27.06.2014 Aufrufe

Anorexia nervosa - Schule.at

Anorexia nervosa - Schule.at

Anorexia nervosa - Schule.at

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Triage und Erstinterventionen<br />

bei Jugendlichen mit Essstörungen<br />

Dr. med. Christoph Rutishauser<br />

Universitäts-Kinderklinik Zürich


Vorbemerkung zur Veröffentlichung auf<br />

einer Homepage<br />

Mit der Veröffentlichung dieser Vortragsunterlagen auf der Schulärzte-Homepage<br />

(www.schularzt.<strong>at</strong>) können keine Haftungsansprüche verbunden werden.<br />

Die Vortragsunterlagen dürfen zudem nicht für Drittzwecke verwendet werden. Es<br />

sei darauf hingewiesen, dass die medizinischen Erkenntnisse laufend zunehmen,<br />

so dass die regelmässige Re-Evalu<strong>at</strong>ion des Inhalts dieser Unterlagen nötig ist.<br />

Dr. Ch. Rutishauser


<strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong><br />

Definition<br />

Gewichts“verlust“ mit Untergewicht (< 10. BMI-Pc)<br />

Starke und unangemessene Angst vor Gewichtsanstieg oder<br />

„dick“ zu werden<br />

Gestörte Körperwahrnehmung<br />

Postmenarcheal: sekundäre Amenorrhoe<br />

Subtypen: restriktiv, binge e<strong>at</strong>ing / purging


Bulimia <strong>nervosa</strong><br />

Definition<br />

Wiederholte Essanfälle mit Gefühl des Kontrollverlustes<br />

Wiederholtes kompens<strong>at</strong>orisches Verhalten zur Verhinderung des<br />

Gewichtsanstiegs (z.B. Erbrechen, Medikamente, ↑ körperliche Aktivität)<br />

Dauer < 2h, min. 2x / Wo während mind. 3 Mon<strong>at</strong>en<br />

Krankhafte Furcht vor Dickwerden, ↑ Beschäftigung mit Essen<br />

DSM-IV: Selbstwertgefühl übermässig abhängig von Gewicht / Figur


Klassifik<strong>at</strong>ion<br />

<strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong><br />

Bulimia <strong>nervosa</strong><br />

Atypische Essstörungen<br />

(EDNOS)<br />

Fairburn C, The Lancet 2003; 361:407-16


Prävalenz Essstörungen<br />

<strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong> (Altersgipfel 12-16 J.): 0.7-1% *<br />

Bulimia <strong>nervosa</strong> (Altersgipfel 18-22 J.): 1-2%<br />

Atypische Essstörungen:<br />

Binge E<strong>at</strong>ing Disorder: 1-4%<br />

Subclinical <strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong> / Bulimia <strong>nervosa</strong> ** > 3-6 (-20)%<br />

Mindestens 5-10% der Mädchen / jungen Frauen haben ernsthafte<br />

Essprobleme!<br />

* Verhältnis Mädchen : Knaben ≈ 10-15:1;; ** Verhältnis Mädchen : Knaben ≈ 3:1


Aetiologie<br />

It‘s not just about fashion style...<br />

Sondern meist multifaktoriell:<br />

Genetisch<br />

Physiologisch<br />

Psychologisch (↓Selbstwertgefühl, Perfektionimus, Ängste)<br />

Soziales Umfeld (Peers, Familie, gesellschaftl. Normen)<br />

Trigger-Faktoren


Differentialdiagnose zur <strong>Anorexia</strong><br />

<strong>nervosa</strong><br />

Gastrointestinale Krankh.<br />

Infektionen<br />

Endokrine Störungen<br />

Krankheiten des ZNS<br />

Maligne Krankheiten<br />

ausführliche Anamnese!<br />

körperliche Untersuchung<br />

Psychische Krankh.<br />

Medikamente


Komplik<strong>at</strong>ionen<br />

Metabolisch<br />

Hypothermie, Dehydr<strong>at</strong><strong>at</strong>ion, Elektrolyt-<br />

Störungen, Hypoglykämie<br />

Kardiovaskulär<br />

Arterielle Hypotonie, Bradykardie,<br />

Arrhythmie, Pleura-/ Perikarderguss,<br />

MKPS, plötzlicher Herztod<br />

Neurologisch<br />

ZNS-Atrophie, abnormales EEG,<br />

periphere Neuritis, Konvulsionen<br />

Gastroenterologisch<br />

Obstip<strong>at</strong>ion, Abdominalschmerzen,<br />

verzögerte Magenentleerung,<br />

(Zahnschmelzdefekte, Parotisschwellung)<br />

Häm<strong>at</strong>ologisch<br />

Anämie, Leukopenie, Thrombocytopenie<br />

Endokrin<br />

↓ Gonadotropine, ↓ Oestrogene, ↓<br />

Testosteron, ↓ T3, ↑ Cortisol<br />

Muskulo-skeletär<br />

Osteopenie, Stressfrakturen,<br />

Muskelschwäche<br />

Renal<br />

↑ Harnstoff, ↓ GFR, Proteinurie,<br />

Nephrop<strong>at</strong>hie, Häm<strong>at</strong>urie<br />

Mental<br />

Depression, Suizid


Outcome aller Essstörungen<br />

Vollständige Genesung ca. 50%<br />

Partielle Genesung ca. 25%<br />

Chronischer Verlauf ca. 25%<br />

Mortalität ca. 5%<br />

Beachte: keine wesentliche Änderung des Outcome in den letzten 20 J.!


Screening für <strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong><br />

Stolz auf Diät / Körperfigur?<br />

Enge oder weite Kleider?<br />

Vermeiden von körperbetonenden Aktivitäten (z.B. Aerobic, Schwimmen)?<br />

Beschreibung des eigenen Körpers bzw. Figur?<br />

Bevorzugtes Gewicht?<br />

Nächste Woche 1 kg schwerer sein?<br />

„Verbotene“ Nahrungsmittel?


<strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong><br />

Anamnestisch<br />

Gewichtsverlust, Amenorrhoe<br />

Gedankenfix<strong>at</strong>ion auf Nahrung, gestörte Körperwahrnehmung<br />

Zwanghaftes Verhalten (Essenverhalten, körperliche Aktivität)<br />

Müdigkeit, Muskelschwäche, Schwindel, Kälteintoleranz<br />

Soziale Isol<strong>at</strong>ion, Depression<br />

St<strong>at</strong>us<br />

Bradykardie, orthost<strong>at</strong>. Hypotension, Hypothermie, Acrocyanose<br />

Lanugobehaarung Trockene Haut, Hautverfärbung<br />

Zahnschmelzdefekte


Basis-Laborabklärungen<br />

Oblig<strong>at</strong><br />

Blutbild<br />

Elektrolyte inkl Ca & Mg & Phosphor<br />

Blutglucose<br />

Krea, Transaminasen, Amylase, Eiweiss<br />

Fakult<strong>at</strong>iv<br />

CRP, BSR, Gerinnung<br />

Freies Eisen, Ferritin, Zink<br />

TSH,T4,T3, LH, FSH, Prolaktin, Oestradiol,


Uebrige Abklärungen<br />

Oblig<strong>at</strong><br />

EKG (verlängerte QTc?)<br />

Fakult<strong>at</strong>iv<br />

Echokardiographie (MKPS, Kardiomyop<strong>at</strong>hie, Perikarderguss)<br />

Abdomen-Sonographie (Ovarien, Uterus)<br />

CT / MRI (bei Knaben oblig<strong>at</strong>)<br />

Osteodensitometrie (DEXA)


Vertrauensaufbau<br />

Emp<strong>at</strong>hie<br />

Ambivalenz der P<strong>at</strong>ientin gegenüber Erstkonsult<strong>at</strong>ion / Therapie ansprechen<br />

Sachlichkeit<br />

P<strong>at</strong>ientin so viel Entscheidungsfreiheit wie möglich lassen<br />

Unterstützung st<strong>at</strong>t Bestrafung


Transparenz<br />

Auftragsklärung:<br />

<br />

Auftrag von P<strong>at</strong>ientin und / oder Eltern?<br />

<br />

Ziel: medizin. Notfall verhindern? Krisenintervention? Therapie?<br />

Klare Abmachungen, ev. schriftlich<br />

Familiäre Verantwortlichkeiten klären<br />

Falls Sportverbot: sachliche Begründung, Kriterien für Aufhebung<br />

Hospitalis<strong>at</strong>ionsindik<strong>at</strong>ionen sachlich begründen


Psychoeduk<strong>at</strong>ion<br />

Sachliche Erklärungen über Auswirkungen des Untergewichts auf den<br />

Körper<br />

Falls P<strong>at</strong>ientin keine körperliche Beschwerden empfindet:<br />

Divergenz zwischen fehlenden Beschwerden und „unsichtbaren Schäden“<br />

ansprechen<br />

Die P<strong>at</strong>ientin das Ausmass der Auswirkungen zu Ende denken lassen bis<br />

hin ev. zur Frage, ob die P<strong>at</strong>ientin sterben will<br />

Die „gute“ Nachricht: es gibt eine „Medizin“, und das ist Nahrung…<br />

Transparenz, z.B. betreffend Hospitalis<strong>at</strong>ionsindik<strong>at</strong>ionen


Motiv<strong>at</strong>ionsaufbau<br />

bei Weigerung zu Erstkonsult<strong>at</strong>ion: ev. nur Eltern / Mutter allein...<br />

Nachteile / Vorteile durch P<strong>at</strong>ientin auflisten lassen<br />

P<strong>at</strong>ientin die Konsequenzen möglicher Szenarien zu Ende denken lassen<br />

Wie würde die P<strong>at</strong>ientin ihre anorektische Freundin ber<strong>at</strong>en?<br />

Leben mit/ ohne Krankheit --> wie entscheidet P<strong>at</strong>ientin?<br />

Ev. persönliche Ziele wie Ferien und sportliche Aktivitäten vom Verlauf<br />

abhängig machen


Nahrungsaufbau ambulant<br />

Regelmässige Mahlzeiten (3 HMZ, 2-3 ZMZ)<br />

Steigerung schrittweise nach Absprache (schriftlich festhalten)<br />

Kommunik<strong>at</strong>ion über Menge ohne Kalorienangaben<br />

Mengen nicht abwägen<br />

Ess-Trink-Protokoll<br />

Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente? ( Workshop)


Körperliche Verlaufskontrollen<br />

Initiale Kontrollen 1-2x wöchentlich<br />

Während ambulantem Nahrungsaufbau: Elektrolyte inkl. Phosphor, Mg,<br />

Ca mindestens 1x pro Woche (cave: Refeeding-Sydrom)<br />

BD- / Puls-Messungen liegend u. stehend, Körpertemper<strong>at</strong>ur<br />

Wägen: 1-2x / Woche in Unterwäsche in der Praxis, möglichst gleiche<br />

Tageszeiten


Gewichtmessungen<br />

Tägliches Wägen zuhause untersagen<br />

In der Regel wägen 1 (-2)x wöchentlich in der Sprechstunde<br />

Wägen in Unterwäsche und mit leerer Blase<br />

Messung des spezif. Gewichts im Urin nicht routinemässig<br />

V.a. Manipul<strong>at</strong>ion ansprechen, aber: nicht „Polizist spielen“, weil<br />

1) das ist nicht unser Job<br />

2) Gewichtmanipul<strong>at</strong>ion kommt früher oder später ans Tageslicht


Triage ambulant - st<strong>at</strong>ionär<br />

Hospitalis<strong>at</strong>ions-Indik<strong>at</strong>ionen<br />

Som<strong>at</strong>isch: z.B.<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

kardial: Hf


Triage ambulant – st<strong>at</strong>ionär (2)<br />

Frühzeitige Zuweisung an Fachspezialisten /-Klinik wünschenswert<br />

Primäre Hospitalis<strong>at</strong>ion soweit möglich vermeiden<br />

Falls Hospitalis<strong>at</strong>ion:<br />

<br />

<br />

Einverständnis der P<strong>at</strong>ientin erforderlich?<br />

Wahl der Klinik: medizinisch oder psychi<strong>at</strong>risch?<br />

Falls ambulante Therapie<br />

<br />

<br />

Körper UND Seele berücksichtigen --> interdisziplinäres Setting<br />

Familientherapie ein wichtiges Element der Psychotherapie


Schlussfolgerungen<br />

Wie reagiere ich im Erstkontakt bei V.a. <strong>Anorexia</strong> <strong>nervosa</strong>?<br />

Vertrauensaufbau, Transparenz, Motiv<strong>at</strong>ionsförderung<br />

Wie kann ich die P<strong>at</strong>ientin zur Therapie motivieren?<br />

P<strong>at</strong>ientin ernst nehmen, Konsequenzen überdenken, Vor-/Nachteile auflisten<br />

Welche Erstinterventionen nehme ich vor?<br />

Nahrungsaufbau (regelmässige MZ), Ess-Trink-(Brech-)protokoll, Verantwortlichkeiten klären<br />

Was für Abklärungen nehme ich vor?<br />

Anamnese (!), BD, Puls, EKG, Elektrolyte, übrige Abklärungen individuell<br />

Wann überweise ich die P<strong>at</strong>ientin?<br />

Frühzeitig bei ungenügendem Ansprechen auf Behandlung und Schweregrad der Erkrankung

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!