong>tbarkeit des Himmels kommt es ni<strong>ch</strong>t an, sondern nur auf die Art<br />
der Ums<strong>ch</strong>ließung.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, Demonstrationen sind zwar typis<strong>ch</strong>erweise au<strong>ch</strong> Versammlungen<br />
unter freiem Himmel, aber ni<strong>ch</strong>t die einzigen.<br />
Frage 40: Versammlungsfreiheit 86<br />
Bei wel<strong>ch</strong>en der folgenden Versammlungen ist umstritten, ob sie unter den<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 8 I GG fallen?<br />
1. Bewaffnete Raubüberfälle, weil zwar einerseits ein gemeinsamer Versammlungszweck<br />
vorliegt, dieser aber andererseits illegal ist.<br />
2. Unterhaltende Veranstaltungen (Volksfeste, Musikparaden), weil es ihnen<br />
am qualifizierten Versammlungszweck fehlt.<br />
3. Spontanversammlungen, weil insofern umstritten ist, ob der Gesetzgeber<br />
an dem Anmeldeerfordernis festhalten kann.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, bewaffnete Versammlungen fallen s<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> dem Wortlaut<br />
des Art. 8 I GG und damit unstreitig aus dem S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> heraus;<br />
auf die einfa<strong>ch</strong>gesetzli<strong>ch</strong>e Qualifizierung als legal oder illegal kommt<br />
es beim S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Grundre<strong>ch</strong>ts zunä<strong>ch</strong>st ni<strong>ch</strong>t an.<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tig, die neuere Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung wendet hier Art. 2 I GG an, während<br />
die Literatur ganz überwiegenden jeden Verwammlungszweck,<br />
au<strong>ch</strong> den der Unterhaltung, genügen läßt.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, bei Spontanversammlungen ist es unumstritten, daß der einfa<strong>ch</strong>e<br />
Gesetzgeber keine Anmeldepfli<strong>ch</strong>t normieren darf, soweit diese im<br />
Ergebnis die Versammlung unmögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en würde; umstritten ist<br />
nur, ob das methodis<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> im Wege verfassungskonformer Auslegung<br />
begründet werden kann, oder ob die Verfassungswidrigerklärung<br />
des Gesetzes nötig ist.
III. Fragen zu Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten 141<br />
Frage 41: Vereinigungsfreiheit 88<br />
Wel<strong>ch</strong>e der folgenden <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> enthalten gegenüber der Vereinigungsfreiheit<br />
speziellere Gewährleistung, so daß diese ihnen gegenüber zurücktritt?<br />
1. Nur die Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG)<br />
2. Nur die Koalitionsfreiheit und die Parteienfreiheit (Art. 21 GG)<br />
3. Nur die Parteienfreiheit und die Freiheit religiöser Vereinigung (Art. 4 I,<br />
II; 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV)<br />
4. Alle vorgenannten Freiheiten.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>.<br />
4. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
Frage 42: Negative Vereinigungsfreiheit 89<br />
Wovor s<strong>ch</strong>ützt na<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender Meinung die negative Vereinigungsfreiheit?<br />
1. Sie s<strong>ch</strong>ützt vor allen Zwangszusammens<strong>ch</strong>lüssen, weil im Ni<strong>ch</strong>tvereinigen<br />
die negative Seite der Vereinigungsfreiheit liegt.<br />
2. Sie s<strong>ch</strong>ützt vor negativen Folgen der Vereinigung, insbesondere vor Beitragspfli<strong>ch</strong>ten.<br />
3. Sie s<strong>ch</strong>ützt vor staatli<strong>ch</strong>en Zwangszusammens<strong>ch</strong>lüssen in privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Verbänden.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, zwar ist das Ni<strong>ch</strong>tvereinigen die negative Seite, do<strong>ch</strong> gilt gemäß<br />
herrs<strong>ch</strong>ender Meinung und ständiger Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung na<strong>ch</strong> historis<strong>ch</strong>er<br />
Auslegung der S<strong>ch</strong>utz nur für Zusammens<strong>ch</strong>lüsse auf der Basis<br />
von Freiwilligkeit, also privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e, ni<strong>ch</strong>t hingegen öffentli<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Zwangsvereinigungen (IHK, Ärztekammer, Re<strong>ch</strong>tsanwaltskammer).<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, mit negativen Folgen der freiverantwortli<strong>ch</strong>en Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
hat die negative Seite des Grundre<strong>ch</strong>ts ni<strong>ch</strong>ts zu tun.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig, na<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>ender Meinung betrifft die Vereinigungsfreiheit<br />
nur freiverantwortli<strong>ch</strong>e, also privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Vereinigungen.
142<br />
5. Kapitel: Fragen zur Wiederholung<br />
Frage 43: Meinungen 90<br />
Was sind Meinungen im Sinne des S<strong>ch</strong>utzes des Meinungsäußerungsfreiheit<br />
(Art. 5 I GG)?<br />
1. Alle Aussagen, selbst wenn es si<strong>ch</strong> um bewußt unwahre handelt.<br />
2. Alle Werturteile und zusätzli<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptungen, die Voraussetzung<br />
zur Bildung von Werturteilen sind.<br />
3. Nur Werturteile, weil andere Aussagen dem Beweis zugängli<strong>ch</strong> sind.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, vom S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> ausgenommen sind isolierte (d.h. überhaupt<br />
ni<strong>ch</strong>t mir Wertungen verbundene) Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptungen, die<br />
erwiesen oder bewußt unwahr sind.<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, zwar sind Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptungen dem Beweis zugängli<strong>ch</strong><br />
und deshalb von Werturteilen zu unters<strong>ch</strong>eiden, do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ützt Art. 5 I<br />
GG als Meinung im Sinne der Meinungsfreiheit au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Tatsa<strong>ch</strong>enbehauptungen,<br />
die Voraussetzung zur Bildung von Werturteilen<br />
sind.<br />
Frage 44: Pressefreiheit 92<br />
Wel<strong>ch</strong>e Druckerzeugnisse sind dur<strong>ch</strong> die Pressefreiheit ges<strong>ch</strong>ützt?<br />
1. Alle Druckerzeugnisse, die für die Allgemeinheit bestimmt sind, au<strong>ch</strong><br />
Plakate und Bü<strong>ch</strong>er.<br />
2. Alle periodis<strong>ch</strong>en Publikationen, insbesondere Zeitungen und Illustrierte.<br />
3. Alle Publikationen, die primär Inhalte vermitteln wollen, also etwa ni<strong>ch</strong>t<br />
die Anzeigenteile von Zeitungen oder reine Anzeigenblätter.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, auf die Periodizität des Drucks kommt es ni<strong>ch</strong>t an, au<strong>ch</strong> Bü<strong>ch</strong>er<br />
sind ges<strong>ch</strong>ützt.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, auf den Inhalt kommt es ni<strong>ch</strong>t an; au<strong>ch</strong> Anzeigenblätter genießen<br />
S<strong>ch</strong>utz.
III. Fragen zu Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten 143<br />
Frage 45: Rundfunkfreiheit 93<br />
Wel<strong>ch</strong>e der vom Bundesverfassunsgeri<strong>ch</strong>t entwickelten Besonderheiten der<br />
Rundfunkfreiheit ist grundre<strong>ch</strong>tsdogmatis<strong>ch</strong> umstritten?<br />
1. Die Entwicklungsoffenheit des Rundfunkbegriffs.<br />
2. Die Zulässigkeit von Werbung.<br />
3. Die Charakterisierung als dienende Freiheit.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, hierzu findet si<strong>ch</strong> praktis<strong>ch</strong> keine Kritik; der Re<strong>ch</strong>tsbegriff<br />
ʹRundfunkʹ muß unabhängig von den Details der te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Verbreitung<br />
bestimmt werden.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, unter Freiheitsgesi<strong>ch</strong>tspunkten ist die Werbung unstreitig Teil<br />
der Rundfunkfreiheit.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig, dieses Element findet si<strong>ch</strong> bei keinem anderen Grundre<strong>ch</strong>t; es<br />
ist problematis<strong>ch</strong>, weil bereits in das Grundre<strong>ch</strong>t selbst eine die Individualfreiheit<br />
bes<strong>ch</strong>ränkende Komponente hineingelesen wird.<br />
Frage 46: Religionsfreiheit 95<br />
Wel<strong>ch</strong>e der folgenden Aussagen zum S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Religionsfreiheit ist<br />
unzutreffend?<br />
1. Die Religionsfreiheit s<strong>ch</strong>ützt außer der inneren Einstellung au<strong>ch</strong> die äußerli<strong>ch</strong><br />
si<strong>ch</strong>tbare Betätigung des religiösen Bekenntnisses.<br />
2. Die Religionsfreiheit hat keine Bedeutung für wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>es Handeln,<br />
insbesondere für die Berufs- oder Eigentumsfreiheit.<br />
3. Die Religionsfreiheit kommt au<strong>ch</strong> Minderjährigen und juristis<strong>ch</strong>en Personen<br />
zu.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>e Antwort: diese Aussage ist zutreffend.<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tige Antwort: diese Aussage ist unzutreffend, denn au<strong>ch</strong> im Rahmen<br />
anderer Freiheiten kann si<strong>ch</strong> der grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utz verstärken,<br />
wenn es um deren religionsrelevante Ausübung geht (vgl.<br />
BVerfG, 1 BvR 1783/99 – S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis).<br />
3. Fals<strong>ch</strong>e Antwort: diese Aussage ist zutreffend.
144<br />
5. Kapitel: Fragen zur Wiederholung<br />
Frage 47: Beruf 98<br />
Wie definiert man den Beruf im Sinne von Art. 12 I, II GG?<br />
1. Beruf ist jede auf Dauer angelegte Tätigkeit, die der S<strong>ch</strong>affung oder Erhaltung<br />
einer Lebensgrundlage dient.<br />
2. Beruf ist jede erlaubte Tätigkeit, die dauerhaft dem Lebensunterhalt dient.<br />
3. Beruf ist gewerbli<strong>ch</strong>es Handeln, das ni<strong>ch</strong>t nur als Teilzeitbes<strong>ch</strong>äftigung<br />
ausgeübt wird und der S<strong>ch</strong>affung oder Erhaltung einer Lebensgrundlage<br />
dient.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, auf die Erlaubtheit der Tätigkeit kann es im S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t ankommen, weil gesetzli<strong>ch</strong>e Bes<strong>ch</strong>ränkungen erst relevant sind,<br />
wenn sie verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt werden können.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, die Berufsfreiheit s<strong>ch</strong>ützt au<strong>ch</strong> das ni<strong>ch</strong>tgewerbli<strong>ch</strong>e Handeln<br />
der sog. Freiberufler (z.B. Autoren, Künstler, Ärzte, Re<strong>ch</strong>tsanwälte)<br />
und die bloße Nebenbes<strong>ch</strong>äftigung, etwa neben dem Studium.<br />
Frage 48: Dreistufentheorie 99<br />
In wel<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong>en der Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung wird die Dreistufentheorie relevant?<br />
1. Bei allen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n; zunä<strong>ch</strong>st ist die Geeignetheit, dann die Erforderli<strong>ch</strong>keit<br />
und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> die Angemessenheit zu prüfen.<br />
2. Bei der Berufsfreiheit im Rahmen des S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s.<br />
3. Bei der Berufsfreiheit im Rahmen der Erforderli<strong>ch</strong>keit und Angemessenheit.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, dies sind die Teilgrundsätze der Verhältnismäßigkeitsprüfung;<br />
die Dreistufentheorie betrifft nur die Berufsfreiheit.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, die Dreistufentheorie betrifft die besonderen Anforderungen<br />
an die Bes<strong>ch</strong>ränkbarkeit des Grundre<strong>ch</strong>ts.<br />
3. Ri<strong>ch</strong>tig, erforderli<strong>ch</strong> ist ein Mittel nur, wenn es keine Alternative auf<br />
niedrigerer Eingriffsstufe gibt; angemessen ist ein Mittel nur im Hinblick<br />
auf die für die jeweilige Stufe zulässigen Zwecke.
III. Fragen zu Einzelgrundre<strong>ch</strong>ten 145<br />
Frage 49: Junktimklausel 105<br />
Was versteht man unter der Junktimklausel?<br />
1. Eingriffe in das Eigentum sind nur zulässig, wenn eine angemessene Ents<strong>ch</strong>ädigung<br />
erfolgt.<br />
2. Enteignungen sind nur zulässig, wenn in der gesetzli<strong>ch</strong>en Grundlage bereits<br />
die Ents<strong>ch</strong>ädigung geregelt ist.<br />
3. Enteignungen sind nur gegen angemessene Ents<strong>ch</strong>ädigung zulässig.<br />
1. Fals<strong>ch</strong>, die Junktimklausel betrifft ni<strong>ch</strong>t alle Eingriffe in das Eigentum,<br />
sondern nur Enteignungen.<br />
2. Ri<strong>ch</strong>tig, darin liegt die zwingenden Verknüpfung – das Junktim.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, zwar gilt das Ents<strong>ch</strong>ädigungserfordernis, aber die Junktimklausel<br />
geht in ihren Anforderungen darüber hinaus.<br />
Frage 50: Willkürformel 36<br />
Was versteht man unter der Willkürformel?<br />
1. Das Verbot, wesentli<strong>ch</strong> Glei<strong>ch</strong>es willkürli<strong>ch</strong> unglei<strong>ch</strong> oder wesentli<strong>ch</strong> Unglei<strong>ch</strong>es<br />
willkürli<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong> zu behandeln.<br />
2. Das Gebot, nur Differenzierungen vorzunehmen, für die Gründe von sol<strong>ch</strong>er<br />
Art und sol<strong>ch</strong>em Gewi<strong>ch</strong>t bestehen, daß sie die unglei<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsfolgen<br />
re<strong>ch</strong>tfertigen können.<br />
3. Das allgemeine Verbot, Freiheit oder Glei<strong>ch</strong>heit willkürli<strong>ch</strong> zu beeinträ<strong>ch</strong>tigen.<br />
1. Ri<strong>ch</strong>tig.<br />
2. Fals<strong>ch</strong>, das ist die sog. ʹneue Formelʹ zum Glei<strong>ch</strong>heitssatz.<br />
3. Fals<strong>ch</strong>, die Willkürformel betrifft speziell den Glei<strong>ch</strong>heitssatz, ni<strong>ch</strong>t die<br />
Freiheitsre<strong>ch</strong>te.
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
Fall 1: Reiten im Walde 148 ist der klassis<strong>ch</strong>e Prüfungsfall, um die S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>sproblematik<br />
bei der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) zu präsentieren<br />
(Bearbeitungszeit ca. 1 Stunde, 30 Minuten).<br />
Fall 2: Taxiges<strong>ch</strong>äft 155 demonstriert im Rahmen der Berufsfreiheit (Art. 12 I GG)<br />
die Anwendung der Dreistufentheorie (Bearbeitungszeit ca. 2 Stunden).<br />
Fall 3: Eigenbedarf 164 behandelt das Eigentumsgrundre<strong>ch</strong>t (Art. 14 I GG) und die<br />
Sozialbindung des Eigentums (Bearbeitungszeit ca. 1 Stunde, 30 Minuten).<br />
Fall 4: Festungsumzug 171 enthält verfassungsprozessuale Probleme zur Beteiligtenfähigkeit<br />
und Gegenwärtigkeit der Bes<strong>ch</strong>wer; außerdem werden vers<strong>ch</strong>iedene<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>sfragen der Versammlungsfreiheit (Art. 8 I GG) behandelt (Bearbeitungszeit<br />
ca. 2 Stunden, 30 Minuten).<br />
Fall 5: S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis 183 betrifft die Funktion der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />
(Art. 2 I GG) als Auffanggrundre<strong>ch</strong>t für Ausländer im Sa<strong>ch</strong>berei<strong>ch</strong> von Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>ten<br />
sowie die jüngste Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ungsentwicklung zum religiös<br />
motivierten S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten (Bearbeitungszeit ca. 1 Stunde, 15 Minuten).<br />
Fall 6: Helmpfli<strong>ch</strong>t 189 behandelt die problematis<strong>ch</strong>e Frage eines Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes<br />
gegen den Grundre<strong>ch</strong>tsträger selbst; außerdem zeigt er, wie die allgemeine<br />
Subsidiarität in der Zulässigkeit der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde zu berücksi<strong>ch</strong>tigen<br />
ist (Bearbeitungszeit ca. 1 Stunde, 45 Minuten).<br />
Fall 7: Normannenkir<strong>ch</strong>e 197 gibt ein Beispiel für die Prüfung der Religionsfreiheit<br />
(Art. 4 I, II GG) und zeigt die Integration der Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung in eine<br />
Verwaltungsre<strong>ch</strong>tsklausur (Bearbeitungszeit ca. 1 Stunde, 45 Minuten).<br />
Fall 8: Neoanar<strong>ch</strong>isten 205 verknüpft den Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz europäis<strong>ch</strong>er juristis<strong>ch</strong>er<br />
Personen mit dem Problem staatli<strong>ch</strong>er Warnungen im Rahmen der Pressefreiheit<br />
(Bearbeitungszeit ca. 1 Stunde, 15 Minuten).
Fall 1: Reiten im Walde<br />
Das Reiten im Walde war dur<strong>ch</strong> das Lands<strong>ch</strong>aftss<strong>ch</strong>utzgesetz des Landes B<br />
grundsätzli<strong>ch</strong> verboten, dann aber na<strong>ch</strong> einem We<strong>ch</strong>sel der Parlamentsmehrheit<br />
wieder erlaubt worden. Um eine forts<strong>ch</strong>reitende Zerstörung der Waldwege<br />
dur<strong>ch</strong> Hufeinwirkungen zu vermeiden und zum S<strong>ch</strong>utz der erholungsu<strong>ch</strong>enden<br />
Spaziergänger, wurde das Gesetz nunmehr erneut geändert. Reiten im Walde ist<br />
na<strong>ch</strong> der Neufassung, die si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> wie vor im Rahmen des Bundeswaldgesetzes<br />
hält, auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> auf den gekennzei<strong>ch</strong>neten Reitwegen erlaubt. Zuglei<strong>ch</strong> verpfli<strong>ch</strong>tete<br />
das Gesetz die zuständigen Behörden, für ein ausrei<strong>ch</strong>endes und geeignetes<br />
Reitwegenetz zu sorgen.<br />
Der passionierte Reiter und Pferdeeigentümer R ist gegen diese Neuregelung,<br />
da seine bisherige Reitstrecke dadur<strong>ch</strong> zum reinen Wanderweg wird und er auf<br />
weniger s<strong>ch</strong>öne Nebenstrecken auswei<strong>ch</strong>en muß. R ist der Auffassung, Wald,<br />
Pferd und Reiter gehörten untrennbar zusammen. Das Reiten im Walde dürfe<br />
deshalb ni<strong>ch</strong>t bes<strong>ch</strong>ränkt werden. Außerdem habe er si<strong>ch</strong> im Vertrauen auf die<br />
bisherige Regelung ein Pferd zugelegt. Bei den hohen Unterhaltungskosten für<br />
Futter und Pflege sei es ni<strong>ch</strong>t zumutbar, auf behördli<strong>ch</strong> bestimmte Reitwege bes<strong>ch</strong>ränkt<br />
zu sein. Bei einem Verkauf des Pferdes würde ihm ein erhebli<strong>ch</strong>er<br />
Verlust entstehen. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> sei es ungere<strong>ch</strong>t, daß Reiten generell verboten<br />
werde, während Radfahrer unbes<strong>ch</strong>ilderte Waldwege benutzen dürften.<br />
Wird der R dur<strong>ch</strong> die Neuregelung des Lands<strong>ch</strong>aftss<strong>ch</strong>utzgesetzes des Landes<br />
B in seinen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n verletzt?<br />
Vgl. BVerfGE 80, 137 – Reiten im Walde<br />
Bearbeitungszeit: ca. 1 Stunde, 30 Minuten<br />
Fall 1: Reiten im Walde – Lösung<br />
Als mögli<strong>ch</strong>erweise verletzte <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> des R kommen die Freizügigkeit (Art.<br />
11 I GG), das Eigentum (Art. 14 I GG), die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I<br />
GG) und der Glei<strong>ch</strong>heitssatz (Art. 3 I GG) in Betra<strong>ch</strong>t.<br />
I. Verletzung der Freizügigkeit (Art. 11 I GG)<br />
In der Verdrängung des Reiters R von seinem Lieblingsreitweg auf Nebenpfade<br />
könnte eine Verletzung seines Grundre<strong>ch</strong>ts auf Freizügigkeit liegen.
Fall 1: Reiten im Walde 149<br />
a) Der persönli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 11 I GG als eines Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>ts<br />
ist für R als Deuts<strong>ch</strong>en im Sinne von Art. 116 GG eröffnet.<br />
b) Des weiteren müßte au<strong>ch</strong> der sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 11 I GG eröffnet<br />
sein. Das Grundre<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>ützt die freie Wahl des Aufenthalts und Wohnsitzes<br />
im Bundesgebiet. Umstritten ist, inwieweit au<strong>ch</strong> die räumli<strong>ch</strong>e Bewegungsfreiheit<br />
insgesamt von diesem S<strong>ch</strong>utz umfaßt ist. Im Falle des R geht es allerdings<br />
ni<strong>ch</strong>t einmal um die Freiheit der Bewegung als sol<strong>ch</strong>e, sondern nur um die Modalität<br />
der Fortbewegung. R wird ni<strong>ch</strong>t daran gehindert, si<strong>ch</strong> auf seinen Lieblingswaldwegen<br />
ohne Pferd zu bewegen. Die bloße Wahl des Fortbewegungsmittels<br />
liegt jedenfalls ni<strong>ch</strong>t mehr im S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Freizügigkeit.<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 11 I GG ni<strong>ch</strong>t betroffen.<br />
II. Verletzung des Eigentumsgrundre<strong>ch</strong>ts (Art. 14 I GG)<br />
Es könnte aber eine Verletzung des Eigentums darin liegen, daß R das ihm gehörende<br />
Pferd ni<strong>ch</strong>t mehr so nutzen kann, wie er es beabsi<strong>ch</strong>tigt hatte, und bei einem<br />
Verkauf mit einem Vermögensna<strong>ch</strong>teil dur<strong>ch</strong> den Wertverlust re<strong>ch</strong>nen<br />
müßte.<br />
Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 14 I GG umfaßt mit dem weiten, verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Eigentumsbegriff alle vermögenswerten Re<strong>ch</strong>te. Allerdings s<strong>ch</strong>ützt<br />
die Norm ni<strong>ch</strong>t das Vermögen als sol<strong>ch</strong>es, so daß z.B. Geldleistungspfli<strong>ch</strong>ten<br />
(Steuern und sonstige Abgaben) grundsätzli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> fallen.<br />
Demgemäß sind Vermögensna<strong>ch</strong>teile, die dur<strong>ch</strong> einen Wertverlust entstehen,<br />
ni<strong>ch</strong>t als Beeinträ<strong>ch</strong>tigungen des Eigentumsgrundre<strong>ch</strong>ts einzustufen; R kann si<strong>ch</strong><br />
insoweit ni<strong>ch</strong>t auf Art. 14 I GG berufen. Au<strong>ch</strong> die Nutzungsmögli<strong>ch</strong>keiten von<br />
Sa<strong>ch</strong>eigentum sind selbst grundsätzli<strong>ch</strong> keine Bestandteile des verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Eigentums. Einen Grenzfall bildet insoweit das Besitzre<strong>ch</strong>t des Mieters,<br />
bei dem das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t wegen dessen Eigentumsähnli<strong>ch</strong>keit ausnahmsweise<br />
die Eigentumsqualität i.S.v. Art. 14 I GG bejaht hat. Im übrigen aber<br />
gilt, daß der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t die einzelne Nutzung umfaßt, also au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
die Mögli<strong>ch</strong>keit des R, auf allen Waldwegen zu reiten.<br />
Folgli<strong>ch</strong> liegt keine Verletzung des Eigentums vor.<br />
III. Verletzung der Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG)<br />
Die Verdrängung des Reiters R von den bevorzugten auf weniger attraktive<br />
Reitwege könnte aber eine Verletzung seiner Handlungsfreiheit bedeuten.
150<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
1. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 2 I GG ist bei Freizeitbes<strong>ch</strong>äftigungen wie dem Reiten<br />
im Walde umstritten.<br />
Hinweis: Bei der Subsumtion ist zu bea<strong>ch</strong>ten, daß ni<strong>ch</strong>t das Reiten, sondern nur die<br />
freie Wahl des Reitweges bes<strong>ch</strong>ränkt wird.<br />
a) Na<strong>ch</strong> der Persönli<strong>ch</strong>keitskerntheorie (Peters) ist eine Handlung nur dann dur<strong>ch</strong><br />
Art. 2 I GG ges<strong>ch</strong>ützt, wenn sie zur Entfaltung der geistig sittli<strong>ch</strong>en Persönli<strong>ch</strong>keit<br />
beiträgt. Eine sol<strong>ch</strong>e Wirkung kann dem Reiten auf Lieblingswegen im Verglei<strong>ch</strong><br />
zu Nebenwegen ni<strong>ch</strong>t zuges<strong>ch</strong>rieben werden. Folgli<strong>ch</strong> wäre na<strong>ch</strong> dieser<br />
Ansi<strong>ch</strong>t der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t betroffen.<br />
b) Na<strong>ch</strong> einem Sondervotum von Dieter Grimm, das man als Bagatellisierungslehre<br />
bezei<strong>ch</strong>nen könnte, verdienen nur sol<strong>ch</strong>e Handlungsweisen grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>utz, die ni<strong>ch</strong>t als bloße Bagatelle einzustufen sind. Die Wahl des Reitweges<br />
wäre als eine verglei<strong>ch</strong>sweise unwi<strong>ch</strong>tige Freiheitsbetätigung dana<strong>ch</strong> ebenfalls<br />
ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>ützt.<br />
c) Die herrs<strong>ch</strong>ende Meinung sieht im S<strong>ch</strong>utz der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />
gemäß Art. 2 I GG hingegen einen umfassenden Auffangtatbestand, in dem jedes<br />
Handeln letztli<strong>ch</strong> Grundre<strong>ch</strong>tsrelevanz gewinnt, glei<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>es Gewi<strong>ch</strong>t es im<br />
Verglei<strong>ch</strong> zu anderen Freiheitsbetätigungen haben mag. Nur diese Ansi<strong>ch</strong>t führt<br />
dazu, daß die Reitwegwahl des R in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Grundre<strong>ch</strong>ts fällt.<br />
Hinweis: Der Meinungsstreit muß im folgenden nur deshalb diskutiert werden, weil<br />
die Ansi<strong>ch</strong>ten in diesem Fall zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Ergebnissen führen. Häufig fehlt<br />
es an sol<strong>ch</strong>er Ergebnisdivergenz. Dann kann der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> von Art. 2 I GG sehr<br />
kurz behandelt werden.<br />
d) Für die Persönli<strong>ch</strong>keitskerntheorie spri<strong>ch</strong>t zwar, daß sie si<strong>ch</strong> eng an den<br />
Wortlaut des Art. 2 I GG anlehnt, und für die Bagatellisierungslehre spri<strong>ch</strong>t, daß<br />
sie die Reduzierung des Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes zur ʺkleinen Münzeʺ verhindern<br />
und diesen auf die wi<strong>ch</strong>tigen Kerngehalte persönli<strong>ch</strong>er Freiheitsentfaltung konzentrieren<br />
kann, do<strong>ch</strong> haben beide Bes<strong>ch</strong>ränkungen den Na<strong>ch</strong>teil, daß sie die allgemeine<br />
Handlungsfreiheit ni<strong>ch</strong>t mehr als Auffanggrundre<strong>ch</strong>t einsetzen. Nur<br />
die herrs<strong>ch</strong>ende Meinung kann si<strong>ch</strong>erstellen, daß jede Handlungsweise, selbst<br />
wenn sie im Verglei<strong>ch</strong> mit anderen no<strong>ch</strong> so unwi<strong>ch</strong>tig ers<strong>ch</strong>einen mag, der<br />
grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Kontrolle unterliegt. Damit läßt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> dem Umstand Re<strong>ch</strong>nung<br />
tragen, daß Bagatellhandlungen, die den meisten Mens<strong>ch</strong>en unwi<strong>ch</strong>tig ers<strong>ch</strong>einen<br />
mögen, für einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsträger großes Gewi<strong>ch</strong>t haben können.<br />
Historis<strong>ch</strong> spri<strong>ch</strong>t zudem für die Annahme eines Auffangtatbestands, daß die<br />
Entwurfsfassungen des heutigen Art. 2 I GG no<strong>ch</strong> ganz allgemein davon spra-
Fall 1: Reiten im Walde 151<br />
<strong>ch</strong>en, jeder könne tun und lassen, was die Re<strong>ch</strong>te anderer ni<strong>ch</strong>t verletze. An dieser<br />
Weite sollte dur<strong>ch</strong> die vornehmer formulierte S<strong>ch</strong>lußfassung inhaltli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts<br />
geändert werden. Folgli<strong>ch</strong> spre<strong>ch</strong>en die besseren Gründe dafür, die allgemeine<br />
Handlungsfreiheit mit der herrs<strong>ch</strong>enden Meinung als umfassendes Auffanggrundre<strong>ch</strong>t<br />
zu verstehen.<br />
Demgemäß liegt in der Reitwegwahl des R eine Handlung, die in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
des Art. 2 I GG fällt.<br />
2. Eingriff<br />
In diesen S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> müßte dur<strong>ch</strong> die gesetzli<strong>ch</strong>e Neuregelung eingegriffen<br />
worden sein. Ein Eingriff ist jede staatli<strong>ch</strong>e Maßnahme, die eine in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
fallende Tätigkeit ers<strong>ch</strong>wert, verbietet, unmögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>t oder sanktioniert,<br />
insbesondere jede Maßnahme, mit der dies zielgeri<strong>ch</strong>tet und re<strong>ch</strong>tsförmig ges<strong>ch</strong>ieht<br />
(klassis<strong>ch</strong>er Eingriff). Die gesetzli<strong>ch</strong>e Neuregelung ist eine legislative, also<br />
staatli<strong>ch</strong>e Maßnahme, mit der den Reitern die freie Benutzung ungekennzei<strong>ch</strong>neter<br />
Waldwege zielgeri<strong>ch</strong>tet verboten wird. Sie stellt folgli<strong>ch</strong> einen Eingriff<br />
dar.<br />
3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Der Eingriff könnte verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt sein. Innerhalb der für<br />
sol<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigungen eins<strong>ch</strong>lägigen S<strong>ch</strong>rankentrias des Art. 2 I GG ist die ʹverfassungsmäßige<br />
Ordnungʹ die mit Abstand wi<strong>ch</strong>tigste S<strong>ch</strong>rankenklausel. Sie umfaßt<br />
alle Re<strong>ch</strong>tsnormen, also insbesondere au<strong>ch</strong> gesetzli<strong>ch</strong>e Neuregelungen.<br />
Folgli<strong>ch</strong> könnte die Neuregelung des Lands<strong>ch</strong>aftss<strong>ch</strong>utzgesetzes eine grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
S<strong>ch</strong>ranke und damit verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung im Sinne<br />
dieser Klausel bilden. Dazu müßte das Gesetz formell verfassungsgemäß ergangen<br />
und au<strong>ch</strong> im übrigen mit materiellen Verfassungserfordernissen vereinbar<br />
sein, insbesondere mit den Grundsätzen des Vertrauenss<strong>ch</strong>utzes und der Verhältnismäßigkeit.<br />
a) Formelle Verfassungsmäßigkeit<br />
Im Rahmen der formellen Verfassungsmäßigkeit ergibt si<strong>ch</strong> die Gesetzgebungskompetenz<br />
des Landes aus Art. 70 I GG, wobei die Bundesrahmengesetzgebung<br />
gemäß 75 I Nr. 3 GG (Lands<strong>ch</strong>aftspflege) gewahrt werden muß. Das Landesgesetz<br />
hält si<strong>ch</strong> im Rahmen des Bundeswaldgesetzes und ist folgli<strong>ch</strong> kompetenzgemäß<br />
zustande gekommen. Au<strong>ch</strong> für Verfahrens- oder Formfehler bezügli<strong>ch</strong><br />
des in der Landesverfassung geregelten Prozederes gibt es keine Anhaltspunkte.<br />
Die gesetzli<strong>ch</strong>e Neuregelung ist formell verfassungsgemäß.
152<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
b) Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />
Das Änderungsgesetz müßte au<strong>ch</strong> materiell verfassungsgemäß sein.<br />
Hinweis: Relevant ist allein das Änderungsgesetz, weil erst dieses die Wegeauswahl<br />
bes<strong>ch</strong>ränkt.<br />
aa) Vertrauenss<strong>ch</strong>utz<br />
Mit Blick darauf, daß R si<strong>ch</strong> sein Pferd im Vertrauen auf die bisherige gesetzli<strong>ch</strong>e<br />
Regelung gekauft hat, stellt si<strong>ch</strong> zunä<strong>ch</strong>st die Frage, ob das Gesetz gegen das<br />
re<strong>ch</strong>tsstaatli<strong>ch</strong> gebotene Vertrauenss<strong>ch</strong>utzprinzip verstößt. Dieses genießt Verfassungsrang<br />
als unges<strong>ch</strong>riebener Re<strong>ch</strong>tssatz. Allerdings kann der Vertrauenss<strong>ch</strong>utz<br />
ni<strong>ch</strong>t so verstanden werden, daß er vor jeder Gesetzesänderung s<strong>ch</strong>ützt,<br />
denn eine sol<strong>ch</strong>e Versteinerung stünde im Gegensatz zu den Legislativkompetenzen.<br />
Im Falle des Reitens im Walde kommt no<strong>ch</strong> hinzu, daß die gesetzli<strong>ch</strong>e<br />
Regelung in der Vergangenheit bereits mehrfa<strong>ch</strong> geändert worden ist, also ni<strong>ch</strong>t<br />
einmal zu einer langen Tradition der Reitwegefreiheit führen konnte. Bei einer<br />
derartigen Sa<strong>ch</strong>lage ist ein Vertrauenss<strong>ch</strong>utz der Reiter in den Fortbestand der<br />
aktuellen Regelung zu verneinen. Das Vertrauenss<strong>ch</strong>utzprinzip ist folgli<strong>ch</strong> bei<br />
der Gesetzesnovelle gewahrt worden.<br />
bb) Verhältnismäßigkeit der Gesetzesänderung<br />
Es könnte aber ein Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip vorliegen.<br />
Immerhin ma<strong>ch</strong>t R geltend, daß die untrennbare Verknüpfung von Wald, Pferd<br />
und Reiter es ni<strong>ch</strong>t zulasse, die Reitwegewahl zu bes<strong>ch</strong>ränken; außerdem sei es<br />
angesi<strong>ch</strong>ts der hohen Unterhaltungskosten unzumutbar, Pferde nur bes<strong>ch</strong>ränkt<br />
nutzen zu dürfen. Zu messen sind sol<strong>ch</strong>e Interessen an dem gesetzli<strong>ch</strong>en Zweck,<br />
erholungsu<strong>ch</strong>ende Spaziergänger zu s<strong>ch</strong>ützen und die Zerstörung der Waldwege<br />
zu verhindern.<br />
(1) Die Geeignetheit des grundsätzli<strong>ch</strong>en Reitverbots zur Förderung dieses<br />
Zweckes liegt darin begründet, daß mit den Bes<strong>ch</strong>ränkungen des Reitens mehr<br />
Freiraum für die Erholung der Spaziergänger und die Regeneration der Natur<br />
ges<strong>ch</strong>affen wird.<br />
(2) Die Regelung wäre nur dann erforderli<strong>ch</strong>, wenn es keine glei<strong>ch</strong> wirksamen<br />
Mittel gäbe, die für die Reiter weniger eins<strong>ch</strong>neidend wären. Als sol<strong>ch</strong>e milderen<br />
Mittel kämen erweiterte Einzelverbote statt eines generellen Verbots in Betra<strong>ch</strong>t.<br />
Es ist aber ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong> kostengünstig und damit weniger effizient, wenn flä<strong>ch</strong>endeckend<br />
Verbotss<strong>ch</strong>ilder aufgestellt werden müßten. Folgli<strong>ch</strong> ist die Gesetzesregelung<br />
au<strong>ch</strong> erforderli<strong>ch</strong>.
Fall 1: Reiten im Walde 153<br />
(3) Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne wäre nur gegeben, wenn si<strong>ch</strong> die<br />
gesetzli<strong>ch</strong>e Neuregelung in Abwägung mit den beeinträ<strong>ch</strong>tigten Interessen der<br />
Reiter als no<strong>ch</strong> angemessen erweist. Hierbei ist zu berücksi<strong>ch</strong>tigen, daß zwar<br />
das freie Reiten auf allen Wegen für passionierte Freizeitreiter wie den R eine besonders<br />
wi<strong>ch</strong>tige Freiheitsbetätigung darstellt, andererseits aber au<strong>ch</strong> mit den gesetzli<strong>ch</strong>en<br />
Zwecken letztli<strong>ch</strong> grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Interessen ges<strong>ch</strong>ützt werden. Für<br />
die erholungsu<strong>ch</strong>enden Spaziergänger ist ihre Freizeitaktivität ebenfalls Ausdruck<br />
der allgemeinen Handlungsfreiheit. Im übrigen wird die Reitmögli<strong>ch</strong>keit<br />
dur<strong>ch</strong> die Gesetzesnovelle ni<strong>ch</strong>t ganz verdrängt, sondern die Behörden sind ausdrückli<strong>ch</strong><br />
verpfli<strong>ch</strong>tet, für ein ausrei<strong>ch</strong>endes und geeignetes Reitwegenetz zu<br />
sorgen. Angesi<strong>ch</strong>ts dieser Reitalternativen und der konkurrierenden Nutzungsansprü<strong>ch</strong>e<br />
ist es no<strong>ch</strong> angemessen, Reiter und Spaziergänger voneinander zu<br />
trennen und die Waldwege mit Ausnahme des Reitwegenetzes grundsätzli<strong>ch</strong><br />
reiterfrei zu halten.<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist das Gesetz hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> der Bes<strong>ch</strong>ränkung der allgemeinen<br />
Handlungsfreiheit au<strong>ch</strong> materiell verfassungsgemäß; das Re<strong>ch</strong>t des R aus Art. 2 I<br />
GG ist ni<strong>ch</strong>t verletzt.<br />
IV. Verletzung des Glei<strong>ch</strong>heitssatzes (Art. 3 I GG)<br />
S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> könnte no<strong>ch</strong> eine Verletzung des Glei<strong>ch</strong>heitssatzes darin liegen, daß<br />
das Reiten dur<strong>ch</strong> die gesetzli<strong>ch</strong>e Neuregelung grundsätzli<strong>ch</strong> verboten wird, während<br />
das Radfahren auf unbes<strong>ch</strong>ilderten Waldwegen weiterhin gestattet bleibt.<br />
1. Eine Unglei<strong>ch</strong>behandlung wesentli<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong>er Sa<strong>ch</strong>verhalte besteht insoweit,<br />
als Reiter im Hinblick auf die Nutzung der unbes<strong>ch</strong>ilderten Waldwege anders<br />
behandelt werden als Radfahrer, obwohl Radler wie Reiter Spuren hinterlassen<br />
und Platz beanspru<strong>ch</strong>en.<br />
2. Die Unglei<strong>ch</strong>behandlung könnte aber verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt sein,<br />
soweit ein sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Grund für die Differenzierung besteht. Radfahrer gefährden<br />
weder die Umwelt no<strong>ch</strong> die Gesundheit der Spaziergänger glei<strong>ch</strong> intensiv<br />
wie Reiter, deren Pferde s<strong>ch</strong>on allein wegen ihrer Größe eine andersartige und im<br />
Ergebnis stärkere Verdrängungswirkung auf den Reitwegen entfalten. Allenfalls<br />
eine entspre<strong>ch</strong>end größere Zahl von Radlern könnte glei<strong>ch</strong>e Außenwirkung erzeugen<br />
wie die Reiter. Hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> der Gefährungsbeiträge unts<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Nutzungsarten<br />
muß dem Gesetzgeber aber eine Eins<strong>ch</strong>ätzungsprärogative zugestanden<br />
werden. Insgesamt kann darum die Differenzierung zwis<strong>ch</strong>en den Nutzergruppen<br />
ʹReiterʹ und ʹRadfahrerʹ no<strong>ch</strong> als sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> begründet angesehen werden.<br />
Eine Verletzung des Glei<strong>ch</strong>heitssatzes liegt demna<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vor.
154<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
V. Ergebnis<br />
R wird dur<strong>ch</strong> die Neuregelung des Lands<strong>ch</strong>aftss<strong>ch</strong>utzgesetzes des Landes B ni<strong>ch</strong>t<br />
in seinen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n verletzt.
Fall 2: Taxiges<strong>ch</strong>äft<br />
Student S mö<strong>ch</strong>te in den Abendstunden mit seinem Auto als Taxifahrer arbeiten,<br />
um seine studentis<strong>ch</strong>e Haushaltskasse aufzubessern. Die dazu notwendige Genehmigung<br />
wird ihm jedo<strong>ch</strong> unter Hinweis auf § 13 IV PBefG von der zuständigen<br />
Behörde versagt: Es bestehe aufgrund der s<strong>ch</strong>on zum gegenwärtigen Zeitpunkt<br />
hohen Taxendi<strong>ch</strong>te keine Na<strong>ch</strong>frage für ein weiteres Taxi, so daß ein allgemeiner<br />
Zulassungsstop verhängt worden sei. Die Behörde hat der Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
neueste umfangrei<strong>ch</strong>e Erhebungen hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> des Bedarfs zugrunde gelegt<br />
und au<strong>ch</strong> die den anderen Bewerbern erteilten Genehmigungen in die Abwägung<br />
miteinbezogen.<br />
S ist entrüstet. Man lebe s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t im Kommunismus; die Konkurrenz<br />
werde das Ges<strong>ch</strong>äft s<strong>ch</strong>on ents<strong>ch</strong>eiden. Bei dem Verkehrs<strong>ch</strong>aos in der Innenstadt<br />
komme es auf einen Wagen mehr au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an. Er habe sämtli<strong>ch</strong>e erforderli<strong>ch</strong>en<br />
Prüfungen mit Bravour bestanden und wolle seine Fähigkeiten nun au<strong>ch</strong> nutzen.<br />
Jedenfalls sei es völlig unverhältnismäßig, ihm jede Mögli<strong>ch</strong>keit des Taxifahrens<br />
zu nehmen, ohne daß er selbst einen Einfluß darauf nehmen könne. Anderen<br />
Taxifahrern sei s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> eine Genehmigung erteilt worden. Dies sei eine<br />
Verletzung seiner <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>.<br />
1. Ist S in seinen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n verletzt?<br />
2. In wel<strong>ch</strong>en Verfahren würde die Frage vom Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t geprüft:<br />
a) na<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>öpfung des Re<strong>ch</strong>tswegs;<br />
b) während der verwaltungsgeri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Überprüfung, wenn die zuständigen<br />
Verwaltungsri<strong>ch</strong>ter starke Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 13<br />
IV PBefG haben?<br />
Vgl. BVerfGE 7, 377 – Apotheken-Urteil; 11, 168 – Taxi-Bes<strong>ch</strong>luß<br />
Bearbeitungszeit: ca. 2 Stunden<br />
§ 13 IV PBefG:<br />
»(...) Beim Verkehr mit Taxen ist die Genehmigung zu versagen, wenn die öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Verkehrsinteressen dadur<strong>ch</strong> beeinträ<strong>ch</strong>tigt werden, daß dur<strong>ch</strong> die Ausübung<br />
des beantragten Verkehrs das örtli<strong>ch</strong>e Taxengewerbe in seiner Funktionsfähigkeit bedroht<br />
ist. Hierbei sind ... zu berücksi<strong>ch</strong>tigen<br />
1. die Na<strong>ch</strong>frage na<strong>ch</strong> Beförderungaufträgen im Taxenverkehr,<br />
2. die Taxendi<strong>ch</strong>te,<br />
3. die Entwicklung der Ertrags- und Kostenlage unter Einbeziehung der Einsatzzeit,<br />
4. die Anzahl und Ursa<strong>ch</strong>en der Ges<strong>ch</strong>äftsaufgaben. (...)«
156<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
Fall 2: Taxiges<strong>ch</strong>äft – Lösung<br />
A. Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung (Frage 1)<br />
S könnte in seiner Berufsfreiheit (Art. 12 I GG), seinem Eigentumsre<strong>ch</strong>t (Art. 14 I<br />
GG), seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) oder dem Glei<strong>ch</strong>behandlungsre<strong>ch</strong>t<br />
(Art. 3 I GG) verletzt sein.<br />
I. Berufsfreiheit (Art. 12 I GG)<br />
1. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
a) Der persönli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 12 I GG als eines Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>ts<br />
ist für S als Deuts<strong>ch</strong>en im Sinne von Art. 116 GG eröffnet.<br />
b) Des weiteren müßte au<strong>ch</strong> der sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 12 I GG eröffnet<br />
sein. Satz 1 s<strong>ch</strong>ützt na<strong>ch</strong> seinem Wortlaut die Wahl von Beruf, Arbeitsplatz<br />
und Ausbildungsstätte. Satz 2 befaßt si<strong>ch</strong> mit der Berufsausübung. Trotz dieser<br />
textli<strong>ch</strong>en Trennung enthält das Grundre<strong>ch</strong>t einen einheitli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>,<br />
der alle Aspekte des Berufs umfaßt.<br />
Die Tätigkeit des S als Taxifahrer müßte einen Beruf im Sinne der Norm darstellen.<br />
Unter ʹBerufʹ im Sinne von Art. 12 I GG ist jede auf Dauer angelegte Tätigkeit<br />
zu verstehen, die der S<strong>ch</strong>affung oder Erhaltung einer Lebensgrundlage<br />
dient.<br />
Bei der Tätigkeit als Taxifahrer handelt es si<strong>ch</strong> um eine Tätigkeit, die bei S auf<br />
eine gewisse Dauerhaftigkeit hin angelegt ist und die der Unterstützung seiner<br />
Lebensgrundlage dient. Fragli<strong>ch</strong> ist jedo<strong>ch</strong>, ob si<strong>ch</strong> S au<strong>ch</strong> dann auf Art. 12 I GG<br />
berufen kann, wenn er die Tätigkeit als Taxifahrer ni<strong>ch</strong>t hauptberufli<strong>ch</strong>, sondern<br />
nur als Nebentätigkeit zum Studium ausüben mö<strong>ch</strong>te. Die Nebentätigkeit als<br />
Taxifahrer soll bei S immerhin zur Aufbesserung seiner studentis<strong>ch</strong>en Haushaltskasse<br />
beitragen. Au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Nebentätigkeiten fallen unter den Berufsbegriff.<br />
Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 12 I GG ist folgli<strong>ch</strong> eröffnet.<br />
2. Eingriff<br />
In diesen S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> müßte die Behörde dur<strong>ch</strong> ihre Ents<strong>ch</strong>eidung eingegriffen<br />
haben. Ein Eingriff ist jede staatli<strong>ch</strong>e Maßnahme, die eine in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
fallende Tätigkeit ers<strong>ch</strong>wert, verbietet, unmögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>t oder sanktioniert, insbesondere<br />
jede Maßnahme, mit der dies zielgeri<strong>ch</strong>tet und re<strong>ch</strong>tsförmig ges<strong>ch</strong>ieht<br />
(klassis<strong>ch</strong>er Eingriff). Mit der Ablehnung der na<strong>ch</strong> dem Gesetz erforderli<strong>ch</strong>en<br />
Genehmigung zum Taxifahren wird es dem S verwehrt, legal der von ihm ge-
Fall 2: Taxiges<strong>ch</strong>äft 157<br />
wüns<strong>ch</strong>ten Berufstätigkeit na<strong>ch</strong>zugehen. Er wird folgli<strong>ch</strong> zielgeri<strong>ch</strong>tet und<br />
re<strong>ch</strong>tsförmig an seiner Freiheitsausübung als Taxifahrer gehindert. Die Ablehnung<br />
stellt demna<strong>ch</strong> einen Eingriff dar.<br />
3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Die Genehmigungsversagung wäre verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt, wenn sie<br />
als Ausdruck der S<strong>ch</strong>rankenklausel des Art. 12 I 2 GG die Berufsfreiheit wirksam<br />
bes<strong>ch</strong>ränkte. Art. 12 I 2 GG sieht zwar ausdrückli<strong>ch</strong> nur Regelungen der Berufsausübungsfreiheit,<br />
ni<strong>ch</strong>t der Berufswahlfreiheit vor. Do<strong>ch</strong> gilt der Gesetzesvorbehalt<br />
ebenso umfassend für alle Modalitäten der Berufsfreiheit, wie au<strong>ch</strong> der<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> diese Freiheit umfassend eins<strong>ch</strong>ließt.<br />
Als Ausdruck des Gesetzesvorbehalts müßte die Versagung auf der Grundlage<br />
eines verfassungsmäßigen Gesetzes ergangen und selbst verfassungsgemäß<br />
sein.<br />
a) Verfassungsmäßigkeit der gesetzli<strong>ch</strong>en Grundlage – § 13 IV PBefG<br />
Als gesetzli<strong>ch</strong>e Grundlage kommt allein § 13 IV PBefG in Betra<strong>ch</strong>t.<br />
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit<br />
Hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> der formellen Verfassungsmäßigkeit des § 13 IV PBefG folgt die<br />
Bundeskompetenz aus Art. 72 II, 74 I Nr. 22 GG. Verfahren und Form sind mangels<br />
gegenteiliger Anhaltspunkte gewahrt. Folgli<strong>ch</strong> ist das Gesetz formell verfassungsgemäß.<br />
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />
§ 13 IV PBefG müßte außerdem materiell verfassungsgemäß sein. Die Norm<br />
müßte dazu dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspre<strong>ch</strong>en, der bei der Berufsfreiheit<br />
in Form der Dreistufentheorie gilt.<br />
Der Zweck des § 13 IV PBefG besteht erkennbar darin, den Konkurrenzdruck<br />
unter den Taxiunternehmen abzus<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en, um so den Markt des Gelegenheitsverkehrs<br />
zu entspannen. Dies dient dem Interesse der Allgemeinheit an der Existenz<br />
und dem reibungslosen Funktionieren des Gelegenheitsverkehrs und<br />
s<strong>ch</strong>ützt mittelbar au<strong>ch</strong> die Si<strong>ch</strong>erheitsstandards vor ruinösem Wettbewerb.<br />
(1) Geeignetheit<br />
Das Gesetz ist geeignet, soweit es den verfolgten Zweck zu fördern vermag.<br />
Dur<strong>ch</strong> die Kontingentierung der Lizenzen wird nur eine bestimmte Anzahl von<br />
Taxen zugelassen, so daß der Konkurrenzdruck ni<strong>ch</strong>t übermäßig steigt und die<br />
Funktionsfähigkeit ges<strong>ch</strong>ützt wird. Die Maßnahme ist folgli<strong>ch</strong> geeignet.
158<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
(2) Erforderli<strong>ch</strong>keit<br />
Für die Erforderli<strong>ch</strong>keit fragt si<strong>ch</strong> im Rahmen der Dreistufentheorie zunä<strong>ch</strong>st, ob<br />
der verfolgte Zweck ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong> wirksam auf einer niedrigeren Eingriffsstufe<br />
hätte errei<strong>ch</strong>t werden können.<br />
Hinweis: Erst an dieser Stelle, also in der Erforderli<strong>ch</strong>keit, ist die Bestimmung der<br />
Eingriffsstufe nötig.<br />
Dies hängt davon ab, wel<strong>ch</strong>er Stufe der Dreistufentheorie die Kontingentierung<br />
zugehört. Sie regelt ni<strong>ch</strong>t nur die Berufsausübung, sondern bes<strong>ch</strong>ränkt den Zugang<br />
zur Arbeit als Taxifahrer. Darüber hinaus steht es ni<strong>ch</strong>t in der Ma<strong>ch</strong>t des<br />
einzelnen Bewerbers, auf seine Zulassung zum Gelegenheitsverkehr Einfluß zu<br />
nehmen, weil diese unabhängig vom Prüfungsergebnis versagt werden kann.<br />
Die Kontingentierung ist also keine subjektive Maßnahme, sondern allein abhängig<br />
von objektiven Kriterien. Folgli<strong>ch</strong> handelt es si<strong>ch</strong> bezügli<strong>ch</strong> der Berufsfreiheit<br />
um eine objektive Zulassungsbes<strong>ch</strong>ränkung – eine Regelung der dritten Stufe.<br />
Als bloßes Mittel der Berufsausübungskontrolle, also der ersten Stufe, kämen<br />
zwar Überwa<strong>ch</strong>ungsmaßnahmen als denkbare Alternativen in Betra<strong>ch</strong>t, aber sie<br />
könnten den Zweck ni<strong>ch</strong>t vollständig erfüllen und wären au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong> effektiv,<br />
weil mit ihnen ein größerer Aufwand verbunden ist. Subjektive Zulassungsvoraussetzungen<br />
als Mittel der zweiten Stufe, etwa strengere Eignungstests,<br />
könnten ebensowenig Abhilfe leisten. Das zu bekämpfende Problem liegt ni<strong>ch</strong>t<br />
in den Fähigkeiten der Bewerber, sondern in der objektiven Marktlage. Folgli<strong>ch</strong><br />
fehlt ein glei<strong>ch</strong> wirksames Alternativmittel auf niedrigerer Eingriffsstufe.<br />
Fragt si<strong>ch</strong> weiter, ob ni<strong>ch</strong>t eine mildere, glei<strong>ch</strong> wirksame Maßnahme auf derselben<br />
Stufe denkbar ist, also eine andere Form der objektiven Zulassungsbes<strong>ch</strong>ränkung.<br />
Jede sol<strong>ch</strong>e objektive Bes<strong>ch</strong>ränkung würde es den Bewerbern<br />
subjektiv unmögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en, auf ihre Zulassung Einfluß zu nehmen. Folgli<strong>ch</strong><br />
fehlt es an milderen Alternativen auf derselben Stufe.<br />
Die Maßnahme ist demna<strong>ch</strong> erforderli<strong>ch</strong>.<br />
(3) Angemessenheit<br />
Das Mittel der objektiven Zulassungsbes<strong>ch</strong>ränkung müßte hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> des mit<br />
ihm verfolgten Zweckes no<strong>ch</strong> angemessen sein.<br />
Bei objektiven Zulassungsbes<strong>ch</strong>ränkungen muß die gesetzli<strong>ch</strong>e Regelung gemäß<br />
der Dreistufentheorie dem S<strong>ch</strong>utz überragend wi<strong>ch</strong>tiger Gemeins<strong>ch</strong>aftsgüter<br />
gegen na<strong>ch</strong>weisbare oder hö<strong>ch</strong>stwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>e s<strong>ch</strong>were Gefahren dienen. Das<br />
Wirts<strong>ch</strong>aftsinteresse der bisher tätigen Taxenunternehmen oder die glei<strong>ch</strong>bleibende<br />
und damit bequeme Verfügbarkeit der Taxen im Straßenverkehr wären
Fall 2: Taxiges<strong>ch</strong>äft 159<br />
allein ni<strong>ch</strong>t genug, um als überragend wi<strong>ch</strong>tige Gemeins<strong>ch</strong>aftsgüter anerkannt zu<br />
werden. Insoweit verhält es si<strong>ch</strong> aber anders mit den Si<strong>ch</strong>erheitsinteressen, die<br />
dur<strong>ch</strong> ein funktionierendes Taxengewerbe ohne ruinösen Wettbewerb mittelbar<br />
ebenfalls ges<strong>ch</strong>ützt werden. Dieser S<strong>ch</strong>utz dient letztli<strong>ch</strong> der körperli<strong>ch</strong>en Unversehrtheit<br />
der Fahrgäste und der Öffentli<strong>ch</strong>keit. Es liegt au<strong>ch</strong> eine hö<strong>ch</strong>stwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>e<br />
Gefahr darin, daß ein ungeregelter Wettbewerb den Taxenunternehmern<br />
in Zeiten besonders harter Konkurrenz die notwendigen Mittel für eine<br />
gute Wartung und damit hohe Si<strong>ch</strong>erheit der Fahrzeuge entziehen könnte. Ein<br />
hinrei<strong>ch</strong>endes Gewi<strong>ch</strong>t des gesetzli<strong>ch</strong>en Zweckes kann folgli<strong>ch</strong> bejaht werden.<br />
Im Rahmen der Abwägung ist gegenüber diesem Gewi<strong>ch</strong>t des Si<strong>ch</strong>erheitsinteresses<br />
auf der anderen Seite die elementare Bedeutung der Berufsfreiheit für<br />
die Verwirkli<strong>ch</strong>ung der Persönli<strong>ch</strong>keit mit zu berücksi<strong>ch</strong>tigen. In dieser Lage ers<strong>ch</strong>eint<br />
eine gesetzli<strong>ch</strong>e Kontingentierung jedenfalls dann no<strong>ch</strong> angemessen,<br />
wenn sie si<strong>ch</strong> an na<strong>ch</strong>weisbaren Umstände bemißt, insbesondere an dem tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
und präzise ermittelten Bedarf an Taxen, und diese Umstände regelmäßig<br />
überprüft werden.<br />
Wie si<strong>ch</strong> aus § 13 IV PBefG ergibt, wird diesen Anforderungen dur<strong>ch</strong> das Gesetz<br />
Re<strong>ch</strong>nung getragen. Die Kontingentierung ist folgli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> angemessen; die<br />
Verhältnismäßigkeit ist gewahrt.<br />
cc) Zwis<strong>ch</strong>energebnis<br />
Die gesetzli<strong>ch</strong>e Grundlage der Genehmigungsversagung verstößt folgli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
gegen das Grundre<strong>ch</strong>t der Berufsfreiheit.<br />
b) Verfassungsmäßigkeit der Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
Die verfassungsgemäße Anwendung des § 13 IV PBefG setzt voraus, daß dessen<br />
Tatbestand erfüllt ist. Für die Kriterien der Norm hat die Behörde neueste umfangrei<strong>ch</strong>e<br />
Erhebungen hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> des Bedarfs zugrunde gelegt und die den anderen<br />
Bewerbern erteilten Genehmigungen in die Abwägung einbezogen. Unter<br />
diesen Umständen gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Auslegung der<br />
unbestimmten Re<strong>ch</strong>tsbegriffe bei Anwendung der Norm fehlerhaft gewesen wäre.<br />
Als Re<strong>ch</strong>tsfolge sieht die Norm die Versagung weiterer Erlaubnisse als Akt<br />
gebundener Verwaltung vor (»ist ... zu versagen«). Auf Einzelfallerwägungen<br />
bezügli<strong>ch</strong> der besonderen Situation des S kommt es in einem sol<strong>ch</strong>en Fall ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr an.<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist dur<strong>ch</strong> fehlerfreie Anwendung der verhältnismäßigen und berufsfreiheitskonformen<br />
gesetzli<strong>ch</strong>en Grundlage au<strong>ch</strong> die Genehmigungsversagung<br />
selbst verhältnismäßig.
160<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
c) Zwis<strong>ch</strong>energebnis<br />
Die Ents<strong>ch</strong>eidung beruht also auf einer verfassungsgemäßen Grundlage und bildet<br />
selbst keinen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 12 I GG. Sie ist na<strong>ch</strong> § 13<br />
IV PBefG, Art. 12 I 2 GG verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt.<br />
Die Berufsfreiheit des S aus Art. 12 I GG ist ni<strong>ch</strong>t verletzt.<br />
II. Eigentumsre<strong>ch</strong>t (Art. 14 I GG)<br />
Zu denken wäre außerdem an eine Verletzung des Eigentumsre<strong>ch</strong>ts aus Art. 14 I<br />
GG, da S sein Fahrzeug ni<strong>ch</strong>t wie gewüns<strong>ch</strong>t nutzen kann. Jedo<strong>ch</strong> ist zwis<strong>ch</strong>en<br />
den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>en von Art. 12 I GG einerseits und Art. 14 I GG andererseits eine<br />
Abgrenzung na<strong>ch</strong> dem S<strong>ch</strong>werpunkt der betroffenen Interessen vorzunehmen<br />
– anwendbar ist allein das sa<strong>ch</strong>nähere Grundre<strong>ch</strong>t. Hier liegt der S<strong>ch</strong>werpunkt<br />
auf der Tätigkeit, also beim zukünftigen Erwerb von Geld dur<strong>ch</strong> Einsatz des Eigentumsgegenstandes,<br />
ni<strong>ch</strong>t beim bereits Erworbenen. Folgli<strong>ch</strong> ist der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
des Art. 14 I GG ni<strong>ch</strong>t betroffen.<br />
III. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG)<br />
Als subsidiäres Auffanggrundre<strong>ch</strong>t ist Art. 2 I GG ni<strong>ch</strong>t mehr eins<strong>ch</strong>lägig, da Art.<br />
12 I GG thematis<strong>ch</strong> den Fall in jeder Hinsi<strong>ch</strong>t abdeckt.<br />
IV. Allgemeines Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>t (Art. 3 I GG)<br />
S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> kommt eine Verletzung des Art. 3 I GG in Betra<strong>ch</strong>t.<br />
Es liegt eine Unglei<strong>ch</strong>behandlung gegenüber anderen Bewerbern vor, die bereits<br />
vor dem S eine Genehmigung erhalten haben, ohne fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> besser qualifiziert<br />
zu sein. Diese Unglei<strong>ch</strong>behandlung ist aber aus den glei<strong>ch</strong>en Überlegungen<br />
sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> zu re<strong>ch</strong>tfertigen, die einen Eingriff in Art. 12 I GG gere<strong>ch</strong>tfertigt haben.<br />
In der Kontingentierung liegt immer eine Unglei<strong>ch</strong>behandlung. Folgli<strong>ch</strong> besteht<br />
au<strong>ch</strong> bezügli<strong>ch</strong> des Glei<strong>ch</strong>behandlungsgebots eine hinrei<strong>ch</strong>ende Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
darin, daß andere Taxifahrer ihre Erlaubnis vor Erlaß des allgemeinen Zulassungsstops<br />
und damit früher als S begehrt und erhalten haben.<br />
Es liegt demna<strong>ch</strong> kein Verstoß gegen den Glei<strong>ch</strong>heitsgrundsatz des Art. 3 I<br />
GG vor.<br />
V. Ergebnis zu Frage 1<br />
S ist ni<strong>ch</strong>t in seinen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n verletzt.
Fall 2: Taxiges<strong>ch</strong>äft 161<br />
B. Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde (Frage 2a)<br />
Als einzig mögli<strong>ch</strong>er Individualre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz vor dem Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
käme na<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>öpfung des Re<strong>ch</strong>tswegs eine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des S in<br />
Betra<strong>ch</strong>t (Art. 93 I Nr. 4a GG, §§13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG).<br />
I. Beteiligtenfähigkeit<br />
Na<strong>ch</strong> Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG ist »jedermann« antragsbere<strong>ch</strong>tigt. Jedermann<br />
im Sinne dieser Vors<strong>ch</strong>riften sind alle Grundre<strong>ch</strong>tsträger, insbesondere<br />
alle natürli<strong>ch</strong>en Personen. Folgli<strong>ch</strong> ist S beteiligtenfähig.<br />
II. Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand<br />
S müßte si<strong>ch</strong> gegen einen für die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde geeigneten Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand<br />
wenden. Na<strong>ch</strong> Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG können nur<br />
Akte der öffentli<strong>ch</strong>en Gewalt Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand sein. Der Begriff der öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Gewalt entspri<strong>ch</strong>t demjenigen in Art. 1 III GG und setzt si<strong>ch</strong> folgli<strong>ch</strong><br />
aus Legislative, Exekutive und Judikative zusammen. Zu denken wäre hier zunä<strong>ch</strong>st<br />
an die Genehmigungsversagung als Akt der Exekutive sowie deren Bestätigung<br />
dur<strong>ch</strong> das letztinstanzli<strong>ch</strong>e Urteil als Akt der Judikative. Gegen beides<br />
wendet si<strong>ch</strong> S unmittelbar. Mittelbar wendet si<strong>ch</strong> S zudem gegen § 13 IV PBefG<br />
als Akt der Legislative.<br />
III. Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis<br />
S müßte bes<strong>ch</strong>werdebefugt sein.<br />
1. Mögli<strong>ch</strong>keit der Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung<br />
Die Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis setzt voraus, daß S substantiiert darlegt, mögli<strong>ch</strong>erweise<br />
dur<strong>ch</strong> den Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand in seinen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n verletzt zu sein. S<br />
kann hier eine mögli<strong>ch</strong>e Verletzung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> aus Art. 12 I, 14 I, 2 I, 3 I GG<br />
rügen. Eine Verletzung in einem oder mehreren dieser <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> ers<strong>ch</strong>eint jedenfalls<br />
ni<strong>ch</strong>t von vornherein ausges<strong>ch</strong>lossen.<br />
2. Betroffenheit (selbst, gegenwärtig, unmittelbar)<br />
Zudem müßte S darlegen, daß er dur<strong>ch</strong> die angegriffenen Maßnahmen selbst,<br />
unmittelbar und gegenwärtig betroffen ist. Bezügli<strong>ch</strong> der Genehmigungsversagung<br />
und des sie bestätigenden letztinstanzli<strong>ch</strong>en Urteils kann S<br />
dies als Adressat belastender Maßnahmen geltend ma<strong>ch</strong>en. Bezügli<strong>ch</strong> des mittelbar<br />
angegriffenen Parlamentsgesetzes ist S inzwis<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong> dessen Konkretisierung<br />
in Form der Versagung selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen.
162<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
Er ist folgli<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>werdebefugt.<br />
IV. Form und Frist<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde müßte S s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong> (§ 23 BVerfGG) und begründet<br />
(§ 92 BVerfGG) einrei<strong>ch</strong>en. Na<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>öpfung des Re<strong>ch</strong>tswegs ist dabei bezügli<strong>ch</strong><br />
der unmittelbar angegriffenen Maßnahmen die Monatsfrist des § 93 I 1<br />
BVerfGG zu bea<strong>ch</strong>ten. Von einer Einhaltung dieser Frist ist hier auszugehen.<br />
V. Re<strong>ch</strong>tswegers<strong>ch</strong>öpfung<br />
S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> müßte S na<strong>ch</strong> Art. 94 II 2 GG, § 90 II 1 BVerfGG den Re<strong>ch</strong>tsweg vor<br />
Anrufen des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t ers<strong>ch</strong>öpft haben. Dies ist na<strong>ch</strong> dem<br />
Sa<strong>ch</strong>verhalt in der Fallvariante von Frage 2a ges<strong>ch</strong>ehen.<br />
VII. Ergebnis zu Frage 2a<br />
Bei Bea<strong>ch</strong>tung der formalen Voraussetzungen wäre eine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
des S unmittelbar gegen die Versagung der Genehmigung sowie mittelbar gegen<br />
das dieser Versagung zugrundeliegende Gesetz zulässig.<br />
C. Konkrete Normenkontrolle (Frage 2b)<br />
Während des Verwaltungsgeri<strong>ch</strong>tsverfahrens könnten die zuständigen Verwaltungsri<strong>ch</strong>ter<br />
das Verfahren aussetzen und die Vors<strong>ch</strong>rift des § 13 IV PBefG dem<br />
Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t zur konkreten Normenkontrolle vorlegen (Art. 100 I<br />
GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG).<br />
I. Vorlagebere<strong>ch</strong>tigung<br />
Das vorlegende Geri<strong>ch</strong>t müßte zur Vorlage bere<strong>ch</strong>tigt sein. Art. 100 I GG spri<strong>ch</strong>t<br />
allgemein von einem Geri<strong>ch</strong>t, das die Vorlage zum Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
einleiten kann. Bei dem von den zuständigen Verwaltungsri<strong>ch</strong>tern gebildeten<br />
Kollegialorgan handelt es si<strong>ch</strong> um ein Verwaltungsgeri<strong>ch</strong>t, also ein staatli<strong>ch</strong>es<br />
Geri<strong>ch</strong>t im Sinne der Art. 92 ff. GG. Die Ri<strong>ch</strong>ter sind folgli<strong>ch</strong> vorlagebere<strong>ch</strong>tigt.<br />
II. Prüfungsgegenstand<br />
Die Vorlage müßte einen geeigneten Prüfungsgegenstand betreffen. Zulässige<br />
Prüfungsgegenstände im Sinne von Art. 100 I GG sind alle formellen, na<strong>ch</strong>konstitutionellen<br />
Gesetze. § 13 IV PBefG ist ein na<strong>ch</strong>konstitutionelles Parlamentsgesetz<br />
des Bundes. Folgli<strong>ch</strong> handelt es si<strong>ch</strong> um einen geeigneten Prüfungsgegenstand.
Fall 2: Taxiges<strong>ch</strong>äft 163<br />
III. Vorlagebefugnis<br />
Als weitere Voraussetzung müßte das Geri<strong>ch</strong>t vorlagebefugt sein. Das wäre der<br />
Fall, wenn es das vorgelegte Gesetz für verfassungswidrig hielte (ri<strong>ch</strong>terli<strong>ch</strong>e<br />
Überzeugung). Bloße Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit genügen hingegen<br />
ni<strong>ch</strong>t.<br />
Die Verwaltungsri<strong>ch</strong>ter haben bisher ledigli<strong>ch</strong> starke Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit<br />
des § 13 IV PBefG. Diese rei<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t aus. Eine Aussetzung zur<br />
konkreten Normenkontrolle kommt erst in Betra<strong>ch</strong>t, wenn die Verwaltungsri<strong>ch</strong>ter<br />
§ 13 IV PBefG tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> für verfassungswidrig halten, was bisher ni<strong>ch</strong>t der<br />
Fall ist.<br />
IV. Ergebnis zu Frage 2b<br />
Eine konkrete Normenkontrolle wäre beim gegenwärtigen Verfahrensstand unzulässig.<br />
Das Geri<strong>ch</strong>t muß § 13 IV PBefG im laufenden Verfahren anwenden.
Fall 3: Eigenbedarf<br />
V ist Eigentümerin eines mehrges<strong>ch</strong>ossigen Mietshauses. Wegen einer persönli<strong>ch</strong>en<br />
Notlage muß sie in die bis dahin leerstehende Da<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>oßwohnung des<br />
Hauses ziehen. Diese Wohnung ist mangelhaft isoliert; Da<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>rägen führen dazu,<br />
daß V einige ihrer Möbel ni<strong>ch</strong>t aufstellen kann; die Raumhöhe liegt zudem<br />
unter der Sollhöhe, die für Da<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>osse vorgesehen ist.<br />
Aufgrund der Mängel ihrer Da<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>oßwohnung kündigt V der M, die eine<br />
andere Wohnung in dem Gebäude gemietet hat, um selbst dort einzuziehen. Die<br />
Räumungsklage der V ist in allen Instanzen erfolglos. Die Geri<strong>ch</strong>te würdigen die<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> der V, vertreten im Ergebnis aber die Ansi<strong>ch</strong>t, V sei in der Da<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>oßwohnung<br />
angemessen untergebra<strong>ch</strong>t.<br />
Hat eine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde der V Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg?<br />
Vgl. BVerfGE 68, 361 – Eigenbedarf I; 79, 292 – Eigenbedarf II; 100, 226 – Denkmals<strong>ch</strong>utz<br />
Bearbeitungszeit: ca. 1 Stunde, 30 Minuten<br />
§ 573 BGB – Ordentli<strong>ch</strong>e Kündigung des Vermieters:<br />
»(1) Der Vermieter kann nur kündigen, wenn er ein bere<strong>ch</strong>tigtes Interesse an der Beendigung<br />
des Mietverhältnisses hat. ...<br />
(2) Ein bere<strong>ch</strong>tigtes Interesse des Vermieters an der Beendigung des Mietverhältnisses<br />
liegt vor, wenn<br />
1. ...<br />
2. der Vermieter die Räume als Wohnung für si<strong>ch</strong>, seine Familienangehörigen oder<br />
Angehörige seines Haushalts benötigt ...«<br />
Fall 3: Eigenbedarf – Lösung<br />
Eine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde der V hätte Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg, wenn sie zulässig<br />
und begründet wäre.<br />
Hinweis: Da die Zulässigkeitsprüfung in diesem Fall insgesamt problemlos ist, kann<br />
sie in sehr kurzen Sätzen erfolgen.<br />
I. Zulässigkeit<br />
Die Zulässigkeit ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff.<br />
BVerfGG.
Fall 3: Eigenbedarf 165<br />
1. Beteiligtenfähigkeit<br />
V ist als natürli<strong>ch</strong>e Person deuts<strong>ch</strong>er Staatsangehörigkeit (Art. 116 I GG) Trägerin<br />
von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n und damit »jedermann« i.S.d. § 90 I BVerfGG – mithin beteiligtenfähig.<br />
2. Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand<br />
Das letztinstanzli<strong>ch</strong>e zivilgeri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Urteil ist eine Maßnahme der öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Gewalt und somit ein taugli<strong>ch</strong>er Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand.<br />
3. Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis<br />
V ist bes<strong>ch</strong>werdebefugt, wenn sie substantiiert behaupten kann, dur<strong>ch</strong> das Urteil<br />
mögli<strong>ch</strong>erweise in einem ihrer <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> oder grundre<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>te<br />
verletzt zu sein. Im vorliegenden Fall ist eine Verletzung des Art. 14 GG dadur<strong>ch</strong>,<br />
daß das Geri<strong>ch</strong>t der V die Wirksamkeit der Kündigung versagt, jedenfalls<br />
ni<strong>ch</strong>t ganz ausges<strong>ch</strong>lossen. Folgli<strong>ch</strong> ist V bes<strong>ch</strong>werdebefugt.<br />
4. Form und Frist<br />
Na<strong>ch</strong> §§ 23 I, 92 BVerfGG muß V ihren Antrag s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong> einrei<strong>ch</strong>en und begründen.<br />
Die mögli<strong>ch</strong>erweise verletzten <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, hier Art. 14 I GG, müssen benannt<br />
werden; § 92 BVerfGG. Na<strong>ch</strong> § 93 I 1 BVerfGG beträgt die Frist für eine<br />
Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde gegen Geri<strong>ch</strong>tsents<strong>ch</strong>eidungen einen Monat; maßgebli<strong>ch</strong>er<br />
Zeitpunkt für die Fristbere<strong>ch</strong>nung ist die Verkündung des letztinstanzli<strong>ch</strong>en<br />
Urteils. Diese Erfordernisse können von V no<strong>ch</strong> gewahrt werden.<br />
5. Ers<strong>ch</strong>öpfung des Re<strong>ch</strong>tswegs<br />
Der Re<strong>ch</strong>tsweg ist ers<strong>ch</strong>öpft.<br />
6. Zwis<strong>ch</strong>energebnis<br />
Folgli<strong>ch</strong> wäre eine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde der V zulässig.<br />
II. Begründetheit<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde wäre begründet, wenn in der Geri<strong>ch</strong>tsents<strong>ch</strong>eidung<br />
tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> eine Verletzung des Eigentums der V läge.<br />
Hinweis: Zum bes<strong>ch</strong>ränkten Prüfungsumfang bei Urteilsverfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
könnten bereits hier Ausführungen erfolgen; vorzugswürdig ist aber die Behandlung<br />
dieser Frage bei der konkreten Prüfung der verfassungsgemäßen Auslegung und<br />
Anwendung des § 573 BGB dur<strong>ch</strong> das Geri<strong>ch</strong>t.
166<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
1. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Eigentumsfreiheit (Art. 14 I GG)<br />
Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Eigentums umfaßt alle privatre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en vermögenswerten<br />
Re<strong>ch</strong>te. Ges<strong>ch</strong>ützt werden sowohl der Bestand des Eigentums, d.h. seine<br />
Substanz, als au<strong>ch</strong> die freie Nutzungs- und Verfügungsmögli<strong>ch</strong>keit. Die Freiheit<br />
der V, die in ihrem Eigentum stehende Wohnung ni<strong>ch</strong>t weiter zu vermieten, sondern<br />
selbst zu beziehen, würde dana<strong>ch</strong> thematis<strong>ch</strong> in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art.<br />
I 14 GG fallen.<br />
Allerdings handelt es si<strong>ch</strong> bei der angegriffenen Maßnahme um ein zivilgeri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es<br />
Urteil, das die Re<strong>ch</strong>tslage zwis<strong>ch</strong>en zwei Privaten betrifft. Eine<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>sbeeinträ<strong>ch</strong>tigung ist nur mögli<strong>ch</strong>, soweit die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> au<strong>ch</strong> im<br />
Privatre<strong>ch</strong>tsverkehr gelten, also eine sogenannte Dritt- oder Horizontalwirkung<br />
entfalten. Das ist umstritten.<br />
a) Geht man von einer unmittelbaren Drittwirkung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> aus, wie es<br />
das Bundesarbeitsgeri<strong>ch</strong>t für eine Reihe von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n befürwortet, so<br />
könnte V si<strong>ch</strong> ohne weiteres au<strong>ch</strong> ihrer Mieterin M gegenüber auf Art. 14 I GG<br />
berufen. M hätte bei der Abwehr des Räumungsverlangens der V deren <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
zu bea<strong>ch</strong>ten.<br />
b) Die herrs<strong>ch</strong>ende Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
sieht in Generalklauseln und unbestimmten Re<strong>ch</strong>tsbegriffe des Zivilre<strong>ch</strong>ts diejenigen<br />
Einbru<strong>ch</strong>stellen, bei deren Auslegung und Anwendung <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> zu<br />
berücksi<strong>ch</strong>tigen sind. Das bere<strong>ch</strong>tigte Interesse und der Eigenbedarf in § 573 II<br />
BGB sind unbestimmte Re<strong>ch</strong>tsbegriffe, die unter Bea<strong>ch</strong>tung von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n<br />
ausgelegt werden müssen. Au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der herrs<strong>ch</strong>enden Meinung wäre folgli<strong>ch</strong><br />
Art. 14 I GG im Zivilre<strong>ch</strong>tsstreit zwis<strong>ch</strong>en V und M erhebli<strong>ch</strong>.<br />
c) Die von S<strong>ch</strong>wabe vertretene Direktwirkung der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> dur<strong>ch</strong> Bindung<br />
der Judikative bei ihrer Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ungstätigkeit führt ebenfalls zu dem Ergebnis,<br />
daß das Eigentumsgrundre<strong>ch</strong>t im Zivilprozeß zwis<strong>ch</strong>en V und M zu berücksi<strong>ch</strong>tigen<br />
ist.<br />
d) Folgli<strong>ch</strong> führen im vorliegenden Fall alle Theorien übereinstimmend zu dem<br />
Ergebnis, daß die zivilre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> bedingte und dur<strong>ch</strong> das Geri<strong>ch</strong>tsurteil re<strong>ch</strong>tskräftig<br />
festgestellte Verminderung der Verfügungsbefugnis der V in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
des Eigentumsgrundre<strong>ch</strong>ts fällt.<br />
2. Eingriff<br />
Es müßte ein Eingriff vorliegen. Ein Eingriff ist jede staatli<strong>ch</strong>e Maßnahme, die<br />
eine in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> fallende Tätigkeit ers<strong>ch</strong>wert, verbietet, unmögli<strong>ch</strong><br />
ma<strong>ch</strong>t oder sanktioniert, insbesondere jede Maßnahme, mit der dies zielgeri<strong>ch</strong>tet<br />
und re<strong>ch</strong>tsförmig ges<strong>ch</strong>ieht (klassis<strong>ch</strong>er Eingriff). Die letztinstanzli<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>ei-
Fall 3: Eigenbedarf 167<br />
dung spri<strong>ch</strong>t der V das Re<strong>ch</strong>t ab, von ihrem Eigentum dur<strong>ch</strong> Kündigung des mit<br />
M ges<strong>ch</strong>lossenen Mietvertrags Gebrau<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en. Dabei handelt es si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong><br />
um eine zielgeri<strong>ch</strong>tet zum S<strong>ch</strong>utz der M von den Geri<strong>ch</strong>ten bezweckte Wirkung.<br />
Also liegt ein klassis<strong>ch</strong>er Eingriff vor.<br />
3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Der Eingriff in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 14 I GG könnte verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
gere<strong>ch</strong>tfertigt sein. Bei der Re<strong>ch</strong>tfertigung von Eigentumsbeeinträ<strong>ch</strong>tigungen ist<br />
na<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>rankensystematik des Art. 14 GG zwis<strong>ch</strong>en Enteignungen einerseits<br />
und ni<strong>ch</strong>tenteignenden Beeinträ<strong>ch</strong>tigungen andererseits zu unters<strong>ch</strong>eiden. Erstere<br />
sind nur na<strong>ch</strong> Art. 14 III GG gere<strong>ch</strong>tfertigt; für letztere gilt der Vorbehalt des<br />
Art. 14 I 2 GG.<br />
Bei einer Beeinträ<strong>ch</strong>tigung, die nur eine bestimmte Art der Nutzung des Eigentums,<br />
ni<strong>ch</strong>t aber dessen Bestand oder die Gesamtheit der Verfügungsmögli<strong>ch</strong>keit<br />
betrifft, kann keine Enteignung bejaht werden. Folgli<strong>ch</strong> handelt es si<strong>ch</strong><br />
um eine Inhalts- und S<strong>ch</strong>rankenbestimmung des Eigentums im Sinne von Art. 14<br />
I 2 GG.<br />
Das Urteil wäre na<strong>ch</strong> dieser Norm verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt, wenn<br />
es auf einem seinerseits verfassungsgemäßen Gesetz beruhte und in der Anwendung<br />
verfassungskonform wäre.<br />
a) Verfassungsmäßigkeit des § 573 BGB<br />
Zunä<strong>ch</strong>st müßte die vom Geri<strong>ch</strong>t angewandte Norm verfassungsgemäß sein.<br />
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit<br />
Bei der Norm handelt es si<strong>ch</strong> um ein Gesetz, für das der Bund gem. Art. 74 Nr. 1,<br />
72 GG die Gesetzgebungskompetenz besitzt. Für einen Verstoß gegen Verfahrens-<br />
und Formvors<strong>ch</strong>riften bei dessen Verabs<strong>ch</strong>iedung fehlen Anhaltspunkte.<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist die Norm formell verfassungsgemäß.<br />
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />
Die Regelung des § 573 BGB wäre nur dann materiell verfassungsgemäß, wenn<br />
die Norm mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stünde.<br />
Zweck der Regelung ist der Mieters<strong>ch</strong>utz, der wiederum als Ausdruck der<br />
Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 II GG) verstanden werden kann. Na<strong>ch</strong> der<br />
Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts fällt das Besitzre<strong>ch</strong>t des Mieters<br />
an der gemieteten Wohnung ebenfalls unter den S<strong>ch</strong>utz der Eigentumsgarantie.<br />
Die Norm dient insoweit glei<strong>ch</strong>zeitig dem Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz.
168<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
(1) Geeignetheit<br />
Die in § 573 BGB geregelte Eins<strong>ch</strong>ränkung des Kündigungsre<strong>ch</strong>ts ist dazu geeignet,<br />
das Besitzre<strong>ch</strong>t des Mieters abzusi<strong>ch</strong>ern und so den Mieters<strong>ch</strong>utz zu fördern.<br />
(2) Erforderli<strong>ch</strong>keit<br />
Ein milderes Mittel zur Gewährleistung eines verglei<strong>ch</strong>baren Mieters<strong>ch</strong>utzes ist<br />
ni<strong>ch</strong>t ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>. Die Regelung ist also au<strong>ch</strong> erforderli<strong>ch</strong>.<br />
(3) Angemessenheit<br />
Die Privatnützigkeit des Wohnungseigentums muß mit der Sozialbindung gemäß<br />
Art. 14 II GG und den glei<strong>ch</strong>falls na<strong>ch</strong> Art. 14 I GG ges<strong>ch</strong>ützten Interessen<br />
des Mieters abgewogen werden.<br />
Generell ist bei eigentumsrelevanten Abwägungen eine differenzierte Betra<strong>ch</strong>tung<br />
erforderli<strong>ch</strong>. Soweit das Eigentum die Funktion hat, die persönli<strong>ch</strong>e<br />
Freiheit des einzelnen zu si<strong>ch</strong>ern, weist die grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Freiheitsbetätigung<br />
einen starken personalen Bezug auf und genießt ausgeprägten S<strong>ch</strong>utz, so daß für<br />
den inhalts- und s<strong>ch</strong>rankenbestimmenden Gesetzgeber strenge Maßstäbe gelten.<br />
Dagegen rei<strong>ch</strong>t die gesetzgeberis<strong>ch</strong>e Befugnis zur Inhalts- und S<strong>ch</strong>rankenbestimmung<br />
umso weiter, je mehr das Eigentum in einem sozialen Bezug und in<br />
einer sozialen Funktion steht.<br />
Das Eigentum an einer Mietwohnung steht in intensivem sozialen Bezug und<br />
ist daher einer weitrei<strong>ch</strong>enden Bes<strong>ch</strong>ränkung zugängli<strong>ch</strong>. Eine Beendigung des<br />
Mietverhältnisses ist für den Mieter mit Kosten und Unzuträgli<strong>ch</strong>keiten in persönli<strong>ch</strong>er,<br />
familiärer, wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er und sozialer Hinsi<strong>ch</strong>t verbunden. Für die<br />
Angemessenheit des gesetzli<strong>ch</strong>en Kündigungss<strong>ch</strong>utzes spri<strong>ch</strong>t, daß große Teile<br />
der Bevölkerung zur Deckung ihres Wohnungsbedarfs ni<strong>ch</strong>t auf eigenes Grundeigentum<br />
zurückgreifen können, sondern auf Mietwohnungen angewiesen sind.<br />
Mietwohnungen bilden dabei den Lebensmittelpunkt des Mieters. Das Besitzre<strong>ch</strong>t<br />
der Mieter erfüllt daher eine verglei<strong>ch</strong>bar gewi<strong>ch</strong>tige Funktion, wie sie dem<br />
Sa<strong>ch</strong>eigentum an Wohnraum zukommt. Weiter ist zu berücksi<strong>ch</strong>tigen, daß eine<br />
Vermietung in der Regel freiwillig erfolgt. Das re<strong>ch</strong>tfertigt es, dem Interesse des<br />
Mieters grundsätzli<strong>ch</strong> Vorrang einzuräumen und die Kündigung von einem bere<strong>ch</strong>tigten<br />
Interesse des Vermieters abhängig zu ma<strong>ch</strong>en.<br />
Im Falle einer Eigenbedarfskündigung hingegen stehen si<strong>ch</strong> zwei Nutzungsinteressen<br />
mit starkem personalen Bezug gegenüber, so daß in diesem Fall dem<br />
Interesse des Eigentümers die größere Dur<strong>ch</strong>setzungskraft zukommt. Der Gesetzgeber<br />
hat insofern mit § 573 BGB die kollidierenden Vermieter- und Mieterinteressen<br />
zu einem sa<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>ten und im Ergebnis angemessenen Ausglei<strong>ch</strong><br />
gebra<strong>ch</strong>t.
Fall 3: Eigenbedarf 169<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist die Regelung des § 573 BGB au<strong>ch</strong> materiell verfassungsgemäß.<br />
b) Verfassungsmäßigkeit der Auslegung und Anwendung der Norm im<br />
angegriffenen Urteil<br />
Die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung des Eigentumseingriffs setzt außerdem<br />
voraus, daß au<strong>ch</strong> die konkrete Auslegung und Anwendung der Norm im angegriffenen<br />
Urteil verfassungsgemäß ist.<br />
aa) Prüfungsumfang<br />
Bei Urteilsverfassungsbes<strong>ch</strong>werden ist zunä<strong>ch</strong>st zu berücksi<strong>ch</strong>tigen, daß die<br />
Auslegung und Anwendung einfa<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts dur<strong>ch</strong> das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
nur einges<strong>ch</strong>ränkt erfolgen kann. Das Geri<strong>ch</strong>t ist keine Superrevisionsinstanz.<br />
Die Überprüfung einfa<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts obliegt grundsätzli<strong>ch</strong> den dafür zuständigen<br />
Fa<strong>ch</strong>geri<strong>ch</strong>ten. Der Prüfungsumfang im Rahmen der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
als eines außerordentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsbehelfs bes<strong>ch</strong>ränkt si<strong>ch</strong> insoweit auf<br />
die Frage, ob in der angefo<strong>ch</strong>tenen Ents<strong>ch</strong>eidung eine spezifis<strong>ch</strong>e Verletzung von<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n liegt, insbesondere dadur<strong>ch</strong>, daß das Geri<strong>ch</strong>t bei der Anwendung<br />
des einfa<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts Bedeutung und Tragweite eines Grundre<strong>ch</strong>ts verkannt hat.<br />
Im vorliegenden Fall besteht die Mögli<strong>ch</strong>keit, daß die konkrete Anwendung<br />
des § 573 BGB dur<strong>ch</strong> das Geri<strong>ch</strong>t unter Verkennung der Bedeutung und Tragweite<br />
der Eigentumsgarantie erfolgt ist. Die Frage der Normanwendung liegt insoweit<br />
innerhalb des verfassungsgeri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Prüfungsumfangs.<br />
bb) Verhältnismäßigkeit der Normanwendung<br />
Fragli<strong>ch</strong> ist, ob die Fa<strong>ch</strong>geri<strong>ch</strong>te bei der Anwendung des § 573 BGB im Falle des<br />
zwis<strong>ch</strong>en V und M bestehenden Re<strong>ch</strong>tsstreits eine dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
entspre<strong>ch</strong>ende Auslegung der unbestimmten Re<strong>ch</strong>tsbegriffe ʹbere<strong>ch</strong>tigtes<br />
Interesseʹ und ʹEigenbedarfʹ gewählt haben.<br />
Die Geri<strong>ch</strong>te haben beide Tatbestandsmerkmale verneint, um den gesetzli<strong>ch</strong>en<br />
Zweck des Mieters<strong>ch</strong>utzes zugunsten der M zu verwirkli<strong>ch</strong>en. Die Unwirksamerklärung<br />
der Kündigung ist zur Bewirkung dieses S<strong>ch</strong>utzes ein geeignetes<br />
und mangels anderer, glei<strong>ch</strong> wirkender Ents<strong>ch</strong>eidungsmögli<strong>ch</strong>keiten au<strong>ch</strong> erforderli<strong>ch</strong>es<br />
Mittel.<br />
Als fragli<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint aber, ob diese Normanwendung mit Blick auf das Eigentumsre<strong>ch</strong>t<br />
der V no<strong>ch</strong> angemessen ist. Für die Angemessenheit spri<strong>ch</strong>t, daß<br />
die M für die Zwangslage der V ni<strong>ch</strong>t verantwortli<strong>ch</strong> ist und dur<strong>ch</strong> eine Kündigung<br />
erhebli<strong>ch</strong>e Na<strong>ch</strong>teile hätte. Andererseits erfordert die Privatnützigkeit des<br />
verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Eigentums, daß der Wille der V zur Eigennutzung ihrer<br />
Wohnung grundsätzli<strong>ch</strong> zu bea<strong>ch</strong>ten ist. Bei einer Eigenbedarfskündigung geht
170<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
es au<strong>ch</strong> auf seiten der V um Interessen mit einem starken personalen Bezug.<br />
Daraus folgt, daß der Wille des Eigentümers nur bes<strong>ch</strong>ränkt geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>prüfbar<br />
ist. Nur ein evidenter Mißbrau<strong>ch</strong> des Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>ts darf<br />
kontrolliert und verhindert werden.<br />
In der angegriffenen Ents<strong>ch</strong>eidung wird die Kündigungsabsi<strong>ch</strong>t der V ni<strong>ch</strong>t<br />
gewürdigt, obwohl sie ganz offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gute Gründe hatte, ni<strong>ch</strong>t weiter in der<br />
Da<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>oßwohnung zu bleiben. Die unbequemen und von ihr selbst glei<strong>ch</strong>falls<br />
ni<strong>ch</strong>t verantworteten Wohnverhältnisse stellen eine Zwangslage dar, die<br />
dur<strong>ch</strong> das Geri<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t hinrei<strong>ch</strong>end bea<strong>ch</strong>tet wurde. Das Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>t<br />
der V über den Eigengebrau<strong>ch</strong> ihrer Wohnung ist folgli<strong>ch</strong> in der Ents<strong>ch</strong>eidung<br />
ni<strong>ch</strong>t ausrei<strong>ch</strong>end berücksi<strong>ch</strong>tigt worden. Die Auslegung und Anwendung<br />
des § 573 BGB ist unangemessen und somit unverhältnismäßig.<br />
cc) Zwis<strong>ch</strong>energebnis<br />
Also verletzen die Ents<strong>ch</strong>eidungen der Fa<strong>ch</strong>geri<strong>ch</strong>te das Eigentumsgrundre<strong>ch</strong>t<br />
der V aus Art. 14 I GG.<br />
III. Ergebnis<br />
Eine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde der V wäre zulässig und begründet; sie hätte Aussi<strong>ch</strong>t<br />
auf Erfolg.
Fall 4: Festungsumzug<br />
Der Festungsumzug ist ein Musikzug mit mittelalterli<strong>ch</strong>en Rüstungen, S<strong>ch</strong>wertern<br />
und S<strong>ch</strong>ilden, der vor wenigen Jahren vom volkstümli<strong>ch</strong>en Frankonia e.V.<br />
erfunden wurde. Na<strong>ch</strong> ordnungsgemäßer Anmeldung wird der Umzug in diesem<br />
Jahr gemäß § 15 I VersG von der zuständigen Behörde verboten, da Verkehrsbehinderungen<br />
auf der Mainuferstraße zu erwarten seien, die bei Unterhaltungsveranstaltungen<br />
ni<strong>ch</strong>t hingenommen werden dürften. Außerdem sei die<br />
»aktive und passive Bewaffnung« im Li<strong>ch</strong>te von Art. 8 I GG problematis<strong>ch</strong>. Da<br />
alternative Umzugswege ni<strong>ch</strong>t in Betra<strong>ch</strong>t kämen, bliebe im Rahmen der Ermessensüberlegungen<br />
keine andere Mögli<strong>ch</strong>keit, als den Umzug zu untersagen. Der<br />
Verein könne, wenn er auf anderen Straßen eine Musikparade veranstalten wolle,<br />
dafür eine straßenre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Sondernutzungserlaubnis beantragen, die allerdings<br />
gebührenpfli<strong>ch</strong>tig sei.<br />
Sowohl der Frankonia e.V. als au<strong>ch</strong> A – ein Mittelalter-Fan und regelmäßiger<br />
Teilnehmer des Umzugs – klagen gegen die Ablehnung und Verbotsverfügung.<br />
Das Verwaltungsgeri<strong>ch</strong>t hält die Klagen für zulässig, weist sie aber als unbegründet<br />
ab, wobei es ausführli<strong>ch</strong> zu den Grenzen grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Versammlungss<strong>ch</strong>utzes<br />
Stellung nimmt. Na<strong>ch</strong>dem alle Re<strong>ch</strong>tsmittel bis zur letzten Instanz<br />
erfolglos bleiben, wollen der Verein und A si<strong>ch</strong> nun vor dem Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
Re<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>affen.<br />
1. Hat eine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des Frankonia e.V. (F) Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg?<br />
2. Besteht Erfolgsaussi<strong>ch</strong>t für eine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des A?<br />
Vgl. BVerfGE 69, 315 – Brokdorf; 85, 69 – Eilversammlungen; 90, 241 – Aus<strong>ch</strong>witzlüge;<br />
92, 191 – Personalienangabe<br />
Bearbeitungszeit: ca. 2 Stunden, 30 Minuten<br />
Die §§ 2 ff. VersG lauten auszugsweise:<br />
§ 2 III 1 VersG: »Niemand darf bei öffentli<strong>ch</strong>en Versammlungen oder Aufzügen Waffen<br />
oder sonstige Gegenstände, die ihrer Art na<strong>ch</strong> zur Verletzung von Personen oder<br />
zur Bes<strong>ch</strong>ädigung von Sa<strong>ch</strong>en geeignet und bestimmt sind, mit si<strong>ch</strong> führen, ... .«<br />
§ 14 I VersG: »Wer die Absi<strong>ch</strong>t hat, eine öffentli<strong>ch</strong>e Versammlung unter freiem Himmel<br />
oder einen Aufzug zu veranstalten, hat dies ... anzumelden.«<br />
§ 15 I VersG: »Die zuständige Behörde kann ... den Aufzug verbieten oder von bestimmten<br />
Auflagen abhängig ma<strong>ch</strong>en, wenn na<strong>ch</strong> den zur Zeit des Erlasses der Verfügung<br />
erkennbaren Umständen die öffentli<strong>ch</strong>e Si<strong>ch</strong>erheit und Ordnung bei Dur<strong>ch</strong>führung<br />
... des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.«
172<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
§ 17 VersG: »Die §§ 14 bis 16 gelten ni<strong>ch</strong>t für ... hergebra<strong>ch</strong>te Volksfeste.«<br />
§ 17a I VersG: »(1) Es ist verboten, bei ... Aufzügen ... S<strong>ch</strong>utzwaffen oder Gegenstände,<br />
die als S<strong>ch</strong>utzwaffen geeignet und den Umständen na<strong>ch</strong> dazu bestimmt sind, Vollstreckungsmaßnahmen<br />
eines Trägers von Hoheitsbefugnissen abzuwehren, mit si<strong>ch</strong><br />
zu führen.<br />
(2) Es ist au<strong>ch</strong> verboten,<br />
1. an derartigen Veranstaltungen in einer Aufma<strong>ch</strong>ung, die geeignet und den Umständen<br />
na<strong>ch</strong> darauf geri<strong>ch</strong>tet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern, teilzunehmen<br />
... .<br />
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten ni<strong>ch</strong>t, wenn es si<strong>ch</strong> um Veranstaltungen im Sinne des<br />
§ 17 handelt.«<br />
§ 20 VersG: »Das Grundre<strong>ch</strong>t des Artikels 8 des Grundgesetzes wird dur<strong>ch</strong> die Bestimmungen<br />
dieses Abs<strong>ch</strong>nittes einges<strong>ch</strong>ränkt.«<br />
Fall 4: Festungsumzug – Lösung<br />
A. Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des Frankonia e.V. (F)<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des F hätte Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg, wenn sie zulässig<br />
und begründet wären.<br />
I. Zulässigkeit<br />
Die Zulässigkeit ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 80 ff.<br />
BVerfGG.<br />
1. Beteiligtenfähigkeit<br />
Der Verein müßte zunä<strong>ch</strong>st beteiligtenfähig sein. Beteiligtenfähig bei Verfassungsbes<strong>ch</strong>werden<br />
ist gem. § 90 I BVerfGG »jedermann«, d.h. jeder, der Träger<br />
von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n sein kann. Für inländis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e Personen, zu denen der<br />
Frankonia e.V. als eingetragener Verein gehört, gelten die Prozeßgrundre<strong>ch</strong>te<br />
sowie gemäß Art. 19 III GG au<strong>ch</strong> die übrigen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, soweit sie ihrem Wesen<br />
na<strong>ch</strong> anwendbar sind. Ein Verein kann, wie jede juristis<strong>ch</strong>e Person, also<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsträger sein. Folgli<strong>ch</strong> ist der Frankonia e.V. beteiligtenfähig.<br />
2. Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand<br />
Es müßte ein zulässiger Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand vorliegen. Als sol<strong>ch</strong>er kommt<br />
jeder Akt der öffentli<strong>ch</strong>en Gewalt in Betra<strong>ch</strong>t (§ 90 I BVerfGG). Der Verein wendet<br />
si<strong>ch</strong> gegen die Verbotsverfügung und ihre geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Bestätigung, mithin
Fall 4: Festungsumzug 173<br />
gegen Akte der Exekutive und Judikative, und begehrt deren Aufhebung. Ein<br />
zulässiger Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand liegt also vor.<br />
3. Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis<br />
Der Verein müßte bes<strong>ch</strong>werdebefugt sein.<br />
a) Mögli<strong>ch</strong>keit der Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung<br />
Es müßte mögli<strong>ch</strong> sein, daß der Verein in seinen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n verletzt ist. Zu<br />
den gemäß Art. 19 III GG dem Wesen na<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> auf inländis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e Personen<br />
anwendbaren <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n gehört die Versammlungsfreiheit des Art. 8 I<br />
GG jedenfalls insoweit, als juristis<strong>ch</strong>e Personen versammlungsspezifis<strong>ch</strong>e Verhaltensweisen<br />
praktizieren können, etwa als Veranstalter oder Organisatoren. Der<br />
Frankonia e.V. ist als Veranstalter tätig. Jedenfalls insoweit ist Art. 8 I GG auf<br />
den Verein anwendbar. Im übrigen könnte au<strong>ch</strong> sein Re<strong>ch</strong>t auf allgemeine<br />
Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) verletzt sein. Folgli<strong>ch</strong> ist eine Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung<br />
mögli<strong>ch</strong>.<br />
b) Betroffenheit<br />
Der Verein müßte von dem Verbot selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen<br />
sein.<br />
aa) Die Verbotsverfügung ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> an den F als Veranstalter des geplanten Festungsumzugs;<br />
betrifft den Verein also selbst.<br />
bb) Die Betroffenheit müßte au<strong>ch</strong> gegenwärtig sein. Anders als bei der Gesetzesverfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
liegt die Gegenwärtigkeit bei Urteilsverfassungsbes<strong>ch</strong>werden<br />
regelmäßig vor, da ein Urteil mit der Re<strong>ch</strong>tskraft sofort Re<strong>ch</strong>tswirkungen<br />
im Einzelfall entfaltet. Vorliegend soll der Umzug zwar erst in der Zukunft<br />
stattfinden. Das Verbot ist aber bereits gegenwärtig wirksam und dur<strong>ch</strong><br />
letztinstanzli<strong>ch</strong>e Geri<strong>ch</strong>tsents<strong>ch</strong>eidung re<strong>ch</strong>tskräftig bestätigt, so daß es bereits<br />
jetzt Vorwirkungen entfaltet. Es hindert den Verein an einer sinnvollen Planung<br />
der Veranstaltung. Folgli<strong>ch</strong> ist der Verein au<strong>ch</strong> gegenwärtig betroffen.<br />
cc) Die Verbotsverfügung bedarf zu ihrer Wirksamkeit keiner weiteren Vollzugsakte;<br />
sie betrifft den Verein darum au<strong>ch</strong> unmittelbar.<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist der Frankonia e.V. au<strong>ch</strong> selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen.<br />
c) Ergebnis zur Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis<br />
Der Frankonia e.V. ist also bes<strong>ch</strong>werdebefugt.
174<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
4. Form und Frist<br />
Der Verein müßte die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong> und mit Begründung<br />
einrei<strong>ch</strong>en (§ 23 I, 92 BVerfGG) und dabei die Monatsfrist des Art. 93 I 1 BVerfGG<br />
wahren.<br />
5. Ers<strong>ch</strong>öpfung des Re<strong>ch</strong>tswegs<br />
Re<strong>ch</strong>tsmittel sind bis zur letzten Instanz erfolglos geblieben. Also ist der Re<strong>ch</strong>tsweg<br />
ers<strong>ch</strong>öpft.<br />
6. Ergebnis zur Zulässigkeit<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des Frankonia e.V. ist demna<strong>ch</strong> zulässig.<br />
II. Begründetheit<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde wäre begründet, wenn die Verbotsverfügung den<br />
Verein in einem seiner <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> oder grundre<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>te verletzte.<br />
Hinweis: Zum Prüfungsumfang können die formelhaften Wendungen bei der Urteilsverfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
(»keine Superrevisionsinstanz«, mögli<strong>ch</strong>e Verletzung<br />
»spezifis<strong>ch</strong>en Verfassungsre<strong>ch</strong>ts«) bereits an dieser Stelle, d.h. am Anfang der Begründetkeit<br />
niederges<strong>ch</strong>rieben werden. Andererseits ist es au<strong>ch</strong> vertretbar, dazu in<br />
diesem Fall überhaupt ni<strong>ch</strong>ts zu sagen, weil es um eine offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> grundre<strong>ch</strong>tsrelevante<br />
Ents<strong>ch</strong>eidung geht. Am besten ist es, die Erwägungen zum Prüfungsumfang<br />
erst dort anzustellen, wo die Überprüfung dur<strong>ch</strong> das Verfassungsgeri<strong>ch</strong>t besonders<br />
stark den Charakter einer Superrevision erhält, nämli<strong>ch</strong> bei der Kontrolle der verfassungsgemäßen<br />
Anwendung des § 15 I VersG am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips.<br />
1. Verletzung der Versammlungsfreiheit (Art. 8 I GG)<br />
Zunä<strong>ch</strong>st könnte das Grundre<strong>ch</strong>t des F auf Versammlungsfreiheit verletzt sein.<br />
Das wäre dann der Fall, wenn die Behörde dur<strong>ch</strong> das Verbot in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
des Grundre<strong>ch</strong>ts eingegriffen hätte, ohne daß dies als verfassungsgemäße<br />
Anwendung einer gesetzli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ranke gere<strong>ch</strong>tfertigt wäre.<br />
a) S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
aa) Persönli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
Der persönli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 8 I GG s<strong>ch</strong>ließt, vermittelt über Art. 19 III<br />
GG, inländis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e Personen wie den Frankonia e.V. jedenfalls insoweit
Fall 4: Festungsumzug 175<br />
ein, als sie si<strong>ch</strong>, wie hier, versammlungsspezifis<strong>ch</strong> als Veranstalter betätigen können.<br />
bb) Versammlungsbegriff<br />
Fragli<strong>ch</strong> ist indes, ob der sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 8 I GG eröffnet ist. Die<br />
das Verbot erlassende Behörde weist darauf hin, daß es si<strong>ch</strong> um eine bloße Unterhaltungsveranstaltung<br />
handelt. Die Anforderungen an eine inhaltli<strong>ch</strong>e Qualifizierung<br />
von Versammlungen i.S.v. Art. 8 I GG sind umstritten.<br />
(1) Enger Versammlungsbegriff<br />
Na<strong>ch</strong> dem engen Versammlungsbegriff der älteren Lehre ist eine Versammlung<br />
i.S.v. Art. 8 I GG nur eine Zusammenkunft einer Anzahl von Mens<strong>ch</strong>en zu dem<br />
Zweck, öffentli<strong>ch</strong>e Angelegenheiten gemeinsam zu erörtern oder eine gemeinsame<br />
Kundgebung zu veranstalten. Für Unterhaltungsveranstaltungen neigt<br />
au<strong>ch</strong> die neueste Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung dieser restriktiven Begriffsbildung zu.<br />
Hinweis: BVerfG NJW 2001, 2459 – Musikparaden; OVG Münster NVwZ 2001,<br />
1316 – Inline-Skater<br />
Bei aller Vieldeutigkeit dessen, was unter öffentli<strong>ch</strong>en Angelegenheiten verstanden<br />
werden kann, ist der Festungsumzug, der im wesentli<strong>ch</strong>en eine Unterhaltungsveranstaltung<br />
für die Teilnehmenden und Zus<strong>ch</strong>auer ist, jedenfalls ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr eine Erörterung im Sinne des engen Versammlungsbegriffs. Folgli<strong>ch</strong> ist<br />
na<strong>ch</strong> dieser Ansi<strong>ch</strong>t der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 8 I GG ni<strong>ch</strong>t eröffnet.<br />
(2) Erweiterter Versammlungsbegriff<br />
Na<strong>ch</strong> den Vertretern eines erweiterten Versammlungsbegriffs muß zwar der<br />
Zweck der Versammlung in der Meinungsbildung und Meinungskundgabe bestehen.<br />
Dieser Zweck soll aber sehr weit zu verstehen sein. Dana<strong>ch</strong> können beliebige<br />
gemeinsame Ausdrucksformen, selbst wenn sie na<strong>ch</strong> Inhalt und Form<br />
unterhaltend sind, no<strong>ch</strong> als Meinungskundgabe eingestuft werden. Der Festungsumzug<br />
drückt eine Erinnerung an mittelalterli<strong>ch</strong>e Sitten aus. Er will in<br />
unterhaltender Weise an Tradition und Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Stadt erinnern. Na<strong>ch</strong> dem<br />
erweiterten Versammlungsbegriff ist er also eine Versammlung i.S.v. Art. 8 I GG.<br />
(3) Weiter Versammlungsbegriff<br />
Na<strong>ch</strong> den Vertretern des weiten Versammlungsbegriffs erfolgt gar keine Qualifizierung<br />
des Versammlungszwecks. Es genügt selbst reine Unterhaltung, um den<br />
S<strong>ch</strong>utz des Art. 8 I GG auszulösen, jedenfalls soweit si<strong>ch</strong> die Akteure auf den<br />
S<strong>ch</strong>utz berufen. Solange si<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>en überhaupt mit gemeinsamem Zweck<br />
versammeln und ni<strong>ch</strong>t bloß zufällig ansammeln, sei der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 8
176<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
I GG eröffnet. Dana<strong>ch</strong> wäre der Festungsumzug eine Versammlung im Sinne des<br />
Art. 8 I GG. Jedenfalls könnte si<strong>ch</strong> der Verein als Veranstalter und damit ʺAkteurʺ<br />
auf diesen S<strong>ch</strong>utz berufen.<br />
(4) Stellungnahme zum Versammlungsbegriff<br />
Es mag ri<strong>ch</strong>tig sein, daß der S<strong>ch</strong>utz von Diskussionen über öffentli<strong>ch</strong>e Angelegenheiten<br />
im Zentrum der historis<strong>ch</strong>en Entwicklung der Versammlungsfreiheit<br />
stand. Au<strong>ch</strong> mag diese demokratiefunktionale Modalität der Versammlung na<strong>ch</strong><br />
wie vor gesteigerte S<strong>ch</strong>utzwürdigkeit geniessen. Daraus kann indes ni<strong>ch</strong>t gefolgert<br />
werden, daß weniger gefährdete Versammlungen von vornherein aus dem<br />
S<strong>ch</strong>utz des Art. 8 I GG auszunehmen sind. Abgesehen von den resultierenden<br />
Abgrenzungsproblemen spri<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> der Wortlaut und der S<strong>ch</strong>utzzweck des Art.<br />
8 I GG gegen eine enge Auslegung. Die s<strong>ch</strong>utzwürdige Versammlung dient der<br />
gemeins<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en, auf Kommunikation angelegten Entfaltung. Eine sol<strong>ch</strong>e Entfaltung<br />
bes<strong>ch</strong>ränkt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t auf politis<strong>ch</strong>e Kommunikation, sondern ist au<strong>ch</strong> in<br />
den Formen kultureller Ereignisse für die Beteiligten wi<strong>ch</strong>tig. Folgli<strong>ch</strong> ist der enge<br />
Versammlungsbegriff der älteren Lehre abzulehnen.<br />
(5) Ergebnis zum Versammlungsbegriff<br />
Der Festungsumzug ist folgli<strong>ch</strong> eine Versammlung i.S.v. Art. 8 I GG.<br />
cc) Friedli<strong>ch</strong>keit<br />
Von der Friedli<strong>ch</strong>keit des geplanten Festungsumzugs (vgl. Art. 8 I GG) kann ausgegangen<br />
werden.<br />
dd) Waffenlosigkeit<br />
Der Festungsumzug müßte »ohne Waffen« stattfinden, um den S<strong>ch</strong>utz des Art. 8<br />
I GG zu genießen. Die Ordnungsbehörde ma<strong>ch</strong>t geltend, daß die aktive und passive<br />
Bewaffnung mit S<strong>ch</strong>wertern und S<strong>ch</strong>ilden problematis<strong>ch</strong> sei.<br />
(1) S<strong>ch</strong>ilde<br />
Bezügli<strong>ch</strong> der ʺpassiven Bewaffnungʺ mit S<strong>ch</strong>ilden ist festzustellen, daß bloße<br />
S<strong>ch</strong>utzgegenstände wie Helme oder Gasmasken ni<strong>ch</strong>t zu den Waffen i.S.v. Art. 8<br />
I GG gehören. Insoweit erfolgt der Umzug »ohne Waffen«.<br />
Hinweis: Es ist hier ni<strong>ch</strong>t ri<strong>ch</strong>tig auf ʺS<strong>ch</strong>utzwaffenʺ i.S.v. § 17a VersG einzugehen,<br />
denn die einfa<strong>ch</strong>gesetzli<strong>ch</strong>e Norm bildet ledigli<strong>ch</strong> eine S<strong>ch</strong>ranke der Versammlungsfreiheit,<br />
bestimmt indes ni<strong>ch</strong>t den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>. Insoweit ist allein auf Art. 8 I GG<br />
abzustellen. Selbst die (no<strong>ch</strong> vertretbare) Ansi<strong>ch</strong>t, daß es bei Auslegung derjenigen<br />
Grundre<strong>ch</strong>tstatbestände, die dur<strong>ch</strong> älteres einfa<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>t historis<strong>ch</strong> mitgeprägt
Fall 4: Festungsumzug 177<br />
sind, ausnahmsweise zulässig sein soll, einfa<strong>ch</strong>gesetzli<strong>ch</strong>e Begriffsbildungen und<br />
Wertungen zu berücksi<strong>ch</strong>tigen, führt jedenfalls bei § 17a VersG ni<strong>ch</strong>t weiter, denn<br />
das S<strong>ch</strong>utzwaffen- und Vermummungsverbot ist eine na<strong>ch</strong> Verabs<strong>ch</strong>iedung des<br />
Grundgesetzes eingeführte Neuheit, die auf den verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Waffenbegriff<br />
ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>lagen kann.<br />
(2) S<strong>ch</strong>werter<br />
Fragli<strong>ch</strong> ist allein, ob die mitgeführten S<strong>ch</strong>werter Waffen i.S.v. Art. 8 I GG sind.<br />
Als Gegenstände, die s<strong>ch</strong>on zum Zweck der Verletzung von Mens<strong>ch</strong>en hergestellt<br />
sind, gehören sie zu den Waffen im te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Sinne (vgl. § 1 VII WaffG),<br />
die jedenfalls grundsätzli<strong>ch</strong> von Art. 8 I GG umfaßt sind. Fragli<strong>ch</strong> ist, ob au<strong>ch</strong> bei<br />
Waffen im te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Sinne dann eine Eins<strong>ch</strong>ränkung gema<strong>ch</strong>t werden muß,<br />
wenn diese, wie bei den S<strong>ch</strong>wertern im Festungsumzug, ni<strong>ch</strong>t in Gebrau<strong>ch</strong>sabsi<strong>ch</strong>t<br />
mitgeführt werden.<br />
(a) Na<strong>ch</strong> einer Meinung kommt es bei Waffen im te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Sinne auf den<br />
Zweck, zu dem sie mitgeführt werden, ni<strong>ch</strong>t an. Dana<strong>ch</strong> würden die S<strong>ch</strong>werter<br />
im vorliegenden Fall einen Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz na<strong>ch</strong> Art. 8 I GG auss<strong>ch</strong>ließen.<br />
(b) Die Gegenmeinung stuft das Verbot von Waffen – au<strong>ch</strong> Waffen im te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en<br />
Sinne – als eine Vermutung der Unfriedli<strong>ch</strong>keit ein. Die Vermutung müßte<br />
dana<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> bei te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Waffen widerlegli<strong>ch</strong> sein, was wiederum Rückwirkung<br />
auf den Waffenbegriff hätte. Waffen im te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Sinne, die na<strong>ch</strong>weisli<strong>ch</strong><br />
ohne Gebrau<strong>ch</strong>sabsi<strong>ch</strong>t mitgeführt werden, wären dann keine Waffen<br />
i.S.v. Art. 8 I GG, da sie die Friedli<strong>ch</strong>keit der Versammlung ni<strong>ch</strong>t beeinträ<strong>ch</strong>tigen<br />
können. Na<strong>ch</strong> der Gegenmeinung würden die S<strong>ch</strong>werter also einem Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz<br />
na<strong>ch</strong> Art. 8 I GG ni<strong>ch</strong>t entgegenstehen.<br />
(c) Diese restriktive Auslegung des Waffenbegriffs verdient den Vorzug. Das<br />
Waffenverbot kann nur als konkretisierende und typisierende Ausgestaltung des<br />
Friedli<strong>ch</strong>keitsgebots angesehen werden. Angesi<strong>ch</strong>ts dieser Zweckbindung würde<br />
eine Auslegung, die ohne Rücksi<strong>ch</strong>t auf die Gebrau<strong>ch</strong>sabsi<strong>ch</strong>t eine abstrakte<br />
Gefährdung der Friedli<strong>ch</strong>keit der Versammlung annähme, den Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz<br />
des Art. 8 I GG unnötig stark eins<strong>ch</strong>ränken. Folgli<strong>ch</strong> steht das Mitführen<br />
von S<strong>ch</strong>wertern als Teil der historis<strong>ch</strong>en Rüstungen dem S<strong>ch</strong>utz des Festungsumzugs<br />
na<strong>ch</strong> Art. 8 I GG ni<strong>ch</strong>t entgegen.<br />
Hinweis: Ergänzend, ni<strong>ch</strong>t aber auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong>, kann an dieser Stelle auf die entspre<strong>ch</strong>ende<br />
Wertung des einfa<strong>ch</strong>en Gesetzes hingewiesen werden, das in § 17a VersG das<br />
S<strong>ch</strong>utzwaffenverbot (S<strong>ch</strong>ranke!) auf sol<strong>ch</strong>e Gegenstände bes<strong>ch</strong>ränkt, die »den Umständen<br />
na<strong>ch</strong> dazu bestimmt sind, Vollstreckungsmaßnahmen ... abzuwehren«.
178<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
(3) Ergebnis zur Waffenlosigkeit<br />
Also ist der Festungsumzug eine Versammlung »ohne Waffen« i.S.v. Art. 8 I GG.<br />
ee) Ergebnis zum S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 8 I GG ist betroffen.<br />
b) Eingriff<br />
In der Verbotsverfügung liegt au<strong>ch</strong> ein staatli<strong>ch</strong>er Eingriff.<br />
c) Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Als einfa<strong>ch</strong>gesetzli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ranke der Versammlungsfreiheit im Sinne der S<strong>ch</strong>rankenklausel<br />
des Art. 8 II GG kommt § 15 I VersG in Betra<strong>ch</strong>t. Die Anwendung<br />
von § 15 I VersG s<strong>ch</strong>eidet ni<strong>ch</strong>t bereits deshalb aus, weil der Festungsumzug als<br />
»hergebra<strong>ch</strong>tes Volksfest« i.S.v. § 17 VersG anzusehen wäre, denn mangels langjähriger<br />
Übung kann si<strong>ch</strong> die neu erfundene Veranstaltung ni<strong>ch</strong>t als »hergebra<strong>ch</strong>t«<br />
etabliert haben.<br />
Um zur verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigung des Grundre<strong>ch</strong>tseingriffs dienen<br />
zu können, müßten allerdings sowohl die Norm selbst als au<strong>ch</strong> ihre Anwendung<br />
dur<strong>ch</strong> die Behörde verfassungsgemäß sein.<br />
aa) Verfassungsmäßigkeit des § 15 I VersG<br />
An der Verfassungsmäßigkeit der Norm selbst bestehen keine Zweifel. Insbesondere<br />
ist in formeller Hinsi<strong>ch</strong>t die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers<br />
aus Art. 74 I Nr. 3, 72 GG gewahrt; von der Einhaltung der Verfahrens- und<br />
Formvors<strong>ch</strong>riften ist auszugehen. Materiell ist das Zitiergebot des Art. 19 I 2 GG<br />
eingehalten (§ 20 VersG) und die Verhältnismäßigkeit wegen der potentiellen<br />
Kollision der Versammlungsfreiheit mit anderen Re<strong>ch</strong>tsgütern jedenfalls angesi<strong>ch</strong>ts<br />
der dur<strong>ch</strong> pfli<strong>ch</strong>tgemäßes Ermessen und enge Tatbestandsvoraussetzungen<br />
bes<strong>ch</strong>ränkte Verbotsmögli<strong>ch</strong>keit des § 15 I VersG hinrei<strong>ch</strong>end bea<strong>ch</strong>tet.<br />
bb) Verfassungsmäßigkeit des Verbots<br />
Fragli<strong>ch</strong> ist allein, ob die Behörde den § 15 I VersG ri<strong>ch</strong>tig angewendet hat. Die<br />
Tatbestandsvoraussetzung einer erkennbaren Gefährung der öffentli<strong>ch</strong>en Si<strong>ch</strong>erheit<br />
und Ordnung sind im Falle drohender Verkehrsbehinderung gegeben. Problematis<strong>ch</strong><br />
bleibt damit nur, ob die Behörde auf der Re<strong>ch</strong>tsfolgenseite im Rahmen<br />
des Ermessens den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt hat.<br />
Zweck des Verbotes ist es, die auf der Mainuferstraße zu erwartenden Verkehrsbehinderungen<br />
zu verhindern.
Fall 4: Festungsumzug 179<br />
(1) Geeignetheit<br />
Das Verbot verhindert die Verkehrsstörung und ist somit eine geeignete Maßnahme.<br />
(2) Erforderli<strong>ch</strong>keit<br />
Es dürfte au<strong>ch</strong> kein milderes Mittel geben, das glei<strong>ch</strong> wirksam den Zweck verwirkli<strong>ch</strong>t.<br />
Hier wäre an eine Änderung der Mars<strong>ch</strong>route oder Veranstaltungszeit<br />
zu denken. Allerdings s<strong>ch</strong>eiden Wegalternativen zur Mainuferstraße na<strong>ch</strong> Aussage<br />
der Behörde aus. Au<strong>ch</strong> müßte der Umzug jedenfalls tagsüber stattfinden,<br />
stünde also immer in Konkurrenz mit dem Straßenverkehr. Die einzige Alternative<br />
zu einem Verbot läge in einer zeitli<strong>ch</strong>en oder örtli<strong>ch</strong>en Vers<strong>ch</strong>iebung,<br />
die allerdings ni<strong>ch</strong>t als milderes Mittel für den Grundre<strong>ch</strong>tsträger F anzusehen<br />
ist. Folgli<strong>ch</strong> war das Verbot erforderli<strong>ch</strong>.<br />
(3) Angemessenheit<br />
S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> dürfte das Verbot ni<strong>ch</strong>t außer Verhältnis zum Zweck der Vermeidung<br />
von Verkehrsbehinderungen stehen.<br />
Für eine Angemessenheit des Verbots spri<strong>ch</strong>t, daß die Prognose von Verkehrsbehinderungen<br />
si<strong>ch</strong> auf Erfahrungen in der Vergangenheit stützen kann, so<br />
daß au<strong>ch</strong> für den jetzt geplanten Festungsumzug wieder mit Störungen zu re<strong>ch</strong>nen<br />
ist. Verkehrsbehinderungen beeinträ<strong>ch</strong>tigen die allgemeine Handlungsfreiheit<br />
anderer Straßenbenutzer; deren Interesse an der Lei<strong>ch</strong>tigkeit und Si<strong>ch</strong>erheit<br />
des Verkehrs ist darum grundsätzli<strong>ch</strong> abwägungsrelevant. Außerdem handelt es<br />
si<strong>ch</strong> um eine bloße Unterhaltungsveranstaltung, die jedenfalls ni<strong>ch</strong>t zu denjenigen<br />
Versammlungen gehört, die die Versammlungsfreiheit des Art. 8 I GG wegen<br />
ihrer engen Beziehung zur kollektiven Meinungskundgabe zu einem unentbehrli<strong>ch</strong>en<br />
und grundlegenden Funktionselement eines demokratis<strong>ch</strong>en Gemeinwesens<br />
ma<strong>ch</strong>en.<br />
Vgl. BVerfGE 69, 315 [344 f., 347] - Brokdorf<br />
Jedo<strong>ch</strong> überwiegen die Gründe, die gegen eine Angemessenheit des Verbots<br />
spre<strong>ch</strong>en. Zunä<strong>ch</strong>st können au<strong>ch</strong> bloß unterhaltende Kulturveranstaltungen für<br />
den individuellen und kollektiven Freiheitsgebrau<strong>ch</strong> ein erhebli<strong>ch</strong>es Gewi<strong>ch</strong>t für<br />
die individuelle Entfaltung und kollektive Meinungsäußerung haben. Wenn sie<br />
deshalb in den grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utz einbezogen werden, dann kann ni<strong>ch</strong>t<br />
andererseits jede no<strong>ch</strong> so kleine Behinderung des Verkehrs als Verbotsgrund genügen.<br />
Aus bloßen verkehrste<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Gründen kommen Versammlungsverbote<br />
s<strong>ch</strong>on deshalb kaum in Betra<strong>ch</strong>t, weil in aller Regel ein Nebeneinander der<br />
Straßenbenutzung dur<strong>ch</strong> Demonstranten und fließenden Verkehr errei<strong>ch</strong>bar ist.
180<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
In aller Regel müssen darum andere Verkehrsteilnehmer die dur<strong>ch</strong> Umzüge (insbes.<br />
Demonstrationen) verursa<strong>ch</strong>ten Behinderungen hinnehmen.<br />
Vgl. BVerfGE 69, 315 [353] - Brokdorf<br />
Die Behörde hat ni<strong>ch</strong>t spezifiziert, wie gewi<strong>ch</strong>tig die Verkehrsbehinderung auf<br />
der Mainuferstraße ausfallen wird. Jedenfalls ist bei einem bewegten Umzug<br />
ni<strong>ch</strong>t von einer langdauernden und vollständigen Blockierung auszugehen. Die<br />
dur<strong>ch</strong> die Versammlung erzeugten Verkehrsbeeinträ<strong>ch</strong>tigungen sind folgli<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t gewi<strong>ch</strong>tiger als bei jeder anderen Versammlung im öffentli<strong>ch</strong>en Straßenraum.<br />
Sie stellen insofern eine typis<strong>ch</strong>e Begleiters<strong>ch</strong>einung jeder Art von Versammlung<br />
dar und können allein ni<strong>ch</strong>t genügen, um in angemessener Weise ein<br />
Verbot auszuspre<strong>ch</strong>en.<br />
Vgl. BVerfGE 69, 315 [353] - Brokdorf<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist das paus<strong>ch</strong>ale Verbot des Festungsumzugs ni<strong>ch</strong>t mehr angemessen.<br />
(4) Ergebnis zur Verhältnismäßigkeit des Verbots<br />
Die Behörde hat § 15 I VersG ni<strong>ch</strong>t verhältnismäßig angewendet.<br />
d) Ergebnis zur Verletzung von Art. 8 I GG<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist der Frankonia e.V. in seinem Grundre<strong>ch</strong>t aus Art. 8 I GG verletzt.<br />
2. Verletzung der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 I GG)<br />
Außerdem könnte der F in seinem Grundre<strong>ch</strong>t aus Art. 9 I GG verletzt sein. Der<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 9 I GG umfaßt je na<strong>ch</strong> Auslegung au<strong>ch</strong> bestimmte Betätigungen<br />
einer Vereinigung. Hier kann indes die Frage der ri<strong>ch</strong>tigen Auslegung<br />
der Vereinigungsfreiheit dahingestellt bleiben. Die Betätigung des Vereins ist<br />
ni<strong>ch</strong>t gemäß Art. 9 I GG zu prüfen, da si<strong>ch</strong> im Hinblick auf die Veranstaltung einer<br />
Versammlung Art. 8 I GG als das speziellere Grundre<strong>ch</strong>t erweist. Eine Verletzung<br />
des Art. 9 I GG liegt also ni<strong>ch</strong>t vor.<br />
3. Verletzung der Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG)<br />
Die Meinungsfreiheit kann grundsätzli<strong>ch</strong> in Idealkonkurrenz neben der Versammlungsfreiheit<br />
zur Anwendung kommen. Hier kann dahingestellt bleiben,<br />
inwieweit sie gemäß Art. 19 III GG au<strong>ch</strong> einem Verein zukommt. Denn über die<br />
im Umstand des Si<strong>ch</strong>versammelns liegende Meinungsäußerung hinaus verfolgt F<br />
überhaupt keine besonderen Äußerungsanliegen. Folgli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>eidet eine Verletzung<br />
des Art. 5 I GG mangels S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>sbeeinträ<strong>ch</strong>tigung aus.
Fall 4: Festungsumzug 181<br />
4. Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG)<br />
Eine Anwendung von Art. 2 I GG s<strong>ch</strong>eidet wegen Subsidiarität aus.<br />
5. Ergebnis zur Begründetheit<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des Frankonia e.V. ist begründet.<br />
III. Ergebnis zur Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des Frankonia e.V.<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des F ist zulässig und begründet; sie hat Aussi<strong>ch</strong>t<br />
auf Erfolg.<br />
B. Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des A<br />
I. Zulässigkeit<br />
Hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> der Beteiligtenfähigkeit, des Bes<strong>ch</strong>werdegegenstandes, der Form<br />
und Frist sowie der Re<strong>ch</strong>tswegers<strong>ch</strong>öpfung ergeben si<strong>ch</strong> bei der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
des A im Verglei<strong>ch</strong> zu derjenigen des F keine Besonderheiten. Im<br />
Rahmen der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde ist allein die Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis gesondert<br />
zu beurteilen.<br />
Zwar ist es mögli<strong>ch</strong>, daß A dur<strong>ch</strong> das Verbot in seinem Grundre<strong>ch</strong>t auf Versammlungsfreiheit<br />
verletzt ist. Fragli<strong>ch</strong> ist aber, ob er selbst, gegenwärtig und<br />
unmittelbar betroffen ist.<br />
1. Für die Selbstbetroffenheit genügt es, wenn der Bes<strong>ch</strong>werdeführer Adressat<br />
der Maßnahme ist. Daran fehlt es indes bei A, denn das Versammlungsverbot<br />
ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> an den Frankonia e.V. Fehlt es an der Adressatenstellung, so ist zweifelhaft,<br />
ob glei<strong>ch</strong>wohl eine Selbstbetroffenheit besteht. Eine bloß faktis<strong>ch</strong>e Betroffenheit<br />
soll ni<strong>ch</strong>t ausrei<strong>ch</strong>en, wogegen eine re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e genügt. So hat das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
ents<strong>ch</strong>ieden, daß die Ausweisung au<strong>ch</strong> den anderen Ehegatten<br />
betrifft, selbst wenn dieser ni<strong>ch</strong>t selbst am Verfahren beteiligt war.<br />
Hier entfaltet das Verbot des Festungsumzugs Re<strong>ch</strong>tswirkung au<strong>ch</strong> gegenüber A.<br />
Dur<strong>ch</strong> das Versammlungsverbot kann A seine Freiheit zur Teilnahme an der Versammlung<br />
ni<strong>ch</strong>t mehr ausüben. Er ist insoweit selbst betroffen.<br />
2. Au<strong>ch</strong> als bloßer Teilnehmer ist der A dur<strong>ch</strong> das Verbot insoweit s<strong>ch</strong>on gegenwärtig<br />
betroffen, als er seine eigenen Dispositionen für den Festungsumzug ni<strong>ch</strong>t<br />
sinnvoll vornehmen kann.<br />
3. Die Unmittelbarkeit der Bes<strong>ch</strong>wer folgt daraus, daß kein weiterer Vollzugsakt<br />
nötig ist, um das Versammlungsverbot wirksam werden zu lassen.
182<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist au<strong>ch</strong> A bes<strong>ch</strong>werdebefugt. Seine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde ist folgli<strong>ch</strong><br />
ebenfalls zulässig.<br />
II. Begründetheit<br />
Au<strong>ch</strong> A könnte in seinem Grundre<strong>ch</strong>t auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 I GG)<br />
verletzt sein. Die Teilnahme gehört ebenso wie die Planung und Leitung einer<br />
Veranstaltung zu den in Art. 8 I GG ges<strong>ch</strong>ützten Betätigungen. Folgli<strong>ch</strong> ist der<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Versammlungsfreiheit des A dur<strong>ch</strong> das Verbot betroffen.<br />
Bei dem Versammlungsverbot handelt es si<strong>ch</strong> um einen Eingriff, für den es an<br />
einer verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigung fehlt. Folgli<strong>ch</strong> ist au<strong>ch</strong> A in seinem<br />
Grundre<strong>ch</strong>t aus Art. 8 I GG verletzt.<br />
III. Ergebnis zur Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des A<br />
Au<strong>ch</strong> die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des A hat Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg.
Fall 5: S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis<br />
T ist türkis<strong>ch</strong>er Staatsangehöriger und S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>termeister mit eigenem Betrieb<br />
und Ladenges<strong>ch</strong>äft. Obwohl es für Muslime insgesamt ni<strong>ch</strong>t als zwingende und<br />
ausnahmslose Glaubensvors<strong>ch</strong>rift gilt, nur Fleis<strong>ch</strong> von Tieren zu essen, die ohne<br />
vorherige Betäubung ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet wurden, sehen es einige Kunden des T für si<strong>ch</strong><br />
als verbindli<strong>ch</strong> an. Weil betäubungsloses S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ten (S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten) in Deuts<strong>ch</strong>land<br />
na<strong>ch</strong> § 4a I TierS<strong>ch</strong>G verboten ist, importiert T das Fleis<strong>ch</strong> für diese Kunden aus<br />
dem Ausland.<br />
T beantragt eine Ausnahmegenehmigung na<strong>ch</strong> § 4a II Nr. 2 TierS<strong>ch</strong>G, um<br />
dem teuren Import im Interesse seiner Kunden und au<strong>ch</strong> in seinem eigenen ges<strong>ch</strong>äftli<strong>ch</strong>en<br />
Interesse ein Ende zu bereiten. Er will au<strong>ch</strong> deshalb selbst s<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten,<br />
weil er in religiöser Solidarität mit seinen strenggläubigeren Glaubensbrüdern<br />
deren persönli<strong>ch</strong>e Versorgung anstrebt.<br />
Die Ausnahmegenehmigung wird ihm verweigert, was die Verwaltungsgeri<strong>ch</strong>te<br />
in letzter Instanz bestätigen. Aus religiösen Gründen komme eine Ausnahme<br />
vom Tiers<strong>ch</strong>utz nur in Betra<strong>ch</strong>t, wenn si<strong>ch</strong> zwingende Verbotsvors<strong>ch</strong>riften<br />
einer Religionsgemeins<strong>ch</strong>aft objektiv feststellen ließen. Eine individuelle<br />
Si<strong>ch</strong>t, au<strong>ch</strong> wenn sie von vielen als zwingend empfunden werde, genüge hingegen<br />
ni<strong>ch</strong>t.<br />
T hält das für eine grundre<strong>ch</strong>tswidrige Behinderung der Religionsfreiheit seiner<br />
Kunden und seiner eigenen Ges<strong>ch</strong>äftstätigkeit. Gegen das S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>tverbot, die<br />
Verweigerung der Genehmigung und das letztinstanzli<strong>ch</strong>e Urteil legt er unverzügli<strong>ch</strong><br />
Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde beim Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t ein.<br />
Hat die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg?<br />
Vgl. BVerwGE 99, 1 – S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten; BVerfG 1 BvR 1783/99 - S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis<br />
Bearbeitungszeit: ca. 1 Stunde, 15 Minuten<br />
§ 4a TierS<strong>ch</strong>G:<br />
»(1) Ein warmblütiges Tier darf nur ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet werden, wenn es vor Beginn des<br />
Blutentzugs betäubt worden ist.<br />
(2) Abwei<strong>ch</strong>end von Absatz 1 bedarf es keiner Betäubung, wenn<br />
1. ...,<br />
2. die zuständige Behörde eine Ausnahmegenehmigung für ein S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ten ohne Betäubung<br />
(S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten) erteilt hat; sie darf die Ausnahmegenehmigung nur insoweit erteilen,<br />
als es erforderli<strong>ch</strong> ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeins<strong>ch</strong>aften<br />
im Geltungsberei<strong>ch</strong> dieses Gesetzes zu entspre<strong>ch</strong>en, denen zwin-
184<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
gende Vors<strong>ch</strong>riften ihrer Religionsgemeins<strong>ch</strong>aft das S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten vors<strong>ch</strong>reiben oder den<br />
Genuß von Fleis<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>teter Tiere untersagen oder ...«<br />
Fall 5: S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis – Lösung<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des T hat Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg, wenn sie zulässig und<br />
begründet ist.<br />
A) Zulässigkeit<br />
Die Zulässigkeit ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 80 ff.<br />
BVerfGG.<br />
I. Beteiligtenfähigkeit<br />
T ist als natürli<strong>ch</strong>e Person Träger von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n und so »jedermann« i.S.v.<br />
§ 90 I BVerfGG – mithin beteiligtenfähig.<br />
II. Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand<br />
Ein zulässiger Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand liegt in der Genehmigungsverweigerung<br />
dur<strong>ch</strong> die Exekutive und deren Bestätigung dur<strong>ch</strong> die Judikative – beides Akte<br />
öffentli<strong>ch</strong>er Gewalt. Mittelbar ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde zudem<br />
gegen einen Akt der Legislative: § 4a I, II Nr. 2 TierS<strong>ch</strong>G.<br />
III. Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis<br />
Es ist angesi<strong>ch</strong>ts der fortwirkenden Beeinträ<strong>ch</strong>tigung seiner Ges<strong>ch</strong>äftstätigkeit<br />
dur<strong>ch</strong> die Genehmigungsverweigerung zumindest mögli<strong>ch</strong>, daß <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
des T verletzt sind, etwa die Berufs- oder Religionsfreiheit. Dur<strong>ch</strong> die Verweigerung<br />
und ihre re<strong>ch</strong>tskräftige geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Bestätigung in Anwendung des § 4a<br />
TierS<strong>ch</strong>G ist T au<strong>ch</strong> selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Folgli<strong>ch</strong> ist er<br />
bes<strong>ch</strong>werdebefugt.<br />
IV. Form und Frist<br />
Die unverzügli<strong>ch</strong> und vollständig eingelegte Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde erfüllt die<br />
Vorgaben der §§ 23 I, 92, 93 I 1 BVerfGG.<br />
V. Ers<strong>ch</strong>öpfung des Re<strong>ch</strong>tswegs<br />
Re<strong>ch</strong>tsmittel sind bis zur letzten Instanz erfolglos geblieben. Also ist der Re<strong>ch</strong>tsweg<br />
ers<strong>ch</strong>öpft.
Fall 5: S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis 185<br />
VI. Ergebnis zur Zulässigkeit<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des T ist demna<strong>ch</strong> zulässig.<br />
B) Begründetheit<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde wäre begründet, wenn dur<strong>ch</strong> das S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>tverbot und<br />
die Genehmigungsverweigerung <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> des T verletzt würden.<br />
I. Verletzung der Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG)<br />
Zunä<strong>ch</strong>st könnte die Religionsfreiheit verletzt sein, was eine Betroffenheit des<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>s von Art. 4 I, II GG voraussetzt.<br />
Das S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten selbst ist bei berufli<strong>ch</strong>er Ausübung jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als Akt der<br />
Religionsausübung anzusehen. Es geht dem T na<strong>ch</strong> der besonderen Konstellation<br />
des Falles au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t um seine Eigenversorgung mit Fleis<strong>ch</strong> von ges<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>teten<br />
Tieren. Da T die Religionsfreiheit nur für seine Kunden geltend ma<strong>ch</strong>t, si<strong>ch</strong> die<br />
Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde als Individualre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz aber auf die eigenen Re<strong>ch</strong>te<br />
des Bes<strong>ch</strong>werdeführers bes<strong>ch</strong>ränkt, kann Prüfungsmaßstab allein die Berufsfreiheit<br />
des T sein. Soweit die Ausübung des S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>terberufs als Ausdruck von Solidarität<br />
mit Glaubensbrüdern au<strong>ch</strong> religiös motiviert ist, muß dabei der besondere<br />
S<strong>ch</strong>utzgehalt der Religionsfreiheit innerhalb der Abwägung mitberücksi<strong>ch</strong>tigt<br />
werden.<br />
Hinweis: vgl. BVerfG 1 BvR 1783/99 - S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis<br />
Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Religionsfreiheit des T ist folgli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t betroffen.<br />
II. Verletzung der Berufsfreiheit (Art. 12 I GG)<br />
Während si<strong>ch</strong> die Berufsfreiheit für Deuts<strong>ch</strong>e aus Art. 12 I GG ergibt, ist sie für<br />
Ausländer, die wie der türkis<strong>ch</strong>e T ni<strong>ch</strong>t aus Ländern der Europäis<strong>ch</strong>en Union<br />
stammen, auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG)<br />
ges<strong>ch</strong>ützt.<br />
III. Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG)<br />
1. S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
Als Auffanggrundre<strong>ch</strong>t umfaßt der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 2 I GG alle Handlungsweisen,<br />
die ni<strong>ch</strong>t in den Berei<strong>ch</strong> eines spezielleren Freiheitsre<strong>ch</strong>ts fallen. Bei<br />
Handlungen, die wegen ihres Gewi<strong>ch</strong>ts für den Grundre<strong>ch</strong>tsträger ni<strong>ch</strong>t als Bagatellen<br />
gelten und einen starken Persönli<strong>ch</strong>keitsbezug aufweisen, ist der Grund-
186<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz au<strong>ch</strong> unumstritten. Die Berufstätigkeit mit religiösem Bezug ist eine<br />
sol<strong>ch</strong>e Handlung. Folgli<strong>ch</strong> ist der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 2 I GG dur<strong>ch</strong> das<br />
S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>tverbot betroffen.<br />
2. Eingriff<br />
Es müßte ein Eingriff vorliegen. Ein Eingriff ist jede staatli<strong>ch</strong>e Maßnahme, die<br />
eine in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> fallende Tätigkeit ers<strong>ch</strong>wert, verbietet, unmögli<strong>ch</strong><br />
ma<strong>ch</strong>t oder sanktioniert, insbesondere jede Maßnahme, mit der dies zielgeri<strong>ch</strong>tet<br />
und re<strong>ch</strong>tsförmig ges<strong>ch</strong>ieht (klassis<strong>ch</strong>er Eingriff). Hier liegt eine Ers<strong>ch</strong>werung<br />
der Berufsausübung darin, daß nur unter den eins<strong>ch</strong>ränkenden Voraussetzungen<br />
des § 4a II Nr. 2 TierS<strong>ch</strong>G eine Ausnahme vom S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>tverbot genehmigt wird<br />
und die Genehmigungsfähigkeit im Falle des T dur<strong>ch</strong> Behörden und Geri<strong>ch</strong>te<br />
zielgeri<strong>ch</strong>tet und re<strong>ch</strong>tsförmig verneint wurden. Es liegt also ein Eingriff vor.<br />
3. Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Zur verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigung kommt innerhalb der S<strong>ch</strong>rankentrias<br />
des Art. 2 I GG die verfassungsmäßige Ordnung in Betra<strong>ch</strong>t, die alle Re<strong>ch</strong>tsnormen<br />
umfaßt. Das S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>tverbot und der enge Tatbestand für Ausnahmegenehmigungen<br />
in § 4a I, II Nr. 2 TierS<strong>ch</strong>G könnten s<strong>ch</strong>rankenkonkretisierende<br />
Re<strong>ch</strong>tsnormen im Sinne der Klausel sein. Dazu müßte sowohl das Gesetz selbst<br />
als au<strong>ch</strong> dessen Anwendung dur<strong>ch</strong> Behörden und Geri<strong>ch</strong>te verfassungsgemäß<br />
sein.<br />
a) Verfassungsmäßigkeit des § 4a I, II Nr. 2 TierS<strong>ch</strong>G<br />
Fragli<strong>ch</strong> ist zunä<strong>ch</strong>st, ob das S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>tverbot mit restriktivem Ausnahmetatbestand,<br />
wie es in § 4a I, II Nr. 2 TierS<strong>ch</strong>G geregelt ist, formell und materiell verfassungsgemäß<br />
ist.<br />
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit<br />
Da si<strong>ch</strong> die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den Tiers<strong>ch</strong>utz aus Art. 72<br />
II, 74 I Nr. 20 GG ergibt und Anhaltspunkte für Verfahrens- oder Formfehler bei<br />
der Gesetzesverabs<strong>ch</strong>iedung ni<strong>ch</strong>t bestehen, ist das Gesetz formell verfassungsgemäß.<br />
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />
Die materielle Verfassungsmäßigkeit setzt insbesondere voraus, daß der Grundsatz<br />
der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Zweck des Tiers<strong>ch</strong>utzgesetzes ist es,<br />
aus der Verantwortung des Mens<strong>ch</strong>en für das Tier als Mitges<strong>ch</strong>öpf dessen Leben<br />
und Wohlbefinden zu s<strong>ch</strong>ützen (ethis<strong>ch</strong> begründeter Tiers<strong>ch</strong>utz).
Fall 5: S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>terlaubnis 187<br />
(1) Die Geeignetheit des S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>tverbots mit restriktivem Ausnahmetatbestand<br />
zur Förderung des Tiers<strong>ch</strong>utzes ergibt si<strong>ch</strong> daraus, daß mit dem Verbot das Leiden<br />
und der S<strong>ch</strong>merz von Tieren beim S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ten verringert werden und mit<br />
dem Vorbehalt der Ausnahmegenehmigung präventive staatli<strong>ch</strong>e Kontrollen für<br />
die Sa<strong>ch</strong>kunde und persönli<strong>ch</strong>e Eignung der s<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>tenden S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ter mögli<strong>ch</strong><br />
werden.<br />
(2) Die Erforderli<strong>ch</strong>keit folgt daraus, daß weniger eins<strong>ch</strong>neidende Maßnahmen<br />
den Tiers<strong>ch</strong>utz ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong> wirksam fördern könnten.<br />
(3) Problematis<strong>ch</strong> ist die Angemessenheit der Regelung.<br />
Gegen die Angemessenheit spri<strong>ch</strong>t das hohe Gewi<strong>ch</strong>t, das eine religiös motivierte<br />
S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>tung für die Lebensführung gläubiger Moslems hat, indem es ihnen<br />
den Fleis<strong>ch</strong>genuß ohne Verstoß gegen ihre Überzeugungen ermögli<strong>ch</strong>t. Dieser<br />
Religionsbezug ist bei der Frage berufli<strong>ch</strong>er Freiheit mit zu berücksi<strong>ch</strong>tigen. Andererseits<br />
trägt aber der Ausnahmetatbestand des Gesetzes den »Bedürfnissen<br />
von Angehörigen bestimmter Religionsgemeins<strong>ch</strong>aften« bereits ausdrückli<strong>ch</strong><br />
Re<strong>ch</strong>nung. Der Tatbestand läßt damit im Rahmen der Einzelfallents<strong>ch</strong>eidung einen<br />
hinrei<strong>ch</strong>enden Spielraum, um die Verbotswirkung auf den zumutbaren Gehalt<br />
zu bes<strong>ch</strong>ränken. Unter diesen Umständen ist die Regelung selbst no<strong>ch</strong> als<br />
angemessen anzusehen.<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist § 4a I, II Nr. 2 TierS<strong>ch</strong>G selbst verfassungsgemäß und dadur<strong>ch</strong><br />
Teil der verfassungsmäßige Ordnung im Sinne von Art. 2 I GG; die Norm kommt<br />
damit als Grundlage für eine Bes<strong>ch</strong>ränkung der Berufsfreiheit von Ausländern in<br />
Betra<strong>ch</strong>t.<br />
b) Verfassungsmäßigkeit der Anwendung des § 4a II Nr. 2 TierS<strong>ch</strong>G in<br />
Form der Genehmigungsverweigerung<br />
Fragli<strong>ch</strong> ist aber, ob die Anwendung des Ausnahmetatbestandes im konkreten<br />
Fall verfassungsgemäß war.<br />
Behörden und Geri<strong>ch</strong>te haben bei Auslegung und Anwendung der Norm bereits<br />
den Tatbestand verneint. Sie sind davon ausgegangen, daß es für die Muslime,<br />
die zum Kundenstamm des T gehören, keine zwingende Vors<strong>ch</strong>rift ihrer<br />
Religionsgemeins<strong>ch</strong>aft ist, nur Fleis<strong>ch</strong> von ges<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>teten Tieren zu essen. Die<br />
Begründung stützt si<strong>ch</strong> darauf, daß der zwingende Charakter religiöser Gebote<br />
nur objektiv na<strong>ch</strong> den Aussagen der Religionsgemeins<strong>ch</strong>aft, ni<strong>ch</strong>t aber subjektiv<br />
na<strong>ch</strong> der Überzeugung einzelner Gruppen von Glaubensangehörigen vorgenommen<br />
werden darf. Diese restriktive Interpretation könnte gegen den Grundsatz<br />
der Verhältnismäßigkeit verstoßen.
188<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
(1) Zwar ist die Verweigerung der Ausnahmegenehmigung geeignet und erforderli<strong>ch</strong>,<br />
um den konkreten Zweck, Tiere vor der S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>tung dur<strong>ch</strong> T zu s<strong>ch</strong>ützen,<br />
zu fördern.<br />
(2) Fragli<strong>ch</strong> ist aber die Angemessenheit der Genehmigungsversagung. Für die<br />
Angemessenheit der restriktiven Auslegung spri<strong>ch</strong>t, daß es zu einer sehr viel<br />
größeren Zahl von Ausnahmegenehmigungen und damit S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>tungen kommen<br />
würde, wenn allein die Überzeugung einzelner Glaubensangehöriger das<br />
S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten re<strong>ch</strong>tfertigen könnte. Zudem stellt der Tiers<strong>ch</strong>utz einen Gemeinwohlbelang<br />
dar, dem in der Bevölkerung allgemein ein hoher Stellenwert beigelegt<br />
wird.<br />
Andererseits betrifft die Verweigerung der Genehmigung ni<strong>ch</strong>t nur die Wirts<strong>ch</strong>aftsinteressen<br />
des T, sondern au<strong>ch</strong> dessen religiöse Motivation zu einer Solidarität<br />
mit seinen Glaubensbrüdern und mittelbar deren religiös motiviertes Begehren<br />
na<strong>ch</strong> Fleis<strong>ch</strong> von ges<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>teten Tieren. Der Verzehr importierten Fleis<strong>ch</strong>s<br />
kann diesbezügli<strong>ch</strong> nur als eine Notlösung angesehen werden, denn dabei fehlt<br />
der persönli<strong>ch</strong>e Kontakt zum S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ter und damit ein wi<strong>ch</strong>tiges Element für das<br />
Vertrauen, daß das verzehrte Fleis<strong>ch</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> den Geboten des Islam entspri<strong>ch</strong>t.<br />
Außerdem ist die Verteuerung, die dur<strong>ch</strong> den Import eintritt, eine auf<br />
Dauer s<strong>ch</strong>werwiegende Beeinträ<strong>ch</strong>tigung für die religiöse Lebensführung, die<br />
vor allem arme Muslime stark trifft.<br />
Na<strong>ch</strong> alledem ist eine Auslegung der Tatbestandsmerkmale der ʹReligionsgemeins<strong>ch</strong>aftʹ<br />
und der ʹzwingenden Vors<strong>ch</strong>riftenʹ nur dann angemessen, wenn<br />
sie es ausrei<strong>ch</strong>en läßt, daß der Antrag im Interesse einer Gruppierungen innerhalb<br />
des Islam gestellt wird, die eine gemeinsame Glaubensüberzeugung verbindet,<br />
selbst wenn diese Überzeugung ni<strong>ch</strong>t für alle Muslime gilt. Die jede subjektive<br />
Überzeugung ignorierende Auslegung von Behörden und Geri<strong>ch</strong>ten im Falle<br />
des T wird diesem Erfordernis ni<strong>ch</strong>t mehr gere<strong>ch</strong>t. Folgli<strong>ch</strong> ist sie unangemessen.<br />
Die Interpretation des Art. 4a II Nr. 2 TierS<strong>ch</strong>G verletzt T in seinem Grundre<strong>ch</strong>t<br />
aus Art. 2 I GG.<br />
C) Ergebnis<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des T ist zulässig und begründet; sie hat folgli<strong>ch</strong><br />
Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg.
Fall 6: Helmpfli<strong>ch</strong>t<br />
Der Minderjährige A besitzt eine Fahrerlaubnis der Klasse 4, mit der man na<strong>ch</strong><br />
Vollendung des 16. Lebensjahres Kleinkrafträder bis zu einer Hö<strong>ch</strong>stges<strong>ch</strong>windigkeit<br />
von 30 km/h fahren darf. Von Freunden erfährt A, daß in § 21a II StVO<br />
eine bußgeldbewehrte Pfli<strong>ch</strong>t eingeführt wurde, bei der Fahrt S<strong>ch</strong>utzhelme zu<br />
tragen. Diese Pfli<strong>ch</strong>t ist vor vier Monaten in Kraft getreten.<br />
A empfindet das als Bevormundung. Ob er seine Gesundheit selbst gefährde,<br />
sei allein seine Angelegenheit. Nur im autoritären Obrigkeitsstaat werde man<br />
vor si<strong>ch</strong> selbst ges<strong>ch</strong>ützt. Ein S<strong>ch</strong>utzhelm störe sein Fahrvergnügen. Au<strong>ch</strong> mit<br />
dem Glei<strong>ch</strong>heitssatz sei die neue Regelung ni<strong>ch</strong>t vereinbar, weil Radfahrer keinen<br />
Helm tragen müßten, obwohl sie teils s<strong>ch</strong>neller als 30 km/h fahren könnten.<br />
A läßt si<strong>ch</strong> von seinem Patenonkel P, einem Anwalt, erklären, daß die Staßenverkehrsordnung<br />
eine mit Zustimmung des Bundesrates im Rahmen einer<br />
verfassungsgemäßen gesetzli<strong>ch</strong>en Ermä<strong>ch</strong>tigung vom Bundesverkehrsminister<br />
erlassene Re<strong>ch</strong>tsverordnung ist. P meint, daß A ohne das Zutun seiner Eltern direkt<br />
gegen die Helmpfli<strong>ch</strong>t Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde erheben könne. Mit Hilfe<br />
des P s<strong>ch</strong>reibt A einen entspre<strong>ch</strong>enden, formal korrekten Brief an das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t.<br />
Hat die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des A Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg?<br />
Bearbeitungszeit: ca. 1 Stunde, 45 Minuten<br />
§ 27a StVO:<br />
»(2) Die Führer von Krafträdern und ihre Beifahrer müssen während der Fahrt amtli<strong>ch</strong><br />
genehmigte S<strong>ch</strong>utzhelme tragen.«<br />
Fall 6: Helmpfli<strong>ch</strong>t – Lösung<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des A hat Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg, wenn sie zulässig und<br />
begründet ist.<br />
I. Zulässigkeit<br />
Die Zulässigkeit ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 80 ff.<br />
BVerfGG.
190<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
1. Beteiligtenfähigkeit<br />
A ist als natürli<strong>ch</strong>e Person Träger von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n und demgemäß »jedermann«<br />
i.S.v. § 90 I BVerfGG – also beteiligtenfähig.<br />
2. Verfahrensfähigkeit<br />
Für A als Minderjährigen stellt si<strong>ch</strong> die besondere Frage, ob er im Rahmen einer<br />
Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde selbst verfahrensfähig ist, also ohne seine gesetzli<strong>ch</strong>en<br />
Vertreter Handlungen vornehmen kann.<br />
Die Verfahrensfähigkeit vor dem Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t ist gesetzli<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t geregelt. Als verfahrensfähig im Rahmen der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde gelten<br />
Minderjährige dann, wenn sie grundre<strong>ch</strong>tsmündig sind. Grundre<strong>ch</strong>tsmündigkeit<br />
bezei<strong>ch</strong>net die grundre<strong>ch</strong>tsspezifis<strong>ch</strong>e Altersgrenze, ab der ein Minderjähriger<br />
au<strong>ch</strong> ohne oder gegen den Willen der Erziehungsbere<strong>ch</strong>tigten eine<br />
Grundre<strong>ch</strong>t ausüben kann. Das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t stellt dafür auf die<br />
Einsi<strong>ch</strong>tsfähigkeit ab.<br />
Von einem 16-jährigen kann normalerweise die notwendige Einsi<strong>ch</strong>tsfähigkeit<br />
und Verstandesreife erwartet werden. In diesem Alter sind si<strong>ch</strong> Minderjährige<br />
des Inhalts und der Tragweite ihrer Handlungen im Straßenverkehr bewußt.<br />
Au<strong>ch</strong> der Gesetzgeber ist bei Einführung der Fahrerlaubnis der Klasse 4 davon<br />
ausgegangen, daß Minderjährige insoweit zur verantwortli<strong>ch</strong>en Teilnahme am<br />
Straßenverkehr fähig sind. Anhaltspunkte dafür, daß die Einsi<strong>ch</strong>tsfähigkeit des<br />
A geringer als bei seinen Altersgenossen sein könnte, gibt es ni<strong>ch</strong>t.<br />
A ist daher grundre<strong>ch</strong>tsmündig und damit verfahrensfähig.<br />
3. Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand<br />
Ein zulässiger Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand liegt in der Neuregelung des § 27a II StVO,<br />
die funktional ein Akt der Gesetzgebung, organisatoris<strong>ch</strong> ein sol<strong>ch</strong>er der Exekutive<br />
ist, in jedem Fall aber ein Akt öffentli<strong>ch</strong>er Gewalt.<br />
4. Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis<br />
Für die Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis müßte eine Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung des A zumindest<br />
mögli<strong>ch</strong> sein; eine sol<strong>ch</strong>e ist bezügli<strong>ch</strong> Art. 2 I, 3 I GG jedenfalls ni<strong>ch</strong>t ausges<strong>ch</strong>lossen.<br />
A müßte außerdem dur<strong>ch</strong> die angegriffene Regelung selbst, gegenwärtig und<br />
unmittelbar betroffen sein. Dur<strong>ch</strong> § 21a II StVO ist A als Kraftradfahrer selbst<br />
betroffen. Gegenwärtig ist die Wirkung der Norm, weil sie bereits vor vier Monaten<br />
in Kraft getreten ist. Fragli<strong>ch</strong> ist allein, ob die Regelung au<strong>ch</strong> unmittelbar
Fall 6: Helmpfli<strong>ch</strong>t 191<br />
für ihn Folgen hat. Bei Re<strong>ch</strong>tsnormen, zu deren Geltung im Einzelfall kein weiterer<br />
Vollzugsakt mehr nötig ist, tritt die Unmittelbarkeit bereits mit deren Inkrafttreten<br />
ein. Die Helmpfli<strong>ch</strong>t ist eine sol<strong>ch</strong>e Norm, die unmittelbar gegenüber jedem<br />
Normadressaten, also au<strong>ch</strong> gegenüber A, das Verbot ausspri<strong>ch</strong>t, ohne<br />
S<strong>ch</strong>utzhelm zu fahren. A ist also au<strong>ch</strong> unmittelbar betroffen.<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist er bes<strong>ch</strong>werdebefugt.<br />
5. Form und Frist<br />
Die Formvors<strong>ch</strong>riften der §§ 23 I, 92 BVerfGG sind dur<strong>ch</strong> den mit Hilfe des P verfaßten<br />
Brief gewahrt worden. Die Frist für Verfassungsbes<strong>ch</strong>werden ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong><br />
na<strong>ch</strong> § 93 BVerfGG. Dort wird unters<strong>ch</strong>ieden zwis<strong>ch</strong>en der Jahresfrist gegenüber<br />
Hoheitsakten, bei denen ein Re<strong>ch</strong>tsweg ni<strong>ch</strong>t offensteht (§ 93 III BVerfGG), und<br />
der Monatsfrist in den übrigen Fällen (§ 93 I BVerfGG). A hat seine Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
vier Monate na<strong>ch</strong> Inkrafttreten der Helmpfli<strong>ch</strong>t eingelegt, so daß es<br />
für die Fristwahrung darauf ankommt, ob gegen § 27a II StVO der Re<strong>ch</strong>tsweg offensteht.<br />
Gegenüber Re<strong>ch</strong>tsverordnungen der Länder ist dies tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> der Fall<br />
(vgl. § 47 VwGO). Hier handelt es si<strong>ch</strong> aber um eine Re<strong>ch</strong>tsverordnung des Bundes.<br />
Bei sol<strong>ch</strong>en besteht kein Re<strong>ch</strong>tsweg, so daß die Jahresfrist gilt, die von A<br />
gewahrt wurde.<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde ist also au<strong>ch</strong> form- und fristgere<strong>ch</strong>t eingelegt<br />
worden.<br />
6. Allgemeine Subsidiarität<br />
Generell gilt für Verfassungsbes<strong>ch</strong>werden, daß der Bes<strong>ch</strong>werdeführer vor ihrer<br />
Einlegung den Re<strong>ch</strong>tsweg ers<strong>ch</strong>öpfen muß (§ 90 II 1 BVerfGG). Wenn kein<br />
Re<strong>ch</strong>tsweg besteht, so kommt es für die Zulässigkeit der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
ni<strong>ch</strong>t auf die Regeln zur ausnahmsweisen Entbehrli<strong>ch</strong>keit dieses Erfordernisses<br />
an (vgl. § 90 II 2 BVerfGG), sondern auf den unges<strong>ch</strong>riebenen Grundsatz der allgemeinen<br />
Subsidiarität der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde zu allen anderen Re<strong>ch</strong>tsbehelfen<br />
vor den einfa<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>ten.<br />
Hinweis: Die Prüfung des § 90 II 2 BVerfGG statt des unges<strong>ch</strong>riebenen Grundsatzes<br />
der allgemeinen Subsidiarität der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde ist ein häufiger Fehler in<br />
Klausuren. Merke: Für die Ausnahme des Satzes 2 fehlt es mangels Re<strong>ch</strong>tswegs an<br />
den na<strong>ch</strong> Satz 1 geltenden Anwendungsbedingungen der Norm!<br />
Es dürfte für A keine zumutbare Mögli<strong>ch</strong>keit geben, die Frage der Helmpfli<strong>ch</strong>t<br />
vor einfa<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>ten zur Prüfung zu bringen. Da es si<strong>ch</strong> um eine bußgeldbewehrte<br />
Pfli<strong>ch</strong>t handelt, könnte A solange ohne Helm fahren, bis gegen ihn ein<br />
Bußgeldbes<strong>ch</strong>eid verhängt wird, um dann im Geri<strong>ch</strong>tsverfahren gegen diesen
192<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
Bes<strong>ch</strong>eid inzident geltend zu ma<strong>ch</strong>en, daß eine Helmpfli<strong>ch</strong>t gegen seine <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
verstößt. Allerdings gelten all jene Re<strong>ch</strong>tsbehelfe, für die der Grundre<strong>ch</strong>tsträger<br />
eine Strafe oder ein Bußgeld in Kauf nehmen müßte, ni<strong>ch</strong>t als zumutbare<br />
Alternative.<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist der Grundsatz der allgemeinen Subsidiarität der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
gewahrt.<br />
7. Ergebnis zur Zulässigkeit<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des A ist zulässig.<br />
II. Begründetheit<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde ist begründet, wenn A dur<strong>ch</strong> § 21a II StVO in einem<br />
seiner <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> verletzt wird.<br />
1. Verletzung des Re<strong>ch</strong>ts auf körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit (Art. 2 II GG)<br />
Da A geltend ma<strong>ch</strong>t, daß er seine Gesundheit selbst gefährden darf, könnte man<br />
zunä<strong>ch</strong>st an eine Re<strong>ch</strong>t auf Risiko als negativen S<strong>ch</strong>utzgehalt der körperli<strong>ch</strong>en<br />
Unversehrtheit aus Art. 2 II GG denken.<br />
Bei den körperli<strong>ch</strong>en Integritätsre<strong>ch</strong>ten ist eine sol<strong>ch</strong>e negative Seite aber<br />
ni<strong>ch</strong>t anerkannt. Das gilt für die körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit ebenso wie für das<br />
Re<strong>ch</strong>t auf Leben. Aus diesen S<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>ten kann umgekehrt weder ein Re<strong>ch</strong>t auf<br />
Risiko no<strong>ch</strong> ein Re<strong>ch</strong>t auf Selbsttötung gefolgert werden, sondern sol<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te<br />
sind allenfalls Ausdruck der Handlungsfreiheiten des Grundre<strong>ch</strong>tsträgers.<br />
Folgli<strong>ch</strong> liegt in der Helmpfli<strong>ch</strong>t keine Verletzung des Art. 2 II GG.<br />
2. Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG)<br />
In Betra<strong>ch</strong>t kommt eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I<br />
GG).<br />
a) S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
Bei Handlungspfli<strong>ch</strong>ten, denen im Verglei<strong>ch</strong> zu anderen kein besonders starkes<br />
Gewi<strong>ch</strong>t zukommt, ist der S<strong>ch</strong>utz na<strong>ch</strong> Art. 2 I GG umstritten.<br />
aa) Na<strong>ch</strong> der Persönli<strong>ch</strong>keitskerntheorie (Peters) ist eine Handlung nur dann<br />
dur<strong>ch</strong> Art. 2 I GG ges<strong>ch</strong>ützt, wenn sie zur Entfaltung der geistig sittli<strong>ch</strong>en Persönli<strong>ch</strong>keit<br />
beiträgt. Die Freiheit, ohne statt mit Helm zu fahren, wäre dana<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t im S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 2 I GG.
Fall 6: Helmpfli<strong>ch</strong>t 193<br />
bb) Na<strong>ch</strong> einem Sondervotum von Dieter Grimm, das man als Bagatellisierungslehre<br />
bezei<strong>ch</strong>nen könnte, verdienen nur sol<strong>ch</strong>e Handlungsweisen grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>utz, die ni<strong>ch</strong>t als bloße Bagatelle einzustufen sind. Au<strong>ch</strong> hierna<strong>ch</strong> handelt<br />
es si<strong>ch</strong> bei der Helmpfli<strong>ch</strong>t um eine so nebensä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Angelegenheit, daß<br />
ein S<strong>ch</strong>utz des A na<strong>ch</strong> Art. 2 I GG zu verneinen wäre.<br />
cc) Die herrs<strong>ch</strong>ende Meinung sieht im S<strong>ch</strong>utz der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />
gemäß Art. 2 I GG hingegen einen umfassenden Auffangtatbestand, in dem jedes<br />
Handeln letztli<strong>ch</strong> Grundre<strong>ch</strong>tsrelevanz gewinnt, glei<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>es Gewi<strong>ch</strong>t es im<br />
Verglei<strong>ch</strong> zu anderen Freiheitsbetätigungen haben mag. Na<strong>ch</strong> dieser Ansi<strong>ch</strong>t<br />
wäre die Helmpfli<strong>ch</strong>t grundre<strong>ch</strong>tsrelevant.<br />
dd) Für die Persönli<strong>ch</strong>keitskerntheorie spri<strong>ch</strong>t zwar, daß sie si<strong>ch</strong> eng an den<br />
Wortlaut des Art. 2 I GG anlehnt, und für die Bagatellisierungslehre spri<strong>ch</strong>t, daß<br />
sie die Reduzierung des Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes zur ʺkleinen Münzeʺ verhindern<br />
und diesen auf die wi<strong>ch</strong>tigen Kerngehalte persönli<strong>ch</strong>er Freiheitsentfaltung konzentrieren<br />
kann, do<strong>ch</strong> haben beide Bes<strong>ch</strong>ränkungen den Na<strong>ch</strong>teil, daß sie die allgemeine<br />
Handlungsfreiheit ni<strong>ch</strong>t mehr als Auffanggrundre<strong>ch</strong>t einsetzen. Nur<br />
die herrs<strong>ch</strong>ende Meinung kann si<strong>ch</strong>erstellen, daß jede Handlungsweise, selbst<br />
wenn sie im Verglei<strong>ch</strong> mit anderen no<strong>ch</strong> so unwi<strong>ch</strong>tig ers<strong>ch</strong>einen mag, der<br />
grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Kontrolle unterliegt. Damit läßt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> dem Umstand Re<strong>ch</strong>nung<br />
tragen, daß Bagatellhandlungen, die den meisten Mens<strong>ch</strong>en unwi<strong>ch</strong>tig ers<strong>ch</strong>einen<br />
mögen, für einzelne Grundre<strong>ch</strong>tsträger großes Gewi<strong>ch</strong>t haben können.<br />
Historis<strong>ch</strong> spri<strong>ch</strong>t zudem für die Annahme eines Auffangtatbestands, daß die<br />
Entwurfsfassungen des heutigen Art. 2 I GG no<strong>ch</strong> ganz allgemein davon spra<strong>ch</strong>en,<br />
jeder könne tun und lassen, was die Re<strong>ch</strong>te anderer ni<strong>ch</strong>t verletze. An dieser<br />
Weite sollte dur<strong>ch</strong> die vornehmer formulierte S<strong>ch</strong>lußfassung inhaltli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts<br />
geändert werden. Folgli<strong>ch</strong> spre<strong>ch</strong>en die besseren Gründe dafür, die allgemeine<br />
Handlungsfreiheit mit der herrs<strong>ch</strong>enden Meinung als umfassendes Auffanggrundre<strong>ch</strong>t<br />
zu verstehen.<br />
Also ist au<strong>ch</strong> ein ʺbanalerʺ Freiheitsgebrau<strong>ch</strong>, wie er im unbehelmten Fahren<br />
des A zum Ausdruck kommt, grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ützt.<br />
b) Eingriff<br />
Ein Eingriff liegt darin, daß dem A wie allen anderen Normadressaten zielgeri<strong>ch</strong>tet<br />
und re<strong>ch</strong>tsförmig das Fahren ohne Helm verboten wird.<br />
c) Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Die allgemeine Handlungsfreiheit unterliegt der S<strong>ch</strong>rankentrias des Art. 2 I GG.<br />
In Betra<strong>ch</strong>t kommt hier eine Eins<strong>ch</strong>ränkung des Grundre<strong>ch</strong>ts als Ausdruck der<br />
verfassungsmäßigen Ordnung. Darunter fallen alle Re<strong>ch</strong>tsnormen, also au<strong>ch</strong>
194<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
Re<strong>ch</strong>tsverordnungen des Bundes, sofern sie formell und materiell mit der Verfassung<br />
in Einklang stehen.<br />
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit<br />
§ 21 a II StVO beruht auf einer formell und materiell verfassungsgemäßen gesetzli<strong>ch</strong>en<br />
Grundlage. Für eine formelle Verfassungswidrigkeit der Norm bestehen<br />
folgli<strong>ch</strong> keine Anhaltspunkte.<br />
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />
Fragli<strong>ch</strong> ist, ob der Eingriff materiell dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />
entspri<strong>ch</strong>t.<br />
Der Zweck der Regelung besteht erkennbar darin, Fahrer und Beifahrer sowie<br />
gegebenenfalls andere Verkehrsteilnehmer so weit wie mögli<strong>ch</strong> vor Gesundheitss<strong>ch</strong>äden<br />
zu bewahren, die bei Straßenverkehrsunfällen auftreten. Ein weiterer<br />
Zweck mag darin liegen, die Folgekosten von Körpers<strong>ch</strong>äden, die der Allgemeinheit<br />
dur<strong>ch</strong> die Einstandspfli<strong>ch</strong>t des Staates oder vermittelt dur<strong>ch</strong> Versi<strong>ch</strong>erungssysteme<br />
entstehen, so gering wie mögli<strong>ch</strong> zu halten.<br />
(1) Mit Blick auf diese mehrfa<strong>ch</strong>e Zwecksetzung kann die Helmpfli<strong>ch</strong>t als ein<br />
Mittel zur Milderung von Unfallfolgen und damit als geeignet gelten.<br />
(2) Au<strong>ch</strong> die Erforderli<strong>ch</strong>keit ist mangels weniger eins<strong>ch</strong>neidender, glei<strong>ch</strong> wirksamer<br />
Alternativen zu bejahen.<br />
(3) Fragli<strong>ch</strong> ist aber, ob die Helmpfli<strong>ch</strong>t angemessen ist.<br />
(a) Das grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> problematis<strong>ch</strong>ste Argument für die Angemessenheit der<br />
Helmpfli<strong>ch</strong>t ist der S<strong>ch</strong>utz des Grundre<strong>ch</strong>tsträgers vor Selbstgefährdungen. Immerhin<br />
ist unumstritten, daß dem individuellen Grundre<strong>ch</strong>t auf körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit<br />
(Art. 2 II GG) objektivre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> eine Pfli<strong>ch</strong>t des Staates korrespondiert,<br />
den Grundre<strong>ch</strong>tsträger au<strong>ch</strong> vor sol<strong>ch</strong>en Gefährdungen zu s<strong>ch</strong>ützen, die<br />
ni<strong>ch</strong>t von Eingriffen des Hoheitsträgers ausgehen, sondern die in Übergriffen<br />
Privater bestehen. Diese S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tendimension der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> darf aber<br />
ni<strong>ch</strong>t dazu führen, daß die S<strong>ch</strong>utzri<strong>ch</strong>tung gegen den freiverantwortli<strong>ch</strong> handelnden<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsträger selbst gewendet wird. Ein sol<strong>ch</strong>er paternalistis<strong>ch</strong>er<br />
S<strong>ch</strong>utz von Leben und Gesundheit gegen den Willen des Grundre<strong>ch</strong>tsträgers widersprä<strong>ch</strong>e<br />
der auf Autonomie basierenden Freiheitskonzeption der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>.<br />
Folgli<strong>ch</strong> kann der Verordnungsgeber die S<strong>ch</strong>utzwirkung zugunsten des<br />
A ni<strong>ch</strong>t als Grund für die Angemessenheit der Helmpfli<strong>ch</strong>t geltend ma<strong>ch</strong>en.<br />
(b) Ein ebenfalls fragwürdiges Argument zugunsten der Angemessenheit der<br />
Helmpfli<strong>ch</strong>t liegt darin, die Gemeins<strong>ch</strong>aft vor sozialen Folgekosten des privaten<br />
Risikos bewahren zu wollen (Einsatz von Rettungsdiensten, ärztli<strong>ch</strong>e Versor-
Fall 6: Helmpfli<strong>ch</strong>t 195<br />
gung, Rehabilitationsmaßnahmen, Versorgung von Invaliden, Versi<strong>ch</strong>erungsleistungen).<br />
Würde man diese Begründung zulassen, so stünde es letztli<strong>ch</strong> dem<br />
Staat frei, dur<strong>ch</strong> ein di<strong>ch</strong>tes Netz von Solidaritätsregeln die Inkaufnahme eigener<br />
Risiken ganz unmögli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en. Jedenfalls kann die Gestaltungsfreiheit des<br />
Normgebers bei den sozialen Si<strong>ch</strong>erungssystemen also ni<strong>ch</strong>t in jedem Fall zu einer<br />
Legitimation für Risikoverbote führen.<br />
(c) Der Eingriff verfolgt aber neben dieser problematis<strong>ch</strong>en Stoßri<strong>ch</strong>tungen au<strong>ch</strong><br />
den Zweck, die Beifahrer vor Unfalls<strong>ch</strong>äden zu bewahren, die sie ni<strong>ch</strong>t als Folge<br />
eines allgemeinen Handlungsrisikos bewußt in Kauf genommen haben. Mittelbar<br />
werden zudem andere Verkehrsteilnehmer ges<strong>ch</strong>ützt, wenn die Handlungsfähigkeit<br />
der Motorradfahrer bei einem Unfall gesi<strong>ch</strong>ert ist. Au<strong>ch</strong> Kradfahrer<br />
müssen unter Umständen andere Unfallbeteiligte vor weiteren S<strong>ch</strong>äden retten,<br />
um so ihrer strafre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> verankerten Hilfeleistungspfli<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>zukommen. Der<br />
öffentli<strong>ch</strong>e Straßenverkehr ist also ni<strong>ch</strong>t allein Privatsa<strong>ch</strong>e, sondern berührt in erhebli<strong>ch</strong>em<br />
Maße au<strong>ch</strong> öffentli<strong>ch</strong>e Belange, so daß der Staat eine erhöhte Verantwortung<br />
trägt.<br />
(d) Wenn man allein auf die unproblematis<strong>ch</strong>en Intentionen des Normgebers abstellt,<br />
also auf die S<strong>ch</strong>utzwirkungen, die eine Helmpfli<strong>ch</strong>t zugunsten Dritter<br />
auslöst, dann könnte dies glei<strong>ch</strong>wohl genügen, um die Regelung des § 27a II<br />
StVO verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> zu re<strong>ch</strong>tfertigen. Die Beeinträ<strong>ch</strong>tigung der Handlungsfreiheit<br />
hat nämli<strong>ch</strong> verglei<strong>ch</strong>sweise geringes Gewi<strong>ch</strong>t. Gemessen an der<br />
Freiheitsverwirkli<strong>ch</strong>ung, die im Motorradfahren selbst liegt, ist die Frage, ob dies<br />
mit oder ohne Helm zu ges<strong>ch</strong>ehen hat, von sehr geringer Bedeutung. Deshalb<br />
genügen s<strong>ch</strong>on entfernte oder kleine Vorteile für den Dritts<strong>ch</strong>utz, um eine<br />
Helmpfli<strong>ch</strong>t angemessen zu ma<strong>ch</strong>en. Folgli<strong>ch</strong> verstößt § 27a II StVO ni<strong>ch</strong>t gegen<br />
den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.<br />
Die allgemeine Handlungsfreiheit des A aus Art. 2 I GG ist ni<strong>ch</strong>t verletzt.<br />
3. Verletzung des Glei<strong>ch</strong>heitssatzes (Art. 3 I GG)<br />
Fragli<strong>ch</strong> ist, ob die Helmpfli<strong>ch</strong>t für Kraftradfahrer gegen den allgemeinen<br />
Glei<strong>ch</strong>heitssatz des Art. 3 I GG verstößt, der sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gere<strong>ch</strong>tfertigte Unglei<strong>ch</strong>behandlungen<br />
verbietet.<br />
Zwar liegt eine Unglei<strong>ch</strong>behandlung von Motorradfahrern und Radfahrern<br />
vor, also zwis<strong>ch</strong>en Gruppen von Verkehrsteilnehmern, die in den benutzten<br />
Fahrzeugen und teils in den Fahrges<strong>ch</strong>windigkeiten dur<strong>ch</strong>aus verglei<strong>ch</strong>bar sind.<br />
Diese Differenzierung könnte aber dur<strong>ch</strong> einen hinrei<strong>ch</strong>enden sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Grund<br />
verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>tfertigt sein. In § 27a II StVO ist nämli<strong>ch</strong> eine Regelung<br />
getroffen, die außer den langsam fahrenden Kleinkrafträdern au<strong>ch</strong> alle an-
196<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
deren Motorräder erfaßt. Typis<strong>ch</strong>erweise fahren Motorräder erhebli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>neller<br />
als Fahrräder, so daß die Gefährdung dur<strong>ch</strong> sie größer ist. Der Gesetzgeber hat<br />
grundsätzli<strong>ch</strong> einen weiten Gestaltungsspielraum, um sol<strong>ch</strong>e Typisierungen vorzunehmen;<br />
er ist ni<strong>ch</strong>t verpfli<strong>ch</strong>tet, für jede Einzelgruppe von Verkehrsteilnehmern<br />
eine Sonderregelung zu treffen. Außerdem gilt selbst für langsam fahrende<br />
Krafträder, daß si<strong>ch</strong> ihre Lenker einer anderen und unter Umständen größeren<br />
Gefahr aussetzen als Radfahrer, da letztere besondere Radwege benutzen können<br />
und müssen. Die Differenzierung zwis<strong>ch</strong>en Motorrad- und Fahrradfahrern hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
der Helmpfli<strong>ch</strong>t beruht also auf einem hinrei<strong>ch</strong>enden sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Grund.<br />
Also ist au<strong>ch</strong> der Glei<strong>ch</strong>heitssatz des Art. 3 I GG dur<strong>ch</strong> § 27a II StVO ni<strong>ch</strong>t<br />
verletzt.<br />
III. Ergebnis<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde des A ist zulässig, aber unbegründet; sie hat keine<br />
Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg.
Fall 7: Normannenkir<strong>ch</strong>e<br />
Der Normannenkir<strong>ch</strong>e e.V. (N) beantragt, die Mainbrücke an einem bestimmten<br />
Samstag zwis<strong>ch</strong>en 10 und 12 Uhr für sein rituelles Feuerfest benutzen zu dürfen.<br />
Ohne weitere Rückspra<strong>ch</strong>e genehmigt die zuständige Behörde den Antrag<br />
auf der Grundlage des § 18 I 1 StrWG, na<strong>ch</strong> der sie »für die Benutzung der Straßen<br />
über den Gemeingebrau<strong>ch</strong> hinaus (Sondernutzung) eine Erlaubnis erteilen<br />
kann«. Allerdings gelte die Genehmigung »mit der Maßgabe, daß die geplante<br />
Nutzung am darauffolgenden Sonntag in der Zeit von 10 bis 12 Uhr stattzufinden<br />
hat, da während der Einkaufszeit die Störung für Fußgänger zu groß ist.«<br />
Der Vorsitzende V des N widerspri<strong>ch</strong>t dieser »unangemessenen Eins<strong>ch</strong>ränkung«<br />
s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>. Für die religiöse Feierli<strong>ch</strong>keit komme nur der Samstag in Betra<strong>ch</strong>t<br />
und au<strong>ch</strong> nur ein Brückenplatz, da sie na<strong>ch</strong> traditionellem Brau<strong>ch</strong> über<br />
fließendem Wasser stattfinden müsse. Außerdem sei die Religionsfreiheit des<br />
Normannenkir<strong>ch</strong>e e.V. dur<strong>ch</strong> die Verfassung ohne irgendwel<strong>ch</strong>e Eins<strong>ch</strong>ränkungen<br />
garantiert, womit gesetzli<strong>ch</strong>e Genehmigungstatbestände im Religionsberei<strong>ch</strong><br />
hinfällig seien; die Behörde dürfe dann überhaupt keine Erlaubnis verlangen.<br />
Ein Gesprä<strong>ch</strong>sangebot der zuständigen Widerspru<strong>ch</strong>sbehörde lehnt V ab, worauf<br />
diese in ihrem Bes<strong>ch</strong>eid den ursprüngli<strong>ch</strong>en Genehmigungsakt unverändert bestätigt.<br />
Der Bruder des V, der als einziger Jurist der Familie mit der Vorbereitung der<br />
Klage betraut wird, obwohl er nur Miet- und Arbeitsre<strong>ch</strong>t kennt, ist si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er,<br />
was er beim Verwaltungsgeri<strong>ch</strong>t beantragen soll. Eigentli<strong>ch</strong> müsse ja die<br />
Behörde no<strong>ch</strong> weitere Gelegenheit bekommen, Auflagen für die räumli<strong>ch</strong>e Gestaltung<br />
der Feier zu erlassen. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> erhebt V auf seinen Rat hin für N beim<br />
zuständigen Verwaltungsgeri<strong>ch</strong>t eine »Klage gegen die Eins<strong>ch</strong>ränkung, damit die<br />
Feier am Samstag auf der gesamten Breite der Mainbrücke stattfinden kann.«<br />
Hat die Klage des N Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg?<br />
Bearbeitungszeit: ca. 1 Stunde, 45 Minuten<br />
Fall 7: Normannenkir<strong>ch</strong>e – Lösung<br />
Die Klage des Normannenkir<strong>ch</strong>e e.V. hat Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg, wenn alle Sa<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>eidungsvoraussetzungen<br />
erfüllt sind und sie begründet ist.
198<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
I. Sa<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>eidungsvoraussetzungen<br />
Hinweis: Die Übers<strong>ch</strong>rift ʹSa<strong>ch</strong>ents<strong>ch</strong>eidungsvoraussetzungenʹ trägt dem Umstand<br />
Re<strong>ch</strong>nung, daß na<strong>ch</strong> der gesetzli<strong>ch</strong>en Neuregelung in § 17a II GVG eine Fehlerhaftigkeit<br />
des bes<strong>ch</strong>rittenen Re<strong>ch</strong>tsweges oder angerufenen Geri<strong>ch</strong>ts ni<strong>ch</strong>t mehr<br />
zur Abweisung der Klage wegen Unzulässigkeit führt, so daß ein Guta<strong>ch</strong>tentitel<br />
ʹZulässigkeitʹ allenfalls na<strong>ch</strong> diesen Prüfungspunkten stehen dürfte – was in der<br />
Klausurpraxis allerdings vielfa<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t strikt bea<strong>ch</strong>tet wird.<br />
1. Verwaltungsre<strong>ch</strong>tsweg<br />
Die zur Eröffnung des Verwaltungsre<strong>ch</strong>tswegs (§ 40 VwGO) notwendige Öffentli<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>keit<br />
der Streitigkeit liegt darin, daß Normen über die Nutzung<br />
öffentli<strong>ch</strong>er Straßen, insbesondere § 18 I 1 StrWG, zum Sonderre<strong>ch</strong>t des Staates<br />
gehören. Der Streit betrifft zudem weder Verfassungsre<strong>ch</strong>t, no<strong>ch</strong> sind gesetzli<strong>ch</strong>e<br />
Sonderzuweisungen eins<strong>ch</strong>lägig. Folgli<strong>ch</strong> ist der Verwaltungsre<strong>ch</strong>tsweg eröffnet.<br />
2. Zuständigkeit des Geri<strong>ch</strong>ts<br />
Das sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und örtli<strong>ch</strong> zuständige Verwaltungsgeri<strong>ch</strong>t (vgl. §§ 45, 52 Nr. 1<br />
VwGO) wurde angerufen.<br />
3. Statthaftigkeit der Klageart<br />
Die Statthaftigkeit der Klageart beurteilt si<strong>ch</strong> unabhängig von der Formulierung<br />
des Antrags (vgl. § 88 VwGO) na<strong>ch</strong> dem Ziel des Klägers. Da es si<strong>ch</strong> sowohl bei<br />
der von N beantragten als au<strong>ch</strong> bei der dur<strong>ch</strong> die Stadt Würzburg erlassenen<br />
Maßnahme um eine Sondernutzungserlaubnis und somit um einen Verwaltungsakt<br />
im Sinne von § 35 S. 1 VwVfG handelt, kommen nur Anfe<strong>ch</strong>tungsoder<br />
Verpfli<strong>ch</strong>tungsklage in Betra<strong>ch</strong>t.<br />
Es könnte si<strong>ch</strong> um eine Anfe<strong>ch</strong>tungsklage handeln (§ 42 I Alt. 1 VwGO).<br />
Dann müßte es si<strong>ch</strong> bei der »Maßgabe«, das Feuerfest am Sonntag dur<strong>ch</strong>zuführen,<br />
die glei<strong>ch</strong>zeitig die von N angegriffene »Eins<strong>ch</strong>ränkung« bildet, um einen<br />
selbständig anfe<strong>ch</strong>tbaren Verwaltungsakt handeln. Die Regelung könnte eine<br />
Nebenbestimmung im Sinne von § 36 II VwVfG sein. Die dafür notwendige Voraussetzung,<br />
daß der Hauptverwaltungsakt auf einer Ermessensnorm beruht, ergibt<br />
si<strong>ch</strong> aus der Formulierung des § 18 I 1 StrWG (»kann«). Inhaltli<strong>ch</strong> könnte die<br />
»Eins<strong>ch</strong>ränkung« außer einer Auflage (§ 36 II Nr. 4 VwVfG) au<strong>ch</strong> eine Befristung<br />
(Nr. 1) oder Bedingung sein (Nr. 2).<br />
Hinweis: Zur Abgrenzung hilft die Savigny-Formel: Bedingungen suspendieren,<br />
zwingen aber ni<strong>ch</strong>t; Auflagen zwingen, suspendieren aber ni<strong>ch</strong>t.
Fall 7: Normannenkir<strong>ch</strong>e 199<br />
Zwis<strong>ch</strong>en sol<strong>ch</strong>en Nebenbestimmungen ist für die Frage der isolierten Anfe<strong>ch</strong>tbarkeit<br />
zu differenzieren.<br />
Die Unters<strong>ch</strong>iede zwis<strong>ch</strong>en den gesetzli<strong>ch</strong> geregelten Nebenbestimmungen<br />
können indes dahingestellt bleiben, wenn es si<strong>ch</strong> überhaupt ni<strong>ch</strong>t um eine Nebenbestimmung<br />
handelt. Dafür spri<strong>ch</strong>t, daß N ni<strong>ch</strong>t irgendeine Nutzung der<br />
Brücke, sondern eine zeitli<strong>ch</strong> genau bestimmte beantragt hat, dieser Zeitkorridor<br />
aber in der behördli<strong>ch</strong>en Erlaubnis gar ni<strong>ch</strong>t enthalten ist. Genehmigt wurde also<br />
ein aliud das gemeinhin der Fallgruppe ʹmodifizierender Auflagenʹ zugere<strong>ch</strong>net<br />
wird. Bei sol<strong>ch</strong>en handelt es si<strong>ch</strong> trotz ihrer irreführenden Bezei<strong>ch</strong>nung unstreitig<br />
ni<strong>ch</strong>t um Auflagen im Sinne von § 36 II Nr. 4 VwVfG, sondern überhaupt<br />
ni<strong>ch</strong>t um Nebenbestimmungen. Folgli<strong>ch</strong> läßt si<strong>ch</strong> das Klageziel des N ni<strong>ch</strong>t allein<br />
dadur<strong>ch</strong> errei<strong>ch</strong>en, daß er die »Eins<strong>ch</strong>ränkung« anfi<strong>ch</strong>t. Seine Klage ist keine<br />
Anfe<strong>ch</strong>tungsklage.<br />
Hinweis: Wer übersieht, daß die modifizierende Auflage keine Nebenbestimmung ist,<br />
muß konsequenterweise eine Anfe<strong>ch</strong>tungsklage prüfen, wobei dann allerdings die Art<br />
der Nebenbestimmung i.S.v. § 36 II VwVfG spezifiziert und au<strong>ch</strong> die Frage der isolierten<br />
Anfe<strong>ch</strong>tbarkeit diskutiert werden muß.<br />
Damit bleibt nur eine Verpfli<strong>ch</strong>tungsklage (§ 42 I Alt. 2 VwGO), geri<strong>ch</strong>tet auf Erteilung<br />
einer Sondernutzungserlaubnis für das Feuerfest am Sonntag auf der<br />
ganzen Breite der Mainbrücke; als sol<strong>ch</strong>e ist die Klage des N statthaft.<br />
4. Klagebefugnis<br />
Die Klagebefugnis ergibt si<strong>ch</strong> daraus, daß dem N mögli<strong>ch</strong>erweise ein Anspru<strong>ch</strong><br />
auf die Erlaubnis aus § 18 I 1 StrWG i.V.m. der Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG)<br />
zustehen könnte.<br />
5. Vorverfahren<br />
Das Vorverfahren (§§ 68 ff. VwGO) wurde ordnungsgemäß und erfolglos dur<strong>ch</strong>geführt.<br />
6. Form und Frist<br />
Au<strong>ch</strong> Form und Frist der Klage (§§ 74 I 1, 81 f. VwGO) sind gewahrt.<br />
7. Beteiligten- und Prozeßfähigkeit<br />
Beteiligtenfähig ist der N e.V. als juristis<strong>ch</strong>e Person (vgl. § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO),<br />
prozeßfähig dur<strong>ch</strong> seinen Vorstand V (vgl. § 62 III VwGO i.V.m. § 26 II 1 BGB).
200<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
8. Zwis<strong>ch</strong>energebnis<br />
Die Klage des N ist als Verpfli<strong>ch</strong>tungsklage vor dem Verwaltungsgeri<strong>ch</strong>t zulässig.<br />
II. Begründetheit<br />
Die Verpfli<strong>ch</strong>tungsklage ist begründet, wenn die Ablehnung der begehrten Sondernutzungserlaubnis<br />
re<strong>ch</strong>tswidrig ist und dem Normannenkir<strong>ch</strong>e e.V. ein Anspru<strong>ch</strong><br />
auf die Erlaubnis für die gesamte Breite der Mainbrücke zusteht (vgl.<br />
§ 113 V VwGO). Außerdem muß die ri<strong>ch</strong>tige Beklagte gewählt werden (§ 78 I Nr.<br />
1 VwGO).<br />
Hinweis: Trotz der insoweit mißverständli<strong>ch</strong>en Formulierung des § 113 V VwGO<br />
sollte der Obersatzes der Verpfli<strong>ch</strong>tungsklage ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong> formuliert werden wie derjenige<br />
der Anfe<strong>ch</strong>tungsklage (»... re<strong>ch</strong>tswidrig und dadur<strong>ch</strong> in Re<strong>ch</strong>ten verletzt«),<br />
sondern das Erfordernis des Anspru<strong>ch</strong>es ausdrückli<strong>ch</strong> benennen.<br />
1. Passivlegitimation<br />
Passivlegitimiert ist die dur<strong>ch</strong> ordnungsgemäße Klageerhebung angespro<strong>ch</strong>ene<br />
Körpers<strong>ch</strong>aft, der die handelnde Behörde zugehört (§ 78 I Nr. 1 VwGO).<br />
2. Re<strong>ch</strong>tswidrigkeit der Ablehnung (vgl. § 113 V VwGO)<br />
Die Ablehnung wäre re<strong>ch</strong>tswidrig, wenn § 18 I 1 StrWG selbst oder dessen Anwendung<br />
gegen die Religionsfreiheit des N e.V. verstieße.<br />
Hinweis: Die Einbettung der Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung in eine verwaltungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
und verwaltungsprozessuale Konstellation ist eine typis<strong>ch</strong>e Fallgestaltung im<br />
Staatsexamen, weil dadur<strong>ch</strong> Inhalte des Staats- und Verwaltungsre<strong>ch</strong>ts glei<strong>ch</strong>zeitig<br />
geprüft werden können.<br />
a) Vereinbarkeit des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt in § 18 I 1 StrWG<br />
mit der Religionsfreiheit<br />
Wenn es allgemein die Religionsfreiheit verletzte, daß religiöse Feste auf öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Straßen gem. § 18 I 1 StrWG unter einen Erlaubnisvorbehalt gestellt werden,<br />
fehlte für das in der Ablehnung enthaltene Verbot bereits die Re<strong>ch</strong>tsgrundlage,<br />
was na<strong>ch</strong> dem Vorbehalt des Gesetzes zur Re<strong>ch</strong>tswidrigkeit des Verwaltungshandelns<br />
führen müßte. Es ist aber fragli<strong>ch</strong>, ob die Norm gegen Art. 4 I, II GG<br />
verstößt.
Fall 7: Normannenkir<strong>ch</strong>e 201<br />
Hinweis: Die Religionsfreiheit umfaßt die religiöse Versammlungsfreiheit, so daß<br />
Art. 8 GG ni<strong>ch</strong>t separat geprüft werden muß.<br />
aa) S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG)<br />
Die Religionsfreiheit umfaßt alle rituellen Handlungen, au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e in der Öffentli<strong>ch</strong>keit<br />
(äußere Religionsfreiheit) und ist folgli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> ein präventives Verbot<br />
mit Erlaubnisvorbehalt betroffen.<br />
bb) Eingriff<br />
Der Eingriff liegt dabei in der zielgeri<strong>ch</strong>teten Minderung religiöser Handlungsfreiheit<br />
auf öffentli<strong>ch</strong>en Straßen.<br />
cc) Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Die Norm könnte glei<strong>ch</strong>wohl gere<strong>ch</strong>tfertigt sein. V weist allerdings darauf hin,<br />
daß die Religionsfreiheit ein normtextli<strong>ch</strong> vorbehaltlos gewährleistetes Grundre<strong>ch</strong>t<br />
sei.<br />
Hinweis: Die Fallkonstellation ist bewußt so gewählt, daß eine Aufladung der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
dur<strong>ch</strong> Grundre<strong>ch</strong>tsrhetorik ni<strong>ch</strong>t genügt. Vielmehr kann<br />
zu der besonderen Frage der Bes<strong>ch</strong>ränkbarkeit normtextli<strong>ch</strong> vorbehaltlos gewährleisteter<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> nur vordringen, wer inzident eine vollständige Grundre<strong>ch</strong>tsprüfung<br />
dur<strong>ch</strong>führt.<br />
Das ist die Position der Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung, die Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I WRV<br />
aus historis<strong>ch</strong>-systematis<strong>ch</strong>en Gründen ni<strong>ch</strong>t als S<strong>ch</strong>rankenklausel anwenden<br />
will.<br />
Hinweis: Vgl. BVerfGE 33, 23 (31) – Eidesverweigerung aus Glaubensgründen:<br />
»von Art. 4 Abs. 1 überlagert«.<br />
Demgegenüber zieht die inzwis<strong>ch</strong>en überwiegende Literatur die Norm für Eins<strong>ch</strong>ränkungen<br />
des religiösen Freiheitsgebrau<strong>ch</strong>s heran. Au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung<br />
ist aber eine Bes<strong>ch</strong>ränkung der Religionsfreiheit als Ausdruck verfassungsimmanenter<br />
S<strong>ch</strong>ranken mögli<strong>ch</strong>. Folgli<strong>ch</strong> ist der Streit für das Ergebnis<br />
ohne Belang, wenn die gesetzli<strong>ch</strong>e Regelung den <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n Dritter dient. Bei<br />
§ 18 I 1 StrWG geht es um die Interessen der sonstigen Benutzer öffentli<strong>ch</strong>er Straßen,<br />
die dur<strong>ch</strong> die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) verfassungskräftig<br />
ges<strong>ch</strong>ützt sind. In sol<strong>ch</strong>en Fällen ist dem Gesetzgeber au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung<br />
des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts die Regelung der Religionsfreiheit grundsätzli<strong>ch</strong><br />
eröffnet.<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist in der vorliegenden Fallkonstellation na<strong>ch</strong> allen Ansi<strong>ch</strong>ten die Religionsfreiheit<br />
grundsätzli<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>ränkbar.
202<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
Zur verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigung müßte das Gesetz formell ordnungsgemäß<br />
zustande gekommen und au<strong>ch</strong> im übrigen verfassungsgemäß sein.<br />
(1) Formell verfassungsgemäß hat der kompetenziell für Gemeindestraßen zuständige<br />
Landesgesetzgeber von dieser Mögli<strong>ch</strong>keit in § 18 I 1 StrWG Gebrau<strong>ch</strong> gema<strong>ch</strong>t.<br />
(2) Materiell müßte die Norm Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips sein.<br />
Ihr Zweck, der Interessenausglei<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedenen Nutzergruppen,<br />
wird dur<strong>ch</strong> den Erlaubnisvorbehalt gefördert; die Norm ist insoweit geeignet.<br />
Sie ist mangels milderer Alternativen au<strong>ch</strong> erforderli<strong>ch</strong>. Ihre Angemessenheit<br />
ergibt si<strong>ch</strong> daraus, daß sie für die Berücksi<strong>ch</strong>tung des besonderen Gewi<strong>ch</strong>ts der<br />
Religionsfreiheit im Einzelfall einen Ermessensspielraum beläßt.<br />
Folgli<strong>ch</strong> verstößt der Erlaubnisvorbehalt in § 18 I 1 StrWG ni<strong>ch</strong>t gegen Art. 4<br />
I, II GG; die Norm ist trotz ihres grundre<strong>ch</strong>tsbes<strong>ch</strong>ränkenden Gehalts verfassungsgemäß.<br />
b) Re<strong>ch</strong>tmäßigkeit der Anwendung des § 18 I 1 StrWG<br />
aa) Für die formelle Re<strong>ch</strong>tmäßigkeit der Anwendung ergibt si<strong>ch</strong> die Zuständigkeit<br />
daraus, daß hier die ri<strong>ch</strong>tige Behörde gehandelt hat.<br />
Zum Verfahren fragt si<strong>ch</strong>, inwieweit eine Anhörung i.S.v. § 28 I VwVfG erforderli<strong>ch</strong><br />
ist, bevor ein begünstigender Verwaltungsakt ganz oder teilweise abgelehnt<br />
oder mit einer belastenden Nebenbestimmung versehen wird. Die<br />
Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung hält die Anhörung in sol<strong>ch</strong>en Fällen mit Blick auf den Wortlaut<br />
der Norm (»der in Re<strong>ch</strong>te eines Beteiligten eingreift«) für entbehrli<strong>ch</strong>, während<br />
die Literatur inzwis<strong>ch</strong>en überwiegend § 28 I VwVfG für anwendbar erklärt. Diese<br />
Re<strong>ch</strong>tsfrage kann im Fall des N indes dahingestellt bleiben, da dur<strong>ch</strong> das Gesprä<strong>ch</strong>sangebot<br />
der Widerspru<strong>ch</strong>sbehörde jedenfalls eine re<strong>ch</strong>tzeitige Heilung<br />
i.S.v. § 45 I Nr. 3 VwVfG eingetreten ist.<br />
Hinweis: Mehr als anbieten kann die Behörde die Anhörung ni<strong>ch</strong>t, so daß die Heilung<br />
unabhängig davon eintritt, ob V für N Gesprä<strong>ch</strong>sbereits<strong>ch</strong>aft zeigt oder ni<strong>ch</strong>t.<br />
Der Verwaltungsakt ist darum ni<strong>ch</strong>t nur ʺheilbarʺ, sondern ʺgeheiltʺ.<br />
Der Verwaltungsakt ist folgli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr verfahrensfehlerhaft.<br />
Mit Einhaltung der Formvors<strong>ch</strong>riften (§ 37 II 1, III, 39 I VwVfG) erfolgte die<br />
Normanwendung also formell re<strong>ch</strong>tmäßig.<br />
bb) Für die materielle Re<strong>ch</strong>tmäßigkeit ist tatbestandli<strong>ch</strong> zunä<strong>ch</strong>st zu berücksi<strong>ch</strong>tigen,<br />
daß ein religiöses Fest ni<strong>ch</strong>t als Straßenverkehr und damit Gemeingebrau<strong>ch</strong>,<br />
sondern als Sondernutzung anzusehen ist, was die Erlaubnispfli<strong>ch</strong>tigkeit auslöst<br />
(vgl. § 18 I 1 StrWG). Als Re<strong>ch</strong>tsfolge eröffnet die Norm für die Behörde einen
Fall 7: Normannenkir<strong>ch</strong>e 203<br />
Ermessensspielraum hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> der Erteilung (Ob) und mögli<strong>ch</strong>er Auflagen<br />
(Wie) der Erlaubnis (vgl. § Art. 36 II Nr. 4 VwVfG).<br />
Fragli<strong>ch</strong> ist, ob die Stadt Würzburg dur<strong>ch</strong> die Art, in der sie von diesem Ermessen<br />
Gebrau<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>te, die Religionsfreiheit des N e.V. verletzt hat.<br />
(1) Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 4 I, II GG ist au<strong>ch</strong> bei juristis<strong>ch</strong>en Personen in Gestalt<br />
der kollektiven Religionsfreiheit eröffnet, mithin au<strong>ch</strong> für den N e.V.<br />
Hinweis: Die Sonderheit, daß es um die Religionsfreiheit einer juristis<strong>ch</strong>en Person<br />
geht, kommt erst bei der konkreten Anwendung der Norm in den Blick. Deshalb ist<br />
der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> im Guta<strong>ch</strong>ten no<strong>ch</strong>mals aufzugreifen.<br />
(2) Ein konkreter Eingriff besteht darin, daß die Stadt Würzburg mit ihrer »Maßgabe«,<br />
das Feuerfest am Sonntag zu veranstalten, implizit ein zielgeri<strong>ch</strong>tetes Verbot<br />
für die Samstagsveranstaltung erließ.<br />
(3) Als Ausdruck verfassungsimmanenter S<strong>ch</strong>ranken sind zwar die <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
Dritter – hier die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) der Fußgänger während<br />
der Einkaufszeit – geltend gema<strong>ch</strong>t. Eine Verlegung auf den einkaufsfreien<br />
Sonntag fördert au<strong>ch</strong> diesen S<strong>ch</strong>utzzweck und ist insoweit geeignet. Als äußerst<br />
fragli<strong>ch</strong> muß aber gelten, ob die Behörde hinrei<strong>ch</strong>end gründli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> milderen,<br />
glei<strong>ch</strong> wirksamen Mitteln gesu<strong>ch</strong>t hat, mit denen si<strong>ch</strong> die kollidierenden Nutzungsinteressen<br />
vereinbaren ließen (Erforderli<strong>ch</strong>keit). Grundsätzli<strong>ch</strong> hätte es ihr<br />
offengestanden, die beantragte Erlaubnis zu erteilen, aber glei<strong>ch</strong>zeitig mit einer<br />
Auflage zu verbinden, die den Interessen der Fußgänger Re<strong>ch</strong>nung trägt, etwa<br />
das Freihalten eines Korridors oder die periodis<strong>ch</strong>e Unterbre<strong>ch</strong>ung der Feier.<br />
Dem ursprüngli<strong>ch</strong>en Antrag des N hätte damit entspro<strong>ch</strong>en werden können, ohne<br />
daß der S<strong>ch</strong>utz sonstiger Interessen nennenswert beeinträ<strong>ch</strong>tigt worden wäre.<br />
Angesi<strong>ch</strong>ts sol<strong>ch</strong>er Alternativen, kann man das vollständige Verbot der Samstagsveranstaltung<br />
ni<strong>ch</strong>t mehr als erforderli<strong>ch</strong> ansehen. S<strong>ch</strong>on deshalb fehlt es an<br />
der Verhältnismäßigkeit der behördli<strong>ch</strong>en Maßnahme.<br />
Hinweis: Ebenfalls vertretbar wäre es, die Angemessenheit zu verneinen.<br />
Also hat die die Körpers<strong>ch</strong>aft, deren Behörde handelte, dur<strong>ch</strong> ihren fehlerhaften<br />
Ermessensgebrau<strong>ch</strong> im Rahmen der Sondernutzungserlaubnis die Religionsfreiheit<br />
des N e.V. verletzt. Die Ablehnung des Antrags war re<strong>ch</strong>tswidrig.<br />
3. Anspru<strong>ch</strong> auf Erteilung der im Klagewege beantragten Sondernutzungserlaubnis<br />
(vgl. § 113 V VwGO)<br />
Wenn au<strong>ch</strong> bezügli<strong>ch</strong> des Ob der Erlaubnis dur<strong>ch</strong> die mögli<strong>ch</strong>e Parallelnutzung<br />
eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen ist, so bleibt do<strong>ch</strong> klärungsbedürftig,<br />
ob N einen Anspru<strong>ch</strong> auf Erteilung der im Klagewege geltend gema<strong>ch</strong>-
204<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
ten Erlaubnis hat. Angesi<strong>ch</strong>ts der konkreten Gestaltungsspielräume, die bei<br />
Auflagen zum S<strong>ch</strong>utz der Interessen Dritter no<strong>ch</strong> bestehen, kann si<strong>ch</strong> das Grundre<strong>ch</strong>t<br />
des N e.V. beim jetzigen Verfahrensstand no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zu einem Anspru<strong>ch</strong><br />
auf Nutzung der gesamten Breite der Brücke verdi<strong>ch</strong>ten. Insoweit ist no<strong>ch</strong> keine<br />
Spru<strong>ch</strong>reife eingetreten (vgl. § 113 V 1 VwGO a.E.), so daß nur ein Bes<strong>ch</strong>eidungsurteil<br />
in Betra<strong>ch</strong>t kommt (vgl. § 113 V 2 VwGO).<br />
III. Ergebnis<br />
Die Klage des Normannenkir<strong>ch</strong>e e.V. hat als Verpfli<strong>ch</strong>tungsklage Aussi<strong>ch</strong>t auf<br />
Erfolg in Gestalt eines Bes<strong>ch</strong>eidungsurteils.
Fall 8: Neoanar<strong>ch</strong>isten<br />
Die Neoanar<strong>ch</strong>isten, eine auf anar<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>en Idealen aufbauende, postmoderne<br />
und internationale Jugendbewegung, werden von der in Paris ansässigen Zeits<strong>ch</strong>rift<br />
ʹLe Globeʹ zur Avantgarde des jungen französis<strong>ch</strong>en Internationalismus<br />
erklärt. In mehreren rühmenden Artikeln beri<strong>ch</strong>tet die Zeits<strong>ch</strong>rift über die Erfolge<br />
der französis<strong>ch</strong> inspirierten Postmoderne beim Zurückdrängen der angloamerikanis<strong>ch</strong><br />
vorangetriebenen Globalisierung.<br />
Der bayeris<strong>ch</strong>e Ministerpräsident ist über die Entwicklung entsetzt. Seiner<br />
Meinung na<strong>ch</strong> wird von den Neoanar<strong>ch</strong>isten eine allgemeine Staatsfeindli<strong>ch</strong>keit<br />
verbreitet, die gerade für Jugendli<strong>ch</strong>e eine starke Gefahr darstelle. Er läßt eine<br />
Informationss<strong>ch</strong>rift »Wie s<strong>ch</strong>ütze i<strong>ch</strong> meine Kinder vor dem Neoanar<strong>ch</strong>ismus?«<br />
verteilen, in der die Drogenneigung der Jugendbewegung und ihre Konflikte mit<br />
staatli<strong>ch</strong>en Ordnungsbehörden angeprangert werden.<br />
Als all dies dem Erfolg der Jugendbewegung keinen Abbru<strong>ch</strong> tut, erklärt ein<br />
hoher bayeris<strong>ch</strong>er Ministerialbeamter in einer aufsehenerregenden Pressekonferenz,<br />
die Neoanar<strong>ch</strong>isten gehörten zum »Rei<strong>ch</strong> des Bösen«. Wer sie unterstütze,<br />
insbesondere die französis<strong>ch</strong>e Zeits<strong>ch</strong>rift ʹLe Globeʹ, sei ein Feind jeden Ordnungsdenkens.<br />
Allen Deuts<strong>ch</strong>en sei im Interesse der Jugend dringend empfohlen,<br />
sol<strong>ch</strong>e Zeits<strong>ch</strong>riften ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> ihren Kauf zu unterstützen.<br />
Na<strong>ch</strong>dem die Inhaberin der Zeits<strong>ch</strong>rift, Le Globe S.A. (L), erhebli<strong>ch</strong>e Umsatzeinbußen<br />
im deuts<strong>ch</strong>en Vertriebsraum feststellt, klagt sie vor den zuständigen<br />
Fa<strong>ch</strong>geri<strong>ch</strong>ten gegen die Äußerungen. Die Geri<strong>ch</strong>te ents<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> inhaltli<strong>ch</strong>er<br />
Auseinandersetzung mit mögli<strong>ch</strong>en Grundre<strong>ch</strong>tsverletzungen in allen<br />
Instanzen gegen die L, worauf si<strong>ch</strong> diese form- und fristgere<strong>ch</strong>t an das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
wendet.<br />
Hat die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde der L Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg?<br />
Bearbeitungszeit: ca. 1 Stunde, 15 Minuten<br />
Fall 8: Neoanar<strong>ch</strong>isten – Lösung<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde der L hat Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg, wenn sie zulässig und<br />
begründet ist.
206<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
I. Zulässigkeit<br />
Die Zulässigkeit ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 80 ff.<br />
BVerfGG.<br />
1. Beteiligtenfähigkeit<br />
L müßte beteiligtenfähig sein. »Jedermann« im Sinne des § 90 I BVerfGG ist jeder<br />
Träger von <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n des Grundgesetzes. Bei inländis<strong>ch</strong>en juristis<strong>ch</strong>en Personen<br />
ergibt si<strong>ch</strong> diese Grundre<strong>ch</strong>tsfähigkeit aus Art. 19 III GG. Die L ist aber eine<br />
S.A. (societé anonyme), also eine juristis<strong>ch</strong>e Person na<strong>ch</strong> französis<strong>ch</strong>em Re<strong>ch</strong>t,<br />
die zudem ihren Sitz in Paris, also im Ausland hat. Au<strong>ch</strong> ausländis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e<br />
Personen können si<strong>ch</strong> indes zumindest auf die Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>te des<br />
Grundgesetzes berufen, was na<strong>ch</strong> der Aufzählung in Art. 93 I Nr. 4a GG und § 90<br />
I BVerfGG für die Beteiligtenfähigkeit der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde genügt. Folgli<strong>ch</strong><br />
ist die L beteiligtenfähig.<br />
2. Verfahrensfähigkeit<br />
L wird als juristis<strong>ch</strong>e Person vor Geri<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> ihre gesetzli<strong>ch</strong>en Organe vertreten,<br />
ist also verfahrensfähig.<br />
3. Bes<strong>ch</strong>werdegegenstand<br />
Die L wendet si<strong>ch</strong> zum einen gegen die öffentli<strong>ch</strong>en Warnungen des bayeris<strong>ch</strong>en<br />
Ministerpräsidenten und zum anderen gegen das letztinstanzli<strong>ch</strong>e Urteil, das deren<br />
Zulässigkeit bestätigt. In beiden Fällen handelt es si<strong>ch</strong> um Akte der öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Gewalt und somit um zulässige Bes<strong>ch</strong>werdegegenstände.<br />
4. Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis<br />
Für die Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis müßte eine Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung der L zumindest<br />
mögli<strong>ch</strong> sein. Sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> kommt eine Verletzung der Presse-, Berufs-, Eigentums-<br />
oder Handlungsfreiheit in Betra<strong>ch</strong>t. Unmittelbar aus den eins<strong>ch</strong>lägigen<br />
Grundgesetznormen (Art. 5 I 2, 12 I, 14 I, 2 I GG) ergibt si<strong>ch</strong> die Mögli<strong>ch</strong>keit der<br />
Verletzung aber ni<strong>ch</strong>t, weil es si<strong>ch</strong> bei der L um eine juristis<strong>ch</strong>e Person handelt.<br />
Au<strong>ch</strong> aus Art. 19 III GG in Verbindung mit diesen <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n folgt die Mögli<strong>ch</strong>keit<br />
der Verletzung ni<strong>ch</strong>t ohne weiteres, denn diese Norm gilt grundsätzli<strong>ch</strong><br />
nur für die inländis<strong>ch</strong>en juristis<strong>ch</strong>en Personen, während L na<strong>ch</strong> der Sitztheorie<br />
als französis<strong>ch</strong>e Gesells<strong>ch</strong>aft gilt. Da aber Frankrei<strong>ch</strong> Teil der Europäis<strong>ch</strong>en Union<br />
ist, kommt eine grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Glei<strong>ch</strong>stellung aus Gründen des allgemeinen<br />
Diskriminierungsverbots in Art. 12 EGV in Betra<strong>ch</strong>t, das au<strong>ch</strong> auf juristis<strong>ch</strong>e Personen<br />
anwendbar ist. Folgli<strong>ch</strong> ist eine Grundre<strong>ch</strong>tsverletzung der L mögli<strong>ch</strong>.
Fall 8: Neoanar<strong>ch</strong>isten 207<br />
Dur<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>on erfolgte öffentli<strong>ch</strong>e Boykottaufforderung des bayeris<strong>ch</strong>en<br />
Ministerialbeamten sowie die letztinstanzli<strong>ch</strong>e Geri<strong>ch</strong>tsents<strong>ch</strong>eidung, mit der die<br />
Re<strong>ch</strong>tmäßigkeit dieser Äußerung re<strong>ch</strong>tskräftig festgestellt wird, ist die L au<strong>ch</strong><br />
selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen.<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist sie bes<strong>ch</strong>werdebefugt.<br />
5. Form und Frist<br />
Die Form- und Fristvors<strong>ch</strong>riften der §§ 23 I, 92, 93 I BVerfGG hat L gewahrt.<br />
6. Re<strong>ch</strong>tswegers<strong>ch</strong>öpfung<br />
Au<strong>ch</strong> das Erfordernis der Re<strong>ch</strong>tswegers<strong>ch</strong>öpfung (§ 90 II 1 BVerfGG) ist dur<strong>ch</strong><br />
die letztinstanzli<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidung erfüllt.<br />
7. Ergebnis zur Zulässigkeit<br />
Folgli<strong>ch</strong> ist die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde der L zulässig.<br />
II. Begründetheit<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde ist begründet, wenn L dur<strong>ch</strong> die angegriffenen<br />
Maßnahmen in einem ihrer <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> verletzt wird.<br />
1. Prüfungsumfang<br />
Bei Urteilsverfassungsbes<strong>ch</strong>werden ist zunä<strong>ch</strong>st zu berücksi<strong>ch</strong>tigen, daß die<br />
Auslegung und Anwendung einfa<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts dur<strong>ch</strong> das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t<br />
nur einges<strong>ch</strong>ränkt erfolgen kann. Das Geri<strong>ch</strong>t ist keine Superrevisionsinstanz.<br />
Die Überprüfung einfa<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts obliegt grundsätzli<strong>ch</strong> den dafür zuständigen<br />
Fa<strong>ch</strong>geri<strong>ch</strong>ten. Der Prüfungsumfang im Rahmen der Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde<br />
als eines außerordentli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsbehelfs bes<strong>ch</strong>ränkt si<strong>ch</strong> insoweit auf<br />
die Frage, ob in der angefo<strong>ch</strong>tenen Ents<strong>ch</strong>eidung eine spezifis<strong>ch</strong>e Verletzung von<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>n liegt, insbesondere dadur<strong>ch</strong>, daß das Geri<strong>ch</strong>t bei der Anwendung<br />
des einfa<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts Bedeutung und Tragweite eines Grundre<strong>ch</strong>ts verkannt hat.<br />
Im vorliegenden Fall besteht die Mögli<strong>ch</strong>keit, daß die Ents<strong>ch</strong>eidung der letzten<br />
Geri<strong>ch</strong>tsinstanz unter Verkennung der Bedeutung und Tragweite der <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
der L getroffen wurde. Insoweit liegt die Ents<strong>ch</strong>eidung innerhalb des verfassungsgeri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />
Prüfungsumfangs.
208<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
2. Verletzung der Pressefreiheit<br />
In dem Boykottaufruf dur<strong>ch</strong> den bayeris<strong>ch</strong>en Ministerialbeamten und in der Bestätigung<br />
dieser öffentli<strong>ch</strong>en Warnung dur<strong>ch</strong> das letztinstanzli<strong>ch</strong>e Urteil könnte<br />
eine Verletzung der Pressefreiheit der L liegen.<br />
a) S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong><br />
Fragli<strong>ch</strong> ist bereits, ob der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Pressefreiheit in Art. 5 I 2 GG überhaupt<br />
die Freiheit der L zum Vertrieb der Zeits<strong>ch</strong>rift ʹLe Globeʹ erfaßt.<br />
Mit dem Begriff der Presse im verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Sinne sind alle für die<br />
Allgemeinheit bestimmten Druckerzeugnisse gemeint, also insbesondere au<strong>ch</strong><br />
Zeitungen und Zeits<strong>ch</strong>riften wie ʹLe Globeʹ. Ges<strong>ch</strong>ützt ist außer der Herstellung<br />
au<strong>ch</strong> die Verbreitung. Insofern würde ein den Absatz beeinträ<strong>ch</strong>tigender Boykottaufruf<br />
sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> fallen. Au<strong>ch</strong> erstreckt si<strong>ch</strong> die Freiheit<br />
gemäß Art. 19 III GG ihrem Wesen na<strong>ch</strong> auf juristis<strong>ch</strong>e Personen. Problematis<strong>ch</strong><br />
ist allein, daß es si<strong>ch</strong> bei der L um eine ausländis<strong>ch</strong>e Gesells<strong>ch</strong>aft handelt. Ausländis<strong>ch</strong>e<br />
Vereinigungen genießen den S<strong>ch</strong>utz deuts<strong>ch</strong>er <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> selbst<br />
dann ni<strong>ch</strong>t, wenn ihre Gesells<strong>ch</strong>aftsform einfa<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> anerkannt ist und sie in<br />
Deuts<strong>ch</strong>land Ges<strong>ch</strong>äfte betreiben. Maßgebli<strong>ch</strong> ist na<strong>ch</strong> der Sitztheorie allein das<br />
tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Zentrum der Ges<strong>ch</strong>äftstätigkeit, also im Falle der L Paris und Frankrei<strong>ch</strong>.<br />
Dana<strong>ch</strong> wäre der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> des Art. 5 I 2 GG für die französis<strong>ch</strong>e L eigentli<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t eröffnet.<br />
Etwas anderes könnte si<strong>ch</strong> daraus ergeben, daß Frankrei<strong>ch</strong> ein Mitgliedstaat<br />
der Europäis<strong>ch</strong>en Union ist. Damit gilt im Berei<strong>ch</strong> der vertragli<strong>ch</strong>en Grundfreiheiten,<br />
insbesondere der Warenverkehrsfreiheit, gegenüber den französis<strong>ch</strong>en<br />
Wirts<strong>ch</strong>aftssubjekten das Diskriminierungsverbot aus Art. 12 EGV – und zwar<br />
über Art. 23 GG mit Verfassungsrang. Umstritten ist allerdings, inwieweit dies<br />
zur Ausdehnung des deuts<strong>ch</strong>en Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utzes auf juristis<strong>ch</strong>e Personen<br />
der EU-Staaten führt. Gegen eine sol<strong>ch</strong>e Ausdehnung wird teils geltend gema<strong>ch</strong>t,<br />
daß ein Diskriminierungsverbot zwar in einfa<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Hinsi<strong>ch</strong>t gelten<br />
mag, ohne notwendig au<strong>ch</strong> auf der Ebene des Verfassungsre<strong>ch</strong>t zu einer<br />
Glei<strong>ch</strong>stellung zu zwingen. Angesi<strong>ch</strong>ts des praktis<strong>ch</strong>en Gewi<strong>ch</strong>ts, das die<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> für die Re<strong>ch</strong>tsdur<strong>ch</strong>setzung in Deuts<strong>ch</strong>land erlangt haben, würde<br />
eine derart restriktive Auslegung aber zu gewi<strong>ch</strong>tigen Unters<strong>ch</strong>ieden selbst in<br />
einfa<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> determinierten Wirts<strong>ch</strong>aftsberei<strong>ch</strong>en führen. Deshalb verdient<br />
die Gegenauffassung den Vorzug, die aus Art. 12 EGV eine Erweiterung der<br />
deuts<strong>ch</strong>en <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> auf juristis<strong>ch</strong>e Personen aller EU-Staaten folgert – allerdings<br />
bes<strong>ch</strong>ränkt auf sol<strong>ch</strong>e <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>, die Sa<strong>ch</strong>verhalte im Berei<strong>ch</strong> der<br />
Grundfreiheiten der Verträge s<strong>ch</strong>ützen. Dur<strong>ch</strong> die Übertragung von Hoheitsge-
Fall 8: Neoanar<strong>ch</strong>isten 209<br />
walt auf die EU (vgl. Art. 23 GG) besteht insoweit eine materielle Verfassungsänderung<br />
des deuts<strong>ch</strong>en Grundre<strong>ch</strong>tskatalogs.<br />
Die Warenverkehrsfreiheit s<strong>ch</strong>ützt Herstellung und Vertrieb von Produkten<br />
und umfaßt damit au<strong>ch</strong> den Zeitungsvertrieb. Soweit die Pressefreiheit des Art.<br />
5 I 2 GG den Vertrieb von Zeitungen unter Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz stellt, gilt dieser<br />
S<strong>ch</strong>utz wegen des Diskriminierungsverbots in Art. 12 EGV folgli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> für juristis<strong>ch</strong>e<br />
Personen aus anderen EU-Staaten.<br />
Der S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> der Pressefreiheit in Art. 5 I 2 GG erfaßt folgli<strong>ch</strong> die Freiheit<br />
der L zum Vertrieb der Zeits<strong>ch</strong>rift ʹLe Globeʹ.<br />
b) Eingriff<br />
In die Pressefreiheit müßte dur<strong>ch</strong> den Boykottaufruf und das letztinstanzli<strong>ch</strong>e<br />
Urteil eingegriffen worden sein. Ein Eingriff ist jede staatli<strong>ch</strong>e Maßnahme, die<br />
eine in den S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong> fallende Tätigkeit ers<strong>ch</strong>wert, verbietet, unmögli<strong>ch</strong><br />
ma<strong>ch</strong>t oder sanktioniert, insbesondere jede Maßnahme, mit der dies zielgeri<strong>ch</strong>tet<br />
und re<strong>ch</strong>tsförmig ges<strong>ch</strong>ieht (klassis<strong>ch</strong>er Eingriff). Die mit dem Boykottaufruf<br />
verbundene Ers<strong>ch</strong>werung des Zeitungsvertriebs ist zwar von dem Ministerialbeamten<br />
beabsi<strong>ch</strong>tigt, also zielgeri<strong>ch</strong>tet, erfolgte aber ni<strong>ch</strong>t re<strong>ch</strong>tsförmig, sondern in<br />
Gestalt s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>t-hoheitli<strong>ch</strong>en Handelns. Außerdem tritt die eigentli<strong>ch</strong>e Wirkung<br />
ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on aufgrund der staatli<strong>ch</strong>en Warnung, sondern erst mittelbar dur<strong>ch</strong> die<br />
gewillkürte Reaktion der Leserinnen und Leser ein. Insofern liegt kein klassis<strong>ch</strong>er<br />
Eingriff vor.<br />
In der S<strong>ch</strong>were ihrer Wirkung ist die mittelbare Beeinträ<strong>ch</strong>tigung der L aber<br />
mit einem re<strong>ch</strong>tsförmigen und unmittelbaren Staatshandeln dur<strong>ch</strong>aus verglei<strong>ch</strong>bar.<br />
Außerdem erfolgte die geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Bestätigung dieses Handelns in Re<strong>ch</strong>tsform,<br />
nämli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tskräftiges Urteil der letzten Instanz. Zwar tritt au<strong>ch</strong> insoweit<br />
die wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Folge erst mittelbar dur<strong>ch</strong> die Reaktion der Leserinnen<br />
und Leser ein, do<strong>ch</strong> steht eine derartige Beeinträ<strong>ch</strong>tigung na<strong>ch</strong> ihrem Gewi<strong>ch</strong>t für<br />
das grundre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzgut dem klassis<strong>ch</strong>en Eingriff glei<strong>ch</strong>.<br />
Folgli<strong>ch</strong> liegt ein Eingriff vor.<br />
c) Verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
Für eine verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung des Eingriffs kommen unter den<br />
S<strong>ch</strong>rankenklauseln des Art. 5 II GG insbesondere die allgemeinen Gesetze und<br />
der Jugends<strong>ch</strong>utz in Betra<strong>ch</strong>t. Beide setzen aber voraus, daß es für den Boykottaufruf<br />
dur<strong>ch</strong> den bayeris<strong>ch</strong>en Ministerialbeamten überhaupt eine gesetzli<strong>ch</strong>e<br />
Grundlage gibt. Das Gesetz über jugendgefährdende S<strong>ch</strong>riften begründet keine<br />
Kompetenzen der Landesministerien. Weder aus den allgemeinen Normen der<br />
Bayeris<strong>ch</strong>en Verfassung, in denen die Kompetenzen der Landesregierung gere-
210<br />
6. Kapitel: Fälle und Lösungen<br />
gelt sind, no<strong>ch</strong> aus dem S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>tengehalt des Grundre<strong>ch</strong>ts auf körperli<strong>ch</strong>e<br />
Unversehrtheit (Art. 2 II GG) läßt si<strong>ch</strong> eine konkrete Befugnis zum Boykottaufruf<br />
ableiten. Au<strong>ch</strong> sonst gibt es kein Gesetzesre<strong>ch</strong>t, das diese Befugnis begründet.<br />
Folgli<strong>ch</strong> fehlt es für die verfassungsre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tfertigung bereits an der<br />
gesetzli<strong>ch</strong>en Grundlage.<br />
d) Zwis<strong>ch</strong>energebnis<br />
Der Boykottaufruf und die letztinstanzli<strong>ch</strong>e Geri<strong>ch</strong>tsents<strong>ch</strong>eidung verletzen die L<br />
in ihrer Pressefreiheit aus Art. 5 I 2 GG.<br />
3. Verletzung anderer <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong><br />
Hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> des Vertriebs der Zeitungen geht die Pressefreiheit der Berufsfreiheit<br />
vor. Au<strong>ch</strong> geht es beim S<strong>ch</strong>utz vor Boykottaufrufe um das zu Erwerbende, ni<strong>ch</strong>t<br />
das bereits dur<strong>ch</strong> Vertrieb Erworbene, so daß das Eigentumsgrundre<strong>ch</strong>t als weniger<br />
sa<strong>ch</strong>nahe Regelung zurücktritt. Die allgemeine Handlungsfreiheit ist als<br />
subsidiäres Grundre<strong>ch</strong>t ebenfalls ni<strong>ch</strong>t betroffen.<br />
III. Ergebnis<br />
Die Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde der L ist zulässig und wegen der Verletzung der<br />
Pressefreiheit aus Art. 5 I 2 GG au<strong>ch</strong> begründet. Sie hat Aussi<strong>ch</strong>t auf Erfolg.
Sa<strong>ch</strong>- und Personenverzei<strong>ch</strong>nis<br />
Abgaben..............................................67<br />
Abstrakte Normenkontrolle ...............46<br />
Abwehrre<strong>ch</strong>te .....................................53<br />
Allgemeine Erklärung der Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
(AEMR, 1948) ...........18<br />
Allgemeine Gesetze ............................90<br />
Allgemeine Handlungsfreiheit...........66<br />
Allgemeiner Glei<strong>ch</strong>heitssatz ............115<br />
Allgemeines Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t ......77<br />
Allgemeinheitspostulat ......................34<br />
Amtsarzt.............................................72<br />
Analogieverbot .................................112<br />
Anerkennungstheorie.........................58<br />
Angemessenheit..................................24<br />
Anmeldepfli<strong>ch</strong>t ...................................88<br />
Ansammlung......................................67<br />
Asylgrundre<strong>ch</strong>t ..................................76<br />
Auffanggrundre<strong>ch</strong>t ............................67<br />
Ausbürgerung....................................74<br />
Ausgestaltung ....................................28<br />
Ausländer ...........................................50<br />
Ausländis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e Personen ....58<br />
Auslieferung.......................................75<br />
Ausnahmetrias ...................................59<br />
Ausreisefreiheit ..................................67<br />
Aussperrungsre<strong>ch</strong>t...........................106<br />
Auswärtige Gewalt ............................61<br />
Bagatellhandlungen ...........................66<br />
Bedürfnisprüfung.............................100<br />
Beliehene.............................................61<br />
Berufsfreiheit ......................................98<br />
Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis ...........................42<br />
Bestimmtheitsgebot ............................33<br />
Beteiligtenfähigkeit.............................42<br />
Bill of Rights<br />
Britis<strong>ch</strong>e ~ (1689)..............................14<br />
US-Verfassung (1791) ..................... 14<br />
Virginia ~ (1776).............................. 14<br />
Bismarcks<strong>ch</strong>e Rei<strong>ch</strong>sverfassung<br />
(1871)............................................. 15<br />
Briefgeheimnis ................................... 78<br />
Bundesgrundre<strong>ch</strong>te............................ 63<br />
Daseinsvorsorge................................. 62<br />
Datens<strong>ch</strong>utz....................................... 78<br />
Déclaration des Droits de lʹHomme<br />
et du Citoyen ................................. 14<br />
Demokratiefunktionalität .................. 52<br />
Derivative Leistungsre<strong>ch</strong>te ............... 36<br />
Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>te ...................... 50<br />
Dienende Freiheit .............................. 94<br />
Differenzierungsverbote .................. 119<br />
Diplomatis<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>utz ...................... 61<br />
Doppelgrundre<strong>ch</strong>t.............................. 88<br />
Doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung...................................<br />
34<br />
Dreistufentheorie ............................... 99<br />
Drittstaatenregelung......................... 76<br />
Drittwirkung ..................................... 54<br />
Dur<strong>ch</strong>griffstheorie ............................. 59<br />
Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ung................................... 82<br />
Effektiver Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz ................... 114<br />
Ehe...................................................... 83<br />
Ehrens<strong>ch</strong>utz ....................................... 90<br />
Eigentum ......................................... 102<br />
Eilversammlung ................................ 86<br />
Eingriff............................................... 29<br />
Erweiterter Begriff ........................... 30<br />
Faktis<strong>ch</strong>er oder mittelbarer ~............ 30<br />
Klassis<strong>ch</strong>er ~..................................... 29<br />
Einreisefreiheit................................... 73<br />
Enteignung ...................................... 103<br />
Enteignungsglei<strong>ch</strong>er Eingriff.......... 105
212<br />
Sa<strong>ch</strong> und Personenverzei<strong>ch</strong>nis<br />
Erziehung........................................... 84<br />
Europäis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e Personen...... 58<br />
Europäis<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskonvention<br />
(EMRK, 1950)............ 18<br />
Europäis<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>tshof für<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (EGMR).............. 18<br />
Europäis<strong>ch</strong>er Geri<strong>ch</strong>tshof (EuGH).... 18<br />
Europare<strong>ch</strong>t........................................ 18<br />
Ewigkeitsgarantie .............................. 35<br />
Existenzminimum ............................. 71<br />
Fairneß ............................................. 114<br />
Faktis<strong>ch</strong>er Eingriff ............................. 30<br />
Familie................................................ 83<br />
Fernmeldegeheimnis .......................... 78<br />
Filmfreiheit......................................... 93<br />
Finaler Todess<strong>ch</strong>uß ............................ 72<br />
Fiskalgeltung...................................... 61<br />
Flu<strong>ch</strong>talternative................................ 76<br />
Fors<strong>ch</strong>ung ........................................ 108<br />
Freiheit der Person............................. 73<br />
Freiheitsre<strong>ch</strong>te.................................... 49<br />
Innominatfreiheitsre<strong>ch</strong>te...................67<br />
Negative Seite der ~ ..........................50<br />
Freizügigkeit ...................................... 73<br />
Gemeinden ......................................... 60<br />
Ges<strong>ch</strong>äftsräume.................................. 81<br />
Gesetzesvorbehalt............................... 32<br />
Gesetzli<strong>ch</strong>er Ri<strong>ch</strong>ter......................... 111<br />
Gewerbebetrieb................................. 102<br />
Gewerks<strong>ch</strong>aften .......................... 57, 106<br />
Gewissensfreiheit ............................... 97<br />
Glaubensfreiheit................................. 95<br />
Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung .......................... 117<br />
Glei<strong>ch</strong>heit<br />
Allgemeiner Glei<strong>ch</strong>heitssatz ...........115<br />
Differenzierungsverbote..................119<br />
Glei<strong>ch</strong>behandlungsre<strong>ch</strong>te ..................53<br />
Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung .........................117<br />
Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te.........................49, 53<br />
Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>tsprüfung..................36<br />
Indigenat.........................................120<br />
Neue Formel......................................37<br />
Sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Grund ..............................37<br />
Willkürformel....................................36<br />
Grimm, Dieter....................................67<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsbere<strong>ch</strong>tigung<br />
Ausländer..........................................50<br />
Ausnahmetrias..................................59<br />
Deuts<strong>ch</strong>engrundre<strong>ch</strong>te......................50<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsmündigkeit....................57<br />
Grundre<strong>ch</strong>tstypis<strong>ch</strong>e Gefährdungslage..........................................59<br />
Juristis<strong>ch</strong>e Personen..........................57<br />
Minderjährige ...................................56<br />
Unionsbürger....................................50<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsbindung..........................61<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsdimension<br />
Objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e ~.........................54<br />
Resubjektivierung .............................54<br />
Subjektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e ~........................53<br />
Verfahrensdimension ........................17<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te ................15<br />
Grundre<strong>ch</strong>tskollisionen......................62<br />
Grundre<strong>ch</strong>tskonkurrenzen.................62<br />
Idealkonkurrenz ................................23<br />
Sa<strong>ch</strong>nähe ...........................................22<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsmündigkeit.....................57<br />
Grundre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz gegen si<strong>ch</strong><br />
selbst ...............................................40<br />
Grundre<strong>ch</strong>tstypis<strong>ch</strong>e Gefährdungslage........................................59<br />
Grundre<strong>ch</strong>tsverzi<strong>ch</strong>t ..........................29<br />
Grundversorgung...............................94<br />
Habeas Corpus Act (1679).................14<br />
Häberle, Peter ...............................19, 53<br />
Heimatre<strong>ch</strong>t........................................74<br />
Herren<strong>ch</strong>iemseer Entwurf..................15<br />
Hesse, Konrad.....................................26<br />
Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulen .......................................59
Sa<strong>ch</strong> und Personenverzei<strong>ch</strong>nis 213<br />
Hö<strong>ch</strong>stpersönli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te ..................51<br />
Horizontalwirkung ............................54<br />
Humangenetik....................................70<br />
Idealkonkurrenz..................................23<br />
Immanente S<strong>ch</strong>ranken .......................32<br />
Indigenat ..........................................120<br />
Informationelles Selbstbestimmungsre<strong>ch</strong>t.....................................78<br />
Informationsfreiheit ...........................92<br />
Inhaltsbestimmung ............................28<br />
Inländis<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e Personen .......58<br />
Innominatfreiheitsre<strong>ch</strong>te....................67<br />
Institutionelle Garantien ...................56<br />
Institutsgarantien ..............................56<br />
Internationale Pakt über bürgerli<strong>ch</strong>e<br />
und politis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>te<br />
(IPbpR, 1966).................................18<br />
Internationale Pakt über wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e,<br />
soziale und kulturelle<br />
Re<strong>ch</strong>te (IPwskR, 1966) ..................18<br />
Jedermannsre<strong>ch</strong>te ...............................50<br />
Jugends<strong>ch</strong>utz......................................91<br />
Junktimklausel..................................105<br />
Juristis<strong>ch</strong>e Personen...........................57<br />
Dur<strong>ch</strong>griffstheorie.............................59<br />
Europäis<strong>ch</strong>e ~....................................58<br />
Grundre<strong>ch</strong>tstypis<strong>ch</strong>e Gefährdungslage..........................................59<br />
Inländis<strong>ch</strong>e ~.....................................58<br />
Öffentli<strong>ch</strong>-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e ~ ......................59<br />
Justizgrundre<strong>ch</strong>te...............................51<br />
Kant, Immanuel .................................13<br />
Kir<strong>ch</strong>en .........................................59, 61<br />
Koalitionsfreiheit..............................106<br />
Kollision..............................................62<br />
Kommunikationsgrundre<strong>ch</strong>te ............51<br />
Konkrete Normenkontrolle.................45<br />
Konkretisierung..................................28<br />
Konkurrentenklage...........................120<br />
Konkurrenz.........................................62<br />
Körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit ............... 71<br />
Kriegsdienstverweigerung................. 98<br />
Kunstfreiheit.................................... 107<br />
Kunstho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulen............................ 107<br />
Landesgrundre<strong>ch</strong>te ............................ 63<br />
Landkreise .......................................... 60<br />
Laus<strong>ch</strong>angriff ..................................... 82<br />
Lebensre<strong>ch</strong>t ........................................ 71<br />
Lehrfreiheit....................................... 108<br />
Leistungsre<strong>ch</strong>te.................................. 53<br />
Derivative ~ ..................................... 36<br />
Originäre ~....................................... 53<br />
Locke, John ......................................... 13<br />
Magna Charta Libertatum (1215) .... 14<br />
Mauers<strong>ch</strong>ützenfälle ......................... 113<br />
Mehrfa<strong>ch</strong>bestrafung......................... 113<br />
Meinungsfreiheit ............................... 90<br />
Definition der Meinung................... 90<br />
Demokratiefunktionaler Bezug......... 91<br />
Zensurverbot.................................... 91<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te ........................... 18, 50<br />
Mens<strong>ch</strong>enwürde................................. 68<br />
Ewigkeitsgarantie............................. 35<br />
nasciturus ........................................ 69<br />
Objektformel..................................... 69<br />
Unantastbarkeit ............................... 69<br />
Verstorbene ...................................... 70<br />
Minderjährige.................................... 56<br />
Mittelbarer Eingriff........................... 30<br />
Modale Abwehrre<strong>ch</strong>te........................ 36<br />
Museen............................................. 107<br />
Musikho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ulen ........................... 107<br />
Mutters<strong>ch</strong>utz ..................................... 85<br />
Na<strong>ch</strong>flu<strong>ch</strong>tgründe.............................. 76<br />
nasciturus .......................................... 69<br />
ne bis in idem................................... 113<br />
Negative Freiheit ............................... 50<br />
Neue Formel....................................... 37<br />
Neutralität des Staates ...................... 96<br />
Niederlassungsfreiheit....................... 74
214<br />
Sa<strong>ch</strong> und Personenverzei<strong>ch</strong>nis<br />
nulla poena sine lege........................ 112<br />
Objektformel....................................... 69<br />
Objektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Grundre<strong>ch</strong>tsdimension.......................................<br />
54<br />
Öffentli<strong>ch</strong>er Dienst .......................... 120<br />
Organisationsre<strong>ch</strong>te........................... 55<br />
Originäre Leistungsre<strong>ch</strong>te................. 53<br />
Parlamentaris<strong>ch</strong>er Rat....................... 15<br />
Parteien .............................................. 57<br />
Paternalismus .................................. 118<br />
Paulskir<strong>ch</strong>enverfassung (1848)......... 14<br />
Paus<strong>ch</strong>alierung ................................ 117<br />
Persönli<strong>ch</strong>e Freiheit ........................... 73<br />
Persönli<strong>ch</strong>keitsre<strong>ch</strong>t ........................... 77<br />
Petition of Right (1628)..................... 14<br />
Petitionsre<strong>ch</strong>t..................................... 94<br />
Postgeheimnis .................................... 78<br />
Prägung ............................................. 28<br />
Präklusionsfristen............................ 112<br />
Praktis<strong>ch</strong>e Konkordanz ...................... 26<br />
Pressefreiheit...................................... 92<br />
Prinzipien<strong>ch</strong>arakter ........................... 17<br />
Privatautonomie ................................ 67<br />
Privatnützigkeit des Eigentums...... 104<br />
Privatre<strong>ch</strong>tsförmige Verwaltung....... 61<br />
Prozeßgrundre<strong>ch</strong>te............... 51, 60, 109<br />
Prüfungsreihenfolge .......................... 21<br />
Prüfungsumfang.............................. 169<br />
Qualifizierter Gesetzesvorbehalt ....... 32<br />
Re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Gehör ............................ 111<br />
Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz .................................... 114<br />
Re<strong>ch</strong>tsweggarantie........................... 110<br />
Religionsfreiheit................................. 95<br />
Gesetz über die religiöse Kindererziehung<br />
(1921)...............................96<br />
Ri<strong>ch</strong>tervorbehalt................................. 82<br />
Rousseau, Jean-Jacques...................... 13<br />
Rücklieferung..................................... 75<br />
Rückwirkungsverbot........................ 112<br />
Rundfunkanstalten.............................59<br />
Rundfunkfreiheit ................................93<br />
Sa<strong>ch</strong>nähe.............................................22<br />
Salvatoris<strong>ch</strong>e Klausel .......................104<br />
Satire.................................................107<br />
S<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten............................................96<br />
S<strong>ch</strong>rankensystematik..........................31<br />
S<strong>ch</strong>rankentrias....................................67<br />
S<strong>ch</strong>ulfreiheit .......................................85<br />
S<strong>ch</strong>ulunterri<strong>ch</strong>t ..................................84<br />
S<strong>ch</strong>utzberei<strong>ch</strong>......................................28<br />
S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten...................................55<br />
Gesetzesmediatisierung.....................38<br />
Prüfung von ~...................................38<br />
Resubjektivierung .............................38<br />
S<strong>ch</strong>utzre<strong>ch</strong>te......................................54<br />
Untermaßverbot..........................27, 39<br />
Selbstbindung der Verwaltung........117<br />
Selbsttötung .................................70, 71<br />
Sitzblockaden......................................87<br />
Sitztheorie...........................................58<br />
Sonderstatusverhältnisse ...................56<br />
Sozialbindung des Eigentums..........104<br />
Soziale <strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong>...........................52<br />
Sperrklauseln....................................121<br />
Sperrwirkung ...................................113<br />
Sphärentheorie....................................77<br />
Spontanversammlung........................86<br />
Staatsbürgerre<strong>ch</strong>te..............................51<br />
Statusdeuts<strong>ch</strong>e....................................74<br />
Statuslehre..........................................53<br />
Sti<strong>ch</strong>tagsregelung.............................117<br />
Strafklage..........................................113<br />
Streikre<strong>ch</strong>t ........................................106<br />
Strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
...................................26<br />
Studienplätze......................................99<br />
Subjektiv-re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Grundre<strong>ch</strong>tsdimension<br />
.......................................53
Sa<strong>ch</strong> und Personenverzei<strong>ch</strong>nis 215<br />
Subsidiarität der allgemeinen<br />
Handlungsfreiheit ..........................67<br />
Süddeuts<strong>ch</strong>er Konstitutionalismus<br />
(1818-1831)....................................14<br />
Superrevisionsinstanz........................43<br />
Systemgere<strong>ch</strong>tigkeit .........................116<br />
Tarifautonomie.................................106<br />
Teilhabere<strong>ch</strong>te.....................................53<br />
Theater..............................................107<br />
Tiers<strong>ch</strong>utz...........................................70<br />
Todesstrafe..........................................72<br />
Toleranzgebot .....................................97<br />
Tötung von Mens<strong>ch</strong>en .......................72<br />
Treuepfli<strong>ch</strong>t ......................................108<br />
Typisierung ......................................117<br />
Übergriffe .....................................26, 38<br />
Unantastbarkeit der Mens<strong>ch</strong>enwürde..............................................69<br />
Unfriedli<strong>ch</strong>e Versammlung................67<br />
Unionsbürgerre<strong>ch</strong>te ...........................50<br />
Universitäten .....................................59<br />
Uns<strong>ch</strong>uldsvermutung......................114<br />
Untermaßverbot ...........................27, 39<br />
Unternehmerfreiheit...........................99<br />
Veranstaltungsfreiheit .......................87<br />
Vereinigungsfreiheit...........................88<br />
Verfahrensdimension .........................17<br />
Verfahrensgarantien...........................55<br />
Verfahrensgrundre<strong>ch</strong>te ..............51, 109<br />
Verfassungsänderung ........................35<br />
Verfassungsbes<strong>ch</strong>werde......................41<br />
Allgemeine Subsidiarität ..................43<br />
Bes<strong>ch</strong>werdebefugnis ....................31, 42<br />
Beteiligtenfähigkeit ...........................42<br />
Gesetzesverfassungsbes<strong>ch</strong>werde........43<br />
Kopflastigkeit des Guta<strong>ch</strong>tens...........42<br />
Prüfungsumfang.............................169<br />
Re<strong>ch</strong>tswegers<strong>ch</strong>öpfung......................43<br />
Superrevisionsinstanz.......................43<br />
Urteilsverfassungsbes<strong>ch</strong>werde ..43, 169<br />
Verfassungsimmanente S<strong>ch</strong>ranken ... 32<br />
Verfassungss<strong>ch</strong>utz............................. 80<br />
Verfassungsunmittelbare<br />
S<strong>ch</strong>ranken ...................................... 32<br />
Verfassungsverglei<strong>ch</strong>......................... 19<br />
Verfolgung ......................................... 76<br />
Verhältnismäßigkeitsprinzip ............. 23<br />
Angemessenheit ............................... 24<br />
Doppelprüfung................................. 34<br />
Erforderli<strong>ch</strong>keit ................................ 23<br />
Geeignetheit ..................................... 23<br />
Praktis<strong>ch</strong>e Konkordanz..................... 26<br />
Strenge Prüfung .............................. 26<br />
Typisierungen ................................ 117<br />
Zweckfeststellung............................. 24<br />
Vermögen......................................... 102<br />
Versammlungsfreiheit ....................... 86<br />
Kooperationsobliegenheiten.............. 88<br />
Unfriedli<strong>ch</strong>e Versammlung.............. 67<br />
Versammlungen unter freiem<br />
Himmel ............................................ 88<br />
Versammlungsbegriff ....................... 87<br />
Vertrauenss<strong>ch</strong>utz............................... 33<br />
Verwaltung .................................. 60, 61<br />
Verwaltungs(geri<strong>ch</strong>ts)verfahren ....... 44<br />
Verwaltungsmonopol....................... 100<br />
Verwerfungsmonopol......................... 46<br />
Vorbehaltlose ausgestaltungsbedürftige<br />
<strong>Grundre<strong>ch</strong>te</strong> ................. 29<br />
Vorlagepfli<strong>ch</strong>t..................................... 46<br />
Wä<strong>ch</strong>teramt des Staates..................... 84<br />
Waffen................................................ 87<br />
Waffenglei<strong>ch</strong>heit .............................. 114<br />
Wahlre<strong>ch</strong>t......................................... 120<br />
Weimarer Rei<strong>ch</strong>sverfassung (1919) .. 15<br />
Wesensgehaltsgarantie ...................... 34<br />
Wesentli<strong>ch</strong>keitstheorie ....................... 32<br />
Willkürformel .................................... 36<br />
Wirts<strong>ch</strong>aftsgrundre<strong>ch</strong>te..................... 52<br />
Wissens<strong>ch</strong>aftsfreiheit ....................... 108
216<br />
Sa<strong>ch</strong> und Personenverzei<strong>ch</strong>nis<br />
Wohnsitz ............................................ 73<br />
Wohnung ........................................... 81<br />
Zensurverbot...................................... 91<br />
Zitiergebot ..........................................34<br />
Zwangsuntersu<strong>ch</strong>ung........................72<br />
Zweck des Gesetzes ............................25