Musiktheater seit 1990 - Schott Music
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Inhalt<br />
Die Legende berichtet von einem Türhüter des Pilatus namens Ahasver, der dem kreuztragenden<br />
Jesus eine Rast auf seiner Türschwelle verweigert haben soll. Zur Strafe wird Ahasver<br />
gezwungen, bis zum Jüngsten Tag durch die Welt zu irren – ohne Heimat, ohne Ziel, doch zu<br />
immerwährendem Leben verdammt. Die Geschichte vom „ewigen Wanderer“ wurde zu einem<br />
ebenso zentralen wie viel gestalteten Mythos der Neuzeit. Die Liste der Bearbeitungen reicht<br />
von Goethe und Heine bis zu Wagners Fliegendem Holländer.<br />
Stand bei Wagner noch die romantische Erlösungsidee im Vordergrund, so geht es Kirchner um<br />
die politische Stellungnahme. Ahasvers Weg führt bei ihm durch die Epochen der Neuzeit und<br />
gestattet einen illusionslosen Blick auf deren geschichtlichen Fortgang. In neun Szenen und<br />
einem Epilog, unterbrochen von acht weitgehend monologischen „Nachtwachen“, schildert der<br />
Komponist in einem historischen Bilderbogen die unaufhörliche Suche nach Heimat, Identität<br />
und spiritueller Erfüllung. Immer wieder stößt die Hauptfigur Ahasver in konkreten historischen<br />
Begegnungen – unter anderem mit Johan nes Gutenberg und Martin Luther – auf eine unüberwindliche<br />
Mauer aus Fremdenhass und ideologischer Verblendung. Im Epilog widerfährt<br />
Ahasver das Schicksal heutiger Einwanderer. Als Nummer, jeglicher Individualität beraubt, reiht<br />
er sich ein in die anonyme Masse menschlicher Leidensgestalten.<br />
Ahasver<br />
09.05.2001 Theater Bielefeld<br />
Kirchners „Szenisches Oratorium“ [...] schildert die Veränderung des ewig Gleichen: Inquisition,<br />
Kriege, Revolutionen, Ghettos – andere Zeiten, immer dieselbe Menschenquälerei. [...] Ahasver,<br />
der ewige Zeitreisende, befindet sich auf den Durchgangsstationen des Abendlands, wird selbst<br />
Schmerzensmann und heiliger Narr, als Christusäquivalent von Gott verlassen und vom Volk verspottet.<br />
[...] Kirchner zieht eine geistesgeschichtliche Bilanz, bei der die Musik aufrüttelt und eine<br />
deutliche Klangspur hinterlässt. Sie untermalt nicht einfach, sie packt vielmehr unmittelbar kraft<br />
eines melodramatisch getragenen Kalküls. (Neue Zeitschrift für Musik 07/2001)<br />
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