PDF Download - Kindergarten und Schule in Südtirol
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Thema<br />
Beziehungsgestaltung aus Sicht der Lernforschung<br />
Geme<strong>in</strong>sam zu Höchstleistungen<br />
Warum Lehrpersonen nicht unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en Dirigentenstab brauchen, es manchmal besser ist, die Methodenkiste nicht<br />
auszupacken <strong>und</strong> was h<strong>in</strong>ter dem von ihm geprägten Begriff „lernseitig“ zu verstehen ist – Bildungswissenschaftler<br />
Michael Schratz im Interview.<br />
Herr Schratz, Sie vergleichen die Rolle der<br />
Lehrperson gerne mit der e<strong>in</strong>es Dirigenten.<br />
Wie schafft es Lehrer<strong>in</strong> <strong>und</strong> Lehrer, aus der<br />
Klasse e<strong>in</strong> harmonisches Orchester zu bilden?<br />
Michael Schratz: Zuerst e<strong>in</strong>mal benötigt die<br />
Lehrperson Verständnis <strong>und</strong> Wertschätzung<br />
für jeden E<strong>in</strong>zelnen <strong>und</strong> jede E<strong>in</strong>zelne im Orchester.<br />
Von jedem K<strong>in</strong>d weiß sie, was es besonders<br />
gut kann <strong>und</strong> wo es Unterstützung<br />
braucht. Dann benötigt die Lehrperson natürlich<br />
gute Stücke, die die „Musiker<strong>in</strong>nen<br />
<strong>und</strong> Musiker“, also die Lernenden, <strong>in</strong>teressieren.<br />
Und die Lehrperson muss e<strong>in</strong>e Vision<br />
des Stückes haben, das heißt e<strong>in</strong>e Vorstellung<br />
des Ergebnisses, das das Orchester<br />
aufführen wird, e<strong>in</strong>e Bewusstheit für den<br />
Klang, das Zusammenspiel, die Pausen, den<br />
Takt, das Tempo. Allerd<strong>in</strong>gs geht es bei me<strong>in</strong>em<br />
Vergleich mit e<strong>in</strong>em Dirigenten eher um<br />
die Schulleitung, denn diese muss dazu fähig<br />
se<strong>in</strong>, alle, die am System <strong>Schule</strong> beteiligt<br />
s<strong>in</strong>d, zu geme<strong>in</strong>samen Höchstleistungen zu<br />
führen. Selbstverständlich sollen auch<br />
Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler lernen, mite<strong>in</strong>ander<br />
im Takt <strong>und</strong> Tempo zu se<strong>in</strong>: die viel gelobte<br />
Teamfähigkeit, die Fähigkeit, Rücksicht<br />
zu nehmen auf den anderen, sich anzupassen,<br />
ohne sich selbst dabei aufzugeben.<br />
Um beim Bild des Dirigenten zu bleiben:<br />
Viele Lehrer<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Lehrer schwören darauf,<br />
von Beg<strong>in</strong>n an resolut den Dirigentenstab<br />
zu schw<strong>in</strong>gen, um Diszipl<strong>in</strong>problemen<br />
vorzubeugen. Ist das e<strong>in</strong> probates Mittel?<br />
Michael Schratz: Na ja, es gibt auch Dirigenten<br />
wie Nicolaus Harnoncourt, die überhaupt<br />
ke<strong>in</strong>en Dirigentenstab benützen <strong>und</strong> dennoch<br />
die berühmtesten Orchester dirigieren.<br />
Aber es geht nicht wirklich um den Taktstock,<br />
sondern es geht um die Haltung dah<strong>in</strong>ter<br />
– also um das Wie des Dirigierens.<br />
Und Grenzen setzen ist e<strong>in</strong>e Kunst – Menschen,<br />
K<strong>in</strong>der, wir alle benötigen Grenzen<br />
als Orientierung. Es geht nicht um das<br />
Nicht-Setzen von Grenzen, sondern um das<br />
Verständnis dah<strong>in</strong>ter: Wozu sollen Grenzen<br />
dienen, wie setze ich sie? Setze ich sie so,<br />
dass sie Lernen <strong>und</strong> Entwicklung ermöglichen,<br />
oder so, dass sie demotivieren, strafen,<br />
nicht nachvollziehbar s<strong>in</strong>d? Alle K<strong>in</strong>der<br />
<strong>in</strong> der Klasse haben Bedürfnisse <strong>und</strong> wollen<br />
lernen, sie drücken dies aber meist auf unterschiedliche<br />
Art aus. Daher benötigen<br />
Lehrer<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Lehrer die Fähigkeit, auf<br />
die e<strong>in</strong>zelnen K<strong>in</strong>der <strong>in</strong>dividuell e<strong>in</strong>zugehen,<br />
deren Stärken zu stärken, ihre Ressourcen<br />
zu wecken <strong>und</strong> zu fördern. Sie benötigen die<br />
Fähigkeit – es ist be<strong>in</strong>ahe e<strong>in</strong>e Kunst, so wie<br />
das Dirigieren, dem e<strong>in</strong>zelnen K<strong>in</strong>d immer<br />
<strong>und</strong> immer wieder zu zeigen – du bist ok, du<br />
hast Fähigkeiten <strong>und</strong> die kannst du entwickeln,<br />
<strong>und</strong> ich b<strong>in</strong> dazu da, dich dabei zu unterstützen.<br />
Gleichzeitig muss die Lehrperson<br />
der Schüler<strong>in</strong> oder dem Schüler respektvoll<br />
aufzeigen, wenn bestimmte<br />
Verhaltensweisen dem E<strong>in</strong>zelnen oder der<br />
Geme<strong>in</strong>schaft – <strong>in</strong> der Klasse, <strong>in</strong> der <strong>Schule</strong><br />
aber auch <strong>in</strong> der Gesellschaft – eben nicht<br />
zuträglich s<strong>in</strong>d.<br />
Langjährig tätige Pädagog<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Pädagogen<br />
bestätigen mir, dass sie trotz ihrer<br />
Erfahrung immer wieder vor schwierigen<br />
Situationen stehen, etwa wenn Schüler<strong>in</strong>nen<br />
<strong>und</strong> Schüler sehr unmotiviert s<strong>in</strong>d. Was können<br />
Sie ihnen raten, wenn ihr pädagogischdidaktisches<br />
Repertoire erschöpft ist?<br />
Michael Schratz: Leider gibt es da ke<strong>in</strong>e<br />
Standardlösung. Aus unserer Vignettenforschung<br />
wissen wir, <strong>und</strong> auch die Studie von<br />
Hattie bestätigt das, dass oftmals gerade das<br />
„didaktisch-pädagogische“ Repertoire nicht<br />
wirklich hilft, denn dann stehen die Methoden<br />
<strong>und</strong> der Inhalt im Vordergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> nicht<br />
das K<strong>in</strong>d mit se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen Lernbedürfnissen.<br />
Im besten Glauben bemühen sich<br />
Lehrer<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Lehrer <strong>und</strong> greifen tief <strong>in</strong><br />
die Methodenkiste – nur Methoden alle<strong>in</strong>e<br />
leiten nicht zum Lernen an. Lernen ist etwas,<br />
das e<strong>in</strong>em „widerfährt“ – e<strong>in</strong>e Erfahrung.<br />
Methoden verh<strong>in</strong>dern das oftmals, weil sie<br />
für alle K<strong>in</strong>der meist das gleiche Tempo, die<br />
gleiche Herangehensweise, den gleichen<br />
Schritt zum gleichen Zeitpunkt voraussetzen.<br />
Oder aber, wie im offenen Lernen, Schüler<strong>in</strong>nen<br />
<strong>und</strong> Schüler auf sich selbst zurückwirft,<br />
ohne davor die Frage gestellt zu haben: Wozu<br />
soll das, was sie hier lernen sollen, <strong>in</strong> Zukunft,<br />
<strong>in</strong> fünf, <strong>in</strong> zehn Jahren, für diese jungen<br />
Menschen nützlich <strong>und</strong> hilfreich se<strong>in</strong>?<br />
Leider ist <strong>Schule</strong> vielfach noch daran orientiert,<br />
was K<strong>in</strong>der bei der Prüfung zu wissen<br />
haben – <strong>und</strong> nicht daran, was dieses Wissen,<br />
dieses Können im jetzigen <strong>und</strong> im zukünftigen<br />
Leben bewirken sollen.<br />
Sie haben den Begriff „lernseits“ geprägt,<br />
um das Lernen mehr vom K<strong>in</strong>de her <strong>und</strong><br />
weniger aus der Sicht des Lehrenden zu<br />
denken. Was genau me<strong>in</strong>en Sie damit?<br />
Michael Schratz: Lernen ist etwas sehr Persönliches.<br />
Und selbst, wenn ich Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
schaffe, Informationen bereitstelle<br />
– es hängt von jedem E<strong>in</strong>zelnen ab,<br />
was <strong>und</strong> wie er sich darauf e<strong>in</strong>lässt. Das ist<br />
dann das „Lernen“, dieser persönliche Veränderungsprozess<br />
<strong>in</strong> Wissen, Können, Fühlen,<br />
Se<strong>in</strong>. Wir haben <strong>in</strong> unseren <strong>Schule</strong>n,<br />
nicht nur <strong>in</strong> Österreich, e<strong>in</strong>e lange Tradition,<br />
das Lernen aber aus der Perspektive der<br />
Lehrenden zu denken – so im S<strong>in</strong>ne, wenn<br />
ich das <strong>und</strong> jenes mache, dann bewirkt es<br />
20 November 2013