Rot-graue Blätter - Die Schriftleitung

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ot-graue blätter internetschrift der pfadfinderschaft grauer reiter 003 Die Ausgabe Nummer drei ist dem chilenischen Dichter Pablo Neruda gewidmet, der am 12. Juli 2004 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Geboren wurde er als Sohn eines Eisenbahners in Parral und starb am 23. September 1973 in Santiago de Chile . . .

ot-<strong>graue</strong> blätter<br />

internetschrift der<br />

pfadfinderschaft <strong>graue</strong>r reiter<br />

003<br />

<strong>Die</strong> Ausgabe Nummer drei ist dem chilenischen<br />

Dichter Pablo Neruda gewidmet, der<br />

am 12. Juli 2004 seinen 100. Geburtstag<br />

gefeiert hätte. Geboren wurde er als Sohn<br />

eines Eisenbahners in Parral und starb am<br />

23. September 1973 in Santiago de Chile . . .


ot-<strong>graue</strong> blätter<br />

nummer 003


Inhalt<br />

Vorwort 5<br />

Kurzbiografie 6<br />

Über den Dichter 8<br />

Gedichte 16<br />

Auf der Rückseite sind Präsident Salvador Allende und Pablo Neruda zu<br />

sehen. Ebenso auf dem Titelblatt. In der Mitte eine späte Photografie von<br />

dem Dichter.


Vorwort<br />

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass Pablo Neruda erst 1996 in mein<br />

Leben trat. Vorher hatte ich den Namen sicher schon einmal gehört, aber ich<br />

wusste nichts über diesen chilenischen Lyriker. Dann ging ich im Sommer<br />

1996 mit meiner damaligen Freundin, kurz vor einer Reise nach Sizilien, ins<br />

Kino. Im legendären Türkendoch in der Schwabinger Türkenstraße – dieses<br />

Kino gibt es leider nicht mehr. Ich war sehr skeptisch, wusste kaum, um was<br />

es in dem Film „Il Postino“ ging. Das furchtbar kitschige Filmplakat im Stile<br />

der 50er Jahre gefiel mir gar nicht . . .<br />

Der Film war wunderbar. Schön-traurig. Er handelt von einem einfachen italienischen<br />

Postboten, der den großen Dichter Pablo Neruda im Exil auf seiner<br />

Insel (Liparische Inseln) kennen lernt und sich eine Freundschaft zwischen den<br />

beiden entwickelt. Kurze Zeit später besorgte ich mir die ersten Gedichtbände<br />

von Neruda. Anfangs tat ich mich etwas schwer mit seiner bilderreichen<br />

Sprache. Doch nach und nach schätzte ich ihn immer mehr. Aus Anlass seines<br />

100. Geburtstages befassen sich die rot-<strong>graue</strong>n blätter mit Neruda und<br />

seinem Werk. Natürlich kann diese kleine Auswahl für den ein oder anderen<br />

nur der „Stein des Anstoßes“ sein, sich mit ihm mehr zu befassen . . .<br />

Noch etwas Allgemeines zu den rot-<strong>graue</strong>n blättern. Ob sich diese Reihe etablieren<br />

wird, ist noch ungewiss. Auf jeden Fall wird die Reihe fortgesetzt.<br />

Nicht das jetzt ein falscher Eindruck entsteht: die ersten Hefte haben sich ausschließlich<br />

mit Lyrik beschäftigt. Das wird so nicht bleiben. Alles ist möglich!<br />

Wenn jemand glaubt, ein Thema zu haben – nur zu!<br />

– die <strong>Schriftleitung</strong> –


Kurzbiographie<br />

12. 7. 1904<br />

Geburt in Parral als Neftali Ricardo Reyes Basalto,<br />

Sohn eines Lokomotivführers.<br />

1910 bis 1920<br />

Besuch des Knabengymnasiums in Temuco, erste Gedichtveröffentlichungen.<br />

1920<br />

Entscheidet sich für das Pseudonym Pablo Neruda.<br />

1921 bis1926<br />

Pädagogikstudium (Französischlehrer) in Santiago, Mitarbeiter verschiedener<br />

Zeitschriften, Dichterlesungen und Einzelveröffentlichungen.<br />

Ab 1927<br />

Neruda im konsularischen <strong>Die</strong>nst (u.a. in Rangun, Kalkutta, Buenos Aires).<br />

Ab 1935<br />

Konsul in Madrid, freundschaftlicher Verkehr mit Spaniens junger Dichtergeneration<br />

(Garcia Lorca, Alberti, Guillèn).<br />

18. 7. 1936<br />

Ermordung Lorcas. Nach dem Putsch General Francos gegen die Republik,<br />

solidarisiert sich Neruda mit dem antifaschistischen Kampf und beginnt<br />

„Espana en el corazòn“ (Spanien im Herzen). Abberufung als Konsul.<br />

1938 bis 1944<br />

Vortragsreisen durch Chile, Kuba, Generalkonsul in Mexiko-Stadt.<br />

Besuch der präinkaischen Festung Macchu Picchu (Peru).<br />

1945<br />

Eintritt in die Kommunistische Partei Chiles.<br />

Neruda wird kommunistischer Senator.<br />

1948<br />

Neruda entzieht sich der Verhaftung. Beginnt in der Illegalität den<br />

„Canto General“ (Der Große Gesang).<br />

Es folgen europäisches Exil und ausgedehnte Reisen.<br />

6


Pablo Neruda<br />

1952<br />

Rückkehr nach Chile<br />

1957<br />

Neruda wird Präsident des chilenischen Schriftstellerverbandes.<br />

1967<br />

Uraufführung seines einzigen 1966 verfaßten Theaterstücks:<br />

„Fulgor y muerte de Joaquin Murieta“ (Glanz und Tod des Joaquin Murieta).<br />

1969<br />

nominiert die Kommunistische Partei Chiles Pablo Neruda zu ihrem<br />

Präsidentschaftskandidaten, der aber zugunsten des von der Unidad<br />

Popular designierten Kandidaten Salvador Allende zurücktritt.<br />

1970<br />

Sieg der Unidad Popular. Neruda übernimmt im Auftrag der Regierung<br />

Allende den Botschafterposten in Frankreich.<br />

21. 10. 1971<br />

Neruda erhält den Nobelpreis für Literatur.<br />

Dezember 1972<br />

Heimkehr von seiner Botschaftermission, triumphaler Empfang im<br />

Nationalstadion von Santiago.<br />

11. 9. 1973<br />

Sturz und Ermordung Salvador Allendes durch die faschistische Pinochet-<br />

Junta. Nerudas Haus in Santiago wird verwüstet.<br />

24. 9. 1973<br />

Neruda erliegt am einem Krebsleiden. Seine Beisetzung gestaltet sich trotz<br />

starker Polizeiüberwachung zum ersten Protest gegen den faschistischen Terror<br />

in Chile.


Über den Dichter<br />

Als König Gustav Adolf VI. am 13. Dezember 1971 in der Philadelphia-Kirche<br />

von Stockholm Pablo Neruda als drittem Lateinamerikaner nach Gabriela<br />

Mistral und Miguel Angel Asturias den Nobelpreis für Literatur überreichte,<br />

war sich dieser seiner besonderen literarischen und politischen Rolle wohl<br />

bewusst: „Ich komme aus einer dunklen Provinz, aus einem Land, das von<br />

allen anderen durch die schroffe Geographie abgeschnitten ist. Ich war der<br />

verlassenste aller Dichter und meine Lyrik war regional, voller Schmerz und<br />

voller Regen. Aber ich hatte immer Vertrauen zum Menschen. Nie habe ich<br />

die Hoffnung verloren. Deshalb bin ich vielleicht hierher gekommen mit meiner<br />

Lyrik und auch mit meiner Fahne.“<br />

Keine zwei Jahre später, an jenem anderen 11. September 1973, putschte<br />

der größte Teil des chilenischen Militärs gegen die rechtmäßig gewählte<br />

Regierung der Unidad Popular. Nerudas Freund Salvador Allende fiel für die<br />

Verteidigung der politischen Ideale. Für einen Teil des chilenischen Volkes<br />

begann eine furchtbare Tragödie, deren Wunden bis heute nicht vernarbt<br />

sind. „Mein Volk ist das am meisten verratene dieser Zeit gewesen“, heißt es<br />

im Schlusskapitel der Memoiren Nerudas.<br />

Zwölf Tage später, am 23. September 1973, starb der Schriftsteller in Santiago<br />

an Krebs, aber auch an gebrochenem Herzen. Sein Vertrauen zu den<br />

Menschen hatte Schiffbruch erlitten, aber seine Ideale rettete er in den Tod.<br />

Seine Beerdigung wurde zur ersten großen Demonstration gegen das faschistische<br />

Regime Pinochets. Matilde Urrutia schrieb in ihren Memoiren Mein<br />

Leben an der Seite Pablo Nerudas (1986): „Aus allen Straßen kommen Männer,<br />

Frauen. Das Volk schließt sich dem Trauergeleit an, um seinem Dichter<br />

Lebewohl zu sagen ... Es tauchen auch Wagen mit Militärs auf, die ihre<br />

Gewehre auf uns richten, aber dann halten sie inne. Sie wollen uns gewiss<br />

erschrecken ... Der Chor der Stimmen schreit: Pablo Neruda, presente, ahora<br />

y siempre." Zwischen tiefem Schmerz und zornigem Widerstand folgte Matilde<br />

Urrutia dem Sarg. Ihr einziger Trost waren Nerudas Worte: „Zwei glückliche<br />

Liebende haben weder Ende noch Tod ... sie haben die Ewigkeit der<br />

Natur.“<br />

Nach dem Taufregister wurde Ricardo Eliezer Neftalí Reyes Basoalto am 12.<br />

Juli 1904 im mittelchilenischen Parral geboren. Sein Vater war Eisenbahner.<br />

Seine Mutter, eine Lehrerin, starb kurz nach der Geburt. Da der Vater nichts<br />

von brotlosen Poeten hielt, legte sich dieser seit 1920 das Pseudonym Pablo<br />

Neruda nach Jan Neruda (1834–1891), dem tschechischen Schriftsteller und<br />

8


Journalisten, zu. Nach dem Schulbesuch im südchilenischen Temuco und dem<br />

abgebrochenen Französischstudium am Pädagogischen Institut in Santiago<br />

trat Neruda in den diplomatischen <strong>Die</strong>nst ein. Als Konsul im Fernen Osten, in<br />

Rangun (Birma), Colombo (damals Ceylon), Batavia (heute Jakarta, Java) und<br />

Singapur (Malaysia) verbrachte er fünf einsame Jahre in einem fremden Kulturkreis.<br />

Nerudas postum erschienene Memoiren „Ich bekenne, dass ich gelebt habe“<br />

(1974), ein Meisterwerk seiner Gattung, voll lebensvoller Begegnungen,<br />

sind, wie alle Lebenserinnerungen, Dichtung und Wahrheit zugleich. Sie schildern<br />

aber am eindringlichsten die spanische Lebensphase des Dichters, die<br />

1934 mit den Konsulaten in Barcelona und Madrid, mit seiner Freundschaft<br />

mit den Dichters der 27er-Generation, Federico García Lorca, Antonio<br />

Machado, Miguel Hernández und Rafael Alberti beginnt. Nerudas Engagement<br />

im Spanischen Bürgerkrieg bedeutete auch einen Wendepunkt in seinem<br />

schriftstellerischen Werk. Sein Gedichtzyklus Spanien im Herzen (1937)<br />

ist die bedeutendste lyrische Verarbeitung der schrecklichen Kriegsereignisse.<br />

Im gleichen Jahre gründete er mit César Vallejo in Paris ein Lateinamerika-<br />

Komitee zur Unterstützung der spanischen Republik. Der II. Internationale<br />

Kongress antifaschistischer Schriftsteller (1937) in Paris, Barcelona, Valencia<br />

und Madrid versammelte zum letzten Mal für lange Zeit fortschrittliche Intellektuelle<br />

aus der ganzen Welt.<br />

In Chile begegneten die Wähler 1938 dem drohenden Faschismus mit der<br />

Bildung einer Volksfront zwischen Kommunisten, Sozialisten und dem linken<br />

Flügel der Radikalen Partei. Was lag näher, als den vorher amtsenthobenen<br />

Pablo Neruda zum Konsul mit Sondervollmachten für Spanienemigration in<br />

Paris zu bestellen. Sein Einsatz in Frankreich und danach als Generalkonsul<br />

in Mexiko (1940–1943) rettete einigen tausend Flüchtlingen das Leben.<br />

Bei Weltkriegsende begann für Neruda mit dem längst überfälligen Beitritt<br />

zur KP und der Wahl zum Senator 1945 unter dem Präsidenten González<br />

Videla (1946–1952) eine neue schwierige Phase. Im Zeichen des Kalten<br />

Kriegs und unter dem Diktat der Großindustrie, der Bank- und Finanzkrise<br />

wurde die KP verboten (1948–1957) und die Arbeiterbewegung unterdrückt.<br />

Neruda wurde wegen seiner Kritik an dem Präsidenten abgesetzt und musste<br />

sich unter dramatischen Umständen im Untergrund verborgen halten, bis ihm<br />

die Flucht nach Argentinien ermöglicht wurde. Erst 1952 kehrte er nach Aufnahme<br />

in den Weltfriedensrat, nach Reisen in sozialistische Länder und nach<br />

einem Aufenthalt in Italien triumphal nach Chile zurück. Um die Einheit zu<br />

wahren, zog er 1969 seine Kandidatur für das Präsidentenamt zurück. Es<br />

begann die schwierigste Phase seines Lebens, schon gezeichnet vom schweren<br />

Krebsleiden.<br />

10


Als Botschafter der Unidad Popular in Paris (1970–72) musste er den Finanzboykott<br />

gegen sein Land in den Umschuldungsverhandlungen im „Club de<br />

Paris“ durchbrechen. Daraufhin verklagten die großen US-Kupfercompanies,<br />

die Allende enteignet hatte, den chilenischen Staat vor französischen Gerichten<br />

und erreichten ein internationales Kupferembargo gegen Chile. Ende<br />

1972 kehrte Neruda in sein legendäres Haus in Isla Negra, einem kleinen<br />

Badeort südlich von Valparaíso, zurück und verabschiedete sich langsam von<br />

seinen Freunden. <strong>Die</strong> traumatischen Ereignisse des 11. September 1973<br />

beschleunigten sein Ende. Seine Häuser in Santiago und Isla Negra wurden<br />

geplündert und gebrandschatzt.<br />

<strong>Die</strong> frühe Avantgardelyrik des 19-jährigen Neruda kann die Spuren des französischen<br />

Symbolismus und Surrealismus nicht verleugnen. Aber schon bald<br />

befreit er sich von diesen Vorbildern und schafft mit dem Bändchen „Zwanzig<br />

Liebesgedichte und ein verzweifeltes Lied“ (1924) einen Klassiker der Liebeslyrik,<br />

melancholische, genussvolle Erotik, Kultbuch mit Millionenauflage. „<strong>Die</strong><br />

Gedichte sind die Romanze von Santiago, mit den Studentenstraßen, der Universität<br />

und dem Geißblattgeruch guter, geteilter Liebe“ (Neruda). Volodia<br />

Teitelboim nennt in der besten Biografie Nerudas (Pablo Neruda. Ein Lebensweg.<br />

Berlin, Weimar 1987) den Text „das von Verliebten am meisten<br />

gebrauchte und missbrauchte Buch“. Als Helfershelfer für schüchterne Seelen<br />

wurden die Verse als verführerischer Versuchsballon vorweggeschickt. Es war<br />

die originelle und höchst anschauliche Bildwelt, die frappierte und schlummernde<br />

Gefühlssaiten weckte:<br />

„Weiße Biene, du summst – trunken von Honig – in meiner Seele und du<br />

drehst dich in langsamen Spiralen aus Rauch. Ich bin der Verzweifelte, das<br />

Wort ohne Echos, der alles verlor und der alles besaß.“ Im Bestiarium des<br />

Dichters sind Biene, Schnecke, Schmetterling und Möwe vieldeutige, häufig<br />

erotische Symbole. Aber Willkommen und Abschied liegen eng beieinander,<br />

wie in diesen Schlussversen voller Selbstmitleid und Einsamkeit:<br />

„Ich liebe sie nicht mehr, gewiss, aber vielleicht liebe ich sie. <strong>Die</strong> Liebe ist so<br />

kurz und so lang ist das Vergessen. Weil in Nächten wie dieser ich sie in meinem<br />

Armen hielt, meine Seele begnügt sich nicht, sie verloren zu haben.<br />

Obwohl dieses der letzte Schmerz ist, den sie mir zufügt und dieses die letzten<br />

Verse sind, die ich ihr schreibe.“ Kein Geringerer als Julio Cortázar hat<br />

diese Gedichtsammlung in ihrer literarischen Bedeutung gewürdigt: „Sehr<br />

wenige von uns kannten Pablo Neruda, diesen Dichter, der uns plötzlich<br />

unserem Kontinent zurückgab und uns der vagen Theorie der europäischen<br />

Geliebten und Musen entriss, um uns einer unvermittelten und greifbaren Frau<br />

in die Arme zu werfen, um uns zu zeigen, dass die Liebe eines amerikanischen<br />

Dichters hic et nunc dargeboten und geschrieben werden konnte, mit<br />

den einfachen Worten des Alltags, den Gerüchen unserer Straßen, der Ein-<br />

11


fachheit dessen, der die Schönheit entdeckt ohne die Zustimmung der großen<br />

Heliotrope und der goldenen Zahl.“<br />

Ein Geheimnis der Lyrik Nerudas, ihrer Anziehungskraft und Überzeugungsgabe<br />

ist das persönliche Erlebnis. Der Dichter breitet die Widersprüche und<br />

Narben seiner Wunden offen aus und ruft besonders in seiner politischen<br />

Lyrik zum Engagement auf. Im Oktober 1937 kehrte Neruda nach Chile<br />

zurück, ein Spanien im Herzen. „Hymnus auf die Ruhmestaten des Volkes im<br />

Krieg“ erschien. Im November 1938 kam in Spanien eine Feldausgabe heraus,<br />

die Manuel Altolaguirre auf dem Kloster Montserrat druckte, wo die<br />

Mönche eine der besten Druckereien Kataloniens besaßen. Für den Druck<br />

verwendete man nicht nur Papier und Lumpen, sondern auch Beutestücke aus<br />

dem Krieg, Kleidung, Verbände und eine feindliche Fahne. <strong>Die</strong> Library of<br />

Congress in Washington bewahrt eines der ursprünglich 500 Exemplare dieser<br />

Rarität auf.<br />

Der Kampf zwischen Faschismus und Demokratie ist in gewaltigen freien<br />

Rhythmen und in kühnen Bildern wie ein epischer Vulkanausbruch gestaltet.<br />

Er wird in bewegenden Szenen und Porträts (auf Madrid, auf die Mütter der<br />

gefallenen Milizionäre, auf die Interbrigadisten, auf das Volksheer) gefeiert.<br />

Aller Hass gilt den Verrätergenerälen, den afrikanischen Söldnern, dem parasitären<br />

Adel und der kollaborierenden Kirche.<br />

Im Mittelpunkt steht das Gedicht „Ich erkläre einige Dinge“. Es zeichnet in<br />

eindringlicher Form die Poetik Nerudas und die Begründung für seine Konversion<br />

zur engagierten Literatur. <strong>Die</strong> brutalen Realitäten der Ereignisse<br />

schrien nach diesem Paradigmenwechsel:<br />

„Ihr werdet fragen: Und wo ist der Flieder? Und die Metaphysik, mit Mohn<br />

bedeckt? Und der Regen, der oft seine Worte peitschte und sie füllte mit<br />

Löchern und Vögeln? Ich werde euch alles erzählen, was mir geschieht. ...<br />

Kommt, um das Blut auf den Straßen zu sehen, kommt, um das Blut auf den<br />

Straßen zu sehen, kommt, um das Blut auf den Straßen zu sehen.“ Verglichen<br />

mit den beiden anderen bedeutenden Bürgerkriegspoemen von Nicolás Guillén<br />

und César Vallejo zeichnet dieser Zyklus am eindringlichsten Wut, Trauer<br />

und Widerstand auf. In seinen Memoiren hat Neruda als Beispiel für die<br />

Macht der Poesie von einer Lesung dieser nicht leichten Gedichte vor etwa<br />

50 Marktleuten in Santiago berichtet. In tiefer Betroffenheit und atemlosem<br />

Schweigen folgten sie den Versen. Am Ende sagte einer der Lastträger: "Ich<br />

möchte Ihnen im Namen aller danken ... Ich möchte Ihnen außerdem sagen,<br />

dass uns niemals etwas so beeindruckt hat." Danach hörte man Schluchzen<br />

und Weinen – die Solidarität der armen Leute. Und Neruda schloss diese Episode<br />

mit den Worten: „Kann ein Dichter derselbe sein, nachdem er durch diese<br />

Kälte- und Feuerproben gegangen ist?“<br />

12


<strong>Die</strong> Aktualität der Lyrik Nerudas zeigt sich in dem ewig neuen Kampf gegen<br />

totalitäre Regime, gegen Unterdrückung und Heuchelei. Aus der Sammlung<br />

Spanien im Herzen sind ganze Bilder in einen der letzten Texte Nerudas<br />

übernommen worden: Anstiftung zum Mord an Nixon und Lob der chilenischen<br />

Revolution (Januar 1973). Verfasst unter dem Eindruck der Ermordung<br />

des verfassungstreuen Generals Schneider – eines der vielen Präludien zum<br />

Putsch – sind die Gedichte eine einzige Anklage gegen die Machenschaften<br />

des US-Imperialismus. <strong>Die</strong> Polemik – im Deutschen mit dem Verdikt der<br />

Unsachlichkeit behaftet – klärt im positiven Sinne immer Fronten und Standpunkte.<br />

Im Vorwort zu dem Bändchen bekennt Neruda: „Ich habe keine<br />

andere Wahl: Gegen die Feinde meines Volkes ist mein Lied offensiv und hart<br />

wie araukanischer Stein . . . Und ich greife auf die ältesten Waffen der Lyrik<br />

zurück, auf den Gesang und das Pamphlet . . ., bestimmt zur Zerstörung des<br />

Feindes.“ In diesem Sinne wandte sich Neruda empört gegen die streikenden<br />

Warenhausbarone, Playboys und Bankmagnaten, die noch nie Hunger gelitten<br />

hatten, aber Lebensmittel horteten, die dem Volk entzogen wurden:<br />

„Sie versteckten Sardinen und Zwiebeln, Öl, Mehl, Zigaretten, Töpfe, um das<br />

Volk und das gemeuchelte Vaterland ohne Brot, ohne Licht, ohne alles zu lassen.“<br />

Als Nerudas Hauptwerk – weithin bekannt durch die Vertonung von<br />

Mikis Theodorakis – gilt der Canto General (1950, Großer Gesang). Entstanden<br />

zwischen 1938 und 1949, vollendet auf der ständigen Flucht vor der<br />

Polizei, durchläuft dieses gewaltige „Freiheitsepos aller unterdrückten und<br />

notleidenden Menschen Südamerikas“ (Erich Arendt) in 15 Zyklen mit<br />

15.000 Versen die Geschichtsepochen des Kontinents vom vorkolumbianischen<br />

Paradieszustand über die Conquista und die Befreiungskriege des 19.<br />

Jahrhunderts bis in die Gegenwart mit dem jeweils mörderischen Zusammenspiel<br />

zwischen der einheimischen Kompradoren-Bourgeoisie und dem ausländischen<br />

Monopolkapital.<br />

Unverkennbar ist der Einfluss der großen mexikanischen Moralisten <strong>Die</strong>go<br />

Rivera und David Alfaro Siqueiros, die ebenfalls aus der Sicht der „Geschichte<br />

der Leute ohne Geschichte“ ein paradigmatisches Panorama ihres Kontinents<br />

visualisieren wollten. „Ich schreibe für das Volk, selbst wenn es meine<br />

Lyrik nicht mit seinen ländlichen Augen lesen kann.“ Gerade in einer Zeit der<br />

intendierten Atomisierung und medialen Agitation des Bewusstseins war die<br />

Rettung historischer Zusammenhänge lebenswichtig. Nerudas Spanienbild<br />

schwankt zwischen der negativen Sicht der leyenda negra und dem positiven<br />

Bild der madre patria. In jedem Falle ist die Trennung zwischen Volk und<br />

Regierung sichtbar.<br />

<strong>Die</strong> Geschichte Lateinamerikas beginnt für Neruda lange vor der Eroberung<br />

durch die Europäer. Mag auch sein Bild der vorkolonialen Völker idealisiert<br />

und das afrikanische Erbe vernachlässigt sein, so ist doch dieses monumenta-<br />

13


le Werk ein kühner Meilenstein auf dem Weg zu einer kulturellen Einheit und<br />

Wurzelsuche Lateinamerikas. Nicht ohne Grund las Che Guevera Verse aus<br />

dem Großen Gesang den Guerilleros in der Sierra Maestra vor. Denn das<br />

Buch ist auch ein Aufruf zur Verwirklichung einer umfassenden sozialen<br />

Gerechtigkeit und Menschlichkeit in der Welt.<br />

Es ist kein Zufall, dass die erste dreibändige Gesamtausgabe des lyrischen<br />

Werks Nerudas auf Deutsch, herausgegeben von Karsten Garscha, erst Mitte<br />

der achtziger Jahre in der Bundesrepublik erschien. Ganz anders dagegen<br />

die Rezeption Nerudas in der DDR. Neruda gehörte dort seit den frühen<br />

Übersetzungen von Stephan Hermlin und Erich Arendt 1949 zum sozialistischen<br />

Weltkulturerbe. Es bestanden auch enge persönliche Bande; denn<br />

Neruda hatte schon als Generalkonsul Chiles in Mexiko die antifaschistischen<br />

deutschen Schriftsteller Ludwig, Renn, Bodo Uhse und Anna Seghers kennen<br />

gelernt und innige Freundschaft mit ihnen geschlossen.<br />

In Mexiko erfuhr Neruda aber auch die Brutalität des anderen Deutschlands.<br />

Denn in einem Restaurant in Cuernavaca wurde er von deutschen Nazis krankenhausreif<br />

geschlagen. Auch in seinen Memoiren findet sich ein Kapitel<br />

über die Nazis in Chile. Dass alle Völker eine Tag- und eine Nachtseite<br />

haben, drücken die Verse aus:<br />

„Freies Deutschland, wer sagt, dass du nicht kämpfst? Deine Toten sprechen<br />

unter der Erde . . . Brigaden deutscher Brüder: ihr durchdrangt das ganze<br />

Schweigen der Welt, um eure breite Brust neben die unsere zu stellen.“ Verse<br />

wie diese oder die hymnische Verklärung Stalins im Großen Gesang ließen<br />

Hans Magnus Enzensberger in einem frühen Essay aus dem Jahre 1955<br />

davon sprechen, Neruda habe die Poesie zur Magd der Politik gemacht. Er<br />

sei sogar „bis auf das offizielle Niveau der albanischen oder ostdeutschen<br />

Barden“ herabgesunken. Nachdem Neruda zu den III. Weltfestspielen der<br />

Jugend und Studenten in Berlin 1951 die Jugend zur Einheit im Kampf für<br />

Frieden und Völkerfreundschaft aufgerufen hatte, tönte es erneut aus allen<br />

Ecken: „Politisch Lied ein garstig Lied“, wie es bereits Heinrich Heine erfahren<br />

hatte. Schon der Beitritt Nerudas zur KP bedeutete für das St. Galler Tagblatt<br />

vom 5. 1. 1964 einen „besorgniserregenden Schwund an dichterischer<br />

Substanz“.<br />

In einem Essay aus dem Jahre 1962 reduzierte Enzensberger das Werk<br />

Nerudas auf das folgende ästhetische Grundproblem: „<strong>Die</strong> gesellschaftliche<br />

Situation der modernen Dichtung verurteilt den Dichter, zwischen seinem<br />

Publikum und seiner Poesie zu wählen. In jedem Fall sondert er sich von einer<br />

Grundbedingung seiner Arbeit ab. <strong>Die</strong>ser Dialektik ist Neruda niemals ausgewichen:<br />

man kann wohl sagen, dass sie ihm zum Verhängnis geworden<br />

ist.“<br />

14


Erst postum nach dem Septemberputsch in Chile kamen die Werke Nerudas<br />

im Gepäck vieler Emigranten in der Bundesrepublik zur gebührenden Anerkennung.<br />

Zwar gab es heftige Diskussionen, ob die Aufnahme dieser exotischen<br />

„Kommunisten“ mit dem gerade verabschiedeten Radikalenerlass vom<br />

Januar 1972 vereinbar sei, aber die Verleihung des Nobelpreises hatte<br />

Neruda geadelt und in den Olymp der Unsterblichen gehoben. Später Ausdruck<br />

dieser Rezeption waren Antonio Skármetas Theaterstück und Roman<br />

„Mit brennender Geduld“ (1982) nebst deren Verfilmung. Erzählt wird die<br />

sehr persönliche Freundschaft Nerudas zu dem Briefträger Mario, verbunden<br />

mit Zeitgeschichte und Biografie zwischen Trauer und Hoffnung.<br />

Es stimmt nachdenklich, dass Straßen und sogar eine Grundschule mit dem<br />

Namen Nerudas in Berlin, Rostock und Leipzig, nicht aber im Westen der<br />

Republik zu finden sind. Schon immer tat man sich dort mit der öffentlichen<br />

Ehrung von Kommunisten schwer. Dabei liegt das Gesamtwerk Nerudas auf<br />

Spanisch in drei Prachtbänden bei Losada in Buenos Aires vor, in acht weiteren<br />

postum erschienenen Gedichtbänden, in Korrespondenzen und Jugendschriften.<br />

Ein großer Teil davon ist auch auf Deutsch erschienen. Auch für den<br />

Klassiker Neruda gilt das Wort Lessings: „Wir wollen weniger erhoben und<br />

fleißiger gelesen sein.“<br />

15


<strong>Die</strong> Nacht auf der Insel<br />

<strong>Die</strong> ganze Nacht hab ich geschlafen mit dir,<br />

nahe dem Meer, auf der Insel.<br />

Wild und lieblich warst du im Wechsel von Lust und Schlaf,<br />

im Wechsel von Feuer und Wasser.<br />

Vielleicht vereinten sich<br />

spät, sehr spät unsere Träume,<br />

hoch droben oder tief drunten,<br />

in der Höhe wie Zweige, vom selben Wind bewegt,<br />

in der Tiefe wie rote Wurzeln, einander berührend.<br />

Vielleicht trennte sich<br />

dein Traum von dem meinen<br />

und suchte mich auf dem dunklen Meer<br />

wie einstens, als es dich noch nicht gab,<br />

als ich, ohne dich zu gewahren,<br />

dicht an dir vorüberfuhr,<br />

und deine Augen suchten,<br />

was ich nunmehr<br />

– Brot, Wein, Liebe und Zorn –<br />

mit vollen Händen dir gebe,<br />

denn du bist der Becher,<br />

wartend auf die Gaben meines Lebens.<br />

Ich habe mit dir geschlafen<br />

die ganze Nacht, während<br />

die dunkle Erde sich drehte<br />

mit Lebenden und mit Toten,<br />

und beim Erwachen, jählings,<br />

inmitten der Dunkelheit<br />

umfaßte mein Arm deine Hüfte.<br />

Weder die Nacht noch der Traum<br />

konnten uns beide trennen.<br />

Ich hab mit dir geschlafen,<br />

und beim Erwachen gab dein Mund,<br />

eben dem Traum entkommen,<br />

mir den Geschmack von Erde,<br />

von Meereswasser, von Algen,<br />

vom Grund deines eignen Lebens,<br />

und ich erhielt einen Kuß,<br />

benetzt von der Morgenröte,<br />

als käme er mir vom Meer, das hier uns umspült.<br />

16


DER TIGER<br />

Ich bin der Tiger.<br />

Laure auf dich im Laub,<br />

zwischen Blättern, so strotzend<br />

wie Barren feuchten Erzes.<br />

Der weiße Fluß schwillt an<br />

unterm Nebel. Du kommst.<br />

Nackt tauchst du unter.<br />

Ich warte.<br />

Und dann, in einem Sprung<br />

von Feuer, Blut und Zähnen,<br />

reißt ein Prankenhieb dir<br />

die Brust, die Hüften nieder.<br />

Ich trinke dein Blut, breche<br />

dir deine Glieder, einzeln.<br />

Und dann halte ich Wache<br />

im Urwald, jahrelang,<br />

bei deinen Knochen, deiner<br />

Asche, regungslos,<br />

fern dem Haß und dem Zorn,<br />

entwaffnet durch deinen Tod,<br />

von Lianen umwuchert,<br />

regungslos unterm Regen,<br />

unerbittlicher Wächter<br />

bei meiner Mörderliebe.<br />

17


Wenn du mich vergißt<br />

Ich möcht, daß du<br />

eines weißt.<br />

Du weißt ja, wie das ist:<br />

Betrachte ich<br />

den kristallenen Mond, den roten Zweig<br />

des säumigen Herbstes an meinem Fenster,<br />

berühre ich<br />

beim Feuer<br />

die ungreifbare Asche<br />

oder die runzligen Körper des Holzes,<br />

bringt mich das alles zu dir,<br />

als wäre alles, was da ist,<br />

Düfte, Licht, Metalle,<br />

nichts andres als ein Schwarm kleiner Schiffe,<br />

hinsegelnd zu deinen Inseln, die mich erwarten.<br />

Nun aber,<br />

wenn du allmählich aufhörst, mich zu lieben,<br />

werde ich aufhören, dich zu lieben, allmählich.<br />

Wenn du auf einmal<br />

mich vergißt,<br />

suche nicht nach mir,<br />

denn ich werde dich schon vergessen haben.<br />

Scheint er dir lang und irre lodernd,<br />

der Fahnenwind,<br />

der mein Leben durchweht,<br />

und entscheidest du dich,<br />

mich auszusetzen am Rand<br />

des Herzens, in dem ich verwurzelt bin,<br />

so bedenke,<br />

daß am selben Tag,<br />

zur selben Stunde,<br />

ich die Arme erhebe<br />

und meine Wurzeln sich aufmachen,<br />

einen anderen Boden zu suchen.<br />

Doch wenn du<br />

jeden Tag,<br />

jede Stunde<br />

18


empfindest, daß du für mich bestimmt bist,<br />

mit unverrückbarer Süße,<br />

wenn jeden Tag<br />

eine Blüte aufsprießt zu deinen Lippen, um mich zu suchen,<br />

ach, meine Liebe, ach, Meine,<br />

so wiederholt sich in mir all dies Feuer,<br />

und nichts erlischt in mir, nichts wird vergessen,<br />

meine Liebe nährt sich von deiner Liebe, Geliebte,<br />

und solange du lebst, wird sie in deinen Armen sein,<br />

ohne die meinen zu verlassen.<br />

19


Heut nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben.<br />

Schreiben etwa: „Mit Sternen übersät ist das Dunkel,<br />

und blaugefroren zittern weit entfernte Gestirne.“<br />

Der Wind der Nacht zieht seine Kreise an Himmel, singend.<br />

Heut nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben.<br />

Ich liebte sie, und manchmal hatte auch sie mich gerne.<br />

In Nächten, so wie diese, hielt ich sie in den Armen.<br />

Küßte sie viele Male unterm endlosen Himmel.<br />

Sie liebte mich, und manchmal hatte auch ich sie gerne.<br />

Wie denn nicht lieben ihre großen, sicheren Augen.<br />

Heut nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben.<br />

Denken, daß sie mir fern ist. Fühlen, daß sie verloren.<br />

Hören die öde Nachtluft, öder noch, seit sie fort ist.<br />

Der Vers fällt auf die Seele wie der Tau auf das Grasland.<br />

Was macht's, daß meine Liebe sie nicht bewahren konnte.<br />

Sternbesät ist das Dunkel, und sie ist nicht mehr bei mir.<br />

Das ist alles. Sehr ferne singt irgendwer, sehr ferne.<br />

Mein Herz kann es nicht fassen, daß ich sie nicht mehr habe.<br />

Wie um sie herzuholen, ist mein Herz auf der Suche.<br />

Mein Herz ist auf der Suche, und sie ist nicht mehr bei mir.<br />

<strong>Die</strong> gleiche Nacht, und weißlich schimmern die gleichen Bäume.<br />

Aber wir, die von damals, wir sind nicht mehr die gleichen.<br />

Ja, ich liebe sie nicht mehr, doch wie liebte ich, damals.<br />

Zum Wind lief meine Stimme, um an ihr Ohr zu rühren.<br />

Jetzt hat sie wohl ein andrer. Wie einst, eh ich sie küßte.<br />

Den hellen Leib, die Stimme. <strong>Die</strong> großen, großen Augen.<br />

Ja, ich liebe sie nicht mehr, oder lieb ich sie noch immer.<br />

So kurz dauert die Liebe, und so lang das Vergessen.<br />

Denn in Nächten wie diese hielt ich sie in den Armen.<br />

Mein Herz kann es nicht fassen, daß ich sie nicht mehr habe<br />

20


Mag's auch der letzte Schmerz sein, den ich durch sie erleide,<br />

sind's auch die letzten Verse, die ich für sie nun schreibe.<br />

21


DIE VERFEHLUNG<br />

Wenn dein Fuß noch einmal fehlgeht,<br />

wird er abgehauen.<br />

Wenn deine Hand dich<br />

auf einen anderen Weg führt,<br />

fällt sie verfault zu Boden.<br />

Wenn du mir dein Leben entziehst,<br />

stirbst du<br />

bei lebendigem Leibe.<br />

Als Tote oder als Schatten<br />

wirst du ohne mich dann durch die Welt gehn.<br />

22


ODE AN DIE TRAURIGKEIT<br />

Traurigkeit, Käfer<br />

mit sieben gebrochenen Beinen,<br />

Spinnenei,<br />

lästige Ratte,<br />

Skelett einer Hündin :<br />

Hier trittst du nicht ein.<br />

Hier kommst du nicht durch.<br />

Heb dich hinweg.<br />

Kehre<br />

gen Süden mit deinem Regenschirm,<br />

kehre<br />

gen Norden mit deinen Schlangenzähnen.<br />

Hier lebt ein Dichter.<br />

Durch diese Türen vermag<br />

die Traurigkeit nicht einzudringen.<br />

Durch meine Fenster<br />

weht die Luft der Welt,<br />

die neuen roten Rosen,<br />

die bestickten Fahnen<br />

des Volkes und seiner Siege.<br />

Du vermagst es nicht.<br />

Hier trittst du nicht ein.<br />

Schüttle<br />

deine Fledermausschwingen,<br />

ich will auf die Federn treten,<br />

die deinem Kleid entfallen,<br />

ich werde deines Kadavers<br />

Reste fegen<br />

in alle vier Himmelswinde,<br />

ich werde den Hals dir umdrehn,<br />

die Augen dir zunähn,<br />

dein Leichentuch will ich zerfetzen<br />

und deine Nagetierknochen einscharren,<br />

Traurigkeit,<br />

unter eines Apfelbaumes blühendem Frühling.<br />

23


ODE AN DEN GLÜCKHAFTEN TAG<br />

<strong>Die</strong>smal lasst mich<br />

glücklich sein,<br />

keinem ist etwas geschehen,<br />

und ich bin nirgendwo,<br />

einziges Ereignis ist,<br />

dass ich glücklich bin<br />

beim Gehen, beim Schlafen,<br />

beim Schreiben über das ganze<br />

Rund meines Herzens.<br />

Was soll weiter ich tun, ich bin<br />

glücklich,<br />

zahlloser bin ich<br />

als das Gras<br />

auf den Weiden,<br />

ich fühle die eigene Haut wie den runzligen Baum<br />

und unten das Wasser,<br />

hoch oben die Vögel,<br />

um meiner Hüfte das Meer<br />

wie einen Reif,<br />

aus Brot und Stein die Erde geschaffen,<br />

die Luft singt wie eine Gitarre.<br />

Du mir zuseiten im Sande<br />

bist Meeressand,<br />

du singst und bist Gesang,<br />

die Welt<br />

ist heut meine Seele,<br />

Lied und Sand,<br />

die Welt<br />

ist heute dein Mund,<br />

lasst mich<br />

an deinem Munde und im Sande<br />

glücklich sein,<br />

ja, glücklich sein, weil ich atme<br />

und weil auch du atmest,<br />

glücklich sein, weil ich<br />

dein Knie berühre<br />

und es ist,<br />

als berührte ich<br />

die blaue Haut und Kühle<br />

des Himmels.<br />

24


Heute lasst mich<br />

einzig nur<br />

glücklich sein<br />

mit allen oder ohne sie,<br />

glücklich sein<br />

mit dem Gras<br />

und dem Sand,<br />

glücklich sein<br />

mit der Luft und der Erde,<br />

glücklich sein<br />

mit dir, mit deinem Munde<br />

glücklich sein.<br />

25


FRAUENLEIB<br />

Frauenleib, lichtweiße Hügel, Schenkel, weiße,<br />

in deinem Hang, dich hinzugeben, gleichst du der Welt.<br />

Mein ungeschlachter Bauernleib, er höhlt dich aus<br />

und sprengt das Kind aus Erdentiefen.<br />

Einsam wie ein Tunnel war ich, mich flohn die Vögel,<br />

und mit mächtgem Einbruch flutete in mich die Nacht.<br />

Zu überleben, schuf ich dich als Wehr,<br />

zu einem Pfeil auf meinem Bogen, Stein in meiner Schleuder.<br />

Doch die Stunde der Vergeltung naht, und ich liebe dich :<br />

Leib du aus Haut, aus Moos, aus Milch, begehrlich und stark.<br />

O Kelche ihr der Brust! O Augen des Entrücktseins!<br />

O Rosen ihr der Scham! O deine Stimme sanft und trauervoll!<br />

In deiner Anmut, Frauenleib, o mein!, ich werde dauern.<br />

Mein Dürsten, du mein grenzenlos Verlangen, mein unentschiedner Weg!<br />

Strombetten, dunkle, denen folgt der ewige Durst<br />

und das Ermatten folgt, der Schmerz ohn Ende.<br />

26


DIE NACHT AUF DER INSEL<br />

<strong>Die</strong> ganze Nacht hab ich geschlafen mit dir,<br />

nahe dem Meer, auf der Insel.<br />

Wild und lieblich warst du im Wechsel von Lust und Schlaf,<br />

im Wechsel von Feuer und Wasser.<br />

Vielleicht vereinten sich<br />

spät, sehr spät unsere Träume,<br />

hoch droben oder tief drunten,<br />

in der Höhe wie Zweige, vom selben Wind bewegt,<br />

in der Tiefe wie rote Wurzeln, einander berührend.<br />

27


Vielleicht trennte sich<br />

dein Traum von dem meinen<br />

und suchte mich<br />

auf dem dunklen Meer<br />

wie einstens,<br />

als es dich noch nicht gab,<br />

als ich, ohne dich zu gewahren,<br />

dicht an dir vorüberfuhr,<br />

und deine Augen suchten,<br />

was ich nunmehr<br />

- Brot, Wein, Liebe und Zorn -<br />

mit vollen Händen dir gebe,<br />

denn du bist der Becher,<br />

wartend auf die Gaben meines Lebens.<br />

Ich habe mit dir geschlafen<br />

die ganze Nacht, während<br />

die dunkle Erde sich drehte<br />

mit Lebenden und mit Toten,<br />

und beim Erwachen, jählings,<br />

inmitten der Dunkelheit<br />

umfasste mein Arm deine Hüfte.<br />

Weder die Nacht noch der Traum<br />

konnten uns beide trennen.<br />

Ich hab mit dir geschlafen,<br />

und beim Erwachen gab dein Mund,<br />

eben dem Traum entkommen,<br />

mir den Geschmack von Erde,<br />

von Meereswasser, von Algen,<br />

vom Grund deines eignen Lebens,<br />

und ich erhielt einen Kuss,<br />

benetzt von der Morgenröte,<br />

als käme er mir vom Meer,<br />

das hier uns umspült.<br />

28


Sie liebte mich, und manchmal hatte auch ich sie gerne.<br />

Wie denn nicht lieben ihre großen, sicheren Augen.<br />

Heut nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben.<br />

Denken, dass sie mir fern ist. Fühlen, dass sie verloren.<br />

Hören die öde Nachtluft, öder noch, seit sie fort ist.<br />

Der Vers fällt auf die Seele wie der Tau auf das Grasland.<br />

Was macht's, dass meine Liebe sie nicht bewahren konnte.<br />

Sternbesät ist das Dunkel, und sie ist nicht mehr bei mir.<br />

Das ist alles. Sehr ferne singt irgendwer, sehr ferne.<br />

Mein Herz kann es nicht fassen, dass ich sie nicht mehr habe.<br />

Wie um sie herzuholen, ist mein Herz auf der Suche.<br />

Mein Herz ist auf der Suche, und sie ist nicht mehr bei mir.<br />

<strong>Die</strong> gleiche Nacht, und weißlich schimmern die gleichen Bäume.<br />

Aber wir, die von damals, wir sind nicht mehr die gleichen.<br />

Ja, ich liebe sie nicht mehr, doch wie liebte ich, damals.<br />

Zum Wind lief meine Stimme, um an ihr Ohr zu rühren.<br />

Jetzt hat sie wohl ein andrer. Wie einst, eh ich sie küsste.<br />

Den hellen Leib, die Stimme. <strong>Die</strong> großen, großen Augen.<br />

Ja, ich liebe sie nicht mehr, oder lieb ich sie noch immer.<br />

So kurz dauert die Liebe, und so lang das Vergessen.<br />

Denn in Nächten wie diese hielt ich sie in den Armen.<br />

Mein Herz kann es nicht fassen, dass ich sie nicht mehr habe.<br />

Mag's auch der letzte Schmerz sein, den ich durch sie erleide,<br />

sind's auch die letzten Verse, die ich für sie nun schreibe.<br />

29


Für mein Herz genügt deine Brust,<br />

für deine Freiheit genügen meine Flügel.<br />

Von meinem Mund gelangt bis zum Himmel,<br />

was schlummerte auf deiner Seele.<br />

In dir ist die Illusion eines jeden Tages.<br />

Du kommst wie der Tau zu den Blumenkronen.<br />

Du untergräbst den Horizont durch dein Fernsein.<br />

Ewig auf der Flucht wie die Welle.<br />

Du singst, so sagte ich, im Wind<br />

wie die Föhren und wie die Masten.<br />

Wie sie bist du hoch und schweigsam.<br />

Und plötzlich wirst du traurig, wie die Reise.<br />

Gastfreundlich wie ein alter Weg.<br />

Dich bevölkern Echos und Stimmen der Sehnsucht.<br />

Ich erwachte, und manchmal ziehn flüchtend fort<br />

Vögel, die schliefen in deiner Seele.<br />

30


Mir gefällt's, wenn du so schweigst, als wärst du in der Ferne.<br />

Du hörst mich dann, als käme mein Wort von weither geflossen.<br />

Deine Augen, so scheint es, sind heimlich fortgeflogen,<br />

und ein Kuss hat, so scheint es, dir deinen Mund verschlossen.<br />

Weil jedes Ding erfüllt ist vom Leben meiner Seele,<br />

tauchst du auf aus den Dingen, erfüllt von meinem Wesen.<br />

Ein Falter wie aus Träumen, ähnelst du meiner Seele,<br />

und das Bild deines Daseins lässt das Wort Schwermut fallen.<br />

Mir gefällt's, wenn du schweigst, als wärst du nicht zugegen.<br />

Du bist dann wie ein Falter, weinend, dass man dich wiege.<br />

Und du hörst mich von weitem, kein Laut kann dich berühren:<br />

Lass drum, dass jetzt mein Schweigen in deinem Schweigen liege.<br />

Lass, dass ich zu dir rede mit deinem eignen Schweigen,<br />

klar wie die stille Lampe, schlicht wie ein Fingerring.<br />

Wie Nachtluft bist du, lautlos, von Lichtern überfunkelt.<br />

Du schweigst mit Sternenstille, ein fernes, kleines Ding.<br />

Du gefällst mir im Schweigen, denn da bist du wie ferne.<br />

Entrückt, von Schmerz gezeichnet, als lägst du schon im Grabe.<br />

Es genügt mir ein Wort, dann, ein Lächeln nur, ein kleines.<br />

Und ich bin fröhlich, fröhlich, dass ich dich bei mir habe.<br />

31


IMPRESSUM<br />

rot-<strong>graue</strong> blätter<br />

Heft Nr. 003<br />

Ausgabe im Juli 2004<br />

Ausgabe nur als PDF für das Internet<br />

SCHRIFTLEITUNG UND BEZUG<br />

Quelle: Diverse Gedichtbände, Pablo Neruda. Seite 8: Martin Franzbach (Freitag, Ost-West-Wochenzeitung). Herausgegangen aus dem<br />

„Sonntag“, Ostberlin, gegründet 946 vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, und der „Volkszeitung“, ehemals „Deutscher<br />

Volkszeitung“, gegründet 1953 in Düsseldorf von Reichskanzler a. d. Dr. Joseph Wirth, und der „Tat“, gegründet 1950 in Frankfurt am<br />

Main von der VVN. Adressen für Zuschriften an die <strong>Schriftleitung</strong>: Stephan Sommer, Kanalstraße 12, 85049 Ingolstadt;<br />

E-Mail: schriftleitung@gmx.de, www.schriftleitung.org.<br />

HERSTELLUNG<br />

Schriften gesetzt in 7-Punkt Futura Book (Impressum) sowie 12.0/15.0-Punkt Futura Book. Überschriften und Pagina gesetzt in 56-Punkt,<br />

Futura light. Nicht berücksichtigt: Titelblatt. Heftumfang 33 Seiten inkl. Schmutztitel und zwei Seiten Umschlag.<br />

URHEBERRECHT<br />

<strong>Die</strong> Urheberrechte liegen bei den Autoren. Nachdruck, auch auszugsweise, ist grundsätzlich nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Urhebers<br />

zulässig. <strong>Die</strong>sbezügliche Anfragen sind an die <strong>Schriftleitung</strong> zu richten, die gern vermittelt. Ein Anspruch auf Erteilung einer Abdruckgenehmigung,<br />

auch Auszugsweise, besteht nicht. Ob Verstöße gegen das Urheberrecht gerichtlich verfolgt werden sollen, liegt im<br />

Ermessen der Urheber.<br />

Das vorliegende Heft ist kein Druckerzeugnis im Sinne des Pressegesetzes.<br />

Es wurde als Typoskript für den internen Gebrauch hergestellt.

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