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Brüssel, Paris, Ajaccio, die Mafia - wer regiert Korsika?

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Alexander Benatar<br />

Brüssel, <strong>Paris</strong>, <strong>Ajaccio</strong>, <strong>die</strong> <strong>Mafia</strong><br />

<strong>wer</strong> <strong>regiert</strong> <strong>Korsika</strong>?<br />

Bericht über eine Reise nach <strong>Korsika</strong> im Sommer 2013


... oder: Der korsische Nationalismus und was von Europa übrig bleibt.<br />

Einleitung<br />

In der jüngsten Vergangenheit hat <strong>Korsika</strong> hauptsächlich durch negative<br />

Schlagzeilen auf sich aufmerksam gemacht: Bandenkriege, organisiertes<br />

Verbrechen, hohe Mordraten und Anschläge – Nachrichten, <strong>die</strong> zum Glück selten<br />

aus Europa und wenn überhaupt, dann am ehesten noch vom Balkan stammen.<br />

<strong>Korsika</strong>, das ist Frankreich. Kern Europas – gemeinsam mit Deutschland historisches<br />

Rückgrat der Europäischen Union. Und doch: zunehmende Kriminalität,<br />

Einwanderungsströme aus dem Maghreb und eine erstarkende<br />

Unabhängigkeitsbewegung, der <strong>die</strong> <strong>Paris</strong>er Zentralregierung auf dem französischen<br />

Festland schon viel zu weit weg zu sein scheint, erschüttern <strong>die</strong> Insel. Wieviel Platz<br />

für Europa bleibt da noch mitten in Europa? Dieser Frage ging ich im Juli und August<br />

2013 auf <strong>Korsika</strong> nach und erhielt dafür großzügige Unterstützung durch <strong>die</strong><br />

Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa.<br />

Historisches<br />

Diese wilde Insel ist unbekannter und ferner<br />

als Amerika, auch wenn man sie von<br />

Frankreich mitunter sehen kann.<br />

Guy de Maupassant, Le Bonheur<br />

<strong>Korsika</strong> durchlebte bis in <strong>die</strong> Neuzeit das Schicksal des westlichen Mittelmeers:<br />

lange Zeit gehörte <strong>die</strong> Insel zu Rom und wurde nach Zerfall des Weströmischen<br />

Reiches von Vandalen, Aragoniern und verschiedenen weiteren Völkern angegriffen<br />

und überrannt, bis es im Hochmittelalter unter genuesische Herrschaft geriet. Diese<br />

Zeit italienischer Besatzung prägt bis heute Stadtbild, Leben, Selbstverständnis und<br />

vor allem den korsischen Dialekt. 1 Im 17. und 18. Jahrhundert kam es zu Aufständen<br />

der korsischen Bevölkerung gegen <strong>die</strong> im Niedergang begriffene italienische<br />

Republik, <strong>die</strong> 1736 für einige Monate zur Krönung des deutschen Abenteurers<br />

Theodor v. Neuhoff zum König von <strong>Korsika</strong> führten. Hierauf konnte das finanziell<br />

geschwächte Genua lediglich mit einer Seeblockade reagieren. Die Neuhoff<br />

unterstützenden Familienklans zerstritten sich jedoch, sodass er bald auf den<br />

Kontinent fliehen musste und <strong>die</strong> Genueser <strong>die</strong> Macht wieder an sich rissen. Auch<br />

wenn „König Theodor I“ sich also nicht lange auf <strong>Korsika</strong> behaupten konnte, brachte<br />

er der Insel doch zumindest das Wappen mit dem Maurenkopf – eine Erinnerung an<br />

<strong>Korsika</strong>s Zeit unter aragonischer Herrschaft. Außerdem inspirierte er den jungen<br />

Pascal Paoli, <strong>die</strong> italienischen Unterdrücker endgültig zurückzuschlagen und 1755<br />

<strong>Korsika</strong>s Unabhängigkeit zu proklamieren.<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

1 Ob es sich hier um eine eigenständige Sprache oder „Vulgärtoskanisch“ handelt, ist umstritten.<br />

Jedenfalls scheint Korsisch dem Italienischen näher verwandt als dem Französischen und italienische<br />

<strong>Korsika</strong>urlauber können sich in ihrer eigenen Sprache recht problemlos verständigen.<br />

! 1


Es folgten <strong>die</strong> 13 goldenen Jahre der korsischen Selbstbestimmung: Paoli erließ eine<br />

aufgeklärte Verfassung (einschließlich Frauenwahlrecht!), ließ sich demokratisch als<br />

Oberhaupt legitimieren und machte <strong>die</strong> Stadt Corte in der Inselmitte zur neuen<br />

Hauptstadt, <strong>die</strong> bald auch eine eigene Universität erhielt. Bis zum heutigen Tag<br />

blicken korsische Separatisten immer wieder auf <strong>die</strong>se Zeit zurück und Paoli wird<br />

zum Nationalhelden stilisiert, während „Der Kleine Korse“ Napoleon Bonaparte<br />

später zwar den Kontinent eroberte, seine Landsleute jedoch eher vernachlässigte.<br />

1768 verpachtete Genua, das <strong>die</strong> korsische Unabhängigkeit wie viele andere Staaten<br />

nie anerkannt hatte, <strong>die</strong> Insel für vier Jahre an Frankreich. Dieses setzte seine<br />

Besitzansprüche unverzüglich militärisch durch und nach der entscheidenden<br />

„Schlacht von Ponte Novu“ 1769 mussten <strong>die</strong> Korsen sich den neuen Besatzern<br />

beugen. Pascal Paoli floh nach Großbritannien. Während Paoli also vorübergehend<br />

untertauchte und im Londoner Exil unter anderem mit amerikanischen<br />

Unabhängigkeitskämpfern Kontakt aufnahm 2 , behielt Frankreich sein Pachtobjekt<br />

nach Ablauf der Frist für sich. Damals wie heute wird deshalb der moralische und<br />

rechtliche Herrschaftsanspruch Frankreichs auf <strong>Korsika</strong> von korsischen Nationalisten<br />

infrage gestellt.<br />

Eine von vielen Paoli-Gedenktafeln in Bastia.<br />

Eine von vielen Statuen Napoleons in <strong>Ajaccio</strong>.<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

2 Teilweise wird behauptet, Paoli habe dort auch mit „Founding Fathers“ gesprochen und dabei direkt<br />

inhaltlichen Einfluss auf <strong>die</strong> spätere amerikanische Verfassung genommen; ein korsischer Historiker<br />

versicherte mir jedoch, <strong>die</strong>s sei eine zwar hübsche, aber geschichtlich nicht belegbare Legende.<br />

! 2


Zwischen 1794 und 1796 unternahm Paoli einen letzten Versuch, ein Anglo-<br />

Korsisches Königreich zu etablieren, der jedoch rasch scheiterte. Mit Ausnahme des<br />

Zweiten Weltkriegs, als <strong>Korsika</strong> von 1940 bis 1943 italienisch besetzt wurde, gehört<br />

<strong>Korsika</strong> seit 1769 also zu Frankreich. Von da an kämpften und fielen Korsen für<br />

Frankreich (v.a. im Ersten Weltkrieg – La Grande Guerre), halfen das französische<br />

Kolonialreich aufzubauen und nahmen nach dessen Zusammenbruch und<br />

insbesondere dem Algerienkrieg Ende der Sechziger Jahre viele ehemalige<br />

Kolonialisten und Algerierfranzosen (pieds noirs) bei sich auf. Letzteren wurde durch<br />

<strong>die</strong> französische Regierung zum Teil Land auf <strong>Korsika</strong> zugeteilt und Inselbewohner<br />

dafür enteignet 3 – <strong>die</strong> Geburtsstunde des modernen korsischen Nationalismus.<br />

Politisches<br />

Frankreich ist ein Zentralstaat. Aus deutscher Perspektive sch<strong>wer</strong> nachvollziehbar<br />

gibt es bei unserem Nachbarn unterhalb der nationalen Ebene kein gesetzgebendes<br />

Organ. Die Jakobiner setzten <strong>die</strong>s nach der Französischen Revolution durch, um<br />

Frankreich zu einigen und zu stärken; seither hat sich an <strong>die</strong>sem Grundkonzept<br />

wenig geändert. Die Verwaltung der Grande Nation gliedert sich in eine Handvoll<br />

Regionen, <strong>die</strong> wiederum in je ein Dutzend Départements unterteilt <strong>wer</strong>den. Zwei<br />

<strong>die</strong>ser Départements entfallen auf <strong>Korsika</strong>, das der Region Povence-Alpes-Côte<br />

d’Azur angehört<br />

Der korsische Nationalismus keimte in den späten 1960er Jahren auf, als<br />

Siedlungswellen aus dem Maghreb auf <strong>die</strong> Insel trafen (s.o.), <strong>die</strong> Sprache <strong>Korsika</strong>s<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg langsam auszusterben drohte und der Kontinent <strong>die</strong><br />

Insel als Tourismusziel zu entdecken begann. Land auf <strong>Korsika</strong> wurde immer teurer<br />

und für viele korsische Landwirte unerschwinglich, <strong>die</strong> zum Teil nicht einmal <strong>die</strong><br />

inzwischen tatsächlich eingetriebene Erbschaftssteuer bezahlen konnten, um<br />

Familienbesitz in <strong>die</strong> nächste Generation zu tragen. Hieran knüpften also auch <strong>die</strong><br />

Nationalisten an: Korsisch sollte neben Französisch offizielle Amtssprache, ein<br />

„Anwohnerstatus“ (status de résident) eingeführt, der nur Korsen den Lander<strong>wer</strong>b<br />

gestattet und eine Ausnahmeregelung zur Erbschaftssteuer wiedereingeführt<br />

<strong>wer</strong>den 4 .<br />

<strong>Paris</strong> reagierte seit den Siebzigern mit Zugeständnissen: <strong>die</strong> Universität in Corte<br />

wurde 1981 wiedereröffnet und ein Jahr später erhielt <strong>Korsika</strong> einen gewissen<br />

Sonderstatus (statut particulier), der eigentlich den Regionen vorbehaltene<br />

Verwaltungsaufgaben der Insel zuordnete. Mit Begründung der Collectivité territoriale<br />

de Corse (CTC) und einem weiteren nationalen Gesetz wurden <strong>die</strong>se Kompetenzen<br />

in den Bereichen von Transport, Ausbildung und Denkmalschutz 1991 bzw. 2002<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

3 Heftigen Protest ernteten 1960 auch <strong>Paris</strong>er Bestrebungen, Atomtests auf <strong>Korsika</strong> durchzuführen;<br />

schließlich wich man aber nach Französisch-Polynesien aus.<br />

4 Seit 1801 zu Napoleons Zeiten hatte auf <strong>Korsika</strong> eine Ausnahme von der französischen<br />

Erbschaftssteuer gegolten (Les arretés Miot) , <strong>die</strong> 1949 zwar offiziell abgeschafft wurde, faktisch<br />

jedoch noch Jahrzehnte weiter bestand, Canard enchaîné, Corsa Nostra, S. 43f.<br />

! 3


Sitzung der Assemblée Corse in <strong>Ajaccio</strong>.<br />

!<br />

noch einmal erweitert, beschränken sich<br />

jedoch weiterhin ausschließlich auf<br />

administrative Tätigkeiten. 5 Frankreich ist<br />

und bleibt ein Zentralstaat. Wichtigstes<br />

Organ der CTC ist <strong>die</strong> korsische<br />

Nationalversammlung (Assemblée<br />

Corse) in <strong>Ajaccio</strong>, <strong>die</strong> dem <strong>Paris</strong>er<br />

Parlament zumindest Gesetzesvorschläge<br />

unterbreiten kann und<br />

departementübergreifende Verwaltungsentscheidungen<br />

trifft, <strong>die</strong> dann vom<br />

Conseil executif, der korsischen<br />

„Regierung“ unter Führung des<br />

Sozialisten Paul Giacobbi, ausgeführt<br />

<strong>wer</strong>den. Außerdem wurde 1996 fakultativ an vielen Schulen ein französisch-korsisch<br />

bilingualer Unterricht eingeführt.<br />

Den Separatisten nahm <strong>die</strong>se Entwicklung zunächst ein wenig den Wind aus den<br />

Segeln – 2003 scheiterte ein Referendum über Wiedervereinigung der seit 1975<br />

getrennten Départements <strong>Korsika</strong>s klar. Im letzten Jahrzehnt jedoch gewannen <strong>die</strong><br />

Nationalisten in Wahlen wieder an Aufschwung.<br />

Sitzung der Assemblée Corse in <strong>Ajaccio</strong>.<br />

Stimmen<br />

Über Woher und Wohin <strong>die</strong>ser neuen Unabhängigkeitsbewegung auf <strong>Korsika</strong> besteht<br />

allerdings Uneinigkeit je nach Hintergrund und Motivation der Befragten:<br />

Sebastien QUENOT<br />

Die Forderungen nicht weniger Korsen gehen über <strong>die</strong> bisherigen Zugeständnisse<br />

aus <strong>Paris</strong> hinaus: <strong>die</strong> Nationalisten unterteilen sich in Autonome (autonomistes) und<br />

Separatisten (indépendantistes), erklärt mir Sebastien Quenot, Leiter des im letzten<br />

Dezember eingerichteten Büros für korsische Sprache in Corte und selbst<br />

Nationalist. Während <strong>die</strong> Autonomen eine Sonderstellung <strong>Korsika</strong>s mit eigenen<br />

legislativen Befugnissen aber innerhalb der französischen Nation fordern, sehnen <strong>die</strong><br />

Separatisten sich nach einer vollständigen Unabhängigkeit <strong>Korsika</strong>s von Frankreich.<br />

André FAZI<br />

Prof. André Fazi, Politikwissenschaftler an der Université de Corte Pascal Paoli und<br />

Spezialist für Regionalisierung in Europa, ergänzt außerdem, dass <strong>die</strong> korsische<br />

Nationalbewegung erst in jüngerer Zeit politisch geworden ist. Im letzten Jahrzehnt<br />

gründeten Untergrundbewegungen nationalistische Parteien und <strong>die</strong><br />

Parteienlandschaft konsoli<strong>die</strong>re sich schnell, was positiven Widerhall in der<br />

Bevölkerung finde. „Seit 1995 ist <strong>die</strong> öffentliche Unterstützung für <strong>die</strong> Nationalisten<br />

von 17% auf fast 36% gestiegen.“ Von <strong>die</strong>sen 36% bei der letzten Territorialwahl<br />

2010 entfielen dabei knapp 26% auf <strong>die</strong> autonome Femu a Corsica und 9,85% auf<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

5 Fazi, The Western Mediterranean islands and the many faces of independentism, S. 489.<br />

! 4


<strong>die</strong> Separatisten der Corsica Libera. In der Assemblée Corse halten <strong>die</strong> „natios“<br />

damit gemeinsam bereits immerhin eine relative Mehrheit. Einigkeit besteht dort<br />

bereits darüber, Korsisch zur weiteren Amtssprache <strong>Korsika</strong>s machen zu wollen und<br />

sich um eine Änderung der Erbschaftssteuer zu bemühen. Die nächsten Wahlen<br />

finden im März 2014 statt.<br />

Fazi sieht <strong>die</strong>se politischen Bestrebungen der korsischen Nationalisten dennoch vor<br />

große Herausforderungen gestellt:<br />

1. müsste dafür <strong>die</strong> französische Verfassung geändert <strong>wer</strong>den und<br />

2. reicht es auf <strong>Korsika</strong> nicht, Stimmen zu fangen, sondern man müsse als<br />

Politiker vor allem <strong>die</strong> Unterstützung der mächtigsten Klans der Insel suchen.<br />

Die Unabhängigkeit ist sicherlich ein schärferes Sch<strong>wer</strong>t als <strong>die</strong> Autonomie. Beide<br />

Bemühungen führen jedoch auf absehbare Zeit einen aussichtslosen Kampf: seit der<br />

Französischen Revolution ist Frankreich ein zentralisierter Staat. Ein Abweichen von<br />

<strong>die</strong>ser jakobinischen Tradition erforderte fundamentale Änderungen der<br />

französischen Verfassung; und damit entweder eine 3/5 Mehrheit im Parlament, d.h.<br />

partei- und regierungsübergreifend in Senat und Nationalversammlung oder aber ein<br />

nationales Referendum, das ebenfalls von <strong>Paris</strong> ausgehen müsste. Beides ist<br />

angesichts der Tatsache, dass <strong>Korsika</strong> mit seinen 300.000 Einwohnern eine<br />

Wählerschaft von nicht einmal einem halben <strong>Paris</strong>er Arrondissement stellt,<br />

bestenfalls sehr unwahrscheinlich.<br />

Jean-Guy TALAMONI<br />

Ganz anders sieht das Jean-Guy Talamoni: <strong>die</strong> Nationalisten hätten einen immer<br />

stärkeren Rückhalt in der Bevölkerung, vor allem in der Jugend, <strong>die</strong> <strong>die</strong> mangelnde<br />

Transparenz der französischen Besatzer endlich leid sei. Talamoni ist Vorsitzender<br />

der separatistischen Partei Corsica Libera, ehemaliger Leiter des<br />

Europaausschusses der Assemblée Corse, Anwalt und Schriftsteller – <strong>die</strong> eloquente<br />

Universalwaffe der korsischen Unabhängigkeitsbewegung.<br />

Außerdem billigt er politisch motivierte Gewalt. Auf einem Treffen der Corsica Libera<br />

anlässlich der 32. Journées internationales de Corte 6 , <strong>die</strong> <strong>die</strong>ses Jahr am 3. und 4.<br />

August stattfanden, sandte er am Ende seiner Rede unter Applaus einen<br />

„brüderlichen Gruß an <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> andere Mittel zum Kampf wählen als wir.“<br />

Gemeint ist damit <strong>die</strong> 1976 gegründete und bis heute bestehende nationalistische<br />

Untergrundorganisation Front de libération nationale de la Corse (FLNC), <strong>die</strong> bis in<br />

<strong>die</strong> Neunziger Attentate auf Vertreter des französischen Staates verübte, seine<br />

Sprengsätze heutzutage aber nur mehr gegen Immobilien richtet. 7<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

6 Zu <strong>die</strong>ser Veranstaltung treffen sich jährlich Separatisten aus <strong>Korsika</strong>, Sardinien, Sizilien, Katalonien<br />

und dem Baskenland, um Kontakte zu knüpfen und Erfahrungen auszutauschen. Eine Art<br />

„Separatisten-Selbsthilfegruppe“ also, zu der in <strong>die</strong>sem Jahr als Besonderheit auch der Tuareg und<br />

Schriftsteller Moussa Ag Assarid aus Nord-Mali eingeladen wurde.<br />

7 Antwort auf seinen Gruß erhielt Talamoni später in Form von Maschinengewehrsalven, <strong>die</strong> in den<br />

umliegenden Wäldern abgefeuert wurden und nachts durch das Tal von Corte hallten.<br />

! 5


Ein Separatist räumt auf bei den Journées internationales in Corte.<br />

Frankreich: unser Widerstand wird immer stärker sein als Deine Unterdrückung<br />

– korsisch-sprachiges Graffiti von Nationalisten in Corte<br />

! 6


Alle bisherigen Zugeständnisse sind für Talamoni nur „Reformprojekte“ und auch <strong>die</strong><br />

Ziele der Autonomisten lediglich Schritte in <strong>die</strong> richtige Richtung. Stolz ist er, dass <strong>die</strong><br />

Assemblé Corse Ende September nun endlich einen Gesetzesvorschlag zur<br />

Verfassungsänderung (s.o.) beschließen möchte.<br />

François ALFONSI<br />

Früher saß auch François Alfonsi in der Assemblée Corse. Heute vertritt er den<br />

Wahlbezirk „Südostfrankreich“ für <strong>die</strong> Grünen im Europäischen Parlament in Brüssel<br />

und ist dort unter anderem Mitglied im Ausschuss für regionale Entwicklung. Mit<br />

<strong>Korsika</strong> ist der autonom gesinnte Politiker eng verbunden, nicht zuletzt durch das<br />

Amt des Bürgermeisters der kleinen korsischen Gemeinde Osani, das er seit über<br />

einem Jahrzehnt innehat. Auch Alfonsi ist zu den Journées internationales<br />

gekommen, um seine nationalistischen Freunde „zu ermutigen, beharrlich <strong>die</strong> Ziele<br />

der Assemblée Corse zu verfolgen“. Aus Sicht der EU sei das Problem <strong>Korsika</strong>s<br />

überraschend und unverständlich, sagt er; und zwar sowohl das Drängen der Korsen<br />

auf größere Freiheit als auch <strong>die</strong> Weigerung des Zentralstaates Frankreichs, ihnen<br />

<strong>die</strong>se zu gewähren. Die EU sei wie <strong>die</strong> meisten ihrer Mitglieder per se dezentral,<br />

sodass Minderheiten dort eben weniger unterdrückt würden. „Aber“, betont er,<br />

„sch<strong>wer</strong>e Konflikte auf europäischem Boden sind auch europäische Konflikte!“<br />

Gleichzeitig erkennt Alfonsi jedoch auch, dass <strong>die</strong> Nationalisten auf <strong>Korsika</strong> (noch)<br />

nicht <strong>die</strong> Mehrheit der Korsen vertreten und deshalb das unmittelbare politische Ziel<br />

ein Kompromiss mit Frankreich sein müsse. Für einen solchen sei es natürlich<br />

erforderlich, dass Frankreich sich dialogbereit zeige, „denn Dialog, das ist doch <strong>die</strong><br />

Demokratie!“<br />

Frankreich in Europa<br />

Das Gründungsduo des modernen Europas verfolgte seit Mitte des letzten<br />

Jahrhunderts mit seinem gemeinsamen Mittel unterschiedliche Zwecke: für<br />

Deutschland war <strong>die</strong> europäische Integration von Anfang an ein willkommener Schritt<br />

heraus aus der politischen Isolation nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ging ihm<br />

darum, wieder „dabei" zu sein. Das besetzte Frankreich hingegen war schon in <strong>die</strong><br />

alliierten Konferenzen der letzten Kriegsjahre als Siegermacht diskussionslos<br />

eingebunden gewesen. In <strong>Paris</strong> sah man Europa eher als Instrument, um dem<br />

eigenen internationalen Führungsanspruch Nachdruck zu verleihen und sich der<br />

neuen Weltmacht USA gegenüber zu behaupten. 8<br />

! Alfonsis Assistentin Antonia ist sehr viel skeptischer, was <strong>die</strong> korsische<br />

Unabhängigkeit betrifft: „Hier wohnt doch niemand! Das Landesinnere ist praktisch<br />

tot, es gibt keine Arbeit im Winter und ändern wird sich so schnell auch nichts, weil<br />

jeder zehnte auf <strong>Korsika</strong> in irgendein Amt gewählt und damit von seinen Stimmen<br />

abhängig ist.“ Sie sieht auch eine Gefahr, dass Europa von den Nationalisten<br />

ausgenutzt wird: „Bei <strong>die</strong>sen ganzen regionalen Programmen im Mittelmeerraum 9<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

8 vgl. auch Stark, Frankreichs Rolle in der Welt, In: Informationen zur politischen Bildung - Frankreich,<br />

S. 51.<br />

9 z.B. „Italie-France Maritime“, oder aber <strong>die</strong> von Sarkozy angestoßene „Union pour la Méditerranée“,<br />

<strong>die</strong> dann jedoch an der Uneinigkeit von Israelis und Palästinensern scheiterte.<br />

! 7


geht es doch immer ums Geld. Warte nur ab, bis <strong>die</strong> Krise schlimmer wird! Und <strong>die</strong><br />

Regionen sind sowieso nationale Kompetenz – da haben <strong>die</strong> von Brüssel ohnehin<br />

nicht viel zu erwarten.“<br />

Jean-Marc RAFFAELLI<br />

Weniger kritisch sieht <strong>die</strong> Situation dagegen Jean-Marc Raffaelli, politischer<br />

Redakteur beim „Corse Matin“, der auflagenstärksten Tageszeitung <strong>Korsika</strong>s: „Nach<br />

und nach gewinnt <strong>die</strong> Politik hier gegen <strong>die</strong> Waffen <strong>die</strong> Überhand. Und <strong>die</strong><br />

Nationalisten sind in der korsischen Bevölkerung tief verwurzelt.“ Die Ge<strong>wer</strong>kschaft<br />

Syndicat des Travailleurs Corses (STC) sei fest mit der Unabhängigkeitsbewegung<br />

verwoben, <strong>die</strong> auch großen Einfluss auf <strong>die</strong> Arbeiter in den Häfen, auf Fähren und<br />

den Flughäfen hätten. „Und wie wichtig das auf einer Insel ist, können Sie sich wohl<br />

vorstellen.“<br />

Raffaelli bezweifelt allerdings, dass es sich bei der<br />

wachsenden Wählerschaft der nationalistischen<br />

Parteien immer um waschechte Patrioten handelt.<br />

Gewählt würden sie eher als Mittel zum Zweck der<br />

Dezentralisierung und größeren Selbstbestimmung.<br />

Dies hätten <strong>die</strong> Politiker auch erkannt und verfolgten<br />

statt der indiskutablen Unabhängigkeit mittlerweile<br />

eine „Politik der kleinen Schritte“, in der um<br />

symbolische Etappenziele wie <strong>die</strong> Einführung des<br />

Korsischen als zweite Amtssprache gefeilscht<br />

<strong>wer</strong>de. Eine vollständige Unabhängigkeit <strong>Korsika</strong>s<br />

bei entsprechendem Willen der Korsen hält er<br />

Zweisprachiges Ortsschild.<br />

jedoch auch nicht für undenkbar: „Immerhin zahlen<br />

<strong>die</strong> Menschen hier Steuern. Und man sehe sich nur einmal Malta an. Da funktioniert<br />

es ja auch.“<br />

Galeran DUSSER<br />

Die korsischen Nationalisten wenden sich mit ihren Bemühungen gegen <strong>die</strong><br />

Zentralregierung in <strong>Paris</strong>. Die Vertretung <strong>Paris</strong>er Interessen auf <strong>Korsika</strong> wiederum<br />

geschieht durch <strong>die</strong> Präfektur, den französischen „Gouverneurssitz“ gleichermaßen.<br />

Auf <strong>Korsika</strong> gibt es je eine Präfektur in den jeweiligen Hauptstädten der beiden<br />

korsischen Departments: für Corse du Sud in <strong>Ajaccio</strong> und in Bastia für Haute-Corse.<br />

„Korsische Angelegenheiten“ <strong>wer</strong>den in der Präfektur in <strong>Ajaccio</strong> bearbeitet und<br />

Pressesprecher des Europabüros <strong>die</strong>ser Präfektur wiederum ist Galeran Dusser.<br />

Seines Erachtens pflegt man dort „ein gutes Verhältnis zu den politisierten<br />

Nationalisten. Zu einer Bedrohung <strong>wer</strong>den <strong>die</strong> Nationalisten erst dann, wenn sie zu<br />

illegalen Mitteln greifen. Aber das gilt für entsprechende links- oder rechtsgerichtete<br />

Gruppierungen doch genauso.“ Ein großes Problem mit den nationalistischen<br />

Parteien hat Dusser also nicht.<br />

! 8


Das Problem ist <strong>Paris</strong>!<br />

Sebastien Quenot<br />

Mit unseren Überseegebieten haben wir noch ganz andere Probleme...<br />

Ehepaar aus der Norman<strong>die</strong>, <strong>Korsika</strong>urlauber seit 30 Jahren<br />

<strong>Korsika</strong> und Europa<br />

<strong>Korsika</strong>s Verhältnis zur EU ist weniger ambivalent, als ich es zunächst vermutete.<br />

Sebastien Quenot drückte es so aus: „Wirklich Entscheidungen trifft Brüssel ja nun<br />

nicht. Das sind ja doch <strong>die</strong> Nationalstaaten. Insofern ist <strong>die</strong> EU für <strong>Korsika</strong> mehr ein<br />

Geldgeber und auch so weit weg von den Bürgern. <strong>Paris</strong> ist das Problem!“<br />

Ähnlich sieht das auch der autonom gesinnte Edmond Simeoni, gewissermaßen der<br />

„Urvater“ des korsischen Nationalismus, der schon 1975 das Weingut eines pied noir<br />

besetzte 10 : Nach zweieinhalb Jahrhunderten der Fremdherrschaft und fünfzigjähriger<br />

Konfrontation ist <strong>die</strong> Zeit reif dafür, dass <strong>Korsika</strong> im Schoße Europas [sic!] und<br />

Herzen des Mittelmeers sein Schicksal selbst in <strong>die</strong> Hand nimmt, wie es ihm<br />

historisch und rechtlich zusteht. 11 Europa wird also durch den korsischen<br />

Nationalismus nicht infrage gestellt. Im Gegenteil: „Je mehr Brüssel wir haben, desto<br />

weniger <strong>Paris</strong>!“, erläutert mir Pierre-Antoine, Vorstandsmitglied der Corsica Libera<br />

und Doktorand im Öffentlichen Recht an der Universität Corte. Und auch Talamoni<br />

stimmt zu: „Wir wollen raus aus Frankreich, nicht aus Europa.“ Die Insel soll also<br />

indépendante (unabhängig) <strong>wer</strong>den, aber interdépendante (von ihren Nachbarn<br />

abhängig) bleiben. 12<br />

Autonome wie Separatisten befassen sich also eher mit korsischen Problemen. Und<br />

davon gibt es mehr als genug: <strong>Korsika</strong> ist <strong>die</strong> kriminellste Region Europas, eine der<br />

ärmsten Frankreichs und <strong>die</strong> Jugendarbeitslosigkeit liegt bei etwa 25%. Auf der Insel<br />

gibt es keine nennens<strong>wer</strong>te Industrie 13 , dafür aber einen umso größer aufgeblasenen<br />

Verwaltungsapparat – in mancherlei Hinsicht ist <strong>Korsika</strong> also „das Griechenland<br />

Frankreichs". Die Insel ist angewiesen auf <strong>die</strong> umfangreichen Zahlungen aus <strong>Paris</strong><br />

und Brüssel. 14 Und das muss nicht so bleiben: „<strong>Korsika</strong> hat eine unberührte Küste<br />

mit wunderschönen Stränden und Bergen zum Wandern und Skilaufen – das<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

10 Im Laufe <strong>die</strong>ser Besetzung wurden zwei Polizisten getötet und ein Besetzer sch<strong>wer</strong> verletzt,<br />

woraufhin <strong>Paris</strong> Panzer nach Bastia schickte.<br />

11 Vorwort zu: Christian Mondoloni, CORSE – Renaissance d’une nation, 2012, S. 14f.<br />

12 „Natürlicher Gegner ist <strong>die</strong> dominierende Nation, nicht ein Europa ohne eigene kulturelle<br />

Dimension.“, Hermant, Nationalismes et construction européenne.<br />

13 „Die Geschichte der Industrialisierung <strong>Korsika</strong>s ist kurz und chaotisch“, Le musée de la Corse,<br />

Corte<br />

14 Zwischen 2007 und 2013 erhielt <strong>Korsika</strong> insgesamt 265 Millionen Euro, womit es zu den am<br />

stärksten subventionierten Territorien Franreichs gehört, Gaillard, Corsa Nostra, S. 45.<br />

! 9


touristische Potenzial ist immens! 15 Auch IT-Firmen könnten sich auf <strong>Korsika</strong><br />

ansiedeln. Gerade in unserer Generation <strong>wer</strong>den doch auch Arbeitsumgebung und<br />

Freizeitangebot zunehmend wichtiger“, ist Tumansgiu D’Orazio überzeugt, Jahrgang<br />

1989 und seit fünf Jahren Delegierter für korsische Sprache und Kultur im Rathaus<br />

von <strong>Ajaccio</strong>.<br />

Die Nationalisten wollen bei <strong>die</strong>sem wirtschaftlichen Potenzial ansetzen und <strong>Korsika</strong><br />

zu größerer politischer und ökonomischer Selbstständigkeit verhelfen. Mangels<br />

gesetzgeberischer Kompetenzen stehen sie dabei allerdings vor der<br />

Herausforderung, eine außerparlamentarische Opposition zu sein, <strong>die</strong> sich zunächst<br />

ein Parlament schaffen muss. Hierfür muss <strong>die</strong> französische Verfassung geändert<br />

<strong>wer</strong>den (s.o.).<br />

Das Ziel ist also klar. Allein über <strong>die</strong> Mittel, sich in <strong>Paris</strong> Gehör zu verschaffen,<br />

besteht innerhalb der korsischen Unabhängigkeitsbewegung noch Uneinigkeit.<br />

Korsischer Nationalismus? Das ist doch alles nur<br />

organisiertes Verbrechen unter dem Deckmantel der Politik!<br />

Fabien, bretonischer Küstenwächter und Zöllner<br />

Bei uns gibt es mehr Attentate als anderswo:<br />

niemals aber haben <strong>die</strong>se Verbrechen einen unrühmlichen Grund.<br />

Wir haben viele Morde, das stimmt. Aber keinen einzigen Diebstahl.<br />

Prosper Mérimée, Colomba<br />

<strong>Mafia</strong>, Morde und Gewalt<br />

„Auf <strong>Korsika</strong> ist <strong>die</strong> <strong>Mafia</strong> am Werk!“, erkannte der französische Premierminister<br />

Jean-Marc Ayrault im November 2012 nach dem gewaltsamen Tod Jacques Nacers,<br />

des Präsidenten der Industrie- und Handelskammer Südkorsikas. Dem Nationalisten<br />

Sebastien Quenot zufolge ist <strong>die</strong>s ein relativ neues Phänomen, das erst in den<br />

letzten Jahrzehnten auf <strong>die</strong> Insel gelangte. <strong>Mafia</strong>-Erfahrung wiederum hatten einige<br />

Korsen schon länger: <strong>die</strong> legendäre „French Connection“, ein transatlantischer<br />

Drogenring, der in den 1960er und 1970er Jahren gewissermaßen <strong>die</strong> Brücke<br />

zwischen der sizilianischen Cosa Nostra und deren amerikanischen Ablegern<br />

darstellte, rekrutierte sich fast ausschließlich aus Korsen. Seit auf <strong>Korsika</strong><br />

zunehmend Geld zu machen ist, kam nun auch das organisierte Verbrechen auf <strong>die</strong><br />

Insel. Glücksspiel, Drogen und vor allem das von touristischen Bauvorhaben<br />

profitierende Immobiliengeschäft versprechen hohe Renditen für solche<br />

Geschäftsleute, <strong>die</strong> es mit Recht und Moral nicht so genau nehmen.<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

15 Später fügte er hinzu: „Und <strong>Ajaccio</strong> ist ja auch noch Geburtsstadt Napoleons – immerhin der<br />

bekanntesten Person nach Jesus Christus!“<br />

! 10


Denn im Zentralstaat Frankreich gibt es keinen gewählten Gemeinderat, der darüber<br />

entscheidet, ob Ackerland zu Bauland wird (und damit je nach Lage pro Hektar um 1<br />

bis 2 Millionen Euro an Wert gewinnt), sondern <strong>die</strong>se Macht liegt allein beim<br />

Bürgermeister. In der Einflussnahme auf den Bürgermeister sind einige Korsen<br />

kreativ und zuweilen nicht besonders zimperlich: organisierte Banden – am<br />

bekanntesten wohl „Brise de Mer“ 16 , „Petit Bar“ 17 und „Bergers de Venzolasca“ –<br />

schreiben nötigenfalls Drohbriefe, setzen Scheunen in Brand „oder erschießen den<br />

Bürgermeister selbst oder eine ihm sonst nahestehende Person. Entscheidend ist <strong>die</strong><br />

Drohkulisse!“, so Quenot. Rund 20 Morde und ebenso viele Mordversuche gebe es<br />

jährlich auf <strong>Korsika</strong>. „Und wenn dann der Eine den Zuschlag erhält und ein großes<br />

Haus für Leute vom Festland baut, jagt der Andere aus Neid das fertige Haus in <strong>die</strong><br />

Luft.“ Und <strong>die</strong> Polizei unternehme nichts dagegen, obwohl bei 300.000 Einwohnern<br />

<strong>die</strong> Suche nach den Tätern eigentlich nicht unmöglich sein sollte: „Rechnet man <strong>die</strong><br />

Frauen raus und dann alle Einwanderer, dann bleiben kaum 20.000 Korsen zwischen<br />

20 und 40 übrig. Und davon müssten <strong>die</strong> dann nur noch <strong>die</strong>jenigen mit Familie, Beruf<br />

und Perspektive abziehen et voilà!“<br />

Trotzdem <strong>wer</strong>de den Tätern nicht das Hand<strong>wer</strong>k gelegt – es bestehe einfach kein<br />

politischer Wille, <strong>die</strong> <strong>Mafia</strong> zu bekämpfen, behauptet Quenot. Im Gegenteil: zur<br />

Anfangszeit des Nationalismus in den Siebzigern und Achtzigern habe <strong>die</strong> Polizei<br />

sogar mit der <strong>Mafia</strong> zusammengearbeitet, um Mitglieder der FLNC zu fassen. 18<br />

Heute sieht der französische Staat das ein bisschen anders: nach dem Mord an dem<br />

in südkorsische Immobiliengeschäfte verwickelten Anwalt Antoine Sollacaro im<br />

Oktober 2012 kündigte Premierminister Ayrault schließlich an, „den Kampf gegen<br />

das organisierte Verbrechen zu verstärken“. Und als ein halbes Jahr später im April<br />

2013 dann auch noch Jean-Luc Chiappiani, Präsident des Nationalparks <strong>Korsika</strong>s<br />

und Herr über ein Personalbudget in Millionenhöhe, das er großzügig und zuzüglich<br />

Spesen an Mitarbeiter und Aufsichtsrat verteilte 19 , mit drei Kopfschüssen getötet<br />

wurde, glaubte der französische Innenminister Manuel Valls in <strong>die</strong>ser Tat ein<br />

erneutes Zeichen der „in der korsischen Kultur verwurzelten Gewalt“ 20 zu erkennen.<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

16 verwickelt in sieben von zehn Bauprojekte, Gaillard, Corsa Nostra, S. 86.<br />

17 unter Anleitung eines Veteranen der „French Connection“, Gaillard, Corsa Nostra, S. 10.<br />

18 So wird ein korsischer Polizist zitiert: „Zwischen 1975 und 1983 [...] hatten wir Befehl, uns allein um<br />

<strong>die</strong> FLNC zu kümmern“, Canard enchaîné, Corsa Nostra, S. 29.<br />

19 Gaillard, Corsa Nostra, S. 87.<br />

20<br />

Die Corsica Libera empfand <strong>die</strong>sen Kommentar als „unangemessen, um nicht zu sagen<br />

unqualifiziert“, Lucciardi, U Ribombu Internaziunale, 08/2013, S. 4.<br />

! 11


Hier ist es sicherer, Mörder zu sein,<br />

als einen abgenutzten Reifen zu haben.<br />

Einwohner von Bonifacio 21<br />

Vor zwei Jahren haben sie mir <strong>die</strong> Apotheke nebenan in <strong>die</strong> Luft gejagt!<br />

Und aufgeklärt wurde das natürlich nie...<br />

Ulrich Bäcker, Arzt aus Deutschland, der seit vier Jahren auf <strong>Korsika</strong> arbeitet<br />

Mit der Aufklärung von Verbrechen tut <strong>die</strong> Polizei auf <strong>Korsika</strong> sich jedoch sch<strong>wer</strong>.<br />

Jeder kennt jeden auf der Insel und obwohl dadurch auch <strong>die</strong> Identität der Täter<br />

häufig allgemein bekannt ist, bleibt Blut doch immer dicker als Wasser: man hält<br />

zusammen, ist miteinander verwandt oder verschwägert; <strong>die</strong> Grenze zwischen<br />

Verbrechern und ihren Verfolgern wird als „porös“ 22 bezeichnet und einige Polizisten,<br />

<strong>die</strong> früh in Rente gehen, finden auffallend schnell Beschäftigung in Aufsichtsräten der<br />

lokalen Glücksspielindustrie, <strong>die</strong> sie kurz zuvor noch überwachen sollten. 23 Unlängst<br />

wurde der Anwalt Pascal Garbarini von seinem wegen Mordes angeklagten<br />

Mandanten vor Gericht mit Küsschen begrüßt – sie stammten aus dem gleichen Dorf<br />

und hatten in ihrer Kindheit gemeinsam Fußball gespielt. 24<br />

Für <strong>die</strong> obersten Ordnungshüter vom französischen Festland ist <strong>die</strong>ses Geflecht von<br />

Familien, Beziehungen und „Ehre“ auf <strong>Korsika</strong> oftmals unverständlich und schier<br />

undurchdringlich. Aufgeben dürfen sie jedoch nicht: „Wenn es um <strong>die</strong> <strong>Mafia</strong> geht,<br />

dann heißt es, das sei ein korsisches Problem, aber den Separatisten wird wieder<br />

gesagt, <strong>Korsika</strong> gehöre zu Frankreich. Das ist doch scheinheilig!“, empört sich<br />

Sebastien Quenot. Er fasst <strong>die</strong> Gefahr <strong>die</strong>ser zentralstaatlichen Grundeinstellung<br />

folgendermaßen zusammen: wenn auf den Staatsapparat offensichtlich kein Verlass<br />

sei, greifen <strong>die</strong> Menschen eben in alter Tradition der Vendetta zur Selbstjustiz. 25<br />

Der Rechtsstaat hat es nicht leicht auf <strong>Korsika</strong>.<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

21 über <strong>die</strong> Aufklärungsrate von Verbrechen, Gaillard, Corsa Nostra, S. 7.<br />

22 Gaillard, Corsa Nostra, S. 32.<br />

23 Gaillard, Corsa Nostra, S. 30.<br />

24 ebenso das Opfer!, vgl. Gaillard, Corsa Nostra, S. 36f.<br />

25 „Unter Umgehung des Notars findet ein wahrer Erbfolgekrieg statt“, meint so Pascal Garbari,<br />

Gaillard, Corsa Nostra, S. 37.<br />

! 12


Die Korsen waren schon immer Insulaner und Bergvolk zugleich.<br />

Gloguen, Le Routard – Corse<br />

Menschliches<br />

Manche behaupten, Begegnungen seien das Salz in der Suppe des Reisens. Das<br />

stimmt nicht. Sie sind das Wasser. Eine Auswahl:<br />

Immigration<br />

Freitag, der 19. Juli 2013<br />

"Und <strong>die</strong> Nationalisten haben Dich jetzt hergeschickt, um uns rauszuschmeißen, oder<br />

wie?", fragt mich Natacha, Immigrantin aus Madagaskar, <strong>die</strong> mit ihrer Mutter und<br />

zwei Kindern in den Salises wohnt, einem Projekt für sozialen Wohnungsbau in<br />

einem Vorort von <strong>Ajaccio</strong>. Der Vater ihrer Kinder ist da, wo der Pfeffer wächst. Zum<br />

Glück kann ich Natacha schnell beruhigen: <strong>die</strong> Nationalisten sind im Moment eher<br />

auf <strong>die</strong> Kontinentalfranzosen aus als auf ihre kolonialen Leidensgenossen. Ganz von<br />

ungefähr kommt ihre Angst allerdings nicht. Vor gut zehn Jahren jagte <strong>die</strong> autonome<br />

Splittergruppe Clandestini Corsi Häuser marokkanischer und portugiesischer<br />

Einwanderer in <strong>die</strong> Luft 26 und häufig begegnet man dem Grafittislogan "Arabi fora!" -<br />

korsisch für "Araber raus!" Bei der<br />

letzten Präsidentschaftswahl im April<br />

2012 erzielte <strong>die</strong> Front National von<br />

Marine Le Pen auf <strong>Korsika</strong> mehr<br />

Stimmen als der spätere Präsident<br />

François Hollande 27 . Nach Ansicht<br />

des Redakteurs Jean-Marc Raffaelli<br />

ist <strong>die</strong>s jedoch weniger eine<br />

Besonderheit der Nationalisten,<br />

sondern auf <strong>Korsika</strong> gebe es eben<br />

genauso Rassismus wie überall<br />

anders auch.<br />

Diese Meinung teilt jedenfalls Antha,<br />

<strong>die</strong> beste Freundin von Natacha und<br />

ebenfalls aus Madagaskar. Jeden<br />

Sommer „macht sie Saison“ und verkauft afrikanische Produkte auf dem Markt in<br />

<strong>Ajaccio</strong>. Von den korsischen Separatisten hat sie noch nie gehört. – „Jetzt komme<br />

ich seit Jahren nach <strong>Korsika</strong> und Du bringst mir hier noch was Neues bei!“<br />

Gern geschehen.<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

26 Gaillard, Corsa Nostra, S. 65. Dies bedeutet jedoch nicht, dass <strong>die</strong> korsischen Nationalisten<br />

unbedingt als politisch rechts einzuordnen sind. Traditionell ist eher das Gegenteil der Fall, vgl. Fazi,<br />

The Western Mediterranean islands and the many faces of independentism, S. 478.<br />

27 Der französische Präsident wird vom Volk alle fünf Jahre in zwei Wahlgängen direkt gewählt, vgl.<br />

auch Vogel, Charakteristika des politischen Systems, In: Informationen zur politischen Bildung -<br />

Frankreich, S. 38.<br />

! 13


Integrität<br />

Montag, der 22. Juli 2013<br />

"Die Korsen sind stolz auf sich und zu Recht!", glaubt Stephane. Der 37jährige<br />

pinzutu (<strong>die</strong> korsische Bezeichnung für Festlandfranzosen 28 ) ist von Beruf Bäcker,<br />

versucht sich in <strong>die</strong>sem Sommer in der Heimat seines Vaters aber einmal als<br />

Eismacher. Stephane ist homosexuell und war ungewollt jahrelang alleinerziehender<br />

Vater zweier Kinder. Das mit der Tochter sei eben irgendwie passiert, <strong>die</strong> Mutter im<br />

<strong>Paris</strong>er Drogensumpf verschwunden und zu seiner Tochter habe Stephane<br />

inzwischen auch keinen Kontakt mehr, seit sie ihm vor einigen Jahren seinen<br />

damaligen Freund ausspannte. „Und damals war sie erst 14!“ Religion ist für<br />

Stephane Opium fürs Volk, ansonsten war er Opiaten aber Zeit seines Lebens<br />

durchaus zugeneigt. Nach Marokko solle ich mal fahren, rät er mir, in das Land von<br />

Drogen und Prostitution. Stephanes Vater ist erzkonservativer Korse aus Calvi, für<br />

den <strong>die</strong> Familie über allem steht. Dies geht so weit, dass er sich mehrfach auch<br />

diskussionslos hinter seinen Sohn stellte, als <strong>die</strong>ser von homophoben<br />

Familienfreunden malträtiert wurde. „Mein Vater ist ein feiner Kerl“, sagt Stephane.<br />

Das sei etwas sehr Korsisches. Man halte hier eben noch zusammen. „Aus dem<br />

Grund ist <strong>Korsika</strong> auch <strong>die</strong> einzige Region Frankreichs, aus der im Zweiten Weltkrieg<br />

kein einziger Jude deportiert wurde. Die haben sich einfach geweigert, ihre Nachbarn<br />

zu verraten!“ 29<br />

Isolation<br />

Montag, der 5. August 2013<br />

"Ach, Du bist also der Held?!", wurde Jean-Philippe von einem alten Mann auf der<br />

Straße begrüßt, als er 2004 das Gefängnis verließ. Dort hatte er sechs Jahre<br />

verbüßt, war früher rausgekommen wegen guter Führung. Zu zehn Jahren hatte man<br />

ihn verurteilt, weil er Anschläge auf dem französischen Festland geplant und<br />

durchgeführt hatte. Auf Gerichtsgebäude, <strong>die</strong> Eliteuniversität École nationale<br />

d’Administration (ENA) in Straßburg – Statussymbole der französischen<br />

Kolonialmacht eben. "Und auf <strong>die</strong>se Begrüßung warst Du stolz?" – "Ja", grinst Jean-<br />

Philippe, "natürlich!"<br />

Inzwischen leitet Jean-Philippe ein Reisebüro und ist begeisterter Hobby-Archäologe.<br />

In der Bergregion Niolo führt er mich durch seine aktuelle Ausgrabungsstätte. Mit<br />

einer Gruppe von Archäologiestudenten und sonstigen Interessierten gräbt er sich<br />

bis in <strong>die</strong> korsische Frühgeschichte. „Dieses Dorf hier entstand im Neolithikum.<br />

<strong>Korsika</strong> wurde vor mindestens 10.500 Jahren besiedelt.“ Außerdem ist er<br />

Vorstandsmitglied der Separatistenpartei Corsica Libera und Präsident der Sulidarità,<br />

einer Vereinigung zur Unterstützung der politischen Gefangenen <strong>Korsika</strong>s. Davon<br />

gebe es derzeit etwa 25, <strong>die</strong> für diverse Delikte säßen, wie unerlaubten Waffenbesitz<br />

oder Anschläge. „Hauptsächlich aber einfach deshalb, weil sie Korsen sind!“, meint<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

28 Der Ausdruck geht zurück auf <strong>die</strong> spitzen Hüte französischer Soldaten im 18. Jahrhundert.<br />

29 Dies stimmt tatsächlich, s. auch Goaguen, Le Routard – Corse, S. 53. Viele korsische Juden waren<br />

Nachfahren verfolgter Einwanderer aus Italien, <strong>die</strong> Neuhoff und Paoli im 18. Jahrhundert auf <strong>die</strong> Insel<br />

einluden.<br />

! 14


Jean-Philippe. In den letzten acht Jahren habe es auf <strong>Korsika</strong> 80 Morde gegeben,<br />

<strong>die</strong> auf das Konto der <strong>Mafia</strong> gingen. Davon sei ein einziger aufgeklärt worden. „Im<br />

gleichen Zeitraum gab es aber 600 Verurteilungen gegen Nationalisten!“ 30<br />

Auch heute noch bräuchte es mehr politische Anschläge, um den Separatisten<br />

politisches Gehör zu verschaffen. „1992 sind 10.000 nationalistische Demonstranten<br />

in Bastia auf <strong>die</strong> Straße gegangen. Die größte Demonstration der Geschichte<br />

<strong>Korsika</strong>s und kein Schwein hat es interessiert. Ein paar Monate später hat dann <strong>die</strong><br />

FLNC 30 Bombenattentate hintereinander verübt und plötzlich waren wir dann in<br />

allen Zeitungen!“<br />

Seit dem Attentat auf den<br />

damaligen Präfekten Frankreichs<br />

Claude Erignac 1998 seien<br />

Menschen allerdings nicht mehr<br />

Ziel der Nationalisten. Die<br />

Anschläge richteten sich eher wie<br />

bei ihm damals gegen<br />

Statussymbole des Staates:<br />

Gerichtsgebäude, Polizeigebäude,<br />

<strong>die</strong> Post, Banken. Und gegen<br />

Luxusvillen, mit denen reiche<br />

Franzosen <strong>Korsika</strong>s schöne Küste<br />

verschandeln. „Da verwischen<br />

dann schon <strong>die</strong> Grenzen zwischen<br />

Anschlägen der Nationalisten und<br />

denen der <strong>Mafia</strong>“, gibt Jean-<br />

IFF – I Francesi Fora („Franzosen raus!“)<br />

FLNC – Front de libération nationale de la Corse<br />

GI - Ghjuventù Independentista („unabhängige Jugend“)<br />

Philippe zu und tatsächlich haben<br />

im Laufe der Jahre bei<br />

gleichbleibenden Mitteln einige<br />

ursprünglich nationalistische<br />

Bombenleger ihre Ziele ausgetauscht.<br />

„Aber <strong>die</strong> FLNC schützt mit ihren Anschlägen noch immer nicht <strong>die</strong><br />

Interessen bestimmter Personen, sondern unsere Küste.“ Insgesamt habe <strong>die</strong> Zahl<br />

der nationalistisch gesinnten Anschläge seit der Politisierung der separatistischen<br />

Bewegung in den letzten Jahren aber abgenommen. Ob er denn heute noch vorher<br />

Bescheid wüsste, wann und wo Anschläge verübt <strong>wer</strong>den, frage ich ihn. – „Wenn ich<br />

jetzt ‚Ja.’ sage, dann hieße das, ich sei Mitglied der FLNC...“<br />

Als Mitglied der Corsica Libera ist Jean-Philippe inzwischen offen politisch aktiv und<br />

kann Anschläge nur mehr ideell unterstützen. „Franzosen raus!“, skan<strong>die</strong>rt er auf<br />

dem Parteitag der Corsica Libera und erhält dafür pflichtschuldigen Beifall vom<br />

Publikum. Vor mir raunt ein Mädchen ihrer Nachbarin zu: „Und das, obwohl seine<br />

Frau doch aus Marseille kommt...“<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

30 Eine Anwältin aus Bastia, Angehörige einer Vereinigung nationalistisch gesinnter Anwälte, sprach<br />

auf den Journées internationales in Corte von einer wahren „Menschenjagd“ auf Angehörige der<br />

Ghjuventù Independentista vor allem in den letzten Monaten vor der Tour de France, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>sem<br />

Jahr auf <strong>Korsika</strong> begann. Jugendliche erhielten Vorstrafen für Bagatellen wie das Aufhängen<br />

nationalistischer Poster und setzten damit auch ihre Karriere aufs Spiel. – „Und <strong>die</strong> Jungs waren auch<br />

von der Brise de Mer bedrängt worden, bei ihnen Mitglied zu <strong>wer</strong>den!“<br />

! 15


Auf weite Sicht geht nur Aufklärung der Bevölkerung und Kampf um Mehrheiten.<br />

Theologe Helmut Gollwitzer in Dokumentarfilm über Rudi Dutschke<br />

Fazit<br />

Entgegen meiner Befürchtung droht Europa vorerst wohl keine Renationalisierung,<br />

<strong>die</strong> in den Regionen beginnt. Separatisten aus unterschiedlichen abtrünnigen<br />

Regionen Westeuropas sprachen Anfang August in Corte vielmehr gar von einer Art<br />

„EU-Westerweiterung“ durch <strong>die</strong> Abspaltung neuer Nationen. Regionalisierung und<br />

Europäisierung schließen sich also nicht aus. 31 Gerade in der Eurokrise könnte eine<br />

Schwächung der Nationalstaaten zugunsten einzelner Regionen sogar eine Chance<br />

für <strong>die</strong> EU als supranationale Organisation bedeuten. Dass hierbei ein Konsens<br />

zwischen immer mehr Wortführern gefunden <strong>wer</strong>den muss, ist Teil des<br />

Entwicklungsprozesses der EU. Maßgeblich begründet durch <strong>die</strong> einstigen Erzfeinde<br />

Frankreich und Deutschland, war <strong>die</strong> doch EU von Anbeginn ein Kompromiss. Und<br />

<strong>die</strong>s seit über 60 friedlichen Jahren ein recht erfolgreicher.<br />

Und dennoch ist im Falle <strong>Korsika</strong>s ein wenig Realismus angebracht: <strong>die</strong> Demokratie<br />

ist ein Spiel, in dem es bei jeder Wahl Gewinner und Verlierer gibt. Eine<br />

Unabhängigkeit <strong>Korsika</strong>s ist jetzt und auf absehbare Zeit nicht mehrheitsfähig.<br />

Gefragt ist also auch ein Kompromiss innerhalb der nationalistischen Bewegung.<br />

Selbst Separatistenführer Jean-Guy Talamoni erkannte <strong>die</strong>s bei den Journées<br />

internationales: „Was uns eint ist wichtiger als was uns unterscheidet.“, sagte er an<br />

<strong>die</strong> anwesenden Autonomen gewandt, aber auch an all seine Kollegen in der<br />

Assemblée Corse, <strong>die</strong> also gemeinsam mit politischen Mitteln und demokratisch<br />

legitimiert für größere Freiheiten innerhalb Frankreichs streiten müssen. Wenn sich<br />

<strong>die</strong>se Einsicht eines Tages auch auf <strong>die</strong> Sinnlosigkeit politisch motivierter Gewalt<br />

erstreckt, wären <strong>die</strong> Beteiligten um existenzielle Sorgen erleichtert: Franzosen,<br />

Europäer und allen voran <strong>die</strong> Korsen selbst.<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

31 Europa wird durch Geheimorganisationen nicht bedroht, weil <strong>die</strong>se es nicht auf dem Schirm haben,<br />

Hermant, Nationalismes et construction européenne.<br />

! 16


Le soleil a tant fait l’amour à la mer<br />

qu’ils ont fini par enfanter la Corse.<br />

Antoine de Saint-Exupéry, Essais<br />

Reisen auf <strong>Korsika</strong><br />

<strong>Korsika</strong> ist ein wunderschönes Reiseziel.<br />

Das Wasser ist blau wie an der Côte<br />

d’Azur und kristallklar noch dazu. Die<br />

Natur ist unglaublich vielseitig – alpines<br />

Hochgebirge um Corte verwandelt sich<br />

zwei Täler weiter im Niolo in eine zerklüftete Marslandschaft, Weinberge am Cap<br />

Corse gehen über in eine trockene Wüste, in der es kaum Pflanzen, geschweige<br />

denn Häuser gibt. Bäche und Seen laden im Inland zum Baden ein und überall in<br />

greifbarer Nähe an der Küste finden sich einsame Buchten mit Kies- und<br />

Sandstränden, <strong>die</strong> großteils noch genauso unverbaut sind wie vor hundert Jahren –<br />

nicht zuletzt aufgrund der Anschläge der FLNC, <strong>die</strong> in den Achtzigern <strong>die</strong> Baulöwen<br />

des westlichen Mittelmeers abschreckte. Im Vergleich zum französischen Festland<br />

ist <strong>die</strong> Insel zwar recht teuer, allen Anschlägen zum Trotz in der Touristensaison im<br />

Juli und August aber sehr sicher – Rechnungen <strong>wer</strong>den auf <strong>Korsika</strong> im Winter<br />

beglichen. Ohne französische Sprachkenntnisse und fahrbaren Untersatz ist das<br />

Reisen auf <strong>Korsika</strong> allerdings etwas besch<strong>wer</strong>lich. Erstere konnte ich zum Glück<br />

vorweisen, ein Auto aber nicht. Und <strong>die</strong> Insel ist größer als man denkt! Also musste<br />

ich für alle längeren Strecken per Anhalter fahren, was dann aber erstaunlich gut<br />

ging und immer wieder zu interessanten neuen Bekanntschaften führte. Die Korsen<br />

wussten um <strong>die</strong> mangelhafte Infrastruktur in ihrem Land und <strong>die</strong> Touristen waren<br />

meist gut gelaunt und freuten sich über <strong>die</strong> Gespräche, <strong>die</strong> sich auf der Fahrt<br />

entwickelten. Die einen wie <strong>die</strong> anderen halfen mir sehr bei der Recherche.<br />

Saint Antonino im Norden <strong>Korsika</strong>s.<br />

!<br />

! 17


Literaturverzeichnis bzw. Lektüreempfehlungen:<br />

de Maupassant, Guy<br />

de Maupassant, Guy<br />

de Maupassant, Guy<br />

Dumas, Alexandre<br />

Fazi, André<br />

Gaillard, Michel (Hrsg.)<br />

Histoire Corse<br />

Le Bonheur<br />

Une vendetta<br />

Les Frères Corses<br />

The Western Mediterranean islands and<br />

the many faces of independentism,<br />

Commonwealth & Comparative Politics,<br />

50:4, S. 474-493.<br />

Corsa Nostra, Les dossiers du Canard<br />

enchaîné, 07/2013<br />

Gloaguen, Philippe (Hrsg.) Le Routard – Corse, 2013<br />

Hermant, Daniel Nationalismes et construction européenne,<br />

Cultures et Conflits n° 7, 1992.<br />

Hesse, Christine (verantw. Redakteurin) Informationen zur politischen Bildung –<br />

Frankreich, Nr. 285/2004<br />

Lucciardi, Jean-Bapstiste (Hrsg.) U Ribombu Internaziunale, 08/2013,<br />

Zeitschrift der Partei Corsica Libera<br />

Mérimée, Prosper<br />

Mérimée, Prosper<br />

Colomba<br />

Matteo Falcone<br />

! 18

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