Musiktheater seit 1990 - Schott Music
Musiktheater seit 1990 - Schott Music
Musiktheater seit 1990 - Schott Music
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Inhalt<br />
Ingomar Grünauer <strong>1990</strong> vor dem Stadttheater Luzern · Foto: Felix von Wartburg<br />
1. Bild: Prinz Sigismund lebt <strong>seit</strong> zehn Jahren in einem Turm, in den er auf Anordnung des Königs<br />
eingekerkert wurde, um den Hofstaat und das Land vor seinen unberechenbaren Launen zu<br />
schützen. Seine Selbstgespräche und Phantasien kreisen immer wieder um seine Geliebte Julia,<br />
den Entdecker Amerigo Vespucci und eine freie, bessere Welt ohne König und ohne Ausbeutung.<br />
Sie werden minutiös vom Wärter protokolliert. Der König und Julia kommen in den Turm;<br />
der König gibt Julias Bitte um Freilassung Sigismunds nach. Das Reich ist in Gefahr, das Volk<br />
droht mit Aufruhr. Der Staatsrat berät die Lage; man ist unsicher, wie die drohende Revolte<br />
besänftigt werden könnte.<br />
2. Bild: Der König teilt dem Staatsrat seinen Entschluss mit – Sigismund soll König sein: „Ein<br />
junger Kopf, ein Mann der neuen Zeit, ein Mann, dem der Pöbel vertraut“. Sigismund, anfänglich<br />
unsicher, ob alles nur Maskerade und neue Demütigung sei, handelt erst zögernd, dann<br />
mit grausamer Lust. Er quält die Staatsräte,<br />
befiehlt den Sieg der Revolte und will sich<br />
mit dem Pöbel verbrüdern. Der König lässt<br />
Bettler, Dirnen und Diebe von der Straße<br />
holen, die Sigismund als seine Freunde<br />
willkommen heißt und bewirten lässt. Rasch<br />
eskaliert die Situation; der Pöbel verprügelt<br />
die Staatsräte und will Sigismund, „den<br />
obersten Blutsauger“, aufhängen. In letzter<br />
Sekunde tritt der König dazwischen und<br />
bringt mit wenigen Worten das Geschehen<br />
unter Kontrolle. Pöbel und Staatsräte verlassen<br />
die Szene, Vater und Sohn stehen allein<br />
einander gegenüber. Der König offenbart<br />
Sigismund, dass alles ein Spiel war, um ihm<br />
begreiflich zu machen: „Ein Reich ist kein<br />
Spielball für Phantasten“. Sigismund ist<br />
gebrochen und geht freiwillig in den Turm<br />
zurück.<br />
3. Bild: Sigismund ist allein am Meer. Julia<br />
kommt hinzu, sie bittet ihn, mit ihr fort zu<br />
gehen. Doch Sigismund zieht es vor, allein<br />
zu bleiben, gefangen in seinen Phantasien.<br />
Das gesamte musikalische Geschehen entsteht aus einem Kern, einem strukturierten Grundklang,<br />
der für die Grundbefindlichkeit von Sigismund steht. Basis dafür ist eine Skala, in der Ganztonund<br />
Halbtonschritte abwechseln. Diese ständig variierte Klangstruktur kreist in sich selbst, versucht<br />
aus dieser hermetischen Spirale auszubrechen und endet, wo sie begonnen hat, ohne dieselbe zu<br />
sein. Auf diese Weise soll auch ein musikalisches Bezugssystem aufgebaut werden, in das sich das<br />
Publikum „einhört“. Wenn es diese Gesetzmäßigkeiten intuitiv „erhört“ hat, wird es davon Abweichendes<br />
als Spannungselement empfinden können. Und dies ist mir das wichtigste Anliegen: Dass<br />
ein offenes Publikum spannendes, sinnliches, komplexes <strong>Musiktheater</strong> erlebt. (Ingomar Grünauer)<br />
9